Gegen / Gewalt / Schreiben: De-Konstruktionen von Geschlechts- und Rollenbildern in der Ovid-Rezeption 3110702967, 9783110702965

Philologus, one of the oldest and most respected periodicals in the field of Classics, is conceived as a forum for discu

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German Pages 187 [196] Year 2020

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Gegen / Gewalt / Schreiben: De-Konstruktionen von Geschlechts- und Rollenbildern in der Ovid-Rezeption
 3110702967, 9783110702965

Table of contents :
Vorbemerkung
Inhalt
Einführung
„Hast du die Orte erspürt, wo Betastung dem Mägdelein wohltut …“
Melancholie im Minnesang
Domini iure venire iube!
Gespinste. Brentano mit Ovid gelesen
Arachne: Eros fatal
Mallarmés favnetisches Spiel mit Pan und Syrinx
Lateinamerikanische Metamorphosen
Index nominum
Index locorum

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Gegen / Gewalt / Schreiben

Philologus

Zeitschrift für antike Literatur und ihre Rezeption / A Journal for Ancient Literature and its Reception

Supplemente / Supplementary Volumes Herausgegeben von / Edited by Sabine Föllinger, Therese Fuhrer, Tobias Reinhardt, Maria Sotera Fornaro, Jan Stenger

Band 13

Gegen / Gewalt / Schreiben De-Konstruktionen von Geschlechts- und Rollenbildern in der Ovid-Rezeption Herausgegeben von Melanie Möller

ISBN 978-3-11-070296-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-070322-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-070326-9 ISSN 2199-0255 Library of Congress Control Number: 2020944313 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorbemerkung Die in vorliegendem Band versammelten Beiträge basieren auf der interdisziplinären Ringvorlesung „Deconstructing Gender? Ovid und die Frauen“, die im Sommersemester 2017 an der Freien Universität Berlin stattgefunden hat und im Zentrum der Bimillenniums-Veranstaltungen im Ovid-Jahr 2017 stand. Die Vorlesung wurde in das Angebot des „Offenen Hörsaals“ aufgenommen und darüber hinaus von der Leistungsorientierten Mittelvergabe für Gleichstellung (LoM) großzügig unterstützt: Den Verantwortlichen des Programms „Offener Hörsaal“ und am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften, namentlich den Frauenbeauftragten, sei für diese Unterstützung recht herzlich gedankt. Zum Gelingen der Vorlesung hat wesentlich mein Team beigetragen, vor allem in Person von Vera Engels und Johanna Schubert; ihnen beiden möchte ich ebenfalls ausdrücklich danken. Großer Dank geht auch an die Beiträgerinnen und Beiträger für ihre so originellen wie anspruchsvollen Texte und die lebhaften Diskussionen, an denen sich auch das Publikum rege beteiligt hat; sie alle haben auf ihre Weise das Entstehen des vorliegenden Bandes befördert. Die Manuskripte hat Johanna Schubert mit großer Sorgfalt und Einsatzbereitschaft eingerichtet; unterstützt wurde sie dabei von Denise Nagel. Beiden gilt mein aufrichtiger Dank. Dank gebührt außerdem den Herausgeberinnen und Herausgebern der Reihe Philologus. Supplemente sowie den anonymen Gutachtern, die unserem Band aufgeschlossen gegenüberstanden. Berlin, im Dezember 2019 Melanie Möller

https://doi.org/10.1515/9783110703221-202

Inhalt Melanie Möller  Einführung | 1 Niklas Holzberg  „Hast du die Orte erspürt, wo Betastung dem Mägdelein wohltut …“ Frauen bei Ovid in deutschen Übersetzungen | 11 Jutta Eming  Melancholie im Minnesang. Zu Morungens ‚Narzisslied‘ | 27 Jost Eickmeyer  Domini iure venire iube! Das Modell der Ovidischen Heroides in der deutschen Literatur | 53 Yvonne Pauly  Gespinste. Brentano mit Ovid gelesen | 83 Barbara Vinken  Arachne: Eros fatal. Ovid, Flaubert | 117 Judith Kasper  Mallarmés favnetisches Spiel mit Pan und Syrinx | 139 Susanne Zepp  Lateinamerikanische Metamorphosen. Über die Ovid-Rezeption bei Sor Juana Inés de la Cruz, Claudia Lars, Clarice Lispector und Alicia Kozameh | 159 Index nominum | 181 Index locorum | 185

Melanie Möller

Einführung Die jüngsten bildungspolitischen Debatten, die in den Vereinigten Staaten und Großbritannien um einige Klassiker der Weltliteratur geführt werden, wirken alarmierend: Die Lektüre dieser Texte, darunter auch Werke Ovids, könnte problematisch, ja gefährlich sein.1 Warum, und vor allem: Für wen? Wer Antworten sucht, befindet sich unversehens zwischen den Fronten radikaler Positionen der genderForschung und der in ihren Handlungsspielräumen verunsicherten bildungspolitischen Praxis. Im Kern geht es, wie so oft, um das verletzende Potential, welches Texte bei bestimmten Lesergruppen entfalten können, und die Frage nach der Notwendigkeit von Reglementierungen. Längst macht die Diskussion nicht mehr Halt vor historischen Grenzen; auch Texte, die fernen Vergangenheiten und fremden Kulturkontexten angehören, sind ins Fahrwasser der politisch korrekten Kritik geraten und fallen nicht selten nachträglichen Manipulationen zum Opfer. Was aber stört die moderne Leserin ausgerechnet an Ovid? Zunächst sieht sie sich in einigen seiner Schriften zum Objekt männlicher Lust degradiert, so etwa in der Ars amatoria, dem erotodidaktischen Gedicht Ovids. Immerhin vermochte die Ars seinerzeit auch den sittenstrengen Augustus zu verärgern, der allerdings keineswegs die Gefühle der römischen Leserinnen im Blick hatte, sondern ihre moralische Depravierung fürchtete. Ungeachtet – oder gerade wegen – dieser Kritik verkaufte sich die „Liebeskunst“ nach Aussage ihres Verfassers blendend, so dass er sich zur Abfassung eines dritten Buches entschloss, das von der männlichen Perspektive abrückte und die weibliche ins Zentrum setzte. Es ist ein untrügliches Zeichen der suggestiven Technik des Autors, wenn er sich im Übergang vom zweiten zum dritten Buch von den aus dem bloßen Objektstatus herausdrängenden Mädchen, den puellae, selbst bitten lässt, auch ihr praeceptor amoris zu werden: Sie wollen vom Meister lernen. Wird Ovid, indem er dem Drängen nachgibt, nicht sogar zu einem frühen Verfechter der weiblichen Emanzipation? Das ist ein unter Philologen umstrittenes sujet. Während ihn die einen als eben diesen feiern, bezweifeln andere Ovids Gnyophilie schon deshalb, weil ein männlicher Autor per se nicht über weibliche Perspektiven schreiben könne – damit ist die zeitlos aktuelle Frage nach der geschlechtlichen Authentizität berührt. Wieder andere erklären Ovid nachgerade zu einem besonders schlimmen Voyeur und Verächter weiblicher Figuren und ihrer Sexualität.2 Wie in jeder anderen Hinsicht auch, macht es der Autor sich und seinen Leserinnen nicht leicht. Das betrifft nicht zuletzt das heikle Thema der Sexualität selbst:

|| 1 Vgl. Miller 14.5.2015. 2 Vgl. zur Debatte Sharrock (2002) 95–107. https://doi.org/10.1515/9783110703221-001

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Obwohl die „Liebeskunst“ die Grenzen zur Obszönität lediglich streift, geht es in ihr doch zur Sache: einschlägig die lustvolle Beschreibung der Vorzüge eines gleichzeitigen Orgasmus der Liebenden. Dabei wird auf die Gemeinsamkeit des Erlebens immerhin einiger Wert gelegt. Aufs Ganze gesehen, markiert Ovid durch seinen ästhetisierenden Ton jedoch einen deutlichen Unterschied zur betont drastischen, männlich perspektivierten Sprache der vor allem in epigrammatischer Tradition stehenden Prätexte wie der carmina des Catull. In seinen späteren Exildichtungen ist es schließlich Ovid selbst, der sein komplexes, Rollenklischees sowohl bedienendes als auch hintertreibendes erotisches Werk skandalisiert. Mit Blick auf seine Rezeptionsgeschichte vermochte der Text indes eher selten wirklich Anstoß zu erregen. Tatsächlich sind es auch in den aktuellen Debatten nicht so sehr die der Erotik gewidmeten Werke, sondern Ovids Metamorphosen, die in der Kritik stehen. Es ist die Verbindung von Sexualität und Gewalt, die einige amerikanische und auch britische Philologinnen und Studentinnen auf die Barrikaden bringt. In Ovids Hauptwerk wird Frauen tatsächlich weitaus übler mitgespielt als in der genuinen Liebesdichtung – wenigstens auf der Ebene des plot –, insofern sie zum reichen Figurenensemble der erzählten und spezifisch perspektivierten Mythenwelt gehören. Es sind häufig Frauen, die zu Opfern männlicher Gelüste, vornehmlich des triebgesteuerten olympischen Königs, Zeus-Jupiters, werden. Jupiter selbst kennt keine Grenzen, wenn es darum geht, seine Lust zu befriedigen. Die Gestalten, in die er schlüpft, um ans Ziel seiner Wünsche zu kommen, sind vielfältig: Das Verschwimmen biologischer oder geschlechtlicher Grenzen stellt offenbar auch für den Gott kein Problem dar. Wo sich der Erfolg trotzdem nicht einstellen will, schreckt er auch vor der Anwendung von Gewalt nicht zurück, im Gegenteil. Dieses göttliche, überhaupt das Gewaltpotential der Metamorphosen ist feministischen Philologinnen schon seit Längerem ein Dorn im Auge: Sie bezichtigen den Verfasser der Pornographie und des Voyeurismus.3 Im Zuge dieser Kritik ist es zu den eingangs thematisierten Lektürevorbehalten an einigen Universitäten gekommen, die sich auch in konkreten Zensierungen wie sogenannten trigger warnings niedergeschlagen haben: So sollen sensibilisierte oder gar traumatisierte Studentinnen vor der Lektüre hinreichend gewarnt sein. Leider fußen solche Zugriffe, die studentischen Proteste wie die an sich spannenden kulturwissenschaftlichen Analysen, auf problematischen, weil moralischen Kategorien: Zwischen Kunst und Leben wird nicht hinreichend unterschieden, stattdessen wird identifikatorisch gelesen. Dadurch werden Zensur- und Kanonbildung in der Literaturwissenschaft wie auch in der curricularen Praxis weiter befördert. Gegen die reduzierten, subjektiv-befindlichen Lektüren spricht so

|| 3 S. z.B. Richlin (1992) 158–179 (mit Blick auf Apoll und Daphne in met. 1, 525–530). Vgl. zur Problematik auch James (2016) 86–111.

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vieles: Darstellungsformen und Kontexte; die im Text fassbare Empathie des Autors; raffinierte Entrückungs- und Entzugsstrategien der Opfer, die sie ihre Peiniger mit sprachpsychologischer Verve bloßstellen lassen. Denn Ovid überlässt die Einschätzung des Geschehens um die gewalttätigen, perfiden Götter erkennbar seinen Lesern – und Leserinnen! Schon diese brisante, hochaktuelle Thematik war geeignet, Ovid und die Frauen zum Gegenstand der Ringvorlesung zu machen, deren Beiträge diesem Band in Teilen zugrundeliegen. Die Ringvorlesung, die zum Kernbestand der an der Freien Universität ausgerichteten Bimillenniumsveranstaltung 2017 gehörte und zudem ins Programm des „Offenen Hörsaals“ aufgenommen wurde, wollte nicht nur einen Überblick über bestehende Interpretationsmodelle bieten, sondern weitergehende Fragen diskutieren. Aufgrund der aktuellen Entwicklungen sollte dabei die Rezeption der Werke Ovids im Mittelpunkt stehen, mit einem Schwerpunkt auf den inkriminierten Metamorphosen und den dezidiert weiblichen Perspektiven gewidmeten Werken wie der Ars und den Heroides. Darüber hinaus sollten alle einschlägig rezipierten Werke Ovids sowie eben auch die erwähnten bildungspolitischen Debatten einbezogen werden. Für die nunmehr in schriftlicher Form vorliegenden Beiträge gilt das freilich nur in eingeschränktem Maße, da sie sich auf die Rezeption der Werke Ovids, ihre vormalige und zeitgenössische Deutung in verschiedenen zeitlichen und kulturellen Kontexten, konzentrieren. Hier ist es vor allem der problematische Zusammenhang von Gewalt und Sprache bzw. dem Akt des Schreibens, der sich konstruktiv (und bisweilen auch destruktiv) auf generische Zuschreibungen, Identitätssuchen und Rollenbewusstsein auswirkt. Den diskursiven Rahmen bieten jedoch auch dafür die Werke Ovids selbst, deren für die gender-Debatten relevanten Aspekte im Folgenden zusammengefasst werden sollen. In den Metamorphosen verdienen neben den bereits angesprochenen ethisch motivierten Zugriffen verschiedene Ansätze Beachtung. Bezogen auf die direkte Frage nach dem Verhältnis von Frauen und Gewalt (Frauen als Opfer – oder beinahe-Opfer – meist männlicher Gewalt, aber auch Gewalt von Frauen gegenüber Männern, anderen Frauen oder Kindern, seien sie göttlicher oder menschlicher Abkunft), ist die Differenzierung der Perspektiven von einiger Relevanz, die sowohl für die Darstellung in Ovids Text als auch mit Blick auf ihre Rezeption zu leisten ist: Wie gehen die Figuren mit Gewalt um? Welche pragmatischen, imaginären oder künstlerischen Möglichkeiten des Entzugs oder der Kompensation des Erlebten werden an ihnen ausprobiert? Welche Fokussierungen des Geschehens werden entfaltet? Es ist festzustellen, dass in Ovids Texten und ihren Adaptionen die Beherrschung – oder umgekehrt der Verlust – von Sprache von zentraler Bedeutung ist (zum Beispiel für ‚webende‘ Frauen wie Arachne, Philomela oder die Minyas-Töchter, die unter anderem den Liebes-Mythos von Pyramus und Thisbe erzählen), wobei das Gewebte – der Text – immer auch für das Erzählte beziehungsweise eine dezidierte Erzählhaltung steht. Ist der weibliche Blick ein spezifischer, ein narrativ und hermeneutisch exponierter? Besonders reizvoll sind solche Mythen, die Grenzen überschreiten –

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moralische (homoerotische, inzestuöse Liebe), aber auch biologisch fixierte Geschlechterschranken wie im Falle des Hermaphroditus. „Wandel“ – und damit auch Wandel von generischen Zuschreibungen – bildet schließlich das Thema der Metamorphosen und kann uns auch im symbolischen Sinne Aufschluss über die von Ovid entwickelten Konzepte von Definition, Distinktion, Grenze und Grenzüberwindung geben; zur Erinnerung sei hier noch einmal der programmatische Anfang der Metamorphosen zitiert: In nova fert animus mutatas dicere formas / corpora: di, coeptis (nam vos mutastis et illa) / adspirate meis primaque ab origine mundi / ad mea perpetuum deducite tempora carmen („Der Geist treibt mich an, von Gestalten zu künden, die in neue Körper verwandelt wurden: Götter, verleiht Auftrieb meinem Beginnen – denn ihr habt auch jenes verändert – und führt meine Dichtung von den ersten Anfängen der Welt ohne Unterbrechung bis in meine Zeiten“). Schließlich die narratologische Perspektive: Der Autor selbst entzieht sich konventionellen Rollenzuweisungen. Während manche einen auktorialen Erzähler supponieren, erkennen andere in der Polyphonie der zahlreichen internen Erzählerstimmen (unter anderem Orpheus), denen insgesamt gut 60 Episoden mit unterschiedlichen Fokalisierungen überlassen werden, ein poetologisches Prinzip. Auch die episodische Struktur spottet herkömmlichen Ordnungsprinzipien und befördert den generischen Grenzgang des Werkes zwischen – in der Hauptsache – Epos, Lehrund Kataloggedicht. Schließlich die bereits angesprochene Frage der Perspektivierung: Wenn Ovid in einigen seiner Werke die weibliche Perspektive rekonstruiert, bricht er damit nicht seinerseits ein Tabu? Und: ‚Darf‘ er das überhaupt? Schon in seinem literarischen Erstling, den Amores, schafft er mit der imaginären Geliebten Corinna eine scripta puella, eine künstlich gefertigte domina, die in ebendieser Ästhetisierung vergegenständlicht wird: Von Alison Sharrock stammt das Derivat der „womanufacture“4. Auch die Frauen der Ars sind primär Objekte männlicher Begierden(sprache): Immerhin geht es in den ersten beiden Büchern ganz konkret um Empfehlungen für eine erfolgreiche (männliche) Jagd auf die (weibliche) Beute, und die Frauen im 3. Buch erhalten Ratschläge, wie sie sich am besten in das Beuteschema fügen. In ähnlicher Absicht legt das fragmentarische Seitenstück zur Ars, die Medicamina, den Fokus auf die weibliche Perspektive; auch die versammelten Schminktipps sollen vor allem die Attraktivität der Frauen für die Männer erhöhen, auch hier werden sie auf oberflächlich-äußerliche Kriterien reduziert. Komplexer scheint die Lage in den Heroides, den (in Teilen) in ihrer Echtheit umstrittenen Briefelegien, die von unglücklichen Frauen an ihre abwesenden Geliebten gerichtet werden. Die betrogenen oder verlassenen Frauen erhalten also eine Stimme. Doch schwebt auch hier die kritische Frage im Raum, ob es überhaupt möglich sei, dass ein männlicher auktorialer Erzähler eine weibliche Perspektive einnimmt.5 Und

|| 4 Sharrock (1991) 36–49. Vgl. außerdem Wyke (1987) 47–61. 5 S. Fulkerson 2005 und Spentzou 2003.

Einführung | 5

auch hier wird eine spezifische Beziehung zu Sprache und Wortmacht entfaltet. Die Briefe haben eine reiche Rezeption erfahren, und auch diese wird im Band auf Geschlechterformationen hin analysiert. Figureninterne Akzentverlagerungen, die in Ovids Werken angelegt sind, werden in der Rezeption zum Teil verschärft, zum Teil korrigiert (man denke etwa an Penelope, die sich in den Heroides auch kritisch gegen ihr Schicksal äußert, in der Exildichtung Ovids jedoch für zahlreiche Vergleiche zur Idealisierung seiner eigenen fernen Gattin herangezogen wird. Dabei scheint es Ovid in den Vergleichen wiederum eher um einen Agon mit Odysseus beziehungsweise dessen Regisseur Homer zu gehen als um eine Würdigung seiner uxor). Diese vielfältigen und facettenreichen Perspektiven auf Frauenfiguren und die Transformationen von Grenzen (nicht nur, aber vor allem generischer) werden in den Beiträgen des Bandes ausgelotet und interdisziplinär gelesen, indem Ovids Texte von verschiedenen Stationen der Rezeption aus betrachtet werden. Die vielfältigen Möglichkeiten, Sprache oder Schrift als ein Gegengift gegen Gewalt und Unterdrückung einzusetzen, stehen dabei, wie gesagt, im Zentrum des Interesses; in mancherlei Hinsicht haben die Lektüren Ovids auch seinen komplexen generischen Konstruktionen zu entsprechen versucht. Das zeigen nicht nur die Adaptionen und Deutungen, es zeigt sich bereits an dem Grundbaustein aller Textanalyse, der Übersetzung. Die Übersetzung steht am Anfang auch aller gender-Problematik. Niklas Holzberg führt uns in seinem Beitrag „‚Hast du die Orte erspürt, wo Betastung dem Mägdelein wohltut …‘. Frauen bei Ovid in deutschen Übersetzungen“ die ideologisch bedingten Entstellungen vor Augen, die in deutschen Übertragungen aller Werke Ovids, vor allem aber in den erotisch einschlägigen Partien festzustellen sind. Hier greift allenthalben ein Chauvinismus um sich, der im 19. Jahrhundert eine besondere Dichte verzeichnet, der aber auch noch in Ausgaben aus den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts festzustellen ist. Der erotischen Emanzipation einer puella wie der von Ovid ersonnen Corinna und seinem hintergründigen poeta/amator-Rollenkonzept schien man genauso wenig gewachsen wie Sapphos verbaler erotische Energie in ihrem unter Ovids Namen überlieferten Brief an den Liebhaber Phaon: Überall werden aus selbstbewussten Libertinen hilflosunterwürfige „Mägdelein“, und Sappho muss sich sogar mit einem „begabten Busen“ abfertigen lassen. Schwerer wiegen die Verbrämungen von Vergewaltigungen, wie sie Ovid in den Metamorphosen schildert. Wo Ovids Sprache nüchtern beschreibe, versuchten Übersetzungen zu verharmlosen. Dadurch werde auch die große psychologische und ästhetische Kunst Ovids verschleiert, die den Frauen les- beziehungsweise hörbare Stimmen verleihe und das Skandalon in die subtilen Welten des Textes überführe. Manipulative Übersetzungen sind freilich nur eine heikle Facette der Arbeit mit und an Texten. Hinzu kommen thematische Akzentverlagerungen und hermeneutische Verstellungen. Überlieferungsprobleme tragen ihren Teil zum kreativen Wandel im Transferprozess eines Textes bei. Mit Blick auf einige Texte Ovids erreicht die

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Gemengelage im Mittelalter ihren Höhepunkt, wie die Beiträge von Jutta Eming und Jost Eickmeyer zeigen. Besonders komplex ist die Lage in Heinrich von Morungens „Narziss-Lied“. Jutta Eming diskutiert die Schwierigkeiten der Textkonstitution mit ihrer spezifischen Autor- bzw. Gattungsproblematik („Melancholie im Minnesang. Zu Morungens ‚Narzisslied‘“). Den Fokus ihrer Untersuchung legt sie jedoch auf die im Text aufscheinenden Formen des Begehrens (Selbst- und Fremdliebe, Kombination aus Eigen- und Minneliebe), wie sie sich zu den spezifischen Kondizionen des Minnesangs beziehungsweise der Hohen Minne entwickelt, vor allem mit Blick auf ihr eigentümlich-entrückendes Frauenbild, das für die Ovid-Adaption bestimmend ist. Das Problem der Selbsterkenntnis, das nicht zuletzt die Psychoanalyse Freuds und Lacans am Mythos von Narziss und seinen Rezeptionsstufen entfaltet hat, wird im Spannungsfeld von emotionaler und literarischer Produktivität verhandelt. Eming stellt Lacans Erkenntnis des Sich-Selbst-Verfehlens neben Freuds Differenz von Trauer und Melancholie. In der lyrischen Momentästhetik ist eine implizite „Poetik des Schauens“ angelegt, in der sich generische Grenzen aufzulösen scheinen. Unter dem Titel „Domini iure venire iube! Das Modell der Ovidischen Heroides in der deutschen Literatur“ bietet Jost Eickmeyer einen facettenreichen Durchgang durch wichtige Stationen der Rezeption der Heroides Ovids seit der Renaissance. Dem „christlichen Ovid“ des Hessus, der sich zwar an der brieflichen Form orientiert, den Stoff jedoch ent-erotisiert und auf die Beziehung Marias zu Gott beziehungsweise Christus in ihrer reinen pietas hin umprägt, folgen Beispiele für biblische Misogynie und die querelle des femmes bei Claude d’Espace und Andreas Alenus, die gegen den Einfluss von Boccaccios mulieres clarae gelesen werden und in die Blütezeit und erste Krise der Heroiden im Jesuitendrama des 17. Jahrhunderts münden. Am weitesten weg vom Original des Ovid scheint indes Jakob Balde mit seiner allegorisch-abstrakten Lesart der Liebenden. Anders Hoffmannswaldau, der den Stoff unter Aufhebung der sozialen Konventionen mit Galanterie re-erotisiert. Schließlich erleben die Heroides eine geistliche Nachblüte und eine zweite Krise, wenn sie nur noch zur Illustration, etwa paränetischer Traktate, genutzt werden. Eickmeyer beobachtet ein allgemein sinkendes Interesse am Text in Deutschland des 18. Jahrhunderts, für das auch Wieland mit seinem unterkomplexen Ovid-Bild verantwortlich zeichne. Wir begegnen Rearrangements geschlechtlicher Konstellationen (vor allem zuungunsten weiblicher Perspektiven) oder einem zum Teil einer antikisierenden Naturauffassung umfunktionierten Eros. Eickmeyer verfolgt die Spuren der Heroides bis in die moderne und sogar zeitgenössische Rezeption: Das von Annette Pehnt (2015) in Auseinandersetzung mit den Heroides entwickelte Existential der Trennung wird zur unhintergehbaren Bedingung des Schreibens und erzwingt den Dialog – mit wem auch immer. Auch dies ist eine von Ovid geprägte ausdrucksstarke Form weiblichen Protests gegen die männliche Dominanz in der Literaturgeschichte.

Einführung | 7

Doch wissen auch männliche Autoren die Vielfalt der generischen Möglichkeiten zu nutzen, die Ovids Texte bieten. Yvonne Pauly demonstriert dies am Beispiel der subtilen Spielereien mit dem grammatischen und dem biologischen Geschlecht, wie sie Clemens Brentano unternimmt („Gespinste. Brentano mit Ovid gelesen“). Vor allem in seinem autobiographischen Epos Romanzen vom Rosenkranz treibt er ein subversives Spiel mit seinem Vornamen Clemens, der nicht nur im lateinischen Original generische Neutralität verbürgt, sondern darüber hinaus Formgleichheit zwischen Nominativ und Vokativ in allen drei Genera aufweist, also auch im Neutrum. Auch in seiner Chronica spinnt Brentano ein dichtes Gewebe aus mythischen, literarhistorischen und (auto)biographischen Versatzstücken, das nicht nur an die provozierenden Weberzeugnisse aus dem Arachne- oder Tereus-Mythos erinnern soll, sondern auch an einem gemeinsamen Faden mit mehreren anderen Rezeptionsbeispielen, konkret auch in diesem Band, hängt (vergleiche vor allem die Texte von B. Vinken und S. Zepp). In dem disiecta-membra-Prinzip Brentanos, der sich den (nicht nur) ovidischen Mythos in „versprengten Fetzen“ anverwandelt, fassen wir überdies eine spezifische Schreckensästhetik. Mit Ovid, dessen Metamorphosen Brentano aus dem Original und in der Paraphrase Albrechts von Halberstadt kennt, befindet sich Brentano schließlich als „Briefweber“ in einem Agon, der dem zwischen Arachne und Minerva durchaus vergleichbar ist und in den auch der Freund Achim von Arnim, die Schwester Bettine als dessen Gattin, Brentanos geliebte Sophie Mereau und andere einbezogen sind. In dem amourösen Gewirr werden Standes-, Moral- und Geschlechtergrenzen überkreuzt und verwoben. Wie bei Ovid ist auch dieses Verfahren als Sinnbild eines gebrochenen dichterischen Selbstverständnisses zu verstehen. Barbara Vinken widmet ihren Beitrag „Arachne: Eros fatal. Ovid, Flaubert“ der komplexen Figur der Arachne, wie sie in Gustave Flauberts Protagonistin Emma Bovary hineingespiegelt ist. Das Verhältnis der beiden Autoren belässt Vinken dabei in der augenfälligen Unverbundenheit des Titels, die zugleich die Löcher im Netz des Gewebes der berühmten mythischen Figur symbolisieren kann. Als gemeinsamen Nenner zwischen Ovid und Flaubert macht Vinken die Abkehr von der Tradition aus: Original und Rezeption bieten Lehrstücke, wie tradierte Frauenrollen einerseits unterlaufen und erschüttert, andererseits stabilisiert werden. Bei Ovid und Flaubert stehen Weben und Schreiben in einem Komplementärverhältnis, das im Schatten von Gewalt und Zerstörung existiert. Beider Texte zeigen die „Gesellschaft im Zustand der Perversion“, ihre Kunst lebt von der Illusion, die sich aus enargetischer, vor Augen geführter lustvoller Gewalt speist. Den Rahmen bildet der Krieg der Götter gegen die Menschen. Gestalt gewinnt dieser Krieg in der Göttin Athene, der gepanzerten, lustfeindlichen „Männin“, wenn sie gegen ihre menschliche Widersacherin Arachne, die mit Lust und von Lust webt, das Weben als „öffentliches Spektakel“ inszeniert. Arachnes Kunst des pornographischen Realismus sprengt den illusionären Rahmen der Kunst keineswegs, sondern festigt ihn. Trug und Täu-

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schung erweisen sich als Grundprinzipien des erotischen Fatalismus, soweit er von den Göttern ausgeht und Liebe immer mit Gewalt engführt. Bei aller Fatalität sind die kühnen Webkünste der Arachne doch zu einem Symbol weiblicher Emanzipation geworden. Kann das auch die von Pan verfolgte Syrinx für sich beanspruchen? Der Text von Judith Kasper über „Mallarmés favnetisches Spiel mit Pan und Syrinx“ sorgt für eine Irritation der Leserinnen dadurch, dass er das bedeutungstragende Schriftzeichen „v“ in die Überschrift setzt. Der Leser wird gezwungen, nochmal hinzuschauen, so wie er es stets tun sollte bei der Lektüre eines Textes, der die Spannung zwischen Zeichen und Bedeutung reflektiert – vor allem dann, wenn auch die Frage geschlechtlicher Identität berührt wird. Auch diese Frage selbst ist ja (mindestens) doppeldeutig, lässt sie sich doch sowohl auf die Figuren- als auch auf die Gattungsebene beziehen: Der in den Fokus genommene Mythos von Pan und Syrinx scheint genuin ovidisch zu sein, wird aber bei Mallarmé mit dem Mythos von Daphne und Apollon gekreuzt und dadurch zur „mise en abyme des Prinzips der Verwandlung selbst“. Ambiguität kennzeichnet aber auch das Thema der Erzählung, die Geschlechterhybridisierung, die von Klängen und phonetischen Polyvalenzen mehr als nur untermalt wird. Die Klangwelt wird haptisch, wie auch Syrinx handgreiflich wird: Die Flöte hat sich in Faun regelrecht hineingraviert, was zu einer radikalen Ein(ver)leibung der beiden mythischen Figuren mit ihren Sprach-, Bild- und Klangwelten führt. Diese Verschmelzung in der bildlichen und sprachlich-phonetischen Darstellung symbolisiert eben jenes v, das auch den Lautwert der Flöte veranschaulicht, also auch im Buchstabenmaterial Gestalt gewinnt. Es soll, so Kasper, zugleich auf die Bi-Sexualität des Fauns mit der in ihn hineingewachsenen Nymphe verweisen. Mit seinem weiblichen Zuwachs wird der Faun zu einem Trans- oder Allgenderwesen, was sich auch in der Überblendung von Faunshörnern und Nymphenzöpfen konkretisiere. Susanne Zepp bietet in ihrem Beitrag „Lateinamerikanische Metamorphosen. Über die Ovid-Rezeption bei Sor Juana de la Cruz, Claudia Lars, Clarice Lispector und Alicia Kozameh“ ein vielseitiges Panorama über die komplexen und faszinierenden weiblichen Lektüren von Ovids Metamorphosen (und auch seinen Exildichtungen) unterschiedlicher Autorinnen aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern. Die Rezeption Ovids erweist sich hier als je autonomer ästhetischer Entwurf mit vielfältigen historisch-regional-generischen und vor allem politischen Verflechtungen. Der Wandel wird dabei zum zentralen Thema. Sor Juana etwa bietet in ihrer christlich-typologischen Version des Narziss-Mythos über die sinnlich entfaltete Sprache mit einem „poetisch-symbolischen Stoffbezug“ einen autonomen Zugang zum Göttlichen. Auf Sors Texte referiert wiederum mit Claudia Lars eine Autorin, die autonome mit engagierter Poesie überblendet. Ihr offenbart die Poesie einen gewaltresistenten Raum, doch verblassen die christlichen Bezüge hier zu (vagen) Hoffnungen. Besonders populär in der lateinamerikanischen Literatur ist das Arachne-Motiv, wobei Arachne als „Symbolfigur des Widerstandes“ figuriert (unter anderem in Manuel Puigs Roman der Kuss der Spinnenfrau, in welchem poli-

Einführung | 9

tische und generische Freiheit kombiniert werden). Die brasilianische OvidRezeption diskutiert Zepp vor allem am Werk der populären Autorin Clarice Lispector. Ovids gewaltiger generischer Kosmos dient hier der „Repräsentation weiblicher Erfahrung“ (und ihrer Grenzen), aber auch der literarischen Reflexion der Kategorie ‚Frau‘ (mit Helene Cixous’ Thesen zur „Performativität von Geschlecht“ gelesen). Die Texte Ovids bieten auch in Alicia Kozamehs Stück „Schritte unter Wasser“ Raum für die Überlebenden von Diktatur und Gewalt, so für die Opfer der Militärjunta; im an Ovid orientierten Labyrinth gibt es auch „Platz für die Verschwundenen“. Gefolterte Frauen versuchen, den Kontrollverlust über ihre Körper mit dem geschriebenen Wort, das als Widerstandsmittel eingesetzt wird, zu kompensieren. Doch lassen sich mit den Ovid-Referenzen auch die „Grenzen sprachlichen Mitteilungsvermögens“ aufzeigen. Die Vorlesungen von Alison Sharrock zu einer grundlegenden Kritik an Ovids Frauenbild („Ovidian ‚Sympathy to Women‘: Optimistic and Pessimistic Responses“), von Reinhold Glei zu den Pontus-Briefen Ovids („Epistula uxoris. Ovids Ehefrau an den verbannten Dichter“), von Regina Toepfer und Felix Florian Müller zu einflussreichen mittelalterlichen Übertragungen („Frühneuhochdeutsche Transgenderversionen. Salmakis’ Jagd auf Hermaphroditus bei Jörg Wickram und Johannes Spreng“ bzw. „Frauen[miss]versteher – Transformationen von Frauenfiguren in deutschsprachigen Metamorphosen-Übersetzungen seit dem 12. Jahrhundert“) sowie von Karin Gludovatz zur kunsthistorischen Ovid-Rezeption („Wenn die Götter lieben. Metamorphosen in der Malerei der Frühen Neuzeit“) und von Anita Traninger zu den (post)modernen Nachwirkungen der verhinderten Narziss-Gespielin („Echo, Alexa und das Schweigen der Frauen“) konnten diesem Band leider nicht beigefügt werden, da sie bereits für andere Publikationszusammenhänge vorgesehen waren. Auch diese Beiträge aber und die regen Diskussionen, die sich an sie anschlossen, sind in die für den Druck vorbereiteten Fassungen eingegangen.

Zitierte Literatur: Fulkerson (2005): Laurel Fulkerson, The Ovidian Heroine as Author. Reading, Writing, and Community in the Heroides, Cambridge. James (2016): Sharon L. James, „Fallite Fallentes: Rape and Intertextuality in Terence’s Eunuchus and Ovid’s Ars amatoria“, Eugesta 6, 86–111. Miller (14.5.2015): Michael E. Miller, „Columbia Students Claim Greek Mythology Needs a Trigger Warning“, Washington Post. Richlin (1992): Amy Richlin, „Reading Ovid’s Rapes“, in: Dies. (Hg.): Pornography and Representation in Greece and Rome, Oxford, 158–179. Salzman-Mitchell (2005): Patricia B. Salzman-Mitchell, A Web of Fantasies. Gaze, Image, and Gender in Ovid’s Metamorphoses, Columbus. Sharrock (1991): Alison Sharrock, „Womanofacture“, JRS 81, 36–49.

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Sharrock (2002): Alison Sharrock, „Gender and Sexuality“, in: Philip Hardie (Hg.): The Cambridge Companion to Ovid, Cambridge, 95–107. Spentzou (2003): Effrosini Spentzou, Readers and Writers in Ovid’s Heroides. Transgressions of Gender and Genre, Oxford. Wyke (1987): Maria Wyke, „Written Woman: Propertius’ scripta puella“, JRS 77, 47–61.

Niklas Holzberg

„Hast du die Orte erspürt, wo Betastung dem Mägdelein wohltut …“ Frauen bei Ovid in deutschen Übersetzungen In der letzten Lektion des zweiten Buchs von Ovids Ars amatoria werden dem Schüler Lehren zum richtigen Verhalten beim Koitus mit einer puella erteilt, wozu auch gehört, dass er die erogenen Zonen seiner Partnerin berühren soll (Ov. ars 2,719f.): cum loca reppereris, quae tangi femina gaudet, non obstet, tangas quo minus illa, pudor.

Die metrische Übersetzung dieser Verse in der erstmals 1923 und bis 1980 in 14 Auflagen erschienenen, mithin vielgelesenen Tusculum-Ausgabe Wilhelm Hertzbergs in der Bearbeitung Franz Burgers lautet:1 Hast du die Orte erspürt, wo Betastung dem Mägdelein wohltut, Dann – genier dich bloß nicht! Hingerührt! Ihr ist’s schon recht.

Sieht man davon ab, dass Ovid, wie er im Proöm implizit verkündet (Ov. ars 1,33f.), junge Römer nicht im Umgang mit „Mägdelein“, sondern mit erotisch bestens erfahrenen Libertinen unterweist, und bezieht man das Distichon ganz allgemein auf den sexuellen Diskurs zwischen den beiden Geschlechtern, ist man doch einigermaßen schockiert von dem Frauenbild, das Lesern noch vor 40 Jahren, also zu einer Zeit, als Frauenemanzipation und „sexual revolution“ längst selbstverständlich geworden waren, von dieser Verdeutschung vor Augen geführt wird. Während Ovid im lateinischen Original dem Mann durchaus sachlich empfiehlt, die Partnerin beim Vorspiel ohne Scheu an Partien ihres Körpers manuell zu stimulieren, an denen sie das erwartungsgemäß erregt, spricht die Übersetzung von „Betastung“, die heute Begriffe wie „Busengrabscher“ evoziert, und „ihr ist’s schon recht“ in Verbindung mit „Mägdelein“ erzeugt die Vorstellung von einer Novizin in der Liebe, die das „Betasten“ durch einen von ihr angebeteten Mann nolens volens mit sich geschehen lässt; überdies kommt mit dem Imperativ „Hingerührt“ ein preußisch-militärischer Ton hinein, bei dem man unwillkürlich dies mithört: „Keene Angst, mein Junge, det jefällt die Weiber, da kannste dir drauf verlassen!“ Untersucht man die bis in die Gegenwart am häufigsten verkauften Verdeutschungen von Werken Ovids, wo in erotischem Zusammenhang von Frauen die

|| 1 Das Distichon gehört zu den Versen, die Burger ergänzte, weil sie in Hertzbergs Übersetzung von 1854 fehlen; vgl. Hertzberg/Burger (141980) 111 und zu dieser Übersetzung Roth u.a. (2017) 343. https://doi.org/10.1515/9783110703221-002

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Rede ist, also von den Amores und Heroides, von Ars amatoria, Metamorphosen und Fasti, stößt man sowohl im übersetzten Text als auch in den Erläuterungen dazu immer wieder auf Passagen, in denen die Aussage der lateinischen Verse durch patriarchalisch-chauvinistische Wunschbilder des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Verhältnis zwischen Mann und Frau eingefärbt, ja nicht selten verfälscht ist. Gewiss, der im Rom der Antike bekanntermaßen phallokratisch organisierte Geschlechterdiskurs2 weist eine unverkennbare Ähnlichkeit mit der von christlicher Ethik geprägten Gesellschaftsordnung auf, die auch in den westlichen Demokratien der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg trotz des Gleichberechtigungspostulats in den Verfassungen bis in die siebziger Jahre und darüber hinaus de facto den Mann über die Frau stellte. Aber daraus ergab sich keineswegs die Konsequenz, dass Ovids Frauenporträts und seine Schilderungen erotischer Interaktionen in den Verdeutschungen seiner Dichtungen den seit der wilhelminischen Ära noch lange gültigen Normen angepasst werden mussten. Genau dies jedoch geschah, wie gesagt, immer wieder. Übertragungen, auf die das zutrifft, entstanden noch in den ersten Jahrzehnten nach 1945 und wurden bis in allerjüngste Zeit mehrfach unverändert nachgedruckt. Sie stehen leicht zugänglich in den von Schülern und Studenten benutzten Handbibliotheken oder können von ihnen über die örtliche UB vom Netz heruntergeladen werden, und Internet-Anbieter wie Amazon bieten sie preiswert an, so dass sie nach wie vor sogar ein breiteres Publikum erreichen. Mit dem von ihnen vermittelten Frauenbild möchte ich mich im Folgenden anhand gezielt ausgewählter Zitate aus Verdeutschungen der genannten Werke Ovids auseinandersetzen. Kurioserweise stammen die beiden bisher beliebtesten Verdeutschungen der Amores von Männern, die von ihrer Vita her der elegischen Devise des „Make love, not war“ eher nicht entsprechen. Die 1956 erschienene und bis 1992 sechsmal neu aufgelegte Tusculum-Ausgabe erstellte in Kooperation mit seinem einstigen Studenten Walter Marg der Gräzist Richard Harder (1896–1957), der 1940–1945 an der Universität München im Geiste des Nationalsozialismus gelehrt und unter anderem im Auftrag der Gestapo ein Gutachten über die Flugblätter der Weißen Rose geschrieben hatte.3 Und das Kröner-Taschenbuch Ovid, Erotische Dichtungen, 1958 publiziert, 2001 mit einer Einführung von Wilfried Stroh seine dritte Auflage erlebte, ist das Erzeugnis des preußischen Adeligen Viktor von Marnitz (1890–1960), eines ehemaligen Generalmajors in Hitlers Wehrmacht.4 Soll man vielleicht doch annehmen, die beiden Männer fühlten sich der ovidischen Devise militat omnis amans (Ov. am. 1,9,1) verpflichtet? Das würde voraussetzen, dass sie den geistreichen Witz des tenerorum lusor amorum verinnerlicht hätten, aber davon merkt man in ihren Über-

|| 2 Dazu immer noch sehr nützlich: Meyer-Zwiffelhoffer (1995). 3 Vgl. Holzberg (2015b) 44f. mit weiterer Lit. 4 Vgl. Keilig (1983) 217.

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tragungen nichts. Diese, in Distichen verfasst, stehen wie die später zu nennenden metrischen Verdeutschungen der Heroides, Ars amatoria, Metamorphosen und Fasti sprachlich in der Tradition, die Johann Heinrich Voß 1781 mit seiner Odüssee begründete,5 und lassen den poeta/amator Ovids von seinen erotischen Erfahrungen streckenweise mit dem Pathos von Liebenden in klassischen und romantischen Texten des 18./19. Jahrhunderts reden, also im Stil von „Schaff mir ein Halstuch von ihrer Brust, ein Strumpfband meiner Liebeslust.“ Da der Herr Generalmajor a.D. sich überdies oft weit vom Originalwortlaut entfernt, zitiere ich im Folgenden zu den Amores nur aus Harder und Marg, die sich um Texttreue sichtlich bemühen, und dann nur aus den Tusculum-Ausgaben der Heroides und der Ars, für die dasselbe gilt. Die Libertine, der sich ein Elegiker im servitium amoris unterwirft, wird von ihm, wenn er sie nicht namentlich nennt, meistens als puella bezeichnet; so auch von Ovid in den Amores. Morphologisch betrachtet, ist dies das feminine Pendent zu dem von puer über puerulus abgeleiteten puellus,6 und es entspricht dem deutschen „Mädchen“. Für uns im 21. Jahrhundert steht das Wort zunächst einmal für ein weibliches Kind, es kann aber auch – so habe ich jedenfalls es mehrfach erlebt – in Verbindung mit dem Possessivpronomen „mein“ von einem zum Chauvinismus neigenden jungen Mann in dem Sinne gebraucht werden, dass eine so bezeichnete junge Frau ihm gehöre und ihm ergeben zu sein habe. Ein solches Verhältnis zu seiner puella hat aber der elegisch Liebende gerade nicht, da er sich ihr bewusst unterordnet und sie daher auch seine domina nennt.7 Das wiederum stellt den Übersetzer bei der Wiedergabe von puella vor große Probleme.8 Denn einerseits ist zum Beispiel Ovids Corinna ganz und gar kein „Mädchen“ mit kindlichem Gemüt, das zu dem, der es liebt, aufblickt – das zeigt am besten die ausführliche Charakteristik in Gerlinde Bretzigheimers exzellentem Amores-Buch9 –, andererseits hat man, wenn man metrisch überträgt (und das haben Harder und Marg ja getan), oft nicht mehr als die Silbensequenz betont-unbetont zur Verfügung und wird sie dann zwangsläufig mit dem Wort „Mädchen“ ausfüllen; allein der Prosaübersetzer kann das vermeiden, indem er, wenn der Kontext dazu rät, „junge Frau“ oder nur „Frau“ oder „Geliebte“ schreibt. So ist es in der Regel auch, und deshalb fällt umso mehr auf, dass Harder/Marg Ovids poeta/amator selbst dann von „seinem Mädchen“ reden lassen, wenn das lateinische Original es gar nicht vorgibt. In Ov. am. 1,7 z.B., dem Gedicht, in dem er sich anklagt, weil er die puella geschlagen und ihr dabei die Frisur ruiniert hat, sagt er in V. 11f. zerknirscht und unterwürfig:

|| 5 Vgl. Holzberg (2017b). 6 Lošek (1994) 416. 7 Zum Verhältnis des poeta/amator zu der von ihm geliebten Frau vgl. Holzberg (62015) 15–17. 8 Dazu zuletzt Hallett (2013). 9 Bretzigheimer (2001) bes. 183–221.

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ergo ego digestos potui laniare capillos? nec dominam motae dedecuere comae.

Bei Harder/Marg dagegen bekundet er sogar in diesem Zusammenhang zumindest implizit seinen Stolz als „Besitzer“ der Frau, obwohl er im Original von ihr als seiner Herrin spricht: Also ich hab es vermocht und raufte die zierlichen Locken – Und das flatternde Haar stand meinem Mädchen nicht schlecht!10

Die immer wieder in den beiden Verdeutschungen zum Ausdruck kommende chauvinistische Einstellung gegenüber der Frau steigert sich gelegentlich zu Formulierungen, die man als Äußerungen von Misogynie lesen kann; das gilt z.B. für die Übersetzung von Ov. am. 2,12,19–24 durch Harder/Marg. Ovid berichtet hier mit der üblichen militärischen Metaphorik, er habe einen „Sieg“ errungen, weil Corinna nunmehr an seiner Brust liege, und verweist im weiteren Verlauf der Elegie darauf, der „Krieg“, den er habe führen müssen, sei nicht der erste, für den eine Frau den Anlass geliefert habe, sondern das sei schon beim Kampf um Troja der Fall gewesen; dann nennt er noch drei Beispiele (Ov. am. 2,12,19–24): femina silvestres Lapithas populumque biformem turpiter apposito vertit in arma mero; femina Troianos iterum nova bella movere impulit in regno, iuste Latine, tuo; femina Romanis etiamnunc Urbe recenti immisit soceros armaque saeva dedit.

An diese mythischen Präzedenzfälle erinnert Ovid offensichtlich mit dem Stolz des „Siegers“ in der Liebe, der nun seinen eigenen „Heldenmythos“ erzählen kann, aber Harder/Marg bringen, wie ich meine, eine ganz andere Nuance in seine Worte: Und was trieb die Lapithen so schnöd ins Gemetzel mit jenem Zweileibvolk, als erhitzt beide vom Trunke? Ein Weib. Was hat, gerechter Latinus, erneuerte Kämpfe den Troern In deinem Reiche erregt, wiederum Kriege? Ein Weib. Kaum war Rom dann erbaut, wer hetzt nun die eigenen Väter Gegen die Römer und reicht wütende Waffen? Das Weib.

Cherchez la femme wird hier durch die Umwandlung der Aussagesätze des Originals in suggestive Fragen mit lapidarer Antwort und durch die Wiedergabe von femina mit dem schon zu Harders und Margs Zeiten meist pejorativ gebrauchten Lexem

|| 10 Nicht besser Marnitz (32001) 11: „Wirklich, ich konnte der Liebsten die schöne Frisur so zerzausen – / ach, selbst das wirre Gelock stand ihr so schön zu Gesicht.“

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„Weib“ zur generellen Anklage gegen das weibliche Geschlecht, die ich in Ovids Äußerung nicht erkennen kann. „Das Weib“ kommt selbst ausführlich zu Wort in den 14 Briefen der Heroinen und dem einen der Sappho, die der Dichter als Gegenstück zu den Amores verfasste; wie der poeta/amator sprechen die Frauen elegisch, nehmen also ihrerseits unter anderem die Haltung des servitium amoris ein.11 Eben weil sie nicht dargestellt oder angeredet werden, sondern wir ihre Stimme hören, besteht von vornherein weit weniger als bei den Amores die Gefahr, dass das Bild, welches wir aus den Texten von den Frauen gewinnen, durch einen Übersetzer verändert wird. Eines freilich ist möglich, wenn eine metrische Verdeutschung vorliegt: Einzelne Bemerkungen einer Briefeschreiberin können, wenn aufgrund von Zugeständnissen an das Versmaß und an die Tradition der Sprachform in Versübersetzungen eine Formulierung ungewollt komisch klingt, auch die Frau, welche sie verwendet, zumindest vorübergehend komisch erscheinen lassen. Diesen Effekt konnte Bruno Häuptli in seiner Tusculum-Ausgabe von 1995, die sich insgesamt sehr flüssig und stilistisch ansprechend liest, an einigen Stellen leider nicht vermeiden. Wenn zum Beispiel die Nymphe Oenone sagt: attoniti micuere sinus (Ov. epist. 5,37) und Häuptli übersetzt: „Voll Entsetzen wogte mein Busen“, denkt man eher an eine Walküre als an eine Nymphe, zumal die Worte wohl einfach das bedeuten, was Hoffmann, Schliebitz und Stocker in der Reclam-Ausgabe bieten: „Mir bebte erschrocken die Brust.“ „Brust“ hätte auch als Wiedergabe von pectus in Ariadnes Vers protinus adductis sonuerunt pectora palmis (Ov. epist. 10,15) gut gepasst, wofür wir bei Häuptli dies lesen: „Alsbald erklangen darauf meine Brüste vom Schlag meiner Hände“, und der Übersetzer hat mit Busen und Brüsten auch sonst keine glückliche Hand. Aus Ov. epist. 15 (21) 191–194 in Sapphos Brief an Phaon, a quanto melius tecum mea pectora iungi, quam saxis poterant praecipitanda dari! haec sunt illa, Phaon, quae tu laudare solebas visaque sunt totiens ingeniosa tibi,

wird bei ihm: Doch wieviel besser wär’s, dich an meinen Busen zu drücken, als daß beim jähen Sturz er auf den Klippen zerschellt. Dies ist, Phaon, der Busen, den du zu preisen gewohnt warst, und er schien dir so oft voller Begabung zu sein.

Man kommt hier einfach nicht umhin, sich zu fragen, wie ein begabter Busen wohl aussehen mag, und so wird Sappho, die mit Hilfe einer im Deutschen nicht nachzuahmenden Paronomasie die konkrete und die übertragene Bedeutung von pectus || 11 Zu den Versbriefen immer noch grundlegend: Spoth (1992).

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gewissermaßen aufspaltet, zur lächerlichen Figur, was Häuptli zweifellos nicht bezweckt hat. Ebensowenig dürfte das seine Absicht bei den Pentametern gewesen sein, bei denen er die beiden Hälften sich reimen ließ. Die sich vor tödlicher Bedrohung auf Naxos fürchtende Ariadne lässt er sagen: „Wer untersagt es dem Schwert, daß durch den Rumpf es mir fährt“, so dass wir unweigerlich schmunzeln müssen, nachdem die Frau im Original durchaus mitleiderregend und ohne Knitteln à la Hans Sachs gesagt hat: quis vetat et gladios per latus ire meum? (Ov. epist. 10,88). Noch schlimmer wird es bei Laodamia im Zusammenhang mit der Wachspuppe ihres Protesilaus, über die sie sagt: adde sonum cerae, Protesilaus erit (Ov. epist. 13,156). Denn das übersetzt Häuptli, diesmal an Wilhelm Busch erinnernd, so: „Füge zum Wachs nur den Ton, Protesilaus ist’s schon.“ Das passiert ihm ausgerechnet bei einem Vers, bei dem wir durch die unfreiwillige Komik nun geradezu gezwungen sind, an moderne Versionen von Laodamias Puppe zu denken, die man früher bei Beate Uhse bestellen konnte und die jetzt im Internet angeboten werden. Häuptlis Verdeutschung des Sappho-Briefs enthält eine weitere Formulierung, die ihm bedauerlicherweise besonders missglückt ist und die Frau erneut in ein komisches Licht rückt, obwohl Ovid das schwerlich vorgibt. Ich möchte vor dem Zitieren dieser Formulierung eine Passage aus der Ars amatoria ansprechen, die, motivisch verwandt, bereits lange vor Häuptli in der deutschen Wiedergabe gänzlich misslang.12 Sie findet sich in einem Kontext, in dem es wie in dem zu Anfang betrachteten Distichon Ov. ars 2,719f. um Ratschläge für das Verhalten beim Koitus geht. Von der Frau als Partnerin im Bett sagt Ovid unter anderem ganz allgemein (Ov. ars 2,685f.): odi, quae praebet, quia sit praebere necesse, siccaque de lana cogitat ipsa sua.

Auf Deutsch hieß das für Franz Burger13 vor 97 Jahren: So eine haß ich, die gibt, weil man anders nicht könne als geben, Daliegt nüchtern und steif, Haushaltsgedanken im Kopf.

Obgleich man sich fragen muss, warum Ovid den Koitus mit einer, die nicht nüchtern ist, vorziehen sollte, übersetzt von Albrecht 1996, also lange nach der „sexual revolution“ – denn siccus, a, um kann laut Oxford Latin Dictionary 7a außer „dry“ auch „sober“ bedeuten – immer noch: „Ich verabscheue auch eine, die sich hingibt, nur weil das Gesetz es so will, und dabei nüchtern an ihre Wolle denkt!“ Aber dass sicca hier „trocken“, also „nicht nass“, heißen muss und wo die Frau nass sein sollte und weshalb, weiß selbst meine Generation, obwohl noch in meiner Studenten-

|| 12 Zum Folgenden vgl. auch Holzberg (2015c) 15–17. 13 So noch in Hertzberg/Burger (141980) 109. Vgl. auch Anm. 1.

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zeit von seriösen Medizinern die Lehrmeinung vertreten wurde, dem weiblichen Geschlecht sei der Orgasmus von Mutter Natur versagt. Ovids Sappho ist er es nicht, wie sie in Ov. epist. 15,133f. am Ende ihrer Schilderung von Träumen bekennt, in denen sie Sex mit Phaon hatte (Ov. epist. 15 (21) 133–134): ulteriora pudet narrare, sed omnia fiunt, et iuvat, et siccae non licet esse mihi.

Hoffmann, Schliebitz und Stocker, die zweifellos über die weibliche Physis und deren Möglichkeiten Bescheid wissen, teilen aber den pudor mit Sappho und übersetzen in ihrer Reclam-Ausgabe in Prosa: „Mehr zu erzählen, schäme ich mich, aber das alles geschieht, und es macht mir Freude, und es ist mir nicht möglich, mich zu beherrschen.“ Diese Umschreibung des tatsächlich Gesagten bringt in die Worte Sapphos, die der Antike als sehr lasziv galt und von Ovid auch so charakterisiert wird, ganz unpassend so etwas wie moralische Selbstkritik hinein. Sittenstrenge ist ja genau das, was man von der Schulbank her für ein wesentliches Charakteristikum des klassischen Altertums hält: O je, Ausscheidung von Vaginalsekret – welch ein Mangel an Beherrschung! Davon steht nichts im Original, und von diesem entfernt sich durch unfreiwillige Komik auch Häuptli: Weiteres zu berichten, ist peinlich, doch alles geschieht jetzt, und es macht Spaß, ich muß, bleib auf dem trockenen nicht.14

In dieser Wiedergabe erscheint die arme Sappho – zumindest kann man Häuptlis Pentameter so lesen – sogar als Bettnässerin! Als Übergang zu Metamorphosen und Fasti eignet sich sehr gut folgendes Distichon aus der Ars amatoria, das wir im Zusammenhang mit Ovids Ermahnungen zu geschickter obsequium-Strategie lesen (Ov. ars 2,185f.): quid fuit asperius Nonacrina Atalanta subcubuit meritis trux tamen illa viri.

Hertzberg/Burger übersetzen: Was war wilder als Atalanta, die Maid von Nonacris? Und durch des Mannes Verdienst wurde die Trotzige zahm.

|| 14 Marnitz (32001) hat weder die Ars- noch die Heroides-Stelle verstanden: „Häßlich die Frau, die gewährt, weil sie meint, das sei nun einmal nötig, / und dabei trocken und steif an ihren Strickstrumpf nur denkt!“ (Ov. ars 2,685f., Übers. Marnitz) bzw. „Mehr zu erzählen müßt’ ich mich schämen, und doch geschieht alles / und es ist süß und ich möchte ohne dich gar nicht mehr sein“ (Ov. epist. 15,133f., Übers. Marnitz).

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Mag sein, dass der aus nur fünf Wörtern bestehende versus spondiacus im Deutschen zum „Auffüllen“ zwingt, aber entweder denken wir bei der Maid erneut an eine Wagner-Walküre oder an das Bierzelt-Chorlied, das den ansonsten obsoleten Ausdruck einzig bewahrt haben dürfte: „Schöne Maid, / hast du heut für mich Zeit …“ Während Milanion sich die Gunst seiner Atalanta durch merita redlich erwirbt, fehlt mehreren Göttern sowie den Königen Pyreneus, Tereus und Peleus in Ovids Hauptwerk bei den von ihnen begehrten „Maiden“ die Geduld dazu: Sie ziehen den kurzen Prozess einer Vergewaltigung vor. Um das Bild der Frau, das Ernst Röschs 1951 erschienene und bis 1996 dreizehnmal neu aufgelegte Tusculum-Übersetzung der Metamorphosen im Kontext der über 40 Fälle von Nötigung bzw. erzwungenem Sex15 vermittelt, soll es im Folgenden ausschließlich gehen, bevor wir am Ende noch kurz auf Ovids Umgang mit dem Motiv in den Fasti blicken. Es handelt sich hier um ein Thema, das Altphilologen ängstlich zu tabuisieren pflegten, bis es endlich im Jahre 1978 durch den Amerikaner Leo Curran in einem bahnbrechenden Aufsatz in der avantgardistischen Zeitschrift Arethusa zur Sprache gebracht wurde.16 Vorher und auch weiterhin las man in Kommentaren, Nacherzählungen, Literaturgeschichten etc. von Amouren, erotischen Abenteuern oder Schäferstündchen, in denen z.B. der Schürzenjäger oder Don Juan Jupiter als feuriger Liebhaber eine irdische Schöne verführte oder eroberte. Darauf, dass er und die anderen Götter der Metamorphosen vielmehr mit rücksichtsloser Brutalität vorgehen und bei der Annäherung an die Frau, auf die sie es abgesehen haben, nicht vor Täuschungsstrategien zurückschrecken, die teilweise richtig gemein sind, machte – man möchte es eigentlich nicht glauben – zuerst Curran aufmerksam. Bei Rösch habe ich das Wort „vergewaltigen“, etwa für vim ferre, dass sich durchaus in einen Hexameter einbringen lässt, in seiner Übersetzung nirgendwo und in seinem Anhang nur einmal im Zusammenhang mit Tereus gefunden, der Philomela zusätzlich die Zunge abschneidet; da konnte er denn doch wohl nicht einen verharmlosenden Ausdruck verwenden.17 Das erste Opfer göttlicher Geilheit ist Io, nachdem Daphne mit einer Verwandlung in letzter Not davonkommen konnte. Rapuit pudorem (Ov. met. 1,600) nennt der Erzähler, was Jupiter tut, und Rösch übersetzt „raubte ihr Magdtum“. Wer heute noch weiß, dass Magd (wie die Nebenform Maid) ursprünglich auch Jungfrau be-

|| 15 Daphne (1,452–567); Io (1,568–746); Syrinx (1,689–712); Callisto (2,401–530); cornix (2,569–588); Europa (2,833–875); Liriope (3,342–344); Leucothoe (4,190–255); Hermaphroditus (4,288–388); Medusa (4,794–803); Musen 5,273–293; Proserpina (5,341–408); Philomela (6,412–562); Orithyia (6,682–721); Perimele (8,592–610); Mestra (8,850f.); Dryope (9,331f.); Thetis (11,229–265); Chione (11,301–317); Caenis (12,189–209); Scylla (13,898–968); Pomona (14,766–771); dazu kommen die in Ov. met. 6,103–126 aufgezählten Fälle von Vergewaltigung. 16 Vgl. auch Richlin (1992) und Doblhofer (1994). 17 Rösch in der 10. Auflage von 1983 S. 745; nach dieser Ausgabe zitiere ich im Folgenden, da ich seine verharmlosende Ausdrucksweise ab der 11., überarbeiteten Auflage (1988) korrigiert habe.

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deutete,18 darf das als adäquate Wiedergabe ansehen, aber für die vielen, die es nicht wissen, klingt die Formulierung biblisch, was eher nicht an brutale Penetration denken lässt. Die Inhaltsübersicht notiert zu Io eher unbestimmt „von Juppiter verfolgt und überwältigt“19, und im Namenregister erscheint die Nymphe sogar als „Geliebte des Juppiter“20. Wie sie, unmittelbar nach der Vergewaltigung in eine Kuh verwandelt, das sein könnte, ist unerfindlich, zumindest wenn man das Wort im heutigen Sinne versteht.21 Aber als „Geliebte“ bezeichnet Rösch z.B. auch Perimele, die gleich nach der gewaltsamen Defloration durch Achelous (Ov. met. 8,592) von ihrem Vater im Meer ertränkt wird,22 ja selbst Chione, über die am selben Tag hintereinander im Abstand von nur wenigen Stunden der Götterbote und der Delphier, dieser in Gestalt einer alten Frau, sich hermachen; „Geliebte des Mercurius und Apollo“ vermerkt das Namenregister.23 Auch das nicht eindeutige Verb „überwältigen“ gebraucht Rösch noch zweimal im index nominum: für die Vergewaltigung Callistos durch Jupiter und die Vergewaltigung der Thetis durch Peleus.24 Was geschieht, als die Meergöttin sich nach mehreren Metamorphosen in ihrer wahren Gestalt gezeigt hat, formuliert der Erzähler wie folgt (Ov. met. 11,264f.): confessam amplectitur heros, et potitur votis ingentique implet Achille.

Rösch, der wegen des Verszwangs confessam durch „darauf“ wiedergeben muss, schreibt: Darauf umarmte der Held sie, hat erlangt seinen Wunsch, sie erfüllt mit dem großen Achilles.

Genauer und besser verständlich zu übersetzen versucht von Albrecht mit seiner Prosa, die ihm das natürlich erleichtert: „Nachdem sie sich so offenbart hat, umfaßt sie der Held, gelangt ans Ziel seiner Wünsche und schenkt ihr den gewaltigen Achilles.“ Das klingt nach Friede, Freude, Eierkuchen im Hochzeitsbett, steht aber so nicht da. Denn bei amplectitur, das mit „Flechten“ verwandt ist,25 denkt man, da Peleus die Göttin vorher gefesselt hat, eher an ein kräftiges Umschlingen – Vergil z.B. verwendet amplexus implicare im Zusammenhang mit den zwei Schlangen, die sich um die Söhne des Laokoon legen (Verg. Aen. 2,214) – potiri bedeutet ein gewalt-

|| 18 Kluge/Seebold (1989) 454. 19 Rösch (101983) 659. 20 Ebd. 721. 21 Vgl. Drosdowski (1989) 583 s.v. „Geliebte“ 1 a). 22 Rösch (101983) 744. 23 Ebd. 704. 24 Rösch (101983) 723 (vgl. 660) und 761 (678 „überwunden“). 25 Kluge/Seebold (1989) 219 s.v. flechten.

