Geeinte Vielfalt – Versöhnte Menschheit: Die Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs in anthropologischer, gesellschaftspolitischer und ökumenischer Perspektive [1 ed.] 9783666570742, 9783525570746

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Geeinte Vielfalt – Versöhnte Menschheit: Die Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs in anthropologischer, gesellschaftspolitischer und ökumenischer Perspektive [1 ed.]
 9783666570742, 9783525570746

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Benjamin Apsel

Geeinte Vielfalt – Versöhnte Menschheit Die Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs in anthropologischer, gesellschaftspolitischer und ökumenischer Perspektive

Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Christine Axt-Piscalar, David Fergusson und Christiane Tietz

Band 163

Benjamin Apsel

Geeinte Vielfalt – Versöhnte Menschheit Die Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs in anthropologischer, gesellschaftspolitischer und ökumenischer Perspektive

Vandenhoeck & Ruprecht

Für Tinka

Das Werk wurde für den Druck überarbeitet.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: 3w+p, Rimpar Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-3253 ISBN 978-3-666-57074-2

Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist eine leicht veränderte Fassung meiner im Sommersemester 2017 an der Theologischen Fakultät der Georg-August Universität Göttingen eingereichten Dissertation. Mein erster Dank gilt meiner Erstbetreuerin Prof. Dr. Dr. h.c. Christine AxtPiscalar. Ihre umfassende Betreuung und ihr stetes Vertrauen haben zum Gelingen dieses Projektes wesentlich beigetragen. Ebenso danke ich meinem Zweitbetreuer Prof. Dr. Martin Laube für die Übernahme des Zweitgutachtens. Nicht möglich gewesen wäre dieses Projekt ohne die finanzielle sowie inhaltliche Unterstützung durch das Promotionskolleg Transformationsprozesse im neuzeitlichen Protestantismus. Für die finanzielle Förderung danke ich dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur. Für den inhaltlichen Austausch, der weit über das eigene Projekt hinausging, danke ich stellvertretend dem Sprecher des Kollegs, Prof. Dr. Jan Hermelink. Ebenfalls dankbar bin ich für die Impulse der Teilnehmenden des Doktorandenkolloquiums von Prof. Dr. Dr. h.c. Axt-Piscalar. Zahlreiche Freundinnen und Freunde haben zum Erfolg dieser Arbeit beigetragen. Einige seien hier namentlich erwähnt: Eytan Çelik und Oskar Hoffmann, die einzelne Abschnitte Korrektur gelesen haben. Benigna Wäffler, die das Projekt von Anfang an begleitet hat. Matthias Schnurrenberger und Till Wagner, die das Manuskript am Ende komplett gelesen haben. Euch gilt mein tiefer Dank. Ebenso danke ich Svenja Becker und Verena Schenke, die ihren Beitrag zum Entstehen dieser Arbeit geleistet haben. Für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie danke ich den Herausgebern Prof. Dr. Dr. h.c. Christine Axt-Piscalar, Prof. Dr. Christiane Tietz sowie Prof. Dr. David Fergusson. Für die Zusammenarbeit mit dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht danke ich Elisabeth Hernitscheck und Christoph Spill. Schließlich danke ich meinen Eltern Heidemarie und Wolfgang Apsel, die meinen gesamten Bildungsweg gefördert und mir mein Studium ermöglicht haben.

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Vorwort

Ich widme dieses Buch meiner Frau Anna-Katharina Diehl. Ihr Rückhalt und das stete gemeinsame theologische Gespräch haben diese Arbeit erst möglich werden lassen. Ebergötzen, im Juli 2018

Benjamin Apsel

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Der Mensch auf dem Weg zu seiner Bestimmung . . . . . . . . . . . 2.1 Identität im Werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Die geschichtliche Unabgeschlossenheit menschlicher Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Der Sozialbezug menschlicher Identitätsbildung . . . . . . 2.1.3 Ganzheit in der Unabgeschlossenheit: Person sein . . . . . 2.2 Die gemeinsame Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Die Frage nach der Einheit der Kultur . . . . . . . . . . . . 2.2.1.1 Kult und Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Zur institutionellen Gestaltung der gemeinsamen Welt . . . 2.2.3 Die politische Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Herrschaft und Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5 Abschließende Betrachtung der Bedeutung der Religion für die gemeinsame, kulturelle Lebenswelt . . . . . . . . . . . .

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3. Die säkularisierte Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Eine historische Erklärung der Säkularisierung . . . . . . . 3.2 Charakteristika der säkularisierten Gesellschaft und Kultur 3.3 Der Hintergrund: Peter L. Bergers The Homeless Mind . . .

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1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Zugang und Anspruch . . . . . . 1.2 Gegenstand und Vorgehensweise 1.3 Forschungsüberblick . . . . . . .

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Teil A: Die Situation des Menschen als Ausgangspunkt der Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs

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Inhalt

3.4 Folgen der Säkularisierung für Gesellschaft und Individuum . . . . 3.4.1 Die ideologischen Gefahren des Legitimationsdefizites der gesellschaftlichen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Aufgabe von Theologie und Kirche in der säkularen Moderne . . .

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Teil B: Die Kirche und ihre Bestimmung: Vorläufige Darstellung der versöhnten Menschheit 4. Kirche als vorwegnehmende Darstellung des Reiches Gottes . . . . . 4.1 Reich Gottes und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Zum Begriff der Antizipation innerhalb der Theologie Pannenbergs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die unmittelbare Christusbeziehung des Einzelnen als Grund kirchlicher Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Die Gemeinschaft mit Jesus Christus als Grund kirchlicher Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Die Vermittlung der Teilhabe des Einzelnen an der kirchlichen Gemeinschaft durch das Bekenntnis . . . . . . 4.2.2.1 Das Symbol von Nicaea-Konstantinopel als grundlegendes Bekenntnis der gesamten Kirche . . . 4.3 Taufe als Neukonstitution des Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Taufe und Buße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Taufe und Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Zur Frage der Einsetzung der Taufe . . . . . . . . . . . . . 4.4 Das eucharistische Zentrum der Kirche . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Ursprung und Bedeutung des Abendmahls . . . . . . . . . 4.4.2 Die Frage nach der Gegenwart Christi im Abendmahl . . . 4.4.3 Der Glaube an die Gegenwart Christi im Abendmahl als Voraussetzung der Teilhabe daran . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4 Das Verhältnis von Abendmahl und Evangeliumsverkündigung im christlichen Gottesdienst . . 4.4.5 Die Eucharistie als Lebenszentrum der Kirche – Konsequenzen für das kirchliche Leben . . . . . . . . . . . Exkurs: Pannenbergs Plädoyer für einen weiten Sakramentsbegriff . 4.5 Das Verhältnis von Staat und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Pannenbergs Auseinandersetzung mit Luthers Zwei-Reiche-Lehre und der eusebianischen Reichstheologie 4.5.2 Die gesellschaftliche Funktion der Kirche . . . . . . . . . .

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Inhalt

5. Einheit und Pluralität der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Strittigkeit Gottes und die Pluralität der Religionen . . . . . 5.1.1 Die zukünftige Herrschaft Gottes als Einheit der Welt . . . 5.1.2 Die Strittigkeit Gottes und die Pluralität der Religionen . . 5.1.2.1 Das Wesen der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.2 Die Vielfalt der Religionen . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.3 Pannenbergs Zeit- und Ewigkeitsverständnis als Konkretion der Rede von der Strittigkeit Gottes . . . 5.1.3 Pannenbergs Religionsbegriff: Verallgemeinerung des spezifisch Christlichen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.4 Die Bedeutung der Bestimmungen Pannenbergs über die Religion für seine Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Ökumenische Katholizität: Einheit in der Vielfalt . . . . . . . . . 5.2.1 Die Wesensattribute der Kirche als ihre eschatologische Bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Vielfältige theologische Traditionen und das Bekenntnis zu dem einen Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Die notwendige kritische Revision der gegenseitigen Spaltungen und Verwerfungen in der Kirchengeschichte . . 5.2.4 Die verwirklichte Einheit der Kirchen als Symbol für die Einheit der Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Das kirchliche Amt – Dienst an der Einheit . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Der Auftrag jedes Christen und der besondere Dienst des kirchlichen Amtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Die Ordination in das kirchliche Amt . . . . . . . . . . . . 5.3.2.1 Zur Sakramentalität und Durchführung der Ordination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.2 Zu den Wirkungen der Ordination . . . . . . . . . . 5.3.2.3 Der Vollzug der Ordination als Zeichen für die kirchliche Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.4 Die Praxis der Frauenordination . . . . . . . . . . . 5.3.3 Die Stufung des kirchlichen Amtes . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.1 Zur Frage eines universalen Leitungsamtes . . . . . 6. Das pilgernde Gottesvolk – Die Kirche als Gegenstand des göttlichen Erwählungshandelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Erwählung und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die Transformation der klassischen Erwählungslehre . . . . . . . 6.2.1 Pannenbergs Kritik an der klassischen Erwählungslehre . . 6.2.2 Berufung und Erwählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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7. Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Die Sinndeutung des Menschen als konstruktiver Nachvollzug des vorgegebenen Sinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Die Funktion der Religion in der modernen Gesellschaft: Der Versuch einer öffentlichen Revitalisierung christlicher Gehalte . . 7.3 Der Leib Christi als vorläufige Realisierung der Bestimmung des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Pluralität und Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Die Erwählungslehre Pannenbergs als Theologie der Geschichte . . 7.6 Impulse aus der Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Schriften Wolfhart Pannenbergs 8.1.1 Werke . . . . . . . . . . . . 8.1.2 Aufsätze . . . . . . . . . . 8.2 Weitere Literatur . . . . . . . . . 8.3 Internetquellen . . . . . . . . . .

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6.2.3 Die Gemeinschaft als Gegenstand der göttlichen Erwählung 6.3 Die Kirche als Volk Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Kirche und Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Gottesvolk und Amtskirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Das erwählte Gottesvolk in der Geschichte . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Der Erwählungsgedanke als Begründung einer geschichtlichen kulturellen Ordnung im Alten Israel . . . . 6.4.2 Erwählungsglaube und Geschichtsverständnis . . . . . . . . 6.4.3 Eine theologische Interpretation der Geschichte der Kirche 6.4.3.1 Pannenbergs Grundzüge einer Kirchengeschichte . .

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1.

Einleitung

1.1

Zugang und Anspruch

Wolfhart Pannenberg erhielt 1964 von Karl Barth den Rat, für zehn Jahre nicht zu veröffentlichen, um sich darüber klar zu werden, was er eigentlich meint und will. Nach den von Pannenberg veröffentlichten Grundzügen der Christologie1 sieht K. Barth diese diagnostizierte Unsicherheit nicht mehr gegeben, da Pannenbergs theologisches Programm nun klar zutage tritt. Letzteres beurteilt K. Barth als „reaktionär“2, mit der Folge, dass für ihn nun beide „theologisch, wenn nicht geschiedene, so doch gründlich verschiedene Leute“3 sind. Bereits hier zeigt sich, dass Pannenberg herausfordert; herausfordert zu einem eigenen Urteil, das in der (evangelischen) Theologie nicht selten negativ ausfällt. Armin Lange z. B. diagnostiziert in seiner Arbeit zu Pannenbergs religionstheologischen Darlegungen, dass bei letzterem Religion und Gott „zu Stimulantien für den ‚Kampf der Kulturen‘“4 werden. Gerade seine Ekklesiologie sieht Lange von dem Interesse geleitet, „die Kirche zu munitionieren für die Konflikte der Überzeugungen und Weltanschauungen am Ende des zweiten Jahrtausends“5. Die Ekklesiologie ist auch Gegenstand der Kritik Hermann Fischers. Für ihn gibt es zwei Grundlinien in der Theologie Pannenbergs: Einerseits erkennt Fischer „eine modernprotestantische Ausrichtung“6. Diese sieht er dem aufklärerischem Freiheitspathos verpflichtet, welches der Auseinandersetzung Pannenbergs mit Hegel entspringt.7 Anderseits identifiziert Fischer „einen konservativen Grundzug, der sich Pannenbergs ökumenischer Interessenlage verdankt und sich in einem

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Pannenberg, Grundzüge. Fangmeier/Stoevesandt, Briefe, 283. Fangmeier/Stoevesandt, Briefe, 280. Lange, Religion. Lange, Religion, 232. Fischer, Theologie, 171. Vgl. Fischer, Theologie, 171f.

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Einleitung

dogmatisch hochaufgeladenen Kirchen- und Amtsverständnis niederschlägt.“8 Laut Fischer zwei Linien, die in Pannenbergs gesamten Werk unvermittelt nebeneinander stehen. Neben solchen Negativurteilen lässt sich in Abhandlungen zu Pannenberg eine zweite Form der negativen Kritik entdecken, die nicht immer erkennbar ist. Dabei werden Pannenberg bestimmte Positionen unterstellt, die sogleich der Kritik überführt werden. Als exponiertes Beispiel ist hier Ulrich Barth zu nennen. Dieser gelangt zu dem Urteil, dass für Pannenberg das Voranschreiten der Säkularisierung identisch ist mit dem Voranschreiten der Aufklärung.9 Eine Interpretation, für die sich meines Erachtens im gesamten Werk Pannenbergs kein einziger Beleg finden lässt. Und auch die von U. Barth herangezogenen Darlegungen Pannenbergs stützen eine solche Auslegung nicht. Im Gegenteil, in diesen wird die Aufklärung und deren Bedeutung für die Säkularisierung von Pannenberg mit keiner Silbe erwähnt.10 Mit alledem soll natürlich nicht gesagt werden, dass es nicht auch in der evangelischen Theologie immer wieder Unternehmungen gibt, die sich konstruktiv mit Pannenberg auseinandersetzen oder zu einem positiven Urteil gelangen. Dabei sind vor allem Impulse aus dem Kreis seiner akademischen Schüler zu nennen, in erster Linie von Friederike Nüssel11, Christine Axt-Piscalar12 und Gunther Wenz13. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Arbeit der 2013 gegründeten Wolfhart Pannenberg-Forschungsstelle in München zu verweisen, die bisher hauptsächlich mit dem ersten Band der Pannenberg-Studien an die Öffentlichkeit getreten ist, welcher verschiedene Beiträge zu seiner Religionsphilosophie umfasst.14 Daneben ist es in der evangelischen Theologie der englischsprachige Raum, in dem eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem gesamten Entwurf Pannenbergs stattfindet und dieser eine positive Resonanz erfährt.15 8 Fischer, Theologie, 171. 9 Vgl. Barth, Säkularisierung, 610f. 10 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 469 sowie ders., Systematische Theologie Bd. 2, 9, auf welche sich U. Barth für seine Auslegung beruft. Zur Kritik U. Barths an Pannenberg vgl. unten, S. 73, Anm. 15. 11 Vgl. z. B. Nüssel, Transformation. 12 Vgl. z. B. Axt-Piscalar, Offenbarung oder dies., Bewusstsein. 13 Vgl. z. B. Wenz, Bericht oder ders., Kirche, in welcher Wenz ebenfalls an einigen Stellen explizit an Pannenberg anknüpft. Vgl. z. B. ders., Kirche, 241f. 14 Vgl. Wenz, Religionsphilosophie. Der zweite Band der Pannenberg-Studien, der unterschiedliche Beiträge zu seiner Ekklesiologie umfasst, konnte leider nicht berücksichtigt werden, da dieser erst nach der Einreichung dieser Arbeit erschienen ist. 15 Vgl. u. a. Youn, Eschatological Theology oder Eilers, Faithful. Die Resonanz im englischsprachigen Raum führt Friedrich W. Kantzenbach auf Pannenbergs „eigenartige und schwer analysierbare Synthese zwischen Konservatismus und neuzeitlicher Freiheitsidee“ (Kantzenbach, Programme, 289) zurück. Leider begründet Kantzenbach diese These nicht weiter.

Zugang und Anspruch

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Auch innerhalb der römisch-katholischen Theologie gibt es einige Arbeiten, die ein sehr würdigendes Urteil aus der Beschäftigung mit Pannenberg ziehen.16 Ein Grund dafür könnte sein, dass die Einschätzung von Michael Theunissen richtig ist, dass Pannenberg „der katholischste unter den protestantischen Theologen unserer Tage“17 ist. Dass Pannenberg Theologie in einem katholischen Bewusstsein treibt, hält er selbst immer wieder ausdrücklich fest. Allerdings in einem Verständnis von Katholizität, das selbstverständlich nicht deckungsgleich ist mit der römisch-katholischen Tradition. Vielmehr ist er der festen Überzeugung, dass gerade der Dogmatiker der gesamten christlichen Tradition verpflichtet ist, diese kritisch bedenken und in die eigene theologische Urteilsbildung einbeziehen muss. Er erkennt die gesamte Vielfalt christlicher Theologien innerhalb der Christentumsgeschichte als die eigene Geschichte an und begreift sie gerade auch als ein Korrektiv zu der persönlichen konfessionellen Prägung. In einem solchen Sinn ist Theologie für ihn nur katholisch möglich.18 Damit aber zeigt das Zitat von Theunissen eine gewisse Vereinnahmung Pannenbergs, da hier doch katholisch gleichbedeutend ist mit römisch-katholisch.19 Dass Pannenberg der Traditionsgeschichte des Christentums verpflichtet ist und evangelische Theologie in ökumenischer Perspektive betreibt, ist meines Erachtens nicht als evangelische Theologie in römisch-katholischem Gewand zu interpretieren. Der Stellenwert der Ökumene für die Theologie Pannenbergs zeigt sich aber nicht allein in der kritischen Aneignung der christlichen Tradition. Vielmehr ist die Einheit der getrennten Kirchen und die Überwindung ihrer gegenseitigen Verwerfungen sein Kernanliegen. Im Vorwort zum dritten Band der Systematischen Theologie schreibt er: „Die Bedeutsamkeit der Gemeinschaft der Kirche und ihrer Einheit für das Selbstverständnis jedes einzelnen Christen ist im Protestantismus oft vernachlässigt worden.“20 Diesem Defizit will Pannenberg mit seiner Ekklesiologie entgegentreten. Die Einheit der Kirche steht daher in ihrem Zentrum. Eine Einheit, die er im Glauben geboten sieht und aufgrund der Herausforderungen der Zeit als notwendig erachtet.21 Wie er eine solche Einheit 16 Vgl. u. a. Koch, Gott oder Overbeck, Mensch. 17 Theunissen, Pannenberg, 266. 18 Vgl. Pannenberg, Dogmatische Theologie, 158–160. Inwiefern für Pannenberg jede Kirche und jede Theologie der Katholizität verpflichtet ist, wird in dieser Arbeit vor allem Gegenstand von Kap. 5.2.1 sein. 19 Auf solche Weise versteht es auch Sebastian Greiner, der sich dem Befund von Theunissen anschließt. Vgl. Greiner, Theologie, 171. 20 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 9. 21 Um dieser Einheit der Kirchen näher zu kommen, hat Pannenberg sich während seines akademischen Wirkens auf unterschiedliche Weise innerhalb der Ökumene engagiert. Er war u. a. von 1975–1990 Delegierter der EKD in der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) und hatte von 1980–1998 die wissen-

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Einleitung

bestimmt, warum sie aus dem Wesen des christlichen Glaubens und der Kirche notwendig folgt und inwiefern sie die christliche Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart ist, das ist der Gegenstand dieser Arbeit. Diese ekklesiologischen Fragen bilden ein Zentrum im theologischen Denken und Wirken Pannenbergs. Denn gerade hier ist der „Versuch zur Integration reformatorischer Ansätze mit den Grundzügen der in der Geschichte gewachsenen Formen kirchlichen Lebens, die Bestandteile gesamtchristlicher Überlieferung geworden sind“22, sein zentrales Anliegen. Bevor im Folgenden der Gegenstand und die Vorgehensweise dieser Arbeit dargelegt werden und anschließend ein Forschungsüberblick über die Arbeiten gegeben wird (Kap. 1.1), die sich mit der Ekklesiologie Pannenbergs befasst haben (Kap. 1.2), möchte ich noch einen Grundsatz meiner Interpretation darlegen. Wie der erste kurze Einblick in unterschiedliche Stimmen zu Pannenbergs theologischem Werk und seiner Ekklesiologie angedeutet hat, sind meines Erachtens viele der Interpretationen von Werturteilen des jeweiligen Interpreten getragen. Gerade in der evangelischen Theologie fallen diese Urteile nicht selten negativ aus. Dabei wird in der Darstellung der Interpretation das getroffene Urteil immer wieder in das Zentrum der sich entfaltenden Auslegung gestellt. Sehr deutlich geschieht dies in der Arbeit Langes, der in seiner Einführung festhält, dass der „so betont neuzeitlich-autoritätskritisch sich gebende[] Charakter der Theologie Pannenbergs“23 im Widerspruch steht zu seinen konservativen Interessen in Kirchen- und Gesellschaftspolitik. Als Argument führt Lange die Rückgabe des Bundesverdienstkreuzes durch Pannenberg an. Der Anlass dazu war für letzteren die Auszeichnung von Herta Leistner 1997, die ihre Homosexualität öffentlich bekannte. Pannenbergs strikte Ablehnung der Homosexualität, die er für unvereinbar mit dem christlichen Glauben hielt, soll hier gar nicht bestritten werden.24 Ob eine solche Position durch das Siegel des Konservativen erfasst wird, mögen andere beurteilen. Jedenfalls ist meines Erachtens ein solches Siegel dem weiteren Verstehen nicht hilfreich. Ob aber aufschaftliche Leitung des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und theologischer Theologen (ÖAK) auf evangelischer Seite inne. In seine Zeit der Leitung des ÖAK’s fällt vor allem die Veröffentlichung von: Lehmann/Pannenberg, Lehrverurteilungen Bd. I samt folgender, diese Studie ergänzender Materialbände Lehrverurteilungen Bd. II; Lehrverurteilungen Bd. III sowie Lehrverurteilungen Bd. IV. Eine Einführung in die Biographie Wolfhart Pannenbergs liefert Axt-Piscalar, Pannenberg, 219–223. Einen Überblick über wichtige Stationen und Werke Pannenbergs liefert auch Friedrich W. Graf in seinem Nachruf auf Pannenberg. Vgl. Graf, In Memoriam. Dabei verbindet Graf die Darstellung von Leben und Werk Pannenberg mit einigen negativen Urteilen über beides, da er sich wohl selbst zur Gruppe der Pannenberg „aus vielerlei Gründen Fernstehenden“ (Graf, In Memoriam, 185) zählt. 22 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 10. 23 Lange, Religion, 10. 24 Vgl. dazu u. a. Pannenberg, Angst.

Zugang und Anspruch

15

grund einer Position alle kirchenpolitischen wie gesellschaftspolitischen Positionen als konservativ zu bezeichnen und damit kollektiv als etwas Negatives und zu Überwindendes zu beurteilen sind, dem soll hier entschieden widersprochen werden. Wie verhält es sich demgegenüber z. B. mit der von Pannenberg bereits 1965 vertretenen Position, dass Versöhnung und Frieden mit Osteuropa und eine Annäherung mit der DDR nur möglich sein werden, wenn die BRD Abstand nimmt von ihrer Forderung nach Wiederherstellung der Grenzen von 1937?25 Oder was ist mit der Forderung Pannenbergs von 1967, dass die außerparlamentarischen Proteste in westlichen Demokratien gegen Krieg von den Regierungen anerkannt werden sollen „und nicht mit unangebrachter Gereiztheit als linksprotestantisch oder linksintellektuell mißdeutet werden“26 sollen? Sind solche Positionen nun als progressiv zu beurteilen? Und sind dann alle politischen Positionen Pannenbergs progressiv? Und inwiefern tragen solche oberflächlichen, vereinheitlichenden Siegel etwas zum Verstehen und der Interpretation der Theologie Pannenbergs bei? Meines Erachtens ist das zentrale Ziel einer Interpretation, ihren Gegenstand zu treffen und ihn möglichst angemessen darzustellen. Es muss das Ziel sein, in dem Wissen um die Subjektivität des eigenen Verstehens eine Auslegung zu erreichen, die dem zu interpretierenden Objekt weitestgehend entspricht. Für die vorliegende Interpretation der Ekklesiologie Pannenbergs bedeutet dies, dass sie daran zu messen ist, inwiefern sie ihren Gegenstand erfasst und dem Leser einen Zugang zu diesem ermöglicht. Es soll der Gegenstand der Interpretation im Zentrum stehen, nicht das Werturteil und die Theologie des Interpreten! Steht demgegenüber das eigene Urteil im Mittelpunkt der Auslegung, ist die Möglichkeit zumindest erschwert, den Gegenstand in seiner Eigentümlichkeit zu erfassen. Wir alle sind Hörerschaft, wir müssen lernen zu hören, auf dem einen und dem anderen Wege, und stets die eigene Ichbefangenheit anzugehen, in die Eigenwille und Geltungsdrang jeglichen geistigen Antrieb einzufangen streben.27

Ich will daher im Verlaufe der Interpretation das eigene Urteil zurückstellen und dieses erst am Schluss darstellen, indem ich zentrale Linien der Ekklesiologie Pannenbergs kritisch würdige. Dass die Beschäftigung mit Pannenberg eigene theologische Urteile ermöglicht, soll hier nicht bestritten werden. Vielmehr teile ich die Einschätzung Georg Essens, dass sich hierin die Größe des Theologen Pannenbergs und seines theologischen Entwurfes zeigt. Ich schließe mich daher den Worten Essens an,

25 Vgl. Pannenberg, Nationalismus, 46–48. 26 Pannenberg, Weltfriede, 163. 27 Gadamer, Lehrenden, 331.

16

Einleitung

der in seinem Nachruf auf den am 04. September 2014 verstorben Pannenberg schreibt: Die Größe eines Philosophen oder eines Theologen bemisst sich nicht nach dem Maß, mit dem er Zustimmung erfährt. Seine Größe bemisst sich daran, dass man mit ihm das eigene Denken lernt und einen Begriff davon gewinnt, was es heißt, kohärent und systematisch zu argumentieren. Seine Größe bemisst sich daran, dass man aus dem imponierenden Fundus seiner Gelehrsamkeit schöpfen und so am Material- und Gedankenreichtum seiner Studien teilhaben darf. Seine Größe bemisst sich daran, dass man nicht aufhört, in seinen Büchern zu lesen und seine Werke zu studieren, um so, an ihnen sich abarbeitend, dem eigenen Denken und Argumenten aufzuhelfen. Ein solcher Theologe ist Wolfhart Pannenberg gewesen: ein ganz Großer unserer Zunft!28

1.2

Gegenstand und Vorgehensweise

Der Welt die Wahrheit des Evangeliums zu bezeugen, ist die Kirche berufen. Dieses Zeugnis ist damit verbunden, daß die Kirche selbst in dieser Weise Vorzeichen der Bestimmung der Menschheit ist, zu einer Gemeinschaft in Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Zukunft des Reiches Gottes erneuert zu werden.29

Diese Aussage Pannenbergs aus dem Vorwort zum dritten Band seiner Systematischen Theologie zeigt die entscheidende Leitlinie seiner Ekklesiologie an. Die Kirche ist Zeichen, sie ist Darstellung der im Reich Gottes in Frieden und Gerechtigkeit geeinten Menschheit. Als solches Zeichen ist sie berufen, in Wort und Tat die Wahrheit des Evangeliums zu verkündigen. Die Wahrheit, dass in Jesus Christus dieses Reich Gottes Gegenwart wurde und in ihm die Bestimmung der Menschheit sichtbar gewesen ist. Damit die Kirche ein solches Zeichen sein kann, ist für Pannenberg ihre Einheit unabdingbar: „Die Wahrheit des Evangeliums von Jesus wird durch kaum einen anderen Faktor so sehr verdunkelt wie durch die Tatsache der Zerrissenheit der Kirche“30. Die Spaltungen der Kirche und die damit einhergehenden gegenseitigen Verwerfungen verdunkeln laut Pannenberg ihr Wesen. Denn sie widersprechen dem Wesen des Glaubens.31 Sie verdunkeln, dass die Kirche zum Zeichen bestimmt ist, und sie verdunkeln die kirchliche Botschaft. Ihre Folgen betreffen aber nicht nur die Kirche. Die Spaltungen sind auch von Bedeutung für die moderne Gesellschaft und die von ihr errungenen Werte. Denn nach Pannenberg ist eine Gesellschaft wie der Einzelne für einen gelingenden Lebensvollzug auf Religion angewiesen.32 Aufgrund der Spaltungen 28 29 30 31 32

Essen, Nachruf. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 11. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 10. Vgl. Pannenberg, Glaubenswirklichkeit, 200f. Vgl. Kap. 2.

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der Kirche kann das Christentum in modernen Gesellschaften dieser Funktion nicht nachkommen. Die Trennung der Christen ist die tiefste Ursache dafür gewesen, daß sich in der Neuzeit in Europa und in Amerika eine gegenüber den Kirchen verselbständigte, von ihnen abgelöste säkulare Kultur gebildet hat, die die religiöse Frage des Menschseins verdrängt hat.33

Eine solche Verdrängung des Religiösen aus dem gesellschaftlichen Leben aber ist für Pannenberg mit weitreichenden Gefahren verbunden, wie die Geschichte der Neuzeit zeigt, die eben auch eine Geschichte der Ideologien ist.34 Diese kurzen Ausführungen enthalten bereits wesentliche Aussageintentionen der Ekklesiologie Pannenbergs, die im Folgenden interpretiert werden soll. Für ihn ist die Kirche Darstellung der versöhnten Menschheit. Sie ist daher auf die Bestimmung des Menschen bezogen. Denn in der Kirche ist die im Eschaton vollendete Bestimmung des Einzelnen in vollkommener Gemeinschaft vorweggenommen. Daher ist in der vorliegenden Interpretation vor der Behandlung der Ekklesiologie in Teil B eine Darstellung der anthropologischen Einsichten Pannenbergs in Teil A notwendig, die das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft thematisieren. Pannenberg bestimmt dieses Verhältnis im Diskurs mit anderen anthropologischen Wissenschaften, indem er zeigen will, dass und inwiefern es Religion für ein gelingendes Leben des Einzelnen und der Gesellschaft braucht (Kap. 2). Dieses Vorgehen, dass bei den anthropologischen Grundlagen der Ekklesiologie einsetzt, entspricht einem Grundanliegen Pannenbergs, das sein gesamtes theologisches Werk durchzieht. Für ihn ist die Theologie in der Moderne vor die Aufgabe gestellt, die Gehalte des Christentums, ihre Wahrheit an der Selbsterfahrung und -deutung des Menschen zu plausibilisieren. Die Theologie muss „in der Neuzeit ihre Grundlegung auf dem Boden allgemeiner anthropologischer Untersuchungen gewinnen.“35 Das Selbstverständnis des Menschen, seine Wirklichkeitserfahrung und -deutung sind der Grund, auf welchem der Wahrheitsanspruch der christlichen Religion gezeigt und verteidigt werden muss. Nur so ist der Auseinandersetzung mit dem modernen Atheismus zu begegnen, der seinerseits ebenfalls die Religion auf der 33 Pannenberg, Überwindung, 162. 34 Vgl. Pannenberg, Alternative, 244. 35 Pannenberg, Anthropologie, 15. Pannenberg identifiziert drei wesentliche Entwicklungen, die eine solche anthropologische Plausibilisierung der Theologie nötig werden ließen: Erstens die neuere Philosophiegeschichte, in welcher Gott als die Bedingung menschlicher Subjektivität gedacht wurde und nicht mehr von der natürlichen Welt und ihrer Ordnung her. Zweitens die in der Theologiegeschichte seit der Reformation sich herausbildende Zuspitzung der Theologie auf die individuelle Heilsfrage. Und drittens die für die Sozialgeschichte der Neuzeit voranschreitende Segmentierung und Privatisierung der Religion. Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 11–15.

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Grundlage des Selbstverständnisses des Menschen bestreitet, als dessen Einbildung und Entfremdung von sich selbst.36 Konkret bedeutet dies für Pannenberg die kritische Aneignung der anthropologischen Wissenschaften. Das geschieht, indem ihre säkulare Beschreibung als eine nur vorläufige Auffassung der Sachverhalte angenommen wird, die dadurch zu vertiefen ist, daß an den anthropologischen Befunden selbst eine weitere, theologisch relevante Dimension aufgewiesen wird.37

Zur anthropologischen Plausibilisierung der Theologie und mithin auch der Ekklesiologie ist neben den fundamentalanthropologischen Einsichten Pannenbergs auch seine Gegenwartsdiagnose zu berücksichtigen (Kap. 3). Nicht nur Strukturbestimmungen menschlichen Lebensvollzuges, auch die Situation des Menschen in der Gegenwart muss die Theologie für ihre Darlegungen berücksichtigen und auf diese Situation hin ihre Gehalte entfalten. Entscheidendes Signum der Gegenwartssituation ist für Pannenberg die Säkularisierung der Moderne, deren Kerncharakteristikum die Verdrängung des Religiösen in den Bereich des Privaten darstellt. In dieser Beschreibung hat er vor allem Europa und Amerika vor Augen.38 Die enge Verknüpfung zwischen der Analyse der säkularisierten Moderne und der Ekklesiologie liegt nach Pannenberg sachlich darin begründet, dass die Trennung der Kirchen die Säkularisierung der Gesellschaft nach sich zog. Nur die Einheit der Kirchen in Pluralität, nicht in dogmatischer Uniformität, kann die Folgen dieser Entwicklung begrenzen und die grundlegende Relevanz des Christentums für das gesellschaftliche Leben sichern.39 Für das gesamte Werk Pannenbergs gilt, dass es durch eine breite Auseinandersetzung mit anderen Wissenschaften sowie mit der christlichen Theologie- und Dogmengeschichte ausgezeichnet ist. In der vorliegenden Interpretation wird darauf verzichtet, zu beurteilen, inwieweit Pannenbergs Deutungen in dieser Auseinandersetzung jeweils ihren Gegenstand treffen. Dies geschieht auch nicht in dem Kapitel zu The Homeless Mind von Peter L. Berger (Kap. 3.3), welches Teil der Darstellung der Einsichten Pannenbergs zur säkularisierten Moderne ist. Begründet ist dieses Kapitel vielmehr in der fundamentalen Bedeutung der Arbeiten Bergers für Pannenbergs Beschreibung der Merkmale und Gefahren der Säkularisierung.40 Eine Darstellung zentraler Einsichten Bergers ist daher hilfreich für das Verständnis Pannenbergs. 36 37 38 39 40

Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 15f. Pannenberg, Anthropologie, 19. Vgl. Pannenberg, Überwindung, 161. Vgl. in dieser Arbeit besonders Kap. 3.5 und Kap. 5.2.4. Insgesamt ist der Einfluss der Arbeiten Bergers auf Pannenberg nicht zu unterschätzen. Am zentralsten ist dieser in Pannenbergs Einsichten zur Moderne. Dies zeigt sich nicht nur in der Argumentations- und Gedankenführung Pannenbergs, sondern auch in seinem benutzten Vokabular, welches ab Mitte der 1970er Jahre deutlich von Berger geprägt ist. Des

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Die Interpretation der Ekklesiologie in Teil B beginnt mit der Entfaltung des Wesens der Kirche als vorwegnehmende Darstellung des Gottesreiches (Kap. 4). Nach Pannenberg darf die Beschreibung der Kirche nicht von ihrer empirischen Form ausgehen, da so die Gefahr der ideologischen Verklärung der gegenwärtigen Zustände besteht. Vielmehr muss in der systematischen Betrachtung der Kirche nach ihrem Sinn, ihrem Zweck gefragt werden. Und dieser ist die vorwegnehmende Darstellung des Reiches Gottes.41 Die Gliederung des vierten Kapitels folgt im Wesentlichen dem Aufbau des dritten Bandes der Systematischen Theologie.42 Dort, wo von letzterer abgewichen wird, ist dies ausgewiesen und begründet. Aus dem Wesen der Kirche, das am sichtbarsten in der Eucharistie wird, folgt für Pannenberg die Notwendigkeit der Einheit der Kirchen. Ihrem Wesen nicht angemessen ist dabei eine Einheit in dogmatischer Uniformität. Vielmehr folgt aus ihm eine Einheit in der versöhnten Pluralität der verschiedenen Konfessionen und Traditionen (Kap. 5). Pannenberg selbst hat sein eigenes Einheits- und Ökumeneverständnis innerhalb der Systematischen Theologie nicht gebündelt thematisiert und entfaltet. Vielmehr ist seine ganze Theologie von diesem geprägt, indem er um die konstruktive Aufnahme der gesamten christlichen Tradition über die Grenze der eigenen Konfession bemüht ist und seine Arbeit einer Weiteren fällt auf, dass Pannenberg in seinen anthropologischen Arbeiten Argumentationsgänge Bergers aufnimmt und vertieft, die letzterer als einen Weg begreift, wie die Religion in der Moderne wieder mehr Plausibilitätskraft erreichen kann. In dem Buch Auf den Spuren der Engel, in welchem Berger eine weiter voranschreitende Säkularisierung für wahrscheinlich hält und den Kirchen nur noch den Platz einer kognitiven Minderheit zuschreibt (vgl. Berger, Engel, 22–43), deutet er ein Programm an, wie Religion und Theologie wieder mehr Deutungskraft erhalten können: Den Spuren der Transzendenz folgen. Als solche Spuren begreift er das Urvertrauen eines Kindes, gegründet in der schützenden Liebe der Eltern, die die absolute Wirklichkeit wiederspiegelt. Weitere Zeichen der Transzendenz sieht er in dem Phänomen des Spiels, wie es Huizinga dargelegt hat, und in der menschlichen Hoffnung, die sich in der konstitutiven Ausrichtung des Menschen auf die Zukunft zeigt. Letzteres Zeichen der Transzendenz sieht Berger bereits 1969 im Werk Pannenbergs zentral berücksichtigt. Indem theologische Argumentation so von der Erfahrung des Menschen ausgeht, ist sie für Berger in der Lage aufzuzeigen, dass Religion nicht nur eine Projektion des Menschen ist, sondern dem menschlichen Lebensvollzug zutiefst innewohnt. Vgl. Berger, Engel, 79–111. Es fällt auf, dass Pannenberg die angedeuteten Argumentationsgänge aufnimmt und durch eine breit angelegte Auseinandersetzung mit anderen anthropologischen Wissenschaften weiter vertieft. Vgl. zum Zukunftsbezug des Menschen Kap. 2.1; zu Pannenbergs Deutung des kindlichen Grundvertrauens vgl. besonders Kap. 2.1.2; die Aufnahme und Interpretation der Spieltheorie Huizingas durch Pannenberg wird in Kap. 2.2.1.1 thematisiert. Für Pannenberg selbst ist Berger aufgrund der in Auf den Spuren der Engel aufgezeigten Möglichkeiten, menschliche Erfahrung religiös zu deuten, „ein weißer Rabe unter den Soziologen“ (Pannenberg, Signale, 152). 41 Vgl. Pannenberg, Thesen, 9. 42 Damit ist nicht gesagt, dass sich das in Kap. 4 verarbeitete Material auf den dritten Band der Systematischen Theologie beschränkt.

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möglichen Revision der Spaltungen in der Kirchengeschichte verschreibt.43 Darüber hinaus sind sein Einheits- und Ökumeneverständnis bzw. bestimmte Dimensionen davon Gegenstand zahlreicher Aufsätze und Abhandlungen, welche die wesentliche Grundlage von Kap. 5.2 bilden. Pannenbergs Sicht auf die Vielfalt christlicher Konfessionen und Traditionen gründet dabei meines Erachtens in seinen religionstheoretischen Bestimmungen. Denn er leitet aus der Rede von der Strittigkeit Gottes die in dieser Welt notwendige Vielfalt der religiösen Deutungen ab, die legitimer Ausdruck der göttlichen Strittigkeit sind. Diese Vielfalt ist anzuerkennen und bildet die Grundlage auch der Vielfalt der christlichen Deutungen Gottes. Daher ist eine Darlegung des Religionsverständnisses Pannenbergs dem Ökumenekapitel vorangestellt (Kap. 5.1). Den Abschluss des fünften Kapitels bildet die Interpretation der Amtstheologie Pannenbergs. Die wesentliche Aufgabe des Amtes ist es dabei, der kirchlichen Vielfalt in der Einheit zu dienen (Kap. 5.3). Daran anschließend kommt in Kap. 6 Pannenbergs Deutung der geschichtlichen Wirklichkeit der Kirche in den Blick. Dies geschieht bei ihm im Horizont der Erwählungslehre. Denn die Erwählung der Kirche wie des Einzelnen vollzieht sich laut Pannenberg in der Geschichte. Zentral ist dabei der Begriff des Gottesvolkes, welcher die Kirche in erwählungstheologischer Hinsicht erfasst. Die Konzeption dieses Kapitels gründet in dem Aufbau der Erwählungslehre im dritten Band der Systematischen Theologie, die dort den Abschluss der Ekklesiologie und den Übergang zur Eschatologie markiert. Im Gang der vorliegenden Interpretation wird auf eine Bündelung der jeweiligen Ergebnisse am Ende eines Kapitels verzichtet. Dies soll am Schluss in Kap. 7 erfolgen, indem die gewonnen Einsichten noch einmal zusammengefasst werden und dabei zentrale Züge der Ekklesiologie und mithin der gesamten Theologie Pannenbergs herausgestellt werden. Ebenfalls im Gang der Interpretation zurückgestellt wird das eigene Urteil über den behandelten Gegenstand.44 Auch dieses soll in der Schlussbetrachtung erfolgen, nicht nur im abschließenden Ausblick in Kap. 7.6, sondern in der gesamten Zusammenfassung. Abschließend ist noch eine Grundsatzentscheidung der Interpretation festzuhalten: Da sich meines Erachtens im theologischen Gesamtwerk Pannenbergs und somit auch in seiner Ekklesiologie keinerlei Bruch findet, lese und interpretiere ich seine Texte synchron. Innerhalb der Forschung zu Pannenberg ist mir die These eines zeitlich zu markierenden Bruchs ebenfalls nicht begegnet. Wenn es zu Veränderungen innerhalb seiner Theologie kommt, werden diese meines Erachtens von ihm selbst als solche markiert. So weist er darauf hin, dass der in Anthropologie in theologischer Perspektive entfaltete Leitfaden der Iden43 Vgl. Pannenberg, Dogmatische Theologie, 158–160. 44 Vgl. Kap. 1.1.

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titätsthematik innerhalb seiner frühen anthropologischen Veröffentlichung Was ist der Mensch?45 noch nicht gefunden war, in der theologischen Interpretation der humanwissenschaftlichen Erkenntnisse beide Werke aber durchaus in Kontinuität zueinander stehen.46 Oder dass er hinsichtlich der Erkenntnismöglichkeiten der Offenbarungen Gottes in der Geschichte im ersten Band der Systematischen Theologie gegenüber seinen Thesen in Offenbarung als Geschichte die Strittigkeit Gottes und die Funktion des Wortes stärker gewichtet.47 Wo solche durch Pannenberg vorgenommenen Veränderungen in dem hier behandelten Gegenstand relevant sind, werden sie ausgewiesen.

1.3

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Bisher ist noch keine wissenschaftliche Arbeit erschienen, die ausschließlich der Erforschung der Ekklesiologie Pannenbergs gewidmet ist. Hingegen gibt es einige Forschungsarbeiten, welche ausgehend von einer anderen Leitfrage die Ekklesiologie thematisieren. Hierüber soll im Folgenden ein Überblick gegeben werden. Günther Geisthardt untersucht in seiner Dissertationsschrift48 die Entwürfe Richard Rothes, Trutz Rendtorffs und Wolfhart Pannenbergs hinsichtlich ihrer theologischen Perspektive auf die Gesellschaft. Deren Gesellschaftsentwürfe sollen auf ihre Dialogfähigkeit und ihren Zusammenhang mit nichttheologischen Gesellschaftstheorien befragt werden.49 Innerhalb dieser Analyse thematisiert Geisthardt auch Aspekte der Ekklesiologie Pannenbergs, vor allem seine Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche. Das Urteil über Pannenbergs Entwurf fällt dabei gleich zu Beginn: Dieser erblickt einen Ausweg aus den Aporien des gesellschaftlichen Pluralismus und der neuzeitlichen Herrschaftsproblematik nur in der langfristigen Stabilisierung eines dualen Gegenübers von Staat und Kirche […] und [plädiert] damit für die Erneuerung eines vorneuzeitlichen Gesellschaftsmodells50.

Bei Pannenberg legitimiert nach Geisthardt die Religion die politische Ordnung, indem sie diese Ordnung an eine unverfügbare Wahrheit bindet und dadurch als vorläufig gegenüber dieser Wahrheit erweist. Einen solchen Legitimationsver45 Pannenberg, Mensch. 46 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 8. 47 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 272–281 sowie ders., Dogmatische Thesen, 98–100. Vgl. dazu Kap. 6.4.3. 48 Geisthardt, Konzeptionen. 49 Vgl. Geisthardt, Konzeptionen, 18. 50 Geisthardt, Konzeptionen, 17.

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such gesellschaftlicher Ordnung erklärt Geisthardt für hinfällig bzw. vormodern, da er sich auf letzte Gründe als unbedingt Geltendes beruft.51 Auch in den systemtheoretischen Äußerungen Pannenbergs erblickt Geisthardt veraltetes Denken, „das den neuzeitlichen Mechanismen funktionaler Gesellschaftsdifferenzierung nicht gerecht zu werden vermag.“52 Die Funktionsbestimmung des religiösen Systems, welches bei Pannenberg die Aufgabe der Integration der Teilsysteme zu einem Ganzen hat, ist nach Geisthardt alten Hierarchiemustern verpflichtet und transportiert vergangene Teil-Ganzes-Vorstellungen. In alledem zeigt sich Geisthardt ein Restaurierungsprogramm von mittelalterlichen StaatsKirchen-Verhältnissen. Darin fügen sich auch Pannenbergs ökumenische Einlassungen ein.53 Die Forderung nach einer die konfessionelle Vielfalt einenden Christenheit, welche Konsequenz der Bestimmung der kirchlichen Praxis als Darstellung kommender Gottesherrschaft und damit einer geeinten Menschheit ist, wird daher nach Geisthardt mehrdeutig, indem Pannenberg sie zu der Bedingung erklärt, durch welche das Christentum die geeinte Gesellschaft wieder repräsentieren kann.54 Krzysztof Goz´dz´ widmet sich in seiner Inauguraldissertationsschrift55 der Frage, inwieweit Pannenberg in seinem systematischen Werk Wege und Methoden aufweist, den christologischen Sinn der Geschichte zu erkennen und eine christologische Sinngebung der Geschichte zu ermöglichen.56 Innerhalb der Interpretation des christologischen Sinns der Gesellschaftsgeschichte wird Pannenbergs Ekklesiologie thematisiert. Dabei ist nach Goz´dz´ die Kirche die vorläufige Darstellung der eschatologischen Gemeinde. Ist wahrer Friede und wahre Gerechtigkeit erst im Reich Gottes verwirklicht, so hat die Kirche „die Funktion der weltpolitischen Ordnung und steht als universale Institution der ganzen Christenheit dem Partikularismus der Nationen gegenüber.“57 Da die Kirche die allgemeinmenschliche Bestimmung darstellt, muss sie nach Einheit streben, eine Einheit in Anerkennung der Unterschiedenheit. Das Abendmahl ist dabei Quelle der Einheit, wobei Gózdz anfragt, inwieweit dies mit dem unterschiedlichen eucharistischen Verständnis der Kirchen vereinbar ist.58 Trotz des Verweises von Goz´dz´ auf Pannenbergs Unterscheidung der Kirche vom Reich Gottes finden sich immer wieder Formulierungen, die eine stärkere Identifikation beider na51 52 53 54 55 56 57 58

Vgl. Geisthardt, Konzeptionen, 167–173. Geisthardt, Konzeptionen, 176, Anm. 86. Vgl. Geisthardt, Konzeptionen, 313f. Vgl. Geisthardt, Konzeptionen, 194–196. Goz´dz´, Sinn. Vgl. Goz´dz´, Sinn, 15. Goz´dz´, Sinn, 168. Vgl. Goz´dz´, Sinn, 178–180. Das Abendmahl soll gerade trotz unterschiedlicher Deutungen gemeinsam gefeiert werden, da sich darin das Primat des Glaubens an die Gemeinschaft mit Christus im Mahl gegenüber jedem Verstehen dieses Glaubens zeigt. Vgl. Kap. 4.4.3.

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helegen. So wird der Kirche bei Pannenberg von Goz´dz´ die Funktion der Heilsvermittlerin zugesprochen59 oder die Hypostasierung der Religion in der Kirche behauptet.60 In seiner Inauguraldissertation61 will Sebastian Greiner durch die zusammenfassende Darstellung der Theologie Pannenbergs versuchen, diese mit der katholischen Theologie ins Gespräch zu bringen. Dabei bietet er eine kurze Darstellung der Ekklesiologie Pannenbergs, in welcher einige von deren Leitaussagen vorgestellt werden. So stellt Greiner heraus, dass sowohl die Kirche wie die Politik vom Reich Gottes her zu verstehen sind. Allerdings kann die Politik dieses nicht verwirklichen, so dass es in der Welt lediglich provisorisch in der Kirche besteht. Letztere existiert dabei nicht um ihrer selbst willen, sondern soll Zeichen und Werkzeug einer geeinten Menschheit sein.62 Da nach Greiner die Gottesherrschaft bei Pannenberg nur eine ist, muss die Kirche auch eins sein. Ist dies erst eschatologisch möglich, so sollen die Kirchen aber bereits jetzt gemeinsame Formen finden und sich trotz bestehender Lehrunterschiede gegenseitig anerkennen. Ebenfalls aus dem Bezug zum Reich Gottes ergeben sich laut Greiner bei Pannenberg die Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität der Kirche.63 Die Gemeinschaft der Christen untereinander sieht Greiner bei Pannenberg in der Gemeinschaft des Einzelnen mit Jesus Christus im Bekenntnis begründet. Um diese Unmittelbarkeit zu Jesus Christus zu erlangen, ist der Einzelne auf die Vermittlung der Kirche angewiesen.64 Dieser Unmittelbarkeit ist nach Greiner auch das kirchliche Amt verpflichtet.65 Damit die Kirche für Pannenberg Zeichen und Werkzeug einer geeinten Menschheit sein kann, sind ihr Gottesdienst, Sakrament und Verkündigung gegeben, die Greiner als Gnadenmittel bezeichnet.66 Die symbolische Darstellung der geeinten Menschheit in der Kirche hat nach Greiner ihren konzentriertesten Ausdruck in der Eucharistie, die Pannenberg nicht nur durch die Einsetzung Jesu, sondern durch dessen gesamte Mahlpraxis begründet sieht. Hinsichtlich der Tauflehre Pannenbergs betont Greiner, dass er an der Kindertaufe festhält und mit der Taufe der Einzelne an Jesus Christus übereignet wird.67 Vgl. Goz´dz´, Sinn, 180. Vgl. Goz´dz´, Sinn, 183. Vgl. Greiner, Theologie. Vgl. Greiner, Theologie, 156–159. Vgl. Greiner, Theologie, 159–163. Vgl. Greiner, Theologie, 163f. Vgl. Greiner, Theologie, 168f. Vgl. Greiner, Theologie, 164f. Ob der Begriff des Gnadenmittels hier Pannenberg angemessen ist, ist meines Erachtens zu bestreiten. Auch die Trennung von Verkündigung und Gottesdienst, durch welche die Verkündigung noch einmal herausgehoben wird, entspricht Pannenberg nicht. Vielmehr hat die Verkündigung eine Funktion im Gottesdienst selbst. Vgl. Kap. 4.4.4. 67 Vgl. Greiner, Theologie, 164–168.

59 60 61 62 63 64 65 66

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Kurt Koch untersucht in seiner Dissertationsschrift68 das Verhältnis von Wirklichkeitserfahrung und Theologie, welches er in der Spannung von Philosophie und Theologie beschlossen sieht. Dieses fundamentaltheologische Problem soll anhand des geschichtstheologischen Entwurfes Pannenbergs nachvollzogen werden.69 Dessen „Theologie bewegt sich immer schon auf der ökumenischen Ebene, insofern sie sich als denkende Verantwortung der gesamtchristlichen Tradition versteht.“70 Daher erhellt die geschichtstheologische Konzeption Pannenbergs für Koch nicht nur das Verhältnis von Geschichtserfahrung und Gottesglauben, von Philosophie und Theologie, sondern kann auch Akzente setzen für eine heute vertretbare ökumenische Theologie.71 Diesem Anliegen in der Rekonstruktion Pannenbergs folgend, thematisiert Koch drei wesentliche Aspekte der Ekklesiologie: Erstens das Verhältnis der Kirche zur politischen Gemeinschaft, welches sich aus dem Verhältnis der Kirche zum Reich Gottes ergibt. Indem in der Kirche das Reich Gottes sakramental gegenwärtig ist, zeigt sie die Vorläufigkeit jeder politischen Ordnung, die das Reich Gottes nur provisorisch realisieren kann.72 Zweitens die Charakterisierung der Kirche als Volk Gottes, welche die Kirche in erwählungstheologischer Perspektive erfasst. Darin ist einerseits der Bezug zum Volk Israel mitgesetzt. Dessen Anspruch, das Gottesvolk zu sein, wird dabei anerkannt, auch wenn sich die Kirche als das neue Gottesvolk zugleich von Israel unterschieden weiß. Andererseits zeigt die Beschreibung der Kirche als Gottesvolk deren Universalität, weswegen die Kirche nie partikular sein darf. Daher ist die Forderung Pannenbergs nach der Einheit die Kirche laut Koch die notwendige Folge seiner Erwählungslehre.73 Und daraus folgt drittens die Darstellung geschichtstheologischer Einsichten Pannenbergs, welche die Geschichte der Kirche daraufhin rekonstruieren, ob die Kirche ihre Bestimmung als geeinte Menschheit hat Gestalt werden lassen. Hierin bringt Koch den für Pannenbergs Erwählungskonzeption wichtigen Gedanken des göttlichen Gerichts zur Geltung. Es kommt immer dann zum Gericht, wenn die Kirche ihre Bestimmung verfehlt. In allen Phasen der Kirchengeschichte ist die größte Gefahr für die Kirche, ihrer Bestimmung aufgrund eines fehlenden Bewusstseins für die eigene Vorläufigkeit nicht zu entsprechen und das Gericht auf sich zu ziehen.74 68 69 70 71 72 73 74

Vgl. Koch, Gott. Vgl. Koch, Gott, 28f. Koch, Gott, 32. Vgl. Koch, Gott, 39. Vgl. Koch, Gott, 164f. Vgl. Koch, Gott, 224–226. Vgl. Koch, Gott, 230–241. Die vorliegende Arbeit geht über die Interpretation Kochs hinaus. Dies liegt schlicht darin begründet, dass während der Arbeiten Kochs der dritte Band der Systematischen Theologie noch nicht erschienen war und Pannenberg hier seine bisherigen

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Stanley J. Grenz liefert 1990 eine englischsprachige Einführung in die Theologie Pannenbergs,75 in welcher er ein Kapitel mit einer bündigen Zusammenfassung von dessen Ekklesiologie vorlegt.76 Das Ziel der Einführung ist es, englischsprachigen Theologen einen Zugang zu Pannenbergs Werk zu ermöglichen.77 Die Darstellung der Ekklesiologie unterteilt Grenz in drei Abschnitte: Das Verhältnis von Kirche und Reich Gottes, das Leben der Kirche als messianische Gemeinschaft und Kirche als von Gott erwählte Gemeinschaft.78. Im ersten Abschnitt arbeitet Grenz den fundamentalen Bezug der Kirche zum Gottesreich bei Pannenberg heraus, der die Kirche als antizipierendes Zeichen des Reiches Gottes versteht. Sie hat darin einen Bezug zur politischen Gemeinschaft, die Grenz bei Pannenberg ebenfalls auf das Gottesreich verwiesen sieht. Denn die politische Ordnung versucht durch das Recht der göttlichen Gerechtigkeit zu entsprechen und Frieden und Gerechtigkeit auf Erden zu realisieren.79 Im zweiten Abschnitt will Grenz Pannenbergs Verständnis der Kirche als messianische Gemeinschaft darlegen: „The kingdom, then, is represented in a messianic fellowship, the proleptic sign of the renewed humanity.“80 Grenz arbeitet den ekstatischen Grund der Kirche in Jesus Christus bei Pannenberg heraus, analog zum ekstatischen Grund des Glaubens. Vermittelt ist der Glaube durch Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung der Kirche. Durch das individuelle Verhältnis zu Christus sind die Einzelnen zugleich zur Gemeinschaft der Kirche verbunden.81 Dem ekstatischen Grund von Glaube und Kirche entspricht laut Grenz Pannenbergs Tauf- und Abendmahlsverständnis. Durch die Taufe wird das Leben des Einzelnen extra se in Jesus Christus gegründet und die Getauften werden zu einer Gemeinschaft. Die Taufe ist dabei für Pannenberg die definitive Neugründung der christlichen Identität.82 Das Amt wiederum stellt bei Pannenberg laut Grenz die Einheit der kirchlichen Gemeinschaft dar. Sein wesentliches Merkmal ist seine öffentliche Ausführung.83 Im dritten Abschnitt legt

75 76

77 78 79 80 81 82 83

Abhandlungen zur Frage der Erwählung zusammenhängend darstellt und deutlich anreichert. Sie sind Gegenstand von Kap. 6. Grenz, Reason. Vgl. Grenz, Reason, 149–187. Grundlage der Einführung sind neben dem ersten Band der Systematischen Theologie vor allem Vorlesungen Pannenbergs von 1987 und 1988. Daneben greift Grenz auf einige frühere Arbeiten Pannenbergs zurück, besonders diejenigen, die in englischer Übersetzung vorliegen. Vgl. Grenz, Reason, 5f. Vgl. Grenz, Reason, 6. Vgl. Grenz, Reason, 150f. Vgl. Grenz, Reason, 152–156. Grenz, Reason, 157. Vgl. Grenz, Reason, 157–164. Vgl. Grenz, Reason, 164–170. Auch Pannenbergs Abendmahlsverständnis als Darstellung des Gottesreiches verweist nach Grenz auf den ekstatischen Grund der Kirche, welcher in der Gemeinschaft mit Jesus Christus im Mahl besteht. Vgl. Grenz, Reason, 171–173.

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Grenz Pannenbergs Verständnis der Kirche als erwählter Gemeinschaft dar. Die Erwählung verbindet Geschichte und Eschaton, da die geschichtliche Kirche als Volk Gottes dazu erwählt ist, im Reich Gottes vollendet zu werden.84 Pannenbergs Erwählungsverständnis sieht Grenz anders als das traditionelle Verständnis auf die kirchliche Gemeinschaft bezogen, die offen ist für alle Menschen. Die Kirche ist dazu berufen, ihrer Erwählung zu entsprechen. Ist sie in ihrem Verständnis als Volk Gottes auf Israel bezogen, darf sie letzterem gegenüber kein exklusives Erwählungsverständnis entwickeln, wie in der Geschichte immer wieder geschehen.85 Das Verständnis von der Kirche als Gottesvolk ist sogleich laut Grenz wirksam für Pannenbergs Theologie der Geschichte, welche von den vier Aspekten Offenbarung, Bund, Mission und Gericht geleitet ist.86 Lange thematisiert in seiner Dissertationsschrift zur Religionstheorie Pannenbergs die Ekklesiologie, da dessen Religionskonzeption eine bestimmte Sicht auf die Kirche nach sich zieht.87 Zentrales Anliegen der Untersuchung ist es, die Motive offenzulegen, welche Pannenbergs religionstheoretische Argumentationen leiten. Lange will prüfen, inwieweit hier implizit der Versuch unternommen wird, das Christentum als die der Moderne adäquate Religion auszuweisen und so dessen öffentliche Geltung und Unterstützung zu sichern. Sollte dieses Anliegen zutreffen, ist zu fragen, ob Pannenbergs Modell tatsächlich nur die Wahrheitsfähigkeit des christlichen Glaubens untermauern will, oder ob es nicht doch um einen christlich-europäischen Superioritätsanspruch im Wettstreit der Religionen in der pluralen Gesellschaft und in der Welt geht.88

Lange kommt zu dem Ergebnis, dass Pannenberg genau dieses Anliegen verfolgt, darin aber scheitert, da er sowohl den christlichen Glauben als auch die Fragen des modernen Bewusstseins verzeichnet.89 In den Ausführungen zur Ekklesiologie, welche den Abschluss der Studie Langes zum Religionsbegriff darstellen, fallen die Urteile ebenfalls negativ aus: Pannenberg hält den von ihm postulierten Zeichencharakter der Kirche nicht aufrecht, durch welchen die Kirche von der von ihr bezeichneten Sache, dem Reiche Gottes, unterschieden bleibt.90 In der 84 Vgl. Grenz, Reason, 173. 85 Vgl. Grenz, Reason, 173–176. 86 Vgl. Grenz, Reason, 176f. An die knappe Darstellung der Ekklesiologie Pannenbergs schließt Grenz eine kurze Einführung in die englischsprachige Debatte über diese an, in der er folgende vier Themen im Fokus sieht: Die Stellung der Kirche in der Gesellschaft bei Pannenberg, sein Glaubensverständnis, die ökumenische Bedeutung seiner Ekklesiologie sowie sein Verständnis von der Erwählung in der Geschichte. Vgl. Grenz, Reason, 178–187. 87 Vgl. Lange, Religion, 11. 88 Lange, Religion, 10. (Hervorhebung im Original.) 89 Vgl. Lange, Religion, 252. 90 Vgl. Lange, Religion, 206–208. Zur Kritik an Langes Argumentation hinsichtlich des von Pannenberg verwendeten Zeichenbegriffs vgl. Anm. 26.

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Ämterlehre konterkariert er eine zentrale Idee reformatorischer Theologie, das Priestertum aller Getauften. Stattdessen wird konsequent eine Stärkung des geistlichen Amtes verfolgt, welches die der Repräsentation der Kirche entsprechende Einheit durchsetzen muss, gegen jede Verschiedenheit und alle Konflikte. Der kirchliche Amtsträger vertritt die Vollmacht des Wortes des Evangeliums und Jesus selbst. Analog zu den Bestimmungen des Religionsbegriffs identifiziert Lange hier eine Theologie, die um Bestandssicherung bemüht ist, die das kirchliche Terrain in der Auseinandersetzung der Weltanschauungen verteidigen will und daher ein Interesse an wiedererstarkter kirchlicher Autorität zeigt.91 Chien-Ju Lee behandelt in seiner Forschungsarbeit zur Pneumatologie Pannenbergs92 die Ekklesiologie auf der Grundlage des dritten Bandes der Systematischen Theologie.93 Dabei arbeitet Lee vier zentrale Anliegen der Ekklesiologie heraus: Erstens den konstitutiven Bezug der Kirche zum Reich Gottes. Die Kirche ist Zeichen des Reiches Gottes, seine vorweggenommene Darstellung, dies allerdings nur in der Selbstunterscheidung von ihm. Gegenwärtig ist das künftige Gottesreich nach Lee als ein Ereignis, vermittelt durch die Christusverkündigung.94 Lee hält zweitens fest, dass nach Pannenberg die Kirche durch das Wirken des Geistes seinen Grund in Jesus Christus hat.95 Darin zeigt sich Lee zugleich, dass Pannenberg in seiner Ekklesiologie drittens um „die Einigkeit von Individualität und Sozialität“96 bemüht ist. Es ist das Wirken des Geistes, der durch sein Wirken zugleich die Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Christus wie die Gemeinschaft der Kirche schafft.97 Und viertens sieht Lee bei Pannenberg die Gemeinschaft der Kirche durch ihr gottesdienstliches Leben vermittelt. Die Taufe begründet die christliche Identität und verbindet die Getauften zur kirchlichen Gemeinschaft und im Abendmahl ist das Reich Gottes als versöhnte Gemeinschaft gegenwärtig. Die Feier des Mahls ist daher konstitutiv für die Kirche, in

91 Vgl. Lange, Religion, 220–230. Zur Kritik an Langes Interpretation der Amtstheologie Pannenbergs vgl. Anm. 166. 92 Lee, Pneumatologie. 93 Vgl. Lee, Pneumatologie, 15f. 94 Vgl. Lee, Pneumatologie, 211–213. Lee übersieht hier meines Erachtens die zentrale Stellung der Eucharistie, in welchem das zukünftige Gottesreich ereignishaft gegenwärtig wird. Die Verkündigung hat demgegenüber bei Pannenberg lediglich Dienstcharakter. Zur Verkündigung vgl. Kap. 4.4.4. Lee hingegen deutet Pannenberg so, dass bei ihm der „Zusammenhang von Wort und Ereignis seine dichteste Gestalt in der Feier des Herrenmahls“ hat. Lee, Pneumatologie, 213, Anm. 1114. Mit der von Lee herausgearbeiteten, für Pannenberg wesentliche Selbstunterscheidung der Kirche vom Reich Gottes verträgt sich meiner Meinung nach die Formulierung Lees nicht, dass Pannenberg „die Christen als Protagonisten der Herrschaft Gottes“ bezeichnet. Lee, Pneumatologie, 213. 95 Vgl. Lee, Pneumatologie, 213. 96 Lee, Pneumatologie, 214. 97 Vgl. Lee, Pneumatologie, 215–218.

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Einleitung

welchem durch das Wirken des Geistes der Auferstandene vergegenwärtigt wird.98 In seiner Habilitationsschrift vergleicht Daniel Munteanu99 die Anthropologien Karl Rahners, Wolfhart Pannenbergs und Johannes Zizoulas, um ein ökumenisches Menschenbild herauszuarbeiten, von welchem Impulse für die Ökumenische Bewegung ausgehen können.100 Dabei rekonstruiert er die Anthropologien in protologischer, soteriologischer und eschatologischer Perspektive, um abschließend Kriterien und Aufgaben einer ökumenischen Anthropologie unter den Bedingungen eines kulturellen Pluralismus zu skizzieren.101 Innerhalb der Erschließung der Anthropologie Pannenbergs in soteriologischer Hinsicht thematisiert Munteanu die ekklesiologische Dimension des Heils, zum einen durch die Darstellung der Tauf- und Abendmahlslehre Pannenbergs, zum anderen durch die Aufnahme seiner Erwählungslehre. Hinsichtlich der Taufe hält Munteanu fest, dass Pannenberg diese als Begründung christlicher Existenz interpretiert, welche im weiteren Lebensprozess angeeignet werden muss. Die Wiedergeburt, die sich in der Taufe ereignet, ist im Leben des Menschen als Antizipation des eschatologischen Seins wirksam. Sowohl dieser antizipatorische Charakter des Daseins als auch dessen ekstatischer Charakter – die Taufe begründet die Identität des Menschen in Christus – werden den Werken des Heiligen Geistes zugeschrieben. Darüber hinaus zeigt die Taufe bei Pannenberg die Gleichheit aller Menschen, sendet diese zum Zeugnis in die Welt und verbindet die Getauften zur kirchlichen Gemeinschaft.102 Für letztere hat auch das Abendmahl konstitutive Funktion. Hier wird einerseits Christus vergegenwärtigt, andererseits das Reich Gottes antizipiert und der Einzelne in dessen eschatologische Dynamik eingegliedert, was den Dienst am Reich Gottes nach sich zieht.103 Die Bestimmung des Menschen, zu welcher er erwählt ist, wird in Taufe und Abendmahl vorweggenommen. Den zentralen Gehalt der Erwählungslehre Pannenbergs sieht Munteanu in der Überwindung der individualistischen Zuspitzung des Erwählungsgedankens durch Pannenberg in zweifacher Hinsicht. Zum einen erfolgt diese Überwindung, indem für Pannenberg Gegenstand der göttlichen Erwählung in erster Linie die Kirche ist, nicht das einzelne Subjekt. Zum anderen dadurch, dass aus dem Erwählungsbewusstsein unmittelbar Verantwortungsbewusstsein zum Dienst an der Welt folgt. Christen sollen in ihrem Verhalten ein Modell des Reiches Gottes abgeben, durch ein von

98 99 100 101 102 103

Vgl. Lee, Pneumatologie, 218–223. Munteanu, Mensch. Vgl. Munteanu, Mensch, 4f. Vgl. Munteanu, Mensch, 47–50. Vgl. Munteanu, Mensch, 352–356. Vgl. Munteanu, Mensch, 356–358.

Forschungsüberblick

29

Toleranz und Liebe bestimmtes Leben.104 Dabei ist die Konsequenz der Heiligung des Einzelnen politische Verantwortung für die Neugestaltung des Zusammenlebens. „Der Christ vollzieht seine Aufgabe als homo politicus nicht durch Revolution, sondern durch die innere Einstellung der Zukunft Gottes und zum Kommen seiner Herrschaft“.105 Die wichtigsten Beiträge der Christen zur Gestaltung des Zusammenlebens sind die Verwirklichung der kirchlichen Einheit als Darstellung der Einheit der Menschheit sowie die Förderung von Gleichheit und Freiheit als Grundlagen der Demokratie.106 Der Überblick über diejenigen Forschungsarbeiten, die ausgehend von anderen Leitfragen die Ekklesiologie Pannenbergs bzw. Aspekte dieser in den Blick genommen haben, zeigt, dass sie in ihrer Tiefe noch unerforscht ist. Damit nimmt die Ekklesiologie eine Sonderstellung im Gesamtwerk Pannenbergs ein, da andere Topoi umfänglich erforscht sind, so z. B. seine Anthropologie.107

104 Vgl. Munteanu, Mensch, 358–361. 105 Munteanu, Mensch, 369. 106 Vgl. Munteanu, Mensch, 370. Meines Erachtens besteht der wichtigste gesellschaftliche Beitrag der Christenheit darin, dass sie, gerade im eucharistischen Gottesdienst, die Bestimmung des Menschen vorwegnehmend darstellt und dem Einzelnen dadurch Anteil an seiner Bestimmung vermittelt. Daraus folgt, dass sie für Humanität eintritt, indem sie sich für das Gemeinwohl einsetzt. Darin entspricht die Kirche ihrem eucharistischen Wesen. Vgl. besonders Kap. 4.5.2. 107 Vgl. u. a. Dieckmann, Personalität; Overbeck, Mensch; Kaufner-Marx, Freiheit; Waap, Gottebenbildlichkeit; Munteanu, Mensch; Zarnow, Identität. Einen umfassenden Überblick über die Forschungsliteratur zum gesamten Werk Pannenbergs liefert Wenz, Bericht, 301– 324.

Teil A: Die Situation des Menschen als Ausgangspunkt der Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs

2.

Der Mensch auf dem Weg zu seiner Bestimmung

Der Mensch ist dazu bestimmt, er selbst zu sein. Er ist bestimmt dazu, sich selbst zu verwirklichen, seine eigene Identität auszubilden. Dies aber nie für sich allein, da der Mensch konstitutiv auf die Gemeinschaft bezogen ist; er ist bestimmt zur Gemeinschaft. Dabei kann er seine eigene Bestimmung nicht selbst realisieren, sie ist unter irdischen Bedingungen allenfalls fragmentarisch verwirklicht. Dennoch strebt der Mensch danach, sie in ihrer Ganzheit zu erreichen. Alle Anstrengungen, die Einheit der Wirklichkeit zu erkennen und zu gestalten, um so die Ganzheit des menschlichen Lebens zu sichern, sind nur sinnvoll unter der Voraussetzung, daß die Wirklichkeit selbst von sich aus solchem Streben entgegenkommt, von sich aus darauf angelegt ist, eine Einheit zu sein.1

Das heißt, dass es letztendlich Gott ist, der die Ganzheit menschlichen Lebens garantiert, worauf dieses ausgerichtet ist. Damit ist sowohl für die eigene Selbstwerdung als auch für vollkommene Gemeinschaft Religion konstitutiv. Dieser Gesamtzusammenhang soll im Folgenden entfaltet werden, da er eine Grundlage für das Verständnis der Ekklesiologie Pannenbergs bildet. Letzterer plausibilisiert dabei die vorgenommene Bestimmung des Menschen anhand des Identitätsbegriffs dahingehend, dass die Identität mit der Erfüllung der menschlichen Bestimmung zur Vollendung gelangt ist.2 Daher wird sich der erste Teil (2.1) mit Pannenbergs Ausführungen zur Identität beschäftigen. Im zweiten Teil steht dann seine Interpretation der gemeinsamen Lebenswelt im Zentrum, die der Ort der eigenen Identitätsbildung ist (2.2).

1 Pannenberg, Mensch, 45. 2 Vgl. Pannenberg, Christliche Anthropologie, 159f.

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Der Mensch auf dem Weg zu seiner Bestimmung

2.1

Identität im Werden

Für Pannenberg ist die Identität des Menschen zu Lebzeiten unabgeschlossen, nicht von Beginn des Lebens an feststehend, sondern vielmehr steten Veränderungen unterliegend. Er begreift Identität als eine geschichtliche Größe.3 Aber geschichtlich ist nicht nur der jeweilige, einzelne Entscheidungsakt, sondern jeder Mensch lebt in einer fortlaufenden Ereignisreihe, in einer zusammenhängenden Abfolge nicht nur von eigenen Entscheidungen, sondern auch von Widerfahrnissen, die zusammen seine ganz besondere und einmalige Geschichte ausmachen.4

Die Begründung dieser Geschichtlichkeit des Menschen und seiner Identität erfolgt im Wesentlichen hermeneutisch und sozialpsychologisch.

2.1.1 Die geschichtliche Unabgeschlossenheit menschlicher Identität Im Anschluss an Wilhelm Dilthey erläutert Pannenberg den komplexen Zusammenhang zwischen Teil und Ganzem in Bezug auf Bedeutung und Sinn. Besteht ein übergeordneter Kontext über einer Sinneinheit, so erhält letztere ihren Sinn von diesem Kontext entsprechend ihrer Bedeutung in diesem. Das bedeutet, dass weder eine Sinneinheit noch eine Sinnerfahrung autonom für sich sind, sondern jede spezielle Bedeutung abhängig ist von einer letztumfassenden Bedeutungstotalität, in welcher alle Einzelbedeutungen in einem umfassenden Sinnganzen miteinander vermittelt sind.5 Diesen Gedankengang, den Pannenberg u. a. für die Forderung nach einem universalhistorischen Deutungsrahmen bei der Interpretation geschichtlicher Ereignisse fruchtbar macht,6 wendet er auf

3 Vgl. Munteanu, Mensch, 136f. 4 Pannenberg, Mensch, 96. Auch wenn Pannenberg in seinen Ausführungen innerhalb dieses in der Erstauflage 1962 erschienen Werkes, welches sich u. a. mit dem geschichtlichen Wesen des Menschen und seiner Individualität befasst, den Begriff Identität vermeidet, können die dort vorgenommenen Bestimmungen doch auf diesen hin interpretiert werden. In dem Vorwort zur Anthropologie in theologischer Perspektive verweist Pannenberg selbst darauf, dass er den bisherigen theoretischen Rahmen vorheriger anthropologischer Einsichten, namentlich auch der in Was ist der Mensch vorgetragenen, durch den Leitfaden der Identitätsthematik stärker verknüpft und weiterentwickelt hat. Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 8. 5 Vgl. Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 215f. Vgl. dazu Wenz, Wissenschaft, 38–40. Zur Auseinandersetzung Pannenbergs mit Dilthey vgl. u. a. Pannenberg, Sinnerfahrung oder ders., Universalgeschichte, 97–103. 6 Vgl. u. a. Pannenberg, Universalgeschichte oder ders., Hermeneutik. Zu Pannenbergs Verständnis von Geschichte und dem Geschichtswirken Gottes vgl.: Youn, Eschatological Theology, 400f. Eine gute Einführung in Pannenbergs Forderung nach dem für das historische Verstehen notwendigen universalgeschichtlichen Rahmens gibt Berten, Geschichte, 22–26. Pannenberg selbst betont, dass er in der Betrachtung der Geschichte und ihrer Deutung

Identität im Werden

35

die Bedeutung des Lebens eines Menschen an. Um z. B. ein Ereignis meines Lebens in seiner Bedeutung zu bestimmen, bedarf es des gesamten Lebens, da erst dies die Bedeutung dieses einen Teils endgültig erschließt. Die Identität des Subjektes ist aber ihrerseits konstituiert durch einen Prozeß der Identitätsbildung, der die Form einer Geschichte hat, in der die Besonderheit des eigenen Daseins im Kontext übergreifender Sinnzusammenhänge erfahren […] wird.7

Das Ganze eines Lebens und damit das Ganze der individuellen Identität sieht Pannenberg im Gegensatz zu Dilthey und Heidegger nicht durch den Tod konstituiert. Zum einen, da das gesamte Leben als eine Sinneinheit in übergreifende gesellschaftliche Lebensvollzüge eingebunden ist, welche wiederum – bis hin zur gesamten Menschheitsgeschichte – für die Bedeutung des einzelnen Lebens wie für dessen Teilerlebnisse konstitutiv sind. Zum anderen, da der Tod nicht die Vollendung eines Lebens darstellt, es nicht zu einer Ganzheit abrundet, sondern vielmehr dessen Abbruch bedeutet und es zu einem Fragment werden lässt. Die geschichtliche Identität des Menschen ist daher für ihre Vollendung angewiesen auf eine Zukunft, die über den Tod hinausweist.8 In dem ausgeführten hermeneutischen Argumentationsgang klingt bereits die sozialpsychologische Argumentation an. Ein Einzelner existiert nie für sich, sondern immer in konkreten gesellschaftlichen Bezügen, wodurch für die Geschichte des eigenen Lebens und dessen Bedeutung auch die Geschichte der jeweils umgebenden Gesellschaft konstitutiv ist.9 Dieser Zusammenhang zwischen Gesellschaft und individueller Identität ist nicht nur in hermeneutischer Hinsicht gegeben. Vielmehr wird der Einzelne zu dem, der er ist, durch seine konkrete gesellschaftliche Prägung. In einer breit angelegten Auseinandersetzung mit unterschiedlichen humanwissenschaftlichen und philosophischen Positionen erläutert Pannenberg diesen Sachverhalt. Dabei begreift er die gesamte menschliche Identitätsbildung als gesellschaftlich bedingt und somit Veränderungen unterliegend, beginnend bei der Herausbildung des Ich und des Selbst. Voraussetzung für diesen gesellschaftlichen Bezug menschlicher Identität ist, dass Pannenberg den menschlichen Lebensvollzug in der Spannung von Zentralität und Exzentrizität verortet. Gerade letztere ist die eigentümliche Besonderheit des Menschen. Damit ist zunächst die Fähigkeit des Menschen zur Selbstreflexion gemeint, in Form der Distanzierung von sich selbst durch das Verweilen bei einem Anderen als einem

entscheidend von Dilthey geprägt ist und nicht, wie ihm gegenüber immer wieder behauptet, von Hegel. Vgl. Pannenberg, Pilgrimage, 151. 7 Pannenberg, Anthropologie, 499. 8 Vgl. Pannenberg, Glaube, 248–250. 9 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 513.

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Der Mensch auf dem Weg zu seiner Bestimmung

Anderen.10 Dieses Verweilen bei einem Anderen ermöglicht allererst, dass ich mir als ein von diesem Unterschiedener und so als mir selbst bewusst werde. Selbstunterscheidung vom Gegenüber ist die Voraussetzung für ein Bewusstsein von sich selbst im Unterschied zu Anderen. Das Sein beim Anderen ist dabei nicht nur auf den Sozialkontakt beschränkt, es umfasst auch das Gegenstandsbewusstsein. „Das Sein bei den Dingen darf nicht abstrakt für sich genommen, sondern muß mit dem Sozialbezug zusammengenommen werden, wo es um die Genese des Selbstbewußtseins geht.“11 Wie die Entstehung des Selbstbewusstseins durch den Umgang mit Anderen vermittelt ist, so beruht auch das eigene Selbst hierauf, indem es sich aus der Internalisierung der Fremdwahrnehmungen und Erwartungen seiner sozialen Umwelt bildet. Eine solche Identifizierung mit Fremdbildern ereignet sich immer nur partiell und in den meisten Fällen modifiziert. Sie geht mit der Erwartung einher, dass meine soziale Umwelt wiederum dieses modifizierte Selbst anerkennt. Um nun mit mir selbst identisch sein zu können, bedarf es der schrittweisen Integration der Fremdbilder in das eigene Selbst. Es kommt so zu immer wieder vorgenommenen Neubestimmungen meiner Identität.12 Selbstunterscheidung vom Anderen in der Gemeinschaft – diese Deutung menschlicher Selbstwerdung ist eine Grundfigur der Theologie Pannenbergs, die bereits dessen Trinitätslehre bestimmt und hier eine theologische Begründung erfährt. Die Grundlage seines Trinitätsverständnisses bildet wiederum die Gottesbeziehung Jesu.13 Nach dem biblischen Zeugnis sieht Pannenberg die Unterscheidung Jesu vom Vater als zentral für seine Verkündigung und sein Selbstverständnis an, wobei mit der Bezeichnung „Vater“ alle Züge seines Gottesverständnisses umgriffen sind und diese so ein Synonym für den einen Gott Jesu darstellt.14 Die Verkündigung des Gottesreiches – der zentrale Inhalt der jesuanischen Botschaft – zeigt die Selbstunterscheidung Jesu in doppelter Weise: Zum einen ist mit dem Gottesreich dessen Zukünftigkeit eng verbunden. Das Gottesreich kommt, es ist mit Jesus noch nicht endgültig verwirklicht und so von ihm unterschieden. Zum anderen schreibt Jesus dessen Heraufführung dem Handeln Gottes zu und nimmt es nicht für sich selbst in Anspruch. „Ist so die Unterscheidung Gottes als des ‚Vaters‘ von seiner eigenen Person für Jesu Botschaft und Verhalten konstitutiv, so wußte er sich doch zugleich in seinem Wirken dem 10 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 59–64. Pannenberg gewinnt die Bestimmung des menschlichen Wesens als exzentrisch durch die Auseinandersetzung mit der philosophischen Anthropologie und übernimmt den Begriff hier von Helmuth Plessner. Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 32–39. 11 Pannenberg, Anthropologie, 152. 12 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 214–217. 13 Vgl. Axt-Piscalar, Theologie, 321. 14 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 286.

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Vater auf das engste verbunden.“15 Denn Jesus nahm für die Autorität seiner Botschaft die des ersten Gebotes in Anspruch. Gott ist der, den er als Vater verkündigte; in unüberbietbarer Weise verkündigte. Er ist identifizierbar als der, der er ist, durch Jesu Botschaft und Wirken. Der Anspruch Jesu, seine Botschaft und Auftreten sind somit in der Selbstunterscheidung von Gott dem Vater begründet bei gleichzeitiger Einheit mit diesem; wie auch der Vater zum Vater wird durch die Selbstunterscheidung vom Sohn bei gleichzeitiger Einheit mit diesem.16 Kurzum: Nach Pannenberg ist die Selbstunterscheidung in der Einheit Charakteristikum der trinitarischen Personen. Die durch die Selbstunterscheidung bestimmte Relation zueinander begründet und kennzeichnet ihr jeweiliges PersonSein. Jesus ist darin der Sohn Gottes, dass er sich vom Vater unterscheidet, seinem Willen unterordnet und darin dessen Gottheit anerkennt.17 Dabei begründen die jeweiligen Relationen der trinitarischen Personen in allen Aspekten ihrer wechselseitigen Selbstunterscheidung die Identität von Vater, Sohn und Geist. Die drei trinitarischen Personen sind also nicht auf eine ihrer Relationen zu beschränken. „Diese sind in der Tat nur, was sie in ihren Beziehungen zueinander sind, durch die sie sich sowohl voneinander unterscheiden als auch miteinander vergemeinschaften.“18 Die Identität der trinitarischen Personen gründet sich also in der wechselseitigen Selbstunterscheidung. Strukturell analog deutet Pannenberg menschliche Identitätsbildung, die ebenfalls nur möglich ist durch die Selbstunterscheidung vom Anderen. Eine Selbstunterscheidung, die auch hier nicht Trennung bedeutet, sondern im gelingenden Fall eine solche ist, die verselbstständigt und verbindet. Eine so verstandene Selbstunterscheidung zeigt den von Pannenberg behaupteten konstitutiven Sozialbezug der Selbst- und Identitätswerdung, welcher im folgenden Kapitel näher zu erläutern ist. Die Annahme dieses konstitutiven Zusammenhanges zeigt die Wandelbarkeit und Unabgeschlossenheit der Identität des Einzelnen. Indem letzterer immer wieder versucht, das „soziale Selbst“, das heißt das Selbst, welches auf Erwartungen und Einschätzungen seines sozialen Kontextes beruht, in das eigene Selbst, die eigene 15 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 287. 16 Mit alldem ist natürlich nicht gesagt, dass erst durch die Selbstunterscheidung des irdischen Jesu die trinitarischen Personen entstehen bzw. die Gottheit des Vaters. Diesem irdischen Geschehen geht ein ewiger Akt voraus. Vgl. insgesamt Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 335–338. Zum Verhältnis von immanenter und ökonomischer Trinität vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 355–364. 17 Die Gottheit des Vaters und die des Geistes sind ebenfalls an die Einheit in der Unterschiedenheit mit den jeweils anderen beiden gebunden. Vgl. dazu Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 338–346. 18 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 348. Mit einer solchen relationalen Begründung der trinitarischen Personen ist der Anspruch verbunden, dass nur ein trinitarischer Gott die konsequente Durchführung des Monotheismus darstellt, da nur so das Sein Gottes in der Welt gedacht und gleichzeitig an der Selbstständigkeit geschöpflichen Lebens festgehalten werden kann. Vgl. Axt-Piscalar, Unendliche, 324–329.

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Identität zu integrieren, kommt es zu einer fortwährenden Aktualisierung dieser.19 Das Charakterbild schwankt nicht nur in der Geschichte, wie Schiller sagt, nämlich im Gedächtnis der Nachwelt, sondern schon zu Lebzeiten des Individuums, und dabei streiten nicht nur die anderen unter sich, was sie von dir zu halten haben, sondern auch du selbst nimmst an diesem Streit teil, der schließlich dich in besonderer Weise angeht.20

Hierin zeigt sich die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft um Anerkennung der eigenen Identität, die so bestimmt ist, dass der Einzelne sich selbst damit identifizieren kann; und solche Anerkennung braucht es für eine gelingende Identitätsbildung. Wie ist es nun unter der Bedingung der Wandelbarkeit und Unabgeschlossenheit menschlicher Identität möglich, gegenwärtig mit sich selbst identisch zu sein? Wie kann ich ich selbst sein, wenn ich noch unterwegs zu meinem Selbst bin? Um diese Fragen beantworten, bedarf es noch eines genaueren Blickes auf die Entstehung der Identität in ihrem gesellschaftlichen Bezug.

2.1.2 Der Sozialbezug menschlicher Identitätsbildung In einer breiten Auseinandersetzung, weit über die Grenzen der eigenen Fachrichtung hinaus, entwickelt Pannenberg in seiner Anthropologie in theologischer Perspektive einen Entwurf zur menschlichen Identitätsbildung. Diese Veröffentlichung stellt eine Ausnahme innerhalb der Theologie des 20. Jh. dar, insofern hier das Verhältnis von Religion und Identität in philosophischer, empirisch-psychologischer, soziologischer und sozio-theologischer sowie materialdogmatischer Hinsicht im Mittelpunkt steht. Es kann somit „als das wichtigste Dokument der neueren theologischen Identitätsforschung“21 angesehen werden. Als entscheidende Referenzgrößen für die These des konstitutiven Sozialbezuges menschlicher Identitätsbildung und hiermit deren Geschichtlichkeit zieht Pannenberg die Positionen George H. Meads und Erik H. Eriksons heran. Beiden Positionen ist laut Pannenberg eigen, dass sie das Selbst bzw. die Identität als sozial bedingt begreifen.22 Dabei sieht Pannenberg den Gewinn der Theorien Meads nicht in der Einsicht in die soziale Bedingtheit des Selbst und 19 Zu der genaueren Verhältnisbestimmung der Begriffe Selbst und Identität vgl. Kap. 2.1.2 in der vorliegenden Arbeit. Zum Verständnis sei kurz gesagt, dass Pannenberg beide Begriff deckungsgleich gebraucht. 20 Pannenberg, Anthropologie, 217. 21 Zarnow, Identität, 32f. 22 Für die Gleichsetzung des Begriffs des Selbst, wie in Mead gebraucht, mit dem Identitätsbegriff Eriksons beruft sich Pannenberg auf Erikson selbst. Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 191.

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seiner Unterscheidung vom Ich. Hier ist Mead von William James beeinflusst. Das Neue liegt vielmehr darin, dass Mead eine Erklärung des Selbstbewusstseins und der Selbstreflexion des Menschen vornimmt, in welcher er beide nicht als Naturtatsache des Menschen behauptet, sondern sie als Resultat eines Werdens zu begreifen versucht. Selbstreflexion wird verstanden als Resultat der sozialen Interaktion.23 Die Voraussetzung hierfür ist die Möglichkeit, sich in andere hineinzuversetzen bzw. die Rolle des Gegenübers einzunehmen und zwar insofern, als dass der Mensch sich in sowohl reelle wie auch mögliche Reaktionen seines Gegenübers auf sich und sein Verhalten hineinversetzen kann und so sein eigenes Wesen von einem Standpunkt außerhalb seiner selbst betrachten kann.24 Selbstreflexion wird so vom Sein beim Anderen abgeleitet. Die Konsequenz dieser Einsicht ist, dass der Mensch in seiner Eigenart als selbstbewusstes Lebewesen nicht unabhängig von seiner sozialen Umwelt konstituiert ist, sondern durch die Interaktion mit dieser. Bei dem Selbstbewusstsein „handelt es sich […] nicht um eine Schöpfung des Du, sondern das Individuum erfaßt sich selbst, indem es sich in die Rolle des anderen ihm gegenüber versetzt.“25 Das Selbst, dessen wir uns bewusst werden, beruht somit auf Fremdbildern, auf deren Aneignung, aber auch auf deren Modifikation. Aufgrund der Internalisierung verschiedener Fremdbilder zu einem eigenen Selbst kommt es aber nicht automatisch zu dessen Zerfall in verschiedene Selbstbilder. Sie erhalten ihre Einheit und so ihre Identität miteinander, insofern sich der Einzelne nicht von einem individuellen Gegenüber her begreift, sondern als Teil einer Gruppe. Diese Perspektive sieht Pannenberg bei Mead als die des „generalized other“26 bezeichnet. Durch eine solche Bestimmung des Selbst ist es Mead gelungen, „die Gesellschaft zur Konstitutionsbedingung der individuellen Identität der Subjekte selber“27 zu erklären. Anders als Mead will Pannenberg aber nicht nur das Selbst, sondern auch das Ich sozial konstituiert wissen. In der Konzeption Meads sieht Pannenberg dem Ich die Funktion zugewiesen, Quelle jeglichen menschlichen Verhaltens und so auch der Selbstreflexion zu sein. Eben die vorgenommene Annahme und Modifikation der Fremdeinschätzungen ist Aufgabe des Ich. Dieses reagiert also auf die soziale Wirklichkeit, ist aber gleichsam durch sie unbeeinflusst. In einem 23 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 179. 24 Grundlage dafür, sich in andere hineinzuversetzen, ist die Fähigkeit, Gebärden und Gesten anderer zu verstehen. Im Unterschied zu den Tieren kann der Mensch dabei die eigene Gebärde wahrnehmen zusammen mit der Reaktion des Gegenübers auf diese und so die Bedeutung der Gebärde für den Anderen einschätzen. Eben dies bedeutet, sich in die Rolle des Anderen hineinversetzen. Gleiches gilt bei jeglicher Form menschlicher Lautäußerungen. Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 180. 25 Pannenberg, Anthropologie, 181. 26 Pannenberg, Anthropologie, 182. 27 Pannenberg, Intersubjektivität, 415.