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sames Besitzergreifen, votum kann auch das Objekt eines Wunsches bezeichnen (Oxford Latin Dictionary, s.v. votum 3e), und implere mit Ablativ heißt nun wirklich nicht „beschenken mit“. Was steht also tatsächlich da? „Er schlingt seine Arme um sie, vergewaltigt sie, die er sich gewünscht hat, und füllt ihr den Leib mit dem riesigen Achilles voll.“ So hört es sich allerdings nicht mehr wie das Ende der GuteNacht-Geschichte für die lieben Kinderlein an. Zurück zu den Göttern und ihren Vergewaltigungsopfern! Auf dem Gewebe Arachnes, das sie im Wettbewerb mit Minerva verfertigt, ist das Motiv 21-mal dargestellt; hier der Text, dem ich, um mich auch selbst der Kritik auszusetzen, meine eigene Versübertragung beigebe (Ov. met. 6,103–126): Maeonis elusam designat imagine tauri Europam; verum taurum, freta vera putares. ipsa videbatur terras spectare relictas et comites clamare suas tactumque vereri adsilientis aquae timidasque reducere plantas. fecit et Asterien aquila luctante teneri, fecit olorinis Ledam recubare sub alis; addidit, ut Satyri celatus imagine pulchram Iuppiter implerit gemino Nycteida fetu, Amphitryon fuerit, cum te, Tirynthia, cepit, aureus ut Danaen, Asopida luserit ignis, Mnemosynen pastor, varius Deoida serpens. te quoque mutatum torvo, Neptune, iuvenco virgine in Aeolia posuit; tu visus Enipeus gignis Aloidas, aries Bisaltida fallis, et te flava comas frugum mitissima mater sensit equum, sensit volucrem crinita colubris mater equi volucris, sensit delphina Melantho. omnibus his faciemque suam faciemque locorum reddidit. est illic agrestis imagine Phoebus, utque modo accipitris pennas, modo terga leonis gesserit, ut pastor Macareida luserit Issen, Liber ut Erigonen falsa deceperit uva, ut Saturnus equo geminum Chirona crearit.

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Doch die Lyderin zeichnet Europa, getäuscht von dem falschen Stier; für real hättst du da den Stier und die Fluten gehalten. Jene erblickte man, wie zum verlassenen Land sie zurücksah, nach den Gefährtinnen rief, die Berührung durchs Wasser, das hochsprang, fürchtete und daher die Fußsohlen ängstlich zurückzog. Auch ließ sie den Adler Asterië packen und mit ihr ringen, ließ unter Schwanenfittichen liegen die Leda; fügte hinzu, wie, als Satyr getarnt, mit doppelter Frucht die schöne Tochter des Nykteus Juppiter schwanger gemacht hat, wie er Amphitryon war, als er dich, Tiryntherin, packte, wie er Danaë täuschte als Gold, als Feuer Asopus’

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Tochter, als Hirte Mnemosyne, wie als schillernde Schlange Deos Tochter. Neptun, als finster blickenden Jungstier legte sie dich auf Äolus’ Kind. Als Enipeus erscheinend zeugst du die Aloïden, als Widder täuschst du Bisaltes’ Tochter, die blonde, gnadenreiche Mutter der Feldfrucht spürte dich als ein Pferd, als Vogel die schlangenbehaarte Mutter des Flügelpferdes und als Delphin die Melantho. Allen gab sie das ihnen eigene Aussehn und das des Ortes. Da ist Phöbus, wie er als Landmann sich tarnt und wie er bald das Gefieder des Habichts, bald eines Löwen Rücken trägt, wie als Hirt er Isse, die Macareustochter, täuschte, wie Liber als falsche Traube Erigone narrte, wie Saturnus als Pferd den Kentauren Chiron gezeugt hat.

Rösch verharmlost mehrere der in diesen Versen kurz referierten Vorgänge im Namenverzeichnis. Zu Asterie erläutert er dort: „Geliebte Juppiters, von diesem in Gestalt eines Adlers heimgesucht“.26 Wie unzutreffend „Geliebte“ auch hier ist, versteht sich von selbst, und „heimgesucht“ statt „vergewaltigt“ – Rösch schreibt entsprechend über Medusa: „von Neptunus in Gestalt eines Hengstes heimgesucht“27 – passt zwar insofern, als eine Heimsuchung immer irgendetwas Negatives mit sich bringt, aber heute denken wir, wenn wir das Verb überhaupt verwenden, am ehesten an einen plötzlichen Überfall auf unser Heim durch den Besuch unliebsamer Verwandter am Wochenende, und der ist vielleicht doch erträglicher als die Vergewaltigung durch einen Adler. Ein weiteres Verb gebraucht Rösch im Zusammenhang mit Antiope, der Tochter des Nycteus, der Mnemosyne, der Isse und der Erigone: Sie alle werden von dem jeweiligen Gott „berückt“, Antiope von Jupiter in Gestalt eines Satyrn,28 Mnemosyne von ihm in Gestalt eines Hirten,29 Melantho von Neptun in Gestalt eines Delphins,30 Isse von Apollo in Gestalt eines Hirten31 und Erigone von Bacchus in Gestalt einer Traube.32 „Berücken“ ist zwar von seiner Etymologie her erstaunlich gut passend – laut dem Duden-Universalwörterbuch bedeutet es „eigentl. [ … ] mit einem Ruck das (Fang)netz zuziehen (Sprache der Fischer u. Vogelsteller)“, und allein schon ein „Ruck“ ist vermutlich bei jeder Vergewaltigung dabei –, aber heute steht es für „bezaubern, betören, faszinieren“, wofür das Nachschlagewerk die Beispiele „jmdn. mit Worten, Blicken b.; er ist ganz berückt von ihrer Schönheit; ein -der Anblick“ nennt.33 Haben wir uns somit vorzustellen, dass

|| 26 Rösch (101983) 698. 27 Ebd. 729. 28 Ebd. 736. 29 Ebd. 732. 30 Ebd. 730. 31 Ebd. 722. 32 Ebd. 712. 33 Drosdowski (1989) 239.

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Antiope vom Anblick eines Satyrn oder Melantho vom Anblick eines Delphins oder Erigone vom Anblick einer Weintraube sexuell so erregt sind, dass sie sofort zum Geschlechtsverkehr mit ihnen bereit sind? Wir wissen zwar über einen Teil der Mythen, die Ovid andeutungsweise evoziert, fast nichts, etwa über den von Bacchus und Erigone. Aber dort wird, wenn ich diese Vermutung äußern darf, eher zu lesen gewesen sein, dass der Gott die Frau als Weintraube anlockt, sich dann blitzschnell in seine eigene Gestalt zurückverwandelt und über sie herfällt.34 Alle auf dem Gewebe der Arachne abgebildeten Götter täuschen den Frauen, auf die sie es abgesehen haben, etwas vor, und der Erzähler sagt das auch mehrfach, wobei er das Verbum variiert: außer eludere (Ov. met. 6,103) verwendet er zweimal ludere (Ov. met. 6,113, 124) und je einmal fallere (Ov. met. 6,117) und decipere (Ov. met. 6,125); hinzu kommen celatus imagine (Ov. met. 6,110) und imagine (Ov. met. 6,122). Die Unsterblichen verhalten sich also wie Betrüger, und deshalb ist schwer begreiflich, warum Rösch ludere einmal in einer Bedeutung übersetzt, die es hier zweifellos nicht hat: Er schreibt für ut pastor Macareida luserit Issen (Ov. met. 6,124) „wie er als Hirte mit Isse, der Tochter des Macareus, spielte.“ Wahrscheinlich meint er „sein Spiel trieb“, aber bei „spielte“ assoziiert man ein fröhliches rumpy pumpy, wie es so schön auf Englisch heißt, keinen mit Gewalt erzwungenen Sex. Ähnlich verhält es sich mit Röschs Wiedergabe dessen, was der Erzähler zu Alcmene sagt: Aus ut … Amphytrion fuerit, cum te, Tirynthia, cepit (Ov. met. 6,112) wird bei ihm „wie er Amphitryon war, als er dich Alcmene gewann“, aber unter „gewinnen“ hat man, wie ich meine, ein erfolgreiches Werben zu verstehen, das eine positive Reaktion der Umworbenen herbeiführt; capere dagegen ist, wie oft in erotischen Kontexten, Metapher aus dem militärischen Bereich und bezeichnet hier ebenso eine gewaltsame Eroberung wie im ersten Vers der ersten Properz-Elegie: Cynthia prima suis miserum me cepit ocellis (Prop. 1,1). Immerhin wird Alcmene laut Röschs Namenregister „von Juppiter in Gestalt des Amphitryon getäuscht“,35 aber zu Bisaltis bemerkt er dort: „Neptunus naht ihr als Widder“.36 Das veraltete, unter anderem durch Luthers Bibelübersetzung bekannte Verb lässt eher an eine Epiphanie in Tiergestalt als an eine Vergewaltigung denken. Es dürfte deutlich geworden sein, dass Vergewaltigung bei Rösch – und das gilt auch für andere Übersetzer – verharmlost wird, so dass der Eindruck entstehen kann, die betroffenen Frauen seien zum Koitus mit dem jeweiligen Gott bereit gewesen. Ich kann es mir daher ersparen, nun auch noch zu erörtern, wie die Übersetzer früherer Zeiten mit den insgesamt 14 Vergewaltigungen in den Fasti37 umgingen. || 34 Rosati/Chiarini (2009) 267 bemerkt zu dem Mythos nur: „Liber … uva: anche questa storia di seduzione […] non è altrimenti nota.“ 35 Rösch (101983) 693. 36 Ebd. 730. 37 Lotis (1,393–440); Callisto (2,153–192); Herkules in Frauenkleidern (2,303); Venus (2,461); Iuturna (2,585–598); Lala (2,599–616); Lucretia (2,721–852); Rhea Silvia (3,9–40); Anna (3,647–648);

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Einen Fall möchte ich jedoch zum Schluss ansprechen: die Szene am Anfang von Buch 3, in der Mars die schlafende Rhea Silvia schwängert. Der lateinische Text lautet (Ov. fast. 3,21f.): Mars videt hanc visamque cupit potiturque cupita et sua divina furta fefellit ope.

Wolfgang Gerlach übersetzt in der Tusculum-Ausgabe von 1960: So sieht Mars sie. Der Gott begehrt sie und stillt sein Verlangen; Aber mit göttlicher Macht lässt er verborgen die Tat.

Nicht nur wird wieder einmal verschleiert, dass der Gott die Frau vergewaltigt – potiturque cupita heißt nicht „stillt sein Verlangen“ –, sondern auch nicht die atemberaubend schnelle Abfolge der Aktionen des Gottes, also der „Vergewaltigungs-Quickie“ wenigstens einigermaßen nachvollzogen. Gewiss, das ist nicht leicht in einem deutschen Hexameter. Aber ist unter dieser Voraussetzung eine Prosaübersetzung wie die von Gerhard Binder besser? Er bietet in seiner ReclamAusgabe von 2014: „Mars sieht die Vestalin, begehrt sie augenblicklich; er bemächtigt sich der Begehrten und täuscht über sein heimliches Vergehen mit göttlicher Macht hinweg.“ Ja, das ist ziemlich wörtlich, andererseits in der Formulierung ein wenig schwerfällig, so dass auch in dieser Version die Geschwindigkeit des Vorgangs nicht recht zum Ausdruck kommt. In meiner Tusculum-Ausgabe der Fasti von 1995 versuchte ich es so: Mars nun erblickt, begehrt, vergewaltigt sie, schaffte es aber Dank seiner göttlichen Kraft, daß ihr sein Treiben entging.

Hier wird zwar deutlich, dass Ovid vielleicht auf das berühmte veni vidi vici anspielt, aber die Partizipien visamque und cupita, die wesentlich zur Versprachlichung einer Blitzaktion beitragen, sind nicht wiedergegeben. Deshalb würde ich jetzt folgende Lösung vorziehen: Mars sieht, will, die er sieht, vergewaltigt sie, die er will, und täuschte mit göttlicher Macht über den Diebstahl38 hinweg.

Doch ich bin von meinem eigentlichen Thema, den Frauen bei Ovid in deutschen Übersetzungen, etwas abgekommen, zugleich aber auch am Ende meiner Ausführungen angelangt. || Proserpina (4,417–450); Flora (5,201f.); Europa (5,603–620); Carna (6,101–130); Vesta (6,319–348). 38 furta dürfte hier in der Grundbedeutung gemeint sein, wie Ursini (2008) 85 z.St. überzeugend bemerkt.

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Jutta Eming

Melancholie im Minnesang Zu Morungens ‚Narzisslied‘ Der Narziss-Mythos erzählt von einem berückend schönen Jüngling, der gegenüber jeglichem Begehren, das er auf sich zieht, gleichgültig bleibt, bis er in einem Quell sein Spiegelbild entdeckt und sich in dieses verliebt. Verzweifelt über die Unmöglichkeit solcher Selbstliebe, tötet er sich selbst und wird zur Narzisse. In seiner unmittelbaren Umgebung durchläuft die Nymphe Echo, die ebenfalls unglücklich in ihn verliebt und von ihm abgewiesen worden war, eine Metamorphose zu einem Klang, der auf alle Zeiten wiederhallt. Ja, das Unglück Echos, welches der Erzähler eindrücklich beklagt,1 wird eigentlicher Anlass für den strafenden Akt der Götter, in dem Narziss sich selbst erkennt. Der Umstand, dass Echo in der Ovid-Rezeption dennoch eine ungleich unbedeutendere Rolle spielte als Narziss, belegt die kulturgeschichtliche Marginalisierung der in der Vormoderne ubiquitären Figur der Nymphe.2 Die Nymphen aus Ovids Metamorphosen sind noch vergleichsweise reichhaltig tradiert worden, und die ebenso medien- wie mythosgeschichtlich prägnante Konstellation von Narziss und Echo hat historisch allusive Spielräume eröffnet, welche längst nicht ausgeschöpft sein dürften.3 Echo scheint durch die ihr zugewiesene Rolle, Reflex und Wiederholung der Stimmen anderer zu sein, jedoch auf eine immer schon nachgeordnete Position verwiesen, 4 als Klangphänomen aus Bewegung und Luft ist sie zudem auf die Naturseite des Mythos festgelegt, während Narziss im Spiegelbild selbstreflexive Kunst verkörpert.5 Insgesamt verblasst ihre figura schließlich gegenüber der Faszinationskraft kultureller Störungen, welche der sich selbst genügende und folglich an sich selbst zugrunde gehende schöne Mann signifiziert. Die Ur-Szene des Blicks in den Spiegel beziehungsweise in das spiegelnde Wasser wird bis heute auf unterschiedlichen kulturgeschichtlichen Ebenen als Paradigma in Anspruch genommen: || 1 Vgl. Ov. met. 3, 370–400. 2 Vgl. Enenkel/Traninger (2018). 3 Zu mediengeschichtlichen Aspekten vgl. insbesondere Kiening (2009), Bleumer (2010); für das 17. Jahrhundert unter wissenschafts-, musik- und literaturgeschichtlichen Aspekten Schnyder/Leimgruber (2019). Vgl. für Neuzeit und Moderne ansonsten auch die umfassende Studie von Schulze (2015). Einen Überblick über die intensive Rezeption von Ovid im Mittelalter mit Beispielen von Übersetzungen der Metamorphosen gibt Klein (2008). 4 Eine überzeugende Gegenlektüre, welche den verändernden Charakter des Echos betont, hat unter anderem Käll (2015) entwickelt, vgl. insbesondere 61–64. Eine ausführliche Darstellung der Rezeption Echos im dekonstruktiven Feminismus gibt Sylvia Pritsch (2008), dieser würde die „EchoStrategie mimetischer Rede […] letztlich ambivalent“ einschätzen (vgl. ebd. 253). 5 Vgl. Berns (2011) 140. https://doi.org/10.1515/9783110703221-003

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für ein einflussreiches literarisches Liebeskonzept, für ästhetische Wahrnehmung, für eine pathologische Persönlichkeitsstruktur und das Unvermögen, sich in Andere einzufühlen, und vieles mehr. Die Adaption des Mythos, um die es im Folgenden geht, gehört einer literarischen Gattung an, die wie alle Gattungen eigenen Gesetzen folgt, in diesem Falle denen der Lyrik. Diese Lyrik ist zudem spezifisch mittelalterlich konfiguriert. Minnesang, das weiß, wer sich einmal mit ihm befasst hat, folgt eigenen Regeln, die sich von denen moderner Lyrik – wenn so weit verallgemeinert werden darf – in einigen Hinsichten unterscheiden: in poetologischer, soziologischer, überlieferungsgeschichtlicher Hinsicht und in derjenigen der Geschlechterbeziehungen.6 Minnesang, genauer seine bekannteste Spielart, die sogenannte Hohe Minne, inszeniert eine asymmetrische Beziehung zwischen einem männlichen lyrischen Ich und einer von ihm geliebten, unerreichbaren Frau. Allen Zurückweisungen entgegen hält der Mann an der Liebe fest und analysiert seine Gefühlswelt dabei eingehend. Dieses Liebeskonzept ist in Frankreich entwickelt worden (grant chant courtois) und wurde anschließend, wie die höfische Kultur des Hochmittelalters überhaupt, im deutschsprachigen Raum adaptiert. Für den deutschen Sprachraum wird von Minnesang gesprochen, genauer von der Hohen Minne, denn der Minnesang ist in sich differenziert.7 Die poetologische Konsequenz des Umstands, dass der Narziss-Mythos im Minnesang in einen literarischen Rahmen eingefügt wird, der ihm Bedingungen auferlegt, ist eingehend analysiert worden.8 Mich interessiert dieser Transfer hinsichtlich des Umgangs mit Geschlecht, und in diesem Zusammenhang ferner mit Aspekten von Emotionalität und Temporalität: mit Fragen danach, welche Gefühle9 die Beziehung evoziert und wie diese zeitlich bedingt sind. Das Lied, um das es sich handelt, gilt als eines der wichtigsten und schwierigsten des deutschen Minnesangs überhaupt: Heinrichs von Morungen Mir ist geschehen als einem kindelîne, das sogenannte ‚Narzisslied‘. Erst kürzlich hat Manfred Kern gemeinsam mit Cyril Edwards und Christoph Huber ein Buch herausgegeben, das einzig dem Zweck gewidmet ist, die Schwierigkeiten der Interpretation dieses Liedes erneut zu reflektieren und möglichen Lösungen zuzuführen. In diesem Zusammenhang werden Aspekte der Adaption des Narziss-Mythos im Kontext der Liebeskonzeption der Hohen Minne und poetologische Auswirkungen des Gattungs- und Erzählform-Wechsels – vom Narrativ des Mythos hin zur lyrischen Form –, der die Morungen-Forschung seit langem

|| 6 Zu Forschungsperspektiven vgl. Gerok-Reiter (2019). 7 Für einen einführenden Überblick vgl. immer noch Kasten (1988). 8 Vgl. den Überblick bei Müller (2010) 5–8. 9 Im Rahmen dieses Aufsatzes muss ich dabei keine kategoriale Unterscheidung zwischen ‚Gefühlen‘ und ‚Emotionen‘ treffen, wie sie in der Emotionsforschung geläufig ist.

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beschäftigt,10 allenthalben thematisch. Weitgehend ausgeklammert bleibt jedoch ein eklatanter Widerspruch, der mit Blick auf die Geschlechterverhältnisse virulent wird und die den Dichtungen je eigenen emotionalen Valenzen und temporalen Konfigurationen tangiert: Während die Frau in Ovids Narziss-Mythos zurückgewiesen, entkörperlicht und in einen zeitlosen Klageton transformiert wird (Echo), ist sie im Minnesang qua Gattungskonvention umgekehrt gerade in ihrer körperlichen Schönheit zum Ideal erklärt, ist vollkommenes und deshalb unnahbares und unerreichbares Zentrum der Gedanken- und Gefühlswelt des Dichters. In dieser Konstellation erweckt sie Emotionen – Sehnsucht, Ungeduld, Unsicherheit – welche durch ihre temporalen modi den Sang modellieren, während die als ‚narzisstisch‘ markierten Emotionen im Mythos das männliche Ich zum Gegenstand haben und die Frau nur indirekt betreffen. Welche Konsequenzen hat es also für die zur ‚Herrin‘ stilisierte Frau, wenn der Liebe zu ihr in Morungens ‚Narzisslied‘ die Eigenliebe des lyrischen männlichen Ich zur Seite tritt? Wie wird das Sich-Selbst-Begehren mit anderen Begehrensformen je vermittelt? Welches nicht zu erfüllende Begehren wird in welcher Form betrauert oder – wie im Titel angekündigt – melancholisch umkreist? Diese Fragen leiten die folgenden Überlegungen.

Zum Gattungskontext In der Hohen Minne geht es um die Grundsituation, dass ein männliches lyrisches Ich eine Frau liebt, die für ihn aus Gründen der Werthaftigkeit unerreichbar ist. Anders als im französischen Frauendienst steht sie weniger sozial als ethisch ‚hoch‘11 und wird dafür radikal idealisiert; sie ist nicht nur schön, sondern auch Trägerin aller Tugenden, summum bonum, Inbegriff alles Guten. Zum Gegenstand einer schier endlosen Bandbreite an Varianten lyrischer Texte wird diese Grundkonstellation nicht als solche. Vor allem die aus ihr abgeleitete Frage, was es für den Mann bedeutet, eine Frau zu lieben, die ihn nicht erhört oder erhören kann oder will, dynamisiert das Modell. Eine mögliche Antwort auf diese Frage lautet, dass der Mann dient, indem er dichtet, und sich annähert, indem er weibliche Tugend zu seinem Leitbild erklärt. Liebe wird damit als selbstreflexiv und literarisch produktiv konzeptualisiert.

|| 10 Vgl. ebenfalls Müller (2010) 5–8 und die angesichts der von ihm identifizierten zwei ‚Lager‘ der Ovid-Rezeption gezogene Quintessenz, das Morungenlied nicht mehr einer von beiden Seiten zuzuschlagen, sondern einer eingängigen Re-Lektüre zu unterziehen. Ganz ähnlich verfährt der Band von Kern u.a. (2015). 11 Zu diesbezüglichen Unterschieden zwischen Frankreich und Deutschland vgl. Kasten (1986) 226f. et passim.

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Wenn in der Mediävistik von ‚Sang‘ die Rede ist, liegt dies im Verständnis von Minnelyrik als einer Vortragskunst am Feudalhof des Mittelalters begründet. Wie berechtigt diese Vorstellung ist und wie wörtlich man Anspielungen auf Performanz in den Liedern nehmen sollte, ist umstritten.12 Aus der Vortragssituation wurde ferner die These abgeleitet, dass es sich bei Minnesang um Rollenlyrik handele: Gerade weil er in erster Linie als (Vortrags-) Künstler agiert, berichtet des Sänger nicht über selbst Erlebtes oder Gefühltes, sondern nimmt die Rolle eines Liebenden ein und spielt in immer neuen Varianten durch, was die Zurückweisung der Frau für ihn bedeutet. Der Variantenreichtum führte auch zur These von der Liebe als einem Gesellschaftsspiel, vom ‚Spiel mit der höfischen Liebe‘ insbesondere in der Romania.13 Eine solche Rollendistanz lässt sich allerdings, wie mittlerweile kritisch elaboriert worden ist, aus dem Duktus der Lieder kaum ableiten.14 Schon in der Frühzeit des Minnesangs hat es, auch in Form poetischer Gegenentwürfe wie der in der Trobadorlyrik wenig bekannten Konvention der Frauenstrophe, Kritik an der fehlenden Gegenseitigkeit oder Unerfüllbarkeit der Liebe gegeben.15 Gegenentwürfe wären im französischen Gattungssystem etwa die Pastourellen, an die sich im deutschsprachigen Minnesang Walther von der Vogelweide mit einigen Liedern anlehnt, die ihrerseits als Abkehr von den Prinzipien der Hohen Minne begriffen werden.16

|| 12 Vgl. Strohschneider (1996), Cramer (1998) 9–49, der aus fehlenden Indizien für eine Vortragssituation unter anderem das produktionsästhetische Argument einer Verfassung für die Schriftlichkeit ableitet. Zur damit in Zusammenhang stehenden ebenfalls umstrittenen Frage des ‚Berufsdichtertums‘ vgl. Kasten (1986) 329–343, zu Morungen und Reinmar. 13 Vgl. Neumeister (1969). Kasten (1986) 267 hält fest, dass „spielerische Elemente des trobadoresken Frauendienstes insgesamt im Minnesang kaum Entsprechung finden.“ Für den Spielbegriff plädiert mit Blick auf die Möglichkeit, eine literarische Öffentlichkeit zu entwerfen, Cramer (1998) 125–130. Beate Kellner nimmt die Formulierung schon im Titel ihrer neuen Publikation wieder auf, vgl. Kellner (2018), der Spielbegriff ist für ihre Untersuchungen allerdings keine leitende Kategorie. 14 Vgl. insbesondere Haferland (2000). 15 Vgl. Kasten (1986) 205, im Einzelnen die Diskussion bei Kasten (1995) 912–914. Unter ‚Erfüllung‘ oder auch ‚Lohn‘ ist dabei nicht mehr als ein semantischer Platzhalter zu verstehen, der sich in der Trobardorlyrik auf eine Vielzahl von Möglichkeiten zwischen konkreten sozialen Gunstbeweisen und raffinierten Erlebnismöglichkeiten beziehen kann, vgl. dazu Kasten (1986) 188–201. Gegenüber dieser „Vielfalt der Standpunkte und der Komplexität der Aspekte in der Trobadorlyrik wirkt die Auseinandersetzung mit der Liebe im deutschen Minnesang eher vereinfacht, und dieser Eindruck wird durch die allgemeine ethisierende Deutung des Frauendienstes noch verstärkt“ (ebd. 264). Gegen die Gewohnheit der Forschung, den frühen Minnesang von den romanischen FrauendienstModellen her zu erschließen, wendet sich mit dem Argument einer großen formalen und thematischen Offenheit seiner Strophen neuerdings Benz (2014). 16 Dazu gehören das berühmte ‚Lindenlied‘ ebenso wie Nemt, frowe, diesen kranz und eventuell Si wunder wol gemachet wîp oder Herzeliebez vrouwelîn, vgl. die Diskussion bei Kasten (1986) 343–362; im Einzelnen bei Kasten (1995) 912–914; 961–965; 940–943; 930–933.

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Folgendes Beispiel kann die skizzierte Grundsituation in ihren Konsequenzen für den männlichen Sänger illustrieren und hat dafür seinerseits hohe Bekanntheit erlangt: Gewan ich ze minnen ie guoten wân, nu hân ich von ir weder trôst noch gedingen, wan ich enweiz, wie mir sule gelingen, sît ich si mac weder lâzen noch hân. mir ist als dem, der ûf den boum dâ stîget und niht hôher mac und dâ mitten belîbet unde ouch mit nihte wider komen kann und alsô die zît mit sorgen hine vertrîbet. (Rudolf von Fenis, Gewan ich ze minnen 63,1 [MF 80,1]) Wenn ich jemals auf die Minne Hoffnung gesetzt hatte, dann habe ich jetzt weder Trost noch Vertrauen durch sie. Denn ich weiß nicht, wie es mir gut gehen sollte, wenn ich sie weder lassen noch haben kann. Mir geht es wie einem, der auf einem Baum klettert und nicht höher kommt und in der Mitte stecken bleibt, aber auch nicht wieder hinunterkommen kann und deshalb die Zeit in Ängsten verbringt.17

Es handelt sich um die erste Strophe eines Liedes von Rudolf von Fenis, der die romanische Lyrik besonders gut gekannt und viele ihrer Motive in seinem eigenen Œuvre verarbeitet hat. Im vorliegenden Fall entnimmt er wohl aus einem Lied des Trobadors Foulquet de Marseille das Bild des Baumkletterers, das die ‚dilemmatische Qualität‘18 der Liebe verdeutlicht und damit zugleich den sogenannten paradoxe amoureux dieser Art von Liebeslyrik. Der Begriff des paradoxe amoureux wurde vom Romanisten Leo Spitzer geprägt: „un amour qui ne veut posséder, mais jouir de cet état de non-possession“.19 Das hier implizierte durative Moment der Unerfüllbarkeit (Zustand, état) ist wichtig, denn aus ihm wird emotionaler und künstlerischer Gewinn bezogen. Entsprechend kann die Vorstellung, dass die Liebe realisiert würde, dass die wie auch immer gearteten Wünsche des Mannes erfüllt werden könnten, diesen unsicher werden lassen: Er stürmt gerade nicht auf das Ziel zu, sondern bleibt auf halbem Wege stecken. Warum? Weil die Frau nicht mehr begehrenswert wäre, aber auch, weil dann die Möglichkeit entfiele, ein Lied über das Begehren zu dichten. Damit changiert der Minnesang zwischen Liebes- und Dichtungs- oder Kunstreflexion. Auffällig und für die weitere Diskussion wichtig wird hier außerdem der Begriff wân, der vieles heißen kann: Vorstellungen, Hoffnungen, Einbildungen, Trügerisches. In jedem Fall geht es um etwas Sekundäres: Nicht um das, was die Liebe in der Realisierung tatsächlich zu geben hat, sondern um Ideelles, das sie vermittelt.

|| 17 Kasten (1995), 140–143. Meine Übersetzung. 18 Vgl. ebd. 663. 19 Spitzer (1959) zitiert bei Kasten (1995) 663.

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Eine schwierige Überlieferungssituation Der Sänger, von dem es Anhaltspunkte gibt, dass er vermutlich um 1220 gestorben ist, nannte sich vielleicht nach der Burg Morungen bei Sangerhausen in Thüringen und wird mit einem Ministerialengeschlecht aus dieser Gegend in Verbindung gebracht. Seine Lieder weisen Spuren gelehrter Bildung auf und deuten auf eine besondere Vertrautheit mit romanischer Lyrik hin. Morungen gilt neben Reinmar als einer der wichtigsten Vertreter des klassischen Minnesangs im deutschen Sprachgebiet, die das aus der Romania importierte Konzept des Frauendienstes eigenständig weiterentwickeln.20 Das ‚Narzisslied‘ ist sein bekanntestes Lied, das intensiv erforscht wurde und manchen Interpreten gleichwohl bis heute als komplett rätselhaft gilt. Es ist nach der Vorlage einer okzitanischen Minnekanzone entstanden21 und bezeugt darüber hinaus die Rezeption der Metamorphosen Ovids. Alle Beschäftigungen mit Morungens sogenanntem ‚Narzisslied‘ müssen dessen spezielle Überlieferungssituation berücksichtigen, welche interpretatorische Fragen zusätzlich kompliziert. Unter Morungens Namen ist nur die erste von vier Strophen des Liedes überliefert, und zwar in der wichtigsten Liedsammlung des Mittelalters, der Heidelberger Liederhandschrift (C) (1300–1340), die auch als Manessische Liederhandschrift oder Codex Manesse bekannt ist. Seine Umgebung besteht hier aus weiteren Liedern Morungens. In einer weiteren, der Würzburger Liederhandschrift (E) (2. Hälfte 14. Jh.) ist das Lied mit vier Strophen (und einigen Abweichungen in der ersten) aufgeführt, die dort aber Reinmar zugeschrieben sind. Der Sammler dieser Handschrift war tatsächlich nur an Liedern Walthers und Reinmars interessiert und ordnete dem Œuvre beider Autoren auch noch andere Lieder zu. Damit stellt sich das Problem der Varianz und der speziellen Materialität der Überlieferung literarischer Texte des Mittelalters, die sich von derjenigen antiker Texte grundlegend unterscheidet und einschneidende Konsequenzen für die poetologische Konzeption der Lieder und ihre literaturwissenschaftlichen Erschließung hat. Aus der skizzierten Überlieferungslage resultieren kaum lösbare literaturwissenschaftliche Probleme, zum Beispiel: Welches ist ‚das‘ ‚Narzisslied‘, und von wem stammt es, von welchem rede ich also im Folgenden? Repräsentiert die erste Strophe eine Entität, eine in sich abgeschlossene, vollgültige Einheit, die Morungen zugeschrieben werden kann? Oder hat er das Lied vierstrophig gedichtet, und es wurde fälschlich Reinmar zugeschrieben? Hat Reinmar Morungens Lied erweitert? Anders als das Text- und Literaturverständnis, mit dem für moderne Literatur gearbeitet wird, sind mittelalterliche lyrische Texte ‚offener‘ mit Blick auf Verfasserzuschreibungen und -aneignungen ebenso wie als Sinnzentren. Es sind – wie in An|| 20 Kasten (1986) 307. 21 Diese findet sich abgedruckt und im Vergleich zu Morungen knapp skizziert bei Kasten (1995) 802–805.

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lehnung an den von Paul Zumthor kreierten Begriff der mouvance gesagt wird – ‚bewegliche‘ Texte,22 und solche Beweglichkeit betrifft keineswegs nur die Lyrik. Die Überlieferungslage der Morungenliedes, auf die das Merkmal der ‚Varianz‘ zutrifft,23 ist speziell, aber nicht untypisch. Es kommt bei multipler Überlieferung sogar relativ häufig vor, dass abweichende Strophenfolgen und Liedlängen vorliegen.24 Dorothea Klein hat alle Anhaltspunkte für eine Verfasserschaft in der einen oder anderen Variante gerade noch einmal gründlich geprüft und kommt zu dem Ergebnis, dass wir ‚das‘ ‚Narzisslied‘ (also das authentische, originale) nicht rekonstruieren können: Ob ursprünglich eine Einzelstrophe existierte, die kohärent zu einem vierstrophigen Lied erweitert wurde, oder ob ein solches Lied von Anfang an existierte, das in einer Handschrift nur unvollständig überliefert wird, lässt sich nicht sagen. Es gibt kein einziges beweiskräftiges Indiz, das uns erlaubte, Heinrich von Morungen alle vier Strophen des Narzisslieds zuzuschreiben, auch nicht mehrere Indizien, die, zusammengenommen, einen schlüssigen Beweis erbrächten. Die Befunde lassen sich zugunsten des einen und ebenso gut zugunsten des anderen Autors auslegen, und so gut wie jedes Argument lässt sich durch ein Gegenargument entkräften. Umgekehrt reichen die Argumente nicht aus, um die Verfasserschaft Reinmars zu sichern. Dass von Morungen alle Strophen stammen, ist ebenso denkbar wie die Annahme, dass Reinmar ein einstrophiges Lied Morungens in dessen Stil weitergedichtet und konzeptionell erweitert hat. […] Dass Reinmar auf Morungen pointiert Bezug genommen hat, belegen Motivzitate in verschiedenen Liedern.25

Die Germanistik muss mit diesem Befund umgehen, je begründen, warum sie sich für die eine oder andere Liedvariante entscheidet, und die Überlieferungslage in die Interpretation einbeziehen. Es macht für das Verständnis des Morungenliedes einen markanten Unterschied, ob es durch nur eine Strophe repräsentiert ist oder gleich durch mehrere. Wenn eine Interpretation plausibel machen möchte, dass dieses Lied immer schon mehrstrophig angelegt war, hat sie auf interne Bezüge zwischen den Strophen besonders zu achten. Auf übergreifende Forschungskontroversen zur mittelalterlichen Poetologie bezugnehmend ist ferner zu fragen, ob das ‚Narzisslied‘ ein Beispiel für die ‚Logik der Prozessualität‘ mittelalterlicher Dichtung darstellt, wie von Jan-Dirk Müller in einer neueren Publikation vertreten. Während es zu den

|| 22 Vgl. auch die Darstellung zu Entstehung und Begrenzung des Phänomens im deutschen Minnesang bei Cramer (1998) 50–124. 23 Cramer (1998) 54 spricht einer konventionellen Unterscheidung gemäß für gleiche Strophenfolge bei abweichender Strophenanzahl von Varianz, bei veränderter Strophenfolge für gleiche oder abweichende Strophenanzahl von mouvance. 24 Dazu haben längst produktionsästhetische Überlegungen eingesetzt, welche die Annahme diskutieren, dass die Lieder für mouvance konzipiert worden sind, vgl. insbesondere Cramer (1998) 50–107, zu Morungen zuletzt Fockele (2015). 25 Klein (2015) 41.

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traditionellen Auffassungen von Lyrik gehört, nicht-narrativ konstituiert zu sein,26 leitet Müller ein zentrales Argument für die Viergliedrigkeit des ‚Narzissliedes‘ aus seinem (fingierten?) Vortragscharakter und seiner Prozessualität ab – Lieder seien ‚gerichtet‘, und ‚Gerichtetheit‘ entspricht Prozessualität; ein Liedvortrag muss demzufolge einen Anfang und ein Ende haben.27 Dies nähert das Lied also wieder in hohem Maße der Narration an. Lässt sich hingegen nachweisen, dass Morungens Lied eher paradigmatisch organisiert ist, stellten die Strophen eigenständige Sinneinheiten dar. Diese Möglichkeiten bedeuten selbstverständlich Tendenzen, keine einander ausschließenden Alternativen. In vielen Aufsätzen der von Kern und anderen herausgegebenen neueren Publikation, die ein close reading aller vier Strophen vornehmen, schwingen diese gegensätzlichen Möglichkeiten mit. Im Folgenden behandle ich das Lied in aller Vorsicht als ideelle Einheit aus vier Strophen, wie die Forschung dies überwiegend tut, und schreibe es auf Grund der gegebenen Umstände einem Autor namens Heinrich von Morungen zu. Ich denke die Möglichkeit der alternativen Eingliedrigkeit jedoch mit. Für eine eingehende Analyse der vielen Sinnschichten, welche die verschiedenen Interpretationen des Liedes über viele Jahre ermittelt haben, ist kein Raum gegeben. Warum Lyrik als „Paradigma eines überstrukturierten Textes“ gelten kann,28 sollte jedoch zumindest in Ansätzen nachvollziehbar werden.

Close Reading Mir ist geschehen als einem kindelîne 1 Mir ist geschehen als einem kindelîne, daz sîn schoenez bilde in einem glase gesach unde greif dar nâch sîn selbes schîne sô vil, biz daz ez den spiegel gar zerbrach. Dô wart al sîn wunne ein leitlich ungemach. alsô dâhte ich iemer vrô ze sîne, dô ich gesach die lieben vrouwen mîne, von der mir bî liebe leides vil geschach. Mir ist es wie einem kleinen Kind ergangen, das sein schönes Abbild in einem Spiegel erblickte und nach seinem eigenen Widerschein griff, so heftig, dass es den Spiegel ganz zerbrach. Da

|| 26 Vgl. Link (1977) 54. 27 Vgl. Müller (2010) 9f. 28 Link (1977).

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wurde all’ seine Freude zu schmerzlichem Unglück. Genau so dachte ich immer froh zu sein, wenn ich meine teure Herrin erblickte, von der mir neben Liebe auch viel Leid widerfuhr.29

Die erste Strophe basiert auf einer Parallele zwischen dem Kind und dem Sänger auf der einen Seite, dem Spiegel und der frouwe auf der anderen. Der evozierte Vorgang entfernt sich, wie Beate Kellner festgestellt hat, durch das Zerbrechen des Spiegelbildes schon bald sehr weit von Ovid.30 Bei Ovid endet die Spiegelbildbeziehung in Selbstdestruktion und Metamorphose, die in Narziss’ Verzweiflung darüber gründet, dass er sein Spiegelbild nicht zu fassen bekommt. Auch im Mittelalter ist die Spiegelmetapher ambig.31 In theologischer Perspektive, zum Beispiel bei Johannes von Salisbury, vertritt sie die Selbstliebe, welche trügerisch und unproduktiv ist, da sie kein anderes Objekt als sich selbst hat.32 Auffällig ist an der ersten Strophe deshalb, dass dem Kind zugestanden wird, den eigenen Anblick lustvoll zu erleben. Die Voraussetzung solcher Lizenz ist vermutlich darin zu sehen, dass einem sehr jungen Menschen ein niedrigerer Bewusstseinsgrad zugeschrieben wird.33 Zugleich wird die Beziehung aufgerufen, welche die Hohe Minne konstituiert:34 Die Liebe zu einem vollkommenen Objekt vervollkommnet den Sänger, spiegelt ihn. Dieser ganz geläufige Gedanke des Minnesangs wird hier allerdings als Angst vor einem Verlust der Herrin als der Instanz, die den Sänger spiegelt, konkretisiert. Anscheinend verletzt er sie bei zu starker Annäherung, und er verletzt sich selbst. Elisabeth Schmid sieht diese erste Strophe – die einzige, die unter Morungens Namen überliefert ist – grundsätzlich in einem ‚mehrstrophigen Zusammenhang‘,35 das heißt im produktionsästhetischen Kontext zu allen anderen, die wir kennen. Schmid weist ferner darauf hin, dass der Ersatz des Ich im Spiegel durch eine Imagination des anderen und ineins damit die Transformation eines homosexuellen in ein heterosexuelles Begehren wesentlich für die mittelalterliche Aneignung des Narziss-Mythos ist.36 Das Begehren nach der Frau wird, so Schmid, bei Morungen jedoch durch die Deutung als Kindlichkeit neutralisiert und entsexualisiert.37 Das lyrische Ich ist zwar kein kindelin, bezeichnet aber sein Verlangen als ein solches.

|| 29 Minnesangs Frühling, hg. Moser/Tervooren (1988) 278f. Meine Übersetzung. 30 Kellner (1997). 31 Darauf hat auch Müller (2010) hingewiesen (mit etwas anderen Argumenten als Schmid [2015]). Positive Deutungen des Narziss-Mythos sind Gerhard Wolf zufolge eine moderne Entwicklung, im Mittelalter sei er in erster Linie als warnendes Beispiel gegen Projektionen aufgefasst worden, vgl. Wolf (2001) 341–343. 32 Vgl. Schmid (2015) 65. 33 Vgl. Schmid (2015) 63–65. 34 Eventuell als spezifisch mittelalterlich-höfische vgl. Müller (2010) 19. 35 Vgl. Schmid (2015) 57. 36 Vgl. ebd. 59f. Außerdem sieht sie einen Zusammenhang zum Pygmalion-Mythos. Vgl. zu letzterem außerdem Feichtenschlager (2015). 37 Vgl. Schmid (2015) 60.

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Der Umstand, dass die Spiegelsituation in der Mediävistik auch zum Anlass genommen wurde, eine Verbindung zum kultur- und literaturwissenschaftlich außerordentlich breit rezipierten Aufsatz von Jaques Lacan über das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion zu erstellen, ist eigentlich nur unter der Voraussetzung überraschend, dass die reservatio mentalis gegenüber Lacans Ansatz in der älteren Germanistik weitaus größer ist als in anderen Philologien.38 Die Bezüge des Liedes sind augenfällig, neben dem Motiv der Spiegelung insbesondere durch das der Kindlichkeit des sich selbst betrachtenden Subjekts. Lacans These gemäß ist die ‚Jubelreaktion‘, welche Kleinkinder eines bestimmten Alters dann zeigen, wenn sie sich selbst im Spiegel erkennen, auf den Umstand zurückzuführen, dass sie sich in diesem Moment erstmals als Ganzheit erblicken, anstatt sich als Vielheit amorpher und teilweise widerstrebender Bedürfnisse zu erleben.39 Während die Erlebnisqualität keine Sicherheit über ein kohärentes Ich geschaffen hat, kann die Blick- und Erkenntnisqualität dies kurzfristig ermöglichen. Letztlich ist diese Einheit des Ich jedoch illusorisch,40 eine Erfahrung, die das Ich in der Folge immer wieder machen wird und die eine Parallelisierung mit dem Minnelied gestattet. In diesem Sinne hat Andreas Kraß argumentiert: „Wenn das Kind nach seinem Idealbild greift, zersplittert das Spiegelglas in tausend Stücke und mit ihm das Bild des vermeintlich vollkommenen Leibes […]“.41 Dann ginge es im Lied um eine fragmentierte und in solcher Fragmentierung bedrohte Identität.42 Wird dies weiter gedacht, inszeniert der Umstand, dass das Ich-Ideal dem Sänger in heterosexueller Verschiebung gegenübertritt, das heißt im Ersatz des Spiegelbildes des Sängers durch das der Dame, zudem die für Lacans Denken zentrale Auffassung, dass im Bild des Selbst der andere gesucht wird und letztlich ebenfalls chimärisch bleibt, dass eine „Ganzheitsillusion fortan auf die dualen Beziehungen übertragen wird“.43 Der Bruch geht nach Auffassung von Kraß wesentlich auf die bereits beschriebene heterosexuelle Verschiebung zurück, die ein ursprünglicheres, homosexuelles Begehren unterdrückt. Dessen mangelnde Artikulierbarkeit und die daraus resultierende Unmöglichkeit, als Verlust anerkannt und adäquat betrauert zu wer-

|| 38 Dass hiervon in erster Linie die französische und angloamerikanische Mediävistik profitiert hat, bespricht Wolfzettel (2015) 468. 39 Vgl. Lacan (1996) 64. 40 Vgl. ebd. 67. 41 Kraß (2009) 93. 42 Fragmentierung, genauer fragmentierte Narration, sieht Mertens (2005) als generelles Charakteristikum der Lieder Morungens. 43 Wolfzettel (2015) 468. Vgl. dazu Lacan (1996) 68: „Der Augenblick, in dem sich das Spiegelstadium vollendet, begründet […] die Dialektik, welche von nun an das Ich (je) mit sozial erarbeiteten Situationen verbindet.“

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den, versteht er in Anlehnung an die jüngere Gender-Forschung als Melancholie.44 Dies baut auf Freuds Unterscheidung zwischen Trauer und Melancholie auf: Freud versteht Trauer als Prozess der Auseinandersetzung mit einem Verlust. In ihm wird, in sukzessiver Abgleichung mit dem Realitätsprinzip, die Libido von einem geliebten Objekt abgezogen und sein Verlust schließlich akzeptiert. Diese Bewältigung bezeichnet Freud auch als Trauerarbeit. Dem gegenüber ist Melancholie durch eine Fixierung auf das verlorene Liebesobjekt gekennzeichnet, eine narzisstische Regression, die sich dergestalt vollzieht, dass das Ich sich mit dem verlorenen Liebesobjekt in der Weise identifiziert, dass es dessen Ablehnung der eigenen Person übernimmt, sich ‚kleinmacht‘ und so am Objekt festhalten kann.45 Judith Butler hat diese Ablehnung auf das homosexuelle Begehren nach dem gleichgeschlechtlichen Elternteil bezogen und als „totalisierende Verleugnung“ aufgefasst, durch welche die „melancholische Bewahrung der Liebe nur um so sicherer geschützt“ werden kann.46 Melancholie ist in diesem Sinne als Artikulationsform eines verdrängten Begehrens zu verstehen. Hier werden verschiedene Begriffe von Melancholie vorausgesetzt – ein Umstand, welcher in der kulturgeschichtlichen Melancholieforschung wohlbekannt ist.47 Zugleich wird deutlich, dass die von Kraß beschriebene melancholische Konstellation an der sprachlichen Gestalt des Liedes selbst nicht direkt manifest wird: In der Strophe ist ebenso wenig von Melancholie wie von einem unterdrückten Begehren die Rede.48 Zu letzterem ließe sich einwenden, dass dies eben in der Natur der Verdrängung liegt und auf die generelle Problematik der psychoanalytischen Literaturinterpretation als einer Hermeneutik des Unbewussten verweist.49 Angesichts vieler gelungener Ansätze der psychoanalytischen Literaturinterpretation, am sprachlichen Material Subtexte nachzuweisen einerseits,50 der generellen Regel, dass Emotionen in der Lyrik auf verschiedene Weisen kodiert werden andererseits,51 lässt sich die Relation von Textoberfläche und alludierten Bedeutungen allerdings durchaus genauer fassen. Dies versuche ich im letzten Abschnitt dieses Beitrags. 2 Minne, diu der werelde ir vröude mêret, seht, diu brâhte in troumes wîs die vrouwen mîn, dâ mîn lîp an slâfen was gekêret

|| 44 Die Aussage wird dabei auf den Minnesang als gesamten ausgeweitet, vgl. Kraß (2009) 97. Vgl. ferner Butler (1991) 110–113; engl. Butler (1990) 70–72. 45 Vgl. Freud (1916). 46 Butler (1991) 109. 47 Vgl. etwa Sieber/Wittstock (2009). 48 So auch die Kritik von Kern (2015) 85f. 49 Zu diesem prominenten Kritikpunkt vgl. etwa Eagleton (1994) 171–173. 50 Zum Subtext im psychoanalytischen Sinne ebd. 169–173. 51 Grundlegend dazu Winko (2003).

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und ersach sich an der besten wunne sîn. Dô sach ich ir liehten tugende, ir werden schîn, schoen unde ouch vür alle wîp gehêret, niuwen daz ein lützel was versêret ir vil vröuden rîchez (rôtez) mündelîn. Minne, die der Welt ihre Freude mehrt, seht, die führte mir in der Weise eines Traumes meine Herrin zu, als ich im Schlafe lag und mich (so) an meiner größten Freude erblickte (mich ihr zuwandte): Da sah ich ihre strahlenden Tugenden und ihren edlen Glanz schön und vor allen Frauen erhaben, nur dass ein wenig ihr so freudenreiches (rotes) Mündchen verletzt war.52

In der zweiten Strophe wird das Bild der Annäherung an die Frau im Spiegel durch das der Annäherung an die Frau im Traum ersetzt, durch die Traumvision erhält die Dame erneut einen Status der Irrealität.53 Minne erscheint im Traum in ganzer Herrlichkeit und bringt die frouwe mit sich, aber diese weist eine Versehrung auf. Mit dem analeptischen Bezug auf das Thema der ersten Strophe wird hier die früher angesprochene Tendenz von Lyrik manifest, narrative Elemente zu entwickeln,54 welche kohärenzstiftend wirken können.55 Allerdings trägt solche Kohärenzbildung im vorliegenden Beispiel wenig zum Verständnis beider Stellen bei, im Gegenteil. Das „Zerbrechen des Spiegels in der ersten Strophe [führt] auf merkwürdige Weise zur Verwundung der Dame in der zweiten Strophe, als hätte ein Splitter des zerborstenen Glases ihren Mund verletzt.“56 Über das Bild des verletzten Mundes als möglicher sexueller Anspielung ist viel gehandelt worden. Grundsätzlich wird man sich hier der Einschätzung von Kellner anschließen können, welche feststellt: Ob dieser Zugriff einen sexuellen Vollzug oder nur eine Berührung bedeutet, sollte man besser als Leerstelle des Textes offenlassen. Entscheidend ist, daß es sich um einen im System der hohen Minne regelwidrigen Übergang vom Schauen zur Hapsis handelt, der das Ende des Minnesangs bedeuten würde.57

Kellner argumentiert vor der Folie der zum Minnesang verbreiteten Einschätzung, dass die Idealität der Frau ihre Berührung eigentlich undenkbar macht.58 Um wie-

|| 52 Die Übersetzung orientiert sich hier an Huber/Kern in Kern u.a. (2015) 11, sowie an Kern (2015) 76. 53 Vgl. auch Kern (2015) 76. 54 Vgl. ebd. 78. Von einer ‚Episierung‘ der Lyrik spricht Cramer (1998) 146–158. Narrative Elemente des Lyrischen stellen außerdem einen Forschungsschwerpunkt von Hartmut Bleumer dar, zu dem, auch im Rahmen eines DFG-Projekts, verschiedene Publikationen entstanden sind. 55 Zum Sonderfall lyrischer Kohärenz vgl. auch Köbele/Locher/Möckli/Oetjens 2019. 56 Kraß (2009) 81. 57 Kellner (1997) 62. 58 Ähnlich Bauschke-Hartung (2019) 137, welche die Reflexion auf Spannungsmomente zwischen minnelyrischen Konventionen und ihrer Übertretung zum Kohärenzkriterium für Morungens Werk erklärt.

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viel mehr müsste dies dann erst für eine womöglich vom Sänger verschuldete Verletzung gelten. Es bleibt aber unklar, ob hier gemeint ist, dass die Aggression in Bezug auf den verletzten Mund überhaupt vom Sänger ausgegangen ist.59 3 Grôz angest hân ich des gewunnen, daz verblîchen süle ir mündelîn sô rôt. des hân ich nu niuwer klage begunnen, sît mîn herze sich ze sülher swaere bôt, Daz ich durch mîn ouge schouwe sülhe nôt sam ein kint, daz wîsheit unversunnen sînen schaten ersach in einem brunnen und den minnen muoz unz an sînen tôt. Große Angst habe ich daraus bezogen, dass ihr so roter Mund verbleichen könne. Deshalb habe ich nun eine neue Klage angefangen, weil sich mein Herz solchem Kummer hingab, dass ich durch mein Auge solches Leid betrachte, wie ein Kind, das ohne Verstand unerfahren sein Schattenbild in einem Brunnen erblickte und es bis zu seinem Tod lieben muss.60

In der dritten Strophe hat sich ein Perspektivenwechsel des lyrischen Ich vom imaginierten Objekt der Betrachtung zum Betrachter seiner selbst vollzogen. Die Angst um die frouwe wird in einer Verschiebung der Bildlichkeit vom verletzten auf den ausgeblichenen Mund zum Gedanken ausgeweitet, dass diese ganz sterben könnte. Dies wäre allerdings zugleich Anlass, den Sang wieder aufzunehmen (klage). Dieser Umschlag ins Dichten wird temporal markiert, was den Duktus des bis hierhin eher erzählend angelegten Liedes61 unmittelbar verlebendigt, Aufmerksamkeit und Affizierung generiert: Das lyrische Ich wechselt ins Präsens (ich schouwe). Es handelt sich um eine Leistung, die der Lyrik in besonderem Maße zugeschrieben wird: Anmutung von Gegenwart, Jetztzeit, Unmittelbarkeit zu erzeugen. Momente der Intensivierung der Gegenwart akzentuieren das lyrische Ich und seine Sinneseindrücke und erzeugen einen Moment poetischer Emergenz innerhalb des Liedes, in dem sich ein Begehren zur Geltung bringt.62 Das Begehren in der so gestalteten Reprise der Narziss-Anspielung ist einer verbreiteten Deutungslinie zufolge als Ausweis der Erkenntnis zu verstehen, dass ein Sich-Verlieren an den schönen Schein zu akzeptieren ist.63 Damit wäre dezidiert der Dichter mit dem Kind zu identifizieren, das nach dem Spiegel greift und damit nach dem Schein. Aus solcher Analogie lassen

|| 59 In diesem Sinne spricht Kellner (2018) 229 davon, dass in den beiden ersten Strophen „die Bilder die Frage nach Kausalitäten hervor[rufen], ohne sie zu beantworten.“ 60 Die Übersetzung orientiert sich an Huber/Kern in Kern u.a. (2015) 11, sowie an Kern (2015) 79. 61 Vgl. dazu Mertens (2005) 44–47. 62 Kern (2015) diskutiert diesen Effekt mit Blick auf die Thesen von Hartmut Bleumer, vgl. 79–81. Einen Schwerpunkt seiner Überlegungen bildet dabei der Wechsel vom Visuellen ins Klangliche. 63 Vgl. Kern (2015) 83–85; ähnlich bereits Kasten (1995) 806.

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sich weitere Assoziationen gewinnen: Der Dichter lässt sich von Traumvisionen zum Sang motivieren; Liebe wird zur Chimäre. Beides ließe sich ebenso affirmativ verstehen wie der Deutung Müllers zufolge als Möglichkeit,64 dass hier das lyrische Ich seinen Schatten und damit seine chimärische Existenz erkennt. In Folge davon würde es die Zerstörung, die es bei fortgesetzter Liebe erzeugen wird, ebenso bejahen wie den Tod. Die explizite Nennung des Todes und des Schattenbildes lassen sich zudem emotional und temporal auswerten, und zwar als Hinweise auf Melancholie, genauer im von Simone Winko beschriebenen Modus der ‚Präsentation‘ von Emotionen – etwa: ihrer Evokation oder Konnotation – im Unterschied zu ‚Thematisierung‘ von Emotionen – etwa: ihrer Benennung oder Denotation.65 Todesnähe und Wahn bzw. Ich-Verlust gehören bei aller Variabilität von Melancholieauffassungen über die Jahrhunderte hinweg zu ihren stabilen Charakteristika.66 Das gilt ebenso für ihre Nähe zur Zeit, die schon in der Zuordnung der melancholischen Konstitution zu Chronos/Saturn zur Geltung kommt.67 Besondere Bedeutung kommt auch in dieser Hinsicht der Nennung der klage zu, und zwar insbesondere in der Konfiguration als niuwer klage: klagen ist eine mittelhochdeutsch viel verwendete Bezeichnung für Trauer,68 sie bildet hier also – mit Winko – eine Proposition69 für eine Emotion oder emotionale Handlung, die in enger Verbindung zur Melancholie steht. Gerade in der ‚Erneuerung‘ der Klage, in Verbindung mit der Kreisstruktur des Liedes, die sich damit nicht erst in der vierten Strophe (siehe unten), sondern schon hier andeutet, zeichnet sich dabei die Verschiebung von der Trauer zur Melancholie ab. Denn Melancholie lässt sich mit Freud als diejenige emotionale Haltung verstehen, die im Schmerz über einen Verlust immer wieder beim selben Punkt landet, während Trauer oder Trauerarbeit eine Entwicklung oder einen Prozess impliziert. Melancholie erhält damit als eine Art emotionaler Grundierung des Liedes allmählich deutlichere Konturen. Emotionstheoretisch präziser wäre von einer melancholischen ‚Stimmung‘ zu sprechen, welche unter anderem an der ‚Emotion‘ ‚Trauer‘ erkenntlich wird.70 Der Begriff der ‚Stimmung‘ ist für mittelalterliche Lyrik – wie für Lyrik generell – von sehr großer Bedeutung, Ähnliches gilt für die – stärker räumlich gedachte – ‚Atmosphäre‘, die sich in der Lyrik insbesondere in Naturein-

|| 64 Vgl. Müller (2010) 21. 65 „Unter der ‚Präsentation‘ von Emotionen in Texten wird hier die sprachliche Gestaltung von Emotionen verstanden, deren Vorkommnisse nicht selbst Propositionen bilden […] und die im Text durch implizite sprachliche und strukturelle Mittel umgesetzt wird.“ Winko (2003) 116. 66 Vgl. Klibansky u.a. (1992) passim. 67 Vgl. ebd. 211–245. 68 Vgl. Koch (2011). 69 Vgl. oben, Anmerkung 65. 70 Zur Unterscheidung von Emotion und Stimmung für die Analyse von Lyrik vgl. auch Winko (2003) 77–78.

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gängen und Naturschilderungen niederschlägt.71 Stimmungen werden in der Emotionsforschung im Allgemeinen mit Blick auf ihre Dauer, Konkretheit und Gegenstandsbezogenheit von Emotionen unterschieden, letztere sind kürzer und leichter zu identifizieren als die mitunter als diffus oder unbegründet erfahrenen Stimmungen.72 Mit den allgemeinen Begriffen der Lyrikanalyse ließe sich sagen, dass die Denotate von niuwer klage, schaten und tôt den Bildkomplex der Melancholie in metonymischer Weise konnotieren.73 Zugleich ruft die Erneuerung der klage die Paradigmen des Sangs und des nicht endenden Werbens um die Dame auf. Gemäß Winkos theoretischer Rahmenbildung für die Analyse von Emotionen in der Lyrik wird in dieser Strophe – und damit in Morungens ‚Narzisslied‘ überhaupt – also Melancholie als Stimmung ‚präsentiert‘, was an der ‚thematisierten‘ Emotion der Trauer kenntlich wird, darüber hinaus in den Themen des Todes und des Chimärisch-Wahnhaften. Auf den Umstand, dass der gesamte Komplex des Narzissmus der Melancholie affin ist, habe ich am Beispiel von Freuds Studie bereits aufmerksam gemacht. Diese Affinität ließe sich mit Beispielen aus historischen MelancholieDiskursen erhärten, welche die Neigung des Melancholikers zum Rückzug auf sich selbst betonen.74 Offener ist nach wie vor, worauf sich diese Melancholie gründet. 4 Hôher wîp von tugenden und von sinnen die enkan der himel niender ummevân sô die guoten, die ich vor ungewinne vremden muoz und immer doch an ir bestân. Owê leider, jô wânde ichs ein ende hân ir vil wunneclîchen werden minne. nû bin ich vil kûme an dem beginne. des ist hin mîn wunne und ouch mîn gerender wân. Eine Frau, die tugendhafter und schöner wäre, die kann es unter dem Himmel niemals geben, als die Vollkommene, der ich aus Angst vor Schaden fernbleiben und doch die Treue halten muss. Ach, zu meinem Schmerz, ich glaubte, dass ich am Ende in den Genuss ihrer wunderbaren, hohen Liebe kommen könnte. Doch stehe ich jetzt beinahe wieder am Anfang. Meine Freude und mein begehrliches Hoffen sind dahin.

Die vierte Strophe gilt als den anderen etwas ferner stehend. Das ist deshalb kein unerheblicher Befund, als so nicht die erste Strophe weniger zu 2–4 passte als die

|| 71 Für Atmosphäre vgl. bereits Cramer (1998) 146–158. Weniger überzeugend ist in diesem Zusammenhang auf Grund des biographischen Ansatzes Gumbrecht (2011) 37–43 zu Walther von der Vogelweide. Vgl. ansonsten auch die Diskussion bei Eming (2015) 133–154. 72 Dies erläutert neben Winko (2003) 77–78 etwa auch Heller (1981) 144–147. 73 Vgl. Link (1977) 53–58. 74 Vgl. Klibansky u.a. (1992) passim.

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letzte weniger zu 1–3. Das Lied würde auch ohne diese Strophe funktionieren, allerdings müsste man es dafür in entscheidender Hinsicht anders deuten. Im Allgemeinen wird die vierte Strophe als erneute Apotheose der Dame verstanden und als Zielpunkt des Prozesses, wie Müller ihn betont hat, zugleich als erneute Einwilligung in die Grundkonstellation der Hohen Minne und des Sangs: Die Frau ist die vollkommenste unter der Voraussetzung, dass die Distanz zu ihr gewahrt bleibt. Die Hoffnung, in den Genuss ihrer Liebe zu kommen, ist ein Wahn und muss es bleiben. Der Dichter steht am Ende des Prozesses somit zugleich wieder am Anfang und kann seinen Sang fortsetzen; die ganze Dichtung hat eine Kreisbewegung vollzogen. Dies führt zur wichtigen Konsequenz, dass sie damit zugleich als Dichtung nicht aufhört; das Lied könnte wieder von vorne einsetzen. Eine Zeitenthobenheit, wie sie hier durch die Anmutung konstituiert wird, dass ein emotionaler Zustand sich stets perpetuieren und von den Zeitläuften nicht abhängig sein wird, gilt als typische Leistung von Lyrik, die bereits angesprochen wurde.75 Auffällig ist ferner die hochkomplexe Verschränkung von Dichtungs- und Liebestheorie mit dem Motiv eines fragmentierten Ich, das sich im Anderen und in seinem Sang erst konstituiert und sich dieser Abhängigkeit zugleich bewusst wird. Christoph Huber spricht hinsichtlich dieser Konstellation von einer „zirkelhaften Konstituierung des Minnesubjekts, einer Spiegelung des Selbst im anderen […]“.76 Auf diese Weise erzeugt Morungen eine „Spaltung in ein minnendes und ein singendes Ich und bringt die Rollen zur Interferenz“.77 Dies ist auch für eine Geschichte dialogisch konstituierter Subjektivität relevant. Ich fasse die Beobachtungen zum Lied, die auf der Basis rezenter Deutungen versuchten, emotionale und zeitliche Valenzen herauszuarbeiten, mit Blick auf die eingangs aufgeworfenen Fragen in einem ersten Fazit zusammen. Die Rahmenbedingungen der Hohen Minne setzen ein lyrisches Ich, dem es in letzter Instanz nicht darum gehen kann, eine Frau unter der Voraussetzung zu lieben, dass diese Liebe sich realisieren wird. In diesem poetologischen Rahmen kann das Narzissmotiv offensichtlich unter der Voraussetzung zum Bildspender werden, dass es zum Modellfall eines lyrischen Ich wird, dessen vermeintliche Annäherung an eine andere, geliebte Person dieses auf sich selbst und die eigene Virtuosität zurückweist. Damit wäre ein Kern des Narzissmythos bewahrt, der wohl weniger – worauf Müller gerade noch einmal hingewiesen hat –78 in der Selbstliebe zu sehen ist als in der Unerreichbarkeit dieses Liebesobjekts oder seiner Vollkommenheit.79 Auch auf den todbrin-

|| 75 Von ‚Gleichzeitigkeit‘ und ‚mythischer Außerzeitlichkeit‘ spricht Link (1977) 49. 76 Huber (2005) 28. 77 Ebd. 28. 78 Vgl. Müller (2010) 17. 79 Vgl. ebd. 16.