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solchen Modell sieht Pannenberg eine mögliche Einheit des Ich mit dem Selbst nicht denkbar.28 Diese kann nur gegeben sein, wenn auch das Ich als sozial bedingt angenommen wird.29 Analog gelagert sieht Pannenberg das Problem in der Identitätslehre Eriksons. In den verschiedenen Phasen der Identitätsbildung sei es auch in dessen Theorie Aufgabe des Ich, die mannigfachen Erfahrungen immer wieder zu einer erfolgreichen Ich-Synthese zu integrieren, welche dann in die Herausbildung der eigenen Identität mündet. Diese Identität unterliegt im gesamten Lebensvollzug der immer neuen Aktualisierung aufgrund neu gemachter Erfahrungen. Das Ich allerdings, als organisierendes Zentrum der eigenen Identität, bleibt von diesem Wandlungsprozess ausgeschlossen. Somit ist nach Pannenberg auch hier die Frage der Einheit von Ich und Selbst zu stellen. Nun aber betrifft dieser Konflikt nicht mehr nur den sozialen Außenaspekt des Individuums, sondern dessen Innenaspekt: Die Spannung besteht nun zwischen dem geschichtlichen Bildungsprozess des Einzelnen und der Frage, wer das Subjekt dieses Bildungsprozesses ist.30 Pannenberg aber insistiert darauf, dass ein Selbst nur dadurch mein Selbst ist, indem ich mit ihm identisch bin. „Wenn nun aber ich und mein Selbst identisch sind, dann bedeutet der Wandel des Selbst notwendig auch einen Wandel des Ich.“31 Eben hierin liegt die Intention der Argumentation Pannenbergs. Er schließt sich der Analyse Meads und Eriksons an, dass das Selbst, die eigene Identität, steten Wandlungen ausgesetzt sind, bedingt durch die soziale Interaktion und die hierin sich vollziehende Integration und Modifikation von Fremdbildern und Erfahrungen in die eigene Identität. Aber indem eine solche 28 Die hier auftretende Frage der Einheit von Selbst und Ich und deren Beantwortung in der Tätigkeit des Ich, welches sogar als produktive (Teil-)Quelle des Selbst angenommen wird, sieht Pannenberg in der Konzeption des Selbstbewusstseins durch Fichte grundgelegt. Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 194–198. 29 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 182f. 30 Bei Mead gründet sich das Selbst nach Pannenberg auf dem internalisierten sozialen Akt. Dies betrifft sowohl das Idealselbst, welches die Erwartungen einer Gruppe ausdrückt, als auch das faktische Selbst, welches sich darin zeigt, wie sich unser Verhalten aus der Perspektive der Gruppe, deren Teil wir sind, bzw. der Menschheit darstellt. Daher kann Pannenberg das Selbst bei Mead als den Außenaspekt des Individuums bezeichnen. Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 182f sowie 191f. 31 Pannenberg, Anthropologie, 192. Den Grund für die Annahme eines solchen unveränderlichen Ich sieht Pannenberg in der Anknüpfung Eriksons an Sigmund Freud. Bei Freud finde sich zwar bereits die Annahme eines Ich, dessen Gestalt sich erst durch den Prozess der Identifizierung nach und nach herausbildet. Hierbei handelt es sich um das Real-Ich und das Über-Ich, wobei es Aufgabe des Real-Ich ist, die eigenen Leidenschaften und Triebe zu beherrschen. Dessen Verhältnis aber zu dem von Beginn des Lebens bestehenden Lust-Ich, welches in einigen Schriften Freuds für den Selbsterhaltungs- und Sexualtrieb steht, ist nach Pannenberg ungeklärt. Aufgrund dieser Indifferenz in den Theorien Freuds hielt Erikson ebenso wie Heinz Hartmann an einer autonomen Ich–Instanz fest, die der Ausdifferenzierung der eigenen Identität gegenübergestellt ist. Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 185–194.

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Integration nicht nur mein Selbst, sondern mich betrifft, unterliegen beide Persönlichkeitsinstanzen, das Ich und das Selbst, der steten Veränderung. Auch das Ich bildet sich vielmehr erst im Prozeß der Erfahrung […] und zwar insbesondere unter dem Einfluß sozialer Bezüge, wobei die ersten Bezugspersonen des Neugeborenen für die Entwicklung der eigenen Subjektivität des Kindes besonders wichtig sind.32

Somit wird der Vorgang der Identitätsbildung verständlich als Bildungsprozess sowohl des Selbst als auch des Ich.33 Wie kommt es aber zu einer Identifizierung mit den Fremdbildern des eigenen sozialen Kontextes? Warum erkenne ich in diesen mich selbst? Dies sieht Pannenberg in dem von Erikson so bezeichneten Phänomen des Grund- bzw. Urvertrauens begründet. Dieses erwächst innerhalb des symbiotischen Lebenszusammenhangs der ersten Monate, in welchem der Lebensvollzug des Kindes noch nicht gänzlich unterschieden ist von dem der Mutter und diese den Inbegriff der Welt und der Lebenserfüllung für das Kind darstellt. Letzteres nimmt sich aber auch nicht einfach als eine symbiotische Einheit mit der Mutter bzw. den Eltern wahr, denn der Akt des Vertrauens impliziert bereits eine erste Unterscheidung des Kindes von seiner Umwelt. Mit Beginn der schrittweisen Abgrenzung des eigenen Selbst gegenüber den Eltern stellt das Grundvertrauen die Grundlage dar, sich mit Fremdbildern und -erwartungen zu identifizieren und darin sich selbst zu entdecken. Dies geht mit der Erwartung einher, dass die eigene Umwelt – gerade die eigene Mutter – in ihrer lebens- und das bedeutet in ihrer identitätsbejahenden Haltung dem Kind gegenüber mit sich identisch bleibt. „Darin liegt der Ausgangspunkt für den die weitere Entwicklung der Identitätsbildung bestimmenden Anspruch an das Kind, nun auch seinerseits mit sich identisch zu sein.“34 Das Grundvertrauen beinhaltet die Anerkennung des eigenen Lebenszusammenhangs als einen solchen, der die eigene Identität bejaht und fördern will, verbunden mit der Erwartung, dass diese Anerkennung des eigenen Selbst auf Dauer gestellt ist. Erst dadurch ist es möglich, dass das Kind sich mit den Erwartungen und Einschätzungen seines Lebenszusammenhangs identifizieren kann und im Laufe der Zeit diese zu ersten Ich-Synthesen verbindet. Dabei ist das Vertrauen nicht nur in der Anfangsphase menschlichen Lebens fundamental, „[denn] jeder spätere Akt der Identifikation und Identitätsbildung

32 Pannenberg, Intersubjektivität, 416. Hier wird deutlich, dass Pannenberg sich gegen eine Konzeption des Selbstbewusstseins wendet, in welcher das Ich aller Erfahrung vorausgesetzt ist. Eine solche identifiziert er nicht nur bei Mead und Erikson, sondern führt sie zurück bis auf Kant. Vgl. Kaufner-Marx, Freiheit, 113–115. 33 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 216f. 34 Pannenberg, Anthropologie, 220.

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Der Mensch auf dem Weg zu seiner Bestimmung

stellt eine Aktualisierung jenes Urvertrauens dar.“35 Es ist die Grundlage jeder weiteren Persönlichkeitsentwicklung. Damit das Grundvertrauen dies leisten kann, muss es allerdings im Laufe des Heranwachsens eines Kindes von dem Bezug zu den Eltern gelöst werden. Es bedarf einer Orientierung, die dem aufwachsenden Kind das Vertrauen ermöglicht, trotz aller Bedrohungen und Widrigkeiten geborgen zu sein. Eine solche Loslösung von der elterlichen Bindung des Urvertrauens und dessen Neuorientierung ist für Pannenberg gerade Aufgabe der religiösen Erziehung und Bildung, da es der Gott des Glaubens ist, der eine solche Geborgenheit trotz aller Gefährdungen ermöglicht. Dies ist aber nicht als sekundäre Umorientierung zu verstehen. Vielmehr thematisiert Religion hier etwas, was von Anfang an gegeben ist: Der eigentliche Gegenstand des Grundvertrauens ist Gott, von Anbeginn an. „Das Grundvertrauen richtet sich auf eine Instanz, die ohne Einschränkung fähig und bereit ist zur Bergung und Förderung des eigenen Selbstseins.“36 Auch wenn eine solche Fähigkeit zur Bergung und Förderung für den Säugling in der Mutter manifestiert ist, so sind damit objektiv betrachtet ihre Fähigkeiten überschritten. Sie repräsentiert hier die Liebe Gottes für das Kleinkind, welche es eigentlich ist, die das eigene Selbstsein eines jeden Menschen fördert und bewahrt. Einen solchen Gottesbezug, der im anthropologischen Phänomen des Grundvertrauens implizit mitgesetzt ist, will Pannenberg nicht als Gottesbeweis verstanden wissen.37 Seine Intention ist es vielmehr, diese Implikationen des menschlichen Lebensvollzuges aufzuzeigen. Dass das Grundvertrauen auf die Bewahrung und Förderung der eigenen Identität vertraut, zeigt für Pannenberg, dass es auf eine Instanz gerichtet sein muss, die einem solch unbegrenzten Vertrauen angemessen ist. Und diese sieht er am ehesten in der Wirklichkeit Gottes gegeben.38 Dieser implizite Gottesbezug des Grundvertrauens zeigt für Pannenberg sogleich etwas Zweites an: Es ist bezogen auf die Ganzheit des eigenen Selbst. Es vertraut darauf, dass die eigene Identität in ihrer Ganzheit bewahrt und gefördert wird, und geht darin über den Moment hinaus. Religiös gesprochen heißt das, dass im Vollzug des Grundvertrauens Gott und Heil zusammengehören. „Das von Gott erhoffte Heil bezieht sich ja, wie bereits der Wortsinn von ‚Heil‘ (Heilsein, Integrität) erkennen läßt, auf das unverletzte Ganzsein des Lebens.“39 Eine fortwährende Aktualisierung des Grundvertrauens ist also angewiesen auf die Loslösung von den Eltern. Beides – Emanzipation und Aktualisierung – kann nach Pannenberg gestärkt werden durch religiöse Erziehung. „Wo religiöse Erziehung entweder ausbleibt oder aber in einer mehr oder weniger entstellten 35 36 37 38 39

Pannenberg, Christliche Anthropologie, 159. Pannenberg, Anthropologie, 224. (Hervorhebung im Original.) Vgl. dazu Zehner, Dialog, 138–142. Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 226f. Pannenberg, Anthropologie, 227.

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Form erfolgt, kann es daher zur Verbiegung oder Verkümmerung der Persönlichkeitsstruktur kommen.“40 Demgegenüber zeigt sich eine gelingende Persönlichkeitsentwicklung darin, dass der eigene Identitätsentwurf offen und anpassungsfähig bleibt für neue Erfahrungen und Anforderungen. Hier zeigt sich wieder der elementarste Zug des Identitätsbegriffs Pannenbergs: Die geschichtliche Wandelbarkeit. Gleichzeitig beinhaltet das Phänomen des Grundvertrauens den Bezug zur Ganzheit des eigenen Lebens. Somit stellt sich noch einmal die Frage, wie der Mensch unter dem Vorzeichen einer zu Lebzeiten unabgeschlossenen Identität mit sich selbst identisch sein kann.

2.1.3 Ganzheit in der Unabgeschlossenheit: Person sein Die Anwesenheit der das ganze Leben umgreifenden und den gegenwärtigen Augenblick übersteigernden Ganzheit im jetzigen Moment sieht Pannenberg als Kennzeichen der Personalität. „Person ist die Gegenwart des Selbst im Augenblick des Ich.“41 Obwohl der Mensch noch auf dem Weg zu seiner Bestimmung, zu seiner vollkommenen Identität ist, ist er doch im Augenblick er selbst und darin Person. Das heißt, der Mensch ist Person aufgrund dessen, was er sein wird, wenn seine Bestimmung erfüllt ist. Jeder einzelne Mensch ist in der Gegenwart Person, aufgrund der Zukunft, die er hat. Das Wort ‚Person‘ bezieht das die Gegenwart des Ich übersteigende Geheimnis der auf dem Wege zu ihrer besonderen Bestimmung noch unabgeschlossenen individuellen Lebensgeschichte auf den gegenwärtigen Augenblick des Ich.42

Diese Zukunft, in welcher die Bestimmung des je konkreten Menschen verwirklicht ist, ist nach Pannenberg jedem eigen und somit allen gemeinsam. Sie macht den Menschen zur Person. Dass der Mensch Person ist, hat also eben keinen empirischen Grund, sondern wird ihm trotz seiner zu Lebzeiten nicht realisierten Bestimmung kontrafaktisch zugesprochen – und kann ihm daher auch nicht abgesprochen werden.43 Ein solch kontrafaktisches Verständnis bestimmt laut Pannenberg moderne Fassungen des Personenbegriffs, wie z. B. die Bestimmungen des Grundgesetzes zeigen. Die der Person laut Art. 2 GG zugeschriebenen, unverfügbaren Persön40 41 42 43

Pannenberg, Anthropologie, 224. Pannenberg, Anthropologie, 233. Pannenberg, Anthropologie, 233. Trotz Pannenbergs Positionierung gegen Abtreibung, wie er sie z. B. in Pannenberg, Angst andeutet, begrenzt er das Person-Sein auf postnatales menschliches Leben. Vgl. Pannenberg, Person, 233. Dies verwundert, da ein von der Zukunft der noch offenen Bestimmung her bestimmter Personenbegriff als eine theologische Figur erscheint, die auch zum Schutz embryonalen Lebens herangezogen werden könnte.

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lichkeitsrechte – das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, das Recht auf Unversehrtheit und Freiheit – und die damit verbundene unantastbare Würde des Menschen sind nicht empirische Merkmale eines jeden lebenden Menschen. Vielmehr handelt es sich auch hier um Beschreibungen dessen, wozu der Mensch bestimmt ist, eben gerade abgesehen von seiner faktischen Verfasstheit. Wenn z. B. bei einem Menschen aufgrund starker physischer oder psychischer Krankheiten faktisch von Unversehrtheit oder Freiheit nicht mehr gesprochen werden kann, so ist dieser dennoch Person und hat weiterhin die damit einhergehenden Rechte auf eben diese Unversehrtheit und Freiheit. Sie beschreiben einen SollZustand des Menschen, sind aber nicht darauf begrenzt, sondern haben darin einen Bezug zum gegenwärtigen Sein des Menschen. „Das Sein des Menschen selber ist von diesem Sollen bestimmt.“44 Daher sind die im Grundgesetz festgehaltenen Persönlichkeitsrechte im Indikativ formuliert, auch wenn diese Bestimmungen (noch nicht) Realität sind. Dass der Mensch als Person nie nur im Augenblick aufgeht, der in jedem Moment anwesende Ganzheitsbezug ihn vielmehr über jeden Augenblick erhebt, bedeutet nicht, dass der Mensch im Bewusstsein dieser Ganzheit lebt. Dieser Ganzheitsbezug meint nämlich nicht ein explizites Wissen, sondern ein Gefühl der Vertrautheit mit sich und darin auch mit seiner Umwelt.45 Dies soll eine Bewusstwerdung bzw. eine Bewusstmachung der Ganzheit des eigenen Selbst allerdings keineswegs ausschließen. Pannenberg nennt dies im Anschluss an Hermann Lübbe und Jörn Rüsen „Identitätspräsentation“. Eine solche ist allerdings nur möglich durch Antizipation der vollendeten Identität sowie – wie noch genauer zu zeigen sein wird – der vollendeten Menschheit.46 In dem Gefühl des unmittelbaren Selbstverhältnisses „als der Ort einer präreflexiven Vertrautheit“47 jedenfalls sind die Welt und das eigene Selbst noch ungetrennt. Dieses Gefühl ist bestimmt von der Anwesenheit des unbestimmten Ganzen des Lebens, aus welcher durch die Tätigkeiten des Verstandes Selbst und Welt erst hervortreten. Aber auch in der schrittweisen Ausdifferenzierung von Welt und Selbst im fortlaufenden Lebensprozess bleibt ein Moment dieser unmittelbaren, unbestimmten Ganzheit im Lebensvollzug erhalten. „In solchem Selbstverhältnis haben wir in uns selber ein Verhältnis zu der mehr oder weniger vage erfaßten Bestimmung unseres Selbst, von der her wir Person sind.“48

44 Pannenberg, Mensch als Person, 165. 45 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 236f. 46 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 494–501. Zum Begriff der Antizipation, welcher auch in der Ekklesiologie und mithin in der gesamten Theologie Pannenbergs einen zentralem Platz einnimmt, vgl. Kap. 4.4.1. 47 Pannenberg, Anthropologie, 503. 48 Pannenberg, Mensch als Person, 167.

Identität im Werden

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Das hier ausgeführte Personenverständnis Pannenbergs, in welchem das Person-Sein an die Gegenwart des Selbst im gegenwärtigen Augenblick des Ich gebunden ist, hat einige Konsequenzen. Zum einen kann Person so nicht als Leistung des Ich aufgefasst werden. Das Ich erscheint vielmehr als eine augenblicksgebundene Größe, die nicht ein dauerhaftes Person-Sein begründen kann. Ebenso wie es nicht Grund der Identität der Einzelnen sein kann. Beides ist vielmehr an das Selbst gebunden, dessen Realisierung noch aussteht. PersonSein erscheint hier als eine zugesprochene Bestimmung, eine passive Erfahrung, die durch die Erscheinung des eigenen Selbstseins im Augenblick des Ich konstituiert wird.49 Dabei ist von einer Anwesenheit des Selbstseins auch dann noch zu sprechen, wenn es in pervertierter Form, z. B. im schmerzhaften Bewusstsein der Trennung von der eigenen Bestimmung oder in der Verdrängung dieser, in Erscheinung tritt.50 Zum anderen zeigt das Personenverständnis Pannenbergs noch einmal das in seinen Augen konstitutive Ineinander von Zentralität und Exzentrizität des menschlichen Lebens: Einerseits ist hiermit der Gedanke der Freiheit verbunden. Frei zu sein heißt, man selbst sein zu können. „Im Gedanken der Freiheit findet das Moment des Fürsichseins in der Personalität seine Vollendung.“51 Andererseits ist durch die Bindung der Personalität an das Selbst dessen soziale Bedingtheit angezeigt. Eine Person ist nicht direkt auf ihr eigenes Selbst bezogen, sondern auf eine Gruppe bzw. eine Gemeinschaft, dessen Teil sie ist und der gegenüber sie sie selbst ist. Auch hier zeigt sich noch einmal der trinitarische Grund, von welchem her Pannenberg die menschliche Lebenswirklichkeit deutet. Wie bereits ausgeführt, sind die trinitarischen Personen in ihren Relationen zueinander konstituiert. Die Konsequenz für das Verständnis des Menschen als Person ist, daß der Mensch sein Wesen, sein Selbst, nicht in sich selbst hat und auch nicht aus sich hervorbringt, sondern außer sich hat und erst in Beziehung zum anderen Menschen sein eigenes Wesen findet.52

Eine solche Analogie zwischen dem Verständnis der trinitarischen Personen und des Menschen als Person sieht Pannenberg historisch begründet und er folgert 49 Zum Begriff der Erscheinung bei Pannenberg vgl. Pannenberg, Theologie, 79–91. Nur soviel sei an dieser Stelle gesagt: Der Begriff der Erscheinung unterstützt noch einmal die Gegenwart der Zukunft der eigenen Bestimmung als Kennzeichen des Person-Seins, da Pannenberg das Verhältnis von Erscheinung und Erscheinendem von der Zukunft her bestimmt und so das Erscheinende nie gänzlich in der Erscheinung aufgeht, sondern immer auch darüber hinausweist. Gleichzeitig erhalten die Erscheinungen von der Zukunft des Erscheinenden her ihre Einheit. In dem verhandelten Kontext heißt das, die Person konstituiert sich durch die Erscheinung des Selbst und geht gleichzeitig nie in der Erscheinung des Selbst, also in dem Moment auf, sondern ist auf dessen Zukunft verwiesen, was Bedingung ihres Person-Seins ist. 50 Vgl. Pannenberg, Mensch als Person, 168. 51 Pannenberg, Anthropologie, 233. 52 Pannenberg, Christliche Anthropologie, 154.

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daraus, dass der neuzeitliche Personenbegriff durch das Christentum geprägt wurde. So war es die Entwicklung der Trinitätslehre, in welcher bereits bei Augustin die trinitarischen Personen als Relationen begriffen wurden. Ein solches relationales Verständnis wurde vollends im 12./13. Jh. von Richard von St. Viktor und Duns Scotus zur Geltung gebracht. Letzterer vertiefte diesen Begriff dann auch in anthropologischer Hinsicht, insofern er den Menschen konstituiert durch seine Relation zu Gott sah. Im 19. J wurde ein solch relationales Verständnis der menschlichen Person wieder aufgenommen – Pannenberg hebt hier Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel hervor – und prägte von hier ausgehend den neuzeitlichen Personenbegriff, der sich für Pannenberg daher mittelalterlicher Trinitätslehre verdankt.53 Trotz des elementaren Sozialbezuges menschlicher Personalität geht diese aber nie vollkommen in der Gemeinschaft auf. Indem der Bezug zur Ganzheit des eigenen Daseins konstitutiver Teil der Personalität ist, eine Person also nie auf den gegenwärtigen Augenblick beschränkt ist, ist sie immer auch ihrer sozialen Situation enthoben. Sie geht nicht auf in ihren sozialen Bezügen, sondern hat innerhalb dieser ein Recht auf das eigene Selbstsein. Dies kann dazu führen, dass das Individuum sich gegen sein Gegenüber oder seine soziale Gruppe behaupten kann, ja in manchen Fällen behaupten muss. Konkret bedeutet dies, dass jede Person überzogenen, sie in ihrer Ganzheit beanspruchenden gesellschaftlichen Forderungen enthoben und zu „kritischer Selbstständigkeit“54 gegenüber den sozialen Verhältnissen befreit ist. Somit muss Selbstbehauptung nicht Ausdruck eines egoistischen Aufstandes gegenüber anderen oder der Gesellschaft sein, sondern kann den Appell an den sozialen Kontext ausdrücken, die Bestimmung zur menschlichen Gemeinschaft weiter zu verwirklichen. Denn dass jede Person sie selbst sein kann, ist nicht nur Teil der persönlichen Verwirklichung, sondern auch der gemeinschaftlichen. Der Ganzheitsbezug der Personalität und somit auch die Selbstbehauptung der Person erfahren eine tiefere Begründung durch den mit der Ganzheitsthematik eng verbundenen Gottesbezug. Die Ganzheit des eigenen Selbstseins verweist ja nicht nur über den gegenwärtigen Augenblick hinaus, sondern ist angesichts des Todes angewiesen auf eine Vollendung, die über diesen hinausgeht. Insofern ist Personalität letztendlich in Gott begründet und dadurch ist die Person befreit zur eigenen Selbstwerdung.

53 Vgl. Pannenberg, Person, 231f. 54 Pannenberg, Anthropologie, 234.

Die gemeinsame Welt

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Die Offenheit der Person über die Schranken jeder endlichen Realisierung hinaus auf ihre göttliche Bestimmung hin begründet schließlich die Unantastbarkeit des Individuums, die im Gedanken seiner Personenwürde ausgedrückt wird.55

Diese Forderung der Unantastbarkeit, die an jede Form konkreter Gemeinschaft zu stellen ist, ist so letztlich darin begründet, dass jeder Einzelne als Person über die vorhandene Realität des Augenblicks hinaus bezogen ist auf die ausstehende Erfüllung seiner Bestimmung und somit auf Gott. Aufgabe der Religion ist es, diesen Gottesbezug und den damit einhergehenden Ganzheitsbezug menschlicher Identitätsbildung zu thematisieren, um so gelingende Identitätsbildung und Personalität zu ermöglichen. Jeder Mensch hat das unverfügbare Recht darauf, er selbst zu sein bzw. er selbst zu werden – in seiner konkreten geschichtlichen Besonderheit. Er hat ein Recht darauf, seine eigene Geschichte zu haben, in welcher sich seine Bestimmung entfalten kann; wenn sie auch in diesem Leben nie vollkommen verwirklicht sein wird. Gerade dieses Noch-nicht enthebt ihn totalitärer Ganzheitsansprüche von anderen und befreit ihn zu seinem Selbst-Sein. Gleichzeitig ist jeder Mensch auf Gemeinschaft verwiesen und das in einem doppelten Sinn: Zum einen teilen alle Menschen die Bestimmung, sie selbst zu sein, Person zu sein. Es handelt sich um eine allgemeinmenschliche Bestimmung. Zum anderen ist der Sozialbezug konstitutiver Teil der Identitätsbildung eines jeden Menschen und auch dies in zweierlei Hinsicht. Einerseits werden wir nur zu denen, die wir werden, durch die konkreten Gemeinschaften, in denen wir leben. Andererseits strebt jeder Mensch nach Gemeinschaft. Verwirklichte Gemeinschaft ist so Teil verwirklichter Identität. Dieser Gesamtzusammenhang soll in den folgenden Kapiteln weiter entfaltet werden.

2.2

Die gemeinsame Welt

Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass Pannenberg die Passivität des Einzelnen in der menschlichen Selbstwerdung betont, z. B. in der konsequent durchgeführten These der sozialen Bedingtheit sowohl des Selbst als auch des Ich. Zwar wird dem Einzelnen im Vorgang des Sich-Identifizierens durchaus ein aktiver Moment in der eigenen Identitätsbildung zugesprochen, es sind jedoch die Erwartungen und Wahrnehmungen meiner Umwelt, mit denen ich mich – wenn auch in eigenen Fällen modifiziert – identifiziere und denen so für meine Identität entscheidende Bedeutung zukommt. Wahrnehmungen und Erwartun55 Pannenberg, Anthropologie, 234. Zu Pannenbergs Verständnis von Person und Personalität vgl. Kaufner-Marx, Freiheit, 131–140.

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gen, die sich eben nicht meiner eigenen Produktivität verdanken, sondern denen ich im positiven Sinn ausgeliefert bin. Besonders deutlich wird die Hervorhebung der passiven Momente menschlichen Lebensvollzuges an Pannenbergs Personbegriff, welchen er an eine dem Menschen zugesprochene Bestimmung bindet, die sich in einer Erscheinung des Selbst und somit der Ganzheit der eigenen Identität in der Gegenwart des Ich realisiert. Eine Erscheinung, die der Einzelne nicht bewirken kann, sondern die sich ereignet.56 „Darum ist es vermessen, die Ganzheit des Lebens durch das eigene Handeln konstituieren zu wollen.“57 Hier deutet sich Pannenbergs Skepsis gegenüber dem Begriff des Handelns an, und zwar so verstanden, als dass der Mensch durch sein Handeln sich selbst und die Einheit seines Selbstseins konstituiert. Vielmehr ermöglicht allererst die personale Identität, die eben nicht aus sich selbst hervorgebracht werden kann, selbstverantwortliches Handeln. Für Pannenberg hat menschliches Handeln eine Bedeutung hinsichtlich der Selbsterhaltung und der Selbsterweiterung menschlichen Lebens. Selbstkonstitution hingegen ist dem Menschen nicht möglich, sondern eine trügerische Fehldeutung menschlicher Selbstständigkeit.58 Zeigen sich so bereits Vorbehalte gegenüber einer konstitutiven Bedeutung des individuellen Handelns für die eigene Selbstwerdung, ist dies leitend für Pannenbergs Interpretation der gemeinsamen Lebenswelt der Menschen.

2.2.1 Die Frage nach der Einheit der Kultur Pannenberg begreift Kultur als charakteristisch für das menschliche Leben, da jede Form gemeinschaftlichen Zusammenlebens auf Kultur gründet. Die gemeinsame Welt der Menschen war und ist nie eine natürliche Umwelt, sondern immer vom Menschen gedeutet und gestaltet, eingerichtet nach seinen Zwecken. „Die spezifisch menschliche Form des gemeinsamen Lebens wird ihrerseits schon konstituiert durch das Konzept der gemeinsamen Welt, die wir Kultur nennen.“59 Aber was ist Kultur? Was sind Kriterien, die Phänomene des gemeinsamen Lebens wie Normen, Traditionen, Gebräuche, Sprache, Kunst oder soziale Institutionen als kulturell qualifizieren? Pannenberg sieht mögliche Kriterien weder im gesellschaftlichen Charakter der als kulturell qualifizierten Phänomene noch im Aspekt der Umgestaltung der natürlichen Bedingungen durch diese. Ebenfalls als unzureichend beurteilt er die Annahme, der Kultur56 57 58 59

Vgl. Kap. 2.1.3. Pannenberg, Anthropologie, 356. Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 513f. Pannenberg, Anthropologie, 305.

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begriff sei zu definieren als allgemeine Qualität verschiedener kulturell bezeichneter Erscheinungen, da menschliche Gewohnheiten oder Produkte erst dadurch kulturell sind, indem sie Ausdruck einer konkreten Kultur sind. „Die entscheidende Frage ist daher, was die Einheit einer Kultur begründet, die sich in einem bestimmten ‚Stil‘ ihrer verschiedenen Lebensformen bekundet und von anderen Kulturen unterscheidet.“60 Um diese Frage zu beantworten, sind für Pannenberg die zentralen Einsichten zweier eigentlich entgegengesetzter Kulturtheorien aufzunehmen, wobei erstere das Ganze der Kultur von den unterschiedlichen Institutionen her zu erklären versucht und letztere von der symbolschöpferischen Tätigkeit des Menschen ausgeht. Hier konkretisiert Pannenberg die bereits im Rahmen von Identität und Personalität vorgetragene Verhältnisbestimmung von individuellem Handeln und vorgefundenen Lebenszusammenhang im Rahmen des Kulturbegriffs. Die Theorie, die Kultur als aufgebautes Ganzes aus teils koordinierten, teils selbstständigen Institutionen erklärt und von Pannenberg auf Bronislaw Malinowski zurückgeführt wird, reicht als Antwort auf die Frage nach der Einheit der Kultur nicht aus, da sie nicht erklären kann, wie die pluralen Institutionen zu einem Ganzen integriert werden.61 Jedoch wird hier die Vorgegebenheit der kulturellen Welt gegenüber dem Verhalten des Einzelnen erkannt. Dies wiederum sieht Pannenberg in denjenigen Ansätzen vernachlässigt, die Kultur von der symbolschöpferischen Tätigkeit des Menschen her erklären, wie sie sich bei Ernst Cassirer oder Claude Lévi-Strauss finden. Diese betonen zwar den wichtigsten Aspekt des Kulturlebens neben der Aufgliederung in Institutionen und der technischen Weltbewältigung, nämlich, dass der Mensch nicht in einem natürlichen, sondern in einem symbolischen Universum lebt, zu dem Sprache, Verwandtschaftssysteme, Recht, Ökonomie, Mythos, Religion und Kunst gehören. Jedoch reicht es für Pannenberg nicht, dies nur aus der symbolschöpferischen Tätigkeit des Menschen zu erklären, da es sich hierbei um eine Fähigkeit im Einzelnen und dessen Verhalten handelt. Die Kulturwelt ist aber eine allen Individuen gemeinsame und als solche dem Individuum vorgegeben. [Die] gesellschaftliche Natur der kulturellen Welt macht es unmöglich, ihre Inhalte in die symbolisierende Tätigkeit des individuellen Bewußtseins aufzulösen. Was durch solche Tätigkeit erfaßt wird, muß ihr schon vorausgehen.62

Die symbolschöpferische Tätigkeit des Menschen wird also als Nachvollzug vorgegebener Inhalte verstanden, was in diesem Nachvollzug aber auch eine Veränderung der Inhalte bedeuten kann, wie noch zu zeigen ist. Die Vorordnung

60 Pannenberg, Anthropologie, 306. 61 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 307. 62 Pannenberg, Anthropologie, 308.

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der gemeinsamen kulturellen Welt will Pannenberg jedenfalls nicht im Sinne Émile Durkheims als Überlegenheit der Gesellschaft über ihre Glieder verstanden wissen, da die Einheit einer Gesellschaft nur durch eine grundlegende Wertordnung des kulturellen Systems konstituiert werden kann; da die Gesellschaft wie auch der Einzelne einen Grund hat, der ihr entzogen ist und von dem her sie konstituiert wird. Es bedarf also zum Verständnis der Kultur einer dritten, von Individuum und Gesellschaft verschiedenen Ebene, auf der die symbolisierende Tätigkeit des Individuums mit den Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens in Beziehung tritt.63

Und eben dies leistet in den meisten Gesellschaften der Mythos, der die Grundlegung des natürlichen Kosmos und der gesellschaftlichen Ordnung zum Thema hat und auf welchen religiöse Praxis sowie individuelles Sinnbewusstsein bezogen sind. Dies erklärt für Pannenberg, dass in modernen, säkularen Abhandlungen zum Kulturbegriff unauflösbare Aporien entstehen, wie sie Michael Landmann mit der Formel konkretisiert hat, der Mensch sei zugleich Schöpfer und Geschöpf der Kultur. In einer solchen Theorie, die den Menschen als kulturell geprägt begreift und ihn zugleich für den Schöpfer der Kultur hält, nämlich in Form der geschichtlichen Menschen früherer Generationen, erblickt Pannenberg eine moderne Version der Gotteslehre, da sie den Menschen als causa sui begreift. Den Menschen aber derart an die Stelle Gottes zu setzen, ist empirisch nicht haltbar. Zwar leistet der Mensch bei der Neu- und Weiterbildung der Kultur einen Beitrag, doch handelt es sich dabei nicht um eine Schöpfung aus dem Nichts.64 Vielmehr werden durch die schöpferische Tätigkeit Sachverhalte erfasst und dargestellt, die nur so, also durch eben diese schöpferische Tätigkeit des Menschen, dargestellt und erfasst werden. Ihre Realität, ihr Sein liegt aber nicht in dieser Darstellung begründet. Was im Prozeß kultureller Überlieferung akkumuliert wird, das ist der Schatz der Erschließung von Wirklichkeit, und nur was fernerhin den Umgang mit erfahrbarer Wirklichkeit zu erweitern und zu vertiefen verspricht, wird in der Überlieferung bewahrt.65

63 Pannenberg, Anthropologie, 309. 64 Der Analyse Michael Moxters ist zuzustimmen, dass die hier von Pannenberg identifizierte Aporie zwischen Schöpfung und Selbst-Schöpfung der von ihm ebenfalls ausgemachten Aporie der Selbstkonstitution entspricht, wie sie in unterschiedlichen Durchführungen der Selbstbewußtseinstheorie auftritt. Nämlich, dass das einzelne Subjekt, wenn es erst im Prozess eigener Selbstwerdung dieses Subjekt wird, nicht Prinzip dieses Prozesses sein kann. (Vgl. dazu Kap. 2.1.3.) Inwiefern Pannenberg hier aber „der Logik der klassischen Metaphysik“ folgt und eine „herauspräparierte Aporie präsentiert“ (Moxter, Kultur, 370, Anm. 408) bleibt uneinsichtig, da Moxter dies auch nicht weiter begründet. Vgl. insgesamt Moxter, Kultur, 368–382. 65 Pannenberg, Anthropologie, 310.

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Was zu der Deutung der Wirklichkeit beiträgt und darin menschliches Leben erschließt und trägt – dies schließt auch wie im Fall der technischen Produktion die Umgestaltung der menschlichen Wirklichkeit ein –, das wird Teil des kulturellen Erbes.66 Dies meint aber nicht Neuschöpfung, sondern Erschließung bestehender Wirklichkeit, die sich in eben dieser Erschließung vollzieht. Pannenberg spricht hier von einem „Prozeß des Sichzeigens der Wirklichkeit durch das Medium schöpferischer Tätigkeit des Menschen“67. Hinsichtlich der Gesellschaftsordnung und der kosmischen Ordnung ist es der Mythos, der die dort in Erscheinung tretende und die Ordnung begründende Wirklichkeit thematisiert. Dies ist aber nicht gleichbedeutend damit, dass Religion und Mythos die Faktoren sind, die die Einheit der Kultur konstituieren – auch wenn unterschiedliche geschichtliche Religionen einen solchen Anspruch immer wieder geltend gemacht haben und geltend machen. Es ist vielmehr das Spannungsfeld zwischen den Ansprüchen der mythischen und religiösen Überlieferung einerseits und der sich wandelnden Lebenserfahrung der Individuen und der Gemeinschaft andererseits der Ort, wo der kulturelle Lebensstil sich bildet und erneuert und wo auch Religion und Mythos sich wandeln68.

Denn es ist die Wirklichkeit selbst, deren Sinn und Ordnung Mythos und Religion beschreiben wollen, die sich der gemeinschaftlichen Erfahrung immer wieder neu darstellt und um deren Deutung gerungen wird. Pannenberg betont hier den Eigenwert der Lebenserfahrung und -deutung, die sich in unterschiedlichen kulturellen Bereichen erschließt und artikuliert und die in einem kritisch-konstruktiven Verhältnis zu Religion und Mythos steht. Damit stärkt er zugleich auch die Bedeutung des religiösen Bewusstseins und seiner Gehalte bzgl. des gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenlebens, da eben auch dieses wie der kulturelle Lebensstil die sich in beidem erschließende Wirklichkeit darstellt. Eine Kulturdeutung, in der Pannenberg diese Einsichten berücksichtigt sieht, ist die vom Spiel ausgehende Kulturtheorie Johan Huizingas. 2.2.1.1 Kult und Spiel Huizinga führt laut Pannenberg alle kulturellen Lebensformen auf die zwei Hauptarten des gemeinsamen Spiels zurück, die das kulturelle Leben gegenseitig durchdringen: Das darstellende Spiel und den auf Regeln basierenden Wettkampf. Die darstellende Funktion des Spiels zeigt sich z. B. in den Künsten sowie in Formen gesellschaftlicher und politischer Repräsentation. Der Moment des 66 Analog begreift und beurteilt Pannenberg auch das Entstehen und Überliefern religiöser Traditionen innerhalb der Religionsgeschichte. Vgl. Kap. 5.1.2.2. 67 Pannenberg, Anthropologie, 310. 68 Pannenberg, Anthropologie, 311.

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Wettkampfes, der eingebunden bleibt in die Regeln des Zusammenspielens und so in die Ordnung des Spiels, zeigt sich im ritualisierten Zusammenspiel von Einzelnen sowie Interessengruppen, besonders im Rechtsleben oder in der Wirtschaft. Huizinga kann sogar den Krieg hinzuzählen, insofern dieser durch das Kriegsrecht einer Ritualisierung unterliegt.69 Auch wenn beide Hauptarten des Spiels im kulturellen Leben auftreten und sich immer wieder gegenseitig durchdringen, kommt dem darstellenden Spiel doch die Priorität zu. Ihm entspricht am dichtesten der Kult, in welchem die mythische Ordnung des Kosmos dargestellt wird. Wie im Spiel so ist auch der Kult von einer in sich vollendeten Ordnung bestimmt. Beide sind ausgegrenzt, sowohl lokal, in Form besonderer Kultorte oder Spielplätze, als auch temporal. Und in beiden Vollzügen, im Spiel und erst recht im kultischen Geschehen sind die Teilnehmenden durch eine Ergriffenheit hinausgehoben aus ihrem gewöhnlichen Zustand. „Solche Erhebung widerfährt im Kultus nicht nur den Akteuren des Kultdramas, sondern ergreift ähnlich wie in vielen anderen Formen des darstellenden Spiels die dem Vollzug der Darstellung beiwohnende Gemeinde.“70 Analoges gilt für Theater- und Musikaufführungen. In solcher Darstellung soll eine eigentlich abwesende, symbolisierte Gegenwart zur Gegenwart kommen.71 Dabei geht die Ergriffenheit im Spiel nicht von der Durchführung des Spiels aus, sondern von der Sache, die im Spiel dargestellt wird. Dies verdeutlicht der angeführte Vergleich mit Theateraufführungen, in welchen die Faszination vom Werk ausgeht, das in der Aufführung zur Darstellung kommt. Dabei steht das zur Aufführung kommende Werk an der Stelle, die im kultischen Vollzug vom Mythos eingenommen wird, dessen weltgründende Wahrheit der Kultus

69 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 319f. 70 Pannenberg, Anthropologie, 316. 71 Die Imagination von Abwesenden ist Kennzeichen des Symbolspiels, wie es auch für die Identitätsbildung heranwachsender Kinder von entscheidender Bedeutung ist. In Auseinandersetzung mit Jean Piaget kommt Pannenberg zu dem Schluss, dass kindliches Symbolspiel, was aus der Nachahmung hervorgeht, sich vervollkommnet, wenn das Kind zwischen dem vierten und siebten Lebensjahr eine abwesende Wirklichkeit imitiert und rekonstruiert. Hier verstärkt sich das jedem Spiel eigene Sichhineinversetzen in den Gegenstand des Spiels und wird zu einem immer stärkeren Ergriffensein von diesem Gegenstand. Die abwesende Wirklichkeit wird so mehr und mehr gegenwärtig. Dies zeigt sich besonders im Rollenspiel. Hier spielen die Kinder Rollen Erwachsener, wie Kaufmann oder Polizist. Solches Spielverhalten ist dabei wesentlich für die eigene Identitätsentwicklung. „Das symbolisch-imaginative Entrücktsein im Spiel bereitet das Feld künftiger freier Identifikation des eigenen Selbst vor.“ Pannenberg, Anthropologie, 315. Das Kind identifiziert sich mit den Rollen, die ihm gefallen und die ein gesteigertes Selbstgefühl erzeugen. Dabei bilden die Rollenspiele nicht nur die Welt der Erwachsenen ab, sie sind auch Vorbereitung, an dieser produktiv teilzunehmen. Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 322.

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für die Gegenwart wirksam werden läßt, und zwar durch das Handeln der Priester für die ganze Kultusgemeinde.72

Die Ergriffenheit der an Kult oder Aufführung teilnehmenden Öffentlichkeit ist somit Teil der Darstellung bzw. bringt diese an ihr Ziel. Pannenberg begreift nun den Kult als vollkommene Gestalt des darstellenden Spiels, in welchem die Gesellschaft und Kosmos begründende Ordnung dargestellt wird. Das kultische Drama ist darin Spiel, indem es eine in sich vollendete Sinnwelt darstellt, an welcher das alltägliche Leben im kultischen Spiel Anteil gewinnt. Da die im Kult vergegenwärtigte kosmische Ordnung eine vollkommene ist, ist dessen zeitliche und räumliche Ausgrenzung aus dem Alltagsleben folgerichtig. Der Mythos, der im Kult dargestellt wird, übersteigt die Begrenzungen des Alltags und bildet so den Rahmen für dessen Sinndeutung. Von der in den religiösen Festen vergegenwärtigten, die Ordnung von Kosmos und Gesellschaft begründenden Sinntotalität her empfangen sowohl die alltäglichen Verrichtungen und Schicksale des Individuums als auch die Ordnung der Alltagswelt ihren Sinn.73

Durch die rituelle Begleitung von Rechtsprozessen, Abschnitten im handwerklichen oder bäuerlichen Schaffen, politischen Vorgängen oder Übergängen im individuellen Leben werden diese mit der im Kult gefeierten und dargestellten Ordnung vermittelt. Kommt dem kultischen Spiel solche Bedeutung für die gesamte kulturelle Lebenswelt vor allem in den vorbiblischen Kulturen und Religionen zu, gelten die Bestimmungen nach Pannenberg auch für die biblischen Religionen. Auch die christliche Liturgie ist noch ein heiliges Spiel, in dessen Mitte die Mahlhandlung Jesu steht, die sein Wirken und Geschick zusammenfaßt und die geschöpfliche Wirklichkeit des Menschen in ihrer sozialen Lebensform mit seiner eschatologischen Bestimmung vermittelt74.

Hier zeigt sich für Pannenberg, dass sich im Gegensatz zum vorbiblischen Mythos das christliche Kult- und Mythosverständnis durch dessen Vergeschichtlichung auszeichnet. Denn Jesus Christus hat die Zusage seiner Gegenwart mit der Gemeinschaft der Kirche an ein Geschehen gebunden, an einen geschichtlichen Vollzug, nämlich an die Gemeinschaft mit ihm im Abendmahl.75

72 73 74 75

Pannenberg, Anthropologie, 317. Pannenberg, Anthropologie, 327. Pannenberg, Anthropologie, 327f. Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 318f. Zum Verständnis des Abendmahls bei Pannenberg vgl. Kap. 4.4. Zu Pannenbergs Deutung des Mythos und dessen Vergeschichtlichung im Christentum, vgl. Pannenberg, Mythos.

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Was bedeutet dies nun für die Frage der Einheit der Kultur? Das kultische Spiel ist insofern organisierender Mittelpunkt der gemeinsamen Welt, indem es die unterschiedlichen Bereiche des kulturellen Lebens sowie des individuellen Lebens mit der sie begründenden Ordnung vermittelt. Der Kult thematisiert das gemeinschaftliche Sinnbewusstsein, welches in den unterschiedlichen Bereichen des kulturellen Lebens erschlossen wird, und integriert diese Bereiche in eben jenes Sinnbewusstsein, das die Ordnung der gemeinsamen Welt konstituiert und durchdringt. Denkt man diese Bestimmung weiter, dann könnte man im Sinne Pannenbergs behaupten, dass jedes Volk, jede Gesellschaft, jede Kultur ihr Zentrum im jeweiligen Gottesdienst hat, denn dort wird die Einheit der Welt zur Darstellung gebracht76. Die Ausführungen zum Kulturbegriff Pannenbergs haben dessen Priorisierung der Passivität im menschlichen Lebensvollzug weiter vertieft. Es ist der vorgegebene Sinnzusammenhang, die sinnhafte Ordnung der Wirklichkeit, der in der kulturellen Gestaltung der gemeinsamen Welt erschlossen wird. Die Wirklichkeit verdankt sich nicht dem schöpferischen Handeln des Menschen. Vielmehr erschließt sich ihm durch seine kulturelle Deutung und Gestaltung die vorgegebene Wirklichkeit. Den Hintergrund dieser Kulturtheorie bilden hermeneutische Einsichten Pannenbergs, wie sie bereits angeklungen sind.77 Indem die Bedeutung eines Ereignisses oder eines Gegenstandes auf die letztumfassende Bedeutungstotalität angewiesen ist, also auf die Ganzheit des Sinnzusammenhangs, ist der Sinn dem menschlichen Sinnverstehen entzogen. Insofern entzogen, als dass Sinn aufgrund des notwendigen universalhistorischen Horizontes im gegenwärtigen Sinnverstehen nicht aufgeht und sich erst recht nicht menschlicher Sinnkonstruktion verdankt. „Pannenberg will […] gegen das Ergreifen von Welt das Ergriffensein und gegen das autonome Konstruieren das Eingebunden- und Aufgehobensein betonen“78. Aufgehobensein in einen Sinnzusammenhang, der den Einzelnen wie die gemeinsame Welt übersteigt und integriert.

76 Waap, Gottebenbildlichkeit, 424. 77 Vgl. oben, S. 22f. Zur Hermeneutik Pannenbergs vgl. vor allem die Ausführungen in Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 157–224. 78 Waap, Gottebenbildlichkeit, 425.

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2.2.2 Zur institutionellen Gestaltung der gemeinsamen Welt Zwar weist Pannenberg die These zurück, dass sich die Kultur aus ihren unterschiedlichen Institutionen zusammensetzt, da dabei das gemeinschaftliche Sinnbewusstsein unberücksichtigt bleibt, welches die verschiedenen Teile zu einem Ganzen integriert. Das gemeinschaftliche Sinnbewusstseins, dessen Inhalt der Sinn der gesellschaftlichen Ordnung ist, bedarf aber der Konkretisierung in eben dieser Ordnung. Und diese Konkretisierung vollzieht sich durch die Institutionen. „Nur durch die Institutionen, die das Zusammenleben regeln, prägt das gemeinsame Sinnbewußtsein einen gemeinschaftlichen Lebensstil aus“79. Darin, dass Lebensstil und institutionelle Ordnung auf Dauer angelegt sind, zeigt sich, dass der die Einheit des Zusammenlebens begründende Sinn in Bezug zum Ganzen des Lebens steht und so dem Einzelnen Möglichkeiten der eigenen Identitätsbildung eröffnet. Solches Angelegtsein auf Dauerhaftigkeit heißt jedoch nicht, dass die gemeinschaftliche Ordnung wie die bestehenden Institutionen unveränderlich sind und für alle Zeiten feststehen. „Die Aufgaben des Zusammenlebens erfordern immer wieder die Ausbildung institutioneller Formen der Interaktion, die nur auf dem Boden eines gemeinsamen Sinnbewußtseins als sinnvoll bejaht werden können.“80 Das Entstehen wie auch das Verändern bestehender Institutionen speisen sich also aus dem alle Ordnung begründenden Sinnbewusstsein. Die Ausführungen zum gemeinschaftlichen Sinnbewusstsein bilden die Grundlage, auf der Pannenberg in der von ihm ausgemachten Kernkontroverse der soziologischen Debatte um den Institutionenbegriff Position bezieht: Zu der Frage nämlich, inwieweit die Institutionen im Anschluss an Durkheim in ihrer konkreten Anzahl und Ausgestaltung dem Individuum vorgegeben sind oder inwieweit sie als Produkte des individuellen Handelns zu begreifen sind. Eine Antwort auf diese Frage entscheidet für Pannenberg darüber, ob die geschichtlichen Individuen mit ihrem je besonderen Verhalten belanglos sind für die gesellschaftliche Ordnung und deren Ausgestaltung und somit austauschbar. Diese Sicht sieht Pannenberg in Teilen der modernen Soziologie vertreten, besonders im Anschluss an Durkheim. Eine so bestimmte Gesellschafts- und Institutionenlehre muss sich fragen lassen, ob die behauptete prinzipielle Vorordnung von Institutionen bzw. Gesellschaftssystemen vor das individuelle Verhalten nicht einen pseudotheologischen Charakter hat, indem sie an die Stelle des Primats der göttlichen Wirklichkeit […] gegenüber der individuellen Realität menschlichen Lebens und Zusammenlebens tritt.81 79 Pannenberg, Anthropologie, 386. 80 Pannenberg, Anthropologie, 386. 81 Pannenberg, Anthropologie, 387.

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Pannenberg spricht hier von der Gefahr der „Hypostasierung“82 der gesellschaftlichen Institutionen, der die moderne Soziologie gerade dann erliegt, wenn sie die konstitutive Bedeutung der Religion für das gesellschaftliche Zusammenleben ausblendet. Demgegenüber hält er die Wandelbarkeit der gemeinsamen Ordnung und Institutionen durch die konkreten geschichtlichen Individuen fest. Die institutionelle Ausgestaltung des sozialen Lebens entsteht aus dem Lebensvollzug konkreter Individuen heraus, auch wenn Institutionen nach ihrem Entstehen sich von diesen lösen und diese überdauern können, wie das geistige Leben von seinen physischen Bedingungen.83 Aufgrund der bisherigen Ausführungen zu Pannenbergs Kulturbegriff und der konstitutiven Bedeutung des gemeinschaftlichen Sinnbewusstseins kann dies aber nicht gleichbedeutend damit sein, dass Pannenberg Institutionen rein aus der menschlichen Produktivität heraus erklären will. Eine Vermittlung von Gesellschaft und Individuum ist nur möglich, „wenn man eine dritte Größe einbezieht, in der beide Teilgrößen integriert sind bzw. ihren Einheitsgrund finden.“84 Dies zeigt sich bereits in der Herausbildung von Institutionen. Um sich das Entstehen dieser zu erschließen, geht Pannenberg von dem Verhalten der Individuen in bereits bestehenden Institutionen aus. Hier nimmt der Einzelne konkrete Rollen an, einhergehend mit bestimmten Rollenerwartungen. Wie nun können aus der Interaktion der Individuen Institutionen hergeleitet werden? Hierbei scheint laut Pannenberg der Übergang von Interaktion zum Rollenverhalten von entscheidender Bedeutung zu sein.85 Um diesen Übergang zu erklären, nimmt er die von Berger und Thomas Luckmann in The social construction of Reality86 entwickelte Institutionentheorie auf, welche die moderne gesellschaftliche Arbeitsteilung als Folge einer bereits ausgebildeten, reziproken Verhaltensstabilisierung begreift. „In dieser Sicht kommt es überall dort zu einer Institutionalisierung, wo Verhaltensgewohnheiten mehrerer Individuen einander in typischer, konstanter Weise zugeordnet werden.“87 Die Herausbildung von Rollen und Rollenerwartung wird dabei folgendermaßen aus dem Verhalten zweier Individuen abgeleitet: Ein Einzelner beobachtet bei einem anderen ein bestimmtes Verhalten und schreibt diesem Verhalten bestimmte Motivationen zu. Bei wiederkehrenden Verhaltensweisen werden auch die zugeschriebenen Motivationen als wiederkehrend eingeordnet. Derselbe Vorgang geschieht nun auch andersherum, wodurch wechselseitig konkrete Verhaltensstrukturen entstehen. Das bedeutet nichts anderes, als dass beide konkrete 82 83 84 85 86 87

Pannenberg, Anthropologie, 388. Vgl. Pannenberg, Intersubjektivität, 413. Waap, Gottebenbildlichkeit, 427. (Hervorhebung im Original.) Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 389f. Vgl. Berger/Luckmann, Reality. Pannenberg, Anthropologie, 391.

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Rollen im gegenseitigen Verhältnis annehmen. „Ihr Handeln wird voraussagbar, und die wechselseitige Bedingtheit wird ihnen bewußt.“88 Um nun die Ablösung, die Verselbstständigung und in bestimmten Fällen sogar die Vorordnung der Institutionen gegenüber den Einzelnen zu erklären, deuten Berger und Luckmann nach Pannenberg eine Argumentation an, die eine gänzliche Erklärung der Institutionen aus dem individuellen Handeln fraglich werden lässt: Der Grund liegt in der Verbundenheit der Individuen im gemeinsamen Sinnbewusstsein, welches die Institutionen in die gemeinsame Lebenswelt integriert. Wenn der eine beim andern wiederkehrende Verhaltensweisen beobachtet, diese Tatsache wiederkehrenden Motivationen zuschreibt und sein eigenes Verhalten darauf einstellt, so bildet sich ein Sinnzusammenhang, der das Verhalten der beiden Individuen aneinander bindet.89

Wenn dieser Sinnzusammenhang von den Individuen, die in gegenseitigem Rollenverhalten stehen, erfasst wird, eine Verständigung über das gemeinsame Sinnbewusstsein stattfindet und das eigene Verhalten darin eingeordnet wird, dann liegen institutionalisierte Wechselbeziehungen vor, denen Verpflichtungscharakter innewohnt. „Die Überordnung der Institution über den einzelnen beruht also auf der Vorgegebenheit erfahrener und sprachlich artikulierter Sinnzusammenhänge.“90 Da es diese Sinnzusammenhänge mit reziprokem Verhalten entweder in wiederkehrenden Lebenssituationen oder in dauerhaften Beziehungen zu tun haben, sind Institutionen als dauerhafte Sinngestalten zu verstehen. Als solche Sinngestalten sind sie dem individuellen Verhalten vorgegeben. Ihre konkrete gesellschaftliche Ausbildung und Gestaltung ist damit aber noch nicht gegeben. Sie kann auch ausbleiben, und wo sie zustande kommt, entsteht sie auf dem Grunde eines kulturellen Sinnbewußtseins der Ordnung des menschlichen Zusammenlebens, deren Vorgegebenheit vor den Individuen im Bereich von Mythos und Glauben wurzelt.91

Das gemeinschaftliche Sinnbewusstsein ist für Pannenberg somit Grundlage konkreter Gesellschaftsbildung, indem dieses von den zusammenlebenden Individuen erfasst und ausgestaltet wird. Somit begrenzt Pannenberg analog zum Kulturbegriff die Bedeutung des menschlichen Handelns hinsichtlich der Entstehung von Institutionen, indem der Sinn, dem durch Kultur und Institutionen Ausdruck verliehen wird, diesen vorgeben ist. Die so entstehende gemeinsame Welt ist wiederum der Boden, auf dem sich die konkrete Identität des Einzelnen 88 89 90 91

Pannenberg, Anthropologie, 392. Pannenberg, Anthropologie, 394. Pannenberg, Anthropologie, 394 Pannenberg, Anthropologie, 395.

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herausbilden kann. Er versucht so, „die Tätigkeit und Fähigkeit des Menschen von seiner Passivität her zu verstehen.“92 Aufgrund der vorgegebenen Sinnordnung, die Institutionen und Zusammenleben begründet, erfahren Menschen in dem gesellschaftlichen Lebenszusammenhang die den Einzelnen übersteigende Bestimmung. Dies erklärt die Neigung, die jeweilige Ausgestaltung der Gesellschaft zu der realisierten Bestimmung der Menschheit zu erklären. Eine solche Verklärung der gesellschaftlichen Zustände wird immer wieder gesellschaftliche Konflikte nach sich ziehen. Der Anspruch einer Gesellschaftsordnung, bereits das realisierte Reich Gottes zu sein, wird dabei aber auch wieder in Zusammenhang mit dem gemeinsamen Sinnbewusstsein kritisiert. Entweder indem dieses gegen die gesellschaftliche Wirklichkeit angeführt wird oder aber indem die Kritikfähigkeit der gegenwärtigen Ordnung zu einer Kritik an dem gemeinschaftlichen Sinnbewusstsein führt.93

2.2.3 Die politische Ordnung In den Ausführungen zur Identität hat sich gezeigt, dass Pannenberg ihr Entstehen aus dem sozialen Kontext heraus begreift, in welchem der Einzelne lebt. Dieser Kontext ist aber keinesfalls durch den symbiotischen Lebenszusammenhang auf die Familie beschränkt. Sie stellt nur den ersten sozialen Lebenszusammenhang dar, der individuelle Identität ermöglichen soll. Auch die Identität des erwachsenen Individuums gründet noch in einer es übersteigenden und daher zugleich mit anderen zusammenschließenden Wirklichkeit, die allerdings nicht nur sozial, sondern zugleich darüber hinaus religiös qualifiziert ist.94

Dieser Gedanke hat seine Fortführungen gefunden in Pannenbergs Interpretation der gemeinsamen Welt, der Kultur und der institutionellen Ordnung. Dass der Mensch nun nach Pannenberg eine gesellschaftliche Natur hat, was er auch als die politische Natur des Menschen bezeichnen kann,95 bedeutet nicht die Auflösung seiner Selbstständigkeit.96 Grund der individuellen Selbstständigkeit ist das die institutionelle Struktur fundierende Sinnbewusstsein, auf das jeder Einzelne sich gegen die gegenwärtige Ausgestaltung einer Gesellschaft berufen kann. Hier ist der Antagonismus zwischen Individuum und der institutionellen Ordnung einer Gesellschaft aufgehoben. Es ist damit die religiöse Basis des ge92 93 94 95 96

Waap, Gottebenbildlichkeit, 424f. Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 396f. Pannenberg, Anthropologie, 433. Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 433. Vgl. hierzu die Begründung des positiven Rechtes auf Selbstbehauptung gegenüber der Gesellschaft aufgrund der jedem Menschen zukommenden Personalität in Kap. 2.1.3.

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sellschaftlichen Lebenszusammenhangs, die sowohl die gesellschaftliche Ordnung als auch das Individuum und dessen Selbstständigkeit begründet. „Dieselbe Wahrheit, in der die gesellschaftliche Ordnung begründet ist, ermöglicht zugleich die Selbstständigkeit des Individuums gegenüber der faktischen Gestalt dieser Ordnung.“97 Die Entfaltung dieser Verhältnisbestimmung vom Einzelnem und der Gesellschaft, in welcher dem Einzelnen Selbstständigkeit zugesprochen bekommt und er gleichzeitig auf die Gesellschaft verwiesen ist, in diese eingebettet bleibt, begreift Pannenberg als einen „der wichtigsten Beiträge des Christentums zur Erfahrung der Struktur menschlicher Existenz“98. In der Erlösungsbotschaft des Christentums war und ist dem Einzelnen in seiner Individuiertheit ewige Bedeutung zugesprochen worden. Neben den Gleichnissen vom Verlorenen sieht Pannenberg dies vor allem in der christlichen Auferstehungshoffnung begründet, die darauf hofft, dass das eigene, individuelle Leben vollendet wird in der Einheit von Leib und Seele, vollendet in der Gemeinschaft mit dem ewigen Leben Gottes. Das bedeutet zum einen eine Verselbstständigung des Einzelnen gegenüber jeglicher menschlichen Gemeinschaftsform, auch gegenüber der Familie. Zum anderen gliedert es den Einzelnen ein in die Gemeinschaft des künftigen Reiches Gottes, das den naturwüchsigen Gemeinschaftsformen nicht nur negativ gegenübersteht, sondern sie als vorläufige Gestalten der menschlichen Bestimmung zur Gemeinschaft anerkennt, wenngleich es sie damit auch gleichzeitig relativiert.99

Letztere Verhältnisbestimmung von der menschlichen Bestimmung zur Gemeinschaft, der gesellschaftlichen Natur des Menschen, die im Reich Gottes seine Vollendung finden wird, und jeglicher Form menschlicher Gemeinschaftsbildung ist die zentrale Grundfigur der Gesellschafts- und Staatstheorie Pannenbergs und mithin Ausgangspunkt seiner Deutung der Gemeinschaftsform Kirche und deren Verhältnis zur Gesellschaft. Die dabei zentrale Einsicht in die ewige Bedeutung und Freiheit des Einzelnen wurde nach Pannenbergs Urteil innerhalb der Christentumsgeschichte zu spät zum Fundament der Gesellschaft: Es ist die tragische Peripetie der Geschichte des Christentums gewesen, daß erst der Bruch seiner kirchlichen Einheit den Weg freigab für die allgemeine Auswirkung des Prinzipes individueller Freiheit als letztes Kriterium des Gesellschaftssystems und seiner politischen Organisation.100

97 Pannenberg, Anthropologie, 433. Pannenberg benutzt die Begriffe gesellschaftliche Ordnung, staatliche Ordnung sowie politische Ordnung deckungsgleich. 98 Pannenberg, Bestimmung, 8. 99 Pannenberg, Anthropologie, 434. 100 Pannenberg, Bestimmung, 11.

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Der Bezug jeglicher Form gesellschaftlicher Ordnung zum Reich Gottes, ein Bezug, der jeglicher Ausgestaltung der Gesellschaftsordnung inhärent ist, ermöglicht positive Grundbestimmungen des Staates, die Pannenberg in der Geschichte der christlichen Staatslehre zu selten gegeben sieht, gerade in der Staatslehre reformatorischer Prägung.101 Die christliche Tradition hat seinem Urteil nach dem Staat häufig nur die Aufgabe der Zügelung des Bösen, der Sünde zugeschrieben, da dieser Aspekt in den biblischen Schriften im Vordergrund steht. Eine solche Funktionsbestimmung der politischen Ordnung weist aber für Pannenberg auf ein über sie hinausweisendes Moment hin, nämlich auf die Entsprechung des staatlichen Rechts mit dem göttlichen Rechtswillen, dessen Realisierung das Christentum eschatologisch erwartet. Indem das Recht Gottes zur Geltung kommt, wird die menschliche Sünde eingedämmt. Der göttliche Rechtswille ist dabei weder bloße Reaktion Gottes auf die menschliche Sünde, noch dem menschlichen Lebensvollzug nur äußerlich. Es ist der Ordnungswille des Schöpfers und somit der Schöpfung eingeprägt; seine Realisierung ist das Ziel der gesamten Schöpfung, ihre Bestimmung. So kann aus dem Zusammenleben heraus eine Ordnung erwachsen, durch den Antagonismus der Einzelnen untereinander hindurch. Die politische Ordnung ist in der menschlichen Natur angelegt, da diese auf ein gemeinsames Leben ausgerichtet ist. Wie alle Lebensvollzüge ist auch sie durch die Sünde pervertiert. Aber sie ist dennoch Teil der menschlichen Bestimmung, die erst in Zukunft vollendet sein wird.102 Durch diesen Bezug zum Gottesreich und dessen Gerechtigkeit erhält die gegenwärtige politische Ordnung begrenzte Legitimation, solange sie nicht zur Tyrannei pervertiert ist. Wesen einer tyrannischen Staatsordnung ist es, die eigene Vorläufigkeit gegenüber der vollkommenen Verwirklichung menschlicher Gemeinschaft zu ignorieren und so die Leben der eigenen Bürger in ihrer Totalität zu beanspruchen, die ihnen zustehende Selbstständigkeit gegenüber der Gesellschaft zu negieren. Dagegen ist es die primäre politische Funktion der Kirche, den Staat im Bewußtsein seiner Differenz vom Gottesreich zu erhalten, indem sie im Unterschied zur politischen Ordnung die Menschen schon jetzt, allerdings nur durch den Glauben und in zeichenhafter Gestalt, der Zukunft Gottes und seines Reiches teilhaftig werden läßt.103

Indem die christliche Tradition Möglichkeiten bereithält, die Grundlagen der politischen Ordnung vom Reich Gottes her zu bestimmen, thematisiert sie etwas von fundamentalanthropologischem Rang: Die Grundlagen des Staates, seiner 101 Wie Pannenberg das Verhältnis von Kirche und Staat bestimmt und welche Kritik er an verschiedenen Verhältnisbestimmungen innerhalb der christlichen Tradition äußert, wird ausführlich Gegenstand von Kap. 4.5 sein. 102 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 435f. 103 Pannenberg, Anthropologie, 437.

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Ordnung und Vollmacht müssen diesem entzogen sein, um ihn zu legitimieren und die Loyalität seiner Bürger zu sichern.

2.2.4 Herrschaft und Legitimation Pannenberg schließt an Aristoteles an, indem er zum Kriterium legitimer Herrschaft deren Orientierung am Allgemeinwohl erklärt; eine Herrschaft also, die dem Wohl aller dient und nicht den Vorteil des oder der Herrschenden sucht; eine Herrschaft, die an Recht und Gesetz orientiert ist. „Zweck des Staates ist somit das Gerechte: denn der Gesamtheit ist zuträglich, daß jedem ihrer Glieder Gleiches – nämlich jedem das Seine – zuteil wird.“104 „Jedem das Seine“ – dieser Anschluss Pannenbergs an den aristotelischen Gerechtigkeitsbegriff hat eine wesentliche Implikation. Hier zeigt sich Pannenbergs Skepsis gegenüber dem Bekenntnis zur menschlichen Gleichheit, verstanden als eine Gleichmacherei, welche die individuelle Besonderheit des Einzelnen ignoriert. Diesem widerspricht nach seinem Urteil die faktische Ungleichheit der Menschen.105 Worin die Menschen gleich sind, ist in der allen Menschen eigenen unendlichen Bestimmung zur Gemeinschaft mit Gott, in welcher die Einheit mit der gesamten Menschheit begründet ist. Diese Gleichheit anzuerkennen bedeutet, meinem Gegenüber die Möglichkeit zur Veränderung einzuräumen und ihn dabei zu unterstützen, um der Verwirklichung seiner Bestimmung näherzukommen. Hierin zeigt sich die Anerkennung der je besonderen Individualität.106 „Solche Gleichheit muß immer wieder erst geschaffen werden, sie ist nie schon da. Und sie wird geschaffen allein durch die Macht der Brüderlichkeit.“107 Für Pannenberg ist es gerade die Macht der Liebe, eine Gemeinschaft des Verschiedenen zu stiften, in der eine Gleichheit entstehen kann, die vorher nicht war. Eine Herrschaftsordnung nun, die im Idealfall jedem das Gleiche zuteil werden lässt, indem jedem das Seine zukommt, ist genau jenem 104 Pannenberg, Anthropologie, 451. Pannenberg nimmt die aristotelische Formel „Jedem das Seine“ auf ohne Reflexionen auf deren Verwendungsgeschichte. Trotz eines seit Ende der 1950er Jahre entstehenden öffentlichen Bewusstseins um die Buchenwalder Pervertierung dieser Formel ist eine wirklich historisch-kritische Aufarbeitung erst ab den späten 1990er Jahren zu verzeichnen, also deutlich nach der Verwendung der Formel durch Pannenberg. Vgl. Brunssen, Aufarbeitung. Dabei ist meines Erachtens der Missbrauch eines bestimmten Schlagwortes kein Grund, dass dieses künftig nicht mehr gebraucht werden kann. Aber „der weitere Gebrauch [setzt] eine Sensibilität voraus, die man zumindest von denjenigen wird erwarten dürfen, deren Beruf im Umgang mit Worten und deren Bedeutung besteht.“ Klenner, Jedem das Seine, 332. 105 Vgl. Pannenberg, Gerechtigkeit, 312. 106 Vgl. Pannenberg, Mensch, 60f. 107 Pannenberg, Nation, 136. (Hervorhebung im Original.)

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Grundsatz verpflichtet: Den Einzelnen zu unterstützen, seine je individuelle Bestimmung in der Gemeinschaft zu verwirklichen. In diesem Sinne Gerechtigkeit zu üben ist für Pannenberg Aufgabe des Staates und damit verknüpft er den Begriff des Staates mit dem der Herrschaft, da jegliche Form der Herrschaft, gerade jegliche Form politischer Herrschaft, einen Herrschaftsverband begründet, über den sich die Herrschaft erstreckt. Dies gilt gerade für politische Herrschaft, da diese den Lebensvollzug der Mitglieder ihres Verbandes in seiner Gesamtheit umfasst. Denn auch wenn den Mitgliedern Bereiche zur individuellen Entscheidung freigegeben sind, sind diese freigegeben durch den Staat, der diese Freiräume garantiert, z. B. durch seine Verfassung. Für Pannenberg ist daher der Staat als „die voll durchgebildete Form politischer Herrschaft zu verstehen, die in ihrem Herrschaftsbereich ein Monopol der Gewaltanwendung beansprucht und behauptet.“108 Die von Pannenberg zum Kriterium legitimer Herrschaft erhobene Gemeinwohlorientierung ist für ihn gleichbedeutend mit dessen Orientierung an Recht und Gesetz. Auch in der modernen Staatslehre erkennt er im Anschluss an Hermann Heller die Rechtsbindung als alleinigen Legitimationsgrund von politischer Herrschaft.109 Er stimmt dabei Heller auch darin zu, dass Recht und Staat in einer Wechselseitigkeit zueinander stehen. Der Staat setzt das Recht und die politische Herrschaftsordnung bringt es zur Geltung. Andererseits ist der Ursprung des Rechts – immer noch im Anschluss an Heller – vorstaatlich und die Legitimität staatlicher Ordnung auf Rechtsgrundsätze verwiesen, die Recht und Staat transzendieren und so fundieren. Diese Wechselseitigkeit von Staat und Recht sieht Pannenberg als problematisch an, da so die Gefahr der staatlichen Selbstlegitimation gegeben ist, indem der Staat das Recht nach Belieben gestaltet. Hierdurch ist faktische Herrschaft dann bereits die Antwort auf die Frage ihrer Legitimität. Die Bindung an das Gemeinwohl, welchem der Staat dient und das sich so im herrschenden Recht niederschlagen muss, bietet dabei keinen Weg aus dem Dilemma einer möglichen Selbstlegitimation durch das Recht. Denn dann

108 Pannenberg, Anthropologie, 450. 109 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 451. Pannenberg sieht bereits die Entstehung politischer Herrschaft mit der Entwicklung des Rechts eng verbunden. Nach der Sesshaftwerdung größerer Gemeinschaften und der Bildung von Lebensgemeinschaften über den Sippenverband hinaus, bedurfte es einer Schlichtungsinstanz bei Streitfragen und bei Fragen der Aufteilung der Vorräte, die über der Familie stand. Dies scheint für Pannenberg der historische Grund zur Herausbildung des Häuptlingsamtes gewesen zu sein. Ob man hier bereits von „Recht“ sprechen sollte, ist dabei zweitrangig. Aber die hier wirksamen Regeln der Reziprozität des Gebens und Nehmens, die die wechselseitige Anerkennung der Personen und ihrer ihnen zugewiesenen Freiheitsräume impliziert, sind es, die das formulierte Recht zur Geltung bringt. Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 451–453.

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stellt sich die Frage, was das Gemeinwohl ist und in welcher konkreten Gemeinschaftsordnung es sich niederschlägt.110 An dieser Stelle geht die Frage nach der Legitimität einer politischen Herrschaftsordnung über in die Problematik der Repräsentation, d. h. in die Frage, welche von ihr schon vorauszusetzende wahre Ordnung der Dinge durch die politische Ordnung zur Darstellung kommt und ob sie hinreichend adäquat dargestellt wird.111

Eric Voeglin zustimmend sieht Pannenberg in archaischen Kulturen den Herrscher als Repräsentanten seines gesamten Volkes, da er zugleich Repräsentant der kosmischen Ordnung, der göttlichen Herrschaft war. Die Einheit eines Volkes, welches auf einer kulturellen Identität beruht, die geschichtlich gewachsen ist, erhält in der kosmischen Ordnung ihre Grundlage und wird so der geschichtlichen Zufälligkeit enthoben. Da der Herrscher die Grundlage darstellt, die das Volk eint, stellt er zugleich dessen Einheit dar. „Erst dadurch wirkt die repräsentative Funktion politischer Herrschaft in ihren Organen als Integrationskraft.“112 In modernen Abhandlungen zur politischen Repräsentation sieht Pannenberg den Schwerpunkt darin, dass das Volk durch die gewählten Vertreter repräsentiert wird. Diese Verschiebung ist im Gedanken der Volkssouveränität begründet, der die Unfehlbarkeit Gottes auf das Volk überträgt. „Weil das Volk an die Stelle 110 Den Ansatz Karl Otto Hondrichs, die Legitimation von Machtausübung darin zu suchen, ob durch die jeweilige Machtinstanz Bedürfnisse anderer befriedigt werden können oder deren Befriedigung versagt werden kann, teilt Pannenberg nicht als Antwort auf die Legitimationsfrage. Er begreift vielmehr die Veränderbarkeit von Bedürfnissen als kennzeichnend für die Situation des Menschen, da dessen Antriebe nicht durch Instinktmechanismen festgelegt sind, sondern fortlaufender orientierender Interpretation bedürfen. In der Deutung der eigenen Welterfahrung und in Auseinandersetzung mit der eigenen Umwelt werden die eigenen Antriebe immer wieder neu orientiert, sodass auch die eigenen Bedürfnisse verändert werden. Dabei kann sich der Inhalt eines Bedürfnisses sowie sein Stellenwert im Zusammenhang des gesamten Lebensentwurfs verändern. „Solche Veränderlichkeit der Bedürfnisse hinsichtlich ihres Stellenwertes zeigt ihre Abhängigkeit vom Sinnzusammenhang des eigenen Lebensentwurfs und der gesellschaftlichen Lebenswelt an, in deren Rahmen der einzelne sich selbst und seine Bedürfnisse definiert, indem er seine Urteile bildet über das, was für ihn selbst und für alle ‚gut‘ ist.“ Pannenberg, Anthropologie, 444. (Hervorhebung im Original.) Hierin liegt eine mögliche Manipulation der Bedürfnisse begründet, durch Beeinflussung des Sinnbewusstseins wie es z. B. die Werbung versucht. Sind Bedürfnisse so von Sinnverstehen und Sinnbewusstsein abhängig, muss die Leistungsmacht politischer Herrschaft auf das Sinnbewusstsein zurückgeführt werden, entweder insofern der Bedürfnisbefriedigung eine anderweitig gewonnene Bedürfnisdeutung vorausgeht oder die Macht nach der Fähigkeit der Bedürfnisdeutung und -befriedigung bemessen wird. In beiden Fällen „ergibt sich so oder so eine Verbindung der ökonomischen Leistung politischer Macht mit der Religion.“ (Pannenberg, Anthropologie, 445.) Vgl. insgesamt Pannenberg, Anthropologie, 442–445. 111 Pannenberg, Anthropologie, 453f. Zu Pannenbergs Reflexionen bezüglich des Rechts vgl. Kap. 3.4. 112 Pannenberg, Anthropologie, 454.

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Gottes gesetzt wurde, konnten im modernen politischen Bewußtsein die religiösen Wurzeln der politischen Repräsentation und der politischen Ordnung weitgehend verdrängt werden.“113 Bereits im Gedanken der staatlichen Souveränität, in dem der Staat die „potestas legibus soluta“114 beansprucht, nimmt dieser die Stelle Gottes ein. So sieht Pannenberg auch in den Souveränitätslehren Jean Bodins, Thomas Hobbes oder Samuel von Pufendorfs die entscheidende Stoßrichtung, eine theologische Begründung politischer Herrschaft auszuschließen. Solche Emanzipation der religiösen Bindungen zog jedoch die Frage der Legitimität menschlicher Herrschaft überhaupt nach sich.115 Die Antworten hierauf, vor allem die des 17. und 18. Jh., welche die Legitimation in dem dem Staat übergeordneten Recht zu begründen suchten, konnten das Problem nicht lösen. Neben dem historischen Relativismus, der die Naturrechtslehre als Maßstab positiven Rechts auflöste, ist dies vor allem in der Verankerung des Rechtswillens in der Souveränität des Volkes begründet, da hierdurch die Rechtsgrundlagen wiederum relativiert werden, aufgrund der steten Veränderbarkeit durch das Volk. So konnte auch das Recht keine legitimierende Grundlage des Staates sein, die dessen Einfluss entzogen bleibt.116 Die von Pannenberg ausgemachten Folgen der Emanzipation von den religiösen Grundlagen des Staates, wie der Aufstieg der Ökonomie als Einheitsgrundlage der Gesellschaft und die voranschreitende Ausdifferenzieren und Pluralisierung der Gesellschaftssysteme, werden im dritten Kapitel ausführlich interpretiert. Für den Moment ist festzuhalten, dass Pannenberg eine religiöse Fundierung des Staates für unerlässlich hält, da sein Anspruch auf Herrschaft sonst keinerlei Begründung erfährt. Demjenigen Staate, der nur noch das Volk, bzw. die Gesellschaft und ihre Antagonismen repräsentiert, aber nicht mehr die in der Ordnung des Kosmos oder der Geschichte offenbare göttliche Wahrheit, bleibt die Möglichkeit einer nicht auf ihn selber begründenden Legitimation seiner politischen Ordnung verschlossen.117

Die so entstandene „Legitimitätskrise des säkularen Staates“118 entzündet sich immer wieder an entdeckter Selbstrechtfertigung politischer Herrschaft oder 113 Pannenberg, Anthropologie, 455. 114 Pannenberg, Anthropologie, 455. (Hervorhebung im Original.) 115 Auch wenn Pannenberg die Emanzipation der Herrschaft von ihrer religiösen Grundlagen kritisiert, aufgrund der Folgeprobleme, die diese nach sich gezogen hat, und eine Revision dieses Zustandes unter bestimmten Kriterien vorschlägt, so gibt er der Emanzipation in historischer Perspektive recht: Die an die Kirchenspaltungen des 16. Jh. sich anschließenden Glaubenskriege ließen gar keine andere Möglichkeit, als die Grundlagen der Gesellschaft und des Staates von ihren religiösen Dimensionen zu befreien. Vgl. Kap. 3. 116 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 455–457. 117 Pannenberg, Anthropologie, 459. 118 Pannenberg, Anthropologie, 459.

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Beeinflussungen des öffentlichen Bewusstseins und führt zu einem Misstrauen gegenüber der politischen Ordnung, bis hin zu ihrer Lähmung. Eine religiöse Begründung staatlicher Autorität hingegen führt nicht automatisch zu absolutistischer oder gar totalitärer Herrschaft. Im Gegenteil, da der Bezug zur göttlichen Wirklichkeit die konkrete politische Ordnung fundiert und die Selbstständigkeit und Besonderheit des Einzelnen schützt, ist dieser Bezug auch der Maßstab der Kritik an der gegenwärtigen Ordnung, bis hin zu deren Umsturz.119

2.2.5 Abschließende Betrachtung der Bedeutung der Religion für die gemeinsame, kulturelle Lebenswelt Die Funktion der Religion für die politische Ordnung der gesellschaftlichen Lebenswelt wird zu eng bestimmt, wenn sie erst im Zusammenhang mit den Problemen der Legitimation bereits bestehender und anderweitig begründeter Institutionen erörtert wird.120

Für die Religion selber ist eine solche Legitimation der gesellschaftlichen Ordnung sekundär, sie ist darauf nicht angewiesen. Sie erlangt nicht erst durch Legitimation der politischen Herrschaftsform Bedeutung für den Lebensvollzug der Menschen. Wo sie ihre Kraft nur hieraus zieht, ist sie bereits vollständig entstellt. Politische Herrschaft hingegen ist auf Legitimation angewiesen, da sie ständig vom Verdacht des Machtmissbrauchs, der Machtanmaßung durch die Herrschenden begleitet ist.121 Worin nun liegt aber das Potential, das die Religion zur Legitimierung der gesellschaftlichen Ordnung befähigt? Pannenberg bestimmt die Funktion der Religion in der Thematisierung der Einheit der Welt hinsichtlich ihres göttlichen Ursprungs und auf ihre mögliche Vollendung hin sowie dabei vor allem in der Thematisierung des Sinns menschlichen Lebensvollzuges und der sinnhaften Ordnung menschlichen Zusammenlebens. Religion thematisiert die Einheit aller Wirklichkeit als sinnhafte Einheit, getragen vom göttlichen Ursprung, und die Integration des gesellschaftlichen und individuellen Lebens in diese sinnhafte Ordnung. Mit Schleiermacher gesprochen meint Pannenberg, dass es in der Religion um das Universum geht: Das Universum der Lebenswelt (bzw. die die Sinneinheit dieses Universums konstituierende göttliche Wirklichkeit) bekundet sich geschichtlich in jeweils besonderen Gestalten oder Vorgängen, die für das religiöse Bewußtsein zum Integrationspunkt seiner

119 Vgl. Pannenberg, Intersubjektivität, 420. 120 Pannenberg, Anthropologie, 460. 121 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 461.

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Einheit werden, und zwar sowohl für die Einheit der Welt als auch für die Identität und Integration im individuellen Lebensvollzug.122

Da die Religion die Einheit der Lebenswirklichkeit thematisiert, findet das gesellschaftliche Leben hier seinen letzten Bezugsrahmen. Nur hier wird das Universum in seiner sinnhaften Ordnung erfasst, sodass auch die gesellschaftliche Ordnung durch die Einordnung in diesen Sinnzusammenhang Sinn erfährt. Ein Sinnzusammenhang, der den politisch Herrschenden entzogen ist und so legitimierende Kraft haben kann. Da es nun auch der gesellschaftlichen Ordnung um eine immer wieder neue Integration der Gesellschaft zu einer Einheit geht, ist ihre Legitimierung auf die religiösen Grundlagen der Deutung von Sinn und Ordnung der Wirklichkeit angewiesen. Für den modernen, säkularen Staat stellt sich daher in radikaler Weise die Frage seiner Legitimation.123 Indem die Religion die Einheit der Wirklichkeit thematisiert, thematisiert sie die Bestimmung des Menschen. Eine Bestimmung, in der die eigene Identität verwirklicht ist in der Gemeinschaft mit der gesamten Menschheit und so Teil der Einheit der Wirklichkeit ist. Indem Religion dies tut, liefert sie eine Begründung jeder Form gesellschaftlichen Lebens als legitimen Versuch, die Bestimmung des Menschen darzustellen. Gleichzeitig relativiert sie so aber auch jede Form als immer nur vorläufige Gestalt der endgültigen Bestimmung. Pannenberg begreift politische Herrschaft als unentbehrlich, weil unter irdischen Bedingungen nie die Interessen aller Individuen zusammenfallen. Herrschaft hat daher immer auch den Charakter des Zwangs, wird aber als notwendig anerkannt. Dieser empfundene Zwangscharakter wird verstärkt durch die Tatsache, dass keine Herrschaft vollkommen gerecht ist, da in keiner politischen Herrschaftsform die menschliche Bestimmung voll realisiert ist. „Da erst das Reich Gottes selber der Herrschaft von Menschen über Menschen ein Ende setzen wird, so wird Friede und Gerechtigkeit erst im Reiche Gottes vollkommen realisiert sein.“124 So enthüllt Religion die Unzulänglichkeit jeder gesellschaftlichen Ordnung und setzt sie dadurch ins Recht. Gleichzeitig wird Religion so auch zur Berufungsinstanz gegen jede Ordnung, die mit dem Anspruch auftritt, die menschlichen Bestimmung zu realisieren, und daraus überzogene Ansprüche dem Einzelnen gegenüber ableitet. Obwohl die politische Bestimmung des Menschen zu einem Leben in friedlicher Gemeinschaft mit allen andern Menschen erst durch das Reich Gottes verwirklicht werden kann, […] kann dieses Ziel nicht gefördert, sondern nur pervertiert werden, wo es direkt zum Gegenstand politischen Handelns gemacht wird125. 122 123 124 125

Pannenberg, Anthropologie, 461. Vgl. dazu Kap. 3.4. Pannenberg, Bestimmung, 25. Pannenberg, Bestimmung, 25.

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Umgekehrt stärkt die Anerkennung der eigenen Unzulänglichkeit durch die jeweilige politische Ordnung selbst ihren Anspruch, zeichenhafte Darstellung der vollkommenen Ordnung zu sein. Im Christentum nun sieht Pannenberg die Einsicht grundlegend, dass die Bestimmung des Einzelnen nie aufgeht in der gesellschaftlichen Ordnung, sondern ihn nur die vorläufige Aufgabe zukommt, Frieden und Gerechtigkeit nach ihren Möglichkeiten zu gewährleisten, während das Heil der Menschen erst von der kommenden Welt Gottes erwartet werden kann und die Teilhabe daran in der gegenwärtigen Welt nicht durch den Staat, sondern durch die sakramentale, zeichenhafte Gemeinschaft der Kirche vermittelt wird.126

Die Religion sieht Pannenberg nicht auf eine bestimmte politische Ordnung festgelegt, im Gegenteil, gerade die Weltreligionen überdauern den Untergang ganzer Kulturen. Auch hier zeigt sich die Transzendierung der Kultur durch die Religion. Die Religion zeigt nicht den Vorrang der Gesellschaft vor der Partikularität des Einzelnen, wie von Durkheim behauptet. Sie kann die Einheit einer Kultur und einer Gesellschaft vielmehr dadurch begründen, dass sie diese überschreitet und so Kultur und Gesellschaft als Ganze in den Blick nimmt. Indem Religion diese transzendiert, begründet sie auch die Selbstständigkeit des Einzelnen gegenüber der konkreten Ordnung einer Gesellschaft. Wie bereits ausgeführt, ist die Vereinzelung des Individuums gegenüber der Gesellschaft nach dem Urteil Pannenbergs einer der zentralsten Beiträge des Christentums zur Deutung menschlicher Wirklichkeitserfahrung. Eine Vereinzelung, die nicht Abwendung von der Welt bedeutet, sondern zum Dienst an ihr befreit im Lichte des kommenden Reiches Gottes. Hierin zeigt sich ein das Verhältnis des Einzelnen gegenüber der gesellschaftlichen Ordnung und gegenüber der göttlichen Wirklichkeit kennzeichnender Zug: „Die Identität der Individuen wird zwar vermittelt durch den gesellschaftlichen Lebenszusammenhang, aber ihren Wurzelgrund findet sie erst in der Beziehung zu Gott.“127 Der exzentrische Wesenszug des Menschen lässt ihn angewiesen sein auf ein Zentrum außerhalb seiner selbst, das ihm Identität und Einheit gewährt. Daher beschreibt Pannenberg den menschlichen Lebensvollzug von Geburt an als ekstatisch;128 dies kennzeichnet bereits den symbiotischen Lebenszusammenhang, in dessen Geborgenheit und Brüchigkeit der Einzelne „zur Frage nach sich selbst“129 erwacht. Gleichzeitig vermag der soziale Lebenszusammenhang nie unbeschädigte Inte126 Pannenberg, Anthropologie, 464. 127 Pannenberg, Anthropologie, 467. 128 Der grundlegend ekstatische Charakter des menschlichen Lebensvollzuges kennzeichnet nach Pannenberg jeden lebenden Organismus. Denn jeder Organismus ist angewiesen auf eine Umwelt, in welcher er leben und sich entfalten kann. Ohne eine Umwelt, isoliert für sich, kann kein Organismus überleben. Vgl. Pannenberg, Wirken, 21f. 129 Pannenberg, Anthropologie, 467.

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grität und Identität zu ermöglichen. Diese erfährt der Einzelne nur im Heil der Religion. „Trotz seiner unvermeidlich fragmentarischen Gestalt kann das irdische Leben der Individuen dann Darstellung einer seine Schranken und Schwächen übersteigenden Identität und Integrität der Person werden.“130 Sucht der Einzelne solches Heil in dem gesellschaftlichen Lebenszusammenhang, werden die Institutionen dieses Lebenszusammenhanges automatisch überfordert. Solche Überforderung ist zu vermeiden und die Rollendistanz der Träger von sozialen Rollen zu sich und anderen ist zu wahren, wenn das gemeinsame Leben gelingen soll. Gerade dann können die sozialen Institutionen und das Rollenverhalten der Individuen in ihnen zum Medium der Darstellung der Personen und ihrer tiefer begründeten Beziehungen zueinander im Lichte ihrer religiösen Bestimmung zur Gemeinschaft vor Gott werden.131

Pannenbergs Deutungen der gemeinsamen Welt wie auch seine Ausführungen zur Identitätsthematik zeigen, dass er die Religion als konstitutiv erachtet für einen gelingenden Lebensvollzug des Einzelnen und auch für ein gelingendes gesellschaftliches Zusammenleben. Identität wird verfehlt, sucht der Einzelne Heil in dieser Welt. Die kulturelle Lebenswelt erfährt ihre Einheit im alle kulturellen Lebensvollzüge und -deutungen einenden Sinnbewusstsein, welches religiös qualifiziert ist. Die politische Ordnung ist der Versuch, die Bestimmung des Menschen zu realisieren, die in der Religion thematisch wird. Somit muss jede Herrschaftsform, auch die Demokratie, als Zwang erfahren werden, wenn sie nicht religiös legitimiert wird. Diese Deutungen lassen bereits erahnen, wie das Urteil Pannenbergs ausfällt über die Moderne, die er vor allem durch ihre Säkularität, durch die Privatisierung der Religion und damit durch die Ausblendung der fundamentalen Bedeutung der Religion für das öffentliche Leben gekennzeichnet sieht. Diese „Gegenwartsdiagnose“ Pannenbergs und deren Konsequenz für die gesellschaftliche Ordnung wie aber auch für die Religion und insbesondere für das Christentum werden Thema des nächsten Kapitels sein.

130 Pannenberg, Anthropologie, 467. 131 Pannenberg, Anthropologie, 468. (Hervorhebung im Original.)

3.

Die säkularisierte Moderne

Für das Verständnis der Ekklesiologie Pannenbergs sind neben seinen anthropologischen Einsichten seine gegenwartsdiagnostischen Ausführungen zur Moderne von entscheidender Bedeutung. Säkularisierung ist dabei für ihn das Kennzeichen der Moderne. Dass der Begriff der Säkularisierung als wertneutraler Begriff zur deskriptiven Beschreibung von kulturgeschichtlichen Entwicklungen verwendet werden kann, sieht Pannenberg erst im 20. Jh. gegeben. Besonders im 19. Jh. diente der Begriff hingegen als kulturpolitische Parole, die entweder mit dem Pathos der Emanzipation von theologischer und kirchlicher Bevormundung des kulturellen Lebens einherging oder die voranschreitende Ablösung der Kultur von ihren religiösen, christlichen Wurzeln als Verfall brandmarkte.1 Aber auch zeitgenössische Stimmen stellten den wertneutralen Gebrauch des Säkularisierungsbegriffs infrage. Pannenberg nennt hier vor allem Hans Blumenberg und dessen Schrift Die Legitimität der Neuzeit2. Er sieht hier den Begriff abgelehnt, da für Blumenberg der Säkularisierungsbegriff die Illegitimität der Neuzeit und ihres Ideenbesitzes impliziert. Ihm liegt ein Enteignungsmodell zugrunde, wonach Güter – und das meint vor allem Antworten auf Fragen des Menschen – aus ehemals religiösem Besitz in weltlichen übergegangen sind. Statt Säkularisierung spricht Blumenberg nach Pannenbergs Urteil von der Umbesetzung traditioneller Auffassungen, indem für die Fragen, die diesen Auffassungen zugrunde liegen, neue Antworten gefunden werden.3 Nichts anderes aber ist nach Pannenberg mit Säkularisierung gemeint, nämlich dass bestimmte Gehalte von ihrem transzendenten Bezugssinn gelöst werden und stattdessen mit einem immanenten verbunden werden. „Der Sachgehalt der Säkularisierungsthese

1 Vgl. Pannenberg, Christentum, 9f. Zu der Fraktion derer, die die Emanzipation und damit die Säkularisierung forderten, zählt Pannenberg auch den Protestantismus des 19. Jh., der davon eine Befreiung des religiösen Lebens von dem sogenannten Gewohnheitschristentum und bestimmten Aspekten des Staatskirchentums erwartete. 2 Blumenberg, Legitimität. 3 Vgl. Pannenberg, Christentum, 12f.