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genden Charakter der narzisstischen Liebe wird angespielt, nämlich in der dritten Strophe.80 Diese Konfiguration einer unmöglichen Annäherung an ein Liebesobjekt und seiner Sublimierung im Sang oder allgemeiner in der Kunst gilt als paradigmatisch für Minnesang überhaupt, so Kraß: Indem der Sänger seinen Dienst an der Minnedame, der Verkörperung höfischer Vollkommenheit, leistet, ohne von ihr entlohnt zu werden, wird ihm […] ein höherer Lohn zuteil, nämlich die soziale Aufwertung und ethische Vervollkommnung seiner Person. Dies ist ein Teil des narzisstischen Gewinns, den er aus seinem Minnesang zieht.81

Damit wird eine weitere Ebene des Narziss-Begriffs aufgetan und eingebunden, der gemäß der Sänger ein Narziss ist, welcher mit seinem Erfolg am Hof seiner Eitelkeit schmeicheln will. Zu einer ganz ähnlichen resümierenden Einschätzung wie Kraß über den Stellenwert des ‚Narzisslieds‘ kommt Manfred Kern: Das Narzisslied verhandelt […] in der vielleicht eindringlichsten Weise die zentralen konzeptuellen Dynamiken des grand chant courtois und das mag seinen paradigmatischen Status in der Forschung mitbegründen: Es verhandelt Subjektgenese, Subjektüberschreitung, Selbstverlust und aus ihm resultierende Selbstreflexion, verschränkt dies alles aber mit Kunstpraxis [...] Der Narzissmus, von dem die Rede ist, wird, ist und bleibt poetisch.82

Die Kontroverse, ob das Lied als prozessual im Sinne Müllers verstanden werden darf, kann mit diesen Deutungen ein Stück weit als entschieden gelten. Die meisten Interpreten gehen davon aus, dass die vier Strophen zusammengehören und dass die erste ihr integraler Bestandteil ist. Als Gesamtgebilde beschreibt das Lied jedoch weniger einen Weg von A nach B als eine Kreisbewegung, innerhalb derer der Sänger offensichtlich wieder bei sich selbst ankommt. Das wird im gattungstypischen temporalen In-der-Schwebe-Lassen greifbar, welches die Prozessualität im Lied bis zum Ende konterkariert: Kommt der Dichter in der vierten Strophe zu einer Erkenntnis, ist das Lied also final angelegt? Oder präsentisch-zirkulär? Ist man nur deshalb wieder bei der Dame angekommen, mit der das Lied begonnen hat, weil sie die einzige Präsenz vertritt, die denkbar ist, nämlich die des Sangs? Offensichtlich geht es im Minnesang, so ließe sich mit Blick auf die zuletzt zitierten Forschungspositionen dann zuspitzen, jedenfalls nicht um die Liebe und nicht um die Frau, sondern um den Sänger und seine Kunst.

|| 80 Dieser sei, so Müller, generell unterschätzt, vgl. Müller (2010) 15; Müller sieht noch weitere Parallelen zwischen Mythos und Lied, vgl. ebd., z.B. im Unglück bringenden Blick, in der Tatsache, dass die Liebe zu einem bloßen Bild bestehe. 81 Kraß (2009) 87. 82 Kern (2015) 87.

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Das alles ist richtig, doch ist das Lied zugleich derart einzigartig, dass es mit solchen allgemeineren Resümees, die auch auf andere Minnelieder zuträfen, in vielen Nuancen noch nicht erfasst ist. Um dies zu erläutern, möchte ich einige Punkte, die bereits angesprochen wurden, erneut aufnehmen. Dazu gehören die poetologischen Implikationen ebenso wie die Refigurationen von Emotionalität und Temporalität, die im Unterschied zur mythischen Narration bei Ovid auffallen. Es führt erneut zur Frage nach Geschlechterverhältnissen und zum Problem, wer oder was in der Konstellation beklagt wird.

Melancholie als emotional-temporale Kontrafaktur Das Spiegelmotiv führt im ‚Narzisslied‘ nicht, wie im Mythos, in die Destruktion desjenigen, der sich betrachtet, es zieht keine Transformation in eine Blume oder in Klang83 und damit den Eintritt in einen eigenen zeitlichen Rhythmus von Vergänglichkeit und Erneuerung nach sich. Das Lied inszeniert eine andere Form von Selbstauflösung und -rekonstitution in der Zeit. An der Text-Oberfläche zu beobachten ist im Verlaufe der vier Strophen der Wandel vom Gesicht des Sängers im Spiegel zu dem der Dame – zum Traumbild von der Dame – zum erneuerten Bild der Dame, das sich zu dem des Kindes/des Dichters wandelt – und zum Dichter selbst in seiner Situation vergeblichen Singens. Alle Umrisse der Frau konstituieren sich dabei direkt aus dem Anblick des Dichters, und umgekehrt irrlichtert durch ihre Erscheinung die des Sängers und seiner Reflexion auf sein Tun. Huber hat genauer untersucht, mittels welcher Metaphernvernetzungen aus dem semantischen Feld des Scheins – Spiegel, Wasseroberfläche, Traum usw. – auf diese Weise Isotopien hergestellt werden, also paradigmatische Bezüge zwischen den Strophen. Sie konstituieren das Schemen- und Wahnhafte, das charakteristisch ist für das Morungenlied und wesentlich, wie Huber gezeigt hat, auf den Status der Bildlichkeit selbst zurückzuführen ist, die auf mehreren Ebenen anzusetzen ist und sich einer klaren Identifizierung entzieht.84 Im Dickicht dieser Spiegelungen wird die Anmutung eines männlichen lyrischen Ich konstituiert, welches gefährdet ist, sich emotional und intellektuell selbst zu verlieren. Aber der gewaltsame Tod aus Selbstliebe wird anders als bei Ovid nur angespielt, er wird nicht zum zentralen Thema des Liedes. Während sich im Mythos die rasende, wahnhafte Verzweiflung Narziss’ aus der Krise der Identität von Liebesobjekt und -subjekt ergibt, entsteht, so meine These, im Minnelied ein vielschichtig gedachter ‚Wahn‘ gerade aus dem Versuch, den anderen als different zu denken,

|| 83 Vgl. auch Müller (2010) 17. 84 Huber (2015) 119.

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ihn beziehungsweise sie buchstäblich zu erblicken. Durch die Kreisstruktur des Liedes kommt es weder zu einem zeitlichen Abschluss noch zu einem Ende der Liebe. Darin ließe sich vielleicht, wie Kellner vorschlägt, eine „schmerzvolle Akzeptanz der narzißtischen Spannung und Selbstreflexion als Bedingung des Sangs“ sehen,85 oder auch, wie einer jüngeren Deutung, die Einsicht in den unentrinnbaren „Selbstbespiegelungsprozess des Ich.“86 Ich möchte die affektiv-emotionalen Schichten des Liedes anders als in der überwiegenden Mehrheit der Forschungsbeiträge jedoch nicht nur auf das narzisstische männliche Ich beziehen, auf die Bedrohung, derer es sich ausgesetzt sieht (Todesnähe), oder die Angst vor Selbstverlust. Denn verschiedene emotionale Valenzen betreffen immer wieder auch das Gegenüber, die Dame: Schmerz (klage), Angst (grôz angest) und Bedrückung (swaere) wegen einer Verletzung, die sie erfahren hat oder erfahren könnte. Der Prozess der Spiegelung, der im Mythos einem Ende zugeführt und im Morungenlied gleichsam sistiert und sodann temporal erneuert wird, konstituiert damit Emotionen, die sich nicht abstellen lassen. Und diese betreffen weniger die Liebe zur Dame als die Möglichkeit, ihrer überhaupt habhaft zu werden. Ingrid Kasten hat an den Morungenliedern eine ,Poetik des schouwens‘ kenntlich gemacht und seine Visualisierungsformen der Frau hervorgehoben, die es so bei keinem anderen Sänger gibt.87 Dies gilt insbesondere für seine Licht- und Gestirnsmetaphorik, welche bei der theologischen Vorstellung von Gott als Licht Anleihen macht und in die Liebessymbolik transferiert.88 Im ‚Narzisslied‘ ist die Bildlichkeit zwar auffallend dunkel,89 und der Anblick der Frau als Auslöser der Liebe wird auf das lyrische Ich umgelenkt beziehungsweise von diesem gebrochen. Die Frau, das ist deutlich geworden, bildet damit eines der ideellen Zentren des Liedes und ist doch wenig mehr als ein Reflex. Aber eine Leistung des Liedes, welche gerade die komparatistische Analyse deutlich werden lässt, bleibt festzuhalten: Während bei Ovid das männliche Subjekt die in ihn verliebte Frau grausam zurückweist,90 sein Blick und seine Liebe nur ihn selbst betreffen und ihr Liebesschmerz durch andere Stimmen – ihre eigene wie die des Erzählers – artikuliert wird, bindet das Morungenlied das Leid um die Frau in den Anblick des Selbst mit ein und macht es zum Gegenstand der Trauer. Dies stellt

|| 85 Kellner (2006) 65; vgl. Müller (2010) 23: Der Dichter erkenne, dass die Dame stirbt, der Sang aber zeitlos ist. 86 Kellner (2018) 235. 87 Vgl. Kasten (1986) 319–329. 88 Vgl. ebd. 328f. 89 Hartmut Bleumer hat diese Auffälligkeit zur These zugespitzt, dass der Sang/Klang die Bildlichkeit bedinge, wenn nicht überforme. Vgl. Bleumer (2010) passim. 90 Als Macht- und Dominanzproblem wird die Zurückweisung Echos diskutiert von Traninger (2018), insbesondere 36–39.

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ein viel auffälligeres Merkmal des Liedes dar als die Asymmetrie der Geschlechterkonstellation, die in der Hohen Minne immer vorauszusetzen ist und im vorliegenden Fall eher einen Hintergrund als den poetologischen Kern des Liedes bildet. Aus dem Umstand, dass die Konstellation nicht aufgelöst werden kann, sondern durch die Kreisstruktur des Liedes immer erneuert wird, ergibt sich zugleich die Verschiebung der Trauer zur Melancholie als einer Stimmung, die an einem Liebesobjekt oder einer bestimmten Konstellation mit diesem festhält. Signifikant scheint ferner die Koinzidenz einer Erkenntnis der Schemenhaftigkeit des Liebesobjekts und des Rückzug des Sängers auf sich selbst, das immer erneuerte Sich-Verlieren in den Spiegeln und Vorstellungen, die Nähe zum Wahn, die ebenfalls eine melancholische Stimmung konstituieren und eine spezifische Problematik in der Beziehung zur Dame kenntlich machen: Ihre Unerreichbarkeit erscheint auch als eine Folge der Selbstbezüglichkeit des Mannes. Das Motiv der Selbst-Destruktion, das für den Narziss-Mythos konstitutiv ist, wird dabei zumindest teilweise auf die Frau umgelenkt – sie ist verletzt, Gegenstand der Gewalt, nicht der Dichter, und das ist sie nicht zuletzt deshalb, weil sie Gefahr läuft, als eigene Person nicht zur Geltung zu kommen. Sie verliert wie der Sänger selbst im Prozess der Reflexion an Kontur und an Integrität, und der Text präsentiert ein lyrisches Ich, welches auch darunter leidet und um die Möglichkeit ringt, nicht nur das eigene Selbst, sondern auch den oder die andere(n) zu denken. Erst dass dies nicht gelingt, schafft die Situation der Gefährdung. Wie ist dies zu erklären, und was hat es mit Melancholie zu tun? An diesem Punkt möchte ich die Deutung des Liedes für eine erweiterte Lektüre im Lacanschen Sinne öffnen. Mir scheint, dass die emotional-temporalen Valenzen in Bezug auf die Dame eine Kontrafaktur des Narzissmus bilden, der vor allem mit Lacans Sprachund Objektauffassung verständlich wird – ohne das Lied komplett psychoanalytisch neu durcharbeiten zu müssen. Den Rekurs auf den Ansatz selbst brauche ich an dieser Stelle nicht eingehend zu begründen.91 Die zentrale Verbindung, die ich zu Lacans Theorie sehe, besteht aus dem chimärischen Charakter sämtlicher Beziehungen, die das Subjekt eingeht. Es orientiert sich Lacan zufolge unbewusst immer an der verloren gegangenen Einheit mit einem Liebesobjekt, das durch die Intervention von väterlicher Instanz, kulturellem Gesetz und Sprache – in Lacans Theorie Synonyme – verloren ging. Sprache steht ebenso im Zeichen des Eintritts in die Kultur wie im Verlust einer unwiederbringlichen vorsprachlichen Beziehung. Jedes Subjekt leidet unter eben dieser Konstellation, richtet sein Begehren (désir) fortan auf das Unmögliche und kann Sprache nur mehr als Signifikanten zur Artikulation seines Begehrens nutzen. Sprache und mit ihr Literatur erzeugen somit ein ‚Spiel der Signifikanten‘, was die Aufmerksamkeit der psychoanalytisch orientierten Literaturwissenschaft auf sprachliche Strukturen gelenkt hat, die dabei zu beobachten-

|| 91 Dafür ist genug Vorarbeit geleistet worden, vgl. zuletzt etwa Wolfzettel (2015), Ackermann (2009), Marshall (2017a und b), außerdem Fradenburg (1998), Kay (2001).

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den Widersprüche,92 Unterbrechungen, Wiederholungen, die sich im Einzelnen je anders darstellen. Ein weiterer Bereich ist derjenige der Subjektwerdung durch Sprache in literarischen Texten,93 einschließlich literarischer Inszenierungen des Blicks.94 Dazu gehört auch der Blick in den Spiegel.95 Die Grundkonstellation der Hohen Minne galt Lacan für die grundlegende Situation vergeblichen Begehrens als paradigmatisch, was die internationale Mediävistik selbstverständlich aufgearbeitet hat. Dies liegt insbesondere an der monologischen Form des Singens und der Unerreichbarkeit der Dame, welche jegliche Subjektwerdung verhindern: The process of identification and mutual recognition involves a dualistic process of awareness that involves the desire to present the self in a manner that will please or repulse the other. The monologic quality of the troubadour poem, however, puts up a barrier prohibiting such mutual recognition […].96

Hier wird der Melancholie-Begriff virulent, handelt es sich doch um ein „melancholic longing for the absent object of desire.“97 Eine Schwierigkeit dieses Ansatzes und der Deutung der Konstellation der Hohen Minne sehe ich allerdings darin, dass sie wiederum für so gut wie jedes Lied geltend gemacht werden könnte, in letzter Instanz für Literatur überhaupt. Bildlogik und Emotionalität des Morungenliedes sind jedoch viel präziser. Die monologische Qualität wird in ihm nicht nur darin manifest, dass die Dame eine Projektion des Dichters bedeutet, sondern spezifischer darin, dass sich die Bilder von Dame und Sänger stets wechselseitig ineinander schieben.98 In dem Maße, in dem der Dichter sich selbst nicht erkennt, erkennt er auch die andere nicht, und mit der klage um die Dame, ihre Verletzung und Gefährdung wird dagegen interveniert. Erin Felicia Labbie hat eine vergleichbare Intervention in Bezug auf ein Lied der Trobadora Lombarda besprochen, in dem eine weibliche Stimme gegen solche Identifikation Einspruch erhebt: Interrogating the assumption of the Lady as mirror, Lombarda demands of Bernart, ‘What’s the mirror where you stare?’ The implications of this question not only tell Bernart that his offer of love is narcissistic, but also displace the notion that the ‘woman’ is the mirror reflecting his

|| 92 Insbesondere bei Kay (2001). Einen anschlussfähigen Ansatz – ausgehend von Ambiguitäten des Erzählens im höfischen Roman – bietet außerdem Marshall (2017b). 93 Vgl. für die mediävistische Germanistik insbesondere Ackermann (2007). 94 Vgl. Ackermann (2007), außerdem die frühe Arbeit von Gallas (1981) 85. 95 Bereits bei Eco (1993). 96 Labbie (2006) 111. Vgl. außerdem Fradenburg (1998) 261. 97 Labbie (2006) 129. 98 Dazu auch Labbie (2006) 123: „The lack of materially present other in the scene of courtly love enables the lover to participate in a play where identification and projection construct the other.“

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gaze. Rejecting the narcissism found within identification, Lombarda seeks to be perceived as she is.99

Das Besondere am Morungenlied liegt darin, dass eine solche Intervention hier von der männlichen Stimme – und nach allem, was wir wissen, von einem männlichen Autor – formuliert wird. Die melancholische Stimmung des Liedes ist damit nicht nur auf den immer vorauszusetzenden Verlust des ersten, verlorengegangenen Liebesobjekts zurückzuführen, sondern genauer darauf, dass jede Aktualisierung dieses Verlusts in neuen Liebesbeziehungen nicht nur das Subjekt des Liebesempfindens verfehlt, sondern auch dem Objekt des Begehrens nicht gerecht wird – es verletzt, gefährdet, buchstäblich verkennt. Melancholie als emotionale Haltung, die auf Dauer gestellt ist, weil sie sich mit einem Verlust nicht abfinden kann, wird in solch‘ konkreter Bildlichkeit nicht zum Ausdrucksmodus der Konstellation der Hohen Minne, sondern zu ihrer Kontrafaktur. Sie ist nicht Symptom für das, was nicht betrauert werden darf, sondern für das, was nicht zu erkennen und folglich nicht zu lieben ist. Sie findet sich nicht ab mit einem literarischen Modell, das den anderen/die andere in einem Maße übersieht, das auch die Eigenerkenntnis verhindert. Damit wird Echo als ‚ästhetische Reflexionsfigur‘ für das Mittelalter klar kenntlich.100 Denn von Ovid und dem marginalisierten Klang hat sich Morungens Haltung denkbar weit entfernt.101

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|| 99 Labbie (2006) 124. 100 Vgl. Wesche (2019) im gleichnamigen Band. 101 Dazu sei auf eine viel beachtete psychoanalytische Lektüre von Echo durch Gayatri Chakravorty Spivak verwiesen, welche ihre Position angesichts der bloßen, unvollständigen Wiederholungsfunktion ihrer Stimme noch außerhalb der Opposition von Trauer und Melancholie ansetzt. Vgl. Spivak (1996) 185.

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Jost Eickmeyer

Domini iure venire iube! Das Modell der Ovidischen Heroides in der deutschen Literatur Wenn im Rahmen dieses Bandes die Frage aufgeworfen wird, ob und wie Ovid Gender-Kategorien (de-)konstruiert haben mag, dann müssen die Heroides oder epistulae Heroidum selbstverständlich eine Rolle spielen. Denn in ihnen kommen tatsächlich die Frauen zu Wort. Dies gilt zumindest für 18 der 21 unter Ovids Namen überlieferten Versepisteln, in denen mythologische bzw. historische Frauenfiguren von Penelope über Phaedra, Deianira, Dido und Helena bis Sappho und Cydippe ihre entfernten Partner (seien es Ehemänner, entlaufene Geliebte oder auch Objekte ihrer mitunter illiziten Begierde) mal anklagen, mal zur raschen Rückkehr drängen, mal gar erotisch verführen wollen. Dabei decken die epistolaren Schreibweisen der innerfiktionalen Verfasserinnen tendenziell das gesamte Spektrum weiblicher Affektmodulation ab: von Penelopes Mahnen, ihr Ehemann möge doch nach fast zwanzig Jahren endlich wieder nach Ithaka zurückkehren, über Phaedras leidenschaftliches Werben um ihren Stiefsohn Hippolytus und Medeas zwischen Liebe und Hass schwankende Anklage an Iason bis zu Didos Betroffenheit über die plötzliche Abreise des Aeneas und Canaces Verzweiflung über die verbotene Liebe zu ihrem Bruder Macareus. Dass diese Schreibweisen nun aber vom kaum bestreitbar männlichen Autor Ovid inszeniert, ja in einem bestechend poetischen Œuvre konstruiert wurden, mag schon einen Hinweis darauf geben, dass am Beispiel der Heroides Konzepte des ‚weiblichen Schreibens‘1 sehr wohl problematisiert werden könnten. Allerdings ist die Frage nach der authentischen Autorschaft und Textgestalt der Heroides in Forschung und Editionspraxis der letzten gut zwanzig Jahre intensiv diskutiert worden.2 Sie sei in diesem Zusammenhang aber ausgeklammert, da es mir im Folgenden nicht um Ovids Konstruktionen oder Dekonstruktionen von Weiblichkeit oder écriture féminine geht, sondern um die produktive Rezeption seiner „Heldinnenbriefe“ in der deutschen Literatur. Vom Mittelalter bis zum zwanzigsten Jahrhundert galten vierzehn Einzelbriefe und drei Briefpaare unbestritten als Ovidisches corpus, lediglich der Brief der Sappho an Phaon wurde bis in die Frühe Neu-

|| 1 Leider hat Alison Keith in ihrem Companion-Artikel über Frauen in der augusteischen Literatur diese Möglichkeit nicht ausgeschöpft. Ovids Heroides begegnen hier lediglich mit einem knappen Verweis auf „the nature of women’s desire“ und den Dido-Stoff: Keith (22015) 398; siehe aber ihre Bibliographie weiterer Forschung zum Thema ebd. 398f. – Als wichtigste einschlägige Publikationen der jüngeren Zeit seien nur genannt: Spentzou (2003), Fulkerson (2005). 2 Vgl. zu Echtheitsfragen: Courtney (1965), Courtney (1997/1998) sowie die Einleitungen in den neueren Heroides-Ausgaben, v. a. von Barchiesi (1992), Knox (1995), Kenney (1996), Rosati (1996). https://doi.org/10.1515/9783110703221-004

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zeit separat überliefert und erst 1629 von Daniel Heinsius in seine Ausgabe der Epistulae Heroidum an fünfzehnter Stelle eingefügt.3 Der folgende Gang durch die deutsche Literatur seit Renaissance und Humanismus4 soll exemplarisch illustrieren, wie Ovids elegische Briefe mythologischer Heldinnen knapp 500 Jahre lang als Modell für deutsche Dichter und Schriftsteller fortgewirkt haben, wobei hier bewusst der relativ offene Begriff des ‚Modells‘ Verwendung findet, damit die Gefahr von a priori wertenden Perspektiven von Einfluss und Epigonalität und eine Beschränkung auf eine spezielle Klasse intertextueller Bezüge (Junkturen, Allusionen, Kontrafakturen etc.) vermieden wird.5

1 Der christliche Ovid: Helius Eobanus Hessus (1488–1540) Im Anschluss an mittelalterliche Traditionen gehört Ovids Werk selbstverständlich zum Stoff der Lateinschulen und späterhin Akademien, war also fest in der sprachlich-poetischen Grundausbildung der Frühen Neuzeit verankert. Dies zum einen, weil Ovid mit den Metamorphosen das kosmographische, ethnologische und nicht zuletzt moralische Kompendium antiker Überlieferung verfasst hatte, zum anderen, weil er mehr als Properz oder Tibull als Leitautor für die Gattung Elegie galt. Die Probleme, die eine christliche Pädagogik mit den moralischen Prämissen der Amores oder der Ars amatoria bekommen musste, zumal Ovids elegisches Ich durchweg autobiographisch gelesen wurde, liegen auf der Hand. Sie strahlen bis auf die Heroides aus, denn schwerlich wollte man Ovids geschickt psychologisierte Innensicht der inzestuösen Stiefmutter Phaedra oder der im Selbstmord endenden Phyllis und Dido, der koketten Helena, die bekanntlich die Vaterstadt ihres Geliebten dem Untergang weihte, oder des listigen Acontius, der seiner begehrten Cydippe unter blasphemischer Ausnutzung des Tempelheiligtums eine Falle stellt, mit christlicher Ehe- und Sexualmoral in Einklang bringen. Kurz: Man konnte all diese zwielichti-

|| 3 Die beste Übersicht der Heroides-Überlieferung bieten Dörrie (1960) und Dörrie (1971) bzw. zum Sappho-Brief Dörrie (1975). – Kurz über Heinsius’ Edition und ihre Wirkung referiert Possanza (2009) 322f. 4 Die aetas Ovidiana des Mittelalters, in der durchaus Rückgriffe auf die Heroides im lateinischen und auch deutschsprachigen Bereich zu verzeichnen sind, sei hier ausgeklammert. Vgl. aber den Beitrag von Jutta Eming im vorliegenden Band. 5 Der hier verwendete Begriff des Modells meint nicht den Prätext als sprachliche Einheit, sondern als Struktur bzw. geordnetes Objekt, dem bestimmte Qualitäten zukommen. Sie – Struktur und Objekt – sind unabhängig von einer bestimmten Sprache oder sprachlich-metrischen Form tradierbar und können wiederum in unterschiedlichen Formen neu realisiert werden. Der Modell-Begriff leitet sich aus wissenschaftsphilosophischen Theorien her, vgl. zum Beispiel Charpa (1996) 99–101.

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gen Charaktere christlichen Studenten nicht so ohne weiteres vorsetzen. Da die Möglichkeit der Allegorisierung, die sich für die Metamorphosen so sehr bewährt hatte,6 hier ausfiel, blieben drei Möglichkeiten der Aufbereitung: erstens Purgierung, was im philologisch orientierten Humanismus nicht mehr so leicht fiel und vor allem in Extremfällen (Catull, Martial) praktiziert wurde; zweitens Kommentierung, wovon intensiv Gebrauch gemacht wurde; drittens langfristige Ersetzung der problematischen antiken Leittexte durch moderne christliche. So hatte sich am Beginn des sechzehnten Jahrhunderts für die Heroides eine moralisierende Kommentarpraxis verfestigt, die letztlich auf mittelalterliche Accessus ad auctores zurückging.7 Als ein Beispiel unter vielen zitiere ich den Kommentar des RenaissanceGelehrten Ubertino da Crescentino, 1481 verfasst, aber noch 1570 als Basis einer Ausgabe mit weiteren Kommentaren gedruckt. Zur Einschätzung der Heroides schreibt er: Materia [operis] vero est ethica. […] quia describit varios virorum: mulierumque mores: […] quantum hi differant in mulieribus pudicis et impudicis […]. Itaque alie ad laudem et imitationem: alie ad libidinis et impudicitie detestationem memorantur.8 Der Gegenstand des Werkes ist ein sittlicher. […] Denn es beschreibt die unterschiedlichen Sitten von Männer und Frauen [...], inwiefern diese in keusche und unkeusche Frauen unterschieden werden können […]. Deshalb fordern die einen zu Lob und Nachahmung auf, die anderen zur Abscheu gegenüber Wollust und Unkeuschheit.

Für die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit frühneuzeitlicher HeroidesRezeption bedeutet dies erstens, dass das Werk bei Lesern und Verfassern hinlänglich bekannt war, ja sicherlich präziser bekannt als bei den meisten heutigen Lesern, wenn man bedenkt, dass das Studium eines antiken Autors damals im Wesentlichen aus der Lektüre, Memorierung und Imitation seines Werkes bestand; zweitens, dass eben deshalb die Minimalschwelle für literarische Anspielungen sehr niedrig lag, so dass Allusionen, die heute sehr subtil erscheinen mögen, für die zeitgenössische Leserschaft weitaus deutlicher gewesen sein dürften; drittens, dass die Heroides ausreichend poetische Dignität besaßen, um als ganzes Werk humanistische Dichter zur imitatio und aemulatio aufzurufen, also zur konkurrierenden

|| 6 Einschlägige Metamorphosen-Kommentare orientierten sich im Grunde bis ins siebzehnte Jahrhundert an einer allegorischen Exegese, die der Benediktinermönch Pierre Bersuire († 1362) in seinem Ovidius moralizatus entwickelt hatte. Gemäß seiner Deutung figuriert etwa Apoll den Teufel, der Daphne als Allegorie der christlichen Seele verfolge, während zum Beispiel Pyramus zur Figuration Christi wird; vgl. dazu Michel (2000); zum wirkmächtigen französischen „Ovide moralisé“ siehe Henry u. Lefèvre (1992). 7 Zur mittelalterlichen Accessus-Literatur in Bezug auf u. a. Ovids Heroides siehe Hexter (1986). Textbeispiele bietet die Edition von Huygens (21970), hier z. B. 29. 8 Ubertino (1570) A1v.

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Nachahmung des dichterischen Vorbildes in derselben Gattung, und das hieß in der Frühen Neuzeit vor allem: in derselben Form. Als erster nahm diesen poetischen Wettstreit Eoban Koch auf, der sich als Sonntagskind und gebürtiger Hesse zu Helius Eobanus Hessus latinisierte.9 An sein Studium in Erfurt schlossen sich einige Jahre in Preußen und Pommern an, wo Eoban in Diensten des musisch orientierten Bischofs Hiob von Dobeneck stand. Als Frucht dieser Jahre erschienen 1514 in Leipzig die Heroidum Christianarum Epistolae, von denen in den 1550er Jahren Hessus’ Biograph Joachim Camerarius vermerkte, es handle sich um ein „denkwürdiges erstes Werk, und auch insofern beachtlich, als es [Eobans] dichterische Befähigung im Entstehen zeigt und ein Musterbeispiel für seine Begabung darstellt, zumal da er sich mit der Abfassung nicht besonders anstrengte [...]“.10 Im Einklang mit diesem Lob zeigt sich der Archeget ovidischer Heroidendichtung in Deutschland poetisch und poetologisch auf der Höhe seiner Zeit. In der Widmungsvorrede an seinen Gönner Hiob von Dobeneck will er einerseits seine Heroidum Epistolae als Hommage an den großen Dichter Ovid verstanden wissen, weist aber andererseits selbstbewusst darauf hin, dass er der erste sei, der eine Nachahmung der gesamten Epistelsammlung unternehme: Causa scribendarum epistolarum ea potissimum fuit, quod videbam ea in re nullum hactenus poetarum admodum elaborauisse, indignum ratus omnem ingenij florem in prophanis quibusdam ac frivolis occupationibus desumere.11 Der Grund, diese Briefe zu schreiben, war vor allem, dass ich bemerkte, dass sich dieses Gegenstandes bislang kein Poet angenommen hat, und ich es für unwürdig hielt, dass jede Blume dichterischer Begabung sich irgendwelchen heidnischen und zweideutigen Beschäftigungen hingab.

Hessus sieht also die Gefahr, die humanistischen Poeten von Seiten einer christlichhumanistischen Literaturkritik drohte, durchaus, immerhin hatten sich bereits Dichterkollegen wie Michael Marullus oder Conrad Celtis wegen allzu großer Einfühlung in antike Kultur und Religion den Vorwurf eines neuen Heidentums zugezogen. Von Marullus distanziert sich Hessus denn auch explizit in der Vorrede und führt approbierte christliche Epiker wie Baptista Mantuanus oder Macareus Mutius || 9 Fundierte Kurzinformationen über Leben und Werk bieten Huber-Rebenich u. Lütkemeyer (2008); die umfassendste biographische Darstellung liefert nach wie vor Krause (1879). 10 […] opus memorabile, & eo etiam nomine spectandum, quod initia complectitur facultatis poeticae, & specimen Eobanici ingenii; praesertim quum non incubuerit ille in compositionem […] (Camerarius [2003] 50; dt. ebd. 51; die Übersetzung wurde leicht modifiziert; J. E.). 11 Um der einfacheren Auffindbarkeit willen wird hier die Vorrede nach der kritischen Edition in Hessus (2008) zitiert; hier 128–144 mit Harry Vredevelds Einteilung der Absätze. Obiges Zitat ebd. § 9.1 (dt. Übersetzung von mir). Die Versepisteln selbst hingegen zitiere ich – unter Auflösung der üblichen Kürzel und Ligaturen – nach dem Erstdruck in Hessus (1514), von dem die späteren Fassungen in spezifischer Weise (s. weiter unten) abweichen.

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als direkte Vorbilder an. Wenn der Mantuanuer, der späterhin auch Shakespeare begeistern sollte,12 in seiner Parthenice selbst der Heiligen Jungfrau eine solide klassische Bildung andichtete, dann durfte Hessus doch mit seiner antiken Vorlage auch in diesem Sinne verfahren. Die Stoßrichtung verläuft allerdings umgekehrt. Ovids mythologische Heldinnen werden in den Heroides Christianae konsequent durch christlich-historische Frauengestalten ersetzt, die erotische Grundierung der Ovidischen Briefe oftmals in verwandtschaftliche Beziehungen verwandelt: die Gottesmutter, Konstantins Mutter Helena, Augustinus’ Mutter Monica kommen in Briefen an ihre Söhne zu Wort, außerdem ausgewählte Heilige der Kirchengeschichte von der Heiligen Elisabeth über die Wüstenheilige Maria Aegyptiaca bis zu Dorothea und Ursula. Hingegen behält Hessus die elegische Form ebenso bei wie die persönliche Kommunikationssituation Ovids, gemäß der sich die Briefe der Heroides gewissermaßen in Handlungspausen der bekannten Sagenkreise (bei Ovid etwa um Troja, Hercules oder Orest) einschreiben.13 Erst im letzten der insgesamt 24 Poeme wandelt der Humanist sie allegorisierend ab, indem er sich persönlich an eine besonders umworbene, mitunter spröde Dame, nämlich die Nachwelt (posteritas), wendet.14 Wie eng Hessus sich gleichwohl in die Konkurrenz zu seinem antiken Vorbild begab, möchte ich hier an zwei Beispielen demonstrieren. Mit den ersten beiden Briefen imitiert Hessus offenbar die Ovidische Form des Doppelbriefes, wie sie in den epist. 16 bis 21 vorgeprägt war. Bei den Briefpartnern handelt es sich aber um die Gottesmutter und „Emanuel“, also (nach Jes 7, 14) ihren Sohn, offenkundig im zeitlichen Umfeld der Verkündigung. Das führt zu der heute absurd anmutenden und allenfalls durch trinitarische Spekulation zu erklärenden Situation, dass die Schreiberin nach der Manier Ovidischer Heldinnen ihr Gegenüber auffordert, doch schnell zu ihr zu kommen – nur dass es sich hier um ihren noch ungeborenen Sohn Jesus handelt. QVam sine te non est tellus habitura salutem, Vt partam per me possit habere veni Littera quam sparsis non conuenit ista lituris Hoc breue mortalis dextera fœcit opus Dextera quæ calamum vix nunc tenet ægra labantem Heu miseræ quanti ponderis instat onus.15

|| 12 Auf ihn, nicht auf den ebenfalls aus Mantua gebürtigen Vergil, beziehen sich die Ausrufe des Holofernes aus Love’s Labour’s Lost (IV, 2, V. 1241–45): „Ah, good old Mantuan! I may speak of thee as the traveller doth of Venice: […] Old Mantuan, old Mantuan! who understandeth thee not, loves thee not.“ 13 Vgl. etwa die pointierte Formulierung bei Barchiesi (2001) 33: „[Ovid’s] epistles make ‚elegiac‘ incisions into the narrative bodies of epic, tragedy and myth.“ 14 Zu diesem Brief und seinen Rekursen auf Ovids Exildichtung ausführlich: Weinczyk (2008) und Enenkel (2000). 15 Hessus (1514) Vv, epist. 2, 1–6.

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Damit die Erde das von mir geborene Heil empfangen möge, das ohne dich nicht zu erlangen ist: Komm! Unschöne Verwischungen verunstalten diesen Brief, diesen knappen Text, den eine menschliche Hand verfasst hat; eine schwache Hand, die das zitternde Rohr gerade noch zu halten vermag. Ach, welch große Mühe und Beschwernis steht dieser Elenden noch bevor.

Zunächst dient dieser Briefeingang dazu, Mariens Einverständnis mit ihrer Aufgabe zu dokumentieren. Zugleich markiert der Verweis auf die „sterbliche“ und „schwache“ Hand den Abstand zwischen Mensch und Gott. Und schließlich weist die im letzten Vers beklagte „schwere Last“ nicht nur im physischen Sinne auf die Schwangerschaft Mariens, sondern auch darüberhinaus auf die Sieben Schmerzen voraus, die darin gipfeln, dass sie Zeugin des Kreuzestodes Jesu werden wird. Damals wie heute dürften aber Ovid-Kenner sogleich bemerkt haben, dass diese Verse geradezu aus Heroides-Stellen montiert sind: In Marias Briefbeginn werden offenbar Elemente aus Heros Brief an Leander16 und Canaces Brief an Macareus17 so kombiniert, dass die auffällige Anspielung zum Vergleich einladen muss. Der springende Punkt dürfte in beiden Fällen in der sachlichen Überbietung der antiken Vorläuferinnen liegen: Während Hero ihren geliebten Leander sehnlich erwartet, dieser sie jedoch nicht erreichen wird, kann sich Maria – das Partizip Futur zeigt es an – der Ankunft Jesu bereits gewiss sein. Während Canace die Verwischungen der Tinte auf dem Pergament – übrigens ein durch die Jahrhunderte immer wiederkehrendes Motiv der Heroidendichtung – auf ihren bevorstehenden Selbstmord (caedes) zurückführt, weist Maria sie allgemein ihrer Sterblichkeit zu, die allerdings auch Jesus nach seinem Martyrium bevorstehen wird. Wenn sie zugleich bereits ihre Schmerzen erahnt, entspricht das nicht nur einer gängigen Bildidee der abendländisch-christlichen Kunst, nach der das Kreuz bereits in der Weihnachtsszenerie präsent ist, sondern weist auf die Heilstat Christi allgemein voraus, die alle Menschen von der Ursünde befreien wird. In Maria kombiniert also Hessus nicht nur verschiedene Ovidische Heldinnen, sondern übertrifft sie zugleich vor dem Hintergrund der Heilsgeschichte. Wem diese subtilen Hinweise auf eine Depotenzierung der (sowohl für die Heroinen als auch für christliche Leser) gefährlichen Erotik Ovids noch nicht ausreichten, der wird einige Seiten später vom Autor noch deutlicher darauf hingewiesen. Wenn Mariens Demut sie danach fragen lässt, warum ausgerechnet sie würdig sei, nun zur Gottesgebärerin zu werden, kann sie sich der Antwort gewiss sein: Digna fui: quis enim poterit te iudice falli? Digna fui: quia te iudice digna fui.

|| 16 Ovid, epist. 19, 1f.: Quam mihi misisti verbis, Leandre, salutem / ut possim missam rebus habere, veni! 17 Vgl. Ovid, epist. 11, 1 (liturae) sowie epist 11, 3 (Dextra tenet calamum).

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Te mea virginitas, tua me clæmentia movit, Non agitur forma praesule noster amor.18 Würdig war ich, denn wer könnte da getäuscht werden, wo du der Richter bist? Würdig war ich, weil ich deinem Urteil nach würdig war. Dich hat meine Jungfräulichkeit, mich deine Gnade bewegt. Nicht durch äußerliche Schönheit wird unsere Liebe beherrscht und fortgerissen.

Auch hier klingen Verse aus Ovids Heroides deutlich an: Marias anaphorisches Digna fui verweist potentiell auf gleich zwei antike Heldinnen aus dem Iason-Mythos: Einerseits intensiviert Eobans Schreiberin die selbstbewusste Forderung der Hypsipyle gegenüber Iason, er hätte ihr doch schreiben sollen,19 andererseits den vorwurfsvollen Vergleich zwischen Vergangenheit und Gegenwart aus dem MedeaBrief.20 Die Allusionen markieren eine deutliche Differenz: Während Iasons Frauen ihn wegen seiner Untreue, in Medeas Fall gar der Besetzung ihrer Position durch eine neue Frau, anklagen, kann die zukünftige Gottesmutter durch das wiederholte und somit verstärkte Digna fui ihr Auserwähltsein konstatieren. Damit eine solche Hervorhebung nun nicht in die Sünde des Hochmuts kippen möge, koppelt Maria sogleich die eigene Würde in signifikanter Weise an das Urteil eines männlich konnotierten Gottes, und dies ebenfalls durch die wörtliche Variation eines OvidVerses, mit dem Helena in ihrem Brief an Paris auf dessen berühmtes Urteil anspielt: iudice te causam non tenuere duae.21 Der darauf folgende Hexameter präzisiert sowohl die Qualitäten Mariens als auch das Urteil Gottes, indem er abermals auf den Helena-Brief zurückgreift: Dessen Formulierung wird zunächst chiastisch umgekehrt,22 was, kombiniert mit den jeweiligen Qualitäten, Jungfräulichkeit auf Seiten Mariens und clementia, also herrscherliche Milde auf Seiten Gottes, auch zu einer kompletten Inversion der Aussage führt: Während es gerade die äußere Schönheit (forma) sowohl der Venus als auch Helenas war, die den Trojaner und die Griechin in die Fänge (capit) der Leidenschaft trieb, so lassen Hessus’ Verse keinen Zweifel daran, dass es bei der Gottesmutter um innere Werte geht, zumal da das sanfte Rührung implizierende movit sich deutlich vom berückenden capit Ovids absetzt. Stärker kann man die Verwandlung antiker Erotik in christliche Keuschheit und göttliche Gnade kaum markieren. Die berechnete Unterwürfigkeit, mit der die geraubte Briseis noch ‚ihren‘ dominus Achilles ansprechen konnte: Domini, iure venire iube,23 ist nun einer berechtigten pietas gegenüber dem einzigen Gott gewichen, gepaart freilich mit dem eingangs zitierten emphatischen Wunsch, Christus möge doch nun || 18 Hessus (1514) VIIv, epist. 2, 81–84. 19 Ovid, epist. 6, 8: Hypsipyle missa digna salute fui. 20 Ovid, epist. 12, 25: Hoc illic Medea fui, nova nupta quod hic est. 21 Vgl. Ovid, epist. 17, 244: „Laut Deinem Urteil haben zwei von ihnen den Wettbewerb verloren.“ 22 Vgl. Ovid, epist. 17, 179f.: Et vir abest nobis et tu sine coniuge dormis; / inque vicem tua me, te mea forma capit. 23 Ovid, epist. 3, 154: „Befiehl du, mit dem Recht des Herren, mir zu dir zu kommen.“

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zu ihr kommen, der seinerseits eine semantische Inversion von Briseis’ Schlussvers darstellt. Zudem liegt im Aufrufen und zugleich Korrigieren (im Sinne einer MythenKorrektur) des Paris-Urteils eine subtile Auseinandersetzung zwischen christlicher und vorchristlicher Dichtung: Wie der Mythos situativ in der Geschlechterverteilung umgekehrt wird, indem nun nicht mehr ein Mann zwischen drei Göttinnen wählen muss, sondern ‚der Eine‘ Gott eine Frau erwählt hat, so werden auch die weiteren Implikationen des Mythos suspendiert. Statt Zwietracht, die das Paris-Urteil provoziert hatte, nun die unausdenkliche Verbindung von Gott und Mensch im Geschehen der Inkarnation; statt jahrelangen Krieges vor Troja nun jener Friede auf Erden, den die Engel den Hirten in der Weihnachtsgeschichte verkündigen. Bei aller Verehrung und offenkundigen Kenntnis von Ovids Heroides liegt Hessus doch viel daran, Assoziationen zu anderen Werken des Sulmonesen auszuschließen. Denn die hier skizzierte implizite und an starken Allusionen nachvollziehbare correctio des imitierten Vorbildes nach christlichen Maßgaben geht zugleich immer wieder auch mit expliziter Mythenkritik einher, die nicht zufällig auch im Briefpaar zwischen Christus und Maria begegnet: Immerhin nähert sich in der Verkündigungsszene, im Medium von Engelsgruß und Heiligem Geist, ein Gott einer Sterblichen, was auf keinen Fall mit jenen mythischen Annäherungen Jupiters verwechselt werden durfte, denen Ovids Metamorphosen höchsten poetischen Ausdruck verliehen hatten. Und so schließt Maria in ihrem Brief diese Parallele ganz explizit aus, indem sie die Ovidischen Verwandlungen der Götter ausdrücklich in den Bereich des unzuverlässigen Hörensagens bzw. der „Erdichtung“, das heißt Lüge, verbannt: Fama Iovem falsum tot habet latuisse figuris Et tot ficticios monstra fuisse deos.24 Die Sage berichtet, es habe der falsche Jupiter sich hinter so vielen Gestalten verborgen, es seien so viele erdichtete Götter Ungeheuer gewesen.

Diese Technik des Humanistendichters, die mehr oder minder intensiv in allen seinen christlichen Versepisteln nachzuvollziehen wäre,25 brachte ihm bereits zu Lebzeiten den Titel eines Ovidius christianus ein, setzte aber auch Standards für die frühneuzeitliche Heroides-Rezeption insgesamt. Mochte Hessus sich auch in den 1520er Jahren Luthers Reformation anschließen und sein Jugendwerk nach Maßgaben einer nun entschieden protestantischen Poetik überarbeiten, umschreiben und

|| 24 Hessus (1514) VIv, epist. 2, 49f. 25 Siehe dazu die einschlägigen Studien von Vredeveld (1978), Suerbaum (2008) sowie in Eickmeyer (2012) 161–192.

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neu gliedern,26 so nahmen doch fortan alle lateinischen katholischen oder protestantischen Heroidendichter direkt oder indirekt auf ihn Bezug. Welche unterschiedlichen Perspektiven auf Genderfragen jedoch aus einer gleichermaßen christlichen Grundierung der Antikenrezeption erwachsen können, sei hier kurz an zwei weiteren Heroidensammlungen, in diesem Fall allerdings keinen deutschen, illustriert.

2 Biblische Misogynie und Querelle des femmes (Claude d’Espence; Andreas Alenus) Der 1564 gedruckte Sacrarum Heroidum liber des Pariser Theologen Claude d’Espence (1511–1571)27 wäre nicht der Rede wert, ginge es hier vorrangig um poetische Dignität oder literarische Innovation. Der Rektor der Sorbonne, der zwischenzeitlich im Verdacht des Kryptocalvinismus stand, verwandte offenkundig weniger Energie auf seine elegischen Distichen, dafür umso mehr auf die umfangreiche polemische Vorrede zu diesem Werk, die „vom Nutzen und Nachteil der heidnischen Bücher“ überhaupt handelt.28 Es scheint nicht zufällig, dass er die scharfen Restriktionen, die er für den produktiven Umgang mit antiken vorchristlichen Dichtern empfiehlt, mithilfe eines biblischen Gebotes aus dem Deuteronomium (5. Mose 21, 10–13) illustriert: […] Wenn ein siegreicher Israelite eine Frau nehmen wollte, soll er diese zuerst enthaaren, das Haupt scheren, die Augenbrauen, Haare und Fingernägel stutzen, damit sie, so – kahl geschoren und von überflüssigen und toten Anteilen befreit – rein geworden, in die Umarmung des Siegers einkehre, auf dass er sie eheliche.29

– und der Gelehrte bleibt die applicatio nicht schuldig: Auch wir wollen, wenn wir von der Liebe zur weltlichen Philosophie, Geschichte, Redekunst oder Dichtung aufgrund der Schönheit ihres Ausdrucks ergriffen werden, vermeiden, dass wir nicht nur ergriffen, sondern auch getäuscht werden, und darum zuerst alles, was an ihr tot ist: Götzendienerei, Irrlehre, Mutwillen, Wollust, wegschneiden; […] wollen daran gleichsam eine Kahlrasur vollziehen, wollen sie, wie man es mit Fingernägeln tut, mit dem schärfsten Eisen zurechtschneiden und wollen erst dann sie, die so von jedem Schmutz der Irrlehre gereinigt

|| 26 Über die Änderungen informiert im Detail Vredevelds Einleitung in Hessus (2008). 27 Konzise Informationen bietet Walter (2004). 28 Espence (1564) 3: De profectu ex gentilium librorum lectione percipiendo, ad Christianum Lectorem. 29 Ebd, 7f.

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und mit der Lauge des Propheten gebeizt, die von einer Gefangenen zur Freien, von einer Sklavin zur Herrin, einer Moabiterin zur Israelitin geworden ist, in die Arme schließen.30

Ein guter christlicher Autor hat sich offenbar seine vorchristlichen Prätexte so gewaltsam anzueignen, wie die Israeliten zu Moses Zeiten die Frauen der unterworfenen Völkerschaften. Nach dieser Maßgabe, die sämtlicher antiken Philosophie und Poesie bestenfalls den Status einer ‚desinfizierten‘ Briseis zuweist, hegt Espence denn auch seine eigenen elegischen Heldinnen ein, die sämtlich einer unverdächtigen Quelle, nämlich der Apostelgeschichte, entstammen. Ausführliche Marginalien in der Erstausgabe, die sich in der Fassung der Werkausgabe (1619) zu ganzen Scholien ausweiten, sollen einen möglichen ‚Wildwuchs‘ poetischer Imagination auf Seiten des Lesers zudem eindämmen, indem sie vor allem auf biblische Bücher und die Kirchenväter verweisen und somit die orthodoxe Unterfütterung von Espences Poesie demonstrieren. Ganz anders nutzt dagegen der Flame Andreas Alenus31 die Widmungsvorrede zu seinen Sacrae Heroides (1574), die er obendrein einer gelehrten Frau, Katharina von Brandenburg, dediziert.32 Im Diskurs über den Stellenwert der Geschlechter, der seit Boccaccios Vitensammlung De mulieribus claris (publiziert 1375) die Frühe Neuzeit prägte und im neunzehnten Jahrhundert querelle des femmes getauft wurde,33 nimmt dieser Autor entschieden für die Frauen Partei. Denn obgleich sie in vielerlei Hinsicht gegenüber Männern im Nachteil seien, sind sie für ihn „dennoch mit vielen Gaben gesegnet, die bei Männern fehlen oder zumindest seltener sind: beispielsweise Schamhaftigkeit, Gottvertrauen, Demut, eheliche Treue.“ Das wirkt aus heutiger Sicht nicht sonderlich emanzipatorisch, entscheidend ist aber, dass Alenus im Folgenden diese positive Charakterisierung auch auf antike Frauenfiguren zu beziehen weiß, die er katalogartig aufzählt und dabei auch die Protagonistinnen der beiden moralisch unverdächtigsten Ovidischen Versepisteln nennt: Penelope und Laodamia. Mit Plutarch offenbart er obendrein seinen Hauptgewährsmann, dessen vermutlich pseudepigraphen Traktat De mulierum virtutibus (mor. 3) sich gleichermaßen gegen antike Frauenverächter (wie Euripides oder Simonides) und deren moderne Nachfahren richtet. Anders als seine Gesinnungsgenossen in ganz Europa braucht Alenus jedoch nicht bei der theoretischen Behauptung der Lobwürdigkeit

|| 30 Ebd. (1564) 8. 31 Der größere Teil der Forschung zu Andreas Alenus (auch: Andries Alen) und seiner Dichtung ist unpubliziert; siehe Verhaert (1971), Vanwig (1985) und Vos (1987). Vgl. die folgende Anm. 32 Alenus (1574). – Neben dem Kurzüberblick über seine Heroidendichtung bei Dörrie (1968) 386–388 und der marginalen Nennung bei van Marion (2005) 220 u. 350 siehe auch Eickmeyer (2012) 204–234 u. 331–348. 33 Aus der reichhaltigen einschlägigen Forschung, die intrikat mit kulturhistorischer GenderForschung verschränkt ist, nenne ich nur das Wichtigste: Bock u. Zimmermann (1997) und Drexl (2006) mit jeweils weiterführender Literatur.

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des weiblichen Geschlechts stehen zu bleiben, sondern kann seine These sogleich poetisch beglaubigen. Da scheint es nur konsequent, dass seine insgesamt 77 Heroidenbriefe in doppelter Hinsicht ins Universale streben: Waren in Eobanus Hessus’ Erstfassung die Briefschreiberinnen noch recht willkürlich aneinandergereiht, so folgen Alenus’ drei Bücher einer strengen Chronologie: Buch I beginnt mit einem Brief Evas an Kain, der 28. Brief des dritten Buches ist auf die unmittelbare Gegenwart datiert, genauer gesagt das Jahr 1566, als die reformierten Bilderstürmer den Dichter aus seiner Limburgischen Heimatstadt Hasselt vertrieben. Die drei das Werk beschließenden Episteln streben zusätzlich nach Universalität durch Allegorisierung, indem hier nicht mehr individuelle Schreiberinnen und Adressaten auftreten, sondern mit der streitenden und der triumphierenden Kirche zwei Kollektive aus der Gemeinschaft der Heiligen. Wenn sich ferner die sündige Seele an Christus wendet und im letzten Brief die Seele ihren postmortal ruhenden Körper über die baldige Auferstehung des Fleisches belehrt, verlässt Alenus endgültig sein Terrain der Frauenbriefe und begibt sich tendenziell in den Bereich der Andachtsliteratur. Beide Verfahren werden in der späteren Gattungsgeschichte wieder aufgegriffen.

3 Blüte und erste Krise: Jesuitische Heroidenbriefe im 17. Jahrhundert In Deutschland, allerdings ebenso in den Niederlanden, wird im siebzehnten Jahrhundert die Blütezeit der geistlichen wie auch weltlichen Heroidendichtung erreicht. Innerhalb von gut dreißig Jahren entstanden fünf Werke, welche die Gattung in jeweils unterschiedliche Richtungen fortführten und allesamt aus der Feder dichtender Jesuiten stammten: Jakob Bidermanns Heroum Epistolae (1634), Baudouin Cabiliaus Epistolae Heroum et Heroidum (1636),34 gefolgt von Jean Vincarts Sacrarum Heroidum Epistolae, die sicher absichtsvoll zur Centenarfeier der Socitas Iesu (1640) erschienen. Dann legte nochmals Jakob Bidermann ein Werk vor, das komplementär zu seinen „Heldenbriefen“ nun ausschließlich Briefschreiberinnen bot (Heroidum Epistolae, 1642), bevor Jacob Balde mit seiner Urania Victrix (1663) die lateinische Heroidendichtung des Ordens zu einem allegorischen Höhe- und Endpunkt, zumindest in Deutschland, führte.35

|| 34 Zum wenig erforschten Cabiliau siehe Sacré (1998). 35 Nur zwei dieser fünf Werke liegen in modernen Editionen vor, von denen obendrein nur eine zuverlässig ist. Ich beziehe mich daher auf Bidermann (1634); Bidermann (2005) nur für den Reprint der 1642er Ausgabe – Übersetzung und Kommentar sind hier unzuverlässig; Cabiliau (21698); Vincart (41697); Balde (2003). – Ausführlichere Analysen und Interpretationen einzelner Heroiden- und Heroenbriefe aus all diesen Sammlungen bei Eickmeyer (2012) 284–485.

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Diese florierende, ja beinahe hastige Produktion von Heroides Sacrae war bedingt durch und bedingte selbst zugleich ein deutliches Krisenbewusstsein im Blick auf die Gattungen der Elegie und vor allem des Heroidenbriefes. Zuerst formuliert findet man es in der Vorrede zu den Heroides des nachmaligen Ordenszensors Jacob Bidermann: Tum deinde Magdalenæ lacrimis, & Sponsæ Romanæ querelis, & hoc genus alijs argumentis, per mille poëtas, millies decantatis, quid noui nos adderemus?36 Da also ›Tränen der Magdalena‹ und ›Klagen der römischen Braut‹ und viele andere Geschichten dieser Art von tausend Dichtern tausendmal heruntergeleiert wurden: Was könnte ich dem noch Neues hinzufügen?

Während die „römische Braut“ aus bestimmten Gründen auf die Ehefrau des Heiligen Alexius anspielen dürfte,37 die sowohl in Elegien als auch bereits in Heroidenbriefen ihrer Sehnsucht nach dem entfernten Gatten Ausdruck verliehen hatte, gehört die weinende Maria Magdalena sicherlich zu den im Barock am häufigsten poetisierten biblischen Gestalten. Man merkt: Nicht mehr die Frage nach dem Umgang mit heidnischen Altertümern oder antiker erotischer Dichtung ist hier noch virulent, sondern die konkrete Stoffauswahl angesichts einer immer weiter anwachsenden Menge gedruckter Heroiden. Auf Bidermanns Frage nach Innovationsmöglichkeiten haben die Jesuitendichter unterschiedliche poetische Antworten gefunden. Er selbst hatte ja bereits mit den Heroum Epistolae von 1634 einen ungewöhnlichen Weg beschritten, indem er ausschließlich männliche Briefschreiber bot, die bis dato doch nach Ovidischer Tradition allenfalls in Briefpaaren vorkamen. In den Heroides dann greift der Jesuit den allegorischen Brief der Ecclesia bei Andreas Alenus wieder auf, lässt aber nun das gesamte dritte Buch aus vier langen Briefen von Figurationen der Kirche bestehen, die den Lesern die Mühen des irdischen Daseins unter reichem Rückgriff auf die Kirchengeschichte, die Freuden des Himmelreichs und die Qualen des Fegefeuers ausmalen.38 Cabiliau (Balduinus Cabillavius) weitet das Schema des Doppelbriefes zu ganzen Zyklen aus, indem er im vierten Buch die Alexius-Geschichte in dreizehn Briefe sowie die lokale Legende der Heiligen Genovefa in zwölf Briefe fasst.39 Von hier aus ist es zum Briefroman des achtzehnten Jahrhunderts nicht mehr weit. Jean Vincart aus Lille schließlich führt zwei Innovationen ein: Zum einen versammelt er im dritten Buch ausschließlich fiktive Briefe historischer Figuren, die

|| 36 Bidermann (2005) 14 [5]. 37 Dies ergibt sich nicht zuletzt aus der analogen, direkt auf Alexius bezogenen Formulierung in Baldes Isagoge, s. u. 38 Bidermann (2005) 220–287 [108–137]. 39 Siehe Cabiliau (21698) 293–339 (Alexius-Zyklus) und 339–384 (Genovefa-Zyklus).

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obendrein berühmte Mitglieder der Gesellschaft Jesu waren;40 zum anderen gibt er jedem seiner Versepisteln neben einem Prosavorspann einen Kupferstich bei, der ähnlich einem Emblem die Handlung des folgenden Briefes bildlich zusammenfasst und symbolisch ausdeutet.41 All diesen Neuerungen zum Trotz scheint sich zwanzig Jahre später die Lage nicht verbessert zu haben, zumindest wenn man einer polemisch zugespitzten Passage von Bidermanns Ordensgenossen, dem ‚deutschen Horaz‘ Jacob Balde, Glauben schenkt. Just in der Vorrede zu seiner eigenen Heroidendichtung Urania Victrix vermerkt dieser resignierend: quis non putet sacri profanique Amoris pharetram exhaustam esse? Magdalenae lacrymae Scaldim, Antuerpiam, totumque Belgium irrigârunt. Romanae Sponsae fletibus, post Alexij fugam Tybris crevit. Passim volitant Heroum Heroidumque Epistolae. Theophilus salutat suam Dorotheam: Valerianus Sponsus Tiburtium fratrem. Gilimer Rex gemit, Emmanuel Sosa naufragus tremit. Polydora scribit Alexio: Theodora Didymo, Alenia Phosphoriano, Barbara Dioscoro, Theopista Eustachio; scilicet altera Penelope suo Ulyssi. Quin et Evam habemus protoplastam matrem, aviam nostram; tam cultum, quàm dispendia terrestris Paradisi nobis luctuosè ingerentem: Tiraea scribit de mundi naufragio: Sibylla de Babyloniae Turris insana substructione: Maria de Pharaone submerso: Juditha de Holoferne occiso. Jam vero Pia desideria quis non desiderat? teneri amores etiam in tenerrimis legentium amoribus resultant et liquescunt. Quid igitur adderemus ad ista? […] wer sollte bezweifeln, daß die Köcher des heiligen und des weltlichen Amor erschöpft sind? Die Tränen Magdalenas haben sich in die Schelde, über Antwerpen und die ganzen Niederlande ergossen. Durch das Weinen der römischen Braut nach der Flucht des Alexius ist der Tiber angeschwollen. Überall fliegen Briefe der Heroen und Heroi[n]en hin und her: Theophilus grüßt seine Dorothea, der Bräutigam Valerian seinen Bruder Tiburtius. König Gilimer seufzt, der schiffbrüchige Emanuel Sosa zittert. Polydora schreibt an Alexius, Theodora an Didymus, Alenia an Phosphorianus, Barbara an Dioscorus, Theopista an Eustachius, kurzum: eine zweite Penelope an ihren Ulysses. Ja, wir haben sogar eine Eva, die erstgeschaffene Mutter, unsere Urmutter, die uns ebenso die Üppigkeit wie den Verlust des irdischen Paradieses in jammervollen Worten nahebringt; Tiraea schreibt von der Sintflut, Sibylla vom wahnwitzigen Bau des babylonischen Turms, Mirjam vom Untergang Pharaos und Judith vom Mord an Holofernes. Wer begehrte sie nicht, die ›Pia Desideria‹? Zarte Liebesgedichte hallen in zartesten Liebesgedanken der Leser wider und rühren sie zu Tränen. Was also könnte ich dem noch hinzufügen?42

Balde zeigt sich hier als hervorragender Kenner der vorangegangenen Heroidendichtung, stellen doch die Namen, die er nennt, eine reiche Blütenlese aus den Werken eines Hessus, Alenus, Bidermann, Cabiliau und Vincart dar. Auch die beliebte Elegiensammlung Pia Desideria (1624) des flämischen Jesuiten Herman Hugo

|| 40 Vincart (41697) 134–211. 41 Zur Interpretation dieses teils emblematischen, teils illustrativen Text-Bild-Verhältnisses siehe exemplarisch Eickmeyer (2012) 434–451. 42 Text und (leicht modifizierte) Übersetzung nach Balde (2003) 12f. [3].

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wird ironisch bedacht, bis Balde zum selben Ergebnis kommt wie Bidermann, eine Generation vor ihm: Was ließe sich all dem noch hinzufügen? Nebenbei lässt sich anhand dieser Stellen die literarhistorisch beliebte These von der Epigonalität frühneuzeitlicher Dichtung relativieren: Gerade wer in beliebten Gattungen wie Elegie und Heroide dichtete, scheint ein hohes Maß an Innovationsdruck verspürt zu haben, dem Balde auf wiederum ganz eigene Weise begegnet. Seine insgesamt dreißig Versepisteln haben vornehmlich allegorische Figuren als Verfasser, wobei die Titelfigur Urania die menschliche Seele repräsentiert, die von fünf Freiern, nämlich den fünf Sinnen, und ihren ‚individualisierten‘ Brautwerbern bestürmt wird. In ihren Antworten erteilt Urania jedoch den Bewerbern, einem nach dem anderen, eine Absage und wählt so den Weg gottgefälliger Entsagung.43 Mit Balde hat die Heroidendichtung sich, so scheint es, am weitesten von ihrem antiken Ausgangspunkt entfernt: Wo Ovid noch geschickt die Affektzustände, erotischen Listen oder Lockungen mythologischer Figuren als Individuen zu modellieren wusste, da inszeniert Balde gewissermaßen eine allegorisch-abstrakte Penelope, deren an Augustinus’ und Bernhards Psychagogie geschulter44 Widerstand gegen die ‚Freier‘, die Sinnlichkeit, zum allgemeinen Exempel christlich-barocker Aszetik dienen soll. – Allerdings sollte die etwa zeitgleich aufkommende deutschsprachige Heroidendichtung diesen Weg der Allegorie zunächst nicht mitgehen.

4 Deutsche Briefe historischer Helden: Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616–1679) Während Jacob Balde in Bayern seinen höchst artifiziellen Heroidenzyklus dichtete, schickte sich in Schlesien ein Breslauer Ratsherr und Schöffenpräses an, die erste deutschsprachige Heroidensammlung zu verfassen. Obgleich sich in den HeldenBriefen Christian Hoffmann von Hoffmannswaldaus notwendigerweise die sprachliche und metrische Form im Vergleich zu Ovids Modell verändern muss – der Schlesier wählt für jeden seiner vierzehn Briefe exakt einhundert deutsche Alexandrinerverse –, so nähert er sich kompositorisch und inhaltlich doch stärker Ovid an als die geistlichen neulateinischen Dichter seiner Zeit. Er verfasst durchweg Doppelbriefe historischer Liebespaare, wobei, wie Veronique Helmridge-Marsilian aufgezeigt hat, hier abwechselnd Fragen der Ehe- und Scheidungsmoral, der Liebe trotz Standesunterschieden und der prekären Spannung zwischen gesellschaftlicher Moral und

|| 43 Interpretationen einzelner Briefpaare aus der Urania bieten Kühlmann u. Seidel (1999), Kühlmann (2009) und Eickmeyer (2012) 473–485. 44 Aus Werken beider Kirchenlehrer zitiert Balde ausführlich in seiner Isagoge; siehe Balde (2003) 18–35 [9–25].

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Liebeserfüllung ihren teils leidenschaftlichen Ausdruck finden.45 In dieser prägnant die Erotik wieder einführenden Themenwahl schließt sich Hoffmannswaldau denn auch nicht der geistlichen, enterotisierenden neulateinischen Dichtung seiner Zeit an, sondern einem englischen Vorbild, das er während seines Aufenthalts auf der britischen Hauptinsel 1639 kennengelernt hatte: Michael Draytons (1563–1631) England’s Heroicall Epistles.46 Drayton hatte bereits 1597 die Ovidische Form des Doppelbriefs auf historische, meist adlige Paare aus der englischen Geschichte angewandt. Hoffmannswaldau übernimmt diese Historisierung, legt aber den Schwerpunkt deutlicher auf den glücklichen Ausgang der Liebeshandlung (sieht man einmal vom Briefpaar zwischen Abélard und Heloise ab, das seine Sammlung beschließt). In seiner Leservorrede erläutert er, dass die enge Verfassung eines Briefes/ mehr als etwan was weitläuftigers mit allerhand artigen Liebligkeiten angefüllet werden kann/ sich auch etliche/ wie wohl wenige von alten und neuen Ausländern gar glückselig dieser Art gebrauchet. Und dann/ daß noch niemahls/ so viel ich mich erinnere/ etwas dergleichen von unsern LandsLeuten versuchet worden ist/ ja man bey itzigen Zeiten/ da die Waare/ wie man saget/ überführet/ die schönsten Bluhmen auch in gemeinen Kräutergärten/ und die seltzamsten Zeuge fast in allen Krahmen zufinden seyn/ auf etwas neues und ungemeines nothwendig zudencken hat.47

Somit betont er zugleich seinen Status als Archeget in deutscher Sprache und hebt die Neuartigkeit seiner Helden-Briefe in der Menge zeitgenössischer Poesie hervor. Ein Exempel soll hier hinreichen, um die erotische Pikanterie mancher seiner Versepisteln zu illustrieren. Das sechste Briefpaar ist mit Liebe/ Zwischen Graf Ludwigen von Gleichen und einer Mahometanin überschrieben, und doch handelt es sich um einen Briefwechsel zwischen dem Grafen von Gleichen und seiner Thüringer Ehefrau. Gemäß der im Hochmittelalter angesiedelten Sage, die noch im achtzehnten Jahrhundert bei Bodmer und den Grafen Stolberg sowie in Goethes Stella verarbeitet wurde, gerät Ludwig während des dritten Kreuzzuges im Orient in Gefangenschaft, aus der ihn eine verliebte Sultanstochter nur dann befreien will, wenn er sie ehelicht. Ludwigs Brief an seine Ehefrau stellt insofern eine klare Suasorie in Ovidischer Tradition48 dar und kombiniert auf zugespitzte Weise die ‚ehelichen‘ Heroidenbriefe Penelopes und Laodamias mit der Ehebruchs-Epistel Helenas, freilich unter umgekehrten Gender-Vorzeichen. Bezeichnenderweise betont Ludwig gleich zu Beginn

|| 45 Vgl. Helmridge-Marsilian (1990). 46 Zu Hoffmannswaldaus Vita, seiner Englandreise und den Einflüssen, die er von dort mitbrachte, vgl. Noack (1999) 106–109 sowie Hülsbergen (1973). 47 Hoffmannswaldau (1984) 429–600. Hier und im Folgenden zitiert nach der Originalpaginierung des Erstdrucks: a3–a3v. 48 Zu diesem rhetorischen Zug einzelner Heroidenbriefe bei Ovid vgl. die abwägende Darstellung bei Jacobson (1974) 325–330.

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seine eheliche Treue und erklärt den Brief, ähnlich den liturae der Ovidischen Tradition, zum materiellen Träger des Grußes und Kusses an die Gemahlin: Ein Brief aus frembder Luft doch von bekanten Händen/ Begrüßt und küßt dich itzt/so gut er küssen kann/ Es heißt die grüne Treu mich dieses übersenden/ Ich weiß du nimbst es auch mit solchem Hertzen an.49

Nach ausführlicher Beschreibung seiner Gefangennahme und des Frondienstes kommt die Rede schnell auf seine muslimische Gönnerin, die er zuerst als „Edles Weib von mehr als Fürstlichen Geblüthe“50 einführt, um die Standesebenbürtigkeit zu markieren, sogleich aber einschränkend in Parenthese hinzusetzt: „(Ich weiß nicht ob sie mir Weib oder Engel ist)“.51 Das Eingeständnis, dass ihre Gefühle für den christlichen Sklaven allerdings sehr weiblicher Natur sind, muss jedoch sorgfältig vorbereitet werden, und so betont Ludwig die Genese ihrer Liebe aus dem Mitleid: Der Schweiß auf meiner Brust hat Thränen ihr erreget/ Mein Seuffzer hat bey ihr die Wehmuth angesteckt/ Und meine Knechtschafft hat sie in ein Joch geleget/ Das nach der Tugend reucht/ und keinen Hals befleckt.52

Ein tugendhaftes Liebesjoch trägt die Sultanstochter also, was freilich körperlichen Eros keineswegs ausschließen muss; immerhin hat die Wohltäterin bereits die glänzende Brust des Gefangenen inspiziert. In dieser delikaten Angelegenheit versichert Ludwig zwar noch, dass „der Geist der Wollust“ durch sein Unglück längst verjagt worden sei,53 weiß sich nur wenige Verse später aber des Einverständnisses seiner Gattin zur orientalischen Verbindung gewiss, die er als Akte der Dankbarkeit ausweist: Itzt soll ich ihren Dienst durch meinen Leib belohnen/ Die Müntze, so sie sucht/ ist meines Mundes Kuß/ Sie acht mein Hertze mehr als ihres Vatern Cronen/ Und liebst du deinen Mann so lieb auch ihren Schluß/ […] Scheint dir die Zahlung groß/ die Schuld ist ungemein/ Wer nur vernünfftig ist muß diß mit mir bekennen/ Der Gott so Zucht befiehlt/ heist uns auch danckbar seyn.54

|| 49 Hoffmannswaldau (1984) 62, V. 1–4. 50 Ebd. 63, V. 29. 51 Ebd. 63, V. 30. 52 Ebd. 64, V. 37–40. 53 Vgl. ebd. 64, V. 53f. – Zur Faktur der Affektdarstellungen in Hoffmanswaldaus Briefpaaren vgl. neben Helmridge Marsilian (1990) auch Glaser (1993). 54 Hoffmannswaldau (1984) 65, V. 57–64.

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Eine Art ‚Vernunft-Bigynie‘ schwebt dem Kriegsgefangenen also vor, auf die er am Ende des Briefes noch expliziter anspielt, verbrämt nur durch die Antizipation seiner Heimkehr bei der so lang entbehrten Familie: Laß unterdessen mir Hertz/ Hauß und Lager offen/ Ich schreite schon im Geist bey dir mit Freuden ein; Doch will ich auch/ mein Schatz/ diß ungezweiffelt hoffen/ Daß Lager/ Hertz/ und Hauß wird vor die Frembde seyn.55

Die Ehefrau soll nun auf dieses Ansinnen von Toleranz reagieren, das immerhin die Möglichkeit impliziert, Ludwig könnte zukünftig nicht nur bei ihr „mit Freuden einschreiten“. Doch sie vermeidet zunächst das heikle Thema – fast die Hälfte des Briefes lang. Ihre unsichere Hand und die „Kleck[se] an statt der Wörter“56 weisen deutlich auf Ovidische Schreiberinnen zurück. Doch irgendwann muss sie auf den Vorschlag des bedrängten Ludwig antworten, was sie zunächst mit einer geschickten Aufnahme des Engels-Bildes unternimmt, das ihr Mann eingeführt hatte: Was aber schreibest du/ und trachtest itzt zuwissen/ Ob die ErlösungsArth mir auch verdrießlich fällt? Wie sollt ich nicht die Hand zu tausendmahlen küssen/ So mir mein Bette füllt/ und dich in Freyheit stellt? Ich will sie warlich nicht nur vor ein Weib erkennen/ Die bloß in Fleisch und Bluth/ wie ich und du besteht/ Ich will sie ungescheut stets einen Engel nennen/ Der nur zu unserm Schutz mit uns zu Bette geht.57

Von „meinem Bette“ ist hier zunächst die Rede, in dem der schönen Muslimin bei aller Dankbarkeit allenfalls die Rolle eines tendenziell körperlosen Schutzengels zugestanden wird. Sogleich aber imaginiert die dankbare Schreiberin sich als Dienerin der Retterin ihres Mannes: „Mein Fuß wird nur allein nach derer Wincken schreiten“,58 aber gleich zuvor auch: „Ich laß Jhr billich halb/ was sie mir gantz geschenckt“,59 und übertrifft damit noch Ovids Briseis, die sich zwar als Dienerin ihres dominus Achill bezeichnet, eine Unterwerfung unter dessen prospektive Ehefrau aber ausdrücklich ablehnt.60 Am Schluss ihres Schreibens antwortet die Gräfin von Gleichen mit gleicher Offenheit auf Ludwigs Briefschluss, indem sie eine in galanter Diktion kaschierte Ausweitung ehelicher Zweisamkeit in Aussicht stellt:

|| 55 Ebd. 66, V. 97–100. 56 Ebd. 67, V. 12. 57 Ebd. 69, V. 61–68. 58 Ebd. 69, V. 79. 59 Ebd. 69, V. 78. 60 Vgl. Ovid, epist. 3, 77–79.

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Dein Leitstern sei gegrüst! doch will ich Ihrentwegen Auf kein zu grosses Bett’ immittelst seyn bedacht; Denn wird die Liebe sich mit uns zu Bette legen/ So wird der kleine Raum bald werden weit gemacht.61

Und so entfernt sich zum glücklichen Schluss Hoffmannswaldaus galantes Briefpaar unter Gender-Gesichtspunkten doch sichtlich vom elegischen Genre der Ovidischen Heroide wie auch von Michael Draytons teils finsterem politisch-historischen Setting. Durch die mühelose Aufhebung sozialer Konventionen bietet es vielmehr ein charmantes Stück erotischer Dichtung, dessen friedliche Dreiecksbeziehung historisch angeblich sogar durch einen Dispens des Papstes legitimiert wurde, wie der Dichter im ausführlichen Prosavorspann betont.62

5 Geistliche Nachblüte und zweite Krise des Heroidenbriefs Die galante Dichtungsart Hoffmannswaldaus sollte stilbildend für die spätbarocke Dichtung an der Wende zum achtzehnten Jahrhundert sein. Zugleich erlebt über erotisch-frivole Einzelgedichte hinaus die größere Form der Briefsammlung noch eine Nachblüte im geistlichen Bereich. Formvollendete Alexandriner werden von Magnus Daniel Omeis (1646–1708), Georg Christian Lehms (1684–1717) oder Heinrich Anshelm von Zi(e)gler und Kliphausen (1663–1697) mit Sujets der Heroides Christianae gefüllt, wobei die Originalität lateinischer aemulatio Ovids im Deutschen eher selten erreicht wird. Wenn zum Beispiel Zigler seine mehrmals nachgedruckte Sammlung Helden=Liebe Der Schrifft Alten Testaments (zuerst 1691) mit einem Briefpaar Adams und Evas beginnen lässt,63 ahmt er damit zwar den Eingang von Andreas Alenus’ ‚universaler‘ Brieffolge nach; auch wird Adams Warnung vor dem Pflücken des Apfels dem geistlichen Zweck des Gedichts durchaus gerecht,64 allein die für Ovids Heroides konstitutive Ausgangssituation, nämlich die räumlichen Trennung des Paares, wird unter paradiesischen Bedingungen geradezu ad absurdum geführt. Nimmt man hinzu, dass die Prosavorspänne durchgehend mehr

|| 61 Hoffmannswaldau (1984) 70, V. 97–100. 62 Ebd. 62: „Der Pabst ließ diesen ungemeinen Fehl ohne Buße geschehen.“ – Eine ausführlichere Interpretation des Briefpaares Ludwigs von Gleichen liefert Colvin (1996). 63 Zigler und Kliphausen (1709) 15–21. 64 Zigler und Kliphausen (1709) 18: „Enthalte dich zugleich der höchst=verbotnen Früchte/ | Die jener breiter Baum in schönster Menge zeigt. | GOtt sprach: es ist vor euch ein tödtendes Gerichte/ | Dadurch man sich gewiß zu seinem Falle neigt.“

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Seiten füllen als die Verse der Episteln, kommt doch der Verdacht auf, dass diese Poesie nur noch die Inhalte paränetischer Traktate gefällig illustrieren sollen. Allgemein sinkt das dichterische Interesse an einer zeitgenössischen Neubelebung der Heroides im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts, während parallel der Briefroman als Medium epistolographischen Schreibens seinen Siegeszug antritt.65 Eine gewichtige Ausnahme stellt hier wie in vielerlei Hinsicht Christoph Martin Wieland (1733–1813) dar, dessen entschiedene Hinwendung zu klassisch erotischer Dichtung wie auch zur Literatur der Romania von der Genieästhetik der Stürmer und Dränger signifikant absticht. Während die zwei „Gesänge“ seines AntiOvid (1752) die „losen Künste“ des Sulmoners durch eine ebenso platonisch wie pietistisch eingefärbte Liebeslehre ersetzen sollen,66 erprobt der junge Wieland in derselben Schaffensphase, freilich nach seiner Übersiedlung nach Zürich, mit zwei Sammlungen das Genre der Versepistel. Stehen diese aber in enger Beziehung zu Ovids Heroides? Die Briefe von Verstorbenen an hinterlassene Freunde, 1753 anonym in Zürich erschienen,67 modifizieren die räumliche Trennung von Ovids Paaren zu einer endgültigen Trennung durch den Tod. Und wenn zudem in der Sammlung zum Großteil gleichgeschlechtliche Schreiber und Adressaten auftreten, hinter deren gräzisierten Namen keine historischen Personen zu erkennen sind, dann werden die Hoffnung auf baldige Wiedervereinigung sowie das erotische Begehren, die für die meisten Heldinnenbriefe grundlegend waren, tendenziell ausgeschlossen. Der hohe Affektgrad des brieflichen Ausdrucks ist freilich gewahrt, wie man etwa am Beginn des dritten Briefes ausmachen kann, den der verblichene Charicles an seine Laura schreibt: ENdlich ist mir vergœnnt, vvas ich so lange mir vvynschte, LAURA, mit dir zu reden, vvie vvir uns ehmals besprachen, Als uns so lang entfernung und jahre der pryfungen trennten. Gern erschien ich dir selbst, vvenn nur dein irdisches auge Den olympischen glanz des gevvandes zu tragen vermœchte, Das mich izt kleidt. Wie oft, vven dich die stille vertraute Deiner schmerzen, die laube, verschloss, die deine thrænen, Wie einst unsre zufriedenheit, sieht, in stunden der dæmmrung, Wenn der vvaldgesang schvveigt und die blumichten hygel entschlafen, Wenn du denn einsam, das haupt auf die vveissen arme gestytzet, Sassest, und unter træumen und bangen entzyckungen irrtest, Klagenfrey, nur den thrænenden blick in die himmlischen ræume Zærtlich geheftet, – O LAURA, vvie schön, vvie liebensvyrdig, Schienest du mir, vvie innig verlangt ich dich dann zu umarmen

|| 65 Vgl. die treffende Formulierung bei Glaser (1993) 132: „Und so hat denn die Woge der bürgerlichen Briefromane den heroischen Brief des Barockzeitalters überspült.“ 66 Siehe dazu Czapla (2013). – Czapla zeigt auch, wie Wieland im Anti-Ovid hinter differenzierteren Ovid-Bildern des achtzehnten Jahrhunderts zurückbleibt: 95–96. 67 Wieland (1753). – Das Titelblatt zitiert die erste Olympie Pindars, V. 33–35 u. 36f.

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Oder, mit vvirbeln von englischen harmonien umgeben, Freud in dein herz und ruh und zephyrische hoffnung zu hauchen!68

Bei aller antikisierenden Diktion der „zephyrischen hoffnung“ und des „olympischen gewandes“, bei aller plastischen Imagination der verlassenen Laura, einer Technik, die so manche Ovidische Heldin ebenfalls auf ihren fernen Geliebten anwandte: Hier transportiert der hochtönende klopstocksche Hexameter eher freundschaftliche Empfindsamkeit als emphatischen Liebesschmerz oder gar erotisches Verlangen. Auch die Laube, als Ort des geheimen Stelldicheins ein altes Motiv erotischer oder galanter Dichtung, wird in der Rückschau zum Monument gemeinschaftlicher „zufriedenheit“ stilisiert. Charicles’ folgende Versicherung, dass der Tod die „zærtlichen bande“ keineswegs zerreiße, dass vielmehr „zvvo Seelen“ durch „Sympathie“ verbunden blieben,69 rückt diesen wie auch die übrigen Totenbriefe der Sammlung eher in die Nähe einer frühneuzeitlichen Heroides-Adaptation, nämlich des allegorischen Briefes der Seele an den Körper, den Andreas Alenus ans Ende seiner Sacrae Heroides gesetzt hatte.70 Ein ähnlicher Befund ergibt sich aus der Lektüre der im Alexandriner abgefassten Moralischen Briefe (1752), selbst da, wo eine Reminiszenz an Ovid einkalkuliert scheint. Der Beginn des zwölften Briefes lässt sich teilweise als Variation des Ariadne-Briefes unter umgekehrten Gender-Vorzeichen lesen: Wie traurig fliessen mir die schlechtgenoßne Tage, O Freundin, fern von dir, von unbehorchter Klage Und stillen Schmerzen voll? Bethränt sucht dich mein Blik, In diesen Wüsten auf und ruft dein Bild zurük.71

In der nicht näher geschilderten Einöde scheint nur die lebhafte Erinnerung an die ferne Geliebte den Verlassenen trösten zu können. Unruhig bleibt der Liebhaber in der Einsamkeit zurück, doch gerade diese Ruhe, die der Briefschreiber ersehnt, wird sogleich bezeichnend qualifiziert: Mein Herz, in keinem Arm des Freundes ausgegossen, Sehnt nach der Ruhe sich, die es bey dir genossen, Wenn ieder Augenblick der Tugend heilig war, Und unser Hertz, umringt von stiller Freuden Schaar, Sich, unbemerkt der Welt, der holden Weisheit weyhte Und die Empfindungen der goldnen Zeit erneute, Womit Urania dein heilig Lied belebt, O Klopstock, dessen Ton auf Engelharfen schwebt.

|| 68 Ebd. 26. 69 Ebd. 26. 70 Vgl. Alenus (1574) 147r–148v. 71 Wieland (1752) 157.

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Ach klage deinen Freund, der, deinem Arm entrücket, Der Tugend starken Reitz in keinem Bild erblicket.72

Das verklärte „goldene Zeitalter“, das aus zwei Herzen eines machen konnte, war offenkundig eher durch Tugend, Weisheit und die Dichtung des emphatisch apostrophierten Klopstock geprägt als durch erotische Freuden. Und so wandelt sich der immerhin neun Druckseiten umfassende Brief wahrlich zu einem „moralischen“, indem Wieland Allusionen auf Horazens Versepisteln und Vergils Bukolik einstreut und neben Klopstock noch dessen würdiger Vorfahr Milton als Sänger des Paradieses beschworen wird.73 Da liest die Empfängerin aber bereits vom ἐνθουσιασμός, von der Himmelsreise, auf die sein Schutzgeist den Schreiber im Schlafe mitnimmt. Zwar ist bei dieser wunderbaren Reise die Erinnerung an zurückliegende Erotik noch präsent, wenn der Schreiber bemerkt: „Mein Geist schwam sanft betäubt, als wie von deinem Küssen“;74 doch Liebe und Wollust werden sodann gänzlich in das idyllische Abbild einer antikisierten Natur verlegt, was nicht ohne einen literaturkritischen Seitenhieb abgeht: Die Wollust ruhte hier auf Wolken süsser Düfte, Die Freuden rauschten sanft durch die zufriedne Lüfte, Der Vögel süsses Lied, das sie die Liebe lehrt, Bebt lieblich durch den Wald; die junge Dryas hört! Kein ausgetrillert Lied von wälschen Philomelen Verdient der Ohren Gunst bey Liedern solcher Kehlen.75

Vogelgezwitscher bietet eine tauglichere Liebeslehre, als Ovids Ars amatoria es könnte, so dürfte man diesen Passus und Wielands Anti-Ovid zusammendenken. Und wenn abermals „Zufriedenheit“ herrscht76 und die Wollust einmal ruht, sollten sie gerade ‚welsche‘ Nachtigallen nicht wecken –, stand doch die französische und italienische Dichtung ohnehin im zweifelhaften Rufe größerer moralischer Lizenz. Ob Wieland allerdings mit diesem Seitenhieb auch die ‚römische‘ Philomela aus Ovids Metamorphosen und somit implizit dessen Dichtung insgesamt abqualifiziert,

|| 72 Ebd. 73 So werden auch im Anti-Ovid (1751), II, V. 32, Vergil und Milton kombiniert; vgl. Czapla (2013) 89. 74 Wieland (1752) 160. 75 Ebd. 76 Vgl. auch das Motto zum zweiten Moralischen Brief, ein Haller-Zitat (Wieland [1752] 19); es stammt aus Albrecht von Hallers Lehrgedicht „Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben“ von 1729 (Haller [51749] 51–68, hier 67). Bemerkenswert sind einige Veränderungen, die sich allerdings auch aus einer abweichenden Textvorlage Wielands erklären ließen. Vor dem Moralischen Brief steht: „Zufriedenheit war stets die Mutter unsers Glückes“, während Haller setzt: „Zufriedenheit war stäts die Mutter wahres Glückes“. Die Modifikation zu „unsers Glückes“ verschiebt die allgemein philosophische Aussage auf die Ebene empfindsamer Personenbeziehungen.

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sei dahingestellt. Die Pointe des Sendschreibens kann vor diesem Hintergrund nicht anders als erbaulich sein, stellt sich die Vision einer aurea aetas doch als „die Erde“ heraus, wie sie zu Zeiten aussah, „[d]a Wahrheit, Treu und Recht und Menschenliebe galten!“77 – Von einer erotischen „Philosophie der Grazien“, wie sie Wieland 1768 in der Versnovelle Musarion entwickeln sollte, ist der Jungdichter hier noch weit entfernt. Poetische Reminiszenzen an Ovids Dichtung sind weder prominent genug noch könnten sie sich aus dem Schatten des Anti-Ovid befreien, so dass selbst Wielands Versepisteln allenfalls an den Rand einer Rezeptionsgeschichte gehören. Den entscheidenden Vorbehalt des veränderten literarischen Geschmacks gegenüber heroischer Briefdichtung formuliert Herder in einem Verdikt der Fragmente zu den Literaturbriefen (1767), das sich direkt auf Ovids Versepisteln bezieht: Betrachte diese Heroiden als rührende Situationen: so sind sie eine dramatische Übung, die für junge Dichter nützlich sein können: aber höher stelle sie nicht, als unter Übungen, denn sie borgen fremde Situationen und leiern im ganzen ungefühlte Empfindungen, und zeichnen ungesehene Charaktere. Sie rauben also der Dichtkunst alle ihre Würde, eine Dolmetscherin unsrer selbst zu sein, wie sie es bei den Alten war, und verpachten unsere Talente in fremde Zeiten, Umstände und Personen.78

Zwar konnte Friedrich Raßmann noch 1824 eine Sammlung Heroiden der Deutschen herausgeben, in die er auch einen der Totenbriefe Wielands aufnahm, doch zeichnet seine Vorrede bereits ein deutlich apologetischer Ton aus, wenn er bekennt, dass diese „Blumenlese auf dem ödesten und unfruchtbarsten Gefilde der deutschen Litteratur unternommen worden ist.“79 Der Tiefpunkt literarkritischer Beurteilung dürfte dann mit Christian Philipp Gotthold Ernsts Heidelberger Dissertation aus dem Jahr 1901 erreicht sein. Mit Blick auf sein Thema, die Heroide in der deutschen Litteratur (worunter er übrigens lediglich die deutschsprachige versteht), kommt er nicht umhin festzustellen, dass „bei einem solchen handwerksmässigen Betrieb […] von poetischen Schönheiten natürlich kaum noch gesprochen werden“ könne.80

6 Echos auf Ovids Heroides im 20. Jahrhundert War es das? – Vielleicht nicht, denn auf Dauer können sich moderne Literaturen der poetischen Kraft von Ovids Werken wohl doch nicht entziehen. Während aber die weltweite moderne und postmoderne Rezeption und Transformation der Metamor-

|| 77 Wieland (1753) 166; vgl. Anti-Ovid (1751), I, V. 2–6; dazu Czapla (2013) 90. 78 Herder (1985) 493, Anm. 92 („Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente, als Beilagen zu den Briefen, die neueste Literatur betreffend. Dritte Sammlung“). 79 Raßmann (1824) X. 80 Ernst (1901) 130.

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phosen (etwa bei Ted Hughes, Christoph Ransmayr und vielen anderen81) intensiv erforscht wurde und wird82 und auch die Spuren der Amores (etwa in Durs Grünbeins AROMA [2010] oder Thomas Klings Zyklus elegn [1996]83), der Ars amatoria84 sowie der Exildichtung85 verfolgt werden, bleibt die produktive Aneignung der Heroides bislang unterbelichtet.86 Unter Gender-Perspektive mag es allerdings kein Zufall sein, dass gerade bei deutschen Autorinnen des 20. Jahrhunderts Echos der Ovidischen Heroidendichtung auszumachen sind, die nun zum Schluss exemplarisch an zwei Prosatexten in den Blick genommen werden sollen. Christine Brückner, die vielleicht vor allem für ihre prominent verfilmten Romane Jauche und Levkojen (1975) und Nirgendwo ist Poenichen (1977) bekannt ist, legte 1983 unter dem Titel Wenn du geredet hättest, Desdemona eine Sammlung „ungehaltener Reden ungehaltener Frauen“ vor.87 Der sehr erfolgreiche und oft neu aufgelegte Prosa-Reigen greift in seiner Reihung mythologischer, literarischer und historischer Frauenfiguren die Kompositionsweise von Ovids Heroides auf. Dabei spannt Brückner einen historischen Horizont, der von der titelgebenden Desdemona, die Othello von seiner Bluttat abhalten will, über Lauras kritische Erwiderung an Petrarca und Katharina von Boras Tischreden an Luther bis zu Gudrun Ensslins Ansprache an die Wände ihrer Stammheimer Zelle88 und eine Erwiderung der Autorin selbst auf Malvida von Meysenburg reicht. Direkt auf eine Heroine Ovids weist die Ansprache Sapphos an die Mädchen von Lesbos zurück, die Werner Schubert bereits in den 80er Jahren einer kontrastiven Lektüre mit Ovids fünfzehntem Heroidenbrief unterzogen hat.89 Man hat diesen Reden Brückners die Qualität einer Revision der Literaturgeschichte zugesprochen, indem sie nun die weiblichen ‚Stimmen‘ zu Wort kommen

|| 81 Zur englischen Moderne bis zu Hughes siehe Brown (2002) 181–228, speziell zu Hughes ferner Walde (2007) 321f. und die einschlägigen Aufsätze in Rees (2009); zu Ransmayr siehe Koch (1999) und Schmitzer (2001). 82 Vgl. nur Hardie u.a. (1999), Brown (2002) und Ziolkowski (2005) sowie den Artikel von Brown (2014), die deutliches Gewicht auf die Metamorphosen legt. 83 Eine genauere Studie, wie die beiden genannten (und weitere Dichter) auf den großen Ahnen Ovid, vor allem sein exil-elegisches Werk und die Metamorphosen, rekurrieren, bietet Knoblich (2014) passim. 84 Siehe nur Walde (2007) mit weiterer Literatur. 85 Siehe u.a. Podossinov (1999). 86 Siehe etwa Walde (2007) 318f., welche die Heroides zwar nennt, in Anm. 3 (319) aber nur auf Literatur zur Rezeption der Exildichtung verweist. Ebenfalls nur marginale Rekurse auf die Epistolae Heroidum bei Ziolkowski (2005), 47, 200 u. 213. 87 Brückner (1983); eine Würdigung des Werkes bei Komar (2007); immerhin Erwähnung findet es bei Ziokowski (2005) 213. 88 Eine knappe Darstellung dieses Textes liefert Dombrowa (1994). 89 Schubert (1985).

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lässt, die in herkömmlichen literarhistorischen Kontexten selten zu hören seien:90 eben Katharina von Bora, „Charlotte von Stein an den abwesenden Herrn Goethe“ oder „Effi Briest an den tauben Hund Rollo“. In dieser Hinsicht drängt sich eine Nähe zu Ovids Heroides auf, in denen auch mitunter alternative Versionen eines ‚etablierten‘ Mythos aus der Feder der Heldinnen geboten werden.91 Allerdings handelt es sich bei den Texten eben nicht um Briefe, sondern um Reden in Prosa, die in ihrer ethopoietischen Ausrichtung nicht nur auf Ovid, sondern auch auf andere frühneuzeitliche Traditionen und Untergattungen zurückweisen, etwa die Geschichtsreden Hoffmannswaldaus.92 Das vielleicht jüngste Echo der Heroides könnte in dem Roman Briefe an Charley zu finden sein, den Annette Pehnt 2015 im Piper-Verlag veröffentlicht hat. Hier verhält es sich, verglichen mit Brückner, gewissermaßen umgekehrt: Pehnt behält zwar die Briefform und die Ausgangssituation der verlassenen Geliebten bei, bietet aber keine Reihe mythologischer oder historischer Frauenfiguren, sondern eine ungenannte Schreiberin einer ganzen Serie von Briefen. Die eigentlichen Brieftexte werden tagebuchartig nach dem Datum der Abfassung (vom 2. Januar bis zum 17. Februar) präsentiert und zugleich fortlaufend metatextuell reflektiert, und zwar nur durch die immer wiederkehrende knappe Parenthese „schreibe ich an Charley“. Die präsentische Formulierung rückt die Leserin in äußerste Nähe zur brieflichen Imagination, die auch im Detail Reminiszenzen zu den Versepisteln Ovidischer Heldinnen auf ganz unterschiedlichen Ebenen aufweist. So reflektiert die Schreiberin wiederholt, dass sie ins „Klagen“ verfallen könnte, was dem angeschriebenen Charley nicht behage, aber gattungsmäßig einen Verweis auf die antike Elegie darstellt. Auch das Motiv der liturae findet sich abgewandelt, wenn die Schreiberin an ihre frühen, unmittelbar nach dem Verlassenwerden verfassten Briefe erinnert: „[I]ch konnte nicht aufhören damit, sie sammelten sich auf meinem Schreibtisch, ich notierte darin, was ich las und dachte, sah und fand, ich spuckte auf das Papier und heulte Tränen darauf.“93 In die Brieftexte sind immer wieder neue „Versuche über Charley“ eingestreut – insgesamt 14, was ebenfalls auf die Zahl der Ovidischen Einzelbriefe anspielen könnte, wenn man den Sappho-Brief ausklammert. In ihnen entwirft die Schreiberin für Charley immer neue und teils einander widersprechende biographische Situationen, wie sie sich nach der Trennung beispielsweise mit einer anderen Frau, Familie und Kindern, abgespielt haben könnten. Einerseits wird darin der Wunsch nach erzählerischer Aneignung des nun fremd gewordenen Lebens greifbar, andererseits fügt es sich zu den Imaginationen Ovidischer Heldinnen, etwa der Phyllis gegenüber Demophoon, insofern sie – wie Christine Walde herausgear-

|| 90 So etwa Dassanowsky (1995). 91 Vgl. Walde (2000) 131–135. 92 Sie sind enthalten in Hoffmannswaldau (1984) 601–632. 93 Pehnt (2015) 70.

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beitet hat94 – Alternativen zu den etablierten mythologischen Handlungsverläufen bieten. Wie Phaedra, Penelope oder Hypsiyple in ihren Episteln das Schreiben selbst thematisieren, reflektiert auch Pehnts Schreiberin immer wieder auf ihre eigene literarische Tätigkeit, bis zu dem Eingeständnis, dass die Briefe und damit das Werk, das die Leserin in Händen hält, ohne die Trennung vom Geliebten gar nicht möglich gewesen wäre: „Als wir uns kannten, war ich satt und rund, ein schöner fragloser Zustand, ich redete viel und schrieb wenig, es gab zu viel anderes zu tun.“95 Die Genese der schreibenden Heldin aus der Erfahrung der Trennung, angereichert um den unstillbaren Drang nach Kommunikation mit dem Abwesenden: Hier wird zweifellos eine grundlegende Konfiguration Ovidischer Heroidendichtung aufgegriffen. Und es scheint kein Zufall, dass gerade Pehnt auf diese Konfiguration zurückgreift, parallelisiert sie doch in ihrer Bamberger Poetik-Vorlesung ihr Schreiben ausdrücklich mit dem Gebet, bei dem man „zumindest einen Moment lang […] annehmen [muss], es gäbe ein Gegenüber, einen Adressaten“:96 Denn ich schreibe ja im Bewusstsein eines Gegenübers: zunächst des Textes selbst, der anwächst und zu dem ich ein zunehmend dialogisches Verhältnis aufbaue. […] Wenn er mir antwortet, bin ich beglückt […]. Wie kann er mir antworten? Indem er mir plötzlich fremd wird, ein Außenleben gewinnt; auf einmal kann ich mir vorstellen, jemand anders hätte ihn geschrieben.97

Annette Pehnt fragt zwar nur, ob sie also bete, wenn sie schreibe.98 Doch lässt sich diese Beschreibung außerhalb ihres direkten Kontextes der Vorlesung auch als Reflexion auf Heroidendichtung fruchtbar machen: Schreiben selbst als der Versuch, mit dem Abwesenden in Dialog zu treten, indem dieses (oder dieser) Abwesende im Akt des Schreibens erst produziert wird. Und seit Ovid sind es die Schreiberinnen und Schreiber, die als ‚die Anderen‘ an einem Mythos schreiben, mit deren männlich konnotierten Vorgaben sie sich nicht zufrieden geben wollen. Ihre Tradition in der deutschen Literatur scheint noch keineswegs an ein Ende gekommen zu sein, wie auch der jüngst erschienene Episoden-Roman Die Geschichte der Frau von Feridun Zaimoglu unterstreicht.99

|| 94 Vgl. Walde (2000). 95 Pehnt (2015) 120. 96 Pehnt (2013) 16. 97 Ebd. 17f. 98 Vgl. ebd. 19. 99 Zaimoglu (2019). – Den bislang durchwachsenen Rezensionen fiel an den Frauenstimmen, die Zaimoglu aneinanderreiht, der Bezug zu Ovids Heldinnen sogleich auf; vgl. unter anderen Burkhard Müllers Kritik in der ZEIT Nr. 12 (März 2019), Beilage zur Leipziger Buchmesse, S. 8f.

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Yvonne Pauly

Gespinste. Brentano mit Ovid gelesen 1 Deconstructing Clemens Den zweiten Teil der autobiographischen Einleitungsterzinen zu dem Epos Romanzen vom Rosenkranz beschließt Clemens Brentano mit einer σφραγίς, einem Namenssiegel, wie wir es aus der antiken Literatur kennen, etwa aus den Metamorphosen des Ovid.1 Kontext ist eine Kindheitsszene. Der kränkelnde Junge, umgetrieben von abergläubischen Ängsten, erhält Besuch von einem alten Hausdiener. Der verspricht ihm für drei Tage, die er ohne Tränen durchstehe, beim nächsten Kirchgang eine besondere Belohnung. Und tatsächlich: Das Kind hält durch, der Diener hält Wort und bringt es nach der abgelaufenen Frist zur Kirche. Unter den Klängen der Orgel betreten die beiden den Gottesdienst: Die Seele sich in meine Ohren drängte, Als laut im Chor sie meinen Namen sangen Entzücken sich mit tiefer Angst vermengte, Die Worte mir wie Feur zur Seele klangen O Clemens o pia, o dulcis Virgo Maria. Ein Ewiges Gefühl hatt ich empfangen, Ruft man mich Clemens, sprech ich still o pia, In meiner lezten Stund dich mein erbarme O Clemens, pia, dulcis virgo, Maria. Empfange meine Seel in deine Arme. (FBA 10,9)

An diesen Strophen, in denen Brentano einen Hymnus aus der Liturgie der katholischen Kirche, den Wechselgesang Salve Regina, aufruft, interessiert im Rahmen dieser Ringvorlesung insbesondere ein Detail: das Spiel mit dem Wort clemens, das in den zehn Versen gleich dreimal genannt ist. Folgt man Gabriele Brandstetter, so liegt Brentanos Namenssiegel eine „Verwechslung“ zugrunde: die Verwechslung des männlichen Vornamens mit dem Epitheton der Heiligen Jungfrau.2 Diese Einschätzung impliziert zwei miteinander || 1 Ov. met. 15,871–879; vgl. hierzu auch unten Abschnitt 5. 2 Vgl. Brandstetter (1986) 28. ||

Anmerkung: Der Vortrag wurde anlässlich des Ovid-Bimillenniums 2017 erstmals im Rahmen der Ringvorlesung Deconstructing Gender? Ovid und die Frauen an der Freien Universität Berlin gehalten. Melanie Möller danke ich für die Anregung, dem interdisziplinären Überblick über die europäihttps://doi.org/10.1515/9783110703221-005

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verbundene problematische Annahmen. Sie setzt erstens die Perspektive des kindlichen epischen Ichs der Einleitung zu den Romanzen mehr oder minder mit der des Autors Brentano ineins und begreift zweitens den in Rede stehenden sprachlichen Vorgang im Zeichen eines Unvermögens. Es ist, mit einer gewissen Zuspitzung gesagt, die Interpretation einer Germanistin, die, wie ich glaube, die poetische Pointe der Stelle verfehlt. Ich möchte ihr daher eine latinistische Deutung entgegenstellen, die auf der Beobachtung einer grammatischen Kategorie dieser Sprache basiert: dem Genus oder grammatischen Geschlecht. Wie das Deutsche und etliche weitere Sprachen verfügt das Lateinische über ein dreigliedriges Genussystem, das heißt die Unterscheidung in Maskulinum, Femininum und Neutrum. Primär ein Merkmal des Substantivs, greift das Genus über Kongruenzregeln auch in andere Bereiche des Sprachsystems aus.3 Das Verhältnis von Genus und Sexus, also von grammatischem und biologischem Geschlecht, beschäftigt die linguistische Forschung bis heute4 – und die öffentliche Diskussion kaum minder, denkt man an die anhaltenden Kontroversen um eine ‚gendersensible‘ Sprache. Es forderte aber auch schon im kaiserzeitlichen Rom die Sprachgemeinschaft heraus, zumindest Dichter wie Ovid, etwa im Mythos von Apoll und Daphne im ersten Metamorphosen-Buch: hanc quoque Phoebus amat positaque in stipite dextra sentit adhuc trepidare novo sub cortice pectus conplexusque suis ramos, ut membra, lacertis oscula dat ligno: refugit tamen oscula lignum. cui deus ,at, quoniam coniunx mea non potes esse, arbor eris certe‘ dixit ,mea. semper habebunt te coma, te citharae, te nostrae, laure, pharetrae. tu ducibus Latiis aderis, cum laeta triumphum vox canet et visent longas Capitolia pompas. postibus Augustis eadem fidissima custos ante fores stabis mediamque tuebere quercum, utque meum intonsis caput est iuvenale capillis,

|| sche Ovid-Rezeption auch ein Brentano-Kapitel hinzuzufügen. Darüber hinaus geht mein Dank an Nikolaus Gatter (Köln) und an Heinz Härtl (Weimar), die mir in Einzelfragen Auskunft gaben. Da der Beitrag – nicht zuletzt im Aufgreifen der Gender-Perspektive – speziell auf den Kontext zugeschnitten war, wurden für die Schriftfassung Nachweise ergänzt, der Vortragscharakter jedoch weitgehend beibehalten. Das damals ausgehändigte Textblatt mit umfangreichen Auszügen aus Ovids Metamorphosen, aus Brentanos Chronica sowie dem Freundschaftsbriefwechsel mit Achim von Arnim konnte nur zu etwa einem Drittel in die vorliegende Fassung des Beitrags überführt werden. 3 Zum Genus im Lateinischen Leumann (1977) 404. 4 Für eine vergleichende Studie zu mehr als 250 Sprachen vgl. die einschlägigen Kapitel im World Atlas of Language Structures (WALS) des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie und der Max Planck Digital Library: 30 („Number of Genders“), 31 („Sex-based and Non-sex-based Gender Systems“) und 32 („Systems of Gender Assignment“). Eine Übersicht über das Genus in 41 Sprachen, darunter das Lateinische, bietet Oleschko (2010).

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tu quoque perpetuos semper gere frondis honores.‘ finierat Paean: factis modo laurea ramis adnuit utque caput visa est agitasse cacumen. (Ov. met. 1,553–567)

Warren Ginsberg hat zu zeigen versucht, wie Ovid in diesem αἴτιον, das erklärt, wie der Lorbeer Attribut des Apoll wurde, Fragen der Macht der Sprache, der Zuschreibung von Bedeutung, der Stiftung von Identität verhandelt.5 Dabei erhalte die Nymphe, die sich den Nachstellungen des Gottes durch Verwandlung in diese Pflanze zu entziehen sucht, wechselnde Bezeichnungen. Apoll redet sie in Vers 559 mit laure, dem Vokativ von laurus an, einem Substantiv der 2. Deklination, an. Mit der flexionsgrammatischen Assimilation des Lorbeers in die männliche Welt der 2. Deklination scheint er seinen Anspruch auf Bedeutungszuweisung durchzusetzen, die Überführung der Nymphe in seine Einflusssphäre perlokutiv zu vollenden. Denn die Nomina dieser Klasse sind dem grammatischen Geschlecht nach in der Regel Maskulina. Im Anschluss an die Rede Apolls ist in der Fortsetzung des erzählenden Textes als Subjekt dann aber laurea (566) gewählt, das als Femininum der 1. Deklination das zentrale Merkmal der ursprünglichen Geschlechtszugehörigkeit Daphnes bewahrt. Apolls Unterfangen, der Begehrten sprachlich Herr zu werden, erweist sich als bloßer Scheinsieg. Wie jeder Lateinschüler sich mühsam einprägen muss, bildet laurus nämlich wie alle Baumnamen innerhalb der 2. Deklination die Ausnahme, ein genus femininum zu sein. In der Darstellung Ovids, so Ginsberg, wird das grammatische Geschlecht als residuum von Daphnes sexueller Identität, als Verkörperung ihrer Widerständigkeit lesbar. Brentano konnte Latein. Im Herbst 1787 trat er als Neunjähriger in die Quinta des „Kurfürstlichen Kollegiums“, des ehemaligen Jesuiten-Kollegs, in Koblenz ein.6 Dort erhielt er drei Jahre lang eine – nach heutigen Maßstäben zumal – solide sprachlich-rhetorische Ausbildung. Die Schule gibt es, unter verändertem Namen, übrigens noch heute. Ich habe sie ziemlich genau 200 Jahre nach Brentano besucht und dort wie er die ersten Erfahrungen mit der lateinischen Sprache gemacht. Brentano kannte auch Ovid und die Metamorphosen, was wir unter anderem aufgrund der Versteigerungskataloge seiner Bibliotheken wissen.7 Als Bibliomane, der er war, hatte Brentano binnen 20 Jahren eine Sammlung von mehreren tausend Bänden zusammengebracht, von der er sich in Teilen 1819 im Zuge seiner Rückwendung zum Katholizismus trennte. Was Brentano in den folgenden Jahrzehnten mit verändertem Schwerpunkt an Büchern sammeln konnte, kam postum 1853 zusammen mit den Beständen seines Bruders Christian zur Auktion. Keines der beiden

|| 5 Ginsberg (1989). 6 Zu Brentanos Schulbildung und seinen ersten Koblenzer Jahren vgl. Diel/Kreiten (1877) 32–38; Steude (1978) 5–10; Schultz (2002) 19–21. 7 Zu Sammlungsgeschichte und -schwerpunkten der Bibliothek Brentanos vgl. Schultz in Brentano Ausstellung (1978) 180–184.

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Verzeichnisse enthält eine Edition Ovids in der Originalsprache, wie überhaupt antike Autoren eher spärlich vertreten sind. Beide Kataloge verzeichnen jedoch Ausgaben einer von Albrecht von Halberstadt 1210 in Angriff genommenen und von Jörg Wickram zwischen 1542 und 1544 überarbeiteten8 deutschen Vers-Paraphrase der Metamorphosen9: derjenige der ersten Auktion eine Ausgabe von 1631, der der zweiten erneut ein Exemplar der Ausgabe von 1631 und außerdem die wertvolle Erstausgabe von 1545. Der Befund selbst ist uneindeutig: Brentano kann ein Exemplar der Ausgabe von 1631 bei der Versteigerung von 1819 zurückgehalten haben; er kann nach 1819 erneut eines erworben haben; schließlich kann der 1853 unter den Hammer gekommene Band von 1631 auch Christians Bibliothek entstammen. In jedem Fall spricht der Erwerb mehrerer Ausgaben dafür, dass Albrechts und Wickrams Metamorphosen-Paraphrase für Brentano von bleibendem Interesse war.10 Es ist ein fremder Text, der uns aus der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Bearbeitung entgegentritt. Aus den Hexametern Ovids sind jambische 4-Heber mit schwerfälligen deutschen Paarreimen geworden. Beigefügt hat Wickram 46 selbstgefertigte Holzschnitte, die einzelne Momente aus den Verwandlungssagen abbilden. Vorworte, Randbemerkungen, Inhaltsangaben und Kapitelüberschriften sowie „Außlegung[en]“ der Mythen durch Gerhard Lorich (Lorichius) sollten den Lesern zu einem vertieften und christlich grundierten Verständnis der antiken Mythen verhelfen. Die Frage nach der Bedeutung dieser Metamorphosen-Version für Brentanos Dichtung wird uns noch beschäftigen, doch kehren wir zunächst zu den eben unterbrochenen Überlegungen zurück. Wir haben leider nur vereinzelte Proben, die Brentano in unmittelbarer, das heißt nicht durch Übersetzung vermittelter, Berührung mit der lateinischen Sprache zeigen. Umso kostbarer sind sie uns, zumal wenn es sich wie in den Einleitungsterzinen der Romanzen vom Rosenkranz um eine Schlüsselstelle wie eine σφραγίς handelt. Und in den zitierten Versen, so meine These, leistet Brentano mit dem fremdsprachlichen Wortmaterial etwas, was dem Verfahren Ovids in seiner Muttersprache gleichkommt. Denn ähnlich wie das Wort laurus zeigt clemens innerhalb des rigiden Genussystems des Lateinischen einen Sonderfall an, besetzt so etwas wie eine Nische. Die sogenannten einendigen Adjektive der 3. Deklination haben im Nominativ

|| 8 Für die Datierungen vgl. Rücker (1997) 32–40 und 285f. 9 Reprographische Nachdrucke beider Auktionskataloge bei Gajek (1974), hier 75 (unter Nr. 451), 285 (unter Nr. 2511) und 300 (unter Nr. 2787). 10 Den Nachweis, dass Brentano dieses Werk nicht bloß besessen, sondern auch literarisch genutzt hat, hat Werner Bellmann durch Vergleich des einschlägigen Passus mit dem Dialog-Gedicht Cyparissus/Phöbus für den Roman Godwi zu erbringen gesucht: vgl. seinen Kommentar in FBA 16,721f. mit Abb. 7 A/B. Grundsätzliche Bedenken gegenüber Bellmanns in der Nachfolge seines akademischen Lehrers Heinz Rölleke entwickelte Vorstellung der einsinnigen „Abhängigkeit“ Brentanos von einer „Quelle“ meldet Schultz (2009) 161f. an. Zu Ovid-Spuren im Godwi vgl. auch unten, Abschnitt 3.

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und im Vokativ Singular (und dieser liegt in den zitierten Versen vor) in allen drei Genera dieselbe Form.11 clemens imperator, clemens virgo, clemens mare …: Alle Kombinationen sind möglich. Und die sich daraus ergebende Option, die geschlechtliche Identität des Referenzwortes unbestimmt zu lassen, die Ambivalenz des Adjektivs, seinen changierenden Charakter, legt Brentano mit seinem Namenssiegel frei. Clemens wird durch einen hauchfeinen Eingriff plötzlich zu einer androgynen Chiffre. Das frivole Spiel, das Brentano treibt – immerhin ist es sein katholischer Taufname, der in dem poetischen Experiment zur Disposition steht – dieses Spiel ruft jene eigentümliche Unschärfe hervor, die mit der Formel vom Deconstructing Gender vielleicht nicht schlecht gekennzeichnet ist. Rahel Levin, die einmal bekannt hat, sie sei in ihrem Leben dreimal beleidigt worden: „[…] einmal von einer Frau, das zweitemal von einem Mann, das drittemal, von Clemens“12, scheint auf die Miniatur der Romanzen ein lebensgeschichtliches Echo zu geben.

2 Ins Lesebuch für die Oberstufe Ich kann beim Stichwort „Gender“ bleiben, wenn ich mich jetzt einem Gedicht zuwende, das heute meistens unter dem Titel Der Spinnerin Nachtlied firmiert. Ihm haben wir an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 2015 eine Veranstaltungsreihe des Schülerlabors Geisteswissenschaften gewidmet.13 Das Format zielt darauf, Themen und Methoden dieser Disziplinen zu vermitteln, und zwar Schülerinnen und Schülern der Abschlussklassen des Gymnasiums und auf dem Wege der Praxis, in der Form eigener akademischer Gehversuche. Voraussetzung hierfür ist es nach meiner Erfahrung, eine bestimmte Haltung mit den Teilnehmern zu entwickeln: die Fähigkeit zur Distanz gegenüber den in der Schule erworbenen Perspektiven, zur Reflexion darüber, was z.B. im Deutschunterricht mit Literatur geschieht.

|| 11 Vgl. Leumann (1977) 432. 12 Im Brief vom 1. Februar 1812 an ihren späteren Ehemann Karl August Varnhagen von Ense; vgl. Briefwechsel Varnhagen, 236. Die genauen Hintergründe des Vorfalls sind bis heute ungeklärt. Unmittelbarer Anlass war ein Brief Brentanos an Rahel vom selben Tag, der sich – wahrscheinlich auf Betreiben der Adressatin – nicht erhalten hat. Isselstein (1985) 151f. bringt die Affäre in Zusammenhang mit antisemitischen Äußerungen Brentanos; Rahels eigentümliche, auf das Gender abhebende Formulierung lässt im Zusammenhang mit anderen Äußerungen in ihrem Brief („[…] als er sagte, »ich sei sitzen geblieben« – und »ich sei nicht schön« [...]“) eher an eine erotische Kränkung denken. 13 Für einen Überblick über das Format des geisteswissenschaftlichen Schülerlabors generell und das Schülerlabor Geisteswissenschaften der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften im Besonderen vgl. Pauly (2012) und Pauly (2014) 401f.

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So nahm denn auch der Workshop zum sogenannten Nachtlied der Spinnerin seinen Anfang mit einer kritischen Betrachtung des Mediums Schulbuch. In einem in Berlin gebräuchlichen Lehrwerk namens Blickfeld Deutsch wird Brentanos Gedicht auf folgender Doppelseite abgedruckt:14

Abb. 1: Blickfeld Deutsch, Doppelseite aus dem Kapitel „Romantik – Überall Sehnsucht“

Um das Arrangement seiner Selbstverständlichkeit zu entkleiden – tatsächlich stellt diese Form der Textdarbietung an vielen Schulen den nicht hinterfragten Normalfall dar, – sollten die Jugendlichen erst einmal beschreiben, was sie auf den Seiten sahen, oder anders gefasst: Sie sollten sich einen Überblick über die Paratexte des Gedichts verschaffen. Zu nennen sind hier die Kapitelüberschrift „Liebes- und Todessehnsucht“, die die interpretatorische Stoßrichtung vorgibt, Primärtexte von Karoline von Günderrode und Joseph von Eichendorff, Sekundärtexte (Einführungen, biographische Notizen, Aufgaben) aus der Feder der Lehrbuchautoren sowie drei Abbildungen. In Text und Bild fällt die konsequente Verweiblichung der Gedichtumgebung auf. In der Terminologie der Gender Studies könnte man sagen, dass die beiden Seiten bis in den letzten Winkel ‚gynogegendert‘ sind: Hier kämmt sich || 14 Blickfeld Deutsch (2009) 246f.

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eine Frau die Haare, hier blickt eine andere sinnend in die Ferne, hier wird ein Dichterinnenporträt gezeigt. Der Lehrbuchredaktion sind dabei gewiss die lautersten Motive zu unterstellen. Fraglos sind Frauen in der Literaturgeschichte unterrepräsentiert, da will man sich keine Gelegenheit entgehen lassen. Auch nicht bei Brentanos Gedicht, zu dem der Arbeitsauftrag wie folgt lautet: „Tauschen Sie Ihre Assoziationen aus. Wie stellen Sie sich die Sprecherin von […] Der Spinnerin Nachtlied vor? […] Beziehen Sie Inhalt und Form […] aufeinander, indem Sie vom Titel des Gedichts ausgehen.“ Abgesehen von der Frage, ob das sinnvolle Aufgaben sind: Die Idee, die Interpretation an die Stichworte „Spinnerin“ und „Nachtlied“ im Titel zu knüpfen, hat einen Haken: Das Gedicht hat in der Form, in der es aus der Hand des Dichters zunächst auf uns gekommen ist, keinerlei Überschrift!

3 Die Spinnerin, der Sohn und ihr Text Erstmals ist das Gedicht in Brentanos Fragment gebliebener Erzählung Chronica des fahrenden Schülers überliefert. In der Transkription der historisch-kritischen Brentano-Ausgabe lautet es wie folgt: Es sang vor langen Jahren Wohl auch die Nachtigall Das war wohl süßer Schall Da wir zusammenwaren, — Ich sing’ und kann nicht weinen Und spinne so allein Den Faden klar und rein, So lang der Mond wird scheinen — Da wir zusammenwaren Da sang die Nachtigall Nun mahnet mich ihr Schall, Daß du von mir gefahren. — So oft der Mond mag scheinen So denck ich dein allein Mein Herz ist klar und rein, Gott wolle uns vereinen. — Seit du von mir gefahren Singt stets die Nachtigall Ich denck bei ihrem Schall, Wie wir zusammen waren —

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Gott wolle uns vereinen Hier spinn ich so allein, Der Mond scheint klar und rein, Ich sing und mögte weinen. (FBA 19,96f.)

Abb. 2a: Clemens Brentano, Chronica des fahrenden Schülers, eigh. Manuskript (sog. Oelenberger Handschrift), S. 10

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Abb. 2b: Clemens Brentano, Chronica des fahrenden Schülers, eigh. Manuskript (sog. Oelenberger Handschrift), S. 11

Die Abbildungen 2a und 2b zeigen die beiden Blätter mit der auf Juli/August 1802 zu datierenden Handschrift des Gedichts innerhalb des 92-seitigen Konvoluts der Chronica des fahrenden Schülers. Die Makellosigkeit seines Schriftbildes im Unterschied zu den Durchstreichungen und Überschreibungen im erzählenden Fließtext deutet darauf hin, dass hier bereits eine Abschrift vorliegt, dass die erste Niederschrift des Liedes also wohl früher anzusetzen ist. Auf den ersten Blick erkennt man ferner,

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dass es in dem Manuskript keinen Titel gibt, der Sprecherin oder Sprecher indizieren und das Lied vom vorausgehenden Text abtrennen würde. Es ist an den Rändern, am Saum, vielmehr offen und kann somit in wechselnde Zusammenhänge eingebracht werden, in diesem Fall in die Erzählung. Eine Überschrift war innerhalb des Kontextes entbehrlich, von dem wir uns Aufklärung über das ‚setting‘ des Liedvortrags erhoffen dürfen, außerdem eine Füllung der durch die Personalpronomina gegebenen Leerstellen. Doch allein die Zuweisung des Gedichts an eine Figur der Chronica erfordert ein genaueres Hinsehen. Das liegt an der komplexen narrativen Struktur mit ihren für die Epik der Frühromantik allgemein und für Brentano im Besonderen typischen vielfältigen Verschachtelungen. Ich-Erzähler der im Mittelalter angesiedelten Begebenheiten ist die Titelfigur des Bettelstudenten Johannes, der bei einem Straßburger Ritter eine einstweilige Bleibe und Anstellung als Schreiber gefunden hat. Im Laufe eines Tages liest Johannes seinem neuen Herrn aus Aufzeichnungen über seinen Werdegang vor. Breiten Raum nehmen dabei die Erinnerungen an seine Mutter ein, eine arme Spinnerin, die er bei dem Gesang der Nachtigall im Mondlicht singen hört, und zwar das besagte sechsstrophige Lied. Unverständlich bleibt dem IchErzähler zunächst der Grund der mütterlichen Trauer. In einer Binnenerzählung teilt sie einiges über ihre Geschichte und ihre Beziehung zu Johannes’ Vater mit. Dessen weiteres Schicksal – ist er gestorben oder nur verschollen – bleibt nach wie vor ungewiss. Immerhin, so teilt uns der Ich-Erzähler mit Wiederaufnahme der Rahmenerzählung mit, kann er sich die Trauer der Mutter nun erklären, wenn er sie erneut beim nächtlichen Gesang über dem Spinnrad belauscht. An dieser Textstelle wird die letzte Liedstrophe ein zweites Mal zitiert, allerdings mit einer auffallenden Änderung am Ende des 3. Verses (FBA 19,95–120). Das sogenannte Nachtlied der Spinnerin ist in der Chronica also zunächst das Lied der Mutter. Sie singt es in der Erinnerung an eine Liebesbegegnung. Das darin apostrophierte Du, der Liebhaber, der sie verlassen hat, ist offensichtlich der Vater des Johannes. Der Ich-Erzähler ist folglich die Frucht des im Lied evozierten „Zusammenseins“, ihr uneheliches Kind. Zweimal wird er Ohrenzeuge des mütterlichen Gesangs, dazwischen liegt der Bericht der Mutter über ihre Herkunft und Jugend, der alles verändert. Beim ersten Mal ist er noch ein Kind, beim zweiten Mal hat er, wie es im Text heißt, „ganz vergessen daß [er] der kleine Johannes war“ (FBA 19,118), er fängt „ein ganzes neues Leben“ an, es gehen ihm „viele Sinne auf“ (ebd.). Demnach markiert der zweimalige Vortrag den Übergang des Ich-Erzählers zum Mann und erhält allein dadurch Bedeutsamkeit. Sie wird noch erhöht durch den Umstand, dass die Schilderung des nächtlichen Beisammenseins offensichtlich nach dem Modell einer Urszene aus dem Leben Brentanos selbst gestaltet ist. Dies belegen etliche Texte, etwa die Verse 55–66 der autobiographischen „Einleitungsterzinen“ zu den Romanzen (FBA 10,5), ebenso ein Brief Brentanos an seine Nichte Mathilde von Guiata (FBA 37,1,173–177, hier 177): Beide zitieren Erinnerungsfragmente, die auch die Szene in der Chronica kennzeichnen: das Verweilen der Mutter

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am Bett des Sohnes, die Liebkosungen, Gebet und Kreuzzeichen auf die Stirn, das gemeinsame Weinen. Von der Gedichteinlage der Chronica führt also ein gedanklicher Faden zur Familie Brentano: Maximiliane Brentano war – über Sophie von La Roche und Goethe – Tochter einer Schriftstellerin und Geliebte eines Dichters, aber auch Mutter eines Dichters und einer Dichterin: Mit ihrem Mann Peter Anton bekam Maximiliane zwölf Kinder, darunter Clemens und die acht Jahre jüngere Bettine. Clemens war 15, als Maximiliane Brentano im Alter von nur 37 Jahren starb.15 Ich verweile bei den familiären Beziehungen nicht um ihrer selbst willen, sondern weil in der Paarung ‚Mutter Objekt der Dichtung – Sohn Subjekt der Dichtung‘ etwas sichtbar wird, das auch bei der Chronica Beachtung verdient. Denn das Lied der Spinnerin ist nicht nur ein Lied über Liebe und Sehnsucht. Es ist auch, vielleicht sogar vor allem, ein Text über das Verfertigen von Texten und die Medien ihrer Produktion. Dabei ist „Text, sowohl in seiner wörtlichen, vom lateinischen texere abgeleiteten Bedeutung „Gewebe“16 als auch in seiner übertragenen Bedeutung „zusammenhängende sprachliche Äußerung“ zu verstehen. Auf der thematischen Ebene setzt das Lied vier Ereignisse zueinander in Bezug: das Singen der Nachtigall in der von der Mutter erinnerten Vergangenheit, das Singen der Nachtigall in der Gegenwart des Liedes, das Singen der Mutter zur gleichen Zeit und das Spinnen der Mutter. Mit beiden mütterlichen Äußerungen, den Hervorbringungen ihrer Hände und denen ihrer Stimme, geht Johannes in vergleichbarer Weise um: Das „Leinen Tuch, das sie gewebet, und Garn das sie gesponnen“ trägt er am kommenden Morgen mit ihr „biß zu dem Kloster“ (FBA 19,97f.), wo es verkauft werden soll. Das Lied, das sie gesungen hat und das sonst verklungen und vergessen wäre, zeichnet er auf, um es seinem Herrn, dem Ritter, vorzulesen, ein Vorgang, der in der Erzählung wiederum Schriftform gefunden hat. Der Ich-Erzähler tritt also als Träger, als ‚Überlieferer‘ des mütterlichen Textes in beiderlei Gestalt in Erscheinung. Vielleicht erklärt sich jetzt auch meine vorsichtige Formulierung, als es darum ging, den Urheber des Liedes im Rahmen der Chronica zu bestimmen. Denn die Dyade des Liebespaares, die das Gedicht bei textimmanenter Lektüre konstituiert, erweitert sich im Zusammenhang der Erzählung zur Triade von Mutter, Vater und Sohn, dessen Beruf als Schreiber condicio sine qua non für die Existenz des Textes ist. Das Lied der Mutter ist das Lied des Sohnes, es ist das Nachtlied des Sohnes der Spinnerin. Der hier angebahnte Aneignungsprozess hat seinen Fluchtpunkt in Brentanos Werk gut drei Jahrzehnte später in dem sogenannten Weberlied gefunden:

|| 15 Über Brentanos familiären Hintergrund vgl. Schultz (2002) 9–19. 16 Zur Etymologie Kluge (1999) 823.