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Die säkularisierte Moderne

dürfte daher im Vorgang einer Emanzipation aus ursprünglich religiösen Bindungen bestehen.“4 Im Folgenden soll Pannenbergs Beschreibung der säkularisierten Moderne dargelegt werden. Hinsichtlich der Ursachen, die zu einer Säkularisierung der Lebenswelt führten, stehen die Konfessionskriege infolge der Kirchenspaltungen des 16. Jh. im Vordergrund, die eine Verbannung des Religiösen ins Private unumgänglich werden ließen (Kap. 3.1). Sodann sollen die Charakteristika beleuchtet werden, die Pannenberg der Moderne zuschreibt (Kap. 3.2), und die Folgen dieser für den individuellen und gesellschaftlichen Lebensvollzug (Kap. 3.3). Da im vorherigen Kapitel bereits deutlich wurde, dass und inwiefern Pannenberg Religion für gelingendes individuelles und gesellschaftliches Leben als konstitutiv erachtet, ist seine Beurteilung der Moderne nicht verwunderlich: Ein Zustand, in dem Religion für das gesellschaftliche Leben irrelevant ist und auf das Private beschränkt ist, und damit auf den Bereich des Unverbindlichen und Subjektiv-beliebigen,5 ist für ihn in höchstem Maße revisionsbedürftig. Denn die Moderne ist für Pannenberg nicht imstande, die Errungenschaften, die sie hervorgebracht hat, aus sich heraus zu schützen. Hierfür ist sie auf die öffentliche Geltung und Gestaltung von Religion angewiesen. Grundlage einer solchen Revision ist, dass Religion diese positiven Errungenschaften in sich aufnehmen kann. Welche Aufgaben bzw. Kriterien christliche Religion und Theologie zu erfüllen haben, um die Privatisierung des Religiösen und deren Folgen zu revidieren, wird Gegenstand der abschließenden Betrachtungen sein (Kap. 3.4). 4 Pannenberg, Alternative, 240. Blumenberg identifiziert nach Pannenberg die entscheidende Wendung zur Neuzeit, also die entscheidende Neubeantwortung einer vormals religiös beantworten Frage, in der Umbesetzung der Theodizeefrage bzw. der Antwort darauf. Die mittelalterliche Zuspitzung der Allmachtsvorstellung Gottes, vor allem im Anschluss an Ockham, ließ dem Menschen keine sinnvolle Verortung in der Welt, da er ihren Gefahren heillos ausgeliefert war. Die einzige Möglichkeit, die ihm blieb, war eine Selbstbehauptung gegenüber dem mittelalterlichen Gott, die sich besonders in der Umgestaltung der natürlichen Umwelt des Menschen zeigte. Waren die Lebensbedingungen nicht sinnhaft und mithin nicht lebensdienlich, musste der Mensch sie dazu umgestalten. Pannenberg hält dem entgegen, dass Blumenberg zum einen das Mittelalter theologisch nicht angemessen wahrnehme, zum anderen die Stellung der Theodizeefrage falsch einschätze. In seiner Sicht war die augustinische Prädestinationslehre deutlich absolutistischer als das Spätmittelalter. „Es ging Theologen wie Duns Scotus und Wilhelm Ockham vielmehr zugleich um die Freiheit Gottes und die Freiheit des Menschen.“ Pannenberg, Christentum, 16. Die Theodizeefrage hingegen wurde nach Pannenbergs Urteil nicht hinsichtlich einer Entlastung des Schöpfers angesichts des Übels verhandelt, sondern auf dem Hintergrund des Glaubens an die Versöhnung Gottes beantwortet, der die Last des Übels auf sich nimmt. Statt einer Selbstbehauptung des Menschen gegen einen allmächtigen Gott ist es für Pannenberg der Inkarnationsglaube, der die menschliche Selbstachtung unendlich bestärkt hat und in der Neuzeit seine volle Wirkung entfaltet hat. Zur Auseinandersetzung mit Blumenberg vgl. Pannenberg, Legitimität. 5 Vgl. Pannenberg, Menschheit, 326.

Eine historische Erklärung der Säkularisierung

3.1

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Eine historische Erklärung der Säkularisierung

Für Pannenberg ist die Säkularisierung weder aus rein geistesgeschichtlichen Ursachen zu erklären noch als Produkt einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft zu begreifen. Beide Erklärungen halten seinem Urteil nach einer historischen Überprüfung der Ereignisse nicht stand. Für ihn ist Säkularisierung Folge einer klar zu benennenden geschichtlichen Katastrophe: Der Kirchenspaltungen im 16. Jh. und der daran anschließenden Glaubenskriege.6 Zwar waren bis dato die christlich geprägten Gesellschaften aufgrund des eschatologischen Bewusstseins von einer relativen Selbstständigkeit der weltlichen Sphäre bestimmt, die Religion aber war Grundlage von Frieden und Einheit einer Gesellschaft. Die religiös motivierten Bürgerkriege – der Schmalkaldische Krieg 1546/1547, die französischen Hugenottenkriege, der 1566 beginnende Krieg in den Niederlanden, der Dreißigjährige Krieg, die 1640 beginnende puritanische Revolution, die zur Unterwerfung Irlands führte – ließen die Religion zum größten Feind der gesellschaftlichen Einheit werden. „In dieser Periode konfessioneller Kriege […] machten die Menschen die Erfahrung, daß religiöse Leidenschaft den gesellschaftlichen Frieden zerstört.“7 Die Religion wurde vom Fundament der Gesellschaft zu deren Bedrohung. War es noch das Ziel der kriegerischen Auseinandersetzungen, die Einheit der Gesellschaft zu wahren, da für die gesellschaftliche Einheit die Einheit in der Religion als Voraussetzung angesehen wurde, wuchs nach und nach die Erkenntnis, dass Einheit und Frieden eher durch das Gegenteil zu erreichen sind. Die frühesten Ansätze hierzu finden sich laut Pannenberg im Kreis um Wilhelm von Oranien, der als erster Religionsfreiheit und religiöse Toleranz öffentlich proklamierte, welche dann mit der niederländischen Unabhängigkeitserklärung 1581 verbindlich wurden. Von hier aus setzte sich die Religionsfreiheit 1688 mit der Glorious Revolution und mit dem Act of Toleration 1689 auch in England durch.8 Es waren also für Pannenberg politische Ereignisse infolge der kriegerischen Auseinandersetzungen und nicht geistesgeschichtliche Umbrüche, die der Religion ihre einheitsstiftende Funktion nahmen, und so das in Gang setzten, was heute als Säkularisierung bezeichnet wird. Erst unter dem Eindruck der kon6 Vgl. Pannenberg, Alternative, 238–241. Es war nach Pannenberg ein Verdienst von Emanuel Hirsch, den Zusammenhang der Religionskriege und der neueren Theologiegeschichte aufzuzeigen. Vgl. Pannenberg, Problemgeschichte, 25. Allerdings sieht Pannenberg bei Hirsch die Folgen dieses Zusammenhangs lediglich positiv und damit zu eindimensional beurteilt. Vgl. Pannenberg, Problemgeschichte, 31f. In seiner eigenen Analyse will er hingegen neben den Errungenschaften auch die Probleme der durch die Religionskriege verursachten Entwicklung in den Blick nehmen. 7 Pannenberg, Christentum, 21. 8 Vgl. Pannenberg, Christentum, 22f.

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Die säkularisierte Moderne

fessionellen Kriege begannen erste Denker, z. B. Herbert von Cherbury oder Hugo Grotius, die Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung und des Friedens nicht mehr in geschichtlichen Religionen und ihren Traditionen zu suchen, sondern im Naturrecht und der natürlichen Religion, die allen Menschen gemeinsam ist. „Die Grundbegriffe von Recht, Religion, Moral und Politik wurden neu formuliert auf dem Boden der Frage nach dem gemeinsam Menschlichen, nach der ‚Natur‘ des Menschen.“9 Hinzu kam eine zweite politische Entwicklung, die das Entstehen einer säkularen Kultur förderte, indem in einigen Ländern nun dem Staat oder dem Monarchen die Entscheidung zustand, welche christliche Konfession in dem betreffenden Land die eine Religion sein sollte. Pannenberg sieht eine solche Verschiebung im Verhältnis von Religion und Staat bereits im Augsburger Religionsfrieden gegeben. Somit hatte sich in den Ländern, in denen die Religion einheitlich war, eine Verlagerung der Religionsfrage in die politische Philosophie vollzogen, deren Grundlage wiederum das Naturrecht war.10 Pannenberg sieht damit auch in den Ländern, in denen die religiöse Einheit weiterhin die Grundlage der gesellschaftlichen Einheit bildete, eine historische Entwicklung gegeben, die die Frage des Grundes einer Gesellschaft nicht mehr mit der Religion, sondern mit einem allgemeinen Begriff vom Menschen beantwortete. Dies gilt auch für heutige säkulare Gesellschaften. Die Menschenrechte und damit der Begriff des Menschen in seiner allen Individuen gemeinsamen Natur nehmen in ihnen, jedenfalls in den westlichen Demokratien, die Stelle ein, die früher der Religion zuerkannt wurde.11

Anders als im 17. und 18. Jh. hat sich die naturrechtliche Fundierung in modernen Gesellschaften als organisatorisches Prinzip der politischen Ordnung durchgesetzt. Die für Pannenberg naturrechtlichen Gedanken der menschlichen Freiheit und Gleichheit neigen zur Demokratie als politischer Ordnung. Dem demokratischen Gedanken kommt dabei mehr die Funktion der politischen Religion [zu] als die einer Beschreibung der politischen Wirklichkeit in den modernen Massenstaaten, in denen die Parteioligarchen groß geworden sind wegen der Notwendigkeit, die Massen der Bürger zu organisieren und zur Wahl zwischen alternativen politischen Programmen zu motivieren.12

Nicht nur das Verhältnis zwischen Religion und politischer Ordnung, auch das Verhältnis von Kultur und Religion hat sich seit dem 17. Jh. grundlegend gewandelt. In dieser Zeit wurde Religion noch als Teil der menschlichen Natur 9 Pannenberg, Christentum, 23. 10 Vgl. Pannenberg, Christentum, 24. 11 Pannenberg, Christentum, 25. In sozialistischen Staaten sieht Pannenberg eine andere Anthropologie als Grundlage der Gesellschaft, die aber ebenfalls gesellschaftsbegründend ist und von einem bestimmten Begriff des Menschen ausgeht. Vgl. Kap. 3.4.1. 12 Pannenberg, Christentum, 26.

Eine historische Erklärung der Säkularisierung

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betrachtet, wie Moral und Recht. Das Gebot der religiösen Toleranz und Freiheit war lediglich auf die Wahl des religiösen Bekenntnisses bezogen. Dies änderte sich für Pannenberg mit dem aufkommenden Atheismus im 18. und 19. Jh. und der Anwendung der Religionsfreiheit auf die Muslime und andere nicht-biblische Religionen. Die religiöse Neutralität der kulturellen Lebenswelt galt nun nicht mehr nur gegenüber den Unterschieden verschiedener religiöser Bekenntnisse, sondern auch gegenüber dem Unterschied von Religion und Atheismus. Damit war Religion nicht mehr konstitutiver Teil des Menschen, sondern „Sache des privaten Beliebens“13. Solche Privatisierung der Religion ist für Pannenberg die zentrale Konsequenz der unterschiedlichen Entwicklungen, die zur Säkularisierung der gemeinsamen Lebenswelt führten, und, wie die Ausführungen zu seiner Anthropologie im vorherigen Kapitel bereits nahelegen, auch die folgenschwerste Konsequenz. Die Ursachen der Säkularisierung lagen damit für ihn nicht in geistesgeschichtlichen Umbrüchen. Auch die voranschreitende Ausdifferenzierung der Gesellschaft reicht nicht als Erklärung.14 Bezüglich der Frage, ob die Ausdifferenzierung in verschiedene Teilsysteme erstursächlich für deren Religionsneutralität ist oder umgekehrt die Religionsneutralität dieser Teilsysteme zu weiterer Ausdifferenzierung führt, stellt Pannenberg eine folgenschwere Leerstelle einiger Theorien in den Mittelpunkt der eigenen Betrachtungen: Historisch gesehen konnte das aufgrund der konfessionellen Auseinandersetzung zerstrittene Religionssystem nicht mehr einheits- und ordnungsstiftend wirken. Von daher müssen die konfessionellen Kriege zentral berücksichtigt werden, was eben allzu häufig in der Erklärung der sich ausdifferenzierenden Moderne nicht geschieht.15 13 Pannenberg, Christentum, 27. 14 Pannenberg kritisiert in dieser Frage Niklas Luhmann, welcher nach Pannenbergs Urteil lediglich die Ausdifferenzierung und die damit einhergehende Verselbstständigung gesellschaftlicher Teilsysteme als Grund für die Säkularisierung anführt. Eine solche Sicht, die von den konkreten gesellschaftlichen Ursachen der Säkularisierung absieht, beurteilt Pannenberg als zu abstrakt. Wird dabei die Kirchenspaltung als Folge gesellschaftlicher Ausdifferenzierung begriffen und nicht umgekehrt, sieht er Grund und Folge vertauscht. Vgl. Pannenberg, Religionssoziologie, 102f. 15 Vgl. Barth, Säkularisierung, 623. U. Barth betont zwar den Stellenwert der Konfessionskriege zur Erklärung der Säkularisierung der Gesellschaft, sieht eine solche Argumentation aber nicht bei Pannenberg. Bei diesem identifiziert U. Barth vielmehr die Sicht, dass der Vorgang der Säkularisierung identisch mit der Aufklärung ist und Pannenberg die Neuzeit als Verfallsprodukt christlicher Kulturtradition qualifiziert. Vgl. Barth, Säkularisierung, 610f. Wie U. Barth zu einer solchen Deutung kommt, ist unklar. Die Passagen, mit denen U. Barth seine Aussagen belegen will, stützen seine Interpretation Pannenbergs jedenfalls nicht. Sie stellen einerseits die Konfessionskriege und nicht die Aufklärung als zentralen Grund der Säkularisierung heraus (vgl. Pannenberg, Anthropologie, 469) und bezeichnen andererseits einen Säkularismus, der die religiöse Dimension des Menschen ausblendet, als Verfallsprodukt christlicher Kulturtradition, nicht die Neuzeit als solche (vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 2, 9). Laut Pannenberg übersieht im Übrigen auch Berger die Bedeutung der

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Die säkularisierte Moderne

Für Pannenberg bedeutet das, dass „die Wende zur säkularen Gesellschaft aus dem Zwang der Not geboren worden [ist], nicht aus den Ideen von Renaissance und Reformation und schon gar nicht aus einem Aufstand gegen den Gott des Christentums.“16 Die Folge dieser Wende war die schrittweise Emanzipation der politischen Ordnung, der Erziehung bzw. Bildung und der Wirtschaft bis hin zur Ablösung der gesamten modernen Kultur von ihren religiösen Grundlagen. Die Religion wurde nach und nach in den Bereich des Privaten verschoben, ohne jegliche öffentliche Relevanz, zu einer Sache des rein subjektiven Beliebens.

3.2

Charakteristika der säkularisierten Gesellschaft und Kultur

Pannenberg sieht die moderne Kultur durch drei Aspekte ausgezeichnet: Die Emanzipation der politischen Ordnung von ihren religiösen Grundlage, ebenso die Emanzipation der Bildungseinrichtungen und Bildungsinhalte sowie die Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft, die das kulturelle Bewusstsein bestimmt. Die historisch notwendig gewordene Fundierung der Gesellschaft auf nicht christlich-religiösem Boden war für Pannenberg unumgänglich. Dies hatte aber nicht überall die strikte Trennung von Religion und Staat zur Folge. Es kann eine gänzliche Privatisierung des Religiösen bedeuten, wie während der Französischen Revolution oder in Russland nach der Oktoberrevolution. Die Trennung kann auch dem Schutz der Kirchen dienen, wie in den USA, in welcher der Staat sich nicht in individuelle religiöse Entscheidungen sowie in den religiösen Wettbewerb der Kirchen einmischen darf.17 In den Ländern, in denen eine christliche Konfession zur Staatsreligion erhoben wurde, bleibt diese – wie in Kap. 3.1 ausgeführt – nach Pannenbergs Urteil der Staatsraison untergeordnet. Im weiteren geschichtlichen Verlauf des Staatskirchentums konnte dies auch zur Kontrolle der Kirchen genutzt werden, was Pannenberg vor allem in Schweden und der DDR gegeben sieht. Des Weiteren sieht er in einigen Ländern eine gewisse Privilegierung bzw. öffentliche Anerkennung der Kirchen gegeben, denen der größere Teil der jeweiligen Bevölkerung angehört; aber auch hier ohne Konfessionskriege bei der Ergründung des Entstehens der säkularisierten Moderne. Vgl. Pannenberg, Signale, 153. 16 Pannenberg, Christentum, 31. Mit Blick auf die Einigung Europas fordert Pannenberg 1994 ein Bekenntnis der Schuld der Kirchen an den Kriegen, die die Reformation nach sich zog und die die europäischen Nationen auseinandertrieben. Vgl. Pannenberg, Einheit Europas, 126– 130. 17 Vgl. Pannenberg, Christentum, 33f. Eine Auseinandersetzung in den USA um die Frage, ob Religion gänzlich als Privatsache zu behandeln ist, sieht Pannenberg infolge der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs erst in den 1980er Jahren beginnen.

Charakteristika der säkularisierten Gesellschaft und Kultur

75

Einfluss der Kirchen auf die jeweilige politische Ordnung, trotz teilweise gegebener Verbundenheit der politischen Amtsträger mit diesen.18 Mit der Emanzipation der staatlichen Ordnung von der Bindung an das Christentum ist in der Geschichte der Neuzeit zumindest zeitweise die Tendenz verbunden gewesen, für das Interesse des Staates die höchste und schrankenlose Autorität über das Leben seiner Bürger zu beanspruchen.19

Dies zeigen für Pannenberg die in der Neuzeit aufkommenden Ideologien, welche in Kap. 3.4.1 thematisiert werden. Eine weitere und für Pannenberg sehr entscheidende Folge der Emanzipation der gesellschaftlichen Ordnung von ihren religiösen Bindungen ist die Loslösung der Bildungseinrichtungen und Bildungsinhalte von der Religion. Auch wenn diese Entwicklung bis heute in manchen Ländern nicht zur Abschaffung des christlichen Religionsunterrichts und Schließung der staatlichen theologischen Fakultäten geführt hat, erscheint Religion doch nur als ein zu behandelndes Thema unter anderen und hat nicht mehr grundlegenden Rang für das Bildungssystem. Wird der Religionsunterricht nur noch als Hinführung für die Angehörigen einer Religion zu dieser verstanden und nicht als Einführung „in die christliche Glaubenslehre, ihre biblischen Wurzeln und den prägenden Einfluß des Christentums auf die Entwicklung der europäischen Kultur“, ist „ein rapider Rückgang der Kenntnisse über das Christentum und über seine jahrhundertelange Relevanz für die Geschichte der europäischen Kultur“ nicht verwunderlich.20 Dies begreift Pannenberg nicht nur als Bedrohung für das Christentum, sondern für die säkulare Welt und die von ihr hervorgebrachten Werte selbst, was in Kap. 3.4 weiter zu vertiefen sein wird. Die dritte folgenschwere Entwicklung, die mit der Säkularisierung des öffentlichen Lebens einhergeht, ist die sich ausprägende Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft und deren Dominanz des kulturellen Bewusstseins. Nach Abschaffung des kirchlichen Zinsverbotes und vor allem nach dem Wegfall der Forderung, dass die Wirtschaft im Dienst an der Gesellschaft steht und so anderen Zielen als der Gewinnmaximierung untergeordnet sein muss, konnte sie eine Eigengesetzlichkeit entwickeln, die bis heute andauert. Gefördert durch den aufkommenden Liberalismus und den technischen Fortschritt gewann die Wirtschaft grundlegende Bedeutung für das gesamte Gesellschaftssystem. Trotz der von Pannenberg seit dem ausgehenden 19. Jh. identifizierten zunehmenden sozialpolitischen Kontrollmechanismen ist der Einfluss der Wirtschaft auf alle Bereiche der Gesellschaft ungebremst. Auch kulturelles Bewusstsein und kulturelle Tätigkeiten sieht er heute einer Kommerzialisierung unterliegend, was 18 Vgl. Pannenberg, Christentum, 34f. 19 Pannenberg, Säkularisierung, 125. 20 Pannenberg, Christentum, 36.

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Die säkularisierte Moderne

sich am stärksten am Phänomen des Kulturkonsums zeigt. „Kulturelle Produktion wird vermarktet und der Kulturkonsum durch Werbung manipuliert.“21 Hat sich so der Spielraum für persönliche Präferenzen gegenüber der kulturellen Tradition erweitert, haben letztere dadurch an verbindlicher Bedeutung verloren und sind zu austauschbaren Kulturgütern geworden. Auch wenn trotz Phänomenen wie dem Fernsehevangelium in den Vereinigten Staaten die Religion für Pannenberg nicht so stark von der Kommerzialisierung betroffen ist wie Literatur oder Kunst, hat sie umso mehr unter der veränderten Haltung gegenüber den kulturellen Traditionen zu leiden. „Die Beliebigkeit des Kulturkonsums zerstört den Sinn für die Verbindlichkeit der kulturellen Überlieferung und besonders der religiösen Tradition.“22 Die drei von Pannenberg ins Zentrum seiner Analysen gestellten Charakteristika bezeichnen nicht nur einen status quo der Gesellschaft. Vielmehr bedingen sie einander und setzen sich weiter fort. Es ist daher seit Max Weber immer wieder behauptet worden, „daß die weitere Entwicklung der modernen Industriegesellschaft die Religion immer mehr an den Rand des gesellschaftlichen Lebens drängen werde.“23 Pannenberg widerspricht dem energisch, da die Entwicklungen inneren Grenzen unterliegen, die sowohl den individuellen Lebensvollzug wie auch das öffentliche Leben gefährden. Bei der Analyse dieser Grenzen und der damit einhergehenden Risiken spielen die Arbeiten Peter L. Bergers eine entscheidende Rolle, besonders das 1975 von ihm veröffentlichte Werk The Homeless Mind24. Die für Pannenberg grundlegenden Gedanken Bergers sollen daher im Folgenden dargestellt werden.25

3.3

Der Hintergrund: Peter L. Bergers The Homeless Mind

Berger definiert in der Einleitung seines Buches im Anschluss an Max Weber Modernisierung als wachsende institutionelle Ausdifferenzierung, deren Ursprung in einer fortschreitenden Verwandlung der Wirtschaft durch Technik liegt. Dabei sieht er wie Weber die primären Träger der Modernisierung in den Institutionen der technischen Produktivität und der Bürokratie. Darüber hinaus 21 22 23 24

Pannenberg, Christentum, 37. Pannenberg, Säkularisierung, 131. Pannenberg, Christentum, 39. Vgl. Berger, Homeless. Eine sehr gute und pointierte Einführung in das Gesamtwerk Bergers bietet Pfadenhauer, Berger, hier besonders zum Modernebegriff Bergers 37–53. Hubert Knoblauch stellt in seiner knappen Darstellung Bergers dessen Religionsbegriff und die von Berger skizzierten Transformationsprozesse der Religion in der Moderne – unter den Stichworten Pluralisierung, Privatisierung sowie Säkularisierung – in den Mittelpunkt. Vgl. Knoblauch, Religionssoziologie, 117–122. 25 Zum Einfluss Bergers auf Pannenberg vgl. oben, S. 18, Anm. 40.

Der Hintergrund: Peter L. Bergers The Homeless Mind

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gibt es einige sekundäre Träger, unter denen vor allem die Stadt mit der ihr eigenen soziokulturellen Pluralität von Bedeutung ist. Die verschiedenen Träger stehen in „reciprocal relations of causality“26. Will man die gewandelte gesellschaftliche Wirklichkeit erfassen, ist eine Betrachtung nur der institutionellen Veränderungen unzureichend. Es bedarf einer Konzentration auf die Dimension des Bewusstseins, welche Berger wissenssoziologisch erfassen will. Der Zusammenhang der Bewusstseinsstrukturen und der Institutionen bzw. der institutionellen Prozesse ist herauszuarbeiten, da jeder gesellschaftlichen Wirklichkeit eine wesensmäßige Bewusstseinskomponente eigen ist. Society is viewed in this perspective as a dialectic between objective givenness and subjective meanings – that is, as being constituted by the reciprocal interaction of what is experienced as outside reality and what is experienced as being within the consciousness of the individual.27

Dabei stehen auf institutioneller Ebene neben der aufgeführten Technisierung und Bürokratisierung die Pluralisierung der sozialen Lebenswelt und die ihnen inhärenten Bewusstseinsstrukturen im Fokus. Berger nimmt verschiedene Merkmale an, verschiedene Formen des Denkstils und der Wissensorganisationen, die das moderne Bewusstsein auszeichnen. Die Intensität sowie die Häufigkeit ihres Auftretens markieren den Grad der Modernisierung einer Gesellschaft. Es sind dabei drei zentrale Merkmale, die die moderne Bewusstseinsstruktur prägen und in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander stehen: Erstens die Anonymisierung menschlicher Lebensvollzüge, zweitens die Trennung der öffentlichen Lebenssphäre und der Privatsphäre und die damit einhergehende Überladung der letzteren sowie drittens der Wegfall eines übergreifenden symbolischen Universums wie es in vormodernen Gesellschaften seitens der Religion bereitgestellt wurde. Die Anonymisierung ist vor allem Folge des fortschreitenden Anwachsens bürokratischer Institutionen. Zwar bringt auch die technisierte Arbeitswelt Anonymisierung mit sich, z. B. in anonymisierten Arbeitsprozessen, in welchen persönlichen Vorlieben keine Bedeutung zukommt,28 jedoch ist es in erster Linie die Bürokratie, deren inhärente Strukturen zu einer Anonymisierung innerhalb des gesellschaftlichen Bewusstseins führen. Die Bürokratie neigt zu einer entpersonalisierenden Klassifizierung, in welcher die Berücksichtigung einer Besonderheit einer Vorteilsnahme gleichkommt. In der nach äußeren Richtlinien klassifiziert wird, nicht nach den Besonderheiten des einzelnen Individuums. In 26 Berger, Homeless, 10. 27 Berger, Homeless, 12. 28 Berger nennt hier das Beispiel, dass auf die Vorliebe, man wolle nicht mit Menschen einer bestimmten Herkunft zusammenarbeiten, keine Rücksicht genommen werden kann. Vgl. Berger, Homeless, 29f.

78

Die säkularisierte Moderne

welcher eine Gleichheit Voraussetzung ist, die von jeglicher Individuiertheit absieht. Die Anonymität erscheint als ein moralischer Imperativ.29 Des Weiteren empfindet der Einzelne ein Ausgeliefert-sein gegenüber der Bürokratie. Sie erscheint als eine fremde Macht, die das eigene Leben bestimmt und dabei gleichzeitig nicht bis ins Letzte durchsichtig ist aufgrund der mannigfaltigen Gesetzesgrundlagen und Bestimmungen. „[One] may say that encountering bureaucracy is an experience of being ongoingly surrounded by strangers.“30 Dies wird verstärkt durch die Willkürlichkeit bürokratischer Einrichtungen. Ihnen liegt keine immanente Notwendigkeit zugrunde, sondern Setzungen regeln Zuständigkeit und Zuständigkeitsbereiche.31 Neben der Anonymisierung ist ein weiteres entscheidendes Merkmal der Moderne eine Pluralisierung der Lebenswelten. Hier unterscheidet sich für Berger die Moderne entschieden von vormodernen Gesellschaften, die einen deutlich höheren Grad an Einheit aufwiesen. Dieser Unterschied betrifft vornehmlich die Religion, welche eine auch früher in unterschiedliche Sektoren differenzierte Gesellschaft in eine gemeinsame Ordnung mit einem alle Bereiche umfassenden Gesamtsinn integrieren konnte. Hierzu dienten die gleichen integrierenden Symbole, die in den verschiedenen Teilbereichen der Gesellschaften identisch waren. „Unless he [der Einzelne in früheren Gesellschaften/B.A.] physically left his own society, he rarely, if ever, would have the feeling that a particular social situation took him out of this common life-world.“32 Die Situation des modernen Menschen ist demgegenüber eine fundamental andere, dessen Alltag sich in verschiedenen, teils sogar gegensätzlichen Erfahrungs- und Bedeutungswelten bewegt. Eine solche Veränderung im Sozialverhalten hat Folgen auf der Bewusstseinsebene. Die entscheidende Auswirkung ist eine voranschreitende Dichotomie zwischen öffentlicher und privater Sphäre, welche beide von einer steten Pluralisierung betroffen sind. Jedoch ist in der Moderne der private Bereich der Ort, an dem gegenüber einer differenzierten und diffus gewordenen Lebenswelt versucht wird, eine Ordnung stützender und integrierender Sinngehalte herzustellen. „In other words, the individual attempts to construct and maintain a ‚home world‘ which will serve as the meaningful center of his life in society.“33 Eine voranschreitende Pluralisierung hat gerade im Be29 Vgl. Berger, Homeless, 46–54. 30 Berger, Homeless, 60. 31 Dass z. B. das Gesundheitsamt keinen Reisepass ausstellen kann, folgt einer Setzung. Dass es überhaupt Reisepässe zum Reisen in andere Länder braucht, ebenfalls. Demgegenüber ist die Notwendigkeit von funktionsfähigen Bremsen in einem Auto sofort einzusehen, ebenso, dass die Durchführung von Wartung und Reparatur dieser einem entsprechend ausgebildeten Techniker obliegt. Vgl. Berger, Homeless, 56f. 32 Berger, Homeless, 64. 33 Berger, Homeless, 61.

Der Hintergrund: Peter L. Bergers The Homeless Mind

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reich des Privaten fundamentale Folgen, die eine hier zu vollziehende integrierende Sinnstiftung erschweren, wie sich an den Merkmalen moderner Identität34 zeigen lässt. Moderne Identität erscheint unabgeschlossen und besonders offen. Es ist dem Einzelnen möglich, in den verschiedenen Segmenten der Alltagswelt innerhalb kürzester Zeit verschiedene Identitäten anzunehmen. Ebenso können innerhalb des gesamten Lebensvollzuges verschiedene Identitäten verfolgt und verwirklicht sowie verworfen werden. Der moderne Mensch zeichnet sich durch „readiness for such transformations“35 aus. Des Weitern folgt aus der Erfahrung einer pluralisierten Lebenswelt eine gestiegene Differenzierung der modernen Identität. Aufgrund der pluralen sozialen Welten erscheint jede von ihnen relativiert, was für Berger zu einem Wirklichkeitsverlust institutioneller Ordnung führt. Der Wirklichkeitsakzent verlagert sich daher in den Bereich der Subjektivität, der Halt der eigenen Wirklichkeit wird zunehmend in einem selbst gesucht. Dies hat eine wachsende Komplexisierung und Differenzierung subjektiver Wirklichkeit zur Folge. Diese beiden Identitätsmerkmale – Offenheit und Differenzierung – zeigen das Dilemma moderner Identität. Sie wird einerseits als besonders offen erlebt, als wandlungsfähig und wechselhaft, als unabgeschlossen. Andererseits soll sie dem Individuum Halt in seiner Wirklichkeit sein. „Something that is constantly changing is supposed to be the ens realissimum.“36 Wie bereits angeklungen ist, betrifft die weitreichendste Folge der Pluralisierung der Lebenswelt die Religion, welche in der Menschheitsgeschichte Symbole bereitstellte zur sinnvollen Integration einer Gesellschaft und dem individuellen Lebensvollzug. Es wird zunehmend schwerer, die sich immer weiter ausdifferenzierenden sozialen Lebenswelten in eine umfassende Weltauffassung zu integrieren. Vor allem jedoch sind religiöse Wirklichkeitsdefinitionen durch das subjektive Bewusstsein selbst bedroht. Neben einer Rationalisierung des Bewusstseins infolge des technischen Wandels ist es in einer pluralisierten Welt der Kontakt mit Anderen, die ganz andere Überzeugungen, Werte und Bedeutungen für sich beanspruchen, wodurch eigene Glaubensüberzeugungen und Wirklichkeitsdeutungen relativiert werden. Religiöse Wirklichkeitsdefinitionen verlieren so die ihnen selbstverständlich eigene Evidenz und werden zu Gegenständen der eigenen, freien Entscheidung. Wie die Identität unterliegen auch die eigenen Beziehungen zu letzten Wirklichkeitsdefinitionen einem steten Wandel. Somit sind die beiden entscheidenden Bewusstseinsbereiche, die eine sinnvolle Integration des eigenen Lebensvollzuges in ein einheitsstiftendes Ganzes leisten 34 Berger definiert Identität als „the actual experience of self in a particular social situation.“ Berger, Homeless, 76. 35 Berger, Homeless, 77. 36 Berger, Homeless, 78. (Hervorhebung im Original.)

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Die säkularisierte Moderne

sollen, ständigen Veränderungen ausgesetzt und können die ihnen zukommende Aufgabe nicht bewältigen. Die Folge dessen lässt sich laut Berger einfach zusammenfassen: „modern man has suffered from a deepening condition of ‚homelessness‘.“37 Die Gefahr, die Berger nun für moderne Gesellschaften sieht, ist der Aufschwung von Ideologien, die ihre Legitimation daraus ziehen, positive Aspekte der Modernisierung wie den medizinischen Fortschritt oder wachsenden Wohlstand zu verbinden mit dem Versprechen, die negativen Folgen der Modernisierung zu egalisieren. Es werden gerade im Sozialismus und im Nationalismus neue kollektive Identitäten erzeugt, die dem Einzelnen neue übergreifende Symbole bereitstellen, durch welche dieser einen zugeschrieben Platz und Halt erlangt. „If modernization can be described as a spreading condition of homelessness, the socialism can be understood as the promise of a new home.“38

3.4

Folgen der Säkularisierung für Gesellschaft und Individuum

Für Pannenberg bedarf der Zustand moderner säkularer Gesellschaften einer kritischen Revision. Das Verhältnis von Religion und Gesellschaft muss neu bestimmt werden aufgrund der Bedrohung der säkularen Welt selbst, welche aus sich heraus vor dem Zerfall steht und mit ihr die Werte und Errungenschaften, die sie hervorgebracht hat. „Das ist eine Frage, die sich demjenigen stellen muß, der um den Fortbestand dieser säkularen Kultur besorgt ist.“39 Worin besteht diese Bedrohung? Pannenberg konstatiert die Sinn- und Heimatlosigkeit des modernen Menschen, dessen Sinnbedürfnis durch die säkulare Kultur nicht befriedigt werden kann. Im Anschluss an Berger sieht er hierfür zwei zentrale Gründe: Erstens die Anonymisierung in der Arbeitswelt und einer zunehmend bürokratisch verfassten Gesellschaft. Zweitens die Pluralisierung der Lebenswelt besonders durch die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre, welche die Integration der pluralen Welterfahrung zu einem sinnvollen Ganzen massiv erschwert; eine Integrationsleistung, die in früheren Gesellschaften von der Religion erbracht wurde und welche nun das Private leisten soll, wozu es aber nicht in der Lage ist. Der Religion ist dies nicht mehr möglich aufgrund der voranschreitenden Pluralisierung der religiösen und quasireligiösen Systeme. Die religiöse Überlieferung hat schon aus diesem Grunde weitgehend ihre Plausibilität verloren, aber die Lebensprobleme der Individuen, die in der Vergangenheit durch die

37 Berger, Homeless, 82. (Hervorhebung im Original.) 38 Berger, Homeless, 138. (Hervorhebung im Original.) 39 Pannenberg, Säkularisierung, 136.

Folgen der Säkularisierung für Gesellschaft und Individuum

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Religion gelöst wurden, insbesondere die Erfahrungen von Leid und Bosheit in der Welt, bleiben bestehen und erneuern sich beständig.40

Pannenberg diagnostiziert als Folge dieser Entwicklung nicht nur ein Gefühl der Entfremdung und Heimatlosigkeit des Einzelnen; im Anschluss an Viktor Frankl behauptet er vielmehr, dass der Verlust verbindlicher Sinnorientierung zu neurotischen Fehlentwicklungen führen kann. Gleichzeitig hält Pannenberg fest, dass die Ablösung von den religiösen Bindungen der Gesellschaft auch viele Errungenschaften hervorbrachte wie den Anstieg individueller Freiheiten, Toleranz als zentraler Wert im gesellschaftlichen Zusammenleben, Emanzipation von extrinsischen Grenzen menschlicher Erfahrung, Freiheit der Wissenschaft sowie der Kunst und die wachsende Pluralität innerhalb des religiösen Lebens.41 Diese Werte und Errungenschaften, die gegen eine dogmatisch-absolutistische, hierarchische Kirche des Mittelalters erstritten werden mussten, gilt es unbedingt zu wahren und zu stärken. Der Verlust verbindlicher Sinnorientierung stellt aber nicht nur eine Gefährdung des individuellen Lebens dar; er gefährdet auch das gesellschaftliche. Die Bedrohung moderner, säkularer Gesellschaften liegt dabei in dem Legitimationsverlust ihrer institutionellen Ordnungen. In vormodernen Gesellschaften wurden Recht, Politik und Herrschaft der Manipulation enthoben geglaubt aufgrund ihres Ursprunges in der göttlichen Wirklichkeit, die die gesellschaftliche Ordnung begründet und erhält. Gleichzeitig konnte so der göttliche Ursprung kritischer Maßstab jeglicher Ordnung sein. „Ohne solche Legitimation wäre politische Herrschaft ein bloßes Gewaltverhältnis, und die Bürger müßten sich dann der Willkür des Machthabers ausgeliefert fühlen.“42 Dies liegt in dem Wesen der Herrschaft begründet. Jede Form gesellschaftlichen Zusammenlebens ist auf eine Form der Herrschaft angewiesen. Dabei werden immer Einzelne über den Rest der Gesellschaft bestimmen, da nie der Wille aller in eins fällt. Herrschaft ist somit immer angewiesen auf mehr oder weniger ausgeübten Zwang. Dies kann weder durch Wahlen noch durch verfassungsrechtliche Beschränkung von Herrschaft geändert werden. In vorläufigen Formen menschlicher Herrschaft werden immer partikulare Sonderinteressen zur Durchsetzung gelangen und eine vollkommene Herrschaftsform wird nie erreicht werden. Diese ist erst eschatologisch realisiert, wenn Gott in den Herzen aller Menschen zur Herrschaft gelangt ist.43

40 Pannenberg, Christentum, 42. 41 Vgl. Pannenberg, Säkularisierung, 135. Pannenberg selbst kann die Pluralität der Religionen positiv werten, da er diese in der Strittigkeit Gottes begründet sieht. Vgl. dazu Kap. 5.1. 42 Pannenberg, Christentum, 46. 43 Vgl. Pannenberg, Mensch. Vgl. insgesamt zur Legitimation von Herrschaft Kap. 2.2.4.

82

Die säkularisierte Moderne

Nach der Ablösung der gesellschaftlichen Ordnung von ihren religiösen Grundlagen wurde versucht, das so entstandene Legitimationsdefizit anderweitig zu kompensieren, z. B. durch die Lehre vom naturrechtlich begründeten Gesellschaftsvertrag oder durch eine auf naturrechtlich begründeten Werten fundierte repräsentative Demokratie. Jedoch erscheinen auch solche Herrschaftsformen als repressiv, da nach Pannenberg der reale Einfluss aller zu gering ist und sich an jeder politischen Sachfrage neu die Frage entbrennt, inwieweit die politischen Amtsträger das Volk tatsächlich repräsentieren.44 Auch durch das Rechtsbewusstsein kann das Legitimationsdefizit nicht kompensiert werden. Die Rechtsordnungen moderner Gesellschaften sind aufgrund ihres Verlustes religiöser Fundierung als Resultate menschlicher Mehrheitsbildung nur bedingt selbstständig politischen Machtverhältnissen gegenüber und können diese nicht legitimieren. Die fehlende Selbstständigkeit des Rechts gegenüber der staatlichen Ordnung verstärkt den Legitimitätsverlust des säkularen Staates.45 Für Pannenberg selbst ist eine Verbindung von Recht und Religion „dem Wesen des Rechts nicht äußerlich“46. Er begreift den Menschen zur Gemeinschaft bestimmt und der Verwirklichung dieser durch Gestaltung der gemeinsamen Welt. Indem nun durch das Recht Bedingungen des menschlichen Gemeinschaftsleben formuliert werden, hat dieses einen Bezug zur allgemeinmenschlichen Bestimmung und damit zu der Ganzheit der Wirklichkeit, die auf die göttliche Wirklichkeit verweist. Wird nun eine religiöse Begründung des Rechts vorgenommen, ist letzteres menschlicher Willkür enthoben und so in seiner Autorität gestärkt. Dabei hat eine religiöse Begründung des Rechts keinesfalls konservierenden Charakter. Sie kann auch zum Impuls werden, und das wird da immer wieder der Fall sein müssen, wo das Gottesverhältnis den durch keine schon realisierte Gestalt menschlichen Zusammenlebens erschöpften Zukunftsbezug der menschlichen Bestimmung erschließt47. 44 45 46 47

Vgl. Pannenberg, Christentum, 46–48. Vgl. Pannenberg, Christentum, 48f. Pannenberg, Theologie des Rechts, 32. Pannenberg, Theologie des Rechts, 32. Pannenbergs Ausführungen zur theologischen Begründung des Rechts finden vor dem Hintergrund der Rechtsdebatten in der BRD der Nachkriegszeit statt. Infolge „der Rechtszerstörung des Nationalsozialismus“ (Marsch, Recht, 489f.) war ein reiner Rechtspositivismus nicht mehr haltbar und ein neues Fundament des Rechts wurde gesucht. Der in den ersten Nachkriegsjahren unternommene Versuch, der positiven Rechtsprechung eine naturrechtliche Grundlage zu geben, scheiterte, da dies nur so lange möglich schien, wie die Gesellschaft auf dem Boden eines einheitlichen Wertgefüges lebte. Vgl. Marsch, Recht, 490. Die dadurch offene Frage der Begründung des Rechts führte zu einer breiten Auseinandersetzung, an welcher sich auch die Theologie beteiligte. Es wurden dabei zum einen Versuche unternommen, die christliche Naturrechtslehre zu reanimieren. Neben dem bereits von Marsch angeführten Grund, dass in einer pluralen Gesellschaft das gemeinsame Wertegefüge als Grund einer Naturrechtslehre fehlt, scheiterte dieser Versuch auch aufgrund „der Diskreditierung, die die naturrechtlichen Begründungskonzepte in der Phase der offenbarungstheologischen Neuorientierung der evangelischen Theologie nach

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Im Zuge der Säkularisierung wurde das Recht von seinen religiösen Bindungen gelöst. Die Folge ist, dass dem Recht kein Anspruch auf Allgemeingültigkeit zugesprochen werden konnte, wie auch die Moral ihre Allgemeingültigkeit verlor. Für Pannenberg liegt dieser Verlust in der Konsequenz der Lehren Kants, für den die Verbindlichkeit moralischer Einsichten nicht in anderweitig gegebenen Begründungen zu suchen ist, also auch nicht in religiösen. Vielmehr ist das Handeln des Einzelnen durch die Verallgemeinbarkeit der dem Handeln zudem 1. Weltkrieg erfahren hatten.“ Anselm, Gericht, 28. Daneben wurde der Versuch einer christologischen Begründung des Rechts unternommen, entscheidend geprägt von K. Barth. Leitend ist dabei laut Anselm, dass jedes menschliche Recht abzuleiten ist von dem einen Wort Gottes in Jesus Christus. Vgl. Anselm, Gericht, 23–28. Nach Pannenberg konnte aber auch diese Form der Begründung vor allem deshalb keine Wirkung erreichen, da sie den Positivismus nur um eine Ebene verlagert. Statt auf der Ebene der staatlichen Gesetzgebung erfolgt die positivistische Setzung nun auf der Ebene der religiösen Offenbarungsbehauptung. Vgl. Pannenberg, Rechtsbegründung, 326f. Pannenberg selbst geht in seiner christlichen Begründung des Rechts von der in Jesus Christus offenbarten Liebe aus, welche für ihn die tragende Kraft allen Rechts ist. „Durch die Liebe nämlich erkennt der Mensch das ihm Entgegenstehende an, nimmt es so in sein eigenes Leben auf und gelangt damit zu einer Gemeinschaft, die vorher nicht bestand.“ Pannenberg, Theologie des Rechts, 38. Jesu Verkündigung des göttlichen Liebeswillens, die vom Empfänger die Gottes- und Nächstenliebe fordert, gründet nach Pannenberg in der Botschaft vom angebrochenen Reich Gottes. Im Reich Gottes wird der göttliche Rechtswille verwirklicht sein, da dort Frieden und Gerechtigkeit herrschen. Da nun aber mit Jesus das Reich Gottes angebrochen und die Annahme seiner Botschaft das künftige Gottesreich gegenwärtig wirksam werden lässt (vgl. Kap. 4.1), konnte Jesu Sendung zur Verkündigung selbst als Ausdruck der göttlichen Liebe verstanden werden. Der in der anbrechenden Gottesherrschaft begründete Liebesgedanke Jesu war der Grund, aus welchem heraus das bestehende Gottesrecht der Überlieferung immer wieder kritisiert und revidiert werden konnte; durch Jesus Christus selbst und auch in der weiteren Christentumsgeschichte. Es ist also die in Jesus Christus offenbarte göttliche Liebe, die der Grund allen Rechts ist. Vgl. Pannenberg, Rechtsbegründung, 333f. Anders als bei K. Barth sieht Pannenberg in einer solchen Begründung allerdings keinen Offenbarungspositivismus vorliegen. Vielmehr entdeckt er einen strukturellen Zusammenhang zwischen Liebe und Recht. Denn für ihn ist die Anerkennung ein wesentliches Element der Liebe. „Das Moment der Anerkennung bringt das bleibende Recht des andern und seiner Andersheit in der Liebe zum Ausdruck.“ Pannenberg, Rechtsbegründung, 336. (Hervorhebung im Original.) In der Liebe anerkennt der Einzelne also sein Gegenüber. Des Weiteren zeigt sich Pannenberg das Moment der Anerkennung darin, dass die Liebe auf Dauer zielt, da sie auf die jeweils geliebte Person als ganzes gerichtet ist. Anerkennung ist aber nicht nur in der Liebe zentral, sie ist für Pannenberg im Anschluss an Hans Dombois auch eine rechtliche Grundkategorie. Jede Rechtsbeziehung beruht auf Anerkennung, nicht nur auf der Anerkennung der rechtlichen Normen, sondern vor allem auf der den Normen zugrundeliegenden Anerkennung der jeweiligen Personen, ihrer Rolle und ihres Status. „Anerkennung als ein Geltenlassen des andern in seiner Rolle und in seinem Status und darin zugleich als Mensch überhaupt liegt der Anerkennung von solche Beziehungen regelnden Rechtsnormen immer schon zugrunde.“ Pannenberg, Rechtsbegründung, 336. Damit sieht Pannenberg sein eigenes Grundanliegen eingelöst, nämlich die Plausibilisierung theologischer Rechtsbegründung ausgehend von den Rechtsphänomenen selbst, welche die Verallgemeinbarkeit der theologischen Begründung ermöglicht. Vgl. Pannenberg, Theologie des Rechts, 25. Zum Verhältnis von Anerkennung, Liebe und Recht bei Pannenberg vgl. Grotefeld, Überzeugungen, 302–305.