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Wenn der lahme Weber träumt, er webe, Träumt die kranke Lerche auch, sie schwebe, Träumt die stumme Nachtigall, sie singe, Daß das Herz des Widerhalls zerspringe, Träumt das blinde Huhn, es zähl’ die Kerne, Und der drei je zählte kaum, die Sterne, Träumt das starre Erz, gar linde tau’ es, Und das Eisenherz, ein Kind vertrau’ es, Träumt die taube Nüchternheit, sie lausche, Wie der Traube Schüchternheit berausche; Kömmt dann Wahrheit mutternackt gelaufen, Führt der hellen Töne Glanzgefunkel Und der grellen Lichter Tanz durchs Dunkel, Rennt den Traum sie schmerzlich übern Haufen, Horch! die Fackel lacht, horch! Schmerz-Schalmeien Der erwachten Nacht ins Herz all schreien; Weh, ohn’ Opfer gehn die süßen Wunder, Gehn die armen Herzen einsam unter! (Werke 1,611)

Dieses Gedicht ist anders organisiert als das bisher untersuchte, insofern das lyrische Ich als Instanz fehlt, schreibt es aber in vielfacher Hinsicht fort, insbesondere durch die zentrale Textmetapher, die inzwischen auf eine als männlich gekennzeichnete Figur, den „Weber“, übergegangen ist. Es fördert auch das im Lied der Chronica noch latente Bedingungsgefüge von Autorschaft zutage. Dies wäre zumindest eine Option, das mit „Wenn“ eröffnete syntaktische Gebilde der ersten Gedichthälfte zu verstehen (Die andere, das „Wenn“ als Temporalkonjunktion zu lesen, sei der Vollständigkeit halber ebenfalls genannt). Vers 1 des Weberliedes bildete demnach die πρότασις, die Verse 2–10 entsprechend die ἀπόδοσις:17 Nur dann, wenn der lahme Weber träumt, kann alles Weitere Gestalt gewinnen; seine Traumgespinste bedingen den Traum der kranken Lerche, den der stummen Nachtigall und die Träume der übrigen Mängelwesen, die da folgen. Aber zurück zur Chronica, zu unserem Lied und seinem Gewebe-Charakter, den wir bisher im Thematischen ausgemacht hatten. Darüber hinaus trägt das Gedicht Textualität auch an seiner Oberfläche zur Schau, am auffallendsten sicher über den mit äußerstem Bedacht gehandhabten Reim. Man hat in der Strophenreihung mit

|| 17 Mit der Umschreibung, dass „alle weiteren Träume […] von diesem einen Traum des Webers abhängig“ (91) seien, impliziert Ilbrig (2017) zunächst die hier vorgeschlagene Lesart, setzt den Beginn des Nachsatzes im weiteren Verlauf ihrer Untersuchung jedoch erst mit Vers 11 an: „Auf das Wenn in Vers 1 folgt erst in Vers 11 das zugehörige dann. Nimmt man diese Konstellation ernst, steht der Auftritt der Wahrheit in […] Abhängigkeit vom Traum“ (95). Die philologische Analyse wirkt mit der unaufgelösten Spannung, in der die beiden Paraphrasen zueinander stehen, wie ein Vergrößerungsglas für Brentanos Text. Denn das Gedicht lässt das Schwanken des Lesers zwischen beiden Möglichkeiten nicht nur zu, sondern erzwingt eine Aporie geradezu. Die Stelle ist ein Musterfall für Brentanos Technik der Erzeugung poetischer, in diesem Fall: syntaktischer Ambiguität.

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Wechsel von a- und ei-Reimen und im über die Strophengruppen ausgreifenden sog. umarmenden Reim eine Entsprechung zu dem verkreuzten Fadensystem von Kette und Schuss gesehen.18 Bestätigung findet diese Deutung, wenn wir noch einmal zurückkommen auf die zweite Rezitation des Liedes in der Chronica, also die Stelle, die gleichsam den unteren Saum des Textes zur fortlaufenden Narration bildet: Gott wolle uns vereinen Hier spinn ich so allein So lang der Mond mag scheinen Ich sing und mögte weinen. (FBA 19,120)

Vers 3 der hier einzeln stehenden letzten Liedstrophe lautet auf „-einen“ statt auf „-ein“ aus, weist also einen Fehler auf, der die Aufmerksamkeit des Lesers auf die bis dahin unbemerkt gebliebene Kohäsion des Textes, seine stoffliche Substanz, lenkt. Die über zwei Anläufe geführte vertikale Entfaltung des Binnentextes wird durch die Verletzung des Reimschemas plötzlich gehemmt und kenntlich gemacht. Auf eine Bewusstmachung der paradigmatischen Beziehungen der Verse läuft es ferner hinaus, wenn Brentano die Wortgruppe „klar und rein“ (FBA 19,96f.) durch den Text laufen lässt und, in attributiver, in prädikativer Funktion und schließlich adverbial, nacheinander auf den „Faden“, das „Herz“ (ebd.) und den Mondschein bezieht. Der Dichter zwingt den Leser auf diese Weise förmlich dazu, die artifizielle Machart des Gedichts und zugleich die Brüchigkeit und Beliebigkeit seiner Semantik wahrzunehmen. Mutter und Sohn, das Motiv der Nachtigall und der Klage um Verlorenes, akustische und visuelle Äußerung, Stimme, Stimmentzug und Textur: Wenn wir mit der Ankündigung im Untertitel meines Beitrages ernst machen und Brentanos Lied mit Ovid lesen, dann drängen sich Bezüge zum Mythos von Tereus, Procne und Philomela förmlich auf, der mit über 260 Versen umfangreichsten Erzählung des sechsten Metamorphosen-Buches (Ov. met. 6,412–674). Der plot ist bekannt: Procne, Tochter des athenischen Königs Pandion, wird von ihrem Vater dem Thraker Tereus zur Frau gegeben und durch ihn Mutter des Itys. Nach einigen Jahren vermisst Procne ihre Schwester Philomela und sendet ihren Mann aus, um sie nach Thrakien zu holen. Dort angekommen, sperrt dieser Philomela in einen abgelegenen Hof, vergewaltigt sie und beraubt sie, als sie den Gewaltakt bekannt zu machen droht, ihrer Zunge. Philomela gelingt es dennoch, von dem Geschehenen Zeugnis abzulegen, indem sie ein mit roten Zeichen durchwirktes Tuch webt und ihrer Schwester überbringen lässt. Procne entziffert die Botschaft und befreit sie. Die Rache der Schwestern übertrifft die Tat des Tereus an Grausamkeit: Sie töten Itys und setzen ihn Tereus zum Essen vor. Als er die Verfolgung aufnimmt, werden alle drei in Vögel verwandelt: Tereus in einen Wiedehopf, die Schwestern in eine Nachtigall und in || 18 Z.B. Kremer (2007) 305f.

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eine Schwalbe, wobei in den Metamorphosen nicht klar wird, welche Frau in welchen Vogel. Demgegenüber deutet u.a. eine Stelle in Ovids Amores (Ov. am. 2,6,7) auf Philomela als Nachtigall19 und damit die Tradition hin, die mit der Engführung von Gesang und Gewebe für Brentanos Lied bestimmend wird. Ein derartiger Abriss des Handlungsverlaufs unterschlägt freilich alles, was die Darstellung Ovids auszeichnet – und Aktivistinnen auch in jüngster Zeit wieder Argumente geliefert haben könnte, den Autor auf den Index zu setzen. Wenn Ovid über mehrere Dutzend Verse schildert, wie Tereus sich am Anblick Philomelas erregt, geschieht dies mit unverhohlener Faszination. Wenn er beschreibt, wie Philomela ihren Vater beim Abschied umarmt und küsst, und wie dies in Tereus den Wunsch weckt, an Pandions Stelle zu sein, kann man das als anstößig empfinden, läuft der Gedanke doch auf die Formulierung eines Inzestwunsches hinaus. Vollends der Abschnitt, der die Schändung Philomelas zum Gegenstand hat, scheint der Ästhetik eines splatter movies zu folgen: quo fuit accinctus, vagina liberat ensem adreptamque coma flexis post terga lacertis vincla pati cogit; iugulum Philomela parabat spemque suae mortis viso conceperat ense: ille indignantem et nomen patris usque vocantem luctantemque loqui conprensam forcipe linguam abstulit ense fero; radix micat ultima linguae, ipsa iacet terraeque tremens inmurmurat atrae, utque salire solet mutilatae cauda colubrae, palpitat et moriens dominae vestigia quaerit. hoc quoque post facinus (vix ausim credere) fertur saepe sua lacerum repetisse libidine corpus. (Ov. met. 6,551–562)

Die Szene hat auch in der deutschsprachigen Bearbeitung von Albrecht und Wickram20 nur wenig von ihrer bedrängenden Intensität verloren. Die abgetrennte, blutige Zunge, die sich wie eine Natter auf der Erde windet, die noch sprechen will, es aber nicht mehr kann: Dieses Bild kann man so schnell nicht vergessen. Auch Brentano konnte das nicht. Er hat sich des lacerum corpus angenommen und den disiecta membra des Ovidischen Mythos an verschiedenen Stellen seines Werks zu neuem Leben verholfen. Die Zunge wird jenseits bloßer motivischer Entlehnung in dem 1798 bis 1801 entstandenen Roman Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter zu einem essentiellen Bestandteil des ähnlich wie in der Chronica angelegten Spiels mit diversen Erzählinstanzen und Autor-personae: Maria, Redakteur der Briefe des ersten Romanteils und Erzähler des zweiten, erkrankt, wie es heißt, an einer „bößartige[n] Zungenent-

|| 19 Bömer (1976) 177 zu Ov. met. 6,668f., ferner Herter (1980) 160f. 20 Albrecht/Wickram: Metamorphosis (1631) 210.

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zündung“ (FBA 16,520), die ihn am Sprechen hindert und zwingt – nicht zum Weben, aber zu einem verwandten Medium des Ausdrucks, einer Schiefertafel (ebd.), Zuflucht zu nehmen. Daneben spielt er auf der Laute (FBA 16,559), doch auch diese Form der Kommunikation wird abgeschnitten, als die Zungenentzündung in eine „Herzentzündung“ (ebd.) übergeht: Das Instrument entgleitet seinen Händen und zerschellt am Boden, Maria stirbt, und nun ist es an Godwi, der Titelfigur, den Roman zu Ende zu bringen. Ein Epilog bietet Einige Nachrichten von den Lebensumständen des verstorbenen Maria. Mitgetheilt von einem Zurückgebliebenen und endet mit einer Reihe parodistischer Gedichte, dessen letztes, An Clemens Brentano gerichtetes (FBA 16,575f.), von Stephan August Winckelmann, einem Freund des Autors, stammt. Mithin läuft das gesamte narrative Konstrukt des Godwi auf eine ironischverzweifelte Übertreibung der Ovidischen Geschichte vom Zungenraub und der Rettung von Stimme in Text hinaus. Die Fackel hat vielleicht einen anderen Weg genommen; hier könnte eine Abbildung in der Metamorphosen-Paraphrase von Albrecht von Halberstadt und Jörg Wickram21 den poetischen Prozess angestoßen haben. Denn bei Ovid und in der deutschen Bearbeitung werden die faces (Ov. met. 6,430–432) beziehungsweise „Fackeln“22 der Erinnyen als Vorbotinnen der fatalen Entwicklung zwar erwähnt. Erst Wickrams Holzschnitt setzt dieses Attribut jedoch prominent in Szene: Das Brautpaar Procne und Tereus ist klein und nur schemenhaft im Bett zu erkennen. Die Abbildung wird beherrscht von den drei Rachegöttinnen, die in Richtung Bildmitte stürzen und dramatisch ihre Fackeln schwingen. Brentano, der Großmeister der Synästhesie, hat sie in ein synästhetisches Fanal überführt. Die Rede ist vom Weberlied, das wir bei einer flüchtigen Betrachtung der ersten Gedichthälfte schon als Fortschreibung des Liedes der Spinnerin kennengelernt hatten. Als radikalisierte Fortschreibung, so dürfen wir jetzt mit Blick auf die zweite Gedichthälfte präzisieren. Als Fortschreibung, in der die gedämpfte Bildlichkeit des früheren Liedes ins Grelle gezogen und die Grausamkeit des Mythos zum Vorschein gebracht wird: „Horch! die Fackel lacht, horch! Schmerz-Schalmeien/Der erwachten Nacht ins Herz all schreien“ (Werke 1,611), lauten die Verse 15 und 16, gleich mehrere poetische

|| 21 In der in Brentanos Besitz befindlichen Ausgabe von 1631 ist die Abbildung auf S. 201 eingefügt; wir zeigen hier Blatt 78 der Ausgabe von 1581. Der Holzschnitt selbst ist unverändert, die Illustrationen unterscheiden sich ausschließlich in der Gestaltung des Rahmens, der in der früheren Ausgabe opulenter gestaltet ist, mehr Arabesken und Schmuckelemente aufweist als in der späteren; vgl. Albrecht/Wickram (1631) 201 mit Albrecht/Wickram (1581) 78. Für die Bedeutung der von Brentano gesammelten Bücher nicht als „Quellen“, sondern als „Katalysator […] dessen seine schweifende Phantasie bedurfte“ vgl. Gajek (1974) 12–14. Dass nicht nur Texte, sondern auch Bilder als „Katalysatoren“ für Brentanos dichterische Phantasie dienen konnten, hat bereits Hartmut Schultz in Brentano Ausstellung (1978) 182–184 am Beispiel der Kupferstich-Sammlung von Jan Sadeler gezeigt. 22 Albrecht/Wickram, Metamorphosis (1631) 201.

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Abb. 3: Auftritt der Furien bei der Vermählung von Procne und Tereus, Illustration zu Ov. met. 6,428–432 in der Metamorphosen-Bearbeitung von Albrecht von Halberstadt und Jörg Wickram (1581), Bl. 78 (Detail)

Wunder auf engstem Raum. Auf die kühne Verschränkung von Hör- und Sehsinn in „Horch! die Fackel lacht“ folgt die noch kühnere von taktilem und akustischem Reiz in den „Schmerz-Schalmeien“. Liest man sie mit Blick auf das Lied der Chronica, so versteht man die gewagte Metapher quasi als Antwort auf den Vers „Ich sing’ und kann nicht weinen“. Liest man sie mit Ovid, so scheint in dem Wort die ganze Gewaltsamkeit des Philomele-Mythos eingeschmolzen. Die Nachtigall, deren Gesang im Lied der Chronica mit dem Gesang der Mutter und ihrer Produktion von Faden und Tuch enggeführt worden war, ist in Vers 3 des Weberliedes ebenso zur Stummheit verdammt wie die ihrer Zunge beraubte Philomela bei Ovid. Und dennoch bleibt sie im Gewebe dieses Gedichts nicht ohne den erträumten „Widerhall“, indem der drittletzte Vers „Der erwachten Nacht ins Herz all schreien“ eine wenn auch zerstörte, entstellte Form ihres Gattungsnamens birgt. Es mag abwegig scheinen, das Œuvre Brentanos derart nach vereinzelten Resten überkommener Erzählungen abzusuchen. Aber offenbar funktioniert seine Anverwandlung Ovids genau so: Versprengte Fetzen des Mythos, die in Brentanos Bewusstsein und Halbbewusstsein flottieren, angeregt durch den ästhetischen Reiz eines Bildkomplexes oder eine unbestimmte Affinität zu seiner Erfahrungswelt,

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werden immer neuen Metamorphosen unterzogen, und – hier scheint mir der Begriff tatsächlich angebracht – dekonstruiert.

4 Zwei Weber und ihr Text Nach der Niederschrift der Chronica war Brentano mit Es sang vor langen Jahren noch nicht fertig. Er hat das Gedicht schon bald danach wiederaufgegriffen und in einen neuen Deutungsrahmen gestellt. Der auf Seite 100 abgebildete zweite handschriftliche Textzeuge ist im Unterschied zum ersten genau zu datieren, auf den 6. September 1802. Das Gedicht beschließt hier einen 4-seitigen Brief Brentanos an seinen Freund, den Dichter Achim von Arnim, es folgen nur noch Grußformeln und die Unterschrift. Wie in der Chronica kommt das Gedicht ohne Titel aus. Es ist an den Rändern wiederum offen und damit vermutlich erneut verwoben mit seinem Kontext. Einem Text freilich, der nun nicht ausschließlich von Brentano verantwortet wird, sondern an dem noch ein weiterer Weber webt. Brentano antwortet mit diesem, einem vorausgehenden und einem folgenden Schreiben auf einen Brief seines Freundes, es schließt sich eine Erwiderung Arnims an und so fort: Das Gedicht ist also eingebunden in einen fortlaufenden Briefwechsel, in ein work in progress, an dem zwei Ko-Autoren schreiben, und dies hat Konsequenzen für seine Interpretation. Brentano hatte den jungen Adligen schon im Vorjahr als Student in Göttingen kennengelernt. Den eigentlichen Grund für ihre Freundschaft legte dann aber eine im Juni 1802 gemeinsam unternommene Rheinreise, die die beiden von Mainz nach Koblenz führte. Arnim begab sich anschließend auf den zweiten Abschnitt einer Kavalierstour durch die Metropolen Europas, wie sie für Angehörige seines Standes üblich war. Im Juli hatte er Zürich, im September Genf erreicht. Brentano hatte sich nach Frankfurt, dem Hauptsitz des Handelsunternehmens seiner Familie, und von dort nach Marburg an der Lahn gewandt. In zeitlicher Nähe zur Rheinreise hatte Arnim auch Brentanos jüngere Schwester, die damals 17-jährige Bettine, kennengelernt, die einen tiefen Eindruck bei ihm hinterließ. Die aus dem Briefwechsel herausgelöste Sequenz von fünf Briefen, die wir näher in Augenschein nehmen wollen, wird eröffnet durch den Brief Arnims vom 9. Juli (WAA 31,60–66). Er legt strukturell den Rahmen an und exponiert thematisch, was in den folgenden Briefen von Brentano gleichsam durchgeführt wird. Wie viele Briefe aus den ersten Jahren ihrer Freundschaft ist dieser Brief Arnims gekennzeichnet durch ein Ineinander vom prosaischem Haupttext, dem ‚eigentlichen Brief‘, und mehreren poetischen Binnentexten, Gedichteinlagen, u.a. einem „Lied einer Nachtigall“ (WAA 31,60f.). Ebenso in zweien der drei Antwortbriefe Brentanos, nämlich dem schon erwähnten vom 6. und dem vom 8. September 1802:

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Abb. 4: Clemens Brentano, Brief an Achim von Arnim, 6. September 1802, eigh. Manuskript, Bl. 2 v

In beiden finden wir den Wechsel von Prosatext und Autozitat eines Liedes, im ersteren Fall, wie Abbildung 4 zeigt, Es sang vor langen Jahren. Die Themen, die Arnim anschlägt, sind, grob gesprochen, Freundschaft und Dichtung. Er erinnert sich an die wenige Wochen zuvor unternommene Rheinreise und beschreibt seine Einsamkeit ohne den Freund. Ablenkung sucht er in der Arbeit an seinem zweiten Roman Ariel’s Offenbarungen, aus dem er sich, wie er schreibt, zum Trost auch Lieder vorsingt. Im zweiten Briefteil entwirft Arnim, was er seinen

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„grossen Lebensplan“ (WAA 31,64) nennt: die Skizze einer gemeinsamen poetischen Existenz. Welches Wagnis sie für ihn bedeutete, lässt sich erst vor dem Hintergrund seines bisherigen Werdegangs ermessen. Qua Herkunft für den Staatsdienst vorgesehen, hatte sein Interesse als Student zunächst den Naturwissenschaften gegolten. Nicht zuletzt unter dem Einfluss Brentanos setzte nun eine Phase der Neuorientierung ein. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich Arnim mit der These, dass „[a]lles […] in der Welt der Poesie wegen“ geschehe (WAA 31,64), vor allem selbst Mut zu machen sucht. Ihre Radikalität steht jedenfalls in merkwürdigem Gegensatz zu den nationalpädagogischen Einlassungen, in die sie mündet. Wenn wir nun untersuchen, wie Brentano die von Arnim gesetzten Themen in seinen drei Briefen aufnimmt, soll dies wiederum mit Ovid geschehen. Ich möchte unsere beiden Brieftext-Weber gegen die Weberinnen halten, deren Wettstreit der Anfang des sechsten Buches der Metamorphosen zum Gegenstand hat: Minerva und Arachne (Ov. met. 6,1–145). Dass ich damit nicht bezwecke, motivische Übernahmen zu insinuieren oder anderweitig Abhängigkeitsverhältnisse zu stiften, die es nicht gibt, versteht sich, wie ich hoffe, von selbst. Nein, der Vergleich soll als heuristisches Instrument dienen: Wofür schärft Ovid unseren Blick? Was tritt zutage, wenn wir die Briefsequenz mit dem Arachne-Mythos hinterlegen? Ovids Erzählung setzt ein mit einer Schilderung der Zurüstungen, die dem ἀγών vorausgehen. Die göttliche und die menschliche Weberin stellen ihre Webstühle auf und bespannen sie mit Fäden; die ungewöhnliche Wortfolge in Vers 56 medium radiis subtemen acutis (a B A b) bildet vielleicht das kunstvolle Ineinander der Fäden ab23 und leistet damit etwas Ähnliches wie das Reimschema bei Brentano. Die Schattierungen der Fäden bringt Ovid in ein Bild von erlesener Schönheit; er vergleicht sie mit der unendlich nuancierten Skala eines Regenbogens, mit dem Farbenspiel von Tropfen, durch welche die Sonne bricht (vgl. Ov. met. 6,63–65). Die Darstellung der Wettbewerbsvorbereitungen schließt mit einem ‚Scharniervers‘, Vers 69. Er bringt in dem Verb deducere ein Schlüsselwort des ganzen Werkes, das in deutschen Übersetzungen häufig unzureichend wiedergegeben ist.24 Folgt man Franz Bömers Kommentar zur Stelle, so markiert der Vers eben den Übergang vom terminus technicus der Textilproduktion zur übertragenen Bedeutung des Wortes25; in tela deducitur argumentum wäre also zu übersetzen mit „die Geschichte wird mit feinem Faden in das Gewebe eingesponnen“ oder dergleichen. Der anschließende Wettbewerb ist als Abfolge zweier ἐκφράσεις, in den Erzähltext eingelegter beschreibender Texte, gestaltet und folgt kompositorisch den Prin-

|| 23 So Bömer (1976) 23. 24 Vgl. Ov. met. 6,69 Übers. Suchier: „und im Gewebe erhebt sich ein altertümlicher Inhalt“, ferner Ov. met. 6,69 Übers. von Albrecht: „und im Gewebe wird ein altertümlicher Inhalt dargestellt“. 25 Vgl. Bömer (1976) 26. Zum kallimacheischen Hintergrund der poetologischen Metapher vgl. Clausen (1994) 180 zu Verg. ecl. 6,5.

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zipien der Parallelisierung, des Kontrasts und der Steigerung. Der Teppich der Minerva zeichnet sich formal durch Symmetrie und Klarheit aus und vermittelt der Konkurrentin sowohl durch die Szenen der vier Eckmotive als auch durch das Hauptbild eine unmissverständliche Moral: Menschliche Hybris wird bestraft, gegen Minerva kann man nicht gewinnen. Selbst ein Gott, Neptun, ist ihr im Streit um Athen unterlegen. Der Teppich der Arachne ist vor diesem Hintergrund in zweifacher Hinsicht ein Affront: Erstens steht er dem der Rivalin künstlerisch, in der Beherrschung der technischen Mittel, in nichts nach; menschliche und göttliche Schöpfung liegen in diesem Wettbewerb gleichauf. Zweitens ist der Gegenstand des Bildwerks jenseits aller Moral: Es zeigt Götter auf Abwegen, caelestia crimina (Ov. met. 6,131), in sage und schreibe 21 Szenen und unübersichtlicher Anordnung. Atemlos jagt der Text durch den Katalog der Formen und Gestalten, in denen Jupiter, Neptun, Apoll, Liber und Saturn sich irdischen Frauen genähert haben. Herausgegriffen seien hier nur wenige Verse, von denen insbesondere die letzten drei selbst bei einem so sensualistischen Erzähler wie Ovid aufhorchen lassen: te quoque mutatum torvo, Neptune, iuvenco virgine in Aeolia posuit, tu visus Enipeus gignis Aloidas, aries Bisaltida fallis; et te flava comas frugum mitissima mater sensit equum, sensit volucrem crinita colubris mater equi volucris, sensit delphina Melantho: (Ov. met. 6,115–120)

Die Versgruppe wird durch Anreden ex persona poetae als Einheit zusammengehalten, doch hinter diesem Gerüst ist der Text in fluider Bewegung: In den Versen 115/116 wird Neptun zunächst als Gegenstand der bildlichen Darstellung auf dem Teppich perspektiviert (te … posuit); als Subjekt ist Maeonis (d.h. Arachne) aus Vers 103 zu ergänzen. Die nächsten anderthalb Verse lassen den Beschreibungsmodus fallen, und Neptun tritt als Akteur, als Subjekt aus der Fläche des Textes hervor (tu … gignis bzw. fallis). Die Verse 117–118 bringen, auf den ersten Blick nicht wahrnehmbar, da weiterhin im Fluss der anaphorischen Reihung (te ... tu … te), abermals einen Umschlag: „Die blonde gnadenreiche Mutter des Getreides bekam dich als Hengst zu spüren, als Vogel erlebte dich die schlangenhaarige Mutter des Flügelpferdes, als Delphin Melantho.“26 Das ist etwas gänzlich anderes als zu sagen: Du hast als Pferd Demeter, als Vogel Medusa und als Delphin Melantho heimgesucht.27 Der Text nimmt nämlich ein weiteres Mal einen Wechsel der Wahrnehmungsrichtung vor: Neptun wird jetzt als Objekt physischer Sensitivität, als das vielgestaltige Wesen vorgestellt, als das ihn drei irdische Frauen erfahren haben. Der Leser er-

|| 26 Ov. met. 6,118–120 Übers. von Albrecht. 27 S. dazu auch in diesem Band: Niklas Holzberg: „‚Hast du die Orte erspürt, wo Betastung dem Mägdelein wohltut…‘ Frauen bei Ovid in deutschen Übersetzungen.“

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hascht einen flüchtigen Blick in die Wahrnehmungswelt der Frauen, deren Empfindungen beim Sexualakt aufgedeckt werden wie die Rückseite einer Münze. Man hat in der Forschung wiederholt auf die Affinität hingewiesen, die zwischen der hellenistischen Machart von Arachnes Gewebe und der Schreibart des Autors besteht, den Passus also als Metapoetik der Ovidischen Textur gedeutet.28 Dafür gibt es eine Reihe guter Argumente, unter anderem die Durchlässigkeit von Binnenerzählung und Gesamtepos im Hinblick auf ihr Personal. Die Göttergestalten, die Arachne webt, bevölkern ebenso wie die von ihnen mit Menschenfrauen gezeugten Nachkommen die fünfzehn Bücher von Ovids Werk.29 Der Umstand, dass die Geschöpfe Ovids das Epos teilweise also durch den Saum der Binnenerzählung betreten, evoziert die Frage nach dem Verhältnis, in dem die Weberin und der Autor zueinander stehen. Und legt eine Folgerung nahe: Wenn Arachnes Arbeit als Menschenwerk am Ende eine so deutliche Aufwertung erfährt (Non illud Pallas, non illud carpere Livor/possit opus, heißt es in Vers 128), dann gilt dies nicht minder für die Opulenz und den wuchernden, ‚modernen‘ Stil der Metamorphosen. Was gewinnen wir nun, wenn wir den Wettstreit der mythischen Weberinnen neben unsere Sequenz aus dem Briefwechsel Arnims und Brentanos halten? Eine erste vorläufige Antwort: Der Mythos schärft unseren Blick dafür, dass wir es auch hier mit einer Konkurrenzsituation zu tun haben, einer Dichterkonkurrenz, die sich vor unseren Augen dramaturgisch ganz ähnlich entfaltet wie die antike Erzählung. Autor 1 legt gleichsam vor, mit Brief und Gedicht, Autor 2 fordert ihn in beiden Disziplinen heraus. Ferner erkennen wir, dass der zweite Wettbewerbsbeitrag, der Brentanos, ebenfalls ein doppeltes σκάνδαλον darstellt: als Zeugnis künstlerischer Meisterschaft und in seiner jedes Maß sprengenden Behandlung der erotischen Thematik. Arnims „Lied einer Nachtigall“ (WAA 31,61) beginnt im Kreuzreim und wechselt dann in den Paarreim, wobei viele Reime bloß durch Wiederholung des letzten Wortes bzw. Wortbestandteils (bei Komposita) am Versende zustande kommen („Himmelblau“ / „Wellenblau“, „Mutternoth“ / „Hungernoth“, „nahen Tod“ / „süsser Tod“ etc.). Überdies sind sie „unrein“, das heißt sie gehen lautlich nicht völlig auf: „geliebet“ / „gebrütet“. Zu diesen formalen Merkmalen des Liedes nimmt Brentano zu Beginn seines ersten, auf Anfang bis Mitte August zu datierenden Antwortbriefs (FBA 29,490–494) umständlich Stellung. Man merkt den gewundenen Sätzen an, wie Brentano sich müht, sein Missfallen zum Ausdruck zu bringen, ohne den Freund offensiv zu kritisieren. So bescheinigt er dem Nachtigallenlied, „biß auf die etwas harten Anfangsreime […] sehr rührend“ (FBA 29,492) zu sein, doch im Ganzen ist sein Kommentar, unter der Maske eines Kompliments, vernichtend: „Ein Haupt-

|| 28 Vgl. z.B. von Albrecht (1972) 27f., ferner Rosati (1999) 253: „Arachne […] is obviously a figure of the poet, and her tapestry a mise-en-abyme of the Ovidian poem.“ 29 Hofmann (1971) 99f.

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fehler deiner Lieder ist das Gegentheil von andrer Leute Unglück, du magst vor reimen oft nicht zu Gedanken kommen, andere können ihre Gedanken nicht reimen“ (FBA 29,491f.). Entscheidender noch, da nicht nur auf die technische Seite des Dichtens, sondern auf seine Poetik zielend, ist die Absage, die er Arnims Manier der Gelegenheitsdichtung erteilt: „[…] auf das Dichten an Ort und Stelle halte ich weniger, als auf das erfinden […] an Ort und Stelle, der Anblick sei Erfindung“ (FBA 29,493). Ich will es mit der Suche nach Entsprechungen nicht übertreiben, aber wie in Ovids Darstellung des Arachne-Mythos werden doch auch hier zwei ästhetische Positionen voneinander abgehoben: das Prinzip der μίμεσις, der spontanen Nachahmung der Natur in der Natur, der ‚Erlebnislyrik‘, von dem Brentano sich distanziert, und das der ästhetischen Autonomie, der Künstlichkeit der Kunst, das er emphatisch bejaht. „[D]er Anblick sei Erfindung“: Den Satz rot anzustreichen und für die Konzeption des Romantik-Kapitels zu beherzigen wäre mein Wunsch an die Autoren von Deutsch-Lehrbüchern. Wir sollten ihn aber auch bei unserer weiteren Lektüre berücksichtigen. Arnims Brief vom 9. Juli gipfelt in einer Art Geschäftsplan für das gemeinsame Wirken, den er bis in Fragen der Finanzierung hinein skizziert. Es fällt auf, dass alle Vorschläge, die ins große Ganze ausgreifen und nationales Pathos verströmen, von Brentano mit Schweigen übergangen werden. Was Arnim als Reformprojekt mit einer gewissen Breitenwirkung denkt, wird in Brentanos Erwiderung privatisiert, zu einer Angelegenheit unter Freunden, ja Liebenden. Auf diese Weise tritt der zweite, der erotische Themenkreis der Briefsequenz hervor, und da ist Brentano weitaus eher in seinem Element. Um Arnim seine Liebe zu erklären, legt Brentano in seinen drei Antwortbriefen ein Netz von Personen und sich kreuzenden verwandtschaftlichen und amourösen Beziehungen an. Der erste Name, der in den Briefen vom 6. und vom 8. September fällt, ist „Mereau“ (FBA 29,495 und FBA 29,499). Brentano hatte sich in die um acht Jahre ältere Sophie Mereau, so stellt er es zumindest seinem Bruder Franz gegenüber dar, aufgrund ihrer Ähnlichkeit zu Maximiliane Brentano verliebt: [Sie ist] „ganz körperlich und geistig das Bild unsrer verstorbenen Mutter“ (FBA 29,149). Das zum Zeitpunkt der Briefniederschrift mit Unterbrechungen vier Jahre bestehende, überaus wechselvolle Verhältnis sollte sich erst 1803 klären.30 Mereau wird schwanger, es folgt die Eheschließung, im folgenden Jahr kommt ihr erstes gemeinsames Kind zur Welt. Auf Wunsch Brentanos wird es auf den Namen Achim Ariel, also nach dem Freund und der Titelfigur von dessen zweitem Roman, getauft. Die skizzierten Entwicklungen stehen im September 1802 noch aus. Brentano erwähnt Mereau als Geliebte, aber auch als Schriftstellerin, und in beidem nimmt sie die Rolle ein, die künftig für Arnim vorgesehen ist:

|| 30 Zum Verlauf der Beziehung Augart (2006) 54–60.

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Der Mereau habe ich immer ihre Gedichte abgeschrieben […] ich habe in meinem Leben nichts gethan, wobei mir es so wohl war, und sie hat mir es nicht zu danken brauchen […] in einem Jahr bin ich ganz mein eigner Herr und dann bist du nicht mehr sicher vor mir, dann bin ich nicht mehr sicher vor dir, ich komme zu dir, wo du bist, und trage deine Briefe zu deinen Mädchen, und schreibe deine Verße ab […] (FBA 29,501f.)

Auch der zweite Name, den Brentano nennt, nämlich den seiner Schwester Bettine, ist erotisch konnotiert, waren über das Verhältnis der Geschwister doch schon unter den Zeitgenossen „gewiße Blutschänderische Anecktoden“ (FBA 31,216) in Umlauf. Jedenfalls verband die beiden, innerhalb der großen Familie durch Exaltation und künstlerische Begabung isoliert, damals eine starke Anziehung, ja Verliebtheit. Bettine gab sich pubertären Schwärmereien für den großen Bruder hin, der sie umgekehrt als sein Geschöpf betrachtete und nach dem Vorbild der Goetheschen Mignon zu formen versuchte.31 Die Bettine betreffenden Sätze im ersten der drei Antwortbriefe Brentanos lauten: Warum bin ich nun dein [Arnims Y.P.] Bruder nicht? ach dann wäre Betine meine Schwester nicht, und […] sie wüßte nicht, ob sie sich der Lust oder der Schwermuth hingeben sollte, dir oder mir […] Ich bitte dich herzlich schreibe mir über Betinen, wunderbar, ihr poetisches Stammlen an dich in dem Briefe ist das erste rithmische Produkt von ihr. (FBA 29,494)

Hier ist beides im Dreieck gedacht: die Liebe und das Schreiben. Jeder liebt jeden, jeder schreibt an und über jeden, Bettines Initiation in die Liebe fällt mit ihrem Erwachen als Dichterin zusammen. Aber Brentano geht noch einen Schritt weiter: Eine vierte Person (bzw. eine fünfte, nimmt man Mereau dazu) vermehrt den Reigen. Ihr Klarname taucht in diesem Brief nicht auf, im Kontext weiterer Briefe ist sie aber als Johanna Kraus aus Ahl, einem kleinen Ort an der Lahn, zu identifizieren32, mit der er nach der Rheinreise für kurze Zeit eine Liebesaffäre unterhielt. Ähnlich wie Sophie Mereau wird auch Johanna Kraus als lookalike, in diesem Fall nicht der Mutter, sondern des Adressaten, vorgestellt und dieses Bild dann weiter fortgesponnen: Acht Tage nach deiner Abreise bekam ich morgens Betinens Brief, daß sie dich liebe, im Augenblick Als ich auf einer einsamen Insel der Lahn […] im dichten Gebüsch einem Mädchen, daß dir durch und durch im Weßen und im Gesicht gleicht den Nahmen, Arnim gab, die auch ihre Briefe so an mich unterschreibt. so liebt Betine und ich den Arnim. (FBA 29,492f.)

Das Durcheinander von Wechselbezügen – Polyamorie avant la lettre – beginnt unübersichtlich zu werden, zumal Brentano darauf achtet, die Parallelführung von Lieben und Schreiben selbst auf Johanna Kraus auszudehnen, die im Unterschied zu den anderen Beteiligten keine (angehende) Schriftstellerin von Profession war. || 31 Vgl. Schultz (2000) 32–43. 32 Vgl. Landfester in FBA 38,1,550f.

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Selbst in diesem Dickicht konnte Arnim indessen die Kernaussage schwerlich verborgen bleiben: Wenn ich in den Armen einer Frau liege, denke ich dabei an Dich. Solche Avancen – und es gibt Passagen in Briefen dieser Zeit, in denen Brentano in der Schilderung der durch Arnim geweckten Phantasien und Träume erheblich deutlicher wird33 – mussten den Adressaten irritieren. Erst recht, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass Arnim Brentano in seinem die Sequenz eröffnenden Brief „Aufopferung“, einen „freywillige[n] Cölibat“, die „freye Entfernung vom Himmelreiche“ (WAA 31,65) hatte schmackhaft machen wollen. Der will davon nichts wissen, er lässt sich in herausfordernder Weise gehen, nicht zuletzt sprachlich. Er lässt seiner Sprache die Zügel schießen und verliert sich in einen litaneienartigen Wortstrom, der sich zwischen den beiden polaren Namensnennungen ergießt: „mein Mädchen heist Arnim“ – „ich heiße Clemens“ (FBA 29,494) – Clemens, auf dessen unfeste generische Identität wir schon zu Beginn aufmerksam geworden waren. Brentano fasziniert das Spiel mit einer Sexualität jenseits der binär codierten Ordnung, das für ihn unmittelbar zusammenfällt mit der Lust an der Willkür der Namengebung, der sprachlichen Setzung. Figuren des Schreibens und Geschriebenwerdens durchsetzen Brentanos Korrespondenz, auch mit anderen Partnern. Man kann an den hier ausgewählten drei Briefen beobachten, wie er diverse Register zieht, einiges an sprachlicher Energie daran setzt, Arnim zu verführen, er nimmt sein Schreiben in Dienst für seine Liebesbedürfnisse. Umgekehrt gewinnt man aber auch den Eindruck, dass er sein Verlangen nach Arnim nährt, um überhaupt auf diese Weise schreiben zu können. Dass er sein Begehren autosuggestiv, imaginativ wachhält als stimulus für die sinnliche Hochflut seiner Texte. Dass er sich den „Anblick“ von Arnims blondem Körper „erfindet“, so wie er sich den Freund in einer Porträtskizze aus dieser Zeit34 „erfunden“ hatte: Sie zeigt einen schönen jungen Mann mit vollen Lippen, Dreitagebart und wilden Haaren – und nicht einen märkischen Junker, der von der gemeinsamen Rheinreise in der Metapher einer „Riechbüchse“ (WAA 31,60) spricht. Immerhin: Arnim hatte seinen Brief vom 9. Juli mit dem Bekenntnis eingeleitet, dass er den Freund schmerzlich vermisse. Im Kontext dieses Briefanfangs lässt sich das aus dem Manuskript seines zweiten Romans zitierte Nachtigallengedicht, in der Ich-Perspektive einer weiblichen Nachtigall gehalten, als Fortführung der Sehnsuchtsthematik verstehen: Vergessen ist die frohe Weis, Mein Lieber ist schon lange fern,

|| 33 Vgl. z.B. die Briefe an Arnim vom 6. Februar (FBA 31,35–45) und vom 12. Oktober 1803 (FBA 31,232–249). 34 Vgl. https://www.akg-images.de/archive/-2UMDHURSV1.html (Stand: 28.8.2020). Die heute in der Biblioteka Jagiellońska (Krakau) aufbewahrte Zeichnung wird Brentano zugeschrieben, doch ist die Urheberschaft bislang nicht zweifelsfrei geklärt.

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[...] So Tage bis zum Abendstern, Ich klage daß nichts laben kann […] (WAA 31,61)

Der Versuchung, diesem Gedicht sein kurz zuvor entstandenes und ebenfalls von einem lyrischen Ich artikuliertes Lied gegenüberzustellen, konnte Brentano nicht widerstehen – eine auftrumpfende Geste, die nicht zum Tenor der Hingabe und der Selbstverkleinerung passt, welche den zugehörigen Brief prägt. In der Gegenüberstellung treten die Schwächen von Arnims Versen, ihre Harmlosigkeit und Banalität, in aller Schärfe hervor. Doch auch Es sang vor langen Jahren verändert sich, wenn man es mit Arnims Gedicht liest. Die Nachtigall, die wir im Kontext der Chronica als Allusion auf die mythische Philomele und Element aus der Topik der Liebesdichtung kennengelernt hatten, erscheint nun als Motiv, dem Arnim ein Gedicht gewidmet hat. Das Ich, in der Rollenfiktion der Erzählung weiblich, ist jetzt männlich zu hinterlegen. Das Wir meint nicht mehr die Mutter und ihren Liebhaber, sondern das Freundespaar. Auch das „Zusammensein“ erhält im Briefkontext eine neue Referenz, die Reise von Mainz nach Koblenz. Da die ursprüngliche Referenz, die auf den Liebesakt, binnentextuell mitgeführt wird, ergibt sich so etwas wie eine Doppelbelichtung dieses Wortes, deren laszive Wirkung durch ihren minimalen Aufwand noch gesteigert wird. Angesichts der Virtuosität, mit der Brentano seinem Gedicht durch rein intertextuelle Formation ein ganzes Spektrum von Neu- und Umdeutungen eröffnet, nicht zuletzt im Hinblick auf das Gender, muss die Biederkeit des didaktischen Arrangements in Blickfeld Deutsch umso mehr verdrießen. Die Lehrbuchautoren operieren mit dichotomen Geschlechterbildern, die Brentano und andere Autoren der Frühromantik längst hinter sich gelassen haben – von Ovid ganz zu schweigen! Sie streiten vermeintlich für die Sache der Frau, unterschlagen dafür etwas, das nicht wie ein additum notfalls entbehrlich ist, sondern das Gedicht ganz wesentlich bestimmt: seinen metapoetischen Gehalt. Und der lässt sich auch 17- und 18-Jährigen vermitteln! Wir haben es im Schülerlabor ausprobiert, indem wir die Teilnehmer unseres Workshops nach der Chronica mit dem originären Kontext des Briefes konfrontierten. Denn dieser fordert die metapoetische Lesart förmlich ein: „Hier spinn ich so allein“ muss, weil man sich keinen Mann am Spinnrad vorstellen mag, das einsame Dichten meinen. Im Brief vom 23. September, der unsere kurze Sequenz beschließt, dankt Arnim dem Freund zwar für den „herrligen Brief“ (WAA 31,115), reagiert insgesamt aber reserviert. Sein Kommentar zu Brentanos Gedicht lässt erahnen, dass er dessen wortreiche Klagen über angebliche Schreibhemmungen als Rhetorik durchschaut, und bestätigt im Übrigen unsere kontextgebundene, durch Ovid geschärfte Interpretation: Du klagst noch daß du nicht dichten kannst, während du mir zwey aus^gezeichnet gute Gedichte schickest; was soll ich denn sagen? Dadurch wird Deine Bescheidenheit unbescheiden,

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hingegen meine Unbescheidenheit dir alle kleine Stücke, wie sie aus der Feder kommen, abzuschreiben, sehr bescheiden“ (WAA 31,114f.).

Auch hier kann nicht einmal der Neid die Leistung des Freundes verkleinern. Arnim ist ehrlich genug, dessen ingeniöse Leistung anzuerkennen, aber auch brüskiert und beschämt über den Ausgang eines Wettbewerbs, den er erst im Nachhinein als solchen begreift. Auf Brentanos hemmungslose Überbietung und Erotisierung der Freundschaftsthematik geht er dagegen mit keiner Silbe ein.

5 Perpetuum carmen In nova fert animus mutatas dicere formas corpora: di, coeptis (nam vos mutastis et illa35) adspirate meis primaque ab origine mundi ad mea perpetuum deducite tempora carmen. (Ov. met. 1,1–4)

Es sind nur vier programmatische Verse, mit denen Ovid sein Epos eröffnet, doch sie zählen zum Komplexesten, was die antike Literatur bietet. Demut ist also das Gebot, wenn wir uns ihnen nähern – aber auch Mut, zumal in einem komparativ angelegten Beitrag wie dem heutigen. Wir müssen Schwerpunkte setzen, und dabei kann es nicht ausbleiben, dass wir Ovid auch mit Brentano lesen. Da ist zunächst das Thema, das Vers 1 mit einem weit, bis in Vers 2, ausgreifenden Hyperbaton vorstellt. Gegenstand des Epos sollen Metamorphosen sein, „in neue Körper verwandelte Gestalten“; in nova […] mutatas […] formas/corpora ist ja eine recht genaue Paraphrase des griechischen Begriffs. Für dieses Projekt erbittet das epische Ich den Beistand der nicht näher spezifizierten Götter. Sie sollen es „fortspinnen“ über die unermessliche Zeitspanne vom Anbeginn der Welt bis in die – forsch als mea […] tempora deklarierte – Gegenwart, und zwar als ein „fortlaufendes Gedicht“, wobei mit deducite der uns bereits aus dem Arachne-Mythos (Ov. met. 6,69) bekannte Fachbegriff der Textilproduktion und mit perpetuum […] carmen ein terminus technicus der antiken Gattungspoetik gewählt wurde; mit deren Iuxtaposition bezieht Ovid pointiert Stellung im nachkallimacheischen Diskurs um das Genus der Großepik.36 Erfleht wird Gunst, Unterstützung für ein Werk, das perpetuum, „ununterbrochen“, sein soll, insofern es heterogene Stoffe kunstfertig verknüpft

|| 35 Für eine kritische Prüfung der beiden konkurrierenden Lesarten illas (in fast allen MSS) und illa (erstmals im codex Erfordensis [12. oder 13. Jh.] und dann in der Schulausgabe von Lejay [1894]) vgl. Kovacs (1987). Die von Kovacs favorisierte Lesart illa bei Tarrant, in der 2. Ausgabe (1982) dann auch bei Anderson. 36 Vgl. zur Deutung dieser „Themaworte“ Bömer (1969) 14f., Hofmann (1985) 223–226 und Harrauer (2001) 300–302.

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und in einen chronologischen Zusammenhang bringt. Zugleich scheint in dem Attribut perpetuum die Hoffnung auf, das Gedicht werde „fortwährend“ sein, die Zeiten überdauern – eine Aussicht, die in der σφραγίς des Werks am Ende des 15. Buches bereits zur Gewissheit geworden ist: Iamque opus exegi, quod nec Iovis ira nec ignis nec poterit ferrum nec edax abolere vetustas. [...] quaque patet domitis Romana potentia terris, ore legar populi, perque omnia saecula fama, siquid habent veri vatum praesagia, vivam. (Ov. met. 15,871f. und 877–879)

ore legar populi: Wir widerstehen der Versuchung, hier bewährte Erklärungsschemata einrasten zu lassen, die Formel als Metonymie zu werten und den Text damit beträchtlich zu depotenzieren. Nein, wir nehmen Ovid beim Wort, wenn er den alten Unsterblichkeitstopos in ein Bild von bestechender Prägnanz und Sinnlichkeit fasst. Evoziert wird ein geöffneter Mund, genauer: unzählige davon, Lippen, Zungen, Zähne, Sprachwerkzeuge in Aktion, die den epischen Text – den damaligen Gepflogenheiten entsprechend – laut artikulieren, rezitieren und ihm so Präsenz verleihen. Indem die Verse auf diese Weise transformiert, von der Schrift in die Oralität überführt werden, wird die stolze Prophezeiung des Dichters bereits performativ eingelöst: Roland Barthes’ Konzept vom „Tod des Autors“, der die Herrschaft über den von ihm verfassten Text preisgeben und an den Leser übertragen müsse, liegt hier nicht allzu fern.37 Apropos „Geburt des Lesers“: Wenden wir uns vom rezeptionsästhetischen Programm des Epilogs wieder zurück zum Proömium, so realisieren wir, dass der Akt der Rezeption, die sukzessive Dekodierung und Aktualisierung des Textes durch den Leser, bereits für die vier Eingangsverse konstitutiv ist. Sie kündigen Gestaltwandel nämlich nicht bloß als Thema des Werkes an, sondern setzen durch ihre raffinierte Struktur im Leser selbst einen solchen Prozess in Gang, überführen die Metamorphose gleichsam in ihn: Dass sie ihren Gegenstand ‚verkörpern‘, darin liegt ihre eigentliche poetische Qualität. Eine ‚proteische‘ Syntax forciert die Verstehensanstrengungen des Rezipienten: spätestens hinter der Penthemimeres des ersten Verses, mit mutatas, wird er genötigt, seine Annahmen über den Fortgang des Satzes zu revidieren, und die Reihe der fruchtbaren Irritationen setzt sich fort.38 Er erfährt buchstäblich am eigenen Leib, dass nichts sich gleich bleibt, nichts ist, was es scheint, und dass es in diesem Text keinen Stillstand gibt.

|| 37 Die Verschränkung von Barthes’ Konzept mit dem zentralen Gedanken des MetamorphosenEpilogs war Ausgangspunkt für eine Veranstaltungsreihe im Herbst 2017: Ore legar populi: Der Tod des Autors ist die Geburt des Lesers. Schülerlabor Geisteswissenschaften zum Ovid-Bimillennium. 38 Zur „Metamorphosis in the Reader“ vgl. ausführlich Wheeler (1999) 8–33.

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Syntaktische ‚Kippfiguren‘, mediale Transformation, gleitendes Schreiben: Das sind, wie wir gesehen haben, Ansatzpunkte zur Charakterisierung auch der Poetik und poetischen Praxis Brentanos – während ihm die provokante Selbstgewissheit des Römers gänzlich abgeht. Brentanos Selbstverständnis als Dichter war prekär, gebrochen, er tat sich schwer damit, die Rolle als Künstler anzunehmen. Das verrät beispielsweise seine Reaktion, als der mit ihm befreundete Bibliothekar und Archivar Johann Friedrich Böhmer Mitte der 1830er Jahre mit dem Plan einer zweibändigen Gedichtausgabe an ihn herantrat: Sie nehmen ein ungemein rührendes Antheil an meiner armen Poesie […] im ganzen ist doch nur wenig und höchst ungares da, was zussammengstellt erst seinen Unwerth recht zu Tage stellen würde. […] Das Meiste besitze ich gar nicht mehr, weiß auch nicht, wo es hin gekommen. Ich habe zu wenig eine öffentliche Basis, als daß ich eine Flora veröffentlichen könnte, ich zittre vor dem Gedanken der Oeffentlichkeit und des Geschwätzes darüber [...]39

Es sind nicht allein Bescheidenheitstopoi, zu denen Brentano Zuflucht nimmt, und mit der Äußerung, dass er über den Verbleib etlicher Gedichte nichts mehr wisse, wimmelt Brentano nicht bloß ein ihm lästiges Ansinnen ab. Das Unbehagen an einer Anthologie seiner Lyrik reichte tiefer, war grundsätzlicher motiviert. Offenbar hatte es vor allem mit zwei Aspekten eines solchen Unternehmens zu tun, dem der Isolation und dem der Fixierung, die seinem organizistischen Textverständnis widersprachen. Ex negativo zeigt die Briefstelle wiederum an, wie er gelesen werden wollte, denn das war für ihn nicht minder existenziell als für Ovid. Was die Distribution seiner Texte und deren Medien betrifft, so wissen wir, dass Brentano es vorzog, materialiter weiterzureichen, was er, eigenhändig, mit Feder und Tinte aufs Blatt geschrieben hatte. Manuskripte wanderten von ihm zu seinen Briefpartnern, er verschenkte sie an Bekannte, Freunde, Geliebte – kein Wunder, dass er bei dem einen oder anderen nicht mehr überblickte, „wo es hin gekommen“. Die Vorstellung von seiner Wirkung und Rezeption ist damit personalisiert, individualisiert und auch in ihrem zeitlichen Horizont beschränkt. Tatsächlich sind von seinen mehr als tausend Gedichten zu Lebzeiten nur knapp ein Drittel im Druck publiziert worden. Brentanos Festhalten am Handschriftlichen rührt unverkennbar von der elementaren Sinnlichkeit dieses Produktions- bzw. Transformationsprozesses her, der wir heute etwa beim Schreiber der Chronica, aber auch in Brentanos Anerbieten begegnet sind, als Sekretär Arnims und Sophie Mereaus zu fungieren. Zu erinnern wäre in diesem Zusammenhang aber auch an die berühmte Bildphantasie, die er in einem anderen Brief an Mereau entwirft: ihre Korrespondenz „auf die Art einrichten zu können, daß ich unten noch dran schriebe, wenn du […] oben schon zu lesen anfängst“ (FBA 31,180–188, hier 186). Der Text erscheint in der Metapher eines volumen, einer kontinuierlichen Schriftbahn, die die Partner verbindet, es aber

|| 39 Brief an Böhmer vom 15. Januar 1837 (FBA 37,1,45–50, hier 46f.).

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insbesondere dem Schreibenden erlaubt, den Abschluss immer weiter hinauszuzögern. Am Beispiel von Es sang vor langen Jahren habe ich dargelegt, wie Brentano die Möglichkeiten eines Gedichts erkundet, indem er es in einen neuen Zusammenhang bringt. Textgenetisch stellt dieses Lied im lyrischen Werk Brentanos damit nicht die Ausnahme, sondern die Regel dar. Fast immer sind die Gedichte in Kontexte, in Briefe, Romane, Erzählungen, Märchen oder Dramen, verflochten. Fast immer handelt es sich auch um ein prozessuales Geschehen. Das kann sich, wie in unserem Fall, auf die bloße Abschrift und Übernahme eines Liedes in einen anderen Kontext beschränken, ohne Eingriffe in den Wortbestand. Am anderen Ende der Skala stehen kontrafaktische Umgestaltungen sowie (bisweilen sympoetische) Amplifikations- und Überarbeitungsprozesse, die über mehrere Jahrzehnte reichen. Ein erstes Beispiel ist das im August 1803 entstandene Gedicht mit dem Titel Gesang der Liebe als sie geboren war. Eine zweite Fassung mit dem Titel Meine Liebe an Sophien die ihre Mutter ist sandte Brentano im Oktober desselben Jahres an Arnim. Als er im Herbst/Winter 1816 eine zweite Fassung der Chronica des fahrenden Schülers vollendete, integrierte er in diese eine umfangreichere unbetitelte dritte Fassung des Gedichts, die nur im Druck überliefert ist; dazu finden sich mehrere handschriftliche Entwürfe mit unterschiedlicher Strophenfolge und unterschiedlichem Umfang, ferner eine Abschrift von der Hand der von ihm umworbenen Luise Hensel, wo das Gedicht den Titel Todes Wiegenlied trägt.40 Beispiel 2: Ein Sonett mit dem Incipit Auf Dornen oder Roßen hingesunken taucht im November 1800 erstmals in einem Brief an Friedrich Karl Savigny auf. Es wurde vor dem 21. Juni 1808 einer ersten und 1834 einer weiteren Neubearbeitung unterzogen. Die dritte Fassung beginnt nun mit den Worten In Lieb’? – In Lust? – im Tod? Verschmachtet? trunken? und ist der Schweizer Malerin Emilie Linder, Brentanos später Liebe, gewidmet.41 Das Weberlied ist, um ein drittes Beispiel zu nennen, als lyrische Einlage in den Tagebuch einer Ahnfrau überschriebenen Anhang zum Märchen Gockel, Hinkel und Gackeleia von 1838 eingefügt. Übrigens wird die Urheberschaft des Liedes in der Erzählung auf ähnliche Weise verschleiert wie in Godwi und in der Chronica: Sowohl die „unweise“ Klareta, die es vorträgt, als auch der Weber Jürgo kommen als Verfasser in Betracht.42 Umgekehrt könnte die Figur des Webers jedoch aus dem Lied extrapoliert sein, das wahrscheinlich älter ist und unabhängig davon entstand. Innerhalb der handschriftlichen Überlieferung bildet es jedenfalls den „Seitentrieb eines verzweigten Entwurfssystems von Texten“43. Im Vergleich mit Briefen und

|| 40 Vgl. die Erläuterungen zur Entstehungsgeschichte in FBA 2,1,411–416 und FBA 3,1,495–497. 41 Vgl. zur Entstehungsgeschichte FBA 1,390–394, ferner Schultz (2002) 440. 42 Vgl. die eingehende Erörterung der Deutungsoptionen bei Ilbrig (2017) 106–108. 43 So Boëtius (1985) 77.

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anderen Texten für Emilie Linder wird deutlich, dass etwa die Wendung von der „mutternackten“ Wahrheit eine Anspielung ist, dass „linde“ und „Kind“ mit der privaten Liebessprache assoziiert sind.44 Die Brentano-Philologie stellen derartige Textsysteme vor beträchtliche Herausforderungen, da sie schwer zu entflechten und in ihrer flirrenden Überdeterminiertheit interpretatorisch fast nicht mehr auszuschöpfen sind. Demnach arbeitete Brentano auf seine Weise ebenfalls am „unendlichen Gedicht“. Seine Texte sind gleichsam auf Wandel hin angelegt und scheinen in ihrer schweifenden, zentrifugalen Bewegung kaum ein anderes Ziel zu kennen als das, den Schreibprozess selbst zu prolongieren. Als formales Indiz für die genuine Offenheit, Generativität der Gedichte Brentanos hatte ich bei unserem hiesigen Beispiel versuchsweise das Fehlen einer Überschrift bestimmt, die Es sang vor langen Jahren ‚anschlussfähig‘ für das angrenzende Textgewebe der Chronica respektive des Briefes an Arnim machte. Es bleibt abschließend die Frage, ob denn auch der Umkehrschluss gilt. Unser Lied ist nämlich noch in einer dritten Handschrift überliefert: Es ist dies der einzige bekannte Textzeuge von der Hand des Dichters, der den Titel „Der Spinnerin Nachtlied“ trägt. Die Entstehung des Manuskripts ist ungewiss, nicht zuletzt deshalb, weil das Lied auf dem Blatt völlig isoliert steht, ohne jeden textlichen oder kommunikativen Rahmen.45 Ich werte diese Handschrift als Beleg dafür, dass Brentano in dem Gedicht keine weiteren Möglichkeiten mehr sah, mit ihm zu einem nicht näher datierbaren Zeitpunkt zu einem Ende gelangt war. Und dies gilt jetzt auch für meinen Beitrag.

|| 44 Vgl. Schultz (2002) 441–444. 45 Die Herausgeber des Gedichts in der FBA, Bernhard Gajek und Michael Grus, vermuten aufgrund der Unterschrift „Brentano“ ein Widmungsexemplar (FBA 2,1,246).

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Abb. 5: Clemens Brentano, Der Spinnerin Nachtlied, eigh. Niederschrift

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Siglen/Abkürzungen FBA GS WAA WALS

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Bildnachweise Abb. 1: ©Westermann Gruppe Abb. 2a und b: Fondation Martin Bodmer, Cologny (Genf), B-83.3. Abb. 3: Bibliothek der Stiftung Staatliches Görres-Gymnasium Koblenz, Sig. 4148 Abb. 4: Freies Deutsches Hochstift Frankfurt a.M. / Frankfurter Goethe-Museum, Hs -7535 Abb. 5: Goethe-Museum Düsseldorf / Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, Sig. 0

Barbara Vinken

Arachne: Eros fatal Ovid, Flaubert „La première qualité de l’Art et son but est l’illusion.“ Gustave Flaubert, Correspondance II, 433. „Die wichtigste Eigenschaft der Kunst und ihr Ziel ist die Illusion.“ Die Briefe an Louise Colet 810.