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grundeliegenden Gründe bindend.48 Eine solche Moralbegründung, die die Selbstständigkeit des moralischen Bewusstseins stärken will, sieht Pannenberg der individuellen Natur der menschlichen Freiheit ausgeliefert, die ein Recht auf die eigene Besonderheit beansprucht und damit die eigene Selbstverwirklichung fordert. Die Inanspruchnahme der ursprünglichen naturrechtlich begründeten Freiheitsrechte für die individuelle Besonderheit eines jeden und der damit verbundene Anspruch auf unbeschränkte Selbstverwirklichung der eigenen Besonderheit läßt alle moralischen und rechtlichen Verhaltensregeln als lästigen Zwang erscheinen, dem man sich zwar äußerlich anpassen mag, aber ohne innere Überzeugung.49

Der Verlust der Allgemeingültigkeit moralischer Normen ist noch einmal verstärkt worden durch deren Interpretation der Psychoanalyse als gesellschaftliche Forderungen an den Einzelnen. Verbunden mit der Vorstellung, dass diese verinnerlichten, gesellschaftlichen Normen das Lustprinzip als Antriebsgrund der eigenen Selbstverwirklichung einschränken, ja sogar unterdrücken, verstärkt sich das von Pannenberg identifizierte Gefühl der Heimatlosigkeit und Entfremdung des Einzelnen gegenüber der gesellschaftlichen Ordnung.50 „Die Aufrechterhaltung bloßer Konformität ohne innere Verbindlichkeit aber erfordert nicht nur ein erheblich größeres Maß an politischer Repression, sondern bleibt auch dann noch instabil.“51 Ein solches gesellschaftliches System, das von Legitimationsdefiziten seiner institutionellen Ordnung und durch verstärkte Heimatlosigkeit der Individuen geprägt ist, ist gerade in Krisenzeiten gefährdet und bedarf einer Stabilisierung. „Dazu aber wäre die Stärkung der in ihren religiösen Wurzeln begründeten Identität unserer Kultur der naheliegendste und am ehesten erfolgversprechende Weg.“52 Die größte Gefahr ist das Erstarken von Ideologien, die unter dem Deckmantel der Befreiung von gegenwärtigen Herrschaftsverhältnissen eine neue Diktatur errichten. Hier liegt der Grund, dass sich die Geschichte der Neuzeit auch als eine Geschichte der Ideologien lesen lässt – wie die verschiedenen Formen des Absolutismus, Sozialismus, Liberalismus und Nationalismus zeigen.53 Das religiöse Bewusstsein, welches bis ins Zeitalter der Konfessionskriege die unterschiedlichen Bereiche individuellen und gesellschaftlichen Lebens zu einer Einheit integrieren konnte, wird ersetzt durch politische Ideologien. Zum einen werden dem Einzelnen neue Symbole zur sinnvollen Integration 48 49 50 51 52 53

Vgl. Pannenberg, Christentum, 49f. Pannenberg, Christentum, 50. Vgl. Pannenberg, Christentum, 51. Pannenberg, Alternative, 248. Pannenberg, Christentum, 54. Vgl. Pannenberg, Alternative, 244.

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seines eigenen Lebens in eine übergeordnete Größe bereitgestellt, zum anderen erfährt die gesellschaftliche Ordnung hier eine neue Begründung. „In jedem dieser Fälle wird die Funktion einer Begründung des eine Gesellschaft einenden Wahrheitsbewußtseins auf andere Weise als durch die institutionalisierten kirchlichen Gestalten des Christentums wahrgenommen.“54 Eine Selbstunterscheidung der politischen Ordnung von der endgültig realisierten Bestimmung der Menschheit, welche die Freiheit des Einzelnen allererst ermöglicht, ist für Pannenberg bei einer solchen quasireligiösen Begründung der gesellschaftlichen Ordnung nicht mehr gegeben.55 Dieser Ideologisierung des neuzeitlichen Staates und deren Ursachen entgegenzutreten, ist Aufgabe der Theologie und der Religion. Dafür bedarf es einer Neubestimmung des Verhältnisses von Religion und Gesellschaft. Die Frage ist jedoch, ob das Christentum überhaupt fähig ist, seine Funktion der Fundierung und Stabilisierung der Gesellschaft wahrzunehmen, auch deshalb, weil es ihre Destabilisierung selbst mit verursacht hat. Bevor abschließend die Beschreibung Pannenbergs der möglichen Aufgaben von Theologie und Kirche in der Moderne in den Blick genommen werden, soll seine Kritik an den neuzeitlichen Ideologien thematisiert werden.

3.4.1 Die ideologischen Gefahren des Legitimationsdefizites der gesellschaftlichen Ordnung Pannenberg sieht die Neuzeit geprägt durch eine Geschichte unterschiedlicher Ideologien, die er auch als civil religions bezeichnen kann.56 Diese haben versucht, die Leerstellen zu besetzen, die nach der Emanzipation der Gesellschaft von ihren religiösen Grundlagen entstanden sind. Er selbst unternimmt immer wieder Versuche, das verkürzte Wirklichkeitsverständnis dieser Ideologien aufzuzeigen und sie so einer Kritik zu überführen. Dabei stehen Liberalismus, Sozialismus und Nationalismus im Zentrum der Kritik; zum Absolutismus finden sich keine inhaltlichen Ausführungen, was vermutlich in dem zeitlichen Kontext der Veröffentlichungen Pannenbergs begründet ist, in welcher der Absolutismus in der politischen Landschaft der westlichen Welt eine untergeordnete Rolle einnimmt. Sozialismus und Liberalismus stehen sich nach Pannenberg in dem von beiden vertretenen, positiven Menschenbild nahe. „Beide sagen, daß an und für sich der Mensch von Natur, das heißt so wie er geboren wird, gut ist, und daß daher 54 Pannenberg, Gesellschaft, 122. 55 Diese Selbstunterscheidung von der vollkommen realisierten Bestimmung des Menschen steht im Zentrum von Pannenbergs Reflexion auf die politische Ordnung. Vgl. Kap. 2.2.3. 56 Vgl. Pannenberg, Gesellschaft, 121.

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der Mensch seine Triebe voll ausleben sollte.“57 Der Mensch ist zu unterstützen bei seiner freien Selbstentfaltung und soll nicht gehindert werden an der Auslebung seiner Anlagen und Neigungen. Für den Liberalismus ist die persönliche freie Entfaltung gleichbedeutend mit der Förderung des Allgemeinwohls, woraus die Konsequenz gezogen wird, staatliche Eingriffe und ererbte Vorteile abzubauen, damit die individuelle Freiheit sich zum Wohle aller verwirklichen kann.58 Das christliche Menschenbild ist demgegenüber deutlich skeptischer, da hier – wie für Pannenberg z. B. in der angelsächsischen Demokratie vertreten – der Mensch nicht von Natur aus als gleich und frei gilt, sondern zu Freiheit und Gleichheit bestimmt ist. Dies beschreibt die Zielbestimmung des Menschen, nicht seine gegenwärtige Situation. Gibt es doch Triebe und Neigungen im Menschen, die wir besser nicht voll ausleben sollten, sondern die wir beherrschen lernen müssen, um zu einem menschenwürdigen Leben, im privaten wie auch im politischen Bereich, zu kommen.59

Gerade die Annahme, dass die individuelle Freiheit Teil der natürlichen Ausgangsbedingungen des Menschen ist, bezeichnet Pannenberg als „die Illusion des Liberalismus“60. Gleichzeitig erkennt er das negative Element des Prinzips der politischen und religiösen Freiheit unbedingt an, nämlich die Absage an jede uneingeschränkte, den Menschen in seiner Ganzheit beanspruchenden Autorität. Diese richtige Einsicht sieht er allerdings abhängig von theokratischen Idealen, da allein Gott es ist, dem solche absolute Autorität zukommt, und da nur dadurch jegliche menschliche Autorität relativiert wird.61 Der Sozialismus stimmt laut Pannenberg mit dem Liberalismus einerseits darin überein, dass die freie Entfaltung eines jeden die Voraussetzung dafür ist, die eigene Freiheit zu entfalten. Andererseits sieht er im Sozialismus die Bedingung hierfür nicht allein in der Förderung der individuellen Freiheit gegeben, da das private Individuum dazu neigt, andere in ihrer Freiheit einzuschränken, besonders durch die Herausbildung von Privateigentum. Daher ist die Abschaffung von letzterem die zentrale Voraussetzung dafür, dass sich jeder frei entfalten kann. Somit erkennt der Sozialismus für Pannenberg ebenso wie der Liberalismus nicht, dass der Mensch auf Selbstdurchsetzung, auf die Einschränkung der anderen zu kosten der eigenen Freiheit angelegt ist. Solche Einschränkung zeigt sich nicht nur in der Ansammlung von privaten Eigentü57 58 59 60 61

Pannenberg, Dokumentation, 639. Vgl. Pannenberg, Sozialismus, 61. Pannenberg, Dokumentation, 640. Pannenberg, Bestimmung, 12. Vgl. Pannenberg, Heiligung, 95f. Eine weitere Kritik Pannenbergs am Liberalismus bezieht sich geschichtlich auf dessen Beitrag zu den Entwicklungen in der Moderne, durch welche die Ökonomie die zentrale Stellung im kulturellen Leben und Bewusstsein einnehmen konnte. Vgl. hierzu Kap. 3.2.

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mern, sie zeigt sich auch im Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung und Macht. Die Tragik des Sozialismus besteht darin, daß nach der sozialistischen Revolution, nach der Vergesellschaftung des Produktivvermögens, nicht jene zwanglose Zusammenstimmung der Individuen zustandekommt, die nach der Theorie eintreten sollte.62

Eine solche Zusammenstimmung muss vielmehr erzwungen werden und dies hat in der Neuzeit immer wieder dazu geführt, dass unter der Herrschaft des Sozialismus die unfreiesten Zustände verwirklicht wurden. Diese Diagnose ist dann auch der Grund für die Kritik Pannenbergs an denjenigen theologischen Strömungen, die im Sozialismus den natürlichen Bündnispartner des Christentums gesehen haben, namentlich vor allem von Jürgen Moltmann und Helmut Gollwitzer vertreten sowie in befreiungstheologischen Entwürfen, bei welchen Pannenberg Anknüpfungen an Moltmann erkennt.63 Pannenberg zufolge erkennt Moltmann den Sozialismus als vorläufige Stufe innerhalb des Prozesses der Befreiung des Menschen an. Gerade die Revolution der Unterdrückten konnte als ein Inerscheinungtreten der eschatologischen Revolution innerhalb des Weltgeschehens gedeutet werden. War hier noch die eschatologische Erwartung die leitende Kategorie, von welcher her die Zustände der Welt gedeutet wurden, ist diese innerhalb der Befreiungstheologie immer mehr zurückgetreten. Theologisch hält Pannenberg entgegen, dass gerade aber der eschatologische Vorbehalt die zentrale Kategorie sein muss, die in politischer Theologie entfaltet werden muss. Christlicher Glaube erwartet vollendeten Frieden und Gerechtigkeit vom Reich Gottes, ein Zustand, der nicht durch gesellschaftliche Umwälzungen verwirklicht werden kann, sondern auf das Handeln Gottes angewiesen ist. Solcher Glaube stellt für Pannenberg keine jenseitige Vertröstung dar, sondern diesseitige Lebensbewältigung zehrt von der Kraft des Jenseits, in dem Wissen darum, dass Gerechtigkeit und Frieden nur so weit realisiert sein können, wie Gott in den Herzen der Menschen herrscht.64 Die sozialistische Überzeugung, welche verwirklichte Humanität bereits von der Abschaffung des privaten Eigentum erwartet, wirkt gegenüber dieser christlichen Perspektive für Pannenberg naiv, aber keinesfalls harmlos; denn er [der Sozialismus/B.A.] hat sich in unserem Jahrhundert mit einem Fanatismus verbunden, der dieser Illusion Millionen zum Opfer gebracht hat, ohne daß sich dadurch an der Herrschaft von Menschen über Menschen und an der damit verbundenen Ausbeutung irgend etwas grundlegend geändert hätte.65

62 63 64 65

Pannenberg, Sozialismus, 62. Vgl. Pannenberg, Sozialismus, 63 und ders., Heiligung, 80–85. Pannenberg, Sozialismus, 63. Pannenberg, Sozialismus, 63.

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Wie den Sozialismus sieht Pannenberg auch den Nationalismus für großes Leid in der Geschichte der Neuzeit verantwortlich. Hier sieht er auch die Kirchen in der Verantwortung, die nicht in der Lage waren, die Enge nationalistischer Ideen aufzuzeigen, sondern sich vielmehr mit diesen arrangierten. „Dabei wären sie, wenn irgend jemand, berufen gewesen, einer Entwicklung entgegenzutreten, die zur gegenseitigen Zerfleischung der europäischen Nationen im Zeichen nationaler Wahnideen geführt hat.“66 Eine solche Entwicklung liegt dabei für Pannenberg nicht erst in der Übersteigerung nationaler Ideen begründet. Vielmehr resultiert sie aus dem Nationalgedanken selbst, denn wo die Nation im Mittelpunkt politischen Denkens steht, ist der Kampf um die Vorherrschaft einer Nation die logische Konsequenz. Demgegenüber würdigt Pannenberg einen Nationalismus, der sich nicht partikular versteht, sondern der der Nation übergeordneten, universalen Zielen verpflichtet ist.67 Ein solches Verständnis identifiziert er vor allem in den USA, dessen historischen Wurzeln im puritanischen Gedankengut der amerikanischen Gründungsväter liegen. „Das puritanische Bewußtsein einer besonderen göttlichen Erwählung des amerikanischen Volkes zu einer Sendung an die ganze Menschheit wirkt trotz aller Wandlungen durch drei Jahrhunderte bis in die Gegenwart weiter.“68 Hat dies immer wieder zu einer Vergötzung der eigenen Nation und so zu einer Verkehrung des universalen Bewusstseins geführt, lassen sich nach Pannenberg gleichzeitig in Amerika immer wieder Stimmen finden, die für die besondere Verantwortung Amerikas gegenüber der Menschheit infolge seiner Verantwortung vor Gott und dem göttlichen Gericht eintreten, wie in der Präsidentschaft Abraham Lincolns oder bei den Brüdern Niebuhr.69 Es handelt sich um einen christlich verstandenen Nationalismus, der sich von der Sendung Gottes an die Menschheit her begreift und sein eigenes Handeln im Lichte des Reiches Gottes versteht. Nationen oder bestimmte nationale Gruppen mit einem solchen Bewusstsein zeigen einen Geist der Sensibilität und Bereitschaft für die in bestimmten historischen Situationen einem Volk zufallende besonderer Verantwortung zum Dienst an der Menschheit und ursprünglich in erster Linie an der christlichen Völkerfamilie mit dem Ziel ihrer Einigung zu dem Gottesvolk, dessen Bestimmung es ist, allen Völkern den Weg zu Frieden und Gerechtigkeit zu weisen.70

Als Höhepunkt eines so verstandenen Nationalismus gilt für Pannenberg trotz seiner militärischen Ausmaße der englische Nationalismus des 16. und 17. Jh., der seinen Höhepunkt unter Cromwell fand. 66 67 68 69 70

Pannenberg, Nationalismus, 44. Vgl. Pannenberg, Nationalismus, 45. Pannenberg, Amerika, 334. Vgl. Pannenberg, Amerika, 335. Pannenberg, Bestimmung, 78.

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Nur unter der Voraussetzung des auf der göttlichen Sendung begründeten Verantwortungsbewusstseins für die gesamte Menschheit sieht Pannenberg es als legitim an, die eigenen nationalen Bräuche und Besonderheiten zu pflegen. Entsteht ein Zusammengehörigkeitsbewusstsein aus solchen geschichtlich gewachsenen Gemeinsamkeiten, ist dieses als eine notwendige Stufe auf dem Weg zu größeren politischen Einheiten anzusehen. Das Bemühen um übernationale Friedens- und Rechtsordnungen muss der Sorge um die eigenen nationalen Besonderheiten übergeordnet sein. Nur in einer solchen Perspektive ist die Pflege dieser von Berechtigung, da jeder übernationaler Zusammenschluss mit kleineren, begrenzteren Gemeinschaften beginnt, die an eine gemeinsame Geschichte und Kultur anknüpfen sowie gemeinsame politische und wirtschaftliche Interessen verfolgen. Für eine solche „Stufenreihe partikularer Zusammenschlüsse“71 kann für Pannenberg die europäische Integration ein Beispiel sein. In christlicher Perspektive muss aufgrund der Hoffnung auf das Reich Gottes Kernkriterium einer politischen Ethik sein, dass jeder Zusammenschluss – ob zu einer Nation oder mehrerer Nationen – eine universale Friedensordnung zum Ziel hat, die die gesamte Menschheit umfasst. Als Kriterium angewandt, besagt er [der Gedanke einer universalen Friedensordnung/ B.A.] zum Beispiel, daß die Idee eines einigen Europa ihre volle ethische Verbindlichkeit nur dann behält, wenn ein einiges Europa sich nicht abschließt gegen die übrige Welt und wenn es in seiner eigenen Kultur und demokratischen Ordnung die Menschlichkeit des Menschen so darzustellen weiß, daß davon eine Anziehungskraft auf die übrige Menschheit ausstrahlt.72

Dementsprechend kann Pannenberg den entscheidenden Prüfstein jeglichen Nationalismus formulieren: Dieser Zusammenhang mit den übergeordneten politischen Zielen der europäischen Einheit und des Weltfriedens bestimmt die Grenze zwischen der berechtigten Pflege nationaler Gemeinsamkeiten und abzulehnenden nationalistischen Übersteigerungen.73

Ausgehend von dieser Sicht auf die europäische Integration tritt Pannenberg 1965 der in der öffentlichen Meinung dominierenden Forderung entgegen, die deutschen Grenzen von 1937 wiederherzustellen.74 Auch wenn diese Verluste weite Teile der Bevölkerung schmerzen, erscheint Pannenberg eine friedliche Rückgewinnung illusorisch. Wird an solchen Forderungen festgehalten, sieht er eine mögliche Einheit mit der DDR in weite Ferne gerückt. Beides anzuerkennen ist daher oberstes politisches Gebot der BRD. 71 72 73 74

Pannenberg, Nationalismus, 46. Pannenberg, Nationalismus, 46. Pannenberg, Nationalismus, 47. Vgl. EKD, Vertriebenen, 25.

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Die säkularisierte Moderne

An unserer Ostpolitik […] wird auf die Dauer sichtbar werden, in welchem Maße die deutsche Politik bereit ist, nationale Belange in eine übergeordnete, gesamteuropäische Konzeption einzugliedern und den Forderungen der Menschlichkeit unterzuordnen.75

3.5

Aufgabe von Theologie und Kirche in der säkularen Moderne

Für Pannenberg ist eine Gesellschaft, die die für den Menschen konstitutive religiöse Dimension im konkreten Lebensvollzug des Einzelnen wie in der zwischenmenschlichen Gemeinschaft negiert, ernsten Gefahren ausgesetzt. Dies zeigt nicht nur die neuzeitliche Geschichte der Ideologien. Viele Menschen sind sich gar nicht bewußt, in wie hohem Maß ihre Unzufriedenheit, das sich ausbreitende Gefühl der Entfremdung, bis hin zu irrationalen Ausbrüchen gegen die anonymen Zwänge der modernen Gesellschaft oder zur Flucht in die Betäubung durch Rauschzustände oder in die Welt irgendeines Aberglaubens ihre Wurzeln im Säkularismus der modernen Kultur haben.76

Daher sieht Pannenberg die Sorge, dass Religion immer mehr an den Rand gedrängt wird und irgendwann verblasst, als haltlos an. Auch wenn Religion im öffentlichen Bewusstsein nicht mehr als konstitutives Thema wahrgenommen wird, bedeutet das nicht, dass sie aus dem Lebensvollzug der Menschen verschwunden ist. Sie ist präsent in der gefühlten Entfremdung und in dem Bedürfnis nach Sinnerfüllung innerhalb der säkularen Kultur; auch wenn vielen nicht bewusst ist, dass dieser Zustand im Fehlen der Religion begründet ist. Schwierig ist in der säkularen Kultur der Übergang von der impliziten Präsenz des religiösen Themas zu einer explizit religiösen Einstellung, weil den Glaubensinhalten, gerade auch denen der christlichen Überlieferung, im säkularen Bewußtsein die objektive Verbindlichkeit abgesprochen wird.77

Explizites Glaubensengagement gilt dem säkularen Bewusstsein als irrational, da es für etwas eintritt, das lediglich in privater Hinsicht als wahr gelten kann.78 Die primäre Aufgabe, die Pannenberg vor dem Hintergrund der skizzierten Herausforderungen an die Theologie formuliert, liest sich wie ein Grundprogramm seines theologischen Wirkens wie es besonders in seinen anthropologischen Werken umgesetzt ist: Aufgabe von Theologie und Christentum ist, 75 Pannenberg, Nationalismus, 47. Dieses Anliegen verfolgt nach Pannenberg auch die Vertriebenen-Denkschrift der EKD (vgl. EKD, Vertriebenen). Indem sie die Versöhnung mit Osteuropa angesichts der Debatte um die Wiederherstellung der Grenzen von 1937 in den Mittelpunkt rückt, weist sie den nach Pannenberg einzigen Weg, der zu einer Wiedervereinigung Deutschlands führen kann. Vgl. Pannenberg, Stellungnahme. 76 Pannenberg, Glauben und Kirchenverfassung, 334. 77 Pannenberg, Christentum, 56. 78 Vgl. Pannenberg, Christentum, 56f.

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das reduzierte Wirklichkeitsverständnis der säkularen Kultur und ihres Menschenbildes in ein größeres Ganzes zu integrieren, der reduzierten Rationalität der säkularen Kultur gegenüber eine größere Weite der Vernunft selbst offenzuhalten, zu der auch der Horizont der Gottesbindung des Menschen gehört.79

Diese zentrale Aufgabe sieht Pannenberg in Theologie und Kirche zu selten umgesetzt. Stattdessen identifiziert er verschiedene Formen der Anpassung an die säkulare Kultur bis hin zu einem entschlossen Gegenkurs. Letzteren sieht Pannenberg auf katholischer Seite im Traditionalismus oder Integralismus gegeben, auf evangelischer Seite in der Theologie K. Barths. Ein solcher Gegenkurs zur säkularen Kultur kann temporär durchaus für Menschen reizvoll erscheinen und sogar für das öffentliche Bewusstsein einer säkularen Kultur selbst. Geschichtlich gilt dies besonders für die Krisenzeiten nach den beiden Weltkriegen, da Menschen in einer Welt, die als vollkommen haltlos erscheint, in autoritären Forderungen und Ansprüchen Halt finden können. Das autoritative Geltendmachen der religiösen Wahrheit imponiert durch den Eindruck der Selbstsicherheit und ist mit seiner Botschaft des Gerichts über eine ohnehin als hinfällig oder zerbrochen erfahrene Welt plausibel.80

In einer funktionierenden Lebenswelt jedoch verlieren solche autoritativen Positionen an Plausibilität, da sie der Alltagswirklichkeit unvermittelt gegenübertreten, indem sie eine gänzlich andere Welt behaupten, in die der Glaubende versetzt werden soll.81 Der fundamentalen Opposition zum säkularen Wirklichkeitsverständnis entgegengesetzt ist die Strategie der Anpassung. Der Glaube soll hier als ein Weg vermittelt werden, der es ermöglicht, sich in dieser Welt zu verstehen, ohne den Sprung in eine gänzlich andere Welt zu vollziehen. Bei einer solchen Strategie sieht Pannenberg das Risiko, zentrale Inhalte des Glaubens aufzugeben, bis dieser so entkernt ist, dass nicht mehr deutlich ist, wieso es ihn zu Lebensvollzug und -deutung überhaupt noch braucht. „Wenn von der Kanzel nur das erklingt, was auch in den Zeitungen steht oder in Psychologiekursen der Volkshochschule gehört werden kann, warum soll man dann noch in die Kirche gehen?“82 Den Grund solcher Anpassung in der kirchlichen Verkündigung sieht Pannenberg in der Verunsicherung der Amtsträger durch ihre säkulare Lebenswelt. Verstärkt wird diese Verunsicherung durch das Theologiestudium. Dessen Aufgabe ist die Befähigung der künftigen Amtspersonen zu eigenständiger Urteilsbildung, damit diese „die Wahrheit der christlichen Lehre selbständig vertreten können.“83 79 80 81 82 83

Pannenberg, Christentum, 75. Pannenberg, Säkularisierung, 138. Vgl. Pannenberg, Christentum, 57f. Pannenberg, Christentum, 59. Pannenberg, Christentum, 60.

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Für solch selbstständige Urteilsbildung ist die Erörterung der aufgeworfenen Probleme durch die historisch-kritische Exegese und die Dogmenkritik unvermeidlich. Die so vollzogene Selbstkritik der eigenen Glaubensüberlieferung, die die Theologie selbst vollzieht und zu der sie nicht von außen genötigt wird, „gehört zu den Ruhmestiteln der modernen Theologie“84. Ihr Ziel ist für Pannenberg aber nicht die Preisgabe jeglichen Inhalts der eigenen Überlieferung, was aufgrund der komplexen Problemlage für Studierende nicht immer durchsichtig ist. „So erklärt sich, daß gerade die zentralen Inhalte des Glaubens, die Auferstehung Jesu, das trinitarische Gottesverständnis, das Inkarnationsdogma, in der Verkündigung oft nur mit verhaltener Stimme vorgetragen werden.“85 Verstärkt wird solche Verunsicherung durch übersteigerte Anpassung an das säkulare Bewusstsein innerhalb der jüngeren Theologiegeschichte, die sich für Pannenberg besonders in vier theologischen Strömungen zeigt: In der theologischen Rede vom Tod Gottes, dem Programm der Entmythologisierung, in Teilen der feministischen Theologie und in der Befreiungstheologie. Sowohl Hegel als auch Jean Paul versuchten laut Pannenberg mit der Rede vom Tod Gottes die säkulare Kultur zu deuten. Diese ist von der Einsicht bestimmt, dass das autonome Ich keiner transzendenten Begründung bedarf und den Dingen als Objekten gegenübersteht. Die säkulare Welt versteht sich als „eine Welt, in der alles Wirkliche endlich, das Endliche absolut ist und so zugleich alles nichtig ist, weil das Endliche seiner Definition nach endet und mithin kein wahrhaftes Sein hat.“86 In einer solchen Welt ist Gott tot, da nur allem Endlichen Wirklichkeit zugesprochen wird. Damit dies möglich ist, muss das endliche Ich des Menschen sich selbst als unendlich setzen und alles, was ihm gegenüber ist, als endlich. Das bedeutet, dass das menschliche Ich den Platz Gottes einnimmt. Soll so mit der Aussage des Todes Gottes die säkulare Kultur in ihrem metaphysischen Wesen beschrieben werden, ist das für Pannenberg durchaus angemessen. Dies erklärt für ihn auch die Faszination dieser Formel auf die Theologie, da sie erlaubt, die Charakteristika der modernen Kultur theologisch zu beschreiben. „Gerade dadurch wird, so mag es scheinen, der Säkularismus des säkularen Bewußtseins aufgehoben.“87 Der Preis der Adaption dieser Formel ist jedoch für Pannenberg zu hoch. Bei Hegel sieht er ihn in der preisgegebenen Transzendenz Gottes. Bestand bei Hegel noch die Erwartung, dass der in der säkularen Kultur gestorbene Gott in der zu erwartenden kulturellen Erneuerung wieder auferstehen wird, wurde er spätestens von Friedrich Nietzsche endgültig für tot erklärt. Daher kann und darf die Theologie die Aussage vom Tod Gottes 84 85 86 87

Pannenberg, Christentum, 60. Pannenberg, Säkularisierung, 140. Pannenberg, Christentum, 61f. Pannenberg, Säkularisierung, 141.

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nur als eine Aussage über die säkulare Kultur und eben nicht als eine Aussage über Gott begreifen. Sie kann höchstens von der Abwesenheit Gottes sprechen, insofern er den Menschen abwesend erscheint, die sich von ihm abgewandt haben.88 Demgegenüber sollte Theologie, wie in der amerikanischen Death-ofGod-Theology in den 1960er Jahren geschehen, nicht einen tieferen metaphysischen Sinn dieser Formel suchen, da dies für Pannenberg eine übersteigerte Anpassung an das säkulare Bewusstsein bedeutet. Die theologische Adaption der Formel wird auch nicht ins Recht gesetzt durch den Bezug zum Tod Jesu am Kreuz. Dieser bedeutet nicht den Tod Gottes, auch wenn die Gottheit Gottes in dem Kreuzesgeschehen auf dem Spiel steht. Gott stirbt aber nicht am Kreuz, sondern behauptet vielmehr seine Gottheit in Jesu Auferweckung.89 Ein weiterer theologischer Entwurf, der durch eine übermäßige Anpassung an das säkulare Bewusstsein charakterisiert ist, ist für Pannenberg das Programm der Entmythologisierung. Generell erkennt Pannenberg eine gegenwärtige Mode, sich dem Mythos hinzuwenden, da dieser einen Ausweg aus der in der säkularen Welt erfahrenen Entfremdung ins Irrationale ermöglicht. Demgegenüber stellt der theologische Entwurf der Entmythologisierung eine Anpassung an den modernen Zeitgeist dar.90 Dabei ging Bultmann für Pannenberg von der Voraussetzung aus, dass der christliche Glaube nur das existentielle Selbstverständnis des Einzelnen betrifft, nicht das Weltbild als solches. Weltbildhafte Glaubensaussagen sind demgegenüber mythologisch. Dies ist für Pannenberg die Preisgabe der Vorstellung einer Schöpfung der Welt ebenso wie der Eschatologie als einer realen Zukunft des Weltendes und der Weltverwandlung, aber auch der Verzicht auf den Realismus des christlichen Osterglaubens und der christlichen Auferstehungshoffnung.91

Dem Verzicht auf weltbildhafte Vorstellungen korrespondiert die Beschränkung des Glaubens auf das existentielle Selbstverständnis und die Subjektivität des Einzelnen.92 Und eben dies sieht Pannenberg als Anpassung an die säkulare Kultur, die der Religion ebenfalls lediglich den Platz des Privaten zuschreibt ohne Anspruch auf objektive Wahrheit ihrer Inhalte. Die theologischen Ursprünge dieser Theologie sieht Pannenberg in der pietistischen Prägung Bultmanns durch seinen Lehrer Wilhelm Herrmann, für den die individuelle Glaubensentscheidung Grundlage jeglicher Wahrheitsgewissheit war und die konkreten Inhalte des

88 89 90 91 92

Vgl. Pannenberg, Christentum, 63f. Vgl. Pannenberg, Christentum, 64f. Vgl. Pannenberg, Christentum, 65f. Pannenberg, Säkularisierung, 143. Im Anschluss an Hegel formuliert Pannenberg, dass ein Rückzug auf die Subjektivität des Einzelnen den Anspruch der Theologie auf objektive Wahrheit preisgibt und die gesellschaftlichen Institutionen der Gottlosigkeit überlässt. Vgl. Pannenberg, Bedeutung, 91.

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Glaubens demgegenüber sekundär anzusehen sind. Auf katholischer Seite entspricht dem laut Pannenberg die Gefahr des fideistischen Supranaturalismus. Eine Abkehr von der Aussage, dass die Welt Schöpfung Gottes ist, hat für ihn weitreichende Konsequenzen. „Wenn Gott nicht in Wahrheit als Schöpfer dieser Welt zu verstehen wäre, dann wäre damit die Wahrheit des Glaubens an den einen Gott überhaupt bedroht.“93 Das bedeutet, dass kein Bereich menschlicher Lebenserfahrung angemessen verstanden werden kann, ohne dessen Bezug zur göttlichen Wirklichkeit zu thematisieren. Eine säkulare Deutung menschlicher Lebenswirklichkeit kann immer nur eine Annäherung an das Verständnis dieser bedeuten, nie deren adäquate Erfassung. Theologie muss daher die Auseinandersetzung um eine den Phänomenen angemessenere Welt- und Lebensdeutung mit der säkularen Kultur suchen.94 In der feministischen Theologie sowie in der Befreiungstheologie sieht Pannenberg nicht eine so grundsätzliche Anpassung wie in den bereits dargestellten theologischen Strömungen, jedoch identifiziert er hier ebenfalls deutliche Zusammenhänge mit gegenwärtigen Tendenzen und Moden.95 Dabei würdigt er das Anliegen der feministischen Theologie, die patriarchalischen Strukturen der eigenen Überlieferung gerade auch anhand der biblischen Tradition zu kritisieren. „Die Geschichte der Kirche ist in mancher Hinsicht hinter die Ansätze zur Gleichrangigkeit der Geschlechter bei Jesus und im Urchristentum zurückgefallen.“96 Unannehmbar scheint ihm jedoch der Versuch, im Rekurs auf die gesellschaftlichen Umbrüche der Gegenwart die Vateranrede Gottes zu revidieren. Diese Anrede ist für ihn nicht in bestimmten Geschlechterrollen begründet, sondern in der Fürsorgefunktion des Familienoberhauptes, welche seine Autorität begründete. Des Weiteren handelt es sich hierbei um keine beliebige Gottesvorstellung, sondern um die Gottesanrede Jesu und ist somit Teil der geschichtlichen Identität des christlichen Glaubens. Die Ansicht, dass traditionelle Gottesbilder durch veränderte soziale Verhältnisse revidierbar sind, stellt demgegenüber eine unzulässige Adaption atheistischer Religionskritik dar, welche menschliche Gottesvorstellungen als reine Projektion menschlicher Verhältnisse kritisiert, und ist daher als Anpassung an den säkularen Zeitgeist zu betrachten.97 Der Befreiungstheologie ist laut Pannenberg unumwunden darin zuzustimmen, dass es soziale Verhältnisse auf der Welt gibt, die von unermesslicher Ungerechtigkeit bestimmt sind und die der Veränderung bedürfen. Er mahnt jedoch an, dass gerade innerhalb der christlichen Theologie bei solcher Veränderung

93 94 95 96 97

Pannenberg, Christentum, 67. Vgl. Pannenberg, Christentum, 67–69. Vgl. Pannenberg, Christentum, 69. Pannenberg, Säkularisierung, 145. Vgl. Pannenberg, Christentum, 69–71.

Aufgabe von Theologie und Kirche in der säkularen Moderne

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nicht uneingeschränkt von Befreiung gesprochen werden kann. Vielmehr muss die tiefe Einsicht zur Geltung gebracht werden, daß die tiefste Knechtschaft des Menschen die Knechtschaft gegenüber den Mächten der Sünde und des Todes ist, von der wir nur durch den Tod Christi im Glauben an Gott und sein Reich und in der Hoffnung auf die Überwindung der Vergänglichkeit in der Auferstehung der Toten befreit werden.98

In dieser Perspektive relativiert sich jede Rede von innerweltlicher Befreiung. Von hier aus können dann auch die Zweideutigkeit jedes politischen Befreiungsprogramms beleuchtet werden, gerade hinsichtlich der Tatsache, dass gerade die Mehrzahl der Diktaturen mit einem solchen Programm Anhänger mobilisiert haben. Da die Welt von der Knechtschaft der Sünde bestimmt ist, bedeutet Befreiung häufig nichts anderes als der Austausch einer Unrechtsherrschaft durch eine andere.99 Verbunden ist dies dann meist mit einer verzerrten Darstellung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse durch diejenigen Gruppierungen, die sich selbst als Befreier verstehen. Als eine solche verzerrte Sicht der gegenwärtigen Verhältnisse begreift Pannenberg auch die marxistische Gesellschaftsanalyse. Übernimmt Theologie diese, passt sie sich unkritisch an eine bestimmte Art des Säkularismus an; eine Art, die selbst durch einen erklärten Atheismus geprägt ist.100 Die biblischen Aussagen zur Befreiung von Tod und Sünde rücken dann zugunsten einer innerweltlichen Befreiung im marxistischen Sinne in den Hintergrund. Dies geht mit der Forderung einher, dass der christliche Glaube und die Hoffnung auf das Reich Gottes sich im gesellschaftlichen Engagement realisieren müssen. Dabei wird jedoch für Pannenberg der Gegensatz von innerweltlichen Handlungsmöglichkeiten und die diese übersteigernde eschatologische Hoffnung bis zur Unkenntlichkeit entstellt. „Weder die Auferstehung der Toten noch das Reich Gottes als Begründung einer Gemeinschaft wahrer Gerechtigkeit und endgültigen Friedens sind in dieser Welt durch menschliches Handeln realisierbar.“101 Christliche Theologie darf nach Pannenberg nicht im Gegensatz zu den dargestellten Entwicklungen infolge einer Anpassung an säkulare Wirklichkeitsdeutungen zentrale Inhalte des Glaubens preisgeben, welche die Transzendenz Gottes und sein Heil betreffen. Sie darf sich aber auch nicht nur auf ihre traditionellen Lehrbestände zurückziehen und eine der säkularen Welt gegenüber gänzlich andere Welt behaupten. Vielmehr muss es ihr gelingen, eine tiefere Vernunft zur Geltung zu bringen, die die oft verkürzten Einsichten der säkularen Moderne übersteigt. Und die in der Lage ist, die positiven Werte, die die moderne 98 99 100 101

Pannenberg, Christentum, 72. Vgl. Pannenberg, Christentum, 71f. Vgl. Pannenberg, Christentum, 72f. Pannenberg, Christentum, 74.

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Kultur hervorgebracht hat, in ein vom christlichen Gottesgedanken fundiertes Wirklichkeitsverständnis aufzuheben, in welches der scheinbare Widerspruch von Autonomie und Theonomie ebenso aufgehoben ist wie die Errungenschaften der Moderne. In einem solchen Wirklichkeitsverständnis müssen auch die konfessionellen Gegensätze überwunden sein, ohne welche der Säkularismus nie entstanden wäre. Diese konterkarieren sowohl den Geist christlicher Liebe wie die Fähigkeit des Christentums, die säkulare Moderne in eine größere Weite der Vernunft zu integrieren. Eine geeinte Kirche, die sich nicht in Uniformität, sondern in gegenseitig anerkennender Pluralität gründet, ist Grundbedingung der Glaubwürdigkeit des Christentums gegenüber der säkularen Welt.102 Durch ein solches Modell der Einheit in der Pluralität würden die zentralen neuzeitlichen Werte der Pluralität und Toleranz als Leitmotive christlicher Ekklesiologie umgesetzt und deren institutionelle Verankerung gesichert. Von hier aus sind Pannenbergs ekklesiologische Bemühungen ein Beitrag, eine solche Einheit in der Vielheit zu erreichen, die Voraussetzung einer Neubestimmung des Verhältnisses von Gesellschaft und Christentum ist. Aber der Bezug zwischen Ekklesiologie und der aufgezeigten Aporien der säkularen Moderne geht über die ökumenische Gestaltung seiner Ekklesiologie hinaus, indem er sie auf die zentralen Kernprobleme moderner Gesellschaften hin konzipiert: 1. Der Sinn- und Heimatlosigkeit des Einzelnen in einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Welt versucht Pannenberg mit einer Ekklesiologie entgegenzutreten, in welcher die Kirche gerade in ihrem gottesdienstlichen Vollzug als eine sakramentale Vermittlung zwischen Gemeinschaft und Individuum verstanden wird. Das Abendmahl, verstanden als Darstellung versöhnter Gemeinschaft, ist der Ort, an welchem das Individuum den ihm zustehenden Platz erhält, die Anerkennung seines Person-Seins einschließlich seines gemeinschaftlichen Bezuges. „Das Wesen der Kirche als eschatologische Gemeinde und so als sakramentales Zeichen der künftigen, im Reich Gottes vollendeten Bestimmung der Menschheit kommt zur Darstellung im eucharistischen Mahl“.103 Darüber hinaus soll die kirchliche Verkündigung dem nachkommen, das Pannenberg als die zentrale Aufgabe von Theologie und Christentum formuliert hat: Die säkulare Wirklichkeitsdeutung für eine weitere Vernunft offenhalten, indem die religiöse Dimension menschlichen Lebens expliziert wird, um so Lebensvollzug und -deutung des Einzelnen zu stärken. In der Verkündigung wie in der Katechese ist die Vermittlung zwischen gegenwärtigem Lebensvollzug und christlicher Überlieferung Aufgabe der Kirche, in der Hoffnung, dass die Vermittlung „ein neues,

102 Vgl. Pannenberg, Säkularisierung, 148f. 103 Pannenberg, III. Reich Gottes, 128.

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erhellendes Licht auf alles andere zu werfen vermag, so daß alle sonstige Erfahrung und Urteilsbildung in einer neuen Perspektive erscheint“104. 2. Bezüglich der Legitimationsdefizite moderner gesellschaftlicher Ordnungen weist Pannenberg der Kirche die Aufgabe zu, durch Vermittlung des religiösen Bezugs von gesellschaftlichem Leben die Grundlagen politischer Ordnung zu stärken. Diese Funktion kann durch Zivilreligionen nicht erfüllt werden, da diese auf einen ökumenischen Minimalkonsens angewiesen sind bzw. in ihnen eine blasse Erinnerung an biblische Gottesvorstellungen präsent ist. Oder aber sie führen zu einer Vergötzung des Staates und leisten so ideologischen Antworten auf die Grundlagenkrise moderner Gesellschaften Vorschub.105 Demgegenüber stärkt die Kirche die politische Ordnung – losgelöst von ihrer konkreten Gestaltung –, indem sie ihren Bezug zum Reich Gottes vermittelt. Da politisches Handeln die Realisierung von Gerechtigkeit und Frieden zum Gegenstand hat, hat es eine ihm innewohnende Beziehung zu christlicher bzw. jüdischer ReichGottes-Hoffnung. Gleichzeitig aber ist jede politische Ordnung unterschieden vom Reich Gottes, da vollkommener Frieden und vollkommene Gerechtigkeit nur durch Gott selbst herbeigeführt werden können. Indem die Kirche diese Unterscheidung zwischen Reich Gottes und politischer Ordnung vermittelt, vermittelt sie den Bezug zwischen beiden und stärkt den legitimatorischen Boden letzterer. Das durch die Religion vermittelte Bewusstsein der Differenz zum Reich Gottes und damit das Bewusstsein eigener Vorläufigkeit stärkt nicht nur die Grundlagen der politischen Ordnung, sondern aller gesellschaftlicher Teilsysteme. „Gerade in solcher Vorläufigkeit könnte die institutionelle Ordnung sich als Darstellung der Ordnung Gottes selber, seines Rechtswillens, begreifen.“106 In konkreten demokratischen Gesellschaftssystemen ist es darüber hinaus Aufgabe von Theologie und Kirche, die Grundwerte wie Freiheit, Gleichheit, Toleranz und Pluralität zu stärken.107 Damit die Kirche aber ihren Beitrag leisten kann gegenüber den Sinndefiziten und Legitimationskrisen moderner säkularer Gesellschaften, ist die Überwindung ihrer Spaltungen zu neuer Einheit unabdingbare Grundlage. Sollte dies nicht gelingen, zeichnet sich schon jetzt das Gericht ab, dem die Christenheit dann anheimfallen wird, und zwar in allen ihren Kirchen: Sie wird ausgeliefert sein an die schlechte Subjektivität eines gesellschaftlich zunehmend belanglosen Glaubens, und sie wird dieser Situation vergebens dadurch zu entrinnen suchen, daß sie sich zum bloßen Echo modischer

104 105 106 107

Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 143. Vgl. Pannenberg, Religionsfreiheit, 65. Pannenberg, Anthropologie, 471. Vgl. u. a. Pannenberg, Gesellschaft, 126–128.

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Die säkularisierte Moderne

Parolen herabwürdigt oder sich in verzweifeltem Gegenzug dazu an die sektiererische Identität ihrer Kirchentümer klammert.108

Abschließend ist festzuhalten, dass Pannenberg ein differenziertes Urteil über die säkulare Moderne fällt. Er legt weder eine Verfallsgeschichte vor noch sieht er die Neuzeit als Verfallsprodukt christlicher Kulturtradition.109 Vielmehr will er ihre positiven Werte und Errungenschaften würdigen und versucht eine Bestimmung von Theologie und christlicher Religion vorzulegen, in welche diese positiven Errungenschaften der säkularen Errungenschaften integriert sind und dadurch gestärkt werden. Ebenfalls legt Pannenberg kein monokausales Erklärungsmodell für die Emanzipation der gesellschaftlichen Welt von ihren religiösen Wurzeln vor. Er spricht den Prozessen gesellschaftlicher Ausdifferenzierung sowie geistesgeschichtlichen Umbrüchen durchaus ihren Anteil an dieser geschichtlichen Entwicklung zu. Jedoch bleiben sie nur damit unzureichend erklärt. Der entscheidende Grund liegt in den konfessionellen Auseinandersetzungen, die infolge der Reformation die Grundlagen der Gesellschaft angriffen.110 Solange diese konfessionellen Gegensätze bestehen bleiben, wird die christliche Religion weiter an öffentlicher Geltung und Plausibilität verlieren. Sie bedarf daher schon um ihrer selbst willen einer kritischen Revision, durch die die neuzeitlichen Werte der Toleranz und Pluralität in ihr Bekenntnis aufgenommen werden. Aber nicht nur um ihrer selbst willen, sondern in erster Linie aus Sorge um den säkularen Staat und seine Werte, denn – mit Lübbe gesprochen – „nach der Aufklärung scheint die Religion selbst zu den kulturellen Bedingungen der politischen Erhaltungsfähigkeit ihrer Errungenschaften zu gehören.“111

108 109 110 111

Pannenberg, Geschichtlichkeit, 38. Vgl. oben, S. 73, Anm. 15. Vgl. Pannenberg, Alternative, 239–241. Lübbe, Religion, 128.

Teil B: Die Kirche und ihre Bestimmung: Vorläufige Darstellung der versöhnten Menschheit

4.

Kirche als vorwegnehmende Darstellung des Reiches Gottes

Die Kirche ist vorauslaufendes Zeichen der künftigen, vollendeten Gemeinschaft im Reich Gottes. Das ist die Kernaussage der Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs, die im Folgenden entfaltet werden soll.1 Bei dieser Bestimmung der Kirche versteht sich Pannenberg dezidiert in der Tradition des zweiten Vatikanums und der Weltkirchenkonferenz in Uppsala 1968, welche die Kirche als Zeichen einer zukünftig geeinten Menschheit im Reich Gottes bestimmen.2 Die Impulse und Diskussionen, die hiervon in der Ökumene ausgingen, bilden den Hintergrund, auf welchem Pannenberg diese Bestimmung interpretiert. Für ihn war die Auslegung der Formel, dass die Kirche Zeichen einer geeinten Menschheit ist, davon bestimmt, ein wirkmächtiges Zeichen zu sein; das heißt ein Zeichen, von welchem wirkmächtige gesellschaftliche Impulse ausgehen auf dem Weg zur Einheit der Menschheit. Diese Auslegung prägte den von Pannenberg seit 1966 ausgemachten Säkular-Ökumenismus, der mit der Genfer Konferenz über Kirche und Gesellschaft begann. Die Kirche sollte ein entscheidender Faktor werden auf dem Weg zu einer geeinten Menschheit in einer Weltgesellschaft. Daher sah man es nach Pannenberg als Aufgabe der Kirche, sich gegen bestehende Gegensätze in Ökumene und Politik zu engagieren. Der Kampf gegen Rassismus, gegen Sexismus […], der Kampf gegen die Erstarrung der Gegensätze von Reich und Arm und für soziale Gerechtigkeit, gegen wirtschaftliche Abhängigkeit nicht nur von einzelnen, sondern auch von ganzen Ländern, hat in den folgenden Jahrzehnten einen großen Teil der Arbeit des Weltkirchenrates bestimmt.3

Ein solcher Einsatz sollte kennzeichnend sein für das Zeugnis der Kirchen in der Welt. Pannenberg steht einer so verstandenen Deutung der Kirche als Zeichen einer geeinten Menschheit skeptisch gegenüber. Er verfolgt eine andere Deutung, wie sie in Faith and Order seit der Tagung in Löwen 1971 immer wieder vertreten

1 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 43f. 2 Vgl. z. B. Pannenberg, Reformation, 267. 3 Pannenberg, Entwicklungen, 23f.

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Kirche als vorwegnehmende Darstellung des Reiches Gottes

wurde. Pannenberg will die Bestimmung der Kirche als Zeichen der geeinten Menschheit so verstanden wissen, daß die Kirche das Zeichen der künftig durch Gott im Reiche Gottes hervorzubringenden neuen menschlichen Gemeinschaft, der Einheit der Menschheit im Reiche Gottes sei – Zeichen einer Bestimmung der Menschheit, die nicht von Menschen in dieser Welt der Sünde und des Todes vollständig realisiert werden kann, aber gerade darum sakramentales Zeichen dieser verheißenen Zukunft.4

Für Pannenberg ist die Einheit der Menschheit auf Erden nicht herzustellen, sondern wird durch Gott in seinem künftigen Reich realisiert sein. Die Kirche ist Zeichen dieses Reiches und als solches wirksames Zeichen, da sie den Menschen in ihrem gottesdienstlichen Vollzug teilhaben lässt an seiner eschatologischen Bestimmung. Der wichtigste Beitrag der Kirche für die Einheit der Menschheit ist für Pannenberg nicht die Teilnahme an politischen Aktivitäten, sondern ihre eigene Einheit.5 Pannenbergs theologische Darlegung der Kirche und ihre Implikationen und Konsequenzen sollen im Folgenden dargestellt werden. Dabei ist auszugehen vom Grundstein der Ekklesiologie Pannenbergs, dem Verhältnis von Kirche und Reich Gottes (Kap. 4.1). Im Anschluss daran ist der Frage nachzugehen, worin die kirchliche Gemeinschaft begründet ist (Kap. 4.2). Eng mit dieser Frage verbunden ist für Pannenberg die Taufe, denn diese begründet, gemeinsam mit dem Bekenntnis, die Gemeinschaft des Einzelnen mit Jesus Christus und so die Gemeinschaft untereinander (Kap. 4.3). Die so in Taufe und Bekenntnis begründete Gemeinschaft der Kirche wird in ihrem Wesen im eucharistischen Gottesdienst sichtbar und darin erneuert: Hier ist die Kirche am dichtesten wirksames Zeichen der geeinten Kirche im Reich Gottes (Kap. 4.4). Auf die Interpretation des Abendmahlsverständnisses Pannenbergs folgt die Darlegung seiner Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat, deren Wesen nach Pannenberg jeweils vom Reich Gottes her zu bestimmen ist (Kap. 4.5).

4.1

Reich Gottes und Kirche

Pannenberg begreift es nicht als Aufgabe der Ekklesiologie, lediglich die empirisch gegebene Sozialform Kirche zu deuten. Ein solches Vorgehen birgt für ihn die Gefahr einer ideologischen Verklärung der kirchlichen Zustände. Die Frage, die in der Ekklesiologie zu verhandeln ist, ist vielmehr, wozu die christliche Kirche nötig ist. Welchen Zweck hat sie, der von ihr unterschieden ist und an 4 Pannenberg, Entwicklungen, 24. 5 Vgl. Pannenberg, Erneuerung, 119–122. Zur gesellschaftlichen Relevanz der Einheit der Kirche vgl. bes. Kap. 5.2.4.

Reich Gottes und Kirche

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welchem bestehende Kirchlichkeit gemessen und beurteilt werden kann? „Das Reich Gottes ist historisch wie sachlich der Zweck von so etwas wie Kirche“6. Dies ist die Kernaussage der Ekklesiologie Pannenbergs, die im Folgenden interpretiert werden soll. Sie deutet auf den historischen Grund des Zwecks der Kirche hin: Die Gegenwart des zukünftigen Reiches Gottes in Verkündigung und Handeln Jesu. Dadurch konstituiert, ist Kirche als eschatologische Gemeinschaft die vorwegnehmende Darstellung der im Reich Gottes vollendeten Menschheit. Das bedeutet für die Ekklesiologie, dass „sie den Begriff der Kirche von vornherein auf den Horizont der Zukunft des Gottesreiches bezieht, als dessen vorläufige Darstellung die Kirche existiert.“7 Dieser Gesamtzusammenhang von Kirche und Reich Gottes soll im Folgenden entfaltet werden, ausgehend von der Reich Gottes Verkündigung Jesu und seinem in diesem Horizont stehenden Wirken. Um die Botschaft Jesu vom Reich Gottes zu verstehen, ist es für Pannenberg notwendig, diese aus ihrem Kontext heraus zu begreifen.8 Dabei bildet die jüdische Apokalyptik den Hintergrund der Botschaft Jesu. Im Danielbuch identifiziert Pannenberg die Vorstellung, dass die Weltreiche im Eschaton vom Gottesreich abgelöst werden, in welchem Gott selbst herrschen wird und das gerade dadurch wahrhaft menschlich ist.9 Anders als in den menschlichen Weltreichen, die aus den Chaoswassern emporsteigen, herrschen im Reich Gottes Gerechtigkeit und Frieden, da Herrschaft Gottes gleichbedeutend damit ist, dass sein Rechtswille zur Durchsetzung gelangt ist.10 Die eschatologische Hoffnung auf die Herrschaft des göttlichen Rechts im Reich Gottes bildet für Pannenberg den Kern der Vorstellung der jüdischen Apokalyptik, in dessen Tradition er auch die Verkündigung Jesu verortet. „Die Herrschaft des biblischen Gottes hat den spezifischen Charakter einer Herrschaft des Rechtes.“11 Dass sich eine solche Hoffnung auf die eschatologische Herrschaft Gottes samt der damit realisierten Aufrichtung des Rechts in der jüdischen Apokalyptik und der jesuanischen 6 Pannenberg, Thesen, 9. (Hervorhebung im Original.) 7 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 33. 8 Dass Pannenberg die Botschaft Jesu vor dem Hintergrund des damaligen Judentums begreifen will, ist für ihn eine Konsequenz der von Intoleranz und Leid geprägten Geschichte von Kirche und Judentum. Er will das Verhältnis beider neu bestimmen, ohne den christlichen Anspruch auf die Endgültigkeit der Offenbarung Gottes in Jesu Christi aufzugeben. „Darum versuchen wir heute, das Christentum aus dem Zusammenhang jüdischer Überlieferung neu zu verstehen und gerade auch das Besondere des Christentums innerhalb dieses Rahmens zu begreifen.“ Pannenberg, Das Besondere, 19. Dieses Anliegen prägt auch Pannenbergs Verständnis der göttlichen Erwählung, die Gegenstand von Kap. 6 ist, und seine in diesem Rahmen in Kap. 6.2.1 dargestellte Verhältnisbestimmung von Kirche und Israel als dem neuen und dem alten Gottesvolk. 9 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 64. 10 Vgl. Pannenberg, Gesellschaft, 116. (Zum Hintergrund der rechtstheologischen Ausführungen Pannenbergs vgl. oben, S. 82, Anm. 47.) 11 Pannenberg, Thesen, 11.

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Verkündigung mit der Erwartung kosmischer Umstürze verband, zeigt für Pannenberg die realistische Einsicht, dass unter irdischen Bedingungen das Recht nie vollkommen realisiert sein wird. Der Zusammenhang dieser zunächst jüdischen Hoffnung auf die eschatologische Gottesherrschaft mit der Frage des Rechts innerhalb einer Gesellschaft zeigt die allgemeinmenschliche Bedeutung dieser Hoffnung. Denn wie bereits ausgeführt, hat es das Recht für Pannenberg mit der Bestimmung des Menschen zu tun, indem es die Bedingungen des Lebens in einer Gesellschaft formuliert.12 Die in der säkularisierten Moderne verlustig gegangene Autorität des Rechts kann nur dadurch neu begründet werden, dass eine konkrete Rechtsordnung als eine antizipierende Repräsentation der Bestimmung des Menschen verstanden wird. So ist sie der menschlichen Herrschaft und damit der Beliebigkeit entzogen, da sie sich auf eine dem Menschen vorgegebene Wirklichkeit bezieht. „Sie leitet sich her von absoluter, d. h. der menschlichen Subjektivität vorgegebener Wahrheit, die das Thema der Religionen bildet.“13 Indem eine konkrete Rechtsordnung sich vom Bewusstsein der Abhängigkeit von der ihr vorgegebenen Wirklichkeit her begreift und damit um die eigene Vorläufigkeit weiß, erfüllt sie die Bedingung der eigenen Rechtlichkeit.14 Und eben hier sieht Pannenberg den möglichen Beitrag der christlichen Religion zur gesellschaftlichen Rechtsgestaltung: Aufgrund des ihr eigenen Bezugs zum Reich Gottes kann sie das Bewusstsein der Vorläufigkeit des gültigen Rechts vermitteln und darin dessen Rechtlichkeit und Autorität stärken. Um diesen Gedanken vollends zu begreifen, muss vorab jedoch seine Verhältnisbestimmung von Kirche und Reich Gottes, in welchem aufgrund der Herrschaft des Rechts die menschliche Bestimmung verwirklicht sein wird, weiter durchdrungen werden wie auch die Form der Gegenwart des Gottesreiches innerhalb der Kirche. Wie in der jüdischen Apokalyptik erwartet auch Jesus die Realisierung der menschlichen Bestimmung vom Gottesreich, in welchem Frieden und Gerechtigkeit herrschen werden. Das Reich Gottes wird dabei wie im Danielbuch als Tat Gottes erwartet; es kann nicht von den Menschen heraufgeführt werden. Es ist die Zukunft dieser Welt, die unmittelbar bevorsteht.15 Wie aber verhält sich die Zu12 13 14 15

Zum Recht vgl. Kap. 2.2.4 und Kap. 3.4. Pannenberg, Thesen, 12. Vgl. Pannenberg, Theologie des Rechts, 35. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 2, 366f. Dabei ist für Pannenberg der apokalyptische Rahmen der Botschaft nicht bloß als zeitbedingt und heute überkommen zu begreifen. Vielmehr sind die überlieferten apokalyptischen Inhalte daraufhin zu befragen, wie und ob sie mit heutiger Lebens- und Wirklichkeitserfahrung zu vereinen sind. So hat dann z. B. die von der Apokalyptik vertretene Auffassung, dass göttliche Herrschaft Herrschaft des Rechts bedeutet nach Pannenberg keinerlei Aktualität verloren und kann auch heute noch als adäquate Deutung Gottes nachvollzogen werden. Eine Aufgabe der Apokalyptik und deren Abtun als überkommene Traditionen hätte dann für Pannenberg auch weitreichende Kon-

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künftigkeit der Gottesherrschaft mit den jesuanischen Aussagen zu dessen Gegenwart? Pannenberg sieht das Urteil von Johannes Weiß als immer noch gültig an, dass von der Sache wie von der Quantität her die Aussagen über die Zukünftigkeit des Gottesreichs im Vordergrund stehen. Gegenwart und Zukunft der Gottesherrschaft bilden keinen Widerspruch, vielmehr muss die Zukunft selbst der Ausgangspunkt dafür sein, deren gegenwärtige Wirksamkeit zu verstehen. Sie ist „der dynamische Grund ihres Gegenwärtigwerdens“16. Ein Verständnis hierfür bietet laut Pannenberg Jesu Wirken selbst, da es durch den Aufruf bestimmt war, sich vollkommen auf die angekündigte Gottesherrschaft einzulassen. Dies zeigt sich z. B. in Lk 9,62, wo Jesus fordert, alle Anliegen und Aufgaben der nahen Gottesherrschaft unterzuordnen. Oder in den Gleichnissen in Mt 13,44–46, in welchen das Gottesreich zum einen mit einem gefundenen Schatz im Acker verglichen wird, für den der Finder alles veräußert, zum anderen mit einer kostbaren Perle, für die ein Kaufmann alles verkauft.17 Den traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Vorstellung von der Priorität der Gottesherrschaft vor allem anderen sieht Pannenberg in dem ersten Gebot des Dekalogs und der damit einhergehenden Einzigkeit Jahwes. Im Anschluss an Werner H. Schmidt sieht er die Entwicklung der Idee der Königsherrschaft selbst verbunden mit der Einzigkeit Jahwes und dessen Eiferheiligkeit. Aus der Einzigkeit Jahwes folgt dann auch in Dtn 6,4f die Forderung nach der ungeteilten Hinwendung des Menschen zu Gott. Pannenberg sieht es daher auch als sehr bedeutend an, dass Jesus auf die Frage nach dem höchsten Gebot Dtn 6,4f und nicht Ex 20,3 zitiert hat, da im Deuteronomium die Forderung Gottes nach der alleinigen Hinwendung zu ihm nicht mit der Herausführung aus Ägypten, sondern mit der Einzigkeit Jahwes begründet wird. Die Folge der Hinwendung des Menschen aber ist, dass Gott so bereits gegenwärtig in dessen Leben herrscht. Somit ist die Dynamik der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu, durch welche dieses zukünftige Reich bereits jetzt Gegenwart werden kann, „in der Einzigkeit Gottes als dem Inhalt dieser Zukunft begründet und als Wirkung des von ihr ausgehenden Anspruchs auf das sequenzen, worauf er auch öffentlich insistiert hat: „‚Kann‘, so fragt Pannenberg, ‚die apokalyptische Vorstellungswelt auch für uns noch verbindlich sein? Man darf diese Frage jedenfalls nicht verneinen, ohne sich über ihr Gewicht klar zu sein. Mögen die apokalyptischen Vorstellungen vom Weltende auch in vielen Einzelheiten hinfällig sein, so könnten doch ihre Grundzüge, die Erwartung einer Auferstehung der Toten in Verbindung mit Weltende und Endgericht, auch für uns wahr bleiben. Jedenfalls ist die urchristliche Begründung des Glaubens an Jesus als den Christus Gottes, an seine Erhöhung, seine Identifizierung mit dem Menschensohn, so wesentlich an diese Grundzüge der apokalyptischen Enderwartung gebunden, daß man sagen muß: Wenn die apokalyptische Erwartung uns gänzlich unvollziehbar sein sollte, dann ist uns auch der urchristliche Christusglaube nicht mehr vollziehbar.‘“ Harenberg, Jesus, 90. 16 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 2, 369. 17 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 2, 369.

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gegenwärtige Leben des Geschöpfes zu verstehen.“18 So stellt sich der vermeintliche Widerspruch zwischen der Zukünftigkeit der Herrschaft Gottes und deren Gegenwart im Lichte der Verkündigung Jesu für Pannenberg als haltlos dar.19 Mit der Gegenwart des Reiches Gottes hat der Glaubende, der sich diesem hinwendet, auch Anteil am eschatologischen Heil. Diejenigen, die sich dem Anruf zur Nähe der Gottesherrschaft öffnen, gehen in das Reich Gottes ein und sind so des Heils teilhaftig. Nach dem Urteil Pannenbergs erblickt Jesus in solcher Eröffnung des Heils durch die Verkündigung der nahen Gottesherrschaft „den Erweis der das Verlorene suchenden Liebe Gottes […], die der Güte des Schöpfers entspricht, der seine Sonne scheinen läßt über Gut und Böse (Mt 5,45).“20 Gerade die Gleichnisse vom Verlorenen in Lk 15 zeigen noch einmal die Dynamik der Reich-Gottes-Verkündigung: Nach Lk 15,1–3 sollen diese Gleichnisse die Praxis Jesu erklären, sich den Sündern und Zöllnern zuzuwenden, also den aus der religiösen und gesellschaftlichen Gemeinschaft Ausgeschlossen. Diese Hinwendung Jesu zeigt die Heilswirkung der Annahme der Botschaft Jesu vom nahen Gottesreich. „Wer auf die Ankündigung der Gottesherrschaft eingeht, der ist kein Ausgeschlossener mehr, sondern hat an ihrem Heil Anteil.“21 Die Annahme der jesuanischen Botschaft hebt die Trennung von Gott auf und schenkt so Heil. Die Tischgemeinschaft mit Sündern und Zöllnern ist somit für Pannenberg dichtester Ausdruck der Liebe Gottes, die das Verlorene rettet und so das Reich Gottes anbrechen lässt. Der Ruf Jesu, sich der Zukunft des Gottesreiches zuzuwenden und alles diesem unterzuordnen, erging an das Volk Israel. Er diente also nicht der Gründung einer neuen Religionsgemeinschaft oder gar der Kirche. Die Berufung des Zwölferkreises wertet Pannenberg nicht als Gründung einer neuen Kerngemeinde, sondern als eine eschatologische Symbolhandlung, „als Symbol für die eschatologische Wiederherstellung Israels als Zwölfstämmevolk in der Zukunft der Gottesherrschaft.“22 Da aber nur eine Minderheit des jüdischen Volkes die Botschaft von der nahen Gottesherrschaft annahm, war eine Trennung die zwangsläufige Folge. Der Ruf Jesu in die Herrschaft Gottes wurde so zum kritischen Prinzip, welches den Übergang markierte von der Sendung Jesu an das jüdische Volk zur Gründung der nachösterlichen christlichen Gemeinde. Dadurch wurden die Jünger Jesu, nach der Ablehnung der Osterbotschaft durch die Mehrheit des jüdischen Volkes, zum Kern einer neuen Gemeinschaft; eine Ge18 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 2, 370. 19 Zur Frage der Zukünftigkeit und Gegenwart des Reiches Gottes vgl. Tupper, Pannenberg, 135–137. 20 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 2, 371. 21 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 2, 372. 22 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 42.

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meinschaft, die dann durch die Aufnahme der Heiden endgültig den Zusammenhang des jüdischen Volkes überschritt und sich dadurch definitiv ihm gegenüber verselbstständigte als Darstellung nun nicht mehr nur der Bestimmung Israels, sondern der Bestimmung der ganzen Menschheit zu einer neuen und endgültigen Gemeinschaft im Reiche Gottes.23

Hier liegt also für Pannenberg der geschichtliche Zusammenhang zwischen der Kirche und dem Reich Gottes. Die Annahme der Botschaft Jesu vom nahen Gottesreich bzw. dessen Nichtannahme führte zur Gründung einer neuen Gemeinschaft. Jedoch sind Reich Gottes und Kirche keinesfalls identisch.24 Es herrscht auch keine Teilidentität zwischen beiden, ja Kirche kann nicht einmal als dessen unvollständige Anfangsgestalt bezeichnet werden. Auch für die Jünger, die sich dem Anspruch der Gottesherrschaft unterordneten, blieb deren Zukünftigkeit unberührt. Der Jüngerkreis und die Kirche sind „nur vorlaufendes Zeichen der Gottesherrschaft, allerdings so, daß ihre Zukunft darin schon gegenwärtig ist, wenn auch noch nicht in ihrer Vollgestalt.“25 Der Begriff des Zeichens unterstreicht noch einmal die Nicht-Identität von Kirche und Reich Gottes und zeigt deren Verhältnis. Es ist einem Zeichen immanent, dass dieses von der zu bezeichnenden Sache verschieden ist; es weist über sich hinaus. Das heißt, dass die Sache nur durch die Unterscheidung davon im Zeichen präsent ist.26 Analog 23 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 42. 24 Immer dort wo die Kirche für sich beansprucht hat, mit dem Reich Gottes identisch zu sein, sind die Spuren des Reiches Gottes in der Geschichte außerhalb der Kirche verlaufen und haben sich gegen ihren Widerstand behauptet. Vgl. Pannenberg, Theologie, 36. 25 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 43f. 26 Gleiches gilt auch für den Symbolbegriff, welchen Pannenberg äquivalent zum Begriff des Zeichens gebraucht. Lange vertritt die Auffassung, dass Pannenberg die Zeichenfunktion der Kirche nicht durchhält, sondern ihr vielmehr „materiale Repräsentationsfunktion“ (Lange, Religion, 206. Hervorhebung im Original.) zuschreibt. Nach Lange geht dies insofern über eine bloße Zeichenfunktion hinaus, als dass die Kirche Anteil gewinnt an dem, was sie repräsentiert. Beides hält er für nicht vermittelbar. In Pannenbergs Verständnis der Eucharistie zeigt sich Lange dann endgültig, dass der Zeichenbegriff aufgegeben wird, da hier Vergegenwärtigung der Bestimmung des Menschen das Ziel ist und die Figur der Selbstunterscheidung, also der Unterscheidung der Gegenwart der menschlichen Bestimmung in der Eucharistie von ihrer Verwirklichung im Reich Gottes, aufgegeben wird. Vgl. Lange, Religion, 206–208. Gegen letzteres ist einzuwenden, dass Pannenberg selbst in seiner Interpretation der Gegenwart Christi in der Eucharistie seine Ausführungen zum Zeichenbegriff heranzieht. So ist das eucharistische Mahl von Christus unterschieden, der sich in diesem selbst vergegenwärtig, und somit von der in Christus angebrochenen Verwirklichung des Menschen. Vgl. zur Frage der Gegenwart Christi im Abendmahl Kap. 4.4.2. Bezüglich der Kritik Langes am Zeichenbegriff Pannenbergs bleibt anzumerken, dass Lange meines Erachtens eine Begründung dieser unterlässt. Er trifft Pannenberg, indem er ausführt, dass dieser Zeichen so versteht, dass in diesem das von ihm Unterschiedene, das es anzeigt, gegenwärtig ist. Damit ist für Pannenberg auch das Sein des Zeichens verändert. Es ist etwas anderes als es ohne Zeichenfunktion wäre. Warum dies für Lange über den Begriff des Zeichens und seine Funktion hinausgeht, bleibt unklar.

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zur Verkündigung Jesu, für welche Pannenberg ebenfalls die Unterscheidung von Gott und dessen Reich als konstitutiv ansieht, muss auch die Kirche sich von dem Gottesreich unterscheiden, damit es in ihr präsent sein kann. Nur in der geistlichen Armut und Demut solcher Selbstunterscheidung ist sie der Ort, an dem durch die Kraft des heiligen Geistes die eschatologische Zukunft der Gottesherrschaft schon gegenwärtig zum Heil der Menschen wirksam ist.27

Das hat zur Konsequenz, dass die Kirche sich ihrer Partikularität gegenüber der Universalität des Gottesreiches bewusst sein muss und auf jegliche Exklusivität zu verzichten hat, will sie erkennbar Zeichen der Heilszukunft aller Menschen sein. Dementsprechend definiert Pannenberg dann auch Häresie: Eine christliche Lehre ist dann als häretisch anzusehen, wenn sie sich in ihrer Teilwahrheit verschließt und sich so selbst verabsolutiert.28 Die Kirche ist Zeichen des Reiches Gottes und somit Zeichen einer in Frieden und Gerechtigkeit geeinten Menschheit; sie stellt diese dar im irdischen Weltzusammenhang. Allein hierin findet sie ihre Berechtigung. „Es gibt keinen anderen Grund für die Existenz der Kirche als die Darstellung der zukünftigen Gemeinschaft der Menschen im Reiche Gottes, das zu verkündigen Jesus gekommen ist.“29 Sie kann dies nur sein, indem sie sich strikt unterschieden weiß

27 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 45. 28 Vgl. Pannenberg, Eschatologie, 240. In Systematische Theologie Bd. 3 nimmt Pannenberg eine etwas andere Häresiebestimmung vor. Er fordert hier eine genaue Abgrenzung von Häresie und Apostasie. Diese lediglich quantitativ zu unterscheiden, das heißt Häresie als Ablehnung nur einzelner Glaubenswahrheiten und Apostasie als Ablehnung des gesamten Glaubens, sieht Pannenberg als unzureichend an. Dies verkennt „die organische Einheit der Glaubenswahrheit“. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 449. Historisch betrachtet sind Irrlehren nicht nur als Ablehnung der kirchlichen Lehre charakterisiert, sondern durch von letzterer abweichende Neuformulierungen. Ohne solche Abweichungen aber kann es keine Fortschritte in der Deutung des christlichen Glaubens geben, die für Pannenberg aufgrund der Vorläufigkeit jeglichen Erkennens notwendig ist. (Die immer notwendige neue Auslegung des Glaubens wird ausführlich Gegenstand von Kap. 5.2.2 sein.) Für Pannenberg ist bei der Bestimmung des Häresiebegriffs darüber hinaus der engen Verflechtung von Häresie, Schisma und Apostasie Rechnung zu tragen. Diese sieht er in folgender Definition zum Ausdruck gebracht: „Häresien sind verhüllte, auch ihren Urhebern nicht voll bewußte Apostasie.“ Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 451. (Hervorhebung im Original.) Nur dann und nicht bei Abweichung von einzelnen Lehrauffassungen ist eine Spaltung unvermeidlich. Die Bereitschaft zur Abspaltung ist demgegenüber lediglich als Indiz zur Häresie zu beurteilen. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 448–452. 29 Pannenberg, Spiritualität, 31. Somit ist der Bezug zum Gottesreich für Pannenberg in der Kirche ein anderer als der Bezug im Volk Israel. Letzteres gründete sich als Gottesvolk nicht auf der anbrechenden Herrschaft Gottes über die Menschen, sondern hat gerade in seiner Partikularität als Volk eine Funktion, die über es hinausgeht auf die gesamte Menschheit. Die Kirche hingegen ist nichts anderes als das antizipatorische Zeichen des Gottesreiches. Daher war für Pannenberg auch der Schritt des Urchristentums über die partikularen Institutionen des jüdischen Volkes hinaus zur Einbeziehung auch der Heiden eine gänzlich logische

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vom Reich Gottes. In solcher Selbstunterscheidung ist die Kirche Darstellung der Heilszukunft Gottes, dergestalt, dass die göttliche Heilszukunft bereits in ihr gegenwärtig ist, besonders in ihrem gottesdienstlichen Leben. Gerade der Begriff der Darstellung zeigt die Passivität und den Vollzugscharakter der ekklesialen Wesensbestimmung Pannenbergs. Die Passivität liegt darin begründet, dass die Kirche etwas Vorgegebenes darstellt. Sie erschafft sich nicht selbst, sondern bleibt eine Empfangende; Empfangende der versöhnten Zukunft Gottes, die sich in ihr vorwegereignet.30 Am sichtbarsten tritt solche zeichenhafte Vorwegereignung im gottesdienstlichen Leben der Kirche hervor: Das [Zeichenhaftigkeit der Kirche/B.A.] kommt besonders im Zentrum ihres gottesdienstlichen Lebens, in der Feier des Herrenmahls zum Ausdruck, die die Mahlpraxis Jesu fortsetzt als Antizipation der im Mahl dargestellten Gemeinschaft der Menschen in der Heilszukunft der Gottesherrschaft.31

Indem Kirche als ein solches Zeichen verstanden wird, ergeben sich für Pannenberg erste Grundbestimmungen für ihr Verhältnis zum Staat. Denn auch die politische Ordnung einer Gesellschaft ist konstitutiv auf das Reich Gottes bezogen, da sie im Zusammenleben der Menschen Frieden und Recht verwirklichen will. Dieser Bezug gilt für jede Staatsform, egal wie weit in ihr auch Frieden und Gerechtigkeit realisiert sein mögen und egal ob die konkrete Ordnung und ihre Amtsträger sich dieses Bezugs bewusst sind.32 Damit will Pannenberg nicht behaupten, dass es politischem Handeln möglich sei, Gerechtigkeit und Frieden vollkommen zu realisieren. Gerade die im Christentum ausgeprägte Einsicht, dass diese erst unter der Herrschaft Gottes im Eschaton voll verwirklicht sein können, zeigt die Begrenzung jedweder politischer Ordnung. „Nur in der Aufgabe politischer Ordnung besteht die Beziehung zum Gottesreich, nicht in der Gestalt ihrer Realisierung.“33 Die Kirche nun hat es mit derselben menschlichen Lebensthematik zu tun, indem Pannenberg sie als Darstellung des Gottesreiches begreift. Sie relativiert daher schon aufgrund ihrer bloßen Existenz jegliche Staatsform und erinnert sie darin, dass letztere ihrer Aufgabe immer nur vorläufig gerecht werden kann.34 Die konkrete Ausgestaltung der Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche durch Pannenberg wird unter Kap. 4.5 eingehend thematisiert. Sie soll den

30 31 32 33 34

Konsequenz. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 44 sowie Pannenberg, Dogmatische Thesen, 109–111. Zur Zukünftigkeit allen Seins und wie Pannenberg die Gegenwart dieser Zukunft denkt vgl. besonders Kap. 4.1.1 und Kap. 5.1.1. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 44. Inwiefern Pannenberg das Abendmahl als sichtbarstes Wesen der Kirche begreift, wird in Kap. 4.4 Gegenstand der Darstellung sein. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 62. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 62. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 64–66.

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Kirche als vorwegnehmende Darstellung des Reiches Gottes

Schlusspunkt der Wesensbestimmungen der Kirche von ihrem Bezug zum Reich Gottes her bilden, welche Gegenstand des vierten Kapitels sind. Hier setzt die vorliegende Interpretation der Ekklesiologie Pannenbergs einen anderen Akzent als Pannenberg selbst. Dieser verhandelt in den die gesamte Ekklesiologie umfassenden Arbeiten das Verhältnis von Staat und Kirche bereits zu Beginn, im Anschluss an die Erörterung des Verhältnisses von Kirche und Reich Gottes, aus welchem ersteres folgt.35 Dass und inwiefern sich das Staatskirchenverhältnis für Pannenberg aus dem Bezug der Kirche zum Gottesreich ableitet, wurde hier bereits dargelegt. Dass dieses erst im Anschluss an Pannenbergs Abendmahlsverständnis ausführlich interpretiert wird, ist mit Pannenberg selbst begründet, denn es ist das Abendmahl als Zentrum der Kirche, aus welchem sich der Bezug von Kirche und Gesellschaft ergibt: Die sakramentale Teilhabe an der Gottesherrschaft in der Feier des Mahles Jesu und in der Gliedschaft am Leibe Christi hat es mit derselben menschlichen Lebensthematik zu tun wie die politische und rechtliche Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen.36

Im Folgenden soll der Bezug der in der kirchlichen Gemeinschaft versammelten Christen zu der Aussage Pannenbergs bestimmt werden, dass die Annahme bzw. Nichtannahme der Botschaft vom Reich Gottes die kirchliche Gemeinschaft begründet. Es geht um die Frage, worin die Gemeinschaft der Christen untereinander ihren Grund hat. Bevor dies geschehen kann, bedarf es eines Exkurses bezüglich der Ausführungen Pannenbergs zum Begriff der Antizipation, um die Bedeutung seiner Bestimmung von Kirche als antizipativer Darstellung des Reiches Gottes erfassen zu können.37

4.1.1 Zum Begriff der Antizipation innerhalb der Theologie Pannenbergs Der Antizipationsbegriff 38 ist nicht nur innerhalb der Ekklesiologie, sondern in dem gesamten theologischen Entwurf Wolfhart Pannenbergs von entscheidender Bedeutung. Er selbst bezeichnet diesen in Auseinandersetzung mit Eberhard 35 Vgl. Pannenberg, Thesen, 11–20 sowie ders., Systematische Theologie Bd. 3, 40–113. 36 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 65. 37 In dieser Arbeit ist der Begriff bereits ein Mal innerhalb der Abhandlungen zu Pannenbergs Identitätslehre verwendet worden (vgl. oben, S. 44), allerdings nicht in dem für Pannenbergs Entwurf fundamentalen Sinn. Für seine Ekklesiologie ist ein Verständnis des von ihm verwendeten Antizipationsbegriffs unabdingbar. 38 Lother Kugelmann bietet eine Untersuchung der Geschichte des Antizipationsbegriffes in Theologie und Philosophie, beginnend bei Johannes Weiß. Vgl. Kugelmann, Antizipation. Diese enthält auch einige Ausführungen zum Antizipationsbegriff Pannenbergs, in welchem aber die erst 1988 in Metaphysik und Gottesgedanke (vgl. Pannenberg, Metaphysik) vertiefte

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Jüngel39 als zentralen Begriff seines gesamten Denkens.40 Im Folgenden soll der Bedeutungsgehalt dieses Begriffs prägnant nachgezeichnet werden. Er zeigt dabei eine ontologische und eine hermeneutische Dimension, die miteinander verknüpft sind. In der Interpretation der identitätstheoretischen Ausführungen Pannenbergs stand zu Beginn der Gedanke im Vordergrund, dass das gesamte Leben einer Person wie auch die Geschichte der Welt und somit allen Seins erst am Ende der Zeit, im Eschaton offenbar sein werden.41 Die Identität einer Person wird erst dann vollendet sein, wenn alle Augenblicke des geschichtlichen Lebens sowie deren Bedeutung für ihre Identität gegeben sind – ein Zustand, der erst im Eschaton zu erwarten ist. Das schließt für Pannenberg nicht aus, dass der Mensch mit sich identisch sein kann, dass er die Ganzheit seines Selbstseins in der Gegenwart seines gelebten Lebens erfahren kann. Ein solcher Zustand der Ganzheit in der Abgeschlossenheit des geschichtlichen Lebens, der „Gegenwart des Selbst im Augenblick des Ich“42, beruht auf der Antizipation des erst künftig vollendeten Selbst; ein Zustand, den der Mensch in den Augen Pannenbergs nicht selbst herbeiführen kann, sondern der das göttliche Heil ist, welches nur von den Religionen gewährt wird. „Trotz seiner unvermeidlich fragmentarischen Gestalt kann das irdische Leben dann Darstellung einer seine Schranken und Schwächen übersteigenden Identität und Integrität der Person werden.“43 Antizipation kann so als ein ontologischer Begriff verstanden werden, der die vorweggenommene Darstellung des erst im Eschaton vollendeten Seins in seiner Unvollendetheit bezeichnet – immer unter der Voraussetzung der bleibenden Unterschiedenheit von dem im Eschaton vollendeten Ganzen.44 Neben der ontologischen Dimension des Antizipationsbegriffs ist dieser auch von hermeneutischer Bedeutung. Diese ist ebenfalls im Zukunftsbezug allen Seins begründet. Für Pannenberg beruhen jegliche „Wesensaussagen und damit doch wohl alle Sachbenennungen überhaupt auf Antizipationen einer noch nicht erschienenen Zukunft“45. Ist das, was etwas ist, erst in der Zukunft, ist jede Aussage über sein Sein und seine Bedeutung für Pannenberg nur möglich unter Antizipation dieser Zukunft. Nur so ist die Identität einer Aussage mit dem Gegenstand, den sie bezeichnet, möglich wie auch die Differenz zwischen der

39 40 41 42 43 44 45

Systematisierung bzw. Fundierung des Antizipationsbegriffs durch Pannenberg selbst nicht berücksichtigen werden konnte. Vgl. Kugelmann, Antizipation, 52–58. Vgl. Jüngel, Nihil divinitatis sowie die Antwort Pannenbergs darauf: Pannenberg, Antwort. Vgl. Pannenberg, Antwort, 362. Vgl. Kap. 2.1.1. Pannenberg, Anthropologie, 233. Pannenberg, Anthropologie, 467. Vgl. Pannenberg, Hermeneutik, 150f. Zur Bedeutung des Antizipationsbegriff innerhalb der identitätstheoretischen Überlegungen Pannenbergs vgl. Overbeck, Mensch, 138–142. Pannenberg, Hermeneutik, 147.

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Kirche als vorwegnehmende Darstellung des Reiches Gottes

Aussage über den Gegenstand und diesem. Der Begriff der Antizipation drückt so für Pannenberg die Doppelseitigkeit aus, in welcher Urteil und Begriff zu der Sache stehen, auf die sie sich beziehen. Urteil und Begriff beanspruchen Identität mit der erfassten Sache bei gleichzeitiger Unterschiedenheit von dieser: Die Antizipation ist ‚noch‘ nicht in jeder Hinsicht identisch mit der antizipierten Sache; sie ist noch dem Risiko der Unwahrheit, des Scheiterns ausgesetzt. Aber unter Voraussetzung des künftigen Inerscheinungtretens der Sache in ihrer Vollgestalt ist in der Antizipation die Sache schon anwesend.46

Nur so sind Aussagen über eine Sache möglich, die in ihrer Vorläufigkeit dennoch die Wahrheit ihres Inhaltes beanspruchen. Damit sieht Pannenberg Sein und Denken durch „eine eigentümliche Form der Übereinstimmung“47 ausgezeichnet. Sowohl die Möglichkeit, das Wesen einer Sache zu erkennen, welches erst in Zukunft sein wird, und etwas über es auszusagen, als auch die Möglichkeit, dass eine Sache in der Gegenwart ihrem Wesen entspricht, beruhen auf Antizipation. So bestimmt ist der Antizipationsbegriff grundlegend für das gesamte theologische Werk Pannenbergs. Sowohl formal, was den Charakter betrifft, den er theologischer Rede zuschreibt; als auch material in dem, wie Pannenberg Wirklichkeit und Sein sowie deren theologische Deutung begreift. Beides soll im Folgenden noch einmal anhand konkreter Figuren seines theologischen Entwurfes plausibilisiert werden, beginnend mit dem Charakter theologischer Rede. Aus dem bisher Dargestellten ergibt sich für Pannenberg, dass jeglicher Behauptungssatz auf Antizipation beruht. Denn obwohl aufgrund des Zukunftsbezuges allen Seins Aussagen über ihre Bedeutung vor Eintritt dieser Zukunft eigentlich nicht möglich sind, geschieht genau dies in Behauptungssätzen. Sie nehmen die Fülle allen Seins wie auch dessen Bedeutung vorweg, Pannenberg bezeichnet dies als die Sinnganzheit, um Aussagen über die Bedeutung eines Gegenstandes, eines Momentes in der Geschichte oder eine Person zu treffen.48 Indem aber die Zukunft noch offen ist und damit die Wirklichkeit und deren Bedeutung noch unabgeschlossen, haben Behauptungssätze stets hypothetischen Charakter. Sie sind nur so lange wahr, wie sie sich als wahr bewähren: Weil nun die Antizipation der Ganzheit des Daseins die Notwendigkeit ihrer Bewährung einschließt, damit auch die Möglichkeit ihrer Nichtbewährung, fordert sie – wo sich die Grenze ihrer Integrationskraft zeigt – eine neue, die erste überholende Antizipation49

46 Pannenberg, Metaphysik, 75. 47 Pannenberg, Hermeneutik, 147. 48 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 64f. Ausführlich dargelegt von Pannenberg in Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 206–224. 49 Pannenberg, Hermeneutik, 148.

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Jegliche Aussage über Sein und Bedeutung bleibt vorläufig. Hierin sieht Pannenberg auch das moderne Bewusstsein von der Geschichtlichkeit und Relativität menschlicher Wirklichkeitserfahrung und -deutung aufgehoben.50 Eine solche Relativität und Vorläufigkeit gilt nach Pannenberg auch für jede theologische Aussage, nicht nur aufgrund ihres Behauptungscharakters, sondern auch aufgrund ihres Gegenstandes selbst. Nach Pannenberg ist Gott der Gegenstand der Theologie. Hierin liegt die Einheit der theologischen Wissenschaft begründet. Nur durch den Gottesbezug ihrer verschiedenen Gegenstandsbereiche und Disziplinen findet sie ihre Einheit und nur dadurch kann sie den Wahrheitsanspruch des Christentums wissenschaftlich ergründen, nicht indem sie das Christentum selbst als ihren Gegenstand annimmt.51 Für beides, Darlegung des Wahrheitsanspruches und Einheit der Theologie, ist daher der Gottesbegriff fundamental. Dabei ist aber von keiner dogmatischen Vorbestimmung Gottes auszugehen, sondern der Gottesbegriff ist als Bezugspunkt aller Untersuchungen ein Problembegriff. Er ist insofern problematisch, als dass er kein Gegenstand der endlichen Erfahrung ist, er nicht von anderen Gegenständen klar abzugrenzen ist und er menschlich nie vollends einzuholen ist. Vielmehr ist er eine Hypothese, die sich am Vollzug menschlicher Wirklichkeitserfahrung bewähren muss und so an dem ihn innewohnenden Implikationen überprüft wird.52 Gelingt eine solche Bewährung, dann ist dies laut Pannenberg nicht ein sekundär hinzukommendes, Gott überprüfendes 50 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 64. Der von Pannenberg so verwendete Antizipationsbegriff ermöglicht ihm ein Festhalten an metaphysischen Aussagen entgegen dem von ihm festgestellten Abgesang auf die Metaphysik in der Moderne (Vgl. Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, 7). Denn durch diesen Begriff ist in der metaphysischen Reflexion der geschichtliche Standort dieser Reflexion berücksichtigt. So kann die Philosophie und Theologie metaphysische Aussagen treffen, in welchen ein Wissen um deren Überholbarkeit und Vorläufigkeit mitgesetzt ist. „Auch metaphysische Aussagen sind in diesem Sinne als hypothetisch und antizipativ, nämlich als auf die Wirklichkeit im ganzen bezogene Hypothesen, world hypotheses (St. Pepper), dargestellt worden.“ Pannenberg, Metaphysik, 68. (Hervorhebung im Original.) 51 Vgl. Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 299f. 52 Die christliche Rede von Gott hat folglich hypothetischen Charakter, nicht das Christentum wie Zbigniew Slaczka meint. Vgl. Slaczka, Offenbarung, 95. Religiöse Aussagen von Gott als Hypothesen zu beschreiben, nimmt laut Slaczka die religiöse Praxis nicht ernst, in welcher die Menschen ihr Leben und Sterben auf ihren Gottesglauben gründen. Dem hypothetischen Charakter theologischer Aussagen hält Slaczka auch die eigene Glaubensgewissheit Pannenbergs entgegen, die Slaczka seinen Schriften entnimmt. Vgl. Slaczka, Offenbarung, 95–97. Meines Erachtens ist die Spannung, die Slaczka hier erkennt, aufrecht zu erhalten. Im hypothetischen Charakter der Aussagen von Gott drückt sich dessen Strittigkeit aus, die Gegenstand von Kap. 5.1 ist. Trotz dieser Strittigkeit aber kann der Glaube nach Pannenberg vertrauen auf Gott und dessen Treue zu seinen Verheißungen. Und doch bleibt auch das Vertrauen trotz aller Zuversicht ein Wagnis, da es sich dem Gegenstand, dem es vertraut, ausliefert und auf die Zukunft gerichtet ist. Zur Deutung Pannenbergs des Glaubens als Vertrauen vgl. Kap. 4.3.2.