Ovids Arachne ist die größte unter den Weberinnen. Die letzten Höhepunkte ihres Wirkens sind in Hugos Notre-Dame de Paris und Flauberts Mme Bovary zu bewundern. Es geht um das Weben, das Schreiben von Lieben, Verführen, Vergewaltigen, Entführen und Entrücken. Das Lateinische und danach das Englische hat dafür ein Wort, das all das, Vergewaltigung, Entführung, Überwältigung, zusammenschließt: raptus, „rape“. Ovids Metamorphose handelt von dieser Übergängigkeit, aber sie tut es gegen den Anschein der lebendigen Darstellung zu einem unlebendigen, endlosen Ende. So ist die Form der Metamorphose Ovids auch eine Allegorie der Kunst, die arte sua auf ihr Ende zusteuert. Lebendig darzustellen, zum Greifen nahe vor Augen zu halten, ist das Ideal, dem die Künste nach dem trügerischen Vorbild Ovids, seine Metamorphosen vor Augen, nachstellen wie der unglückliche Aktaion, dessen Zerrissenheit für die Moderne zur zentralen Metamorphose wurde.1 Ein Teil dieses fatalen Plots, die lebhafte Sichtbarkeit, hat einer anderen, für die Moderne nicht minder charakteristischen Metamorphose, der von Arachne, den ebenso entscheidenden wie verheerenden Anhalt geliefert. In ihr ist die Illusion der Kunst, die auch das Ideal Flauberts war, Thema und Darstellungsprinzip.2 Die Metamorphose der Arachne erklärt die klassische Form der enargeia, des Lebendig-vor-Augen-Stellens, zur höchsten poetischen Tugend und durchkreuzt diese poetische Tugend gleichzeitig in ihrem Triumph. Flaubert geriet mit diesem Ideal der lebendigen Darstellung unter PornographieVerdacht: Mme Bovary erschien dem Staatsanwalt, der den Roman wegen Gefährdung der Sitten verbieten wollte, als laszives Hohelied auf den Ehebruch.3 Die lebendige Darstellung expliziten Sexes, der zu Flauberts Zeiten von Staats wegen Anstoß erregte, ist weder bei Flaubert noch bei Ovid Selbstzweck; bei beiden ist der dargestellte Sex Metapher für die herrschenden Macht- und Geschlechterverhältnisse. Arachnes Teppich, für die staatserhaltende Göttin Athena unerträglich, stellt explizit den Sex der Götter vor Augen – und für diese lebendige Explizitheit muss Arachne für alle Ewigkeit büßen. Wie Ovid, so zeigt Flaubert in den Sexualverhältnissen eine Gesellschaft im Zustand einer Perversion, in der Liebemachen || 1 Vgl. Schwindt (2016) 20–71 und 78–79. 2 Vgl. Hardie (2002). 3 Vgl. Vinken (2009) 82. https://doi.org/10.1515/9783110703221-006

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Gewalt antun ist. Alle schlachten sich gegenseitig ab und aus. Flaubert führt die Perversion der Liebe als Abschlachten vor. Er modelliert diesen, seinen zeitgenössischen Gesellschaftszustand auf den Proskriptionen der römischen Bürgerkriege: den verworfensten unter den rechtlosesten Zuständen aller Zeiten.4 Ein solcher Vorwurf, der die Gesellschaft des Bürgerkönigs Louis Philippe mit denen der römischen Bürgerkriegsproskriptionen gleichsetzt, geht die derart jeder Autorität beraubte Staatsgewalt sehr wohl an. Das ahnte der Staatsanwalt, als er in Mme Bovary mehr erkannte als ihre liberalen Verteidiger. Flauberts Madame Bovary gibt dem lebendig vor Augen gestellten Sex sein volles metaphorisches Gewicht; in dieser Hinsicht folgt Flaubert Ovid und seiner Weberin Arachne nach. Die Poetik Ovids tritt bei Flaubert aus einer Verkennung der Rezeption, deren tiefere Bedeutung sich erst erschließt, wenn man die poetologische Pointierung der Arachne-Metamorphose in ihrer Schlüsselrolle erkennt.5 Sex wird dort wie hier, bei Ovid wie bei Flaubert lebendig vor Augen gestellt, zugleich aber als Figur der Perversion des gesellschaftlichen Bandes durchsichtig: Liebemachen heißt Gewalt antun. In der Geschichte der Arachne ist das Weben nicht namenloses Kunsthandwerk, sondern eine so alte wie exemplarische Kunst, in der sich jeder Webkünstler, wie die schreibenden Autoren, einen Namen machen kann. Wie Arachnes Weben zeigt, ist sie auf eine tückische, mythisch immer schon grundverdorbene Weise auch eine sexuell explizite Kunst. Das erscheint auf den ersten Blick kontraintuitiv, weil Spinnen und Weben, Sticken und Stricken nicht nur als eine weibliche, namenlose Arbeit, sondern auch als Inbegriff weiblicher Tugendhaftigkeit gelten. Solange Frauen weben oder sticken, machen sie gerade nicht, was der Teppich der Arachne ins Werk setzt. Dafür war zu Ovids Zeiten die Geschichte der Lucretia das beste Beispiel (Liv. 1,57–60). Im Haus beschäftigt, für keinen zu hören und zu sehen, lässt sich die in Handarbeit vertiefte Hausfrau nicht verführen und verführt sie nicht. Statt sich auf Gelagen zu vergnügen, spinnt sie bis spät in die Nacht mit ihren Mägden. Aber es war die tugendhafte Unverführbarkeit, welche die verwerfliche Lust des Tarquinius anstachelte und zur Vergewaltigung trieb. Die Jungfrau Maria des Neuen Testaments, die keuscheste aller Frauen, wurde in der Folge solcher Exemplarität bis in die modernste Zeit nicht nur lesend, sondern mit Spindel und Handarbeitskörbchen abgebildet.6 Die Spindel, das Attribut weiblicher Tugend, steht der männlichen auctoritas geradewegs entgegen: keusch und demütig üben sich die Frauen nicht in hohen Künsten, sondern in namenlosem Kunsthandwerk.

|| 4 Vgl. Vinken (2009) Kapitel „Das römische Schreckbild der Proskriptionen“ 115–119. 5 Zur poetologischen Bedeutung der Arachne-Metamorphose Holzberg (2017): „Einführung“ in die Tusculum-Neuübersetzung der Metamorphosen, 7–35, hier 13. 6 Vgl. Wyss (1973) 76–113.

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Anders Arachne, die Lydierin, die aus dem Land der Handarbeiten, der klassischen Gegend einer der ältesten Künste, kommt.7 Anatolien war immer schon berühmt für seine üppigen, purpurn gefärbten, mit Goldfäden durchzogenen Textilien, gefährliche, verführerische Gewebe, in denen man sich sprichwörtlich leicht verfing. Nach Lucan trug Kleopatra, ein Muster an ‚conspicious consumption‘, solche gold-durchwirkten, purpurnen Schleier und ließ durch deren Kunst den Busen schimmern, der Caesar verführte. Ihre Gewebe kamen aus Kleinasien wie Arachne, allerdings nicht aus Anatolien, sondern aus dem entfernteren libanesischen Sidonia: candida Sidonio perlucent pectora filo (Lucan. 10,141). Arachne kommt nicht aus der Stadt der Städte, die Athenes Namen trägt, sondern aus deren uralter kolonialer Einflusssphäre in Kleinasien mit ihrem unschätzbaren mythischen Kapital.8 Dort fand ihr Weben nicht zurückgezogen unter Frauen statt, und sie webte nicht irgendeine Wolle, sondern von ihrem Vater in teures Purpur, die Herrschaftsfarbe, getauchtes Garn. Ihr Weben wurde zur öffentlichen Angelegenheit und sie machte sich durch diese Kunst einen Namen, nomen memorabile (Ov. met. 6,12), der nicht der Name ihres Mannes oder Vaters war. Ihr Ruf verdankt sich keiner hohen Geburt, sondern allein ihrer herausragenden Kunst. Diese Kunst hat sie nicht von der Patronin der Webkünste, Athene, der römischen Minerva, erlernt. Allein hat Arachne sich einen Namen gemacht. Arachnes Name, der bei Ovid wie eine archaische Deckerinnerung wirkt, hatte sich mit Windeseile durch Wälder, Felder, Weinberge in die Städte Lydiens verbreitet. Von überall her kommt man, sie und ihre Webkunst zu bewundern. Ihr Ruf dringt bis zu den Göttern, denn die in unverwüstlichem Übermut tollkühne Arachne rühmt sich, die göttliche Athene in dieser Kunst auszustechen (vgl. Ov. met. 6,7–25). Arachnes Weben wird zum öffentlichen Spektakel und macht sie zu einer berühmten Frau. Weil sie technisch unglaublich versiert ist, ist das Dargestellte unwiderstehlich. Die rhetorische Fähigkeit, die Arachne verkörpert, ist die von Flaubert geschätzte enargeia der Lebendigkeit, die sie auch selbst in höchstem Maße auszeichnet.9 Der Effekt, den Ovid in einer hinreißenden Ekphrasis hervorhebt, ist der des täuschend echten Vor-Augen-Stellens: verum taurum […] putare (Ov. met. 6,104) heißt pointiert: „Du glaubtest wirklich den Stier“ (meine Übersetzung).10 Ovid be-

|| 7 Kaletsch (1999) „Lydia“, 538–547 und Bömer (1976) 13: „Lydien gilt auch sonst als Land der Textilarbeit“. 8 Die archäologischen, prähistorischen Implikationen des Ovid-Textes sind nicht zu übersehen, ohne dass man sie ohne Weiteres auflösen könnte; ich erwähne diese Hinsichten nur, wo eine modernistische Überinterpretation der sozialen Welt des Mythos zu vermeiden ist. 9 Zur Klärung dieses viel gebrauchten Begriffs siehe Rüdiger Campe (1998), dessen Titel den Sachverhalt auf eine schlüssige Formel bringt: „Vor Augen Stellen: Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung“. 10 Die Ovid-Übersetzungen sind in dieser Form meinem Text adaptiert; sie orientieren sich am Vergleich mit verfügbaren Übersetzungen, unter denen sich für den vorliegenden Zweck der Rezep-

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schreibt die spezifische Kunst der lebendigen Illusion Arachnes als die uneinholbare Differenz im Vergleich zu dem Standard, den Athene als Göttin der Kunst einfordert. Arachnes Metamorphose handelt von einem Wettkampf zwischen Menschen und Göttern.11 Sie erzählt von aussichtsloser, weiblicher Selbstbehauptung gegenüber einer von der Göttin autorisierten männlichen Form der Autorität. Das gibt diesem Wettstreit von Anfang an eine tragische Note, die sich im fatalen Ausgang für Arachne, der Menschentochter niedriger Herkunft ohne göttliche Unterstützung, bestätigt. Befangen in ihrer durch und durch menschengemachten, technischen Versiertheit, ist Arachne nach Athenes Maßstäben unrettbarer Hybris verfallen: in sua fata ruit (Ov. met. 6,51). Hochfahrend, im Aufstand gegen die herrschende göttliche Ordnung, stürzt sie ihrem Schicksal entgegen. Es liegt aber die Fatalität dieses Ausgangs nicht etwa darin, dass Arachne den Wettkampf in ihrem Handwerk zu verlieren verdammt wäre, sondern umgekehrt ist ihre makellose Kunst der tiefere Grund ihres Niedergangs. Sie macht den Neid der für ihre Kunst zuständigen Göttin unausweichlich. Ihre Webkunst ist der der Athene zumindest ebenbürtig, wenn nicht überlegen. Non illud Pallas, non illud carpere Livor/possit opus (Ov. met. 6,129–130). An der lebendigen Darstellung ihrer makellosen Lustgeschichten ist kein Fehler zu finden, ja in deren lebendiger enargeia liegt eine unerhörte Überlegenheit. Athene, außer sich vor Wut, zerfetzt Arachnes Gewebe mit ihrem Weberschiff. Verzweifelt darüber, dass ihr wunderbares Werk zerstört ist, versucht Arachne sich an Ort und Stelle zu erhängen. Den in der Antike heroisch konnotierten Selbstmord verhindert Athena; das Erhängen verwandelt sie – aus Mitleid – in lebenslanges Hängen: laqueoque animosa ligavit/guttura (Ov. met. 6,134f.); das kann Ovid nur ironisch gemeint haben. Brutal bespritzt die Göttin Arachne mit Gift, verwandelt sie die wunderschöne Frau in eine hässliche Spinne und verdammt sie und ihre Nachkommen dazu, fortan – ein sinisterer Wortwitz – lebend zu hängen. Spinnen muss Arachne fortan mit all ihren Nachfahren schwarze Gespinste, die zum Tod anderer gereichen, Netze, in denen Lebende zu Tode kommen. Die von einer Menschenmutter geborene Arachne begehrt gegen die vatergeborene, göttliche Pallas Athene auf, die in einem einzigartigen Sinne fille à papa ist: ohne besamende Befleckung aus dem Haupt des Göttervaters Jupiter entsprungene virago (Ov. met. 6,130). Sie ist eine „Männin“, sagt Ovid, eine virago, in der mit der Anwesenheit des Männlichen (vir) die Abwesenheit alles Weiblichen in Athene verdeutlich ist. Athene hasst alles Weibliche, und also nicht zuletzt die in Arachnes

|| tionsanalyse die von Reinhart Suchier (1889) vorgenommene Revision der Version von Johann Heinrich Voß (1797) bewährt hat. Alle Übersetzungen im Folgenden sind Modifikationen dieser auch im Projekt Gutenberg nach Buch und Vers zugänglichen deutschen Version. In der Zählung folge ich der Teubner-Ausgabe von Anderson (1977). 11 Vgl. Rosati (2009) 243.

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Kunst bekundete Schwäche, der Lust zu erliegen. Vermutlich (das läge Ovid nicht fern) tut sie das auch aus einem Rest von Neid, denn so gut wie niemandem konnte es in den Sinn kommen, Athene, die von der Schwäche weiblichen Charmes ausgenommenen ist, zu verführen. Immerhin verdankt Athene ihrem Hass auf alles Weibliche (so eine eher spätmoderne Vermutung) das Durchstoßen der Glasdecke: Unumstritten ist Athenes Platz – zweite Göttergeneration – unter den Unsterblichen. Die berühmteste Stadt und Wiege aller Kultur trägt ihren Namen bis an die Grenzen der Welt. Den Sieg über Poseidon, der Athen ihren statt seinen Namen gibt, hält ihre eigene Tapisserie in Erinnerung; sie zeigt, wie ihr Name, der göttlichen Vatertochter statt der wilden archaischen Meeresgottheit Name, zum Namen der Stadt Athen wurde. Von Kopf bis Fuß phallisch aufgerüstet – „sich selbst rüstete sie mit einem Schild aus, mit einem scharfen Speer, einem Helm und einem Brustpanzer“ (Ov. met. 6,78–79) – rächt sich Athene an den Frauen, die den Charme der Weiblichkeit, die Schwäche des Unterliegens haben. Selbstverständlich gibt sie ihre entscheidende Stimme mit Apollon gegen Clytemnestra ab, gegen die Erinnyen und das Mutterrecht. Das Wappen der unnahbaren Jungfräulichkeit bringt es auf den Punkt: Auf dem Schild der reinen Jungfrau prangt apotropäisch die Medusa, die – eine berückend schöne Frau – von Poseidon in Gestalt eines Hengstes in einem Tempel der Athene verführt oder vergewaltigt wurde. Selbstverständlich denkt Athene nicht einen Moment daran, den göttlichen Verführer zur Rede zu stellen; sie gibt wie selbstverständlich die Schuld der menschlichen Medusa. Die so gewalttätige wie rachsüchtige Athene entstellt die schöne Medusa so grauenhaft, dass alle Männer bei ihrem Anblick zu Stein erstarren. Schließlich lässt Athene die von Poseidon Schwangere von Perseus, einem sterblichen Sohn Jupiters und Halbbruder Athenes, mittels eines Tricks enthaupten. Ihr Schild trägt das Haupt des unglückseligen, einst unwiderstehlich schönen Menschenkindes – Rache der von Weiblichkeit Unbefleckten. Moralisch wird der Wettkampf zwischen Arachne und Athene, einer Sterblichen und einer Göttlichen, gerne als gerechte Bestrafung der Hybris gesehen.12 Bestraft werde der anmaßende Übermut der Menschenfrau, es mit der Göttin aufnehmen, sich in entfesseltem Ehrgeiz mit den Unsterblichen messen zu wollen. Aber erzählt Ovid mit den Mitteln der Metamorphose nicht, genauer besehen, eine ganz andere Geschichte? Ovids Kunst bringt an Arachnes Tapisserie in einer berühmten Ekphrasis heraus, dass sie um vieles lebendiger ist als die klassizistisch erstarrte, die olympischen Götter verherrlichende, hierarchisch moralisierende, indessen ätzende Drohungen ausstoßende, in Verwandlungen der aufbegehrenden Menschen gipfelnde, im wahrsten Sinne des Wortes also tot-öde Kunst der Athene. Denn

|| 12 Vgl. Melanie Möller, die diese stereotype Rezeption zusammenfasst, Ovid. 100 Seiten (Stuttgart: Reclam 2016), 62.

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was genau macht Pallas Athene so wütend an der lebendigen Kunst der Konkurrentin aus der kleinasiatischen Kolonie? Was erhoffte sie sich von der Tapisserie der Arachne? Was hätte Arachne nach Athenas Willen weben sollen? Athene verkündet gleich zu Anfang: laudare parum est, laudemur et ipsae/numina nec sperni sine poena nostra sinamus (Ov. met. 6,3f.). Der Ausspruch „Loben ist wenig, selbst muss ich gelobt sein. Und schwer büße die Schuld, wer Hohn spricht unserer Gottheit“ meint offenbar mehr als die ordinäre Hybris gegenüber den Göttern. Sie meint damit im Besonderen sich selbst. Patricia Johnson vermutet, Athene habe den panathenäischen Peplos im Sinne gehabt, den die Mädchen von Athen jedes Jahr zum Lob der Athene Polias webten: eine Tapisserie, die im Kult der Göttin von deren glorreichen Taten kündete.13 Einen solchen jährlichen Lobpreis hätte Athene von Arachne, der vollkommensten der Weberinnen, eingefordert, hätte Arachne aber mit ihrer (zu ergänzen: in der älteren kleinasiatischen Kultur befangenen) Kunst unter Verkennung der politischen Verhältnisse und der beherrschenden Rolle Athens darin verweigert. Wie dem im Einzelnen auch sei: Die Überlegenheit der technischen WebErrungenschaft der Arachne gegenüber dem Standard der Stadt-Göttin Athene hat eine politische Tönung, die in der rhetorischen enargeia eine denunzierende Tendenz zeigt. Diese lässt Ovids Leistung deutlicher hervortreten. Denn Ovid erzählt nicht einfach nur neu, was die griechischen Mythen enthalten. Er rückt die in diesen überlieferte tiefe Ambivalenz göttlicher Gewalt und Liebe entschieden auf die Gewaltseite: Die Liebe der Götter ist Gewalt und es ist diese Gewalt, die Ovid in Arachnes enargeia der Liebesszenen herausvergrößert. Arachne überlässt das Selbstlob der Göttin. Nicht zum Ruhm von deren Namen, sondern zum Ruhme ihres eigenen Namens webt sie. Die Götter, deren göttliche Gesichter Athene dargestellt – Iouis est regalis imago (Ov. met. 6,74) – tauchen auf Arachnes Tapisserie als von tierischer Lust zu Tierleibern Getriebene auf – und das überwältigend lebensecht. Die Götter wandeln in trügerischer Absicht ihre Gestalt, um die von ihnen begehrten Frauen zu verführen. Die Kunst Arachnes stellt der Göttin Athene diese göttlichen corpora delicti vor Augen. Der unverführbaren Athene hält Arachne in nicht zu überbietender Drastik, fast atemlos, einundzwanzig gewaltbestimmte Vereinigungs-Szenen der Götter mit Menschenfrauen, die offensichtlich keine viragines sind und dem Trug der Götter ungerüstet erliegen, vor. Es ist nicht leicht, in diesem beeindruckenden Katalog die pornographischen Vokabeln zu vermeiden, die naheliegen, weil diese Szenen an sexueller Explizitheit nichts offenlassen. Schon die antike christliche Exegese, aus deren Sicht die caelestia crimina, die Ovid bei Arachne darstellt (Ov. met. 6,131), verdammenswert sein müssen, hatte Ovid immer wieder zur Illustration der Verworfenheit der antiken Götter herangezogen. Patricia Johnson hat den provokativen Gehalt von Arachnes || 13 Vgl. Johnson (2008) 88–90.

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Kunst historisch folgerichtig als eine Art von pornographischem Realismus beschrieben und, wenn sie von „defining feature par excellence of the pornographic, distinguishing its explicit presentation of sexual acts from the merely titillating“ spricht,14 zweifellos die Rezeption des Richters von Mme Bovary getroffen. Ob dies schon die Sittenstrenge der Athene mitbetreffen kann, die kaum schon die der Kirchenväter war, ist die Frage, und genauer, ob und inwieweit die sexuell ausgespielte Gewalt der etablierten Götter der Mythen im lebendigen Nachvollzug durch die Kunst bei Ovid blasphemisch bloßgestellt oder politisch denunziert würde, oder was sonst die spezifisch metamorphotische Einschlägigkeit der poetischen enargeia visà-vis dem Mythos sein könnte und also – noch einen Schritt weiter – für Ovids poetische Praxis vis-à-vis dem staatlich geförderten Mythos der approbierten Götter bedeuten könnte. Angeführt wird die Reihe der Sexszenen selbstredend von Jupiter. Die Königstochter Europa entführt der in einen Stier verwandelte Vater Athenes, der ewige Zeus: „Lydiens Tochter wirkt [= webt] dagegen die von des Stieres Trugbild getäuschte Europa. Du glaubtest wirklich den Stier und wirklich das Meer“ (Ov. met. 6, 103–104), entschuldigt der Erzähler fast, selbst wie überwältigt von der Kunst, mit der seine Erzählung hier wettstreitet. Athenes Vater, der inzwischen römische Jupiter, der auf seiner Tochter Tapisserie dem Göttergericht vorsitzt, bricht beim Begatten der Sterblichen, meistens in Tiergestalt, alle Rekorde: Neun der Gewalttaten entfallen auf ihn, auf dem Fuße gefolgt von sechsen Neptuns, des römischen Poseidon; Apollon kommt auf vier, Bacchus und Saturn beschließen die Serie, deutlich abgeschlagen, mit je einer Schwängerung. Trug und Sex bringt Ovid mit dem zweideutigen Gebrauch des luserit auf den Punkt, einem Wort, das bei ihm „trügen“ mit „vögeln“ engführt, und das eine als das andere entlarvt. Das spielerische Moment, das gemeinhin vorherrscht und in der englischen Übersetzung als „sport“ weiterspielt, unterliegt in Arachne dem Trug, wie in Shakespeares sprichwörtlich gewordenem pun von „lie“ als ‚Lüge‘ und ‚liegen‘. Die Kunst Arachnes, die Ovids Kunst vor Augen führt, als wäre es ihre, ist trügerisch, auf Trug gebaut wie die gewaltsamen Ent- und Verführungen: täuschend folgen- und erfolgreich. Man meint mit eigenen Augen zu sehen, wie tierisch es die Götter mit menschlichen Frauen treiben. Der Text macht unmissverständlich klar, dass die lange Reihe der göttlichen Beischlafe Lug und Trug, den vielen Verstellungskünsten und Verwandlungsarten in andere Leiber verdankt ist. „Schanden, Verbrechen des Himmels“ – caelestia crimina (Ov. met. 6,131) nennt der Text die Vögel-Geschichten der Arachne und kennzeichnet sie in der Verführung der Europa als Majestätsbeleidigungen, denn die Erhabenheit der Götter, die Athenes Darstellung des zu Gericht sitzenden Zeus bezeugt, geht mit der Lust der Gewalt, einer Gewalt, die der Lust sich bedient,

|| 14 Johnson (2008) 85.

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„nicht gut zusammen“ – non bene conveniunt nec in una sede morantur/maiestas et amor (Ov. met. 2,846f.). Arachne zeigt die Opfer des göttlichen Trugs: Eine auf Trug gebaute Vergewaltigung jagt die nächste. Die halbwüchsige, von Jupiter vergewaltigt-verführte Proserpina und die blutjunge, von Poseidon verführte Medusa sind von Pallas Athene, Schutzgöttin der Unberührbarkeit, nicht gegen die Götter geschützt worden. Deshalb stelle Arachne der Pallas Athene, der Unverführbaren und Beschützerin der Jungfrauen, die Hypokrisie ihrer Existenz vor Augen: „she is a champion of virgins and virginity in an Olympian hierarchy headed up by rapists.“15 Richtig. Gewiss, offenbar und zweifelsfrei ist das ein Ergebnis von Ovids Mythenkritik. Indessen gewinnt diese Kritik als moralische Pointe erst ein mehr als nur zu aktualisierendes (in Ovids Rom zudem spezifisches) Gewicht, wenn man eine kosmische Weiterung hinzunimmt, die sich unübersehbar in Erscheinungen wie dem Regenbogen ankündigt. Denn der Trug, die Kunst – der Beischlaf, das Weben – schaffen kunstvoll Leben. Beides, der durch die Verwandlung der Leiber erfolgte Beischlaf wie die Verwandlung der Fäden, zeugt Lebendiges. Athene und Arachne stellen ihre Tapisserien ins Zeichen des in allen Farben strahlenden, schillernden Regenbogens und damit in einen kosmischen Kontext der schönen und kreativen, fruchtbaren Versöhnung von Himmel und Erde. In diesem Kosmos stehen auch Ovids Metamorphosen selbst als eine Geschichte von Weltschöpfung. Sie erklären die Entstehung der Welt: Flora und Fauna, Blumen wie Narziss und Lorbeer, Korallen, Spinnen und Hirsche. So lässt Ovid Arachne ihren Teppich mit der Ranke einer sexuell expliziten Allegorie umwinden: Efeu durchdringt die Blumen wie das Männliche das Weibliche. In der Darstellung der Arachne kommentiert der Text das dargestellte Bild mit dem Wort luserit, in dem nun Trug, Beischlaf und Befruchtung enggeführt werden und als Ernst, der im Spiel der mächtigen Göttin durchschlägt, zu semantischer Durchdringung kommen. Die gezeigten Beischlafe zwischen Himmel und Erde, Göttern und Menschen, werden fruchtbar, die Verführten bekommen Kinder. Das dem gewalttätigen Trug lustbeladene Unterliegen, Erliegen, Überwältigtsein, Übermanntheit, ja selbst die darin so schmerzlich verkannte Hingabefähigkeit ist eine Bedingung von Schöpfung und alles andere als selbstverständlich. Die weibliche Schwäche, schmerzlich wie der Tod nach dem Sündenfall der Genesis, ist Bedingung des mythisch illuminierten Kosmos. Diese lustvolle Kraft der Schwäche hat die „Männin“ Athene, unverführbar wie sie ist, nicht. Unberührbar bleibt sie unfruchtbar, steril. Athena ist gegen Verführungen von Kopf bis Fuß gepanzert, total aufgerüstet. Neidisch ist sie auf Arachne, weil sie lustvoll Verwandlungen zur Lust darstellt, Kunst in Leben verwandelt. Sie selbst kann dem Land nur ihren Namen || 15 Johnson (2008) 87.

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aufdrücken, den Namen politischer Normen, aber kein Leben zeugen und eben so wenig, trügerisch vollkommen, lebendige Kunst erschaffen. Athena verleugnet die Wahrheit ihrer doppelten Impotenz, die Arachne ihr nackt vor Augen hält – statt des Lobpreises die glatte Blasphemie, Majestätsbeleidigung politischer Ordnung. Wie Athene ihre der Lust erliegenden Geschlechtsgenossinnen bestraft, bestraft sie Arachne. Das ist umso nachhaltiger, als ihre Strafe die Ächtung der lebensvollen Kunst der Arachne einschließt und das darin verwirklichte Kunstprinzip der enargeia als pornographische Blasphemie von der generativen Funktion ins graue Netz des Todes wendet. Könnte man also sagen, die Moral von der Geschicht’ sei, dass Trug und Täuschung zur Versöhnung von Himmel und Erde, von Göttern und Menschen, zur Erschaffung einer kosmischen Ordnung, ein zwangläufiger Nebeneffekt sind, über die die Natur ihren Lauf nimmt? Für eine heiter Lacan’sche Moral der transvestitischen Versöhnung aller Gegensätze ist die Metamorphose der Arachne zu tragisch und zu gewalttätig. Das Fatum, das Arachne in ihr – anachronistisch gesprochen nachgerade babylonisches – Aufbegehren gegen die Göttin stürzt, lässt keine Versöhnung zu. Der Wettkampf von Athene und Arachne steht im Kontext der Gigantomachie, des Aufstandes der gigantischen Kräfte des Chaos, den das Götter-Regime des Zeus niederringt. In der römischen Dichtung wird dieser Kampf als mythische Parallele zu den Bürgerkriegen interpretiert, aus denen das Imperium des Augustus hervorgeht;16 im Lobpreis von Göttern und Herrschern, denen der Sieg über die Aufständischen gelingt, wird die schöne kosmische Ordnung gegen das monströse Chaos retabliert. Anders die Emathierinnen, von denen das 5. Buch der Metamorphosen berichtet; sie schlagen sich in einer satirisch anmutenden Verkehrung der Gigantomachie auf die Seite der Aufständischen und machen die olympischen Götter, statt sie zu rühmen, lächerlich – den Sieg der Götter sparen sie stillschweigend aus. Einen Aufstand der Menschen führt auch Arachne, wenn sie um Ruhm und Lobpreis ihres Namens kämpft. Sie will Athene nicht verherrlichen, sondern in den Schatten stellen. Das Gotteslästerliche, das den Aufstand charakterisiert, bringt Ovid im Erröten der Arachne auf den Punkt: Ihr flammendes Erröten zeigt ihre Wut, keine schamhafte Unschuld an. Vor Wut entbrannt ist Arachne in ihrem Widerstand gegen die olympische Göttin. Alle, die in den Metamorphosen dem Untergang geweiht sind, erröten. Der kriegerisch Gewalttätige dieses nur scheinbar friedlichen Wettkampfes zwischen Arachne und Athene wird durch die waffenstarrende Athene unterstrichen, die das göttliche Weberschiffchen – utque Cytoriaco radium de monte tenebat (Ov. met. 6,132) – als Stichwaffe benutzt: Sie zerfetzt damit nicht nur das Gewebe, sondern auch die Haut der Arachne: Drei- oder viermal, hebt der Text hervor, rammt sie es der Arachne in die Stirn. || 16 Johnson (2008) 57–59.

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Das Fazit, das Ovid gegen die von den Göttern des Olymps garantierte kosmische Ordnung stellte, wäre dann folgendes: Die Götter stehen nicht in einem wohlgeordneten Kosmos über den Menschen, sondern sind im fortdrohenden Chaos der Metamorphosen nichts anderes als eine gleichgestellte Kriegspartei. Nicht die Menschen erheben sich gegen die Götter, die Götter liegen im permanenten Aufstand gegen sich selbst und gegen ihre göttliche Natur – Trieb gegen Majestät – und in diesem Götterkonflikt, der schon in Homers Darstellung der vorherrschende Eindruck war, stehen sie gegen die Menschen. Für sie ist Liebemachen die letzte ratio des Krieges gegen die Menschen. Arachnes Teppich stellt in perspektivischer Beschränkung der Menschen nur die Metamorphosen göttlicher Lust aus und nicht, was die Leser Ovids ergänzen: All diese Metamorphosen bleiben für die Götter folgenlos. Für die Verführten bringen sie mit einer zweifelhaften Lust nicht nur das zweifelhafte Glück der Mutterschaft von Halbgöttern mit sich – sie haben fatale Folgen. Die Betrogenen, getäuscht Verführten, müssen ihr Erliegen mit Entstellung und Tod bezahlen wie Medusa auf Athenes Schild. Arachnes Gewebe ist gotteslästerlich, weil es vor Augen führt, dass der GötterSex keine Liebe, sondern Krieg ist – ein Krieg, den die Götter zusammen mit der „Männin“ Athene in trügerisch verwandelten Leibern in phallischer Männlichkeit gegen die Menschen-Frauen und Kinder führen. Vor Begehren blind, tauschen diese Götter ihre göttliche Natur gegen eine tierische Natur aus, erweisen ihre göttliche als tierische Natur. Die Zerstörung der von ihnen Begehrten nehmen sie dabei lächelnd in Kauf, denn Krieg und nicht Liebe herrscht zwischen den Göttern und Menschen. Die Metamorphose, die Verwandlung in andere Leiber dient den göttlichen LustKriegen. Ohne das explizit sagen zu müssen, führt der Teppich der Arachne diese Sachlage vor Augen. Die Betrachter (wir) kennen das furchtbare Schicksal, das die auf dem Teppich Verführten ereilt. Arachnes Verlebendigung des Tödlichen schreit zu einem Himmel, der sich ihrer nur durch Metamorphosen weiterer Abtötung zu erwehren weiß. Die Metamorphosen des Ovid führen die Liebe der Götter als lebendige Gewalt vor Augen. Sie sind nicht zum Leben, sondern zum Tod. Die Waffen schwingende Athene bringt den Klartext der von Arachne gewebten Metamorphosen ans Licht. Sie kommt nicht im Zeichen der Lust, sondern im Zeichen des Krieges. Die Geschichte der Arachne bringt auf den immer selben ovidschen – und flaubertschen – Punkt, dass Sex ein Mittel des Krieges ist. Insofern ent-täuschen Ovids Metamorphosen den Trug der Metamorphosen der Götter. Nicht begehren gotteslästerliche Menschen gegen eine wohlgeordnete olympische Welt auf: Die Götter selbst führen den Krieg, gegeneinander und gegen die Menschen. Mehr noch als die Menschen sind sie Kriegspartei, stiften sie das Chaos, aus dem sich die Menschen nicht zu retten wissen. Das Leben, die Schöpfung, die hierarchisch wohlgeordnete Welt, deren Schmuck die Götter an der Spitze der Hierarchie sind, verdankt sich keiner liebenden Verbindung von Himmel und Erde, sondern gewalttätiger Lebenszeugung: Das zeigt der Teppich der Arachne. Nicht Kosmos, sondern Chaos herrscht. Dem Ur-

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sprung des Lebens, dem Schöpfungsakt, ist die Vernichtung derer, die Leben geben, eingeschrieben. Eine besondere römische Pointe dieser Metamorphose liegt nun darin, dass Ovid gegen den Bürgerkrieg, in dem Mann gegen Mann, Bruder gegen Bruder, eben Bürger gegen Bürger kämpften, eine verworfene griechische Stasis ins Feld führen würde. Im Gegensatz zu der Ideologie vom politisch bereinigten Bürgerkrieg beherrschen verkehrte Blutsbande das Feld der Stasis.17 Auf dieses griechische Feld führt uns der Teppich der Arachne, der, so hat man vermutet, in seiner Detailtreue einer hellenistischen Ästhetik folgt. Der Teppich der Athene, der römischen Minerva, weise dagegen einen hierarchisch-klassischen, didaktisch römischen Stil auf.18 Zu dieser ‚Vergriechung‘ des römisch-Bereinigten passt es, dass die dargestellten sexuellen Praktiken einer Pervertierung von Kosmos in Chaos entsprechen. Der Krieg der Götter gegen die Menschen findet seine Signatur im Inzest, chaos absolu! So findet der Katalog der Arachne seinen Höhepunkt in einer weniger bekannten Metamorphose, die „a rather obscure orphic story“ zeigt,19 den Beischlafs Jupiters mit seiner Tochter Proserpina in der Gestalt einer gefleckten Schlange – varius Deoida serpens (Ov. met. 6,114) – bevor Proserpina zu Pluto (abermals ein Inzest) in die Unterwelt verstoßen wird. Gegen Ovids aufständischen Pessimismus steht die romantisch-christliche Behauptung einer rettenden, erfüllenden, kosmischen Liebe: Vom tragischen Fatum der Ovidischen Antike habe diese Liebesreligion erlöst. Victor Hugo (natürlich!) bringt diesen christlich-romantischen Standpunkt in Notre-Dame de Paris auf den Punkt: „l’amour, cette source de toute vertu chez l’homme“ (Notre-Dame 352). Dieser Roman ist die Version der Arachnegeschichte, auf die Flauberts Mme Bovary sich direkt bezieht.20 Selbst sinnliche Blindheit wird bei Hugo in hingebungsvoller Liebe heilbringend, so dass aus Hugos moderner Perspektive das antike Skandalon des Gewebes der Arachne darin liegt, dass der Eros nicht vom Tode erlöst, sondern ausnahmslos im Zeichen trügerischer Gewalt über seine Opfer kommt. Lust ist denen, die ihr erliegen, fatal. Sie fallen der Liebe zum Opfer. Das eigene Schreiben in den Topos des Wettkampfes von Arachne und Athene zu kleiden und in der Metapher des Webens das Schreiben eines Textes zu beschreiben, hat eine lange poetologische Tradition. Das vor Hugo prominenteste Beispiel war Richardsons Clarissa, wo die sublime conversio des Körpers der Clarissa in die Buchstaben von Richardsons Buch gegen die zur Lust verführenden Metamorphosen der Leiber Arachnes gestellt ist. Dieses athenische, von aller Weiblichkeit reine Schreiben Clarissas behauptet sich bei Richardson im Kampf gegen das lügnerische,

|| 17 Loraux (1997); Agamben (2015). 18 Vgl. Johnson (2008) 88. 19 Johnson (2008) 87. 20 Zollinger (2007).

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hurenhafte Lieben und Schreiben des Verführers Lovelace im Fahrwasser Arachnes (sein Name ist auch Metapher einer textilen Technik).21 Edi Zollinger hat gezeigt, dass Mme Bovary die Arachne-Analogie, die Hugos Notre-Dame de Paris strukturiert, weiterschreibt. Madame Bovary ist eine Gegenrede zu Notre-Dame de Paris. Aber eine Gegenrede in einem anderen Sinne, als Zollinger vermutet: Flaubert webt nicht als eine neue Arachne Metamorphosen zur Lust und sticht durch deren Lebendigkeit keine göttliche Minerva, deren Rolle Flaubert Hugo zuweist, aus. Vielmehr stellt Flaubert gegen Hugos erlösenden Liebesoptimismus, der die Fatalität des Eros zu einer Sache der Vergangenheit, im Fall von Notre-Dame des finsteren Mittelalters macht, die aktuelle Allgegenwart des antiken Fatums, die Allgegenwart des von Hugo abgewehrten Babel, die grundsätzliche Unerlöstheit des Sexes. Flaubert zeigt vielmehr, und vielleicht drastischer als Ovid, die Verwickeltheit der Götter in die ‚babylonischen‘ Zustände des Krieges aller gegen alle, Augustinus’ civitas terrena, die Ovid in diesen Hinsichten weiterführt. In diesem Krieg, einem kosmischen Bürgerkrieg des universalen Sündenfalls, ist das Versprechen einer romantischen, heilbringenden Liebe im Gegenteil das effektivste Mittel zum Ruin. Die Hugo’sche Vorstellung, dass die Liebe die Quelle aller menschlichen Tugend sei – natürlich, wahr, schön, gut – spielt dem Fatum in die Hände. Das Verbreiten dieser romantischen Liebesreligion bei Hugo, Lamartine, Bernardin de St. Pierre ist für Flaubert ein fiktives, trügerisches, verderbliches, fatales Lügengewebe – ein tödliches Spinnennetz. Hugos Vorstellung bestand, verkürzt, in der historischen Hoffnung, dass die gewalttätige tyrannisch-phallizistische Perversion der Liebe, wie sie von Kirche und König praktiziert wird, eine Sache der Vergangenheit sei (Notre-Dame de Paris, Untertitel: 1482). Arachne und Fatalität waren einmal. Im Jahr 1848 kann die Liebesperversion des Ancien Régime von denen, die guten Willens sind und bis zwei zählen können, in ein Reich der Liebe umgewandelt werden: conversio von perversio, schon im Zahlenspiel. Klerus und König gelten für Hugo in ihrem grausamen Hochmut, in ihrer perversen Lust als Statthalter eines Arachne-haften Babels. In ihren fatalen Intrigen-Netzen, in denen sie wie verfluchte Spinnen hängen, bringen sie die, deren Liebe rettend werden könnte, zu Tode: Der Erzdiakon Frollo lässt Esmeralda, die zwar törichte, aber doch bezaubernd rein-liebende Jungfrau, am Galgen hängen, weil sie ihm nicht zu Willen ist. Der Esmeralda liebende Glöckner von Notre-Dame beobachtet den Erzdiakon, wie er die Hinrichtung der Esmeralda beobachtet – und stößt ihn hasserfüllt ins Leere. Seinem tödlichen Schicksal zustürzend, in sua fata ruit – kommt Frollo mit dem Gewebe seines Rockes am Dach von Notre-Dame zu hängen: eine neue Arachne. Ein neues Reich der Liebe, so Hugo, muss gegen diese babylonische Stadt der ver-kehrten Liebe errichtet werden. Die Liebe, die Natur, das Leben muss von der in || 21 Vinken (1991) 118–119.

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diesen Institutionen praktizierten Verkehrung von Liebe in tödlichen Hass, von der Fatalität der Antike befreit, erlöst werden. Kurzformel für diese pervertierte Liebe ist Arachne. An sich, natürlich, in einem Kosmos, der nicht auf dem Kopf steht – zeigt Hugo – ist der Eros zum Leben und nicht zum Tod. Für die französische Romantik erfüllt sich diese rettende Liebe gegen das Phallizistisch-Kriegerische in keusch hingebungsvoller, marianischer Mütterlichkeit. Die verheerten Opfer der Liebe bringen ein heilbringendes Liebesopfer. Diese hingebungsvolle Mütterlichkeit, würde ich meinen, ist die christlich-romantische Gegenfigur nicht nur zur phallizistischen Männlichkeit der Götter und Herrschenden, sondern auch zu der phallischen, gerüsteten „Männin“ Athene. Wie sieht Flaubert das? In Emma Rouaults Mädchenzimmer in Les Bertaux hängt ein Bild der Göttin Minerva an der Wand, darunter in gotischen Buchstaben „à mon papa“.22 Im Laufe des Romans wird Emma sich nicht als Minerva (Bovary 73/20), sondern als deren unterlegene Gegenspielerin Arachne entpuppen. Flaubert wird dem Gewebe der Arachne – den Metamorphosen zur Lust – den Trug austreiben, dass Lust belebt, und Emma Bovary die Wahrheit der Lust, ihre tödliche Bestimmung, eintragen. Das in Ovids Metamorphose für Arachne vorgezeichnete Schicksal wird sich an Emma Bovary und ihrer Tochter buchstäblich erfüllen. Die erste Frau von Charles Bovary, die eifersüchtige Héloise, erkennt Emma sogleich als „une brodeuse“, die im Kloster „faire de la tapisserie“ gelernt hat/„die Sticken beherrschte“. (Bovary 23/75). Sie schreibt ihr deshalb ein immenses Verführungspotential zu.23 Die Initiation in Texte und Textilien, beides trügerische, verderbliche Lügengewebe, verdankt Mlle Rouault ihrer Klostererziehung. Ein durch die Revolution ruiniertes, adliges Fräulein, das beim Ausbessern der Wäsche hilft, schmuggelt unter der Wäsche die Liebesromane ein, deren romantische Kitschvorstellungen von der ritterlichen, der großen, der reinen, der erlösenden Liebe Emma in ihrem Leben wahrmachen will. Die kleine Rouault stellt gleich zu Anfang und später noch einmal die von Arachne als erste gewebte Metamorphose der Verwandlung zur Lust nach: Sie wird Charles Bovary, der den Ochsen (bovis, bovary) im Namen trägt, zum Stier machen. Sie gibt ihm in einer ausgesprochen anzüglichen Szene seinen verlegten „nerf de bœuf“, in dem die Spannung des männlichen Gliedes anklingt, wieder. Dass Rodolphe, ihr erster Liebhaber, schon als Stier zu Emma kommt und damit noch einmal die erste gewebte Metamorphose ins Bild gerückt wird, hat Flaubert erwogen, dann aber aus dem

|| 22 Ich zitiere Mme Bovary nach der kommentierten Ausgabe von Neefs (1999), ergänzt durch die bisweilen modifizierte deutsche Übersetzung von Techtmeier (1995), Seitenzahlen unter Abkürzung des Titels Bovary in dieser Reihenfolge am Ende. 23 Solche Lüste sind im Hause Homais’ unbekannt und deswegen scheint mir das von Neefs (1999) in seinem Kommentar als Druckfehler ausgewiesene „border“ der Athalie, der Tochter des fatalen Apothekers, die richtige Version an dieser Stelle, während ihr „broder“ („besticken“), das Neefs vorschlägt, schlecht vorstellbar ist.

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publizierten Text verbannt: „Sa chemise entr’ouverte découvrait son cou gras. Son pantalon à pieds, de flanelle rousse, lui dessinait la musculature des cuisses, et toute la rancune d’Emma s’évanouissait à l’enchantement de la force et de la virilité´“/„Sein offenes Hemd ließ seinen fetten Nacken sehen. Seine mit Gehsteigen versehene Hose, aus ochsenfarbenem Flanell, zeichnete die Muskeln seiner Schenkel nach, und Emmas Groll verflog unter der Bezauberung von Kraft und Männlichkeit“ („Repentirs“, Bovary 539, meine Übersetzung, BV). Wie die Schenkelmuskeln in den ochsenfarbenen Flanellhosen zeichnet sich der mythologische Subtext ab. Gleich zu Anfang sticht Emma sich beim Nähen in den Finger und lutscht das Blut ab. Die Tödlichkeit der Erotik trifft sich in dieser Geste. Wie die Buchstaben, für die sie zum durchgängigen quid pro quo werden, sind die Stoffe, Textilien und Texte fatal: Emma wird durch sie ruiniert, sie wird sich in ihnen verfangen, so wie sich ihr Hochzeitskleid in Dornen verfängt, so wie sich ihr Kleid auf dem Weg zum Ehebruch verfängt. In die Stoffe dieser Welt bleibt sie verwickelt; darin eingewickelt kommt sie zu Tode. Der Weg der Leidenschaften wird ihr Leidensweg. Die Reisen, auf die sie ihre Stiere als eine Europa entführen, werden nicht zur Begründung eines neuen Erdteils führen; makellos, ist man versucht zu sagen, führt Flauberts Roman in der Figur Emmas den Ruin Europas vor Augen. Auf dem Rückweg vom Ball auf dem Schloss Vaubyessard findet Charles ein Zigarrenetui aus grüner Seide. Seine Frau glaubt, es gehöre dem Vicomte, ihrem ersten potentiellen Liebhaber, mit dem sie zwar nicht schläft, sondern stattdessen Walzer tanzt – ein in dieser Zeit höchst erotischer Tanz. Emma entspinnt daraus eine Liebesgeschichte des Spinnens. Für Emma wird dies Stoff, Droge ihrer Leidenschaft. C’était peut-être un cadeau de sa maîtresse. On avait brodé cela sur quelque métier de palissandre, meuble mignon que l’on cachait à tous les yeux, qui avait occupé bien des heures et où s’étaient penchées les boucles molles de la travailleuse pensive. Un souffle d’amour avait passé parmi les mailles du canevas ; chaque coup d’aiguille avait fixé là une espérance ou un souvenir, et tous ces fils de soie entrelacés n’étaient que la continuité de la même passion silencieuse. (Bovary 127) Es war vielleicht ein Geschenk seiner Geliebten. Man hatte es auf einem Palisanderrahmen bestickt, ein zärtliches Andenken, das man vor aller Augen verbarg, das viele Stunden beansprucht hatte und über das sich die weichen Locken der gedankenvollen Arbeiterin geneigt hatten. Ein Hauch Liebe war durch das Gitter des Stramins gezogen, jeder Nadelstich hatte dort eine Hoffnung oder eine Erinnerung festgeheftet, und all diese verschlungenen Seidenfäden waren nur die ununterbrochene Fortdauer derselben stummen Leidenschaft. (Übers. Techtmeier, 65)

An den Vicomte, der an allen Stationen ihres Leidens in den entscheidenden Momenten auftauchen wird, bleibt sie über die Stoffe gebunden. Das Grün des Seidenetuis kehrt noch im grünen Samt wieder, den Charles über ihren Sarg breiten lässt. Nach dem Zigarrenetui findet sie während ihrer Affäre mit Léon, ihrem zwei-

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ten Liebhaber, auf einer Art Reise nach Cythère ein blutrotes Seidenband, das sie wieder mit dem Vicomte verbindet. Es wird zum Vorzeichen ihrer Passion. Wenn Emma von ihren Liebesreisen träumt, auf die sie wie Europa vom Stier in ein anderes Land entführt werden will, finden sich dort Gewebe: keine Spinnen-, sondern Fischernetze. So im Land ihrer Träume, in das Rodolphe sie entführen soll: „Et puis ils arrivaient, un soir, dans un village de pêcheurs, où des filets bruns séchaient au vent, le long de la falaise et des cabanes. C’est là qu’ils s’arrêteraient pour vivre“/„Und eines Abends erreichten sie dann ein Fischerdorf, wo überall an Klippen und Hütten braune Netze im Wind trockneten. Dort blieben sie, um ihr gemeinsames Leben zu führen“ (Bovary 307/217). Beim lune de miel mit Léon kommen die Netze nicht nur in Emmas Phantasie vor, sondern sind Realität geworden: „Ils se plaçaient dans la salle basse d’un cabaret, qui avait à sa porte des filets noirs suspendus“/„Sie setzten sich in das niedrige Gastzimmer eines Wirtshauses, vor dessen Tür schwarze Netze aufgehängt waren“ (Bovary 386/283). In diesen Netzen hat Emma sich verfangen, darin wird sie andere fangen. Ihr ganzes Leben wird sie in ein Lügengewebe verwandeln, das ihre Ehebrüche verschleiern soll: „À partir de ce moment, son existence en fut plus qu’un assemblage de mensonges, où elle enveloppait son amour comme dans des voiles, pour le cacher“/„Von diesem Augenblick an war ihr Dasein nur noch eine Anhäufung von Lügen, in die sie ihre Liebe gleichsam wie in einen Schleier hüllte, um sie zu verbergen“ (Bovary 404/298). Die fatal verheerende Unerlöstheit des Eros demonstriert Flaubert an der Verkehrung der Figur, in der die Romantik, und allen voran Hugo in Notre-Dame de Paris, die verklärende Liebe illustriert hatte: hingebungsvolle Mütterlichkeit. Gegen Hugos erlösende Stickerin, die Sachette, Mutter der Esmeralda, deren Sticken den Umschlag von der Hurenliebe zur Mutterliebe markiert, stellt Flaubert Emma Bovary, deren Sticken umgekehrt die Abkehr von der Mutterliebe hin zur Hurenliebe markiert. Für ihre Hochzeit näht sich Emma Rouault ihre Aussteuer selbst. Aber für das Kind, das sie erwartet, tut sie keinen Stich: [...] elle renonça au trousseau dans un accès d’amertume, et le commanda d’un seul coup à une ouvrière du village, sans rien choisir ni discuter. Elle ne s’amusa donc pas à ces préparatifs où la tendresse des mères se met en appétit, et son affection, dès l’origine, en fut peut-être atténuée de quelque chose. (Bovary 171) [...] sie verzichtete in einem Anfall von Verbitterung auf die Ausstattung und bestellte alles zusammen bei einer Handarbeiterin im Dorf, ohne etwas auszusuchen oder zu besprechen. Sie hatte also keine Freude an den Vorbereitungen, bei denen die Zärtlichkeit der Mütter geweckt wird, und ihre Zuneigung wurde dadurch vielleicht schon von Anfang an gemindert. (Übers. Techtmeier, 99)

Explizit stellt Flaubert im Medium der Handarbeit Erotik gegen Mütterlichkeit. Stoffe bearbeitet Mme Bovary nur im Zeichen des Eros. Das Fehlen mütterlicher Zärt-

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lichkeit, das sie zu einer Antimutter par excellence macht, kommt in der Rolle zum Ausdruck, in welcher der soulier – das französische Äquivalent zu unserem Nikolausstiefel – in der Todesszene die extreme Leere zwischen der Emma und ihrer kleinen Tochter markiert. Zu Recht hat der Psychoanalytiker Jean Bellemin-Noël festgehalten, „la chère Emma n’est pas plus homme que femme, elle est avant toute chose une non-mère“/„die verehrte Emma ist nicht mehr Mann als Frau, sie ist vor allem Nicht-Mutter“.24 Durch die Geburt ihrer Tochter wird die Sachette Victor Hugos, die Mutter der Heldin Esmeralda in Notre-Dame de Paris, aus einer Hure zu einer Märtyrerin der Mutterliebe. Den dramatischen Umschlag vom leichten Mädchen zur bis in den Tod tief liebenden Mutter verdeutlicht Hugo, wie es sich gehört, durch eine Änderung des Namens: Aus der Paquette la Chantefleurie wird die Sachette. Bei Mme Bovary kommt es dagegen in prononcierter Verkehrung der Hugo’schen Figur zu einem Umschlag in die andere Richtung. Es ist das Mutterwerden der Bovary, das sie vom Wege abbringt: „madame Tuvache, la femme du maire, déclara devant sa servante que madame Bovary se compromettait.“/„Madame Tuvache, die Frau des Bürgermeisters, erklärte ihrem Dienstmädchen, daß ‚Madame Bovary sich kompromittierte‘“ (Bovary 176/103). Denn noch in der Zeit, in der Mütter im 19. Jahrhundert, bevor sie von der Geburt gereinigt waren, als tabu galten, ist Mme Bovary auf dem Weg zur Amme schon am Arm Léons coram publico auf dem Weg in den Ehebruch.25 Dass dagegen Hugos Sachette wie sprichwörtlich für die Leidenschaft der Mutterliebe steht, parodiert Mme Bovary unfreiwillig in ihrer Paraderolle als Mutter: „Elle déclarait adorer les enfants ; c’était sa consolation, sa joie, sa folie, et elle accompagnait ses caresses d’expansions lyriques, qui, à d’autres qu’à des Yonvillais, eussent rappelé la Sachette de Notre-Dame de Paris“/„Sie erklärte, daß sie Kinder vergöttere; es sei ihr Trost, ihre Freude, ihre Marotte, und sie begleitete ihre Liebkosungen mit lyrischen Ergüssen, die andere Leute als die Einwohner von Yonville an die Büßernonne im ‚Glöckner von Notre-Dame‘ erinnert hätten“ (Bovary 194/119). Ihre neue Liebe, die jetzt einzig und allein ihrer Tochter gilt, bringt die Sachette stickend zum Ausdruck: Einer der reizenden Babyschuhe, die sie für ihre Esmeralda gestickt hat, bleibt ihr als einziges Andenken an das von Zigeunern gestohlene Kind. Wie eine Reliquie bewahrt sie es auf, während Esmeralda der andere Schuh von einer alten Zigeunerin um den Hals gehängt wird. Der von eigener Hand gestickte Schuh, der in Hugos Roman zum erlösenden Erkennungszeichen zwischen Mutter und || 24 Bellemin-Noël (1997) 53, meine Übersetzung, BV. 25 Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein wurden Frauen 40 Tage nach der Geburt (wie Maria zwischen dem 25. Dezember und Mariä Lichtmess, dem 2. Februar) einem Reinigungsritual, der purificatio, unterzogen, das offensichtlich an die jüdische Sitte anschließt. Nach dem biblischen Gesetz des Moses gilt die Frau nach der Geburt eines Knaben 40 Tage (sieben plus 33 Tage [Lev 12,2–4 EU]) und nach der Geburt eines Mädchens 80 Tage (14 plus 66 Tage [Lev 12,5 EU]) als unrein (Lev 12,1–8 EU).

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Tochter wird, wird im Tod der Bovary zum Trennungszeichen endgültiger Entfremdung und verfehlter Erlösung. Die zu ihrer sterbenden Mutter getragene kleine Berthe sucht das Erkennungszeichen, das bei Hugo für den Umschlag von sinnlicher Männerliebe in verklärende Mutterliebe steht und bei Flaubert den Verlust der Mutterliebe in der Männerliebe bezeugt. Die Amme, Kupplerin, Wegbereiterin der Leidenschaften ihrer Mutter und ständige Begleiterin auf dem Weg ihrer Passion, hat ihn vielleicht weggenommen?, vermutet die arme Berthe mit einem Hintersinn, der ihr verborgen bleibt. Flaubert verkehrt die Erkennungs- in eine Verkennungsszene. Berthe erkennt ihre Mutter nicht: „Oh ! Comme tu as de grands yeux, maman ! Comme tu es pâle ! Comme tu sues ! ... Sa mère la regardait. J’ai peur ! dit la petite en se reculant“/„‚Oh, was für große Augen du hast, Mama! Wie blaß du bist! Wie du schwitzt!‘ Ihre Mutter schaute sie an. ‚Ich habe Angst!‘ sagte die Kleine und wich zurück“ (Bovary 463/351). Diese Mutter hat sich so tief in die Stofflichkeit der Welt verstrickt und so sehr darin versponnen, dass sie wie die Fliege im Netz darin hängen geblieben und davon gefesselt worden ist. Statt zur heilbringend liebenden Mutter ist sie zur lasziven Hure geworden. Flaubert illustriert diese Hugo verkehrende conversio wiederum an einem Schuh, der kein ‚soulier‘ mehr ist, sondern ein orientalischer Pantoffel. Denn ganz entsprechend hatte Emma die gondelartige Wiege, die sie sich für ihre Tochter versagen musste, als Stätte ihres Ehebruches im Hotel de Boulogne gefunden: ein Bett in der Form einer Gondel. Die Vorhänge aus rosa Seide und die bestickten Mützchen, die sie für die Wiege nähen wollte (Bovary 171/99), wandern in Flauberts erotischen Fetisch par excellence, Pantöffelchen, die aus „satin rose“ [„rosa Atlas“] besetzt mit Schwanenfedern sind (Bovary 396/292). Kokett balanciert Emma diese ihre Laune beim Liebestreffen mit Léon auf dem Zeh: „une fantaisie qu’elle avait eue“/„eine Laune, die sie gehabt hatte“ (Bovary 396/292). Während sie beim Kauf der Kindersachen auf ihre Wünsche verzichtet, macht sie auf Kosten von Berthe alle ihre Phantasien wahr. Berthe, die ihre Mutter nicht wiedererkennt, bringt die wahre Natur Emmas im Zitat von Grimms Märchen, dem Märchen von Rotkäppchen und dem bösen Wolf, heraus. Wie Rotkäppchen, das statt seiner Großmutter den Wolf im Bett findet, fragt Berthe ihre Mutter: „Warum hast du so große Augen?“ Dem Leser gibt Berthe ihre Mutter damit in ihrer wölfischen Natur zu erkennen. Diese wölfische Natur Emmas hatte sich bereits im Gespräch über die Wölfe beim ersten Eintreffen von Charles auf dem Bauernhof angekündigt (Bovary 73). Der loup ist im Französischen durch das aus dem Lateinischen kommende lupanar für Bordell untermalt – ein von Flaubert verwendetes Wort. Die mit der Wölfin assoziierte Emma hat nicht wie die Sachette ihre Passionen auf das Kind gerichtet, sondern ihr Kind ohne mit der Wimper zu zucken ihren Passionen geopfert. Sie hat nicht bloß um der Stoffe, und besonders um ihres Stoffs, ihrer Droge der Liebesgeschichten willen, die Zukunft ihrer Tochter ruiniert. Sie hat auch beim Kopf ihrer unschuldigen Tochter auf die eigene, längst verlorene Unschuld ihrem zweiten Geliebten Léon geschworen, dass es zwischen ihr

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und Rodolphe zu nichts gekommen sei: „protestant sur la tête de sa fille qu’il ne s’était rien passé“/„beteuerte beim Haupte ihrer Tochter, daß ‚nichts passiert‘ sei“ (Bovary 402/296). Ist Emma ihrer Tochter ein Wolf, so verfängt sie sich als Wolf im saut-de-loup, als sie Rodolphes Haus verlässt, in dem sie sich auf dem Weg zum Tod wie ein gefangener Wolf die Nägel bricht (Bovary 456). Die Wölfe, die man auf dem Bauernhof in Bertaux fürchtet und die Rodolphe durch sein Wolfsgitter abhalten möchte, tragen weniger der Realität der Wölfe in der Normandie Rechnung, als der wölfischen Natur Emmas. Latent ist die Maria, in deren Farbe, Blau, Emma zu Anfang erscheint, schon immer die Hure, als die sie sich nach und nach entpuppt und am Ende im Lied des blinden Bettlers selbst erkennt.26 Emma Rouault nimmt, Mme Bovary und Mutter geworden, eine Amme mit dem Namen Mère Rolet. Beide Frauen, Rouault und Rolet, spinnen, nähen und sticken unausgesetzt von Anfang bis Ende. Beide tragen sie das Spinnrad, rouet, im Namen. Die Stoffe, die Emma Rouault stickt und spinnt, sind Liebesträume; sie beleben nur scheinbar und sind wie die der Arachne tatsächlich tödliche Truggebilde. Die Amme ist die Kupplerin, die ihren Weg ins Verderben in einem ganz wörtlichen Sinne ebnet. Auf dem Weg zur Amme bändelt Madame Bovary mit Léon an; die Amme wird Übermittlerin ihrer Liebesbriefe. Die letzten Wochen vor ihrem Tod verbringt Emma nicht mit Mann und Kind, und auch nicht mit ihrem Geliebten, sondern zwischen Amme und Lheureux, den Agenten ihres Ruins, die sie beide mit der tödlichen Droge Eros – mit Stoffen und mit Buchstaben – versorgen. Daran hat sie einen nicht stillbaren Bedarf: „Mais il en était de ses lectures comme de ses tapisseries, qui, toutes commencées encombraient son armoire ; elle les prenait, les quittait, passait à d’autres“/„Aber mit ihrer Lektüre war es wie mit ihren Stickereien, die, allesamt angefangen, den Schrank verstopften; sie nahm sie sich vor, legte sie weg, ging zu anderen über“ (Bovary 218/139). Ihr Tod wird von der spinnenden Amme begleitet: „La mère Rolet […] prit son rouet et se mit à filer du lin.“/„Mutter Rollet […] nahm ihr Spinnrad und begann, Flachs zu spinnen“ (Bovary 449/338). Im Dachstuhl der Amme sieht Emma eine Spinne „et une longue araignée qui marchait au-dessus de sa tête dans la fente de la poutrelle“/„und eine lange Spinne, die über ihrem Kopf in der Ritze des kleinen Balkens entlanglief“ (Bovary 449/338). Im Tod sind Emmas Augen wie von Spinnenweben überzogen: „et ses yeux commençaient à disparaître dans une pâleur visqueuse qui ressemblait à une toile mince, comme si des araignées avaient filé dessus“/„und ihre Augen verschwammen in glasiger Blässe, die einem hauchdünnen Gespinst ähnelte, so als hätten Spinnen sie eingewebt“ (Bovary 477/363). In sua fata ruit – das Fazit Ovids hat sich an der Nachkommenschaft der Emma Bovary erfüllt, einer modernen Arachne, als die Homais ihre Leiche markiert, indem er sie wie Minerva die Arachne in die Schläfen sticht (Bovary 482/367). Wie Arachne || 26 Der Kommentar von Neefs (1999) 73, hält es dagegen ganz mit den normannischen Wölfen.

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werden Emmas Nachkommen dem Fluch der Athene unterworfen sein: ‚vive quidem, pende tamen, inproba‘ dixit,/lexque eadem poenae, ne sis secura futuri,/dicta tuo generi serisque nepotibus esto!‘– „So lebe zwar, doch hänge, du Schlechte! Und dass du sicher der Zukunft nicht seist, soll derselben Strafe Gesetz auch gelten deinem Geschlecht bis hin zu den spätesten Enkeln“ (Ov. met. 6,136–138). So wird der lungenkranken Berthe die Arbeit in der Baumwollfabrik zum Verhängnis werden. Das Spinnen der Lust, zeigt Flaubert, ist tödlich. Die durchgängige Austauschbarkeit von Spinnen und Texten, von Fäden und Buchstaben, zeigt die Fatalität lustvoller Gewebe. Die Metapher des Seelentodes, die Madame Bovary in diesem Spinnen, in diesen Texten erfährt, wird in ihrem Tod als Vergiftung durch den Buchstaben buchstäblich, und die Tödlichkeit des Spinnens wird im Tod der Baumwollspinnerin Berthe wahr. Flaubert webt also nicht wie Arachne lebendige Verwandlungen zur Lust, sondern legt den Ovid’schen Subtext der Arachne – Sex ist Krieg – bloß. Gegen Hugo zeigt Flaubert, dass Arachne nicht überwunden ist, sondern mitten unter uns. Gegen Hugo erzählt Flaubert nicht von erlösender Liebe, von Liebe als Erlösung, sondern von der Tödlichkeit des Eros immer und überall und besonders im Hier und Jetzt. Anders als Hugo, aber wie die hypokrite Minerva, lässt Flaubert die Liebhaber ungestraft davonkommen. Aber indem er sie ungeschoren lässt, richtet Flaubert eine Gesellschaft, in der, um es mit Augustinus zu sagen, Ehebrecher den Stein auf Ehebrecherinnen werfen.27 Das fiktive, romantisch christliche Lügengewebe von der Rettung und Erfüllung durch Liebe befördert wie kein anderes den schicksalhaften Sturz ins Verderben. Der sentimentalen Komödie trägt Flaubert den antiken, fatalen Eros wieder ein; er ist nicht überwunden, nicht mit dem finsteren Mittelalter zurückgelassen. Die Fatalität des Sexes, die das Gewebe der Arachne ungesagt lässt, buchstabiert Flaubert aus. Dass Minerva nicht für die Wiederaufrichtung kosmischer Ordnung gegen rebellierende Sterbliche steht, sondern treibende Kriegspartei ist, stellt der Roman deutlich vor Augen. Flauberts Minerva ist Homais; in seiner Apotheke findet Emma das tödliche Gift; wie Athene Arachne sticht Homais Emma in die Schläfe. Homais, der Vertreter der aufgeklärten, wissenschaftlichen Modernität und tugendhafter Republikaner, ist wie kein anderer, zeigt Flaubert, mit Haut und Haaren in den fatalen Bürgerkrieg, der im Hier und Jetzt seiner Gegenwart tobt, verwickelt. Wie kein anderer profitiert er vom Ruin der Bovarys und behauptet als unumschränkter Sieger, ausgezeichnet mit dem Ehrenkreuz, den Platz. Gegen Hugo zeigt Flaubert, dass Arachne nicht von gestern, sondern von heute ist. Das romantischchristliche Versprechen heilender, stillender, erlösender Liebe verstrickt nur immer weiter in die verheerende Stofflichkeit dieser Welt.

|| 27 Augustinus, De adulterinis coniugiis liber II, VII, 6, 388. (Die ehebrecherischen Verbindungen, 49)

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Flaubert schreibt die Latenz der Ovidischen Metamorphose aus – keine kosmische Ordnung, sondern chaotische Ruhmsucht und Profitgier aller. Der Plot ist deshalb nicht der, den man bei Ovid auf den ersten Blick vermuten könnte, dass gegen die aufbegehrenden Menschen die Götter die kosmische Ordnung wiederherstellten. Im Gegenteil. Bei Flaubert wird keine aus den Fugen geratene Welt restauriert, kein babylonischer Aufstand niedergeschlagen, keine gottgewollte Hierarchie retabliert. Die ruhmessüchtige Minerva-Homais, die liebesunfähigen, auf ihre sexuellen Vorteile bedachten Liebhaber Rodolphe und Léon in der Rolle der verkleideten Götter schlachten die Arachne-Emma nicht nur ab, sondern aus. Hypokrisie, Profitgier und Ruhmsucht siegen im Frankreich Flauberts wie im Rom Ovids. Den Triumph der Minerva/Athene entlarvt Flaubert als Triumph des bei Ovid aus der Latenz tretenden babylonischen, aktuellen Chaos‘.