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Kirche als vorwegnehmende Darstellung des Reiches Gottes

Kriterium, sondern Gott selbst hat sich in diesem Bewährungsprozess behauptet. Insofern ist dann von einem Selbsterweis Gottes zu sprechen, und zwar innerhalb der subjektiven Welterfahrung des Einzelnen. Indem der Gottesgedanke auf die durch ihn freigesetzten Sinnpotentiale zur Welterschließung kritisch befragt wird, wird ihm zwar auf dem Umweg über das Subjekt und seines Verhältnisses zur Welt nachgegangen, er aber gleichzeitig von diesem unterschieden. Nur so ist dem Verdacht vorzubeugen, dass der Gottesgedanke reiner Gedanke menschlicher Illusion ist.53 Pannenberg nun verknüpft die erst in Zukunft vollendete Gesamtwirklichkeit, die in jeder Einzelerfahrung und in jedem Erkenntnisprozess mitgesetzt ist, auf das engste mit dem Gottesgedanken. Dies liegt bereits schon aufgrund seiner Definition Gottes als alles bestimmender Wirklichkeit nahe. Diese Definition sieht er als eine sprachliche Übereinkunft, als Nominaldefinition, als unvollständig. Dass sie im Allgemeinen akzeptiert wird und von ihr ohne weitere Erörterung ausgegangen werden kann, hält Pannenberg mit Bultmann fest.54 Daher hat sich Rede von Gott daran zu bewähren, dass und inwiefern alles Wirkliche in Bezug zu der in ihm wirksamen, alles bestimmenden Wirklichkeit steht. Dazu können die Gegenstände der menschlichen Erfahrung, in welchen Gott implizit mitgesetzt ist, nicht in ihrer Isoliertheit, sondern nur in ihrer Gesamtheit betrachtet werden, da Gott alle Wirklichkeit bestimmt. „Theologie als Wissenschaft von Gott wäre dann so möglich, daß die Totalität des Wirklichen unter dem Gesichtspunkt der diese Totalität im ganzen wie im einzelnen letztlich bestimmenden Wirklichkeit zum Thema wird.“55 Das Ganze der Wirklichkeit ist aufgrund seiner Unabgeschlossenheit nur im Überstieg über den einzelnen Moment möglich, also nur durch Antizipation der Gesamtwirklichkeit und damit durch Antizipation der göttlichen Wirklichkeit. Die Wirklichkeit Gottes ist mitgegeben jeweils nur in subjektiven Antizipationen der Totalität der Wirklichkeit, in Entwürfen der in aller einzelnen Erfahrung mitgesetzten Sinntotalität, die ihrerseits geschichtlich sind, d. h. der Bestätigung oder Erschütterung durch den Fortgang der Erfahrung ausgesetzt bleiben.56

Dies hat zwei entscheidende Konsequenzen: Zum einen die in der menschlichen Wirklichkeitserfahrung und so im Gang der Geschichte gegebene Strittigkeit Gottes. Da Aussagen über ihn als Deutung eigener Wirklichkeitserfahrung immer nur unter Antizipation einer noch ausstehenden Zukunft möglich sind, 53 Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 311. 54 Vgl. Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 304f. 55 Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 305. Dass es die Theologie auf diese Weise mit dem Ganzen der Wirklichkeit zu tun hat, indem sie den Gottesbezug der Wirklichkeit thematisiert, ist für Pannenberg der entscheidende Grund ihrer Wissenschaftlichkeit. Vgl. Pannenberg, Grundlagenkrise, 13f. Eine sehr gelungene Darstellung des wissenschaftstheoretischen Programms Pannenbergs findet sich bei Rieger, Funktion, 163–173. 56 Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 312f. (Hervorhebung im Original.)

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sind diese auf Bestätigung oder Verwerfung durch diese Zukunft angewiesen. Damit aber bleibt Gott selbst strittig bis zur Vollendung der Welt.57 Zum anderen bedeutet dies für die Rede von Gott, dass sie unter einem Vorbehalt steht, da ihre Bewahrheitung aussteht. Es muss daher für solche Rede grundlegend sein, dass sie sich ihrer eigenen Vorläufigkeit bewusst ist und sich nicht als absolute Wahrheit in sich selbst verschließt. Letzteres ist für Pannenberg Häresie.58 Wissen um die eigene Endlichkeit und damit auch um die Unangemessenheit der menschlichen Rede von Gott zeichnet hingegen nach Pannenberg die Nüchternheit theologischen Denkens und Redens aus. „In solchem Wissen aber wird das Reden von Gott zur Doxologie, in der sich der Redende über die Schranken der eigenen Endlichkeit zum Gedanken des unendlichen Gottes erhebt.“59 Hier zeigt sich wieder die von Pannenberg behauptete „eigentümliche Form der Übereinstimmung“60 von Denken und Sein. Der Charakter theologischer Rede und damit auch theologischer Erkenntnis, der begründet ist in ihrem Gegenstand, sagt etwas über das Wesen des Gegenstands selbst. Gott, dessen Wesen und Sein erst im Eschaton offenbar sein wird, ist im Lauf der Geschichte strittig. Daher sind auch die Aussagen über ihn und sein Wesen vorläufig. Dennoch sind Aussagen über sein Wesen möglich wie auch er im Lauf der Geschichte erfahrbar ist, aufgrund der Antizipation der vollendeten Totalität der Wirklichkeit im Eschaton. Für Pannenberg sind diese Einsichten deckungsgleich mit denen der christlichen Offenbarung von Gott. Diese hat ihren Grund in der Offenbarung des Reiches Gottes und damit der Offenbarung der menschlichen Bestimmung im Christusgeschehen, welches als Antizipation des Reiches Gottes zu begreifen und zugleich von diesem unterschieden bleibt und erst dort seine Erfüllung findet. Die Möglichkeit, die Wahrheit der christlichen Gotteserkenntnis kohärent darzustellen, beruht „auf Antizipationen, die die Prolepse des Eschaton in der Geschichte Jesu Christi nachvollziehen“61. Ob sie wahr ist und das heißt, ob die christliche Gottesverkündigung sich bewährt, ist nur von Gott selbst zu entscheiden. Diese Entscheidung wird erst „mit der Vollendung des Reiches Gottes in seiner Schöpfung fallen“62. 57 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 66–72. Zur Rede von der Strittigkeit Gottes bei Pannenberg vgl. Kap. 5.1. 58 Zu Pannenbergs Häresiebegriff vgl. Anm. 28. 59 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 65. 60 Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 147. 61 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 66. Der in dem Zitat benutzte Begriff der Prolepse ist mit dem der Antizipation in gewisser Weise gleichzusetzen. Vgl. Jüngel, Nihil divinitatis, 207. So wie im Christusereignis die Vollendung im Reich Gotts vorweggenommen ist (Antizipation), ist das Christusereignis Vorschein auf das Reich Gottes (Prolepse). Zum antizipatorischen Charakter des Christusereignisses und dessen Bedeutung für Pannenbergs Gottes- und Offenbarungsverständnis vgl. Kugelmann, Antizipation, 52–57. 62 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 66. Aus alledem folgt, dass auch das Christus-

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4.2

Kirche als vorwegnehmende Darstellung des Reiches Gottes

Die unmittelbare Christusbeziehung des Einzelnen als Grund kirchlicher Gemeinschaft

Wie ausgeführt, zog nach dem Befund Pannenbergs die Annahme bzw. Nichtannahme der jesuanischen Botschaft vom Reich Gottes die Gründung einer neuen Gemeinschaft nach sich. Somit ist das Ja zu Jesu Wirken und Verkündigung, die Pannenberg gänzlich im Lichte der Botschaft vom anbrechenden Reich Gottes begreift, der Grundstein dieser neuen Gemeinschaft. Dies änderte sich auch nach dem Tod Jesu nicht, insofern Pannenberg die Auferstehung als Bestätigung von Leben und Werk Jesu interpretiert. Dabei bestätigt die Osterbotschaft die jesuanische Reich-Gottes-Verkündigung nicht nur, sondern hebt auch noch einmal ihre universale Ausrichtung hervor. „Durch die Auferstehung Jesu steht die Zukunft des Gottesreiches, die er verkündete, jedem einzelnen Menschen offen.“63 Die Osterbotschaft vom in Jesus Christus anbrechenden Reich Gottes bildet somit den Kern des apostolischen Evangeliums. Dies zeigt eine logische Vorordnung der Botschaft und des Lebens Jesu vor die individuelle Zustimmung und so auch vor die Gemeinschaft der Glaubenden. Wie aber nun sind der Glaube des Einzelnen und die Gemeinschaft der Glaubenden zueinander ins Verhältnis zu setzen? Geht der individuelle Glaube der Gemeinschaft der Gläubigen voraus, die einen sekundären Zusammenschluss darstellt? Oder muss der Gemeinschaft der Kirche die Priorität vor den individuellen Gläubigen zukommen, da der Glaube nur möglich ist aufgrund der Vermittlung durch die Kirche? Pannenberg sieht den Einzelnen als Adressaten der Verkündigung Jesu. Letzterem ging es nicht um ein politisches Programm für die Gesellschaft, sondern um den Glauben des Einzelnen an die nahe Zukunft des Reich-Gottes, welche im Glauben Gegenwart wird.64 Wie aber ist der Zusammenhang von der Verbundenheit der Einzelnen mit Christus und deren kirchlichen Zusammenschluss begründet? Pannenbergs Antwort auf diese Fragen geht zum einen von der Vermittlung der Gemeinschaft des Einzelnen mit Jesus Christus durch Evangelium und Sakrament (Kap. 4.2.1) aus sowie von der Bedeutung des Bekenntnisses als subjektive Begründung der Zugehörigkeit zu Jesus Christus und seinem Leib, der kirchlichen Gemeinschaft (Kap. 4.2.2). geschehen vorläufig bleibt. Auch seine Bedeutung ist auf die Vollendung allen Seins im Reich Gottes angewiesen, auch wenn für Pannenberg in ihm und besonders in der Auferweckung der Toten die Bestimmung des Menschen in der Geschichte am sichtbarsten gegenwärtig geworden ist. Diesen Gedanken holt meines Erachtens Fischer in seinen Interpretationen nicht ein, die er mit der Formulierung zusammenfasst, dass dem Christusereignis bei Pannenberg „absolute Bedeutung zukommt“ bzw. sich in diesem Gott „in absolut gültiger Weise erschlossen“ hat. Fischer, Theologie, 165. (Hervorhebungen im Original.) 63 Pannenberg, Auferstehung, 12. 64 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 115f.

Die unmittelbare Christusbeziehung des Einzelnen als Grund kirchlicher Gemeinschaft 117

4.2.1 Die Gemeinschaft mit Jesus Christus als Grund kirchlicher Gemeinschaft Für Pannenberg ist die in der deutschen Fassung von CA 7 vorgenommene Charakterisierung der Kirche als einer Versammlung der Glaubenden65 charakteristisch geworden für den Kirchenbegriff der Reformatoren. Für Luther selbst sieht er die Beschreibung als sanctorum communio im Anschluss an das Apostolikum von zentralerer Bedeutung, um das Wesen der Kirche zu erfassen.66 Auch nach Pannenberg ist mit der Beschreibung als communio sanctorum die Kirche besser erfasst als mit der Kennzeichnung als Versammlung der Gläubigen. Letztere stellt für ihn lediglich eine formale Beschreibung dar.67 Dabei macht er vom Beginn ihrer Verwendung an einen doppelten Sinn dieser Formel aus. Einerseits einen personalen Sinn, der die Kirche als Gemeinschaft aller Heiligen durch die Zeiten hindurch begreift, in welche die jeweils gegenwärtigen Christen mit aufgenommen werden und so auch untereinander in Gemeinschaft sind. Daneben identifiziert Pannenberg gerade in der ostkirchlichen Verwendung der Formel einen sakramentalen Sinn, der Kirche als Gemeinschaft am Heiligen versteht. Besonders war hier die Teilhabe an der Eucharistie68 gemeint. In der Reformation ebenso wie im lateinischen Mittelalter steht der personale Sinn im Vordergrund.69 Für Pannenberg jedoch sind beide Bedeutungen festzuhalten, um die Kirche zu erfassen. „Die Gemeinschaft der Glaubenden untereinander ist vermittelt durch die Gemeinschaft eines jeden mit Jesus Christus.“70 Das Heilige, an dem der Gläubige teilhat, ist hier Jesus Christus. Vermittelt wird die Teilhabe an Christus durch Wort und Sakrament, wie auch CA 7 bekennt. CA 7 formuliert die Überstimmung in der reinen Lehre und der schriftgemäßen Sakramentslehre als ausreichende Bedingung der kirchlichen Einheit. Pannenberg sieht hierin die Übereinstimmung bezüglich des kirchlichen Amtes mit eingeschlossen, welchem Evangeliumsverkündigung und Sakramentsver65 Vgl. BSLK, 61. 66 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 117. Da Luther communio als Gemeinde bzw. Versammlung verstand, also deckungsgleich mit der Bedeutung der ecclesia, ist nach Pannenbergs Urteil in der lateinischen Fassung von CA 7 Versammlung der Heiligen mit congegratio sanctorum wiedergegeben worden, an der Stelle von sanctorum communio. 67 Vgl. Pannenberg, Thesen, 21. 68 Die Verwendung des Begriffs Eucharistie bedeutet für Pannenberg nicht eine Akzentverschiebung hin zu einem katholischen Abendmahlsverständnis. Vielmehr gebraucht er alle drei Begriffe deckungsgleich: Abendmahl, Herrenmahl und Eucharistie. Dennoch unterstreichen die Begriffe Herrenmahl und Eucharistie verschiedene Akzente. Der Begriff Herrenmahl betont, dass dieses von Christus eingesetzt ist und daraufhin zu vollziehen ist. Der Begriff Eucharistie hingegen, welcher der auch in der lutherischen Abendmahlsliturgie verankerten Danksagung entstammt, legt den Akzent darauf, dass es eine kirchliche Handlung ist. Vgl. Pannenberg, Sakramente, 74. 69 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 117f. 70 Pannenberg, Thesen, 21.

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Kirche als vorwegnehmende Darstellung des Reiches Gottes

waltung übertragen sind. Dies bedeutet umgekehrt, dass nicht einfach nur ein lokaler Zusammenschluss von Christen Kirche ist, sondern diese müssen um die reine Lehre des Evangeliums sowie die schriftgemäße Sakramentsverwaltung versammelt sein. Somit tritt im Gottesdienst der Ortsgemeinde die gesamte Einheit der Kirche über die Zeiten hinweg auf, da rechte Evangeliumsverkündigung und Sakramentsverwaltung sowohl die örtliche Gemeinde wie auch die universale Kirche durch die Zeiten hindurch kennzeichnet.71 Die Vermittlung der Gemeinschaft der Glaubenden durch Wort und Sakrament verbindet den personalen Sinn der Formel communio sanctorum mit dem sakramentalen Sinn dieses Ausdruck als Teilhabe ‚am‘ Heiligen, an den Heilsgaben von Wort und Sakrament.72

Durch Wort und Sakrament hat der Gläubige Anteil an Jesus Christus, wodurch er Teil des Leibes Christi wird. Dieser für die Kirche grundlegende Zusammenhang ist am sichtbarsten dargestellt im Abendmahl, da sich hier die unauflösliche Verbundenheit der Gläubigen mit Christus zeigt, welche die Gemeinschaft untereinander begründet.73 Auch wenn Pannenberg die Zugehörigkeit des Einzelnen zu Christus im Glauben verbunden mit Taufe und Bekenntnis konstituiert sieht, kommt „die innere Zusammengehörigkeit von Gemeinschaft der Glaubenden mit Jesus Christus und Gemeinschaft der Glaubenden untereinander […] doch nirgend sonst so zur Darstellung wie bei der Feier des Abendmahls.“74 Die so bestimmte reformatorische Kirchenauffassung sieht Pannenberg sowohl in der neutestamentlichen als auch in der altkirchlichen Tradition verankert. Auch hier realisiert sich Kirche dort, wo die Gemeinde vor Ort gemeinsam Gottesdienst feiert. Denn in jedem lokalen Gottesdienst, in welchen Christus gegenwärtig ist, erscheint immer auch die Gemeinschaft aller Christen. „Denn wo Jesus Christus ist, da ist auch die ganze (‚katholische‘) Kirche.“75 Auch wenn sich Kirche vor allem im ortsgemeindlichen Gottesdienst vollzieht, ist die Gemeinschaft der Ortsgemeinden, also die Einheit der Kirchen, somit nichts sekundär zur einzelnen Ortsgemeinde hinzutretendes, sondern ein wesentlicher Bestandteil dieser.76 Für Pannenberg ist Kirche dort, wo die Gemeinschaft der Heiligen Gemeinschaft hat mit dem Heiligen. Die Gemeinschaft der Heiligen ist Folge ihrer Teilhabe am Heiligen, also ihrer Verbundenheit mit Jesus Christus zu dessen

71 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 119f. Das Verhältnis von Ortsgemeinde und der gesamten Kirche wird noch eingehender unter Kap. 4.4.5 behandelt. 72 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 120. (Hervorhebung im Original.) 73 Zum Abendmahl vgl. Kap. 4.4. 74 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 121. 75 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 121. 76 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 121f.125–128.

Die unmittelbare Christusbeziehung des Einzelnen als Grund kirchlicher Gemeinschaft 119

Leib. Die Verbundenheit mit Christus ist wiederum vermittelt durch Wort und Sakrament, das heißt durch die Kirche. Um überhaupt Kenntnis zu haben von Jesus Christus und der Überlieferung von seinem Leben und Werk ist der Einzelne auf die Kirche angewiesen, da christlicher Glaube in all seinen Formen aus Vermittlung hervorgeht und in seinem Vertiefungsprozess auf Vermittlung angewiesen bleibt.77 Es ist nicht diese Vermittlung, die den Glauben des Einzelnen bewirkt, sondern der sich durch den Geist darin vergegenwärtigende Christus. Aufgabe des kirchlichen Wirkens ist es, die allgemeine Relevanz ihrer Überlieferung innerhalb sich verändernder Wirklichkeitserfahrungen zu vermitteln. Wird im Vollzug der kirchlichen Vermittlung die Wahrheit des von ihr Überlieferten vorausgesetzt, muss sie sich dennoch immer noch als wahr erweisen. Dabei erweist sich der Inhalt der christlichen Überlieferung dadurch als wahr, indem er ins Verhältnis gesetzt wird zu allen sonstigen Erfahrungen und Überzeugungen der Menschen und sich dabei im Bewußtsein des einzelnen nicht nur behauptet, sondern ein neues, erhellendes Licht auf alles andere zu werfen vermag78.

Um dies zu erreichen, muss die Kirche den Einzelnen in seinem Wissen über die Überlieferung stärken und ihm Wirklichkeitsdeutungen auf der Grundlage ihrer Überlieferung anbieten, damit dieser beurteilen kann, inwiefern die christliche Überlieferung Sinnpotentiale für seine Wirklichkeitserfahrung bereitstellt. Die Wahrheit der christlichen Überlieferung erweist sich darin oder eben auch nicht, indem und inwieweit sie Lebensvollzug und -deutung des Einzelnen trägt und erhellt. Wahrheit ist für Pannenberg auf Aneignung angelegt, um sich als wahr zu erweisen. Die Angewiesenheit des Überlieferten auf solche Aneignung wiederum eröffnet die Freiheit des Einzelnen gegenüber der Tradition und ihrer Vermittlung. Solche Unabhängigkeit bzw. die Fähigkeit zum eigenen Urteil über die Wahrheit der Überlieferung ist für Pannenberg das Ziel des kirchlichen Vermittlungsprozesses.79 Der Vermittlungsprozess durch das kirchliche Handeln zielt also darauf, dass der Einzelne unabhängig diesem gegenüber wird. Er zielt darauf, dass der Einzelne im Glauben eine unmittelbare Beziehung zu Jesus Christus gewinnt, welche die Vermittlung vergessen lässt. Solche Unmittelbarkeit, die Christen als Wirkung des Geistes erleben, kennzeichnet den Glauben an Jesus, aber nicht nur im Sinne eines Wissens von Jesus, sondern als Unmittelbarkeit eines persönlichen Lebensverhältnisses: Die Glaubenden sind unmittelbar zu Jesus, da jeder einzelne im Glauben Gemeinschaft mit Jesus hat.80 77 Vgl. Pannenberg: Thesen 41. 78 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 143. Zu Pannenbergs Wahrheitsbegriff vgl. Pannenberg, Wahrheit sowie Kap. 4.4.1 und Kap. 5.1.2 in diesem Buch. 79 Vgl. Pannenberg, Thesen, 22 sowie ders., Lebensraum, 590f. 80 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 143 Von hier aus ergibt sich sogleich eine erste

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Kirche als vorwegnehmende Darstellung des Reiches Gottes

Pannenberg fordert daher, dass christliche Verkündigung nicht in erster Linie zu persönlichem Engagement aufrufen soll, dass sie auch nicht nur Heilszusage sein soll, sondern primär Kenntnisse der theologischen Gehalte der Überlieferung sowie theologische Diskussionen über die Überlieferung bereitstellen soll. Nur auf diese Weise sind die einzelnen Gläubigen fähig, so selbstständig wie möglich ein eigenes Urteil über die wirklichkeitserschließende Kraft der christlichen Überlieferung zu treffen.81 Sie sind es als Angehörige einer religiösen Gemeinschaft, nicht die Gemeinschaft an sich, die über die Bewahrheitung oder Nichtbewahrheitung der religiösen Überlieferungen innerhalb ihrer Welterfahrung und ihrer Auseinandersetzung mit deren möglichen Interpretationen entscheiden. Sie sind es, die entscheiden, dass und inwiefern eine religiöse Überlieferung ihren Lebensvollzug und dessen Deutung tragen und erhellen kann und sich darin bewahrheitet.82 Kirchliche Vermittlung der Tradition ist notwendig, da ohne diese der Einzelne nie zum Glauben kommen könnte. Ihr Ziel ist jedoch die Unmittelbarkeit und somit Unabhängigkeit des Einzelnen gegenüber dieser Vermittlung. Solche Unmittelbarkeit ermöglicht wiederum kritische Reflexion auf die kirchliche Vermittlung des Evangeliums, auch wenn „derjenige, der solche kritische Reflexion vollzieht, selber sein Verhältnis zum Gegenstand der Tradition der Vermittlung durch sie verdankt.“83 So ist eine Kritik möglich, die sich nicht gegen die Tradition richtet, sondern sich auf sie beruft, um die Form ihrer Vermittlung oder bestimmte Aspekte dieser zu kritisieren. Daher erklärt sich auch für Pannenberg, dass es seit Beginn des Christentums ein von der Kirche distanziertes Christsein gab, das sich selbst trotz aller Kirchenkritik als dezidiert christlich begreift, wie z. B. bestimme Formen des Mönchtums. Das massenhafte Auftreten eines der Kirche gegenüber distanzierten Christseins ist demgegenüber für Pannenberg ein spezifisch neuzeitliches Phänomen, das wie die Säkularisierung auch in den Spaltungen der Konfessionszeit und den daraus resultierenden Religionskriegen begründet ist.84 Pannenberg sieht dieses neuzeitliche Phäno-

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Perspektive auf das Amtsverständnis Pannenbergs: Wie die kirchliche Vermittlung darauf zielt, das selbstständige Urteil und die Unmittelbarkeit des Einzelnen zu stärken und sich so selbst überflüssig zu machen, muss sich auch das kirchliche Amt als eine Vermittlungsinstanz begreifen, die sich als verschwindendes Element im Prozess der Unterweisung des Einzelnen versteht. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 146f. Das Amtsverständnis Pannenbergs wird in Kap. 5.3 dargelegt. Vgl. Pannenberg, Theologie, 56f. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 184. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 144. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 144. Vgl. zur Säkularisierung und deren geschichtlicher Ursachen Kap. 3.1. Neben den historischen Ursachen und dem anhaltenden Bestehen der Konfessionskirchen, die die Zerrissenheit der Kirche dokumentieren, führt Pannenberg zwei zentrale Gründe für die Entfremdung von Teilen der Christen von den

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men als durchaus problematisch an, denn auch „dieses Christentum außerhalb der Kirche [bleibt] für seinen Fortbestand auf die Kirchen angewiesen.“85 Nicht nur weil der individuelle Glaube auf kirchliches Handeln angewiesen ist, um zu entstehen und sich zu vertiefen, sondern weil christlicher Glaube im Vollzug auf eine gemeinschaftliche Realisierung drängt. „Der christliche Glaube bedarf des Lebenszusammenhanges einer Gemeinschaft und kann nur im Zusammenhang einer Gemeinschaft sein Leben voll entfalten.“86 Dies zeigt bereits die Religion Israels, in welcher die Ursprünge des Christentums liegen. Gott wird hier geglaubt als ein Gott des Friedens und des Rechts im menschlichen Zusammenleben. „Darum erwählte er einzelne um der Erwählung eines Volkes willen und er erwählte ein Volk um der ganzen Menschheit willen.“87 Mit der Hoffnung auf die Verwirklichung der göttlichen Herrschaft war so auch die Hoffnung auf die verwirklichte gemeinschaftliche Bestimmung der Menschen verbunden. Daher war auch die jesuanische Verkündigung des anbrechenden Reich-Gottes verbunden damit, dass im göttlichen Reich Frieden und Gerechtigkeit herrschen werden und so vollkommene Gemeinschaft sein wird; dergestalt, „daß die vergebende und mit dem Mitmenschen solidarische Liebe das Lebenszentrum aller wahren Gerechtigkeit ist.“88 Hier zeigt sich, dass christlicher Glaube von Anbeginn an ohne gelebte Gemeinschaft nicht denkbar ist. Die kirchliche Gemeinschaft und der Glaube des Einzelnen sind also für Pannenberg weder gegeneinander auszuspielen noch ist dem einen der Vorrang vor dem anderen zuzusprechen. Ziel kirchlichen Handelns ist der Glaube und die unmittelbare Christusbeziehung. Die Beziehung zu Jesus wiederum ist die Grundlage der kirchlichen Gemeinschaft als der Gemeinschaft seines Leibes. Denn nicht nur der Grund des Glaubens des Einzelnen ist extra se in Christus, auch der Grund der Kirche ist außerhalb ihrer selbst in Christus.89 Vermittelt ist die unmittelbare Christusbeziehung des Einzelnen, welche die kirchliche Gemeinschaft begründet, durch Evangeliumsverkündigung und Sakramente. Dies ist für Pannenberg der „objektive Grund der Gemeinschaft der Glaubenden.“90 Beschreibt dies die objektive Ebene, so stellt sich für Pannenberg die Frage, wie

85 86 87 88 89 90

kirchlichen Institutionen an: Zum einen bestehende Herrschaftsstrukturen, durch welche Pastoren oder Bischöfe Herrschaft ausüben können, obwohl in der Kirche eigentlich Gott selbst herrschen sollte; zum anderen das vielfache Fehlens des Geistes der Gerechtigkeit und der Liebe, was sich vor allem darin zeigt, dass kirchliche Gemeinschaft oft nicht gelebte Gemeinschaft ist, sondern sich konkretes Zusammenleben vor allem außerhalb der Kirche ereignet. Vgl. Pannenberg, Christentum ohne Kirche, 194. Pannenberg, Christentum ohne Kirche, 190. Pannenberg, Christentum ohne Kirche, 192. Pannenberg, Christentum ohne Kirche, 192. Pannenberg, Christentum ohne Kirche, 193. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 152f. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 129.

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sich der so konstituierte Zusammenhang von Glaubenden und Gemeinschaft auf subjektiver Ebene des Einzelnen vollzieht. Hier kommt dem Bekenntnis zentrale Bedeutung zu.

4.2.2 Die Vermittlung der Teilhabe des Einzelnen an der kirchlichen Gemeinschaft durch das Bekenntnis Die Verbundenheit mit Christus, die durch Wort und Sakrament vermittelt ist, stellt für Pannenberg den objektiven Grund dar, der die Glaubenden zu einer Gemeinschaft verbindet. Daran schließt sich für Pannenberg die Frage an, wie „sich der so begründete Zusammenhang des einzelnen Glaubenden mit der Gemeinschaft der Glaubenden auf der Seite der Glaubenden selbst, in ihrer Subjektivität“91 vollzieht. Antwort auf diese Frage kann für Pannenberg nicht sein, auf den Glauben zu verweisen, da dieser in Gänze auf das persönliche Verhältnis zu Jesus Christus und den durch ihn offenbarten Gott ausgerichtet ist. Dadurch vereinzelt der Glaube für Pannenberg eher als dass er vergemeinschaftet. „Nur durch die Gemeinsamkeit des Glaubensinhalts wird der einzelne seiner Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Glaubenden inne, über eine bloß äußerliche Kirchenmitgliedschaft hinaus.“92 Der gemeinsame Inhalt des Glaubens ist es also, der dem Einzelnen Teilhabe an der Gemeinschaft vergewissert. In diese Vergewisserung der Glaubenden darüber, ob sie konkrete Glaubensinhalte teilen, ist auch kirchliche Kommunikation und Sozialisation eingebunden. Definitiv ist sie für Pannenberg allerdings erst im gemeinsamen Bekennen des Glaubens realisiert. Hierdurch ist den Einzelnen gewiss, dass sie eine Gemeinschaft sind. Dabei begreift Pannenberg das Bekenntnis zunächst als Akt des Einzelnen, der öffentlich vollzogen wird. Dass Öffentlichkeit wesentliches Charakteristikum persönlichen Bekennens ist, ermöglicht wiederum gemeinsames Bekennen, welches sich auch im Einstimmen in das Bekennen anderer vollzieht. „In solchem gemeinsamen Bekennen kommt die Vergewisserung der Gemeinsamkeit des Glaubens zum Ziel.“93 Was aber bedeutet es für Pannenberg, dass die Glaubenden sich im Bekenntnis über die Glaubensinhalte vergewissern? Es ist in jedem Fall nicht als eine bekennende Übereinkunft in bestimmte christliche Lehrbestände zu verstehen. Also nicht als ein Bekenntnis von einem vorab von den Gläubigen festgelegten Lehrkonsens. Schon gar nicht ist mit Vergewisserung ein umfassendes Verstehen dessen gemeint, was der Einzelne bekennt. „Die personale Intention, nicht das Maß des Verstehens, macht das Bekenntnis zu 91 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 129. 92 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 129. 93 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 129.

Die unmittelbare Christusbeziehung des Einzelnen als Grund kirchlicher Gemeinschaft 123

Jesus wirksam.“94 Sich gläubig zu Jesus zu bekennen begründet die Gemeinschaft untereinander, keine Übereinstimmung in der Lehre. Gleichzeitig aber ist das Bekenntnis daraufhin zu überprüfen, „ob der Bekennende wirklich Jesus meint oder unter dem Namen Jesu intendiert, was mit der Sache Jesu nichts zu tun hat.“95 Also bedarf es doch einer lehrmäßigen Unterweisung darüber, was das Bekenntnis meint und wozu sich der Einzelne dazugehörig bekennt. Wie ist diese Spannung zu vereinbaren? Um dieses Frage beantworten zu können, bedarf es noch der weiteren Klärung, wieso überhaupt dem Bekenntnis innerhalb des Christentums so definitive Bedeutung zukommt, dass hierdurch Zugehörigkeit zu Christus und somit zur Gemeinschaft der Christen vollzogen wird. Für Pannenberg ist gerade dieser definitive Charakter des Bekenntnisses, das den Einzelnen zu Jesus Christus und damit zur Gemeinschaft derer zuordnet, die sich zu ihm bekennen, dem Christentum von Beginn an eigen und etwas wesentlich Neues in der Religionsgeschichte. Dabei zeigt sich seit dem Urchristentum ein enger Zusammenhang von Taufe und Bekenntnis. Auch wenn ein urchristliches Taufbekenntnis nicht überliefert ist, sind für Pannenberg durchaus Rückschlüsse möglich, dass es ein solches gegeben hat. So interpretiert er die Aussage eines einmalig abgelegten Bekenntnisses in Hebr 4,14 sowie das Bekenntnis zum Herrn Jesus in Röm 10,9 dahingehend, dass hier auf ein Taufbekenntnis verwiesen wird.96 Aus späterer Zeit sind dann Tauffragen überliefert, die den kirchlichen Glauben an den trinitarischen Gott thematisieren, sowie dann ab dem 4. Jh. ein vom Täufling zu sprechendes Taufbekenntnis. Dies zeigt für Pannenberg, dass seit den Anfängen des Christentums Taufe und Bekenntnis des eigenen Glaubens eng zusammengehören und diese die Zugehörigkeit zur Kirche begründen. Diese Funktion eignet ihnen bis heute. „Mit dem Bekenntnis stimmt der Täufling in den Glauben der Kirche ein und erklärt sich definitiv als zu Jesus gehörig, so wie er im Akt der Taufe selbst ebenso definitiv die Zuordnung zu Jesus empfängt.“97 Das im Griechischen gebrauchte Verb homologein zeigt für Pannenberg den definitiven Charakter des Bekenntnisses, da es sich um einen Ausdruck aus der griechischen Rechtssprache handelt. Eine Homologie ist eine öffentliche Erklärung, die verbindlich ist und Rechtsverhältnisse vertraglich herstellt. Analoge Funktion haben Taufe und Bekenntnis im Christentum und sind für Pannenberg eine religionsgeschichtliche Besonderheit, auch gegenüber der Religion Israels. Dies ist schon allein darin begründet, dass die Zugehörigkeit der Juden zum Gott Israels auf der Erwählung des Volkes Israels beruht und somit die betrifft, die Teil dieses Volkes sind. Dass das Bekenntnis ein solch 94 95 96 97

Pannenberg, Thesen, 21. Pannenberg, Thesen, 21. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 130f. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 131.

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neuartiges Phänomen werden konnte, ist wiederum in seiner Funktion begründet, welche diesem in der Verkündigung Jesu zukam.98 Das wichtigste Verheißungswort Jesu, dass Pannenberg in diesem Zusammenhang anführt, und welches nicht nur für das Bekenntnis, sondern auch für die Taufe von großer Bedeutung ist, ist Lk 12,8f 99: Jeder, der sich zu mir bekennt vor den Menschen, zu dem wird sich auch der Menschensohn bekennen vor den Engeln Gottes; doch wer mich verleugnet vor den Menschen, der wird auch verleugnet werden vor den Engeln Gottes100.

Handelt es sich hierbei um ein historisches Jesuswort, dann ist dieses für Pannenberg der geschichtliche Ursprung christlichen Bekennens. In jedem Fall sieht er hier die Bedeutung des Bekenntnisses im Christentum begründet. Der spezifische Sinn des Bekennens ist an dieser Stelle die in der Öffentlichkeit vollzogene Parteinahme für Jesus innerhalb eines Streits um seine Person und Botschaft. „Diesen Sinn der Parteinahme für Jesus in einer öffentlichen Auseinandersetzung um seine Sache und seine Person hat der Begriff des Bekennens im Christentum behalten.“101 Eine solche Parteinahme, die bleibende Zugehörigkeit zu Jesus begründet, hat somit primär den Charakter des Engagements für Jesus und ist nachträglich durch bestimmte Lehraussagen erweitert worden. Pannenberg will dies auch gerade gegenüber den reformatorischen Kirchen festhalten, in denen Bekenntnis auch eine Bezeichnung für die konkreten Lehrbestände der Kirche geworden ist.102 „Die Heilswirkung, die dem Akt des Bekennens verheißen ist, hat es nur sekundär und indirekt mit den theologischen Einsichten zu tun, mit denen dieser Akt verbunden ist.“103 Diese Wirkung wiederum ist nichts, was das Bekenntnis aus sich heraus freisetzt und somit im Handeln des Einzelnen begründet ist; sondern es hat seine Kraft nur aufgrund der Verheißung Jesu, sich seinerseits zu denen zu bekennen, die Partei für ihn ergreifen. Die Bindung an die Wiederkunft des Menschsohns, der sich zu denen bekennt, die Jesus bekannt haben, zeigt sogleich die eschatologische Dimension dieser Heilsverheißung. Demgegenüber ist die theologische Reflexion darüber, wozu sich die einzelnen Christen eigentlich bekennen, wenn sie sich zu der Person Jesu bekennen, vollkommen zweitrangig. „Insofern die theologische Reflexion [aber] ausdrücklich macht, wofür der Name Jesu steht, hat sie doch etwas zu tun mit der Beziehung 98 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 132. 99 Pannenberg beurteilt die Verse des Lukasevangeliums als wahrscheinlicheren Teil der Spruchquelle gegenüber der Matthäusüberlieferung in Mt 10,32f, da bei Lukas Menschensohn und Jesus unterschieden sind. 100 Das Bibelwort ist hier in der von Pannenberg in Systematische Theologie Bd. 3, 133 vorgeschlagenen Übersetzung wiedergegeben. 101 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 133. 102 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 133f. 103 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 134.

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des Bekennens auf die Person Jesu.“104 Sie bleibt dem Vollzug nachgeordnet und unterstreicht so noch einmal den Vorrang Jesu und seiner Botschaft vor dem je individuellen Glauben und Bekennen sowie vor der kirchlichen Gemeinschaft.105 Notwendig geworden sind lehrhafte Bestimmungen darüber, wer mit der Person Jesu gemeint ist, in der nachösterlichen Situation. Erst dann brauchte es nach Pannenberg Kriterien, die versichern, dass der, der Jesu Namen ausspricht, auch den Gekreuzigten und Auferstandenen meint. Daher zeigt Röm 10,9 den Beginn des christlichen Lehrbekenntnisses, indem hier nicht nur Jesus als der Herr bekannt wird, sondern auch der Glaube an seine Auferstehung. Letzteres ist nicht nur eine additive Erweiterung, sondern will nach Pannenberg vielmehr explizieren, was es bedeutet, dass Christus der Herr ist. Ähnliches gilt z. B. für 1. Joh 4,15, wo es nicht die Osterbotschaft, sondern der Sohnestitel ist, der Jesu Identität explizieren soll und so Teil des Bekenntnisses wird.106 Der personale Akt des Sichbekennens zu Jesus im Streit um seine Person (im Sinne von Lk 12,8) ist hier entfaltet zu inhaltlichen Aussagen über Jesus, mit denen der einzelne sich die gottesdienstliche Akklamation der Gemeinde und ihre Grundlagen im Osterkerygma zu eigen macht.107

Von hier aus führte für Pannenberg der Weg nach und nach zu den deklarativen Formeln des Taufbekenntnisses des 4. Jh., welche grundlegende Ereignisse des Leben Jesu festhalten. Diese wurden nach und nach ergänzt, einerseits hinsichtlich Gottes als dem Vater und Schöpfer, andererseits hinsichtlich des Heiligen Geistes und dessen Wirken in Kirche und eschatologischer Vollendung. Die der seit dem 2. Jh. geltenden regula fidei entsprechende trinitarische Gliederung der Taufbekenntnisse zeigt, dass diese als Zusammenfassung des kirchlichen Glaubens galten.108 Solche zusammenfassenden Bekenntnisse sind dann nicht mehr nur als persönliche Parteinahme für Christus zu verstehen, sondern auch als ein Einstimmen in Christusbekenntnis und trinitarischen Glauben der Kirche. Vom Ursprung her betrachtet meint Bekennen individuelles Engagement für Jesus Christus, für die Wahrheit seines Lebens und seiner Botschaft und den hierin sich offenbarenden Gott. Dies bleibt es auch, primär. Das Einstimmen in das kirchliche Bekenntnis und damit die Übereinstimmung der Glaubenden bezüglich seiner inhaltlichen Aussagen jedoch bürgt für die Authentizität und Identität der Beziehung auf Jesus Christus, sowie auch für die Annahme des Bekenntnisses durch Jesus Christus selbst, weil die Gemeinschaft 104 105 106 107 108

Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 134. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 137. Vgl. Pannenberg, Konfessionen, 243–245. Pannenberg, Bekenntnis, 120. (Hervorhebung im Original.) Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 135f.

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der Glaubenden mit ihrem Herrn zusammengehört als sein ‚Leib‘, Jesus Christus darum nicht getrennt von seiner Kirche Gegenstand authentischen Bekennens sein kann.109

Die kirchliche Lehre wiederum kann für Pannenberg nur dann Garant eines authentischen Christusbekenntnisses sein, wenn sie mit der apostolischen Christusbotschaft übereinstimmt. Sie muss daher immer wieder von der Schrift her überprüft, interpretiert und wenn notwendig auch revidiert werden, da die Schrift es ist, der die kirchliche Lehre entsprechen will.110 Nicht nur die Lehre, auch das Bekenntnis und dessen Funktion müssen immer wieder neu interpretiert und revidiert werden. Zwar ist es einerseits für Pannenberg von eschatologischer Endgültigkeit, da die Parteinahme für Jesus dem Bekennenden Teilhabe an seinem Heil schenkt. Andererseits ist aber die Situation des Bekenntnisses des Einzelnen wie der Kirche die gegenwärtige Welt in ihrer Vorläufigkeit. Dies betrifft Form und Inhalt von Lehre und Bekenntnis. Der eschatologische Horizont der Botschaft und Geschichte Jesu und die damit gegebene Spannung zwischen Ausständigkeit der Zukunft der Gottesherrschaft und ihres dennoch ‚schon‘ gegenwartsbestimmenden Anspruchs sollte auch für die Kirche ein Wissen um die Vorläufigkeit der Form ihres Lebens und Lehrens zur Folge haben.111

Diese Spannung zwischen Vorläufigkeit und eschatologischer Endgültigkeit ist die Grundsituation, in der die Kirche lebt. Sie zeigt sich auch in der ekklesiologischen Grundbestimmung Pannenbergs, dass Kirche Zeichen, Darstellung, Vorwegnahme des Reiches Gottes ist, in dafür notwendiger Unterschiedenheit von diesem.112 Dieser Spannung muss gerade im kirchlichen Bekenntnis und in kirchlicher Lehre Rechnung getragen werden, die sich ihrer eigenen Historizität und somit Relativität bewusst sein muss, bei allem berechtigten Anspruch auf Wahrheit. Dadurch bleibt der Glaube des Einzelnen wie auch der Gemeinschaft offen für Veränderungen von dem Grund des Glaubens her, also der Offenbarung Gottes in Christus. Das heißt für Pannenberg, Veränderung kann nur von der Durchdringung der apostolischen Zeugnisse ausgehen, indem neue Erkenntnisse über den Menschen und seine Welt sowie über die Interpretation der überlieferten Texte eingebracht werden in deren Auslegung. Die Zeugnisse der Bibel müssen immer wieder im Lichte neuer Erfahrung und veränderter Auffassung von der Wirklichkeit der Welt und des Menschen gelesen werden, aber nur von ihrem Inhalt können – im Zusammenhang mit der Überprüfung und Interpretation der Tradition kirchlicher Lehre in ihrer Geschichte – die entscheidenden

109 110 111 112

Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 136. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 136f. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 137. Vgl. besonders Kap. 4.1.

Die unmittelbare Christusbeziehung des Einzelnen als Grund kirchlicher Gemeinschaft 127

Anstöße zur Neubestimmung des Inhalts der kirchlichen Lehre und des Christusbekenntnisses ausgehen.113

Der so offene Prozess der Auslegung und Formulierung kirchlicher Lehre sollte die Gemeinschaft der Gläubigen befähigen, duldsam gegenüber verschieden ausgeprägten Glaubensbewusstseinen der je Bekennenden sein. Er sollte also eine Toleranz freisetzen gegenüber unterschiedlicher Glaubenserfahrung und -deutung. Aufgrund seiner eschatologischen Endgültigkeit überschreitet das Bekenntnis die jeweilige Situation. Das heißt für Pannenberg aber auch, dass anders als die Form und der Inhalt das Bekenntnis an sich nicht veränderlich ist. In seiner Intention und seinem Wesen ist es angesichts Gottes eschatologischer Zukunft stets definitiv und endgültig. Dies gilt für das individuelle wie für das kirchliche Bekennen.114 Der Unterschied zwischen individuellem und kirchlichem Bekenntnis ist für Pannenberg primär nur in der Ausdrücklichkeit von letzterem gegeben, denn wenn ersteres authentisches sein will, ist es seiner Intention nach auch immer Bekenntnis der gesamten Kirche, in welches es einstimmen will. Den Bekenntnissen aber, die die gesamte Kirche repräsentieren wollen und als solches auch rezipiert werden, spricht Pannenberg darüber hinaus noch eine besondere Dignität zu; dies gilt in besonderem Maße für das Bekenntnis von Nicaea-Konstantinopel.

4.2.2.1 Das Symbol von Nicaea-Konstantinopel als grundlegendes Bekenntnis der gesamten Kirche Das ökumenische Symbol von Nicaea-Konstantinopel nimmt nach Pannenbergs Urteil eine hohe Bedeutung für den Glauben der Kirche ein. „Denn in diesem Symbol ist zum ersten Mal der Anspruch erhoben worden, den Glauben der Kirche umfassend und definitiv in für die ganze Christenheit verbindlicher Form auszusprechen.“115 Diesen Anspruch sieht Pannenberg von der Christenheit über Jahrhunderte hinweg einerseits durch dessen gottesdienstliche Verwendung anerkannt. Andererseits wird sein Anspruch in der zentralen Bedeutung unterstrichen, die dem Symbol in den Lehrbildungen der verschiedenen Kirchen zugekommen ist. Das zeigt die zentrale Stellung, die es in den Lehraussagen des Konzils von Chalkedon von 451 sowie im Konzil von Trient eingenommen hat; das zeigt dessen Rezitation auf den weiteren Konzilien des Westens und Ostens; 113 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 137f. 114 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 138f. Nach Pannenberg ist die Dimension der eschatologischen Endgültigkeit des Bekennens ein Grundaspekt des Bekenntnisbegriffs Luthers, grundgelegt in dessen Abendmahlsschrift von 1528. Vgl. Pannenberg, Bekenntnishermeneutik, 356f. 115 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 139.

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und das zeigt sich in der Confessio Augustana, die sich als dessen Auslegung verstand.116 Aufgrund dieser das ganze Christentum repräsentierenden Bedeutung und der über die Konfessionsgrenzen hinwegreichenden Rezeption des Symbols von Nicaea-Konstantinopel setzt Pannenberg sich auch vehement für die bleibende Bedeutung dieses Bekenntnisses ein. Dadurch ist es auch unterschieden vom Apostolikum, das zwar auch eine Zusammenfassung des christlichen Glaubens sein will, das seinen Ursprung aber nur in der römischen Christenheit hat und so auch nur diese repräsentieren will.117 Darum kann dieser Text (das Symbol von Nicaea-Konstantinopel/B.A.) zwar erläutert werden, […