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Judith Kasper

Mallarmés favnetisches Spiel mit Pan und Syrinx 1 Rezeption als Verdopplung ins Unentscheidbare Stéphane Mallarmés Après-midi d’un faune ist in mehreren Überarbeitungsstufen von 1865 bis 1876 entstanden. Zunächst als Monologue d’un faune konzipiert, gelangte das Stück aufgrund mangelnder Handlung nie zur Aufführung. Auch die komplette Überarbeitung zehn Jahre später traf auf unverständige Ablehnung der Redaktion der renommierten literarischen Anthologie Parnasse contemporain, in der Mallarmé eine Veröffentlichung angestrebt hatte. Ein Jahr darauf, 1876, ließ er das Stück dann in einer Luxusausgabe in 195 Exemplaren, illustriert mit zwei Holzschnitten von Edouard Manet, drucken.1 Der durchschlagende Erfolg, vor allem für die moderne Musik und das moderne Ballett, ist bekannt. Mallarmé hat den Après-midi d’un faune nicht ohne Ironie antikisierend als Ekloge bezeichnet, als „entr’acte“ konzipiert und überdies „un rien, cent vers“2 genannt. Mehr denn als ein Zwischenspiel auf dem Theater (wie es damals Mode war) berührt das Stück im Verschwinden das Zwischen selbst, als Spalt, in dem im Modus des Theatralen etwas anderes als Theater aufscheint: etwas, das nicht auf eine Handlung, einen Akt zurückzuführen ist. Die Negierung des Aktes bei aller Bezogenheit auf den Akt betrifft auch den Akt der Rezeption des antiken Stoffs, wie er durch Mallarmé hier vollzogen wird. Seine Ekloge beruht deutlich auf der Ovid’schen Erzählung von Pan und Syrinx (vgl. Ov. met. 1,689–747), aber das Stück verfährt mit der Vorlage doch ganz anders als rezipierend-anverwandelnd: nämlich, wie zu zeigen sein wird, die sprachlichen Einheiten aufspreizend. Die Negierung des Aktes, die das Stück performiert, betrifft – die Vorstellung des Aufspreizens deutet es schon an – auch die Sexualität, um die es sowohl in Ovids Sage als auch bei Mallarmé geht. In den Metamorphosen stellt Pan, ein geiler Satyr oder Faun, der keuschen Nymphe Syrinx nach. Diese kann sich vor dem sexuellen Übergriff gerade noch retten, indem sie sich in ein Schilfrohr verwandelt. Als der Faun entdeckt, dass das Schilfrohr seinem Seufzen antwortet, schnitzt er aus diesem eine Flöte, die er Syrinx nennt und mit der er sich fortan selbst unterhält. In der Melodie der Flöte, so die naheliegende Deutung der Erzählung, wird die für immer verlorene Nymphe wiedergewonnen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass die || 1 Vgl. zu dieser Sachinformation Köhler (2006) 144, für weitere Details der Editionsgeschichte siehe Ouvry-Vial (2016) 315–336. 2 Mallarmé (1995) 80. https://doi.org/10.1515/9783110703221-007

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Erzählung von Pan und Syrinx keine mythische Vorlage kennt, also von Ovid selbst stammt, innerhalb der Metamorphosen aber die Wiederaufnahme eines anderen Mythos darstellt, nämlich des Mythos von Daphne und Apoll (vgl. Ov. met. 1,452– 567), der kurz zuvor in den Metamorphosen erzählt wird.3 Die verwandelnde Wiederholung führt bei Ovid zu einer Erzählung in der Erzählung, mithin zu einer mise en abyme des Prinzips der Verwandlung selbst. Beiden Mythen wohnt neben dem Motiv der Verwandlung als Fluchtstrategie vor drohender sexueller Vergewaltigung ein metonymisches Prinzip inne: Daphne verwandelt sich in einen Lorbeerbaum, aus dessen Zweigen Apolls Attribut des Lorbeerkranzes geflochten wird. Syrinx verwandelt sich in ein Schilfrohr und der ihr nachstellende Pan schnitzt sich daraus – inspiriert vom Klang des Windes im Schilf – die Flöte, die den Namen der Nymphe trägt. Die strukturellen Ähnlichkeiten sind verblüffend und innerhalb der Metamorphosen einmalig. Ein wichtiger Unterschied ist, dass die wiederholte Variante von dem flötenden Merkur erzählt wird, und zwar mit einem bestimmten Ziel: den Wächter Argus einzuschläfern und zu töten, um die in eine Kuh verwandelte Io, die schöne Geliebte des Jupiters, wieder befreien zu können (vgl. Ov. met. 1,568–688; 1,713–750). Die einschläfernde Wirkung der Sage hält in gewisser Weise bis Mallarmés Dichtung an: Letztere besteht hauptsächlich aus Träumen und Vorstellungen des trunkenen und begehrenden Fauns, geträumt in schläfriger Stimmung an einem heißen Nachmittag. Ein entscheidender Zug in Mallarmés hermetischem Gebilde ist, dass hier Wirklichkeit und Traum, die reale und vom Faun nur imaginierte Begegnung nicht mehr auseinander gehalten werden können; dass mithin die Frage, ob eine Liebesbegegnung stattgefunden hat oder ob die bei Mallarmé verdoppelten Nymphen dem Faun entgleiten, in der von ihm vorgestellten Wirklichkeit ebenso wie in seiner Phantasie, nicht entschieden werden kann. Auch wenn dieses Stück noch so etwas wie Züge von Handlung und Erzählung erkennen lässt, was in den späten Dichtungen Mallarmés gar nicht mehr der Fall ist, liegt die eigentliche Thematik, wie Hans-Jost Frey zugespitzt formuliert hat, in der Unentscheidbarkeit selbst.4 Auch hundert lesende Augen, so könnte man in Anlehnung an Argus, den ersten Rezipienten der Ovid’schen Sage, mutmaßen, sollen diesen Text nicht entschlüsseln können; auch sie werden sich nach und nach schließen, damit das Lesen einem Weiterträumen unter Einfluss sonorer Betörung nachgibt. Doch solange die Argus-Augen der Kritiker noch über dem Text wachen, wird über die Bedeutung der sprachlich-psychischen Verrätselung des Textes gestritten.

|| 3 Syrinx und Pan bilden Bömer zufolge das Motiv einer hellenistischen Sage „bloß literarischen Ursprungs“. Diese geht auf Ovid selbst zurück, ist mithin losgelöster vom Mythenstoff und als Wiederholung von Daphne und Apoll selbst schon bei Ovid auf einer anderen Stufe der Stoffverwandlung (vgl. Bömer [1969] 177). 4 Frey (1986) 30.

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Eine Hauptlinie der Forschung will in der die Semantik verhüllenden Musikalität des Gedichts eine Kanalisierung der körperlichen Erregung des Fauns erkennen und deutet damit auf eine ästhetische Sublimierung.5 Dieser These hat in jüngerer Zeit Niklas Bender klar widersprochen, indem er die gierige und phallozentrische Seite des Fauns herausgearbeitet hat, sein wildes und ungezügeltes Begehren, das in den Bildern, die das Stück aufscheinen lässt, zum Ausdruck kommt. Bender stellt mit dieser Lektüre, soweit ich sehe, eher eine Ausnahme dar.6 Allerdings entscheidet er mit dieser Umakzentuierung wiederum etwas, was in den Bereich des SprachlichUnentscheidbaren fällt, in dem – zumindest in psychoanalytischer Hinsicht – das Sexuelle aufscheinen kann, das sich ansonsten ontologisch entzieht.7 Wenn es etwas Sexuelles in der Sprache gibt, dann nicht in den Bedeutungen und erotischen Bildern, die durch sie geweckt werden, sondern in den ständigen Verschiebungen und Spannungsverhältnissen, die zwischen dem Phonetischen, Semantischen und Buchstäblich-Graphischen der Sprache ausgetragen werden.8

2 Poetik der Ambiguität und Hybridisierung der Geschlechter Schauen wir uns also Mallarmés Faune unter diesem Gesichtspunkt genauer an. In der schläfrig-träumerischen Atmosphäre, mit der das Stück beginnt, kehrt Ovids Erzählung traumentstellt zurück. Was in der „antiken Nacht“ („nuit ancienne“, V. 4)9 passiert ist, bleibt in der Schwebe. Ob eine sexuelle Begegnung zwischen Pan und Syrinx, vielleicht sogar eine Vergewaltigung der Nymphe stattgefunden hat oder nicht, bleibt unklar, ebenso wie in den frühen Falldarstellungen der Hysterikerinnen durch Breuer und Freud unentschieden bleibt, ob es sich bei deren Erinnerungen um eine wirkliche Begebenheit sexueller Verführung handelt oder um die

|| 5 So etwa Bünde (1994) 51–87. 6 Bender (2010) 73–98. 7 Siehe zum psychoanalytischen Begriff der Sexualität unter anderem die jüngst erschienene Monographie von Zupančič (2017), die mit Freud und Lacan den ontologischen Status der Sexualität aus psychoanalytischer Sicht radikal befragt. 8 Schöne Analysen von einzelnen Versen des Stücks finden sich diesbezüglich bei Bünde (1994): „Der Text dementiert in einem fortwährenden Widerspruch von Semantik und Phonetik seine eigene Analyse und hinterläßt am Ende ein heiteres Nichts“ (59). 9 Im Folgenden wird der Text nach seiner Erstausgabe zitiert, wie sie wiederabgedruckt ist in Stéphane Mallarmé, Oeuvres complètes, hg. von Bertrand Marchal, 2 Bände, Paris 1998–2003, Band 1, 163–166.

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Ausprägung ihrer Phantasie, der Freud schließlich den Status einer psychischen Realität zugesteht.10 Ein Reflex dieser prinzipiellen Ununterscheidbarkeit ist die Verdopplung der Ovid’schen Nymphe bei Mallarmé in ein Nymphenpaar, von dem allerdings unklar bleibt, ob es sich um zwei unterschiedliche oder um zwei miteinander unvereinbare Seiten einer Nymphen handelt. Jedenfalls wird die eine Nymphe als „chaste“, die andere als „chaude“ bezeichnet (V. 11 und 13). Im Plural wird vom „Zorn der Jungfraun“11 („courroux des vierges“, V. 75) gesprochen. Das „Jungfräuliche“ („vierge“) ist zuvor aber zunächst einmal auf den Faun selbst bezogen worden (V. 40), so dass er selbst unter diesen Sammelbegriff fallen könnte (dazu genauer weiter unten). Das Verhältnis zwischen Faun und Nymphe(n) ist gewissermaßen gespalten und gedoppelt in Lüsternheit und Keuschheit, in Geilheit und Jungfräulichkeit.12 Keine Lektüre wird je mehr in der Lage sein zu entscheiden, ob der Faun alles nur geträumt hat und sich selbstverliebt und verzweifelt über seine Bilder beugt; darüber hinaus aber bleibt auch unentscheidbar, wer der Faun, wer die Nymphe gewesen ist; ob die Nymphe keusch oder immer schon Nymphomanin gewesen ist; ob der Faun sich der Nymphe(n) bemächtigt hat oder nicht vielleicht sogar umgekehrt. Ganz direkt beginnt das Stück mit Nymphen, die zum Greifen nahe scheinen und die das sprechende Ich verewigen will: L’APRES-MIDI D’VN FAVNE LE FAVNE Ces nymphes, je les veux perpétuer Si clair Leur incarnat léger, qu’il voltige dans l’air Assoupi de sommeils touffus. Aimai-je un rêve? (V. 1–3)

So die ersten Verse von Mallarmés Faune. Es lohnt, beim Titel und den Eingangsversen zu verweilen, zu fragen, wie sie zu lesen und zu hören sind. Hilfreich ist dabei, einige Grundlinien von Mallarmés Poetik in Erinnerung zu rufen, die bekanntlich ein radikal anderes Verhältnis zur Sprache eröffnen, ein Verständnis von Sprache, das in seine Dichtung eingeht und einen entscheidenden Schlüssel für einen interpretatorischen Zugang zu diesen hermetischen Gebilden darstellt. „Ce n’est point

|| 10 Freud/Breuer (1895) 75–312. 11 So übersetzt Richard von Schaukal und erzeugt auf diese Weise den Reim „Faun“ / „Jungfraun“ (vgl. Mallarmé [1947], zit. nach http://gutenberg.spiegel.de/buch/gedichte-8032/20, letzter Zugriff 28.1.2019). 12 Zum Prinzip der Verdopplung bzw. Zweiheit im Zusammenhang mit der Thematik der Unentscheidbarkeit vgl. Frey (1986) 30f.

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avec des idées qu’on fait des vers, c’est avec des mots“ – so soll Valéry zufolge Mallarmé sich einmal gegenüber Degas geäußert haben.13 Diese berühmte Aussage fasst prägnant zusammen, was Mallarmé poetisch umtreibt, und greift zuletzt noch eben diese „Idee“ von Dichtung selbst an. Doch was sind Wörter ohne Ideen, wenn auch „Idee“ nur ein Wort ist? Wie können Wörter klingen und in ihrer Materialität erscheinen, ohne dass sie als Klangträger sogleich Bedeutungen evozieren? Mallarmés Dichtung ist in gewisser Hinsicht darauf angelegt, die spontane Bedeutungsbildung und damit die hermeneutische Voreinstellung des Lesers zu unterbinden. Seine wichtigsten Strategien, die maßgeblich zur Hermetik seiner Texte beitragen, sind – hier etwas vereinfacht zusammengefasst – folgende: 1. Das Ausloten des äquivoken Raumes, der sich in der Spannung zwischen Laut, Buchstabe und Typographie, die in jedem gedruckten Wort am Werk ist, eröffnet. 2. Das Aufbrechen der Syntax, indem der Vers radikal gegen die Satzgrammatik gewendet wird. Eine Folge davon ist, dass Subjekt-Objekt-Bezüge, possessive Zugehörigkeiten von Dingen und Eigenschaften verunklart werden, so dass die Grenzen zwischen Wörtern, Subjekten und auch Geschlechtern verschwimmen. 3. Was in einem Text als „Idee“ versammelt sein sollte, wird bei Mallarmé verräumlicht und in diesem anderen sich hierdurch eröffnenden sprachlichen Raum zerstreut. Die beiden von Mallarmé geprägten Begriffe „dissémination“ und „espacement“, die nicht zuletzt auch entscheidend in Derridas Philosophie eingegangen sind, drücken etwas von dieser Sprach- und Dichtungserfahrung aus.14 Wörter sind nicht mehr in sich gesammelt (im Sinne der wörtlichen Bedeutung des λόγος), sie bringen keine stabilen Bedeutungen mehr hervor, sondern etwas an ihnen verräumlicht sich: Das heißt zum Beispiel, dass die Wortgrenzen selbst unsicher werden und das lineare Fortschreiten einer Rede zugunsten von Faltungen verabschiedet wird. Besonders einprägsam ist dies in Mallarmés sogenannten Fächergedichten, bei denen der Fächer die materielle Grundlage bietet, die auf- und zugefaltet werden kann; am radikalsten durchgeführt ist die Verräumlichung, weit über die Fächergedichte hinausgehend, in seinem letzten großen Gedicht Un coup de dés n’abolira jamais le hasard. Wenn wir L’après-midi d’un faune unter diesen Voraussetzungen lesen, dann fängt der Text an zu schillern und andere Klänge und Bedeutungen, die eine vermeintliche Bedeutung verunsichern, werden hörbar. Dann klingt schon im Titel das Phonetische selbst an und wir könnten, ohne den Klang zu ändern, ihn umschreiben in „la près mi-dit d’un phone“, was ungefähr bedeuten würde: „das in etwa Halbge-

|| 13 Valéry (1960) 676. 14 Vgl. dazu insbesondere Derrida (1972), darin vor allem das Kapitel „La double séance“, das eine lange Auseinandersetzung mit Mallarmés Dichtung darstellt.

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sagte eines Lautes“. Kehren wir nun wieder zu den schon zitierten ersten Versen des Stücks zurück. Ces nymphes, je les veux perpétuer. Si clair (V.1)

Der erste Satz des Stücks bildet nur einen unvollständigen Vers aus, gleichsam einen mi-vers, dessen anderes Stück in die nächste Zeile abgerückt ist. Die Zählung wird hier sogleich verunsichert: zählt man den Vers (1) oder die Zeilen (2)? Ein Ich spricht hier einen vermeintlich klaren Wunsch aus, nämlich dass es „diese Nymphen“ (die Deixis suggeriert eine räumliche und zeitliche Nähe) erhalten beziehungsweise verewigen will. Dieses Ich ist faunisch, insofern es wie Ovids Pan das perpetuum carmen fortsetzt, aber es ist, wie sich einige Verse später herausstellen wird, nicht unbedingt mit dem Faun identisch, der dann, als solcher benannt, dem Ich gegenüber zu stehen kommt. Doch klingen in Mallarmés „perpétuer“ neben dem perpetuum carmen auch die Tötung (tuer) und der Penetrationswunsch (pénétrer) andauernd nach. Si clair, Leur incarnat léger, qu’il voltige dans l’air Assoupi de sommeils touffus. (V. 1–3)

„Diese Nymphen“ erscheinen in ihrer leichten Rosafarbigkeit, die die traumgeschwängerte Luft durchschwebt. Sie sind also zunächst in ihrer ideellen und luftigen Erscheinung aufgerufen: Gebilde der Luft, die, durch die Flöte geblasen, Klänge sind, die Bilder evozieren und sich dabei selbst thematisieren: Denn die hier noch nicht explizit genannte Flöte aus Schilfrohr (frz: roseau) ist schon präsent, insofern der Signifikant rose im „incarnat“ aufgerufen ist und die zweite Silbe des Verbes „vol-tige“ (meine Hervorhebung) wörtlich den „Stengel“ nennt, der das Schilfrohr seiner Form nach ist. Doch im Wort „incarnat“ ist auch das Fleisch (lat. carnis) aufgerufen, das diese Farbe hat und dabei sowohl die Nymphen in ihrer Körperlichkeit vergegenwärtigt als auch das männliche Geschlechtsteil, das als Stengel mit der zum Schilfrohr gewordenen Nymphe eigenartig koinzidiert. Das „leichte Inkarnat“ ist also bedeutungsschwer, überdeterminiert, wie die Luft, die von „dichtem Schlaf betäubt ist“ („l’air/Assoupi de sommeils touffus“, V. 2–3). Verewigt werden sollen die Nymphen, und ein Verwirrspiel der Geschlechter nimmt seinen Lauf. In diese Atmosphäre fällt dann die Frage: „Aimai-je un rêve?“ (V. 3), die selbst wiederum einen in die nächste Zeile abgerissenen Teilvers bildet. Wer oder was bildet nun den Gegenstand des Begehrens dieses faunischen Ichs? „Ces nymphes“ oder „un rêve“? Sind beide voneinander zu unterscheiden? Wer oder was ist der Referenzbereich dieser Zeilen? Es ist, als seien die Worte dieses Textes selbst geträumte und traumentstellte. Darauf würde dann auch die eigenartig latinisierte Typographie des Titels hinweisen:

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Abb. 1: Cover der Erstveröffentlichung durch A. Derenne (1876)15

|| 15 Das klassische lateinische Alphabet kennt kein U und nur Majuskeln. Die antikisierende Schreibweise V steht sowohl für den Vokalwert U und den Halbvokal (w) (vgl. Leumann/Hofmann/ Szantyr [1977] 9). V ist mithin ein ambivalentes, hybrides Schriftzeichen, was Mallarmés Poetik sehr entgegenkommt. Die Schreibweise taucht erst in der letzten Überarbeitung des Stücks durch Mallarmé auf und charakterisiert die Originalausgabe von 1876. Wie die Abbildung des Covers zeigt, schreibt Mallarmé L’APRÈS-MIDI D’VN FAVNE. ÉCLOGVE. Diese Schreibweise wird in den späteren Ausgaben, wie in der Pléiade-Ausgabe von Aubry und Mondor (1945), nicht berücksichtigt, in der neuen

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Wenn Wörter geträumt werden, neigen sie dazu, in ihrer Materialität zu erscheinen, neigen sie dazu, Rebusse zu bilden. In der Schreibweise FAVNE würde nicht nur die lateinisch-römische Herkunft des Signifikats erkennbar, sondern auch, dass dieser Signifikant durch sein Flötenspiel selbst schon verwandelt ist, insofern die Doppelflöte, der αὐλός (lateinisch: die tibia), der graphisch als V dargestellt werden kann, in den (Wort-)Körper buchstäblich eingeschrieben ist. FAVNE wäre somit die buchstäbliche Umschrift des flötenspielenden Faun, wie er auf vielen antiken Vasen abgebildet ist, wobei der αὐλός in den Wortkörper selbst invertiert ist.

Abb. 2: Faun mit Aulos, Vase, Staatliche Antikensammlung München

|| Pléiade-Ausgabe von Marchal (1998) wird sie dann wieder aufgenommen. Ich kenne bislang keine Arbeit, die auf diese Besonderheiten wirklich eingegangen wäre.

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Der gierige FAVNE erscheint mithin bei Mallarmé nicht mit Phallus, sondern mit einer Einkerbung, die ihn von innen her aufspreizt. Die Syrinx oder Panflöte hat sich, selbst gleichsam aufgespreizt und verwandelt zum Aulos, buchstäblich in den FAVNE eingegraben. Sie ist dadurch nicht mehr als Objekt und – in Form der Flöte – als Supplement des Begehrens des Fauns zu begreifen, sondern von ihm unabtrennbar – in ihm selbst, ungreifbar. Syrinx und Doppelaulos sind zwar in Wirklichkeit klar unterschiedene Instrumente mit unterschiedlichen Formen. Die meisten antiken Darstellungen zeigen Pan mit der Syrinx bzw. Panflöte, demgegenüber stehen seltenere Vorstellungen des Pan mit dem Doppelaulos. In Mallarmés Gedicht, das in vieler Hinsicht der Traumlogik folgt, verwandelt sich – das ist die These, die ich hier vertreten möchte – die Syrinx in den Doppelaulos und schreibt sich über die graphische Ähnlichkeit des Doppelaulos mit dem lateinischen V in den Wortkörper des Fauns ein. Lässt man sich auf den Gedanken ein, dass die Panflöte nicht das letzte Produkt einer Verwandlung ist, sondern aus Verwandlung hervorgegangen weitere hervortreibt – aufgespreizt in den Doppelaulos, von dort ins graphische Zeichen –, so berührt Mallarmés Faun die Nymphe (und wenn man will: ihr Geschlecht) nicht mehr nur mit seinen Lippen, wenn er in die Flöte bläst, die den Namen der Nymphe trägt, sondern das weibliche Geschlecht hat sich in den Körper des Mallarméschen FAVNE selbst eingetragen. Nicht mehr die sinnliche und/oder sublimierte Berührung bildet das Deutungsmuster ihrer Beziehung, sondern die sexuelle Einschreibung der Nymphe in den FAVNE und damit die Herausstellung ihrer bisexuellen Ungeschiedenheit. Die Identitäten von Faun und Nymphe verkomplizieren sich mithin. Zwei Nymphen treiben gleichsam das Doppelrohr als Keil in den FAVNE, penetrieren ihn. Der erotomanisch vorgestellte Satyr wird dadurch zu einem mit weiblichem Geschlecht, ein Nymphoman. Solche Geschlechterverkehrung und -verdopplung ist Ovid selbst nicht fremd gewesen. Nicht in der Sage von Pan und Syrinx, aber in anderen Mythen kennt er die Hybridisierung der Geschlechter, mit denen er sein virtuoses poetisches Spiel treibt.16 Dass die Hybridisierung nicht nur auf der Ebene des Erzählten stattfindet, sondern auch auf die Sprache selbst übergreift, hat Frederic Ahl in seiner Studie Metaformations. Soundplay and Wordplay in Ovid and Other Classical Poets an einigen Stellen deutlich herausgearbeitet.17 Der dekonstruktivistische Zug in Ahls Arbeit, der in Ovid die anagrammatische Eigenlogik seiner Erzählungen herauspräpariert, ist nicht unumstritten geblieben. Er berührt aber damit einen phantasmatischen Zug in Text und Lektüre, der für die Traum-Logik von Mallarmés Poetik allgemein und Mallarmés Faune insbesondere, bei dem stets unklar ist, ob das, was da geschrieben steht, tatsächlich da steht, von höchstem Belang ist. Ahl geht es hier

|| 16 So zum Beispiel in Ov. met. 3,324–331, wo Tiresias’ Geschichte als mehrfacher Geschlechtswechsel vorgestellt wird, und im Iphis-Mythos in Ov. met. 9,666–797. 17 Ahl (1985).

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nicht um das Unbewusste der Sprache, sondern darum zu zeigen, dass die lateinischen Dichter, zumal Ovid, virtuose Sprachspieler waren, die davon ausgingen, dass die phonetische Assonanz von Wörtern auch eine verborgene semantische Nähe untereinander suggeriert: Greek and Roman writers often assumed that words which sound or look alike are related in meaning: a pun or double entendre is not an accident of language but evidence as to how apparently diverse things are related.18

Klangassoziationen und Wortspiele sind für Ahl nicht nur schmückendes Beiwerk in den Metamorphosen, sondern bilden ihre Basis: Sound and wordplay do not simply occur in the Metamorphoses: they are the basis of its structure. The rearrangement of material elements needed to transform men into animals or plants is reflected in language itself as the letters and syllables in words are shuffled.19

Ahl führt im Zuge seiner Textanalyse eine Reihe von Beispielen auf, die im Kontext des Mallarméschen FAVNE relevant sein könnten: So die von Ahl erwähnte Nähe zwischen penetratio und paene; zwischen thalamus („sexuelle Vereinigung“) und calamus („Schilfrohr“) und zwischen virgo („Jungfrau“) und virga (neben anderen Bedeutungen „Stab“, „Phallus“).20 Die Art und Weise der Rezeption, die Mallarmé mit dem FAVNE vollzieht, ist sicherlich keine motivgeschichtlich geleitete, sondern eine von der Poetik des phonetischen Sprachspiels selbst inspirierte und in das Medium des Traums transportierte. Denn was hier als Traum erklingt, davon weiß das den Text tragende Ich nicht, ob es je stattgefunden hat, es kommt gleichsam ich-fremd durch die Sprache selbst klingend, aber in der Bedeutung vielfach verzweigt, zurück. Das EntwederOder des Zweifels, das im Motiv der doppelten Nymphe und des Doppelaulos schon aufgerufen worden war, wird nun noch komplizierter: Mon doute, amas de nuit ancienne, s’achève En maint rameau subtil, qui, demeuré les vrais Bois mêmes, prouve, hélas! que bien seul je m’offrais Pour triomphe la faute idéale de roses. (V. 4–7)

Der Zweifel führt bei Mallarmé nicht im Descartes’schen Sinne der Skepsis zu Klarheit, sondern verzweigt sich in viele weitere subtile Zweige („maint rameau“). Ausgerechnet solch ein verzweigter Zweifel soll den Beweis („prouve“) liefern, dass das Ich, gänzlich auf sich allein gestellt, sich „den idealen Mangel an Rosen“ („la faute

|| 18 Ebd. 9. 19 Ebd. 10. 20 Ebd. 155f.

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idéale de roses“) zu seinem „Triumph“ vorgestellt hat. Eine merkwürdige Formulierung und Verdichtung unterschiedlichster Problemkreise. Erstens sind hier die Ovid’schen Sagen von Apoll und Daphne und Pan und Syrinx untrennbar ineinandergewoben, insofern das Schilfrohr, der Wald und die Äste über die Signifikantenverkettung roseau, bois, rameau in einen einzigen Vorstellungsbereich gehoben werden. Zweitens wird ein weiterer Zug der Mallarméschen Poetik aufgerufen, der darin besteht, dass Zeichen und Ding nie gleichzeitig da sein können; dass die Präsenz des Zeichens, ja sein Genuss, die Abwesenheit des Referierten voraussetzt, umgekehrt aber auch bewirkt.21 Der Zweifel markiert damit selbst das verzweigte, filigrane Signifikantennetz, aus dem Mallarmés Textgespinst gemacht ist und das allein auf der Vorstellung des Mangels beruht (des Mangels an „Rosen“, die metonymisch das Inkarnat, metaphorisch das weibliche Geschlechtsteil aufrufen, buchstäblich an das Schilfrohr [„roseau“] verweisen). Drittens wird diese poetische Arbeit an Sprache und Vorstellung als „triomphe“ ausgewiesen, ein starkes Wort in diesem Kontext, da es auf Krieg und Kampf – einen Sprach- und wohl auch Geschlechterkampf – hinweist, an dessen Ende ein Sieg steht, der wiederum von der Interjektion „hélas!“ eingeleitet ist: Ausruf des Bedauerns, der eventuell auch auf eine gewisse Erschöpftheit (las) anspielt, die ja auch schon in der von Schlaf und Müdigkeit schweren Luft angesprochen worden war. Ein Triumph der Erschöpfung also oder ein erschöpfter Triumph, dessen Siegpreis der ideale Mangel an Rosen darstellt: keine sexuelle Eroberung, keine Penetration und auch nicht die Phantasie davon, sondern eher der schmerzliche Genuss, der im Schwinden und Sich-Entfernen des Begehrens liegen kann. Woraufhin dann im Gedicht tatsächlich mit dem Selbstaufruf zur Reflexion – „Réfléchissons ...“ (V. 8) – ein anderer Ton angeschlagen wird. Réfléchissons ... ou si les femmes dont tu gloses Figurent un souhait de tes sens fabuleux ! (V. 8–9)

Übersetzt heißt das soviel wie: „Lasst uns überlegen, ob die Frauen, die Du besprichst, überhaupt einen Wunsch in Deinen sagenhaften Sinnen darstellen!“ Also auch daran kann es einen Zweifel geben, vielleicht sind die „sagenhaften Sinne“ mehr an den Sagen selbst interessiert als an den Frauen. Es scheint hier, als sei der Faun, wenn er von einem Liebespfeil getroffen worden ist, vom Klang immer schon betört gewesen (flèche, son, hörbar in Réfléchissons). Damit stünde es dann aber auch um die Reflexion im Sinne einer klangneutralen Verstandesleistung schlecht.

|| 21 Einschlägig dazu ist Mallarmés Formulierung in seinem zentralen poetologischen Beitrag „Crise de vers“, in: Mallarmé (2003) 204–213, hier: 213: „Je dis: une fleur! et hors de l’oubli où ma voix relègue aucun contour, en tant que quelque chose d’autre que les calices sus, musicalement se lève, idée même et suave, l’absente de tous les bouquets.“

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Und in der Tat leitet das „Réfléchissons“ keine andere Redeweise ein, sondern diese verstrickt sich immer tiefer in das Traum-/Textgespinst hinein. Der Sexualakt kann darin mal unendlich abwesend erscheinen, dann als ein vollzogener auch plötzlich sehr nahe aufscheinen, wenngleich ohne greifbaren Beweis. So in den Versen 39–41, in denen die „heiße“ und nicht die „keusche“ Nymphe die Phantasie antreibt und das Bild hervorbringt, dass auf der Brust des FAVNE ein mysteriöser Biss zurückgeblieben ist: Le baiser (...) Mon sein, vierge de preuve, atteste une morsure Mystérieuse, due à quelque auguste dent. (V. 39–41)

Wie in Kleists Penthesilea reimen sich hier Kuss und Biss. Die latinisierende Schreibweise des FAVNE erfährt dabei einen weiteren Bildrätselwert und könnte auch die Bisswunde („morsure“ und „mort sûre“22, den sicheren Tod) symbolisieren. Wobei frz. „sein“ sowohl die männliche Brust als auch den weiblichen Busen und literarisch den Mutterschoß bezeichnen kann. Doch auch all diese Verbindungen sind ohne Beweis, „vierge de preuve“.23 Dies gilt auch für diese buchstäblichanagrammatisch verfahrende Lektüre selbst. Sie lässt sich nicht beweisen, so sehr sie sich auch aufdrängen mag. 24 Das anhaltende Besprechen der Nymphen heizt zusammen mit der durch den Wein zugefügten Trunkenheit („ivresse“, V. 61) zu neuen Phantasien an: „O nymphes, regonflons des SOUVENIRS divers“ (V. 62). Der Erschlaffung, die bislang dominierte, wird nun ein Aufblähen und Anschwellen entgegen gestellt, wiederum als Selbstaufruf. In diesen Erinnerungen wird nun eine erfolgreiche Verfolgung und eine sexuelle Vergewaltigung der beiden Nymphen nahegelegt: „Je les ravis, sans les désenlacer, et vole“ (V. 71).

|| 22 Bünde (1994) 66. 23 Bünde (1994) schreibt zu dieser Passage: „Thematisiert wird in diesen Zeilen die Liebesbegegnung des Fauns mit den Nymphen, wobei jedoch das ganze Geschehen im selben Atemzug dementiert wird und sich als Traumgebilde herausstellt. So lieblich der Kuß, den der Faun zu verspüren meinte, auch gewesen sein mag, ist er ihm doch nicht wirklich widerfahren: ce doux rien; seine Brust, die den Biß eines ‚auguste dent‘ attestiert, bleibt ohne nachweisbare Spur, ‚vierge de preuve’“ (328). 24 Frey (1986) liest das lateinische Schriftzeichen V bei Mallarmé als Fischschwanz, der in zwei Enden ausläuft. Er verweist dabei auf andere Äußerungen Mallarmés, in denen diese Metapher auftaucht, vor allem im Prosatext Solitude und im Coup de dés (Frey, 16). Mit Frey teilt meine Lesart die Unterstreichung der Verzweigung und irreduziblen Ambiguität, doch führt die Fischschwanzmetapher Sirenen mit sich, die im Kontext des FAVNE nicht unbedingt prominent sind, es sei denn, man wolle in der Syrinx auch eine Sirene mithören. Der αὐλός, die Hörner, das weibliche Geschlecht und die Bisswunde liegen hier bei weitem näher, wenn man dem V einen ikonographischen Wert zuschreiben will.

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So ungreifbar wie die Nymphen und die Begegnung mit ihnen sind, so sehr erweist sich die phantasmatische Bindung an sie als unauflöslich und treibt immer neue Varianten hervor. Genau in der Instabilität der Erinnerungen wird im Sexuellen das Panische und Traumatische erkennbar, das in der Forschung bislang unterbelichtet geblieben ist.25 Die buchstäbliche Einkeilung des gewaltvollen Geschehens in den Wortkörper ist ein sprachliches Symptom dieser unauflöslichen Bindung. Sie wird als corpus delicti, wörtlich: Körper des Verbrechens und hier im Sinne des doppelten Genitivs lesbar. Eine weitere Folge ist, dass der Zopf der Nymphen, wie es heißt, mit den Hörnern des Fauns verknotet ist: „leur tresse nouée aux cornes de mon front“ (V. 94). Auch in dieser Formulierung scheint eine körperliche Kontinuität zwischen dem männlichen und den weiblichen Wesen auf und auch sie gemahnt an das Zeichen V. Es ist, als wüchsen den Nymphen mit ihren Zöpfen selbst Hörner, die buchstäblich aus ihrem Y emporschießen. Zugleich geht der Signifikant „tresse“ aus der phonetischen Verflechtung mit „tressaille!“ V. 78; „zucken“, „entzücken“), „Traîtresses“ (V. 83; „Verräterinnen“); ferner mit „ivresse“ (V. 61; „Trunkenheit“) und „déesses“ (V. 55; „Göttinnen“) hervor. Alle diese Qualitäten sind in die „tresse“ hineingeflochten und mit den Hörnern des FAVNE verknotet.

3 Weitere Verzweigungen des perpetuum carmen Am 22. Dezember 1894 fand die Erstaufführung von Claude Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune statt. Während die zeitgenössischen, weiterhin an der Romantik orientierten Musikkritiker darin das Fehlen von Stil, Logik und Motivik beklagten, war Mallarmé, der bei der Erstaufführung selbst anwesend war, begeistert. Am Tag nach der Premiere schrieb er an Debussy:

|| 25 Eine seltene, aber klare Aussage zur Verstrickung von sexuellem Begehren und Panik findet sich bei Jankélévitch (1949), allerdings geäußert mehr in Hinblick auf Debussys Prélude als in direkter Auseinandersetzung mit Mallarmés Text: „... ce mystère d’après-midi est mystère du soleil au zénith, mystère de l’été panique et du silence aveuglant. C’est l’heure étale où la nature entière hésite, accablée par la lourde présence méridienne de toutes choses. Pan, c’est-à-dire le dieutotalité, représente ce silence surnaturel de midi sicilien, (...) car dans le grandios silence épandu sur les plaines il y a un élément d'angoisse; entouré du cortège des faunes et de toutes les divinités paniques, le dieu cornu, velu, chèvre-pied habite la vaste paix des campagnes, mais il est aussi la cause de ces terreurs mystérieuses qu'on appelle justement les paniques et qui n'ont jamais de cause particulière, étant provoquées par le principe invisible, immémorial et général de la nature. Le silence du dieu rustique atteint son apogée vers midi. Alors il ne faut pas le troubler. Lorsque Pan fait sa sièste les pasteurs de Théocrite ont peur de souffler dans leurs flûtes. Dans la chaleur immobile qui fait vibrer l'air et trembler toutes choses sur la terre brûlante, la flûte du faune déroule sa cantilène si chargée de volupté qu'elle en devient angoissante...“ (82f.).

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Votre illustration de l’Après-midi d’un faune, qui ne présenterait de dissonance avec mon texte, sinon qu’aller plus loin, vraiment, dans la nostalgie et la lumière, avec finesse, avec malaise, avec richesse. 26

Auf der Seite der Musikschaffenden war es erstmals Pierre Boulez, der im Rückblick die Bedeutung des Musikstücks für den Durchbruch der modernen Musik klar benannt hat: „C’est la flûte du Faune qui instaure une respiration nouvelle de l’art musical […], on peut dire que la musique moderne commence avec L’après-midi d’un faune.“27 Anstelle musikalischer Themen erkennt Boulez Flecken, Farben und Flächen, was ihn an Cézannes Auflösung der abbildenden Malerei gemahnt. Eine vergleichbare Auflösung von Bedeutungen im Sprachlichen findet bei Mallarmé in der Zerreibung des evozierten Vorstellungsbereichs durch typographische Irritation und phonetische Unschärfe statt. Leonard Bernstein hat in der vierten seiner Boston Lectures, die mit dem Titel „The Delights and Dangers of Ambiguity“ überschrieben ist, die chromatische Verdunklung der Tonalität als musikalischen Effekt von Ambiguität hervorgehoben, die Debussys Stück charakterisieren.28 Auch diese musikalischen Halb- und Zwischentöne können als eine konkrete Fortschreibung von Mallarmés mi-dit in die Musik aufgefasst werden. 1912 führten die Ballets russes den Après-midi d’un faune unter der Leitung von Sergei Djagilew im Théatre du Châtelet erstmals auf. Der berühmte Balletttänzer Vaslav Nijinsky entwarf eigens die von ihm selbst ausgeführte Choreographie. Die Uraufführung wurde zu einem Meilenstein für den modernen Tanz. Nijinsky studierte Posen des Fauns, wie er sie auf antiken Vasen im Louvre finden konnte. 29

|| 26 Debussy (2005) 229f. [„Wenn es überhaupt eine Diskrepanz zwischen meinem Text und ihrer Illustration zu meinem Gedicht gibt, dann liegt sie darin, daß sie in der Tat weit über ihn hinausgeht, in den Bereich der Sehnsucht und des Lichtes vorstößt, und dies mit Eleganz, Unbehagen und Pracht.“] 27 Boulez (1966) 327–346, hier: 336 (der Artikel wurde erstmals in Encyclopédie de la musique, hg. von François Michel, Paris 1958, veröffentlicht). 28 Leonard Bernstein: Boston Lectures „The Unanswered Question“ (1973), 4. Vorlesung, Aufzeichnung, https://www.youtube.com/watch?v=hwXO3I8ASSg (Stand: 28.8.2020). 29 Die Abbildungen sind Photographien von Adolphe de Meyer, in Nectoux (1989).

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Abb. 3: Vaslav Nijinsky als Faun

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Abb. 4: Satyr, eine Mänade verfolgend, lukanische Trinkschale

Zugleich setzte er sich mit Mallarmés Gedicht auseinander, ohne über Französischkenntnisse zu verfügen. Die Unkenntnis der französischen Sprache mag sich als ein Glücksfall erwiesen haben, ermöglichte sie doch gerade einen nicht von vornherein hermeneutisch verlaufenden Zugang zu Mallarmés Stück. Die Unentscheidbarkeit bezüglich des sexuellen Akts wird in Nijinskys Ballett in eine weitere Proliferation der Nymphen übertragen (es sind hier sieben Nymphen). Der Faun hat solche Wesen noch nie gesehen und steigt voller Neugierde und Erregung von seinem Felsen hinab, um sie besser beobachten zu können. Als die Nymphen ihn bemerken, eilen sie erschreckt davon. Eine lässt ihn näher kommen. Als er sie zu fassen sucht, entkommt sie, verliert aber ihren Schleier. Allein zurückgeblieben nimmt der Faun den Schleier auf und liebkost ihn, als ob es sich dabei um die Nymphe selbst handelte.

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Schließlich legt er sich darauf nieder und vollzieht einen Liebesakt. Jankélévitch hat von dieser Schlusswendung des Ballettstücks treffend als einem „Koitus mit dem Nichts“ gesprochen.30 Eine jüngere Ballettaufführung in der Inszenierung von Thierry Malandain zeigt, wie der Faun (getanzt von Christophe Roméro) nicht der souveräne Flötenspieler ist, sondern im Bann der Musik steht und sich konvulsivisch unter ihrem Einfluss bewegt.31 Sein Körper unterliegt damit der Syrinx, die wie eine Sirene den Faun zuletzt in ihren Abgrund zieht. Hier wird das V zum ambiguen Zeichen ihres Fischschwanzes32, der in der Schluss-Szene als die gespreizten Beine des Fauns aufscheint, in dem Moment, da er sich kopfüber in den Abgrund einer überdimensionierten Kleenex-Box stürzt.

Abb. 5: Still aus der Videoaufzeichnung von L’après-midi d’un faune, inszeniert von Thierry Malandain

|| 30 Jankélévitch (1949) 89 („ce coït avec Rien“). 31 Malandain Ballet Biarritz: „L’après-midi d’un faune. Uraufgeführt am 21. Januar 1995 in der Esplanade in Saint Etienne“. Siehe https://www.youtube.com/watch?v=UPsS4iypECI (Stand: 28.8.2020). 32 S. dazu Anmerkung 25.

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Literaturverzeichnis Ahl (1985): Frederic Ahl, Metaformations. Soundplay and Wordplay in Ovid and Other Classical Poets, Ithaca. Bender (2010): Niklas Bender, „Die Objektivität der modernen Lyrik (Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé)“, in: Niklas Bender u. Steffen Schenider (Hgg.), Objektivität und literarische Objektivierung seit 1750, Tübingen, 73–98. Bernstein, „Boston Lectures, The Unanswered Question“ (1973), 4. Vorlesung, https://www.youtube.com/watch?v=hwXO3I8ASSg (Stand: 28.8.2020). Bömer (1969): Franz Bömer, P. Ovidius Naso, Metamorphosen, Buch I–III. Kommentar, Heidelberg. Boulez (1966): Pierre Boulez, „Claude Debussy“, in: Ders., Relevés d’apprenti, Paris, 327–346. Bünde (1994): Frauke Bünde, Imagination und Realität. Zur Phänomenalität der frühen Dichtung Stéphane Mallarmés, Weinheim. Claude Debussy, Correspondance de Claude Debussy (1872–1918), hg. von Denis Herlin und François Lesure, Paris 2005. Derrida (1972): Jacques Derrida, La dissémination, Paris. Freud/Breuer (61986): Sigmund Freud, Joseph Breuer, Studien über Hysterie, in: Gesammelte Werke in 18 Bänden, hg. von Anna Freud, Frankfurt a.M., Band 1, 75–312. Frey (1986): Hans-Jost Frey, Studien über das Reden der Dichter. Mallarmé, Baudelaire, Rimbaud, Hölderlin, München. Jankélévitch (1949): Vladimir Jankélévitch, Debussy et le mystère, Neuchâtel. Köhler (2006): Erich Köhler, Vorlesungen zur Geschichte der französischen Literatur, hg. von Henning Krauß und Dietmar Rieger (19. Jahrhundert), Freiburg, Band 6.3. Leumann, Manu /Hofmann, Johann Baptist / Szantyr, Anton (1977): Lateinische Grammatik. Lateinische Laut- und Formenlehre, München, Band 1 (Neuauflage). Malandain Ballet Biarritz: „L’après-midi d’un faune. Uraufgeführt am 21. Januar 1995 in der Esplanade in Saint Etienne“, https://www.youtube.com/watch?v=UPsS4iypECI (Stand 28.8.2020). Mallarmé (1876): Stéphane Mallarmé, L’Après-midi d’un faune, Paris. Mallarmé: Stéphane Mallarmé, Œuvres complètes, hg. von Bertrand Marchal, 2 Bände, Paris 1998–2003. Mallarmé: Stéphane Mallarmé, Correspondance, Lettres sur la Poésie, hg. von Bertrand Marchal, Paris 1995. Mallarmé: Stéphane Mallarmé, Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Übersetzt ins Deutsche von Richard von Schaukal, Freiburg 1947 (http://gutenberg.spiegel.de/buch/gedichte-8032/20). Nectoux (1989): Jean-Michel Nectoux, Mallarmé – Debussy – Nijinskij – de Meyer. Nachmittag eines Fauns: Dokumentation einer legendären Choreographie, München. Ouvry-Vial (2016): Brigitte Ouvry-Vial, „Mallarmé, le ‚bibliophile navré’ et les éditions de L’Aprèsmidi d’un faune“, in: Alain Riffaud (Hg.), L’écrivain et l’imprimeur, Rennes, 315–336. Ovid, Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt aus dem Lateinischen von Michael von Albrecht, Stuttgart 2010. Valéry (1960): Paul Valéry, Œuvres II, hg. von Jean Hytier, Paris. Zupančič (2017): Alenka Zupančič, What is Sex?, Cambridge (Massachusetts).

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Cover des Exemplars der Erstveröffentlichung von Mallarmé, Après-midi d’un faune, Paris 1876, in: Nectoux (1989) S. 15 Abb. 2: Faun mit Aulos, Vase, Staatliche Antikensammlung München (Privatphoto der Verf.in) Abb. 3: Vaslav Nijinsky als Faun, in: Nectoux (1989) S. 20 Abb. 4: Satyr, eine Mänade verfolgend, lukanische Trinkschale, in: Nectoux (1989) S. 21 Abb. 5: Film-Still aus Malandain Ballet Biarritz: „L’après-midi d’un faune. Uraufgeführt am 21. Januar 1995 in der Esplanade in Saint Etienne“ (https://www.youtube.com/watch?v=UPsS4iypECI [Stand: 28.8. 2020])

Susanne Zepp

Lateinamerikanische Metamorphosen Über die Ovid-Rezeption bei Sor Juana Inés de la Cruz, Claudia Lars, Clarice Lispector und Alicia Kozameh Die Ovid-Rezeption in Lateinamerika ist kein Nebenkapitel der Literaturgeschichte, sondern Ausdruck der höchst produktiven Auseinandersetzung mit einem Œuvre, das bis in die Gegenwart zu wirken vermag. Im Folgenden soll es deshalb nicht um Fragen der Einflussforschung gehen, die zu diesem Gegenstand durchaus gestellt worden sind, zuweilen auch in eurozentrischer Grundierung. Stoffe und Motive aus den Werken Ovids sollen hier vielmehr als Reflexionsmedien eigenständiger literarischer Entwürfe verstanden werden. Die ästhetischen Konkretisationen, die seit der Frühen Neuzeit im spanisch- wie im portugiesischsprachigen Lateinamerika entstanden sind, werden als historisch standortgebundene Sinnentwürfe verstanden, deren Bezüge auf Ovid jeweils unterschiedlich ausfallen. Die Bezugssysteme sind vielfältig und zugleich epochen- und gattungsspezifisch, so dass sie im Rahmen eines Aufsatzes nur anhand ausgewählter Beispiele punktuell diskutiert werden können. Ein wichtiger Referenzpunkt sind sicher die Akten der Tagung La metamorfosis en las literaturas en lengua española, die im März 2006 an der EötvösLoránd-Universität Budapest in Kooperation mit dem Instituto Cervantes in Budapest durchgeführt wurde.1 Doch dort wurden nicht nur die Metamorphosen des Ovid, sondern der Komplex „Verwandlungen“ insgesamt als Motiv der spanischsprachigen Literaturen in den Blick genommen. Der Fokus ist hier ein anderer: Die Texte von Autorinnen des 20. Jahrhunderts haben ihren Bezug auf Ovid den eigenen literarischen Verfahren in einer Weise angepasst, dass ein politischer Gehalt integriert und dabei zugleich durch Zitat und Variation die Form der Überlieferung selbst thematisiert wird.

Narziss Die Bezüge auf Ovid bei Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts blicken auf eine lange lateinamerikanische Tradition zurück. Ein prominentes Beispiel stammt aus dem Werk der frühneuzeitlichen mexikanischen Dichterin Sor Juana Inés de la Cruz, die 1690 ein Fronleichnamsspiel unter dem Titel El divino Narciso – Der göttliche Narziss veröffentlichte. Dabei handelt es sich um eine Narziss-Lektüre a lo divino,

|| 1 Menczel u. Scholz (2006). https://doi.org/10.1515/9783110703221-008

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die durchaus in der Deutung des Gesamtwerks von Sor Juana durch den mexikanischen Nobelpreisträger Octavio Paz von 1982 aufgeht, der das Werk in seinem breit rezipierten Essay Sor Juana Inés de la Cruz o Las trampas de la fe (Sor Juana Inés de la Cruz oder Die Fallstricke des Glaubens, Übersetzung von Fritz Vogelgsang und Maria Bamberg) als vollkommensten Ausdruck der Welt der Nonne und zugleich als dessen Verneinung bezeichnet hatte. Sor Juanas Einakter El divino Narciso liegt die in Ovids Metamorphosen überlieferte Erzählung von Narziss zugrunde, dem Sohn des Flussgottes Kephissos, der sich an einer Quelle in sein Spiegelbild verliebt, ins Wasser stürzt und ertrinkt. Diese Fabel verbindet Sor Juana in ihrem religiösen Theatertext mit der christlichen Heilslehre und typologisiert dabei die Figuren Ovids. Narziss wird aufgrund seiner außergewöhnlichen Schönheit zur figura von Christus, doch sein Spiegelbild, die menschliche Seele, verstrickt sich in Sünde. El divino Narciso wählt in der Logik des Stückes den Tod, um die Menschheit zu retten, und so, wie Narziss sich in die nach ihm benannte Blume verwandelte, wird Christus in diesem Theaterstück die weiße Blume (Hostie) der Eucharistie.2 Diese Figuraldeutung des Narziss in Sor Juanas Fronleichnamsspiel erscheint zunächst ganz und gar mit dem geistes- und religionsgeschichtlichen Horizont des ausgehenden 17. Jahrhunderts verbunden – und war es zugleich nicht. Denn die künstlerische Ausgestaltung des Stückes war den geistlichen Autoritäten in der ‚Neuen Welt‘ allzu sinnlich, zu sehr auf die diesseitige Schönheit des Narziss bezogen, um post-tridentinischen Anforderungen an die Kunst zu entsprechen: Kunst und eben auch die Literatur hatten sich aus solch einer Sicht sehr viel stärker aufs Jenseits auszurichten. Sor Juanas Ovid-Lektüre machte aus den Metamorphosen einen poetisch-symbolischen Stoffbezug, der in seiner sprachlichen Gestalt so nachdrücklich auf die menschliche Sinneserfahrung und Wahrnehmungswelt zurückgriff, dass diese Dimension als nicht von der Typologie im Zaum gehalten gesehen wurde; zudem wurde die Sprache von Sor Juanas religiösem Spiel als eine Würdigung menschlicher Dichtkunst gelesen. Dies war vor dem Horizont der gegenreformatorischen Diskursformationen durchaus prekär. Vergleicht man ihr Stück etwa mit Calderón de la Barcas Fronleichnamsspiel El divino Orfeo aus dem Jahr 1663, in dem der Autor den Orpheus-Mythos so bearbeitete, dass er nicht nur dem christlichen Dogma diente, sondern den alleinigen Gültigkeitsanspruch einer theologischen Poetik unterstrich, scheint Sor Juanas Text eher eine Vorstellung von der

|| 2 Vgl. hierzu die Studien von Canonica (1993), Arango L. (1998), Bauer-Funke (2008) und Houvenaghel u. Donadoni (2009).

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Kunst als einem autonomen Zugang zum Göttlichen und also einer autonomen Form der Rede auszustellen.3 Als Beleg für diese Dimensionen des Fronleichnamsspiels der mexikanischen Autorin kann ein Ausschnitt aus dem 4. Aufzug des Stückes gelten, es ist der Moment, an dem Narziss an die Quelle gelangt und sein Spiegelbild erblickt: Llego; mas ¿qué es lo que miro? ¿Qué soberana hermosura afrenta con su luz pura todo el celestial zafiro? […] Recién abierta granada sus mejillas sonrosea; sus dos labios hermosea partida cinta rosada, […] leche y miel vierte la boca, panales destila el labio. […] ¡Ven, esposa, a tu querido; rompe esa cortina clara: muéstrame tu hermosa cara, suene tu voz a mi oído!

Ich komme; aber was erblicke ich? Welche majestätische Schönheit Stellt mit ihrem reinen Licht das himmlische Saphirblau in den Schatten? […] Frisch geöffneter Granatapfel seine Wangen sind rosig; seine beiden schönen Lippen rosenes Farbband-Spiel. […] Milch und Honig verströmt der Mund, Die Lippe bringt Honigwaben hervor. […] Komm, Gemahlin, zu Deinem Geliebten; zerreiße diesen klaren Vorhang: Zeig mir dein schönes Gesicht, Lass deine Stimme in meinem Ohr erklingen!

Das hier in Stellung gebrachte petrarkistische Bildinventar zur Beschreibung der Schönheit des Narziss und die Evokation der damit verbundenen Tradition von Liebesdichtung galten den zeitgenössischen geistlichen Autoritäten gerade aufgrund des Renaissance-Bezugs und der Ästhetik der poetischen Körperdarstellung als Provokation, auch wenn es in der Logik des Stücks von Sor Juana der Vorbereitung der typologisierenden Umdeutung des Narziss diente.4 In einem Brief aus dieser Zeit hat Sor Juana ihre auf die menschliche Sinneserfahrung bezogene Sprachästhetik mit ihrer Überzeugung begründet, dass man, um die höchsten Dinge zu verstehen, erst einmal das Diesseits verstehen müsse.5 Doch

|| 3 Siehe entsprechend Checa (1990), Weiser (2018) sowie Krynen (1970). Wesentlich hierzu ist weiterhin das Kapitel „Unterwerfung des Mythos und Widerlegung des Konzepts einer autonomen Dichtkunst El divino Orfeo (1663)“ in Küpper (1990). 4 Siehe hierzu auch die Studie von Rabin (2007). Vgl. weiterhin Santillana (2007). 5 Gemeint ist die „Respuesta de la poetisa a la muy ilustre Sor Filotea de la Cruz“, Salceda (1957). Für diesen Band ist von Interesse, dass Jose Quiñones Melgoza diesen Brief von Sor Juana unmittelbar mit Ovids Tristia verbunden hat: Melgoza (1995). Die an dieser Stelle wesentliche Passage lautet: „Con esto proseguí, dirigiendo siempre, como he dicho, los pasos de mi estudio a la cumbre de la Sagrada Teología; pareciéndome preciso, para llegar a ella, subir por los escalones de las ciencias y artes humanas; porque ¿cómo entenderá el estilo de la Reina de las Ciencias quien aun no sabe el de las ancilas? […] ¿Cómo sin grande erudición tantas cosas de historias profanas, de que hace menci-

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die Autoritäten ihrer Zeit teilten diese Auffassung nicht: 1691 musste Sor Juana ihre literarische Tätigkeit aufgeben, und dies eben, weil sie in ihren weltlicheren Texten die diskursiven Grenzen ihrer Zeit in einer Weise überschritt, die auch das Erkenntnisinteresse dieses Bandes berührt. In Sor Juanas Divino Narciso war nicht zuletzt auch die fluide Geschlechterzuordnung als unpassend empfunden worden. Wie in dem hier kommentierten Ausschnitt deutlich wird, sieht Narziss in dem Fronleichnamsstück eine Frau im eigenen Spiegelbild, die sein Begehren auslöst – dies war für einen typos von Christus durchaus problematisch. Sor Juanas Ovid-Rezeption, die durch einen Häresie-Vorwurf abrupt beendet wurde6, kann auch als Hinweis auf das verstanden werden, was spätere Dichterinnen künstlerisch von Sor Juana aufgenommen haben: die Verflechtung von Literatur mit einer tiefen Teilnahme am Schicksal der Menschen im Diesseits – und dies unter den Vorzeichen von Zensur und Unfreiheit. Dass im Folgenden nicht auf Rezeptionsgeschichten des 18. und 19. Jahrhunderts eingegangen wird, besagt nicht, dass es sie nicht gegeben habe, sondern ist der Fokussierung dieses Beitrags auf das 20. Jahrhundert geschuldet. In jenem Jahrhundert ist Sor Juanas Ovid-Rezeption und das erzwungene Ende ihres literarischen Schreibens vielfach aktualisiert worden. Ein Beleg für solch eine Wahrnehmung sind etwa die Sor Juana gewidmeten Gedichte der 1889 in El Salvador geborenen Dichterin Claudia Lars.7 Das Werk dieser Autorin gehört auch deshalb zum Kanon weiblichen Schreibens Lateinamerikas, weil sie in ihren Texten immer wieder nach einer Balance zwischen autonomer Dichtung und engagierter Poesie gesucht hat, und dies nicht aus der Distanz: 1930 hatte sich in El Salvador General Maximiliano Hernández Martínez an die Macht geputscht und zwei Jahre später einen Aufstand indigener Bauern blutig niederschlagen. 40.000 Menschen wurden getötet. Dieses Massaker sollte das Ende der Existenz der indigenen Völker El Salvadors einleiten: Ihre Sprache wurde verboten, eine paramilitärische Miliz sorgte mit hunderten von Morden dafür, dass die wenigen Überlebenden der Landbevölkerung gezielt weiter

|| ón la Sagrada Escritura; […] tantos ritos, tantas maneras de hablar?“ – „Damit machte ich weiter und richtete, wie gesagt, stets die Schritte meines Studiums in Richtung des Gipfels der Heiligen Theologie; es schien mir notwendig, um sie zu erreichen, alle Stufen der Wissenschaften und menschlichen Künste zu erklimmen; denn wie wird der Stil der Königin der Wissenschaften von denen verstanden werden, die den Stil ihrer Grundlagen noch nicht kennen?“ […] „Wie kann es große Gelehrsamkeit ohne Wissen um die vielen Dinge der profanen Geschichte geben, die in der Heiligen Schrift erwähnt werden, ohne Kenntnis der vielen Bräuche, […] der vielen Arten zu sprechen?“ 6 Siehe Dill (2003) 39: „Juana wurde der Häresie bezichtigt, vom Heiligen Offizium wegen ihrer allzu weltlichen Dichtung getadelt, zu Widerruf, einem mit eigenem Blut geschriebenen Sündenbekenntnis, Verkauf ihrer Bibliothek und Krankenpflege während der Pest verdammt, an der sie fünfundvierzigjährig starb.“ 7 Vgl. zum Werk von Claudia Lars insgesamt Gómez Lance (1981) sowie Perricone (1980).

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verfolgt wurden.8 Dieses Verbrechen wurde nie gesühnt, ein öffentliches Gedenken war in der Zeit, in der Claudia Lars ihr Gedicht an Sor Juana komponierte, also im Jahr 1947, nicht möglich. Bis heute ist das genozidale Geschehen in El Salvador nicht juristisch aufgearbeitet. Vor diesem Horizont veröffentlichte Claudia Lars ein Sonett, das Sor Juana Inés de la Cruz gewidmet war: A Sor Juana Inés de la Cruz En la rosa salvada, en su pureza que sube hasta la luz y en ella habita, llamo a tu corazón y te doy cita para hablar de tu blanca fortaleza.

In der in ihrer Reinheit bewahrten Rose die zum Licht aufsteigt und es bewohnt, rufe ich Dein Herz an und gebe Dir Zeit von Deiner weißen Festung zu sprechen.

Llevo una mariposa en la cabeza y otra más deslumbrante me visita. Soy la que nada sabe... la que agita su alma y su voz detrás de la belleza.

Ich trage einen Schmetterling auf dem Kopf und ein anderer, der mich noch mehr blendet, besucht mich. Ich bin diejenige, die nichts weiß ... die ihre Seele und ihre Stimme hinter der Schönheit berührt.

Mis jardines pequeños, entregados Meine kleinen Gärten, ausgeliefert al duende, al ángel verde... son aliados dem Elfen, dem grünen Engel... sind Verbündete de todo lo que vuela y lo que brilla. von allem, was fliegt und glänzt. ¡Cómo no darte a ti, – tan voladora, – Wie könnte ich Dir nicht, – so flüchtig – mi ceniza de rosas y esta hora meine Asche von Rosen und dieser Zeit geben en que vuelve a ser rosa la semilla! in der sich die Rose in ihren Keim zurückverwandelt!

Vor dem Horizont seiner Entstehungszeit ist dieses Gedicht nicht als bloßes Lobgedicht von einer lateinamerikanischen Dichterin auf eine andere zu verstehen. Die Reinheit bewahrende Rose aus Vers 1 als Symbol weltlicher Dichtung wird zum Ort, von dem aus Sor Juana angerufen und gebeten wird, von ihrer weißen Festung zu sprechen (Vers 4). Dies evoziert das Fronleichnamsstück von Sor Juana, Narziss als typos von Christus, der in El divino Narciso in „die weiße Blume der Eucharistie“ verwandelt wird. Der Rekurs auf die Christusdarstellung in der Dichtung Sor Juanas wird in der ersten Strophe zu einem Modus, diskret in Zeiten der Unfreiheit und Verfolgung an das Gebot der Nächstenliebe zu erinnern. Auf Verwandlungen spielt auch das Bild des Schmetterlings im ersten Vers der zweiten Strophe an. Im dritten und vierten Vers der zweiten Strophe macht das Textsubjekt deutlich, dass die Anrufung der Dichtung Sor Juanas nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine ethische Funktion hat: Dichtung, so legt das Verb agitar (dies heißt „erschüttern“, „berühren“) nahe, soll nicht nur schön sein, sondern auch etwas auslösen. Die dritte Strophe macht die Dichtung selbst zur Verbündeten, die vierte Strophe macht den

|| 8 Siehe hierzu Tilley (2005), weiterhin Robin (2005), Corum (2006), Grenier (1999), Lauria-Santiago u. Binford (2004) sowie Wood u. a. (2003).

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Bezug auf die Gegenwart des Gedichts explizit (esta hora) und bringt die Hoffnung auf Erlösung mit der Dichtung Sor Juanas zum Ausdruck, wenn formuliert wird, dass aus der Asche der Rose ihr Keim wieder entspringen möge. Diese Bilder bringen in der Zeit und an dem Ort, an dem dieses Gedicht entsteht und veröffentlicht wird, keine neutrale Forderung zum Ausdruck. Die autoritären Militärregierungen, die sich in El Salvador bis zu Beginn des blutigen Bürgerkriegs 1980 abwechselten, haben mit allen Mitteln der Repression versucht, jedes Gedenken an das 1932 von Regierungstruppen unter General Maximiliano Hernández Martínez verübte Massaker an der indigenen Bevölkerung zu verhindern.9 Das Gedicht von Claudia Lars kritisiert dies nicht explizit, sondern sucht mit dem Verweis auf Sor Juanas Ovid-Rezeption nach einem impliziten Modus geistigen Widerstands. Dieses Verfahren entspricht einer Formulierung Adornos: Darum zeigt Lyrik dort sich am tiefsten gesellschaftlich verbürgt, wo sie nicht der Gesellschaft nach dem Munde redet, wo sie nichts mitteilt, sondern wo das Subjekt, dem der Ausdruck glückt, zum Einstand mit der Sprache selber kommt, dem, wohin diese von sich aus möchte.10

Das Gedicht wird bei Claudia Lars zu einem von der Gewalt der Umgebung unabhängigen sprachlichen Raum. Dass sich dies auf die Ovid-Rezeption von Sor Juana de la Cruz bezieht, ist dabei gar kein Widerspruch, sondern legt die Bedeutung der Referenz offen: Die Figuraldeutung des Narziss in Sor Juanas Fronleichnamsstück dient als Verweis auf christliche Werte, die, so legt jedenfalls das Gedicht von Claudia Lars nahe, in der Gegenwart dieses Sonetts nur noch schemenhaft zu erkennen sind. Die Natur im ersten Terzett wird im zweiten Terzett mit der Asche als Motiv der zerstörten Natur kontrastiert und auf diese Weise eine andere Art von Verwandlung für die poetische Gegenwart erinnert, in der sich die Dichtung ihrer mit Sor Juana verbundenen Vorgeschichte erinnern muss, um verdeckte Aussagen über das Zerstörerische der eigenen Zeit treffen zu können.

Arachne Dieser Bezug auf Sor Juanas Ovid-Rezeption in Form von dichterischen Perspektiven auf die eigene, gewaltvolle Gegenwart ist erkenntnisleitend für das Werk zahlreicher Autorinnen Lateinamerikas, die sich in ihrem Schreiben Ovidischen Motiven zugewandt haben. Dabei kommt der berühmten Geschichte der Weberin Arachne aus dem sechsten Buch der Metamorphosen eine wichtige Rolle zu. Arachnes künstlerisches Talent und ihr Stolz über ihr Können sollten ihr Verderben werden. Bekannt-

|| 9 Zinecker (2004). 10 Adorno (1971).

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lich verwandelte Minerva, die Göttin eben nicht nur des Kriegs und der Weisheit, sondern auch der Kunst und des Handwerks, die Weberin Arachne in eine Spinne, als diese sich ihr in einem Wettstreit als mindestens ebenbürtig erwies. Schon in den Metamorphosen wird dabei die semantische Mehrdeutigkeit des Webens in Anschlag gebracht, das auch mit dem Herstellen von Texten assoziiert wird und dabei auch für weibliche Kunst steht.11 Die argentinische Literaturwissenschaftlerin Josefina Lúdmer hat in ihren Studien zu Sor Juana und ihrer Wirkungsgeschichte die mexikanische Autorin als eine frühmoderne Arachne beschrieben, der die religiösen Autoritäten das Schreiben verboten haben, so wie Minerva die Weberin durch die Verwandlung bestraft habe.12 In der lateinamerikanischen Literaturgeschichte finden sich vielfältige literarische Rezeptionen dieser Episode, in denen Arachne als Symbolfigur des Widerstandes gedeutet wird, die gegen eine Weltordnung rebelliert, die sie nicht als die ihrige empfindet, oder als Symbol einer weiblichen Künstlerin, deren schöpferischer Geist ihr den Widerspruch auferlegt.13 Ein Roman aus diesem Zusammenhang ist in vielerlei Hinsicht zentral. Die Rede ist von Manuel Puigs El beso de la mujer araña – Der Kuss der Spinnenfrau aus dem Jahre 1976. Der Roman ist mehrfach verfilmt und breit rezipiert worden, und er nutzt die Arachne-Figur als Symbol geistigen Widerstands im Sinne geschlechtlicher und politischer Freiheit vor dem Horizont der argentinischen Militärdiktatur.14 Das Textgewebe des Romans hat keine traditionelle Erzählinstanz, es ist aus Dialogen, Bewusstseinsströmen und auch aus fingierten Polizeiberichten montiert. Die Handlung spielt im Wesentlichen in einer Gefängniszelle, die sich der aufgrund seiner sexuellen Identität verfolgte genderfluide Luis Alberto Molina mit dem politischen Gefangenen Valentín Arregui Paz teilen muss. Man hat Luis Molina versprochen, ihn freizulassen, wenn er Valentín ausspioniert, doch er widersetzt sich dieser Anordnung. Luis Molina macht den Alltag in der Gefängniszelle für beide Insassen erträglich, indem er Liebesfilme der 1940er nacherzählt, und aus dem beständigen Gespräch erwächst nicht nur Intimität, sondern auch gemeinsame Überzeugung. Luis Molina schließt sich der Sache seines Mitgefangenen an, gelangt mit einem fingierten Bericht über Valentín aus dem Gefängnis und kann auf diese Weise eine wichtige Nachricht an dessen Untergrundzelle übermitteln, die gegen die Militärdiktatur kämpft. Dabei kommt Luis Molina um. Der im Gefängnis verbliebene Valentín wird brutal gefoltert, man will den Inhalt der geheimen Botschaft herausbekommen. An dieser Stelle des Romans findet sich eine weitere Metamorphose – war zuvor die Geschichten webende intersexuelle Figur von Luis Molina der Arachne nachgebildet, wird in den Annäherungen der literari-

|| 11 Vincent (1994). 12 Lúdmer (1991). 13 Amícola (2000). 14 Siehe Madrid (1990), Muñoz (1986) und Pap (2006).

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schen Repräsentation von Valentíns Folter die Metamorphose von Mensch zu Spinne zum drastischen Bezugsgewebe der verbrecherischen Gewalt der Peiniger.15 An diesem Beispiel ist erneut nachzuvollziehen, dass es in den lateinamerikanischen Metamorphosen nicht allein um innerkünstlerische Auseinandersetzungen mit Ovid geht. Die Befassung mit den Figuren aus Ovids Texten erhält in einer Geschichtserfahrung, die in zahlreichen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durch Repressionen und Staatsterror markiert war, eine existentiellere Bedeutung. Mehr noch als der Zweite Weltkrieg hatte die mit seinem Ende entstehende neue internationale Ordnung einen wichtigen Einschnitt für Lateinamerika markiert. Der Kontinent fand sich als Teil einer Weltordnung wieder, die durch den Ost-West-Konflikt und den Nord-Süd-Konflikt geprägt wurde. Wolfgang Hein hat in seiner knappen Darstellung der Geschichte Lateinamerikas, auf die ich mich hier und im Folgenden stütze, darauf hingewiesen, wie die in den 1950er Jahren eingeleitete Industrialisierung und die Entstehung neuer landwirtschaftlicher Bereiche wie der Viehzucht oder dem Baumwollanbau vielerorts eine rapide soziale Verschlechterung nach sich gezogen hat: Zum einen enteigneten Staat und Großgrundbesitzer Land, das zuvor Kleinbauern ohne reguläre Besitztitel entweder subsistenzwirtschaftlich auf Selbstversorgung angelegt oder auf lokale Märkte orientiert bewirtschaftet hatten. […] Zum anderen wurden in diesen neuen landwirtschaftlichen Betrieben nur wenige Arbeitskräfte benötigt. Viele zuvor in der Landwirtschaft Beschäftigte verloren damit ihre Lebensgrundlage. […] Aufgrund der wirtschaftlichen Probleme verloren die populistischen Bündnisse langsam ihre Basis, und es begann eine lange Phase sozialer und politischer Auseinandersetzungen, die charakteristisch für die Geschichte Lateinamerikas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden sollten. Die 1960er bis 1980er wurden zu Jahrzehnten der Militärputsche und Diktaturen. In Zentralamerika waren diese Jahrzehnte außerdem durch Guerillabewegungen und interne Kriege gekennzeichnet.16

Dabei kam es während der Diktaturen und Bürgerkriege der 1960er, 1970er und 1980er Jahre in Lateinamerika zu grausamen Menschenrechtsverletzungen. Die Bundeszentrale für politische Bildung zählt seit den frühen 1980er Jahren 13 offizielle Wahrheitskommissionen, die in Lateinamerika versucht haben, das Ausmaß von Menschenrechtsverletzungen und Gewalttaten öffentlich aufzuklären. Das Wirken dieser Kommissionen, von denen zwei ihre Arbeit nie beendet haben – die Rede ist von Ecuador und Bolivien – und eine ihre Arbeit womöglich nie beenden wird (Paraguay), wird durch eine Reihe von staatlichen oder zivilgesellschaftlichen Aufarbeitungsinitiativen ergänzt. Der Bilanz von Wolfgang Hein ist zuzustimmen, dass in den meisten lateinamerikanischen Ländern sich die Militärs (und, vor allem in Zentralamerika, auch die Guerilleros) erfolgreich gegen die Durchführung von Strafprozessen zu wehren vermochten – oft sicherten dies umfassende Amnestiegesetze. Vor || 15 Cuervo Herwitt (1994). 16 Hein u. Huhn (2008) 11–13.

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solch einem Horizont kommt Kunst und Literatur eine andere, existentiellere Bedeutung zu als in Zeiten des Friedens.

Ovid in Brasilien Diese existentielle Dimension hat sich auch im Werk der brasilianischen Autorin Clarice Lispector Geltung verschafft. In Lispectors Schreiben sind die Bezüge auf Ovid höchst vielfältig und erfüllen unterschiedliche Funktionen. Eine kurze Erzählung von Clarice Lispector kann nicht nur diese Bezüge auf die Metamorphosen veranschaulichen, sie verweist auch auf die intrikate Frage, ob sich der Begriff der Intertextualität allein auf „bewußte, intendierte und markierte Bezüge zwischen einem Text und vorliegenden Texten oder Textgruppen“17 einengen lässt. In den bislang beschriebenen Fällen entsprachen die Bezüge auf Ovid eindeutig diesem Modell. Das Werk von Clarice Lispector ist ein anders gelagertes Beispiel und legt den Gedanken nahe, dass die Intensität oder auch Deutlichkeit der Markierung intertextueller Bezüge nicht ihr einziges Kriterium sein muss. In der hier ausgewählten Erzählung ähneln die Verweise in ihrer Funktion dem für Manuel Puigs Roman El beso de la mujer arana Herausgearbeiteten, doch sind sie im Falle der brasilianischen Autorin in sehr viel indirekterer Weise repräsentiert. Was jedoch das übergeordnete Erkenntnisinteresse dieses Bandes betrifft, ist auch die Pluralität, ja Entgrenzung intertextueller Bezüge im Schreiben von Lispector wesentlich, da sie ihre impliziten Ovid-Bezüge mit der Frage nach der Repräsentation weiblicher Erfahrung verbinden – und zugleich mit der Frage nach den Grenzen der Repräsentierbarkeit dieser Erfahrung. Die Erzählung trägt den Titel A procura de uma dignidade – Die Suche nach einer Art von Würde und stammt aus dem 1974 erschienen Erzählband Onde Estivestes de Noite. Er stammt also aus dem Spätwerk der Autorin, deren intellektuelle Biografie nicht einfach zu referieren ist – schon die Angaben zum Geburtsjahr schwanken auch durch widersprüchliche Aussagen der Autorin selbst zwischen 1920 und 1925.18 Das ist aber keine Eitelkeit, im Gegenteil. Vielmehr ist es so, dass die Umstände von Herkunft und Geburt für die Autorin durchaus schmerzhaft waren, denn die Lebensgeschichte Lispectors beginnt in den 1920er Jahren nicht in Brasilien, sondern im Gebiet Podolien in der westlichen Ukraine. Nach einem brutalen Überfall auf die Mutter durch eine Gruppe russischer Soldaten hatten sich Mania und Pinkas Lispec-

|| 17 Broich und Pfister (1985) 25. 18 Siehe hierzu ausführlich die in Brasilien erschienenen Biographien von Nadia Gotlieb und Berta Waldman, auf denen die spätere englischsprachige Biographie von Benjamin Moser aufbaut (in deutscher Übersetzung 2013 bei Schöffling).

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tor entschlossen, mit ihren Töchtern in Amerika ein freies Leben aufzubauen.19 Die Einwanderungsbeschränkungen der Vereinigten Staaten machten Brasilien zur Alternative. Dem Vater gelang es, die Familie auf einem gefahrvollen Fluchtweg via Bessarabien und Deutschland nach Brasilien zu bringen. Clarice Lispector war damals noch kein halbes Jahr alt, und was geschehen war, erfuhr sie erst später von ihren beiden älteren Schwestern. Der europäischen Vergangenheit sollte sich die Schwester Elisa Lispector als Schriftstellerin immer wieder explizit zuwenden. Clarice Lispector tat dies nicht. Während die Schwester Elisa auch die jiddische Sprache literarisch erkundete, um das Schicksal der Familie im Ansiedlungsrayon zu beschreiben, bezeichnete Clarice Lispector stets Brasilien als ihre einzige Heimat und das Portugiesische als ihre einzige Sprache. Die Texte von Lispector sind nicht autobiographisch im üblichen Verständnis. Vielmehr werden Fragen von Herkunft, Zugehörigkeit und Geschichtserfahrung in vielfachen Brechungen zum Gegenstand ihres Schreibens. Gerade dieses Moment macht die nachhaltige Faszination ihrer Texte aus. Die Ovid-Bezüge im Werk von Clarice Lispector wurden bislang noch nicht systematisch herausgearbeitet, vielmehr sind die zahlreichen Metamorphosen weiblicher Protagonistinnen in diesem Œuvre vor allem in Bezug auf das Werk von Kafka, Woolfe und Joyce reflektiert worden. Das ist sicher angemessen. Aber schon Joyce hatte seinem 1916 erschienenen Roman A Portrait of the Artist as a Young Man ein Metamorphosenzitat vorangestellt, und Clarice Lispector entnahm den Titel ihres ersten Buches eben diesem Roman von Joyce. Nun ist es Hélène Cixous zu verdanken, die beständigen Wandlungen in Clarice Lispectors Schreiben auch als einen Modus zu verstehen, in dem die Kategorie Frau nicht als gegeben vorausgesetzt, sondern als Subjekt und Objekt der literarischen Rede reflektiert wird.20 In den Texten Lispectors finde sich nicht mehr das zu Essentialisierungen neigende Denken sexueller Differenz, so Cixous, sondern die Betonung liege durch die vielen Verwandlungen auf der Performativität und damit auch der Veränderlichkeit von Geschlecht. Dass diese anti-essentialistische Dimension im Schreiben Lispectors dann auch deutliche politische Implikationen entfalten kann, kann mit dem close reading einer der Erzählungen deutlich gemacht werden. Darüber haben die mehrfachen Brechungen in der Bewusstseinsdarstellung der Textsubjekte auch Folgen für die intertextuelle Verfasstheit der Texte selbst. Es ist nicht der explizite Bezug von einem Text auf den anderen, sondern in Folge der Dezentrierung der Subjekte vervielfachen sich auch die Spuren

|| 19 Siehe hierzu ausführlich Moser (2009). 20 1979 erschienen zwei Lispector gewidmete Texte von Hélène Cixous: Zum einen der Band Vivre l’orange / To live the Orange im Pariser Verlag Des Femmes und der Essay „L’approche de Clarice Lispector: Se laisser lire (par) Clarice Lispector. A Paixão segundo C. L.“ in der Zeitschrift Poétique 40, 408–419.

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anderer Texte, die sich in Lispectors Erzählungen und Romane eingeschrieben finfinden. Die Kurzgeschichte A procura de uma dignidade stammt, wie erwähnt, aus einem Band aus dem Jahre 1974. Der Anfang der Geschichte vermittelt einen guten Eindruck von Gehalt und Form der Erzählung und macht zugleich deutlich, wie die vielfältig gewundenen Wege des Labyrinths, in dem sich die weibliche Hauptfigur verliert, nicht nur, aber eben auch die knappe Darstellung im achten Buch der Metamorphosen evozieren: A Srª Jorge B. Xavier simplesmente não saberia dizer como entrara. Por algum portão principal não fora. Pareceu-lhe vagamente sonhadora, ter entrado por uma espécie de estreita abertura em meio a escombros de construção, como se tivesse entrado de esguelha por um buraco feito só para ela. O fato é que quando viu já estava dentro. E quando viu percebeu que estava muito, muito dentro. Andava interminavelmente pelos subterrâneos do Estádio de Futebol do Maracanã, ou, pelo menos, pareceram-lhe cavernas estreitas que davam para salas fechadas, e quando se abriam as salas só havia janelas que davam para o estádio. Este, àquela hora torradamente deserto, reverberava ao extremo sol dum calor inusitado que estava acontecendo naquele dia de pleno inverno. Então a senhora seguiu por um corredor sombrio. Este a levou igualmente a outro mais sombrio. Pareceu-lhe que o teto dos subterrâneos era baixo. E aí este corredor a levou a outro que a levou por sua vez a outros. Dobrou o corredor deserto. E aí em outra esquina.21

Die Hauptfigur dieses Textes, eine knapp 70-jährige Frau, verliert sich in den labyrinthischen Eingeweiden des größten Fußballstadions der Welt, das zur Weltmeisterschaft 1950 als Symbol der Ankunft Brasiliens in der Moderne in Rio de Janeiro gebaut wurde. In diesem Jahr hatte Brasilien seit vier Jahren eine neue Verfassung, mit der man den autoritären Estado Novo, den „Neuen Staat“, von Getulio Vargas hinter sich lassen wollte. 1951 gelangte dieser jedoch zurück an die Macht,

|| 21 „Frau Jorge B. Xavier hätte einfach nicht zu sagen gewusst, wie sie hineingekommen war. Durch eines der Haupttore jedenfalls nicht. Leicht verträumt, kam es ihr so vor, als sei sie durch eine Art schmale Öffnung in den Trümmern einer halbfertigen Baustelle eingedrungen, habe sich von der Seite durch ein Loch gezwängt, das nur für sie bestimmt war. Tatsache ist, dass sie, als sie es merkte, schon drinnen war. Und als sie es merkte, begriff sie, dass sie schon unglaublich tief hineingeraten war. Endlos irrte sie durch die unterirdischen Gänge des Maracanã-Stadions, zumindest kamen sie ihr so vor wie enge Höhlen, die zu verschlossenen Räumen führten, und sobald sich die Räume öffneten, war da nur ein Fenster, das dem Stadion zugewandt war. Welches, zum Bersten leer um diese Zeit, an diesem Tag mitten im Winter im Licht einer stechenden, ungewöhnlich heißen Sonne flimmerte. Also folgte Frau B. Xavier einem dunklen Gang. Dieser führte sie wiederum zu einem anderen noch dunkleren. Sie hatte das Gefühl, die Decke der unterirdischen Gänge sei niedrig. Und dann führte dieser Gang sie zu einem weiteren, der sie seinerseits zum nächsten führte. Sie bog um eine Ecke des verlassenen Ganges. Und kam an eine andere Ecke. Die sie zu einem anderen Gang leitete, der bis zu einer anderen Ecke führte.“ [Übersetzung S.Z.]

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und die Hoffnungen, für die das Maracanã-Stadion symbolisch stand, erfüllten sich nicht. Die Hauptfigur der Erzählung von Clarice Lispector hat dabei einen auffälligen Namen, der nicht nur spanisch klingt, sondern der Name ihres Mannes ist. Sie selbst bleibt namenlos. Gemeinsam mit dem Motiv des Labyrinths evoziert der Name Jorge B. den argentinischen Autor Jorge Luis Borges. Dessen in seinen sechs zwischen 1935 und 1963 erschienenen Erzählbänden entfaltetes Verfahren, die Kurzgeschichte zu einer Metagattung zu entwickeln, seine sprachliche Kraft und intellektuelle Schärfe haben ihn zurecht zu einem der berühmtesten Autoren Lateinamerikas werden lassen. Aber den Nobelpreis hat er wohl auch deshalb nie bekommen, weil er inmitten des Kalten Krieges mit der Begründung in die Konservative Partei eintrat, er bevorzuge verlorene Fälle, und weil er sich zwar entschieden gegen Perón stellte, doch pour épater le bourgeois rechte Erklärungen von sich gab.22 Dabei ist das Labyrinth zur Ikone für seine Erzählweise geworden, die man beispielhaft für die Ästhetik der Postmoderne gelesen hat. Umberto Eco hat Borges 1980 in seinem Roman Il nome della rosa in der Gestalt des Jorge von Burgos ein literarisches Denkmal gesetzt. Aus Borges’ berühmter Erzählung La Biblioteca de Babel entnahm Eco auch die Konzeption der im Zentrum seines Romans stehenden labyrinthartigen Klosterbibliothek, die ein Abbild des Universums ist. 1974 in Brasilien verwandelt Clarice Lispector Jorge B. in eine Frau, die im Labyrinth einer verfallenen Ikone der Moderne verloren geht. Dabei trifft sie auf zwei Männer. Während der erste vorgibt, von nichts etwas zu wissen und ihr nicht helfen zu können, führt sie der zweite ins Stadion hinein. An dieser Stelle beginnt der nächste Abschnitt: De qualquer modo seguiu o homem para o estádio, onde parou ofuscada pelo espaço oco de luz escancarada e de mudez aberta, o estádio nu desventrado, sem bola nem futebol. Sobretudo sem multidão. Havia uma multidão que existia pelo vazio de sua ausência absoluta. As duas damas e o cavalheiro já haviam sumido por algum corredor? Então o homem disse com desafio exagerado: “Pois vou procurar para a senhora e vou encontrar de qualquer jeito essa gente, eles não podem ter sumido no ar”. E de fato de muito longe ambos os viram. Mas um segundo depois tornaram a desaparecer. Parecia um jogo infantil onde gargalhadas amordaçadas riam da Srª Jorge B. Xavier. Então entrou com o homem por outros corredores. Aí este homem também sumiu numa esquina.23

|| 22 Die Formulierung stammt von Mario Vargas Llosa (1997). 23 „Wie dem auch sei, sie folgte dem Mann ins Stadion, wo sie geblendet in dem hohlen Raum klaffenden Lichts und offener Stummheit stehenblieb, in diesem nackten, ausgeweideten Stadion ohne Ball noch Fußball. Vor allem ohne Menschenmengen. Es gab eine Menge, die aufgrund der Leere ihrer absoluten Abwesenheit existent war. Waren die zwei Damen und der Herr schon auf einem der Gänge verschwunden? Da sagte der Mann äußerst herausfordernd: «Hören Sie, ich werde diese Leute für Sie suchen und werde sie finden, egal wie, sie können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben».

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In diesem Abschnitt der Erzählung öffnet sich mit den Verben desaparecer und sumir, die „verschwinden“ bedeuten, ein weiterer semantischer Zusammenhang, der charakteristisch für ein Kapitel des breiten Spektrums von Menschenrechtsverletzungen der Militärdiktaturen Lateinamerikas ist: das Verschwindenlassen als Form der Willkürherrschaft. Erst 2011 wurde in Brasilien eine Wahrheitskommission vom Kongress eingesetzt, um Terror, Folter und politischen Mord während der Militärdiktatur zu dokumentieren. Denn ein 1979, also noch zu Zeiten der Diktatur, verabschiedetes Amnestiegesetz, das sowohl Verbrechen der Militärs wie linker Rebellengruppen umfasst, gilt weiterhin und wurde noch 2009 vom Obersten Gericht bestätigt. Der Abschlussbericht der brasilianischen Wahrheitskommission dokumentiert mehr als 430 Opfer, davon 191 nachweislich Getötete und 243 „Verschwundene“, die während der Militärdiktatur in Brasilien von 1964 bis 1985 von Polizisten, Soldaten und Geheimdienstmitarbeitern ermordet wurden. Für die Leserinnen und Leser des Jahres 1974, die in der Erzählung von Clarice Lispector mit der verzweifelten Suche der Hauptfigur nach anderen Menschen im Labyrinth des Stadions konfrontiert waren, die als verschwunden, in Luft aufgelöst, nicht mehr auffindbar beschrieben werden, war die Verweisstruktur auf das Labyrinth ebenso vielfältig wie für heutige Leserinnen. Das Sinnpotential des Textes geht in diesen fragmentierten intertextuellen Bezügen nicht auf. Doch die als labyrinthisch dargestellte Textwelt ist bei Lispector – im Gegensatz zu Borges – kein skeptisches Gedankenexperiment. Die Verben desaparecer und sumir vereindeutigen, dass wir vielleicht nicht wissen können, was genau geschehen ist, dies aber nicht heißt, dass es nicht als Verbrechen benannt werden kann. Und der Fortgang der Erzählung unterstreicht diese Deutung: Die Hauptfigur kann nur mit Mühe das Labyrinth des Stadions verlassen, aber auf der Straße, zurück in der eigenen Wohnung, selbst in der Intimität des eigenen Schlafzimmers, ist sie weiter vom Gefühl, im Labyrinth eingeschlossen zu sein, verfolgt; im letzten Abschnitt der Erzählung sucht die Hauptfigur verzweifelt einen Scheck, den sie verlegt hat. Diese banale Alltagssituation wird plötzlich fast halluzinatorisch erlebt: Então percebeu que estava de quatro. Assim ficou um tempo, talvez meditativa, talvez não. Quem sabe, a Srª estivesse cansada de ser um ente humano. Estava sendo uma cadela de quatro. Sem nobreza nenhuma. Perdida a altivez última. De quatro, um pouco pensativa talvez. Mas debaixo da cama só havia poeira.

|| Und in der Tat sahen die beiden sie ganz weit hinten. Eine Sekunde später waren sie wieder verschwunden. Es war wie ein Kinderspiel, in dem erstickte Lachsalven Frau Jorge B. Xavier verhöhnten. Da bog sie mit dem Mann in andere Gänge ein. Dann verschwand auch dieser Mann an einer Ecke.“

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Levantou-se com bastante esforço das juntas desarticuladas e viu que nada mais havia a fazer senão considerar com realismo – e era com um esforço penoso que via a realidade – considerar com realismo que a letra estava perdida e que continuar a procurá-la seria nunca sair do Maracanã. [...] Foi então que a Srª Jorge B. Xavier bruscamente dobrou-se sobre a pia como se fosse vomitar as vísceras e interrompeu sua vida com uma mudez estraçalhante: tem! que! haver! uma! porta! de saííííííída!24

Wie bei Jorge Luis Borges ist das Labyrinth in dieser Erzählung ein Abbild des Universums, aber das Universum in dieser Erzählung von Clarice Lispector und die Erfahrung der weiblichen Hauptfigur ist nicht, wie bei Borges, Ausdruck eines überhistorischen Relativismus, der thematische und stilistisch-strukturelle Momente seiner Erzählungen in den Dienst eines abstrakten erkenntnistheoretischen Interesses stellt. Es geht in der Erzählung von Clarice Lispector um die Darstellung einer ganz anderen Wirklichkeitserfahrung, die auf einen sehr konkreten historischen Zusammenhang und seine drastischen Folgen für das Leben jedes einzelnen Menschen verweist. Dass darin auch ein Urteil über Borges enthalten ist, steht dazu gar nicht im Widerspruch – im Gegenteil. Auch wenn sich für Lispectors Erzählung die Darstellung des Labyrinths im achten Buchs der Metamorphosen kaum als einziger konkreter Prätext isolieren lässt, bedeutet das nicht, dass kein Ovid-Bezug vorliegt. Das Schreiben Lispectors ist jedoch auch nicht ausreichend beschrieben, wenn das Labyrinth weniger als „Einzeltextreferenz“ denn als „Systemreferenz“ im Sinne Pfister/Broich eingeordnet wird. Vielmehr scheint es, also ließe sich auch an Lispectors Darstellung des Labyrinths nachvollziehen, was Renate Lachmann mit ihrer Deutung von Schreiben als „Gedächtnishandlung und Neuinterpretation der (Buch-)Kultur“25 beschrieben hat. Die Verknüpfung unterschiedlicher Intertexte von Ovid bis Borges setzen Prozesse der Sinngebung in Bewegung, die das Beklemmende der Labyrinth-Darstellungen (als reales Gefängnis für den Minotaurus, als Bild mentalen Gefangenseins) mit einem konkreten Verbrechen aus der Gegenwart der Erzählung von Lispector (dem Verschwindenlassen) verbinden. Der Effekt dieser

|| 24 „Plötzlich merkte sie, dass sie auf allen vieren kroch. Eine Zeitlang verharrte sie in dieser Stellung, vielleicht sann sie über etwas nach, vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise hatte Frau Xavier es satt, ein Menschenwesen zu sein. Nun war sie eine vierbeinige Hündin. Ohne jede Würde. Verloren der letzte Stolz. Auf allen vieren, vielleicht über etwas nachsinnend. Aber unter dem Bett lag nur Staub. Unter großer Anstrengung bewegte sie ihre steifen Gelenke, stand auf und sah, dass es nichts weiter zu tun gab, als realistisch – und die Realität zu sehen bedeutete für sie eine beschwerliche Anstrengung –, als realistisch einzuräumen, dass der Scheck verloren war und ihn weiter zu suchen bedeuten würde, nie mehr dem Maracanã zu entkommen. […] Just in diesem Augenblick beugte sich Frau Jorge B. Xavier plötzlich über das Waschbecken, als müsse sie alles, was sie im Leib hatte, herauswürgen, und unterbrach ihr Leben mit einer zerfleischenden Lautlosigkeit: Es! muss! doch! einen! Ausweg! geeeeeeeben!“ 25 Lachmann (1990) 36.

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Verknüpfung ist die Markierung der scharfen Differenz zwischen dem, was mit Ovid und Borges als Teil der Buchkultur beschrieben werden kann, und dem Verbrechen, das mit Lispectors Erzählung zum Gegenstand wird.

Ovids Katze Ein argentinischer Roman aus dem Jahre 1987 mit dem Titel Pasos bajo el agua – Schritte unter Wasser der 1953 in Argentinien geborenen Alicia Kozameh soll das letzte Beispiel sein, das noch einmal verdeutlichen kann, welch markante Funktion auch nicht auf einen einzelnen Prätext festzulegende intertextuelle Bezüge in der Darstellung von Leid haben können, für das seine weiblichen Opfer keine Worte haben. Kozamehs Roman versucht eine literarische Annäherung an die Erfahrungen von oppositionellen Frauen während der argentinischen Militärdiktatur.26 Die Autorin Alicia Kozameh ist ausgebildete Literaturwissenschaftlerin und schloss sich während ihres Studiums der revolutionären Arbeiterpartei an. Gleich in der chaotischen Anfangsphase der Militärdiktatur wurde sie verhaftet. Nach ihrer Machtergreifung am 24. März 1976 hatte die Militärjunta in Argentinien einen schmutzigen Krieg gegen die Opposition im eigenen Land entfesselt: Zehntausende Menschen wurden zum Teil willkürlich und ohne Haftbefehl verschleppt, monate- und jahrelang ohne Prozess festgehalten, gefoltert und ermordet. Die grausamste, aus der „Französischen Doktrin“ übernommene Methode der Sicherheitskräfte war auch in Argentinien das „Verschwindenlassen“: Nach ihrer Ermordung wurden die Verschleppten an geheimen Orten in anonymen Massengräbern verscharrt oder von Flugzeugen aus in den Río de la Plata geworfen. Alicia Kozameh verbrachte drei Jahre als politische Gefangene in Haft, erst im Frauengefängnis in Rosario, dann in der Haftanstalt „Villa Devoto“ in Buenos Aires. Nach einer Weihnachtsamnestie kam sie frei und bemühte sich, das Land zu verlassen; erst zwei Jahre später gelang ihr dies, und sie ging zunächst nach Kalifornien, später nach Mexiko. Nach dem Ende der Militärdiktatur in Argentinien beschloss die Autorin mit ihrer Tochter wieder nach Argentinien zurückzukehren. Doch sie war nach dem Erscheinen ihres Romans Pasos bajo el agua so massiv neuerlichen Drohungen ausgesetzt, dass sie 1988 endgültig Argentinien verließ. Dabei ist der Roman nicht nur markant von einer individuellen Perspektive markiert, sondern bezieht sich nur höchst implizit auf die Ereignisse im Gefängnis. Der Roman nutzt jedoch vielfältige Bezüge auf die Literaturgeschichte, um die Spezifik der historischen Erfahrung von Frauen während der Militärdiktatur in

|| 26 Siehe López-Cabrales (1995), Portela (2003) u. (2006), Blend (2007), Bolognese (2013), Hall (2013) und Winch-Paulorinne (2013).

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Argentinien anzudeuten. Diese Bezüge sind, wie im Falle Lispector, vielfältiger Natur und kaum auf nur einen Bezugstext zurückzubinden. Doch ein erstes auffälliges Motiv ist die Reaktion der gerade aus dem Gefängnis entlassenen Hauptfigur namens Sara auf Katzen, die ihr vor ihrem Zuhause begegnen: Sara sube, sube las escaleras corriendo y desde el escalón más alto mira, hacia abajo, el patio de la casa de sus padres. Y, hacia adelante, la terraza. Es todo entre rígido y escurridizo, y está ahí y se esfuma. […] Ése es el instante en que escucha un maullido y los nervios se le electrizan. No grita: no puede. Un gato. Dónde estará. Ahora qué hago, dónde me escondo. En qué lugar. Mira a su alrededor con los ojos entrecerrados. Para qué descubrir. Hay un rincón de la terraza donde el sol no llega; se ven las dos paredes amarillentas y en ángulo, las baldosas rojizas y una maceta con geranios; se sienta en el borde de la maceta. Me voy a ensuciar los pantalones; qué importa: ahora voy a tratar de pensar en los gatos. Cada vez dudo menos de que existen. […] Recién empiezo a calmarme un poco. […] Porque yo he visto gatos muertos. Son el horror. 27

Die heftige Reaktion der Protagonistin auf die Katzen zu Beginn des Romans – der Ausschnitt stammt aus dem ersten Kapitel, in dem Sara, aus dem Frauengefängnis entlassen, wieder bei ihren Eltern wohnt – ist besser zu verstehen, wenn man die aus dem Lunfardo entnommene Bedeutungsebene von „gato“ im argentinischen Spanisch mit einbezieht, die zunächst männliche Kunden, später dann Frauen bezeichnete, die ihren Körper verkauften.28 Die Katzen erinnern die Textfigur an die sexuelle Gewalt, die den Frauen im Gefängnis angetan wurde. Kann hier zugleich auch ein Bezug auf Ovids Erwähnung der Diana vorliegen, die sich auf der Flucht vor Typhon in eine Katze verwandelte (Metamorphosen 5, 330)? Es ist ja auch bei Ovid nur ein einziger Vers, der diese Verwandlung erwähnt, und keine prominente Geschichte. Doch die Isotopie des Versteckens, der Flucht, die sich in der hier untersuchten Textstelle nachweisen lässt, lässt dies zumindest vorsichtig als möglich erscheinen, ohne wiederum den Anspruch zu erheben, dies sei als ein konkret greif|| 27 Kozameh (2002) 13–15. Deutsche Ausgabe Kozameh (1999) 11–14: „Sara läuft die Treppe herauf, rasch, rasch, und von der obersten Stufe aus hält sie Ausschau, nach unten, auf den Innenhof ihres Elternhauses. Und nach vorne, auf die Terrasse. Alles ist einerseits starr, andererseits schwer festzumachen, es ist da und verwischt sich doch. […] In diesem Moment hört sie ein Miauen, und ihre Nerven durchzuckt es wie elektrisiert. Sie schreit nicht: kann nicht. [Der folgende Passus fehlt in der deutschen Übertragung des Buches, hier meine Übersetzung: „Eine Katze. Wo steckt sie? Was soll ich jetzt tun, wo soll ich mich verstecken? Wo. Sie schaut sich mit zusammengekniffenen Augen um. Wo ist sie zu entdecken.“] Da gibt es eine Ecke der Terrasse, wo die Sonne nicht hinkommt; man sieht die zwei gelblichen Wände und im Winkel die rötlichen Bodenfliesen und einen Blumentopf mit Geranien; sie setzt sich auf den Rand des Blumentopfs. Ich werde mir die Hosen schmutzig machen; doch was macht das schon: Jetzt werde ich versuchen, an die Katzen zu denken. Ich zweifle immer weniger an ihrer Existenz. […] Erst allmählich beginne ich, mich ein wenig zu beruhigen. […] Denn ich habe auch schon tote Katzen gesehen. Der reine Horror.“ 28 Anlässlich einer Verleumdungsklage 2017 führte die argentinische Tageszeitung La Nación ein Interview mit Óscar Conde, Mitglied der „Academia porteña de Lunfardo“ (La Nación, 7. Apil 2017), der diese pejorative Bedeutung von „gato“ unterstrich.

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barer Bezug auf einen einzelnen Prätext zu verstehen. Doch auch hier führt die Vielfalt der semantischen Bezüge nicht ins Beliebige, ins Unspezifische, sondern sie dienen der sprachlichen Annäherung an das Bewusstsein des Textsubjekts. Die Protagonistin Sara ist gequält von widerwärtigen Erinnerungen, deren seelische und körperliche Konsequenzen zum Gegenstand des Romans werden. Das Miauen der Katzen und die Erinnerung an den Anblick toter Katzenleiber markiert in Alicia Kozamehs Roman das im Frauengefängnis erlebte Grauen, die Entmenschlichung der Opfer durch Folter, sexuelle Gewalt und politischen Mord. Dies konkretisiert der folgende Textabschnitt: Quisiera recordar por dónde andan los gatos, además de las terrazas. Qué diferencia habrá entre lo que siente un milico al ver un gato y lo que yo siento ahora con sus maullidos. Quizá una enciclopedia me ayude. Tengo que averiguar algo sobre gatos; volver a enterarme, aprender. Y el otro con el agujero eo el vientre lleno de hormigas. Sentí un millón de agujas clavándoseme en la cabeza. Bueno basta, basta. Un gato es como una orquesta: se presenta, otorga una música y desaparece. Hay que sobrevivir a esos golpes. Acomodarse. Tengo que ir asimilando de a poco cada intensidad. Con cuidado. El que no entienda por qué estoy aquí entre geranios y gatos tiene derecho a expresar sorpresa, a gesticular, a abrir la boca, los ojos, los brazos, a quedarse ahí parado como un imbécil tratando de desentrañar. Ya sonó el timbre varias veces. Deben estar llegando los amigos. Es yo creo que excesivo en este momento descubrir que existen las terrazas y todos sus elementos. La luna. Empieza a verse la luna. Hay que atreverse a mirarla. Resulta difícil, cuando es imposible compartirla con los que todavía no la tienen a mano. La luna y los gatos. Sara tiene la luna en la cabeza. Los ojos clavados en el piso. Y entonces un gato cruza la terraza, y ella pierde la respiración y después grita, y los alaridos llegan hasta abajo. Un gato, papá. Un gato. […] Para él un gato es un animal. Asusta, pero él no lo sabe. Tengo que hacerme cargo. Descifrar. Tengo que recuperarlos. […] Sara va bajando detrás de su padre, con esa lentitud a la que obligan escalones cubiertos de gatos amontonados, enfermos, colgando, aferrados a las barandas, blandos o endurecidos como goma seca: si se prefiere no pisarlos, no locarlos con los pies. La cárcel no deja tiempo para ocuparse de los gatos. Tampoco hay espacios para repetir circos ni otras huídas. Para mi padre un gato es un gato. Para mí hoy es una mueca reverencial que me hace la libertad. Hacerse cargo.29

|| 29 Kozameh (2002) 16–18. Deutsche Ausgabe Kozameh (1999) 15–17: „Ich möchte mich daran erinnern, wo Katzen herumspazieren, außer auf Terrassen. Was für ein Unterschied mag wohl sein zwischen dem, was ein Militär fühlt, wenn er eine Katze sieht, und dem, was ich jetzt bei ihrem Miauen fühle. Vielleicht hilft mir ein Lexikon. Ich muss etwas über Katzen nachlesen; mich wieder informieren, lernen. Und die andere mit dem Loch im Bauch, voller Ameisen. Ich fühlte eine Million Nadelstiche, die sich mir in den Kopf bohrten. Gut, genug jetzt, genug. Eine Katze ist wie ein Orchester: sie tritt auf, bietet eine Musik dar und verschwindet wieder. Man muss diese Schläge überleben. Sich akklimatisieren. Ich muss langsam jede einzelne Intensität verarbeiten. Behutsam. Wer nicht begreift, warum ich hier zwischen Geranien und Katzen sitze, hat das Recht darauf, sein Erstaunen auszudrücken, zu gestikulieren, den Mund aufzumachen, die Augen, die Arme, hier wie ein Trottel herumzustehen und zu versuchen, dahinterzukommen. Die Klingel hat schon mehrmals geläutet. Es müssen die Freunde sein, die kommen. Es ist, glaube ich, übertrieben in diesem Augenblick, zu

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Für das Textsubjekt ist die Katze explizit Verweis-Zeichen („una mueca reverencial“), über dessen Geschichte sie, so steht es, mehr lesen möchte („Tengo que averiguar algo sobre gatos; volver a enterarme, aprender – Ich muss etwas über Katzen nachlesen; mich wieder informieren, lernen“). So legt der Roman in den Abschnitten über die Katze seine Verfahren offen: Durch die Konfrontation mit verschiedenen Referenztexten soll das Erlebte nicht als mental erfassbar, erklärbar dargestellt werden, sondern die semantische Differenz zwischen in der Buchkultur zu findenden Darstellungen von Katzen und der Bedeutung von Katzen angesichts der grausamen Erfahrung des Textsubjekts ausgestellt werden. Die dreißig Frauen, mit denen die Protagonistin Sara ihre Zeit im Gefängnis verbracht hat, stehen in Alicia Kozamehs Roman stellvertretend für alle Frauen, die Folter erlitten haben, deren Körper sich nicht mehr in ihrer Kontrolle befand. Zugleich haben Sara und ihre Gefährtinnen Dinge gesehen, die der Öffentlichkeit vorenthalten wurden: die umfassende, hemmungslose Gewalt des Militärregimes. Die Katzen, die als komplexes Symbol das erste Kapitel von Kozamehs Roman dominieren, repräsentieren die Opfer dieser Gewalt – und zugleich können sie zumindest implizit auf eine gelungene Flucht verweisen, die Flucht Dianas bei Ovid. Diese Markierung von Flucht gewinnt ihre Bedeutung als Erinnerung eines Textes, als „Verweis-Zeichen“, wie der Roman es benennt. Mit anderen Worten: Das Gedächtnis an die Katze der Buchkultur verweist auf die Figur der Diana als Jungfrau, die nicht nur durch Verwandlung ihren Verfolgern entrinnen konnte, sondern auch bestrafte, wer ihre Keuschheit bedrohte – bei Ovid findet sich (in Metamorphosen 3, 131–252) eine drastische Beschreibung der Strafe des Aktaion. Der Gedächtnisraum, der mit den – in der Tat nur sehr losen – Bezügen markiert werden kann, verweist auf die völlig gegenteilige Erfahrung der inhaftierten Frauen im Argentinien der Militärdiktatur. Der Begriff des „Verweis-Zeichen“ erinnert aber auch daran, dass der einzige Austragungsort von Widerstand im Gefängnis, so erschließt sich im weiteren Verlaufe des Romans von Alicia Kozameh, das geschriebene Wort war. Die Frauen, die das Gefängnis überlebt haben, waren dazu in der Lage, weil sie heimlich Theater|| entdecken, dass es Terrassen gibt und alle ihre Elemente. Den Mond. Man kann langsam den Mond sehen. Man muss es wagen, ihn anzuschauen. Das fällt schwer, wenn es unmöglich ist, ihn mit denen zu teilen, die ihn noch nicht zur Hand haben. Den Mond und die Katzen. Sara hat den Mond im Kopf. Die Augen auf den Boden geheftet. Und da huscht eine Katze über die Terrasse, und ihr bleibt der Atem stehen, und dann schreit sie, und die Schreie dringen bis nach unten. Eine Katze, Papa. Eine Katze. […] Für ihn ist eine Katze ein Tier. Es macht Angst, aber das weiß er nicht. Ich muss mich damit befassen. Es entschlüsseln. Ich muss sie wiedergewinnen. […] Sara geht hinter ihrem Vater hinunter, mit dieser Langsamkeit, zu der sie gezwungen wird von Stufen, die von Katzen bedeckt sind, aufeinandergehäuft, krank, aufgehängt, ans Geländer gekrallt, weich oder hart wie trockener Gummi: lieber nicht auf sie drauftreten, sie nur nicht mit den Füßen berühren. Das Gefängnis lässt einem keine Zeit, sich mit Katzen zu beschäftigen. Es gibt auch keinen Raum, um einen Zirkus oder andere Fluchten zu wiederholen. Für meinen Vater ist eine Katze eine Katze. Für mich ist es heute eine Geste der Reverenz, die mir die Freiheit erweist. Sich das vor Augen halten.“

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stücke aufführten, sich Geschichten vortrugen, zeichneten, schrieben und diese Schriften am Körper versteckt miteinander austauschten. Dies erinnert – ebenso lose wie zuvor – an die Kommunikation zwischen Prokne und Philomela (Metamorphosen 6, 426–674): Der von Tereus vergewaltigten Philomela, der jener die Zunge herausgeschnitten hatte, damit sie seine Tat nicht anklagen konnte, war es gelungen, ein Gewebe anzufertigen, das von dem Verbrechen Zeugnis ablegte. Prokne vermochte die Zeichen zu entziffern und einen Racheplan zu entwerfen. So bringt diese Evokation zumindest den Gedanken ins Spiel, dass auch die Täter im argentinischen Frauengefängnis eines Tages für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden könnten – auch wenn alles versucht wird, diese Frauen zum Verstummen zu bringen. Mit auf Zigarettenpapier geschriebenen Texten hielten die Frauen im Gefängnis ihre Sprache am Leben – und Sara verwandelte sich in eine Schriftstellerin.30 Saúl Sosnowski hat hierzu im Vorwort zur englischen Übersetzung des Romans das Folgende festgehalten: Guarded words, however, could never account for a world that was to be kept from a knowing or suspicious public. Words that partake of the innermost intimacy of truth had to be hidden in the sole place that was not searched by prison wardens. In death and in life, the compañeras bodies became safekeepers for memory and, for Alicia Kozameh, the renewed birthplace of writing.31

Wenn es in Alicia Kozamehs Roman überhaupt einen Bezug auf Ovid gibt, erscheint dieser in der Formulierung Renate Lachmanns wie ein „Trugbild im neuen Text“, der das Original verdeckt und verstellt und dessen Sinn unterläuft. Er wird zum Gegenzeichen.32

Verflechtungen Dass „die europäische Phantasie ein weitgehend auf Ovid zentriertes Beziehungsgeflecht“33 ist, daran hat Hans Blumenberg in seiner Arbeit am Mythos erinnert, und Melanie Möller beginnt ihr Reclam-Buch zu Ovid zurecht mit diesem wichtigen Hinweis. Das von Ovid geschaffene ästhetische Zeichensystem macht ihn zur Schlüsselfigur der Kulturgeschichte Europas. Doch die Rezeptionsgeschichte greift weit über Europa hinaus. In den lateinamerikanischen Literaturen ist durch die Gewalt, die die Geschichte des Kontinents geprägt hat, die Leichtigkeit mancher Episoden der Metamorphosen verloren gegangen. Und dies gilt nicht nur auf diesem Kontinent. So || 30 Buchanan (1998). 31 Sosnowski (1996) XIV–XV. 32 Lachmann (1990) 27. 33 Blumenberg (1979) 144.

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nutzt etwa auch der zeitgenössische mosambikanische Autor Mia Couto Bezüge auf die Metamorphosen für eine kritische Revision der kolonialen wie der nachkolonialen Erfahrung, etwa in den Romanen Terra Sonâmbula und O último voo do flamingo. Die Intensität der Bezugnahmen auf den römischen Dichter in der lateinamerikanischen Literatur hat sich dabei nicht nur auf die Metamorphosen beschränkt. Die Referenzen auf Ovids Epistulae ex Ponto, seine Briefe aus der Verbannung, in den Texten lateinamerikanischer Exilierter verdienten einen eigenen Beitrag. Dass in den Epistulae das poetische Sprechen ins Zentrum politischen Handelns gestellt und ihm damit historisches Gewicht verliehen wurde, war dabei ein wesentlicher Bezugspunkt. Ovids Texte sind in den spanisch- und portugiesischsprachigen Literaturen des 20. Jahrhunderts immer wieder auf die Möglichkeiten befragt worden, Zeugnis zu geben von Geschehen, das die Gegenwart überschattet. Die hier diskutierten Texte haben an die Metamorphosen Ovids die Frage nach dem Verhältnis von geschichtlicher Erfahrung und den Möglichkeiten der Konstituierung einer der Wirklichkeit angemessenen Sprache gestellt, als Ausdruck existentieller Sinnsuche und geschichtsphilosophischer Selbstverständigung.

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Index nominum Adorno, Theodor 164 Ahl, Frederic 147f. von Albrecht, Michael 16, 19 Alenus, Andreas 62ff., 70, 72 von Arnim, Achim 100f., 103f., 106ff., 110ff. Augustinus von Hippo 66, 128, 135 Balde, Jacob 63, 65f. de la Barca, Pedro Calderón 160 Barthes, Roland 109 Bellemin-Noël, Jean 132 Bender, Niklas 141 Bernstein, Leonard 152 Bidermann, Jakob 63ff. Binder, Gerhard 23 Blumenberg, Hans 177 Boccaccio, Giovanni 62 Bodmer, Johann Jakob 67 Böhmer, Johann Friedrich 110 Bömer, Franz 101 Borges, Jorge Louis 170, 172 Boulez, Pierre 152 von Brandenburg, Katharina 62 Brandstetter, Gabriele 83 Brentano, Achim Ariel 104 Brentano, Bettine 93, 105 Brentano, Christian 85f. Brentano, Clemens 83ff., 92f., 95f., 98f., 101, 103ff., 110ff. Brentano, Franz 104 Brentano, Maximiliane 93, 104 Brentano, Peter Anton 93 Bretzigheimer, Gerlinde 13 Brückner, Christine 75f. Burger, Franz 11, 16f. Busch, Wilhelm 16 Butler, Judith 37 Cabiliau, Baudouin 63ff. Caesar 119 Camerarius, Joachim 56 Catull 55 Celtis, Conrad 56 Cézanne, Paul 152 Cixous, Hélène 168 von Clairveaux, Bernhard 66

https://doi.org/10.1515/9783110703221-009

Couto, Mia 178 da Crescentino, Ubertino 55 de la Cruz, Sor Juana Inés 159ff. Curran, Leo 18 de Marseille, Foulquet 31 Debussy, Claude 151f. Descartes, René 148 Djagilew, Sergei 152 von Dobeneck, Hiob 56 Drayton, Michael 67, 70 Eco, Umberto 170 Edwards, Cyril 28 von Eichendorff, Joseph 88 Ernst, Christian Philipp Gotthold 74 d’Espence, Claude 61f. Euripides 62 von Fenis, Rudolf 31 Flaubert, Gustave 117ff., 127ff., 133, 135f. Freud, Sigmund 37, 40f., 142 Frey, Hans-Jost 140 Gerlach, Wolfgang 23 Ginsberg, Warren 85 von Goethe, Johann Wolfgang 67, 93 Grünbein, Durs 75 von Guiata, Mathilde 92 von Günderrode, Karoline 88 von Hagenau, Reinmar 32 von Halberstadt, Albrecht 86, 96f. Harder, Richard 12ff. Häuptli, Bruno 15ff. Hein, Wolfgang 166 Heinsius, Daniel 54 Helmridge-Marsilian, Veronique 66 Hensel, Luise 111 Herder, Johann Gottfried 74 Hernández Martínez, Maximiliano 162, 164 Hertzberg, Wilhelm 11, 17 Hessus, Helius Eobanus 56ff., 63, 65 Hoffmann von Hoffmannswaldau, Christian 66f., 70, 76 Hoffmann, Detlev 15, 17

182 | Index nominum

Homer 126 Horaz 73 Huber, Christoph 28, 42, 44 Hughes, Ted 75 Hugo, Herman 65 Hugo, Victor 117, 127ff., 131ff., 135

Möller, Melanie 177 von Morungen, Heinrich 28f., 32, 34f., 41f. Müller, Jan-Dirk 33f., 40, 42f. Mutius, Macareus 56

Jankélévitch, Vladimir 155 Johnson, Patricia 122 Joyce, James 168

Omeis, Magnus Daniel 70 d'Orléans, Louis Philippe 118

Kafka, Franz 168 Kasten, Ingrid 45 Kellner, Beate 35, 38, 45 Kern, Manfred 28, 34, 43 Klein, Dorothea 33 von Kleist, Heinrich 150 Kleopatra 119 Kling, Thomas 75 Klopstock, Friedrich Gottlieb 73 Kozameh, Alicia 173, 175f. Kraß, Andreas 36f., 43 Kraus, Johanna 105 von La Roche, Sophie 93 Labbie, Erin Felicia 47 Lacan, Jaques 36, 46f. Lars, Claudia 162ff. Lehms, Georg Christian 70 Levin, Rahel 87 Linder, Emilie 111f. Lispector, Clarice 167f., 170ff. Lispector, Elisa 168 Lispector, Mania 167 Lispector, Pinkas 168 Lorich, Gerhard 86 Lucan 119 Lúdmer, Josefina 165 Luther, Martin 60 Malandain, Thierry 155 Mallarmé, Stéphane 139ff., 147ff., 151f., 154 Mantuanus, Baptista 56 Marg, Walter 12ff. von Marnitz, Viktor 12 Martial 55 Marullus, Michael 56 Mereau, Sophie 104f., 110 Milton, John 73

Nijinsky, Vaslav 152, 154

Paz, Octavio 160 Pehnt, Annette 76f. Perón, Juan 170 Plutarch 62 Properz 54 Puigs, Manuel 165, 167 Ransmayr, Christoph 75 Raßmann, Friedrich 74 Richardson, Samuel 127 Roméro, Christophe 155 Rösch, Ernst 18f., 21f. Sachs, Hans 16 von Salisbury, Johannes 35 Savigny, Friedrich Karl 111 Schliebitz, Christoph 15, 17 Schmid, Elisabeth 35 Schubert, Werner 75 Shakespeare, William 123 Simonides 62 Sosnowski, Saúl 177 Spitzer, Leo 31 Stocker, Hermann 15, 17 Stroh, Wilfried 12 Tibull 54 Uhse, Beate 16 Valéry, Paul 143 Vargas, Getulio 169 Vergil 73 Vincart, Jean 63ff. von der Vogelweide, Walther 30, 32 Voß, Johann Heinrich 13 Wagner, Wilhelm Richard 18 Walde, Christine 76

Index nominum | 183

Wickram, Jörg 86, 96f. Wieland, Christoph Martin 71, 73f. Winko, Simone 40f. Woolfe, Virginia 168

von Zigler und Kliphausen, Heinrich Anselm 70 Zollinger, Edi 128 Zumthor, Paul 33

Index locorum Bibelstellen 5. Mose 21.10–13 Jes 7,14

61 57

Andreas Alenus Sacrae Heroides 147r–148v

72

Achim von Arnim Briefe 31,60 Briefe 31,60f. Briefe 31,60–66 Briefe 31,61 Briefe 31,64 Briefe 31,65 Briefe 31,114f. Briefe 31,115 Augustinus adult. coniug. VII,6,388

106 99 99 103, 107 101 106 108 107

135

Jacob Balde Urania Victrix 12f. [3]

65

Jakob Bidermann Heroides 14 [5]

64

Clemens Brentano Briefe 29,149 104 Briefe 29,490–494 103 Briefe 29,491 104 Briefe 29,492 103, 105 Briefe 29,493 104 Briefe 29,494 105, 106 Briefe 29,495 104 Briefe 29,499 104 Briefe 29,501f. 105 Briefe 31,186 110 Briefe 37,1,46f. 110 Briefe 37,1,173–177 92 Godwi 16,520 97 Godwi 16,559 97 Godwi 16,575f. 97 ‚Nachtlied der Spinnerin‘ 19,95–120 92 ‚Nachtlied der Spinnerin‘ 19,96f. 89, 95 ‚Nachtlied der Spinnerin‘ 19,97f. 93 ‚Nachtlied der Spinnerin‘ 19,118 92

https://doi.org/10.1515/9783110703221-010

‚Nachtlied der Spinnerin‘ 19,120 Romanzen vom Rosenkranz 10,5 Romanzen vom Rosenkranz 10,9 ‚Weberlied‘ 1,611

95 92 83 94, 97

Baudouin Cabiliau Epistulae 293–339 Epistulae 339–384

64 64

Sor Juana de la Cruz El divino Narciso 4. Aufzug

161

Claude d’Espence Sacrarum Heroidum liber 3 Sacrarum Heroidum liber 7f. Sacrarum Heroidum liber 8

61 61 61

Rudolf von Fenis Gewan ich ze minnen 63,1 [MF 80,1]

31

Gustave Flaubert Mme Bovary 23/75 Mme Bovary 73/20 Mme Bovary 127/65 Mme Bovary 171/99 Mme Bovary 176/103 Mme Bovary 194/119 Mme Bovary 218/139 Mme Bovary 307/217 Mme Bovary 386/283 Mme Bovary 396/292 Mme Bovary 402/296 Mme Bovary 404/298 Mme Bovary 449/338 Mme Bovary 463/351 Mme Bovary 477/363 Mme Bovary 482/367 Helius Eobanus Hessus epist. 2,1–6 epist. 2,49f. epist. 2,81–84

129 129 130 131, 133 132 132 134 131 131 133 134 131 134 133 134 134

57 60 58

Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau Helden-Briefe a3–a3v 67 Helden-Briefe 62, V. 1–4 68

186 | Index locorum

Helden-Briefe 63, V. 29 Helden-Briefe 63, V. 30 Helden-Briefe 64, V. 37–40 Helden-Briefe 65, V. 57–64 Helden-Briefe 66, V. 97–100 Helden-Briefe 67, V. 12 Helden-Briefe 69, V. 61–68 Helden-Briefe 69, V. 78 Helden-Briefe 69, V. 79 Helden-Briefe 70, V. 97–100

68 68 68 68 69 69 69 69 69 70

Alicia Kozameh Pasos 13–15/11–14 Pasos 16–18/15–17

174 175

Claudia Lars A Sor Juana 1,1 A Sor Juana 1,4 A Sor Juana 1–4

163 163 163

Rahel Levin Briefwechsel Varnhagen 1.2.1812

87

Clarice Lispector A procura de uma dignidade 169, 170, 171 Livius 1,57–60

118

Lucan 10,141

119

Stéphane Mallarmé Faune V. 1 Faune V. 1–3 Faune V. 2–3 Faune V. 3 Faune V. 4 Faune V. 4–7 Faune V. 8 Faune V. 8–9 Faune V. 11 Faune V. 13 Faune V. 39–41 Faune V. 40 Faune V. 55 Faune V. 61 Faune V. 62 Faune V. 71

144 142, 144 144 144 141 148 149 149 142 142 150 142 151 150, 151 150 150

Faune V. 75 Faune V. 78 Faune V. 83 Faune V. 94 Heinrich von Morungen ‚Narzisslied‘ 1 ‚Narzisslied‘ 2 ‚Narzisslied‘ 3 ‚Narzisslied‘ 4 Ovid am. 1,7 am. 1,9,1 am. 2,6,7 am. 2,12,19–24 ars 1,33f. ars 2,185f. ars 2,685f. ars 2,719f. epist. 2,77–79 epist. 3,154 epist. 5,37 epist. 6,8 epist. 10,15 epist. 10,88 epist. 12,25 epist. 13,156 epist. 15 (21),133–134 epist. 15 (21),191–194 epist. 17,179f. epist. 17,244 fast. 3,21f. met. 1,1–4 met. 1,452–567 met. 1,553–567 met. 1,556 met. 1,559 met. 1,568–688 met. 1,600 met. 1,689–747 met. 1,713–750 met. 2,846 met. 3,131–252 met. 5,330 met. 6,1–145 met. 6,2–4 met. 6,7–25 met. 6,51

142 151 151 151

34 37 39 41

13 12 96 14 11 17 16 11, 16 69 59 15 59 15 16 59 16 17 15 59 59 23 4, 108 140 85 85 85 140 18 139 140 124 176 174 101 122 119 120

Index locorum | 187

met. 6,56 met. 6,63–65 met. 6,69 met. 6,74 met. 6,78f. met. 6,103 met. 6,103–104 met. 6,103–126 met. 6,104 met. 6,110 met. 6,112 met. 6,113 met. 6,114 met. 6,115–120 met. 6,115f. met. 6,117 met. 6,117f. met. 6,118–120 met. 6,122 met. 6,124 met. 6,125 met. 6,128 met. 6,129–130 met. 6,130 met. 6,131 met. 6,132 met. 6,134 met. 6,136–138 met. 6,412–674 met. 6,426–674 met. 6,430–432 met. 6,551–560 met. 8,592 met. 11,264f. met. 15,871f.

101 101 101, 108 122 121 22, 102 123 20 119 22 22 22 127 102 102 22 102 102 22 22 22 103 120 120 102, 122, 123 125 120 135 95 177 97 96 19 19 109

met. 15,871–879 met. 15,877–879

83 109

Anette Pehnt Briefe an Charley 16 Briefe an Charley 17–18 Briefe an Charley 19 Briefe an Charley 70 Briefe an Charley 120

77 77 77 76 77

Plutarch mor. 3

62

Properz 1,1

22

Friedrich Raßmann Heroiden der Deutschen X

74

Vergil Aen. 2,214

19

Victor Hugo Notre-Dame 352 Christoph Martin Wieland Briefe von Verstorbenen 26 Briefe von Verstorbenen 166 Moralische Briefe 157 Moralische Briefe 160

127

71, 72 74 72 73

Heinrich Anshelm v. Zigler u. Kliphausen Helden=Liebe 15–21 70 Helden=Liebe 18 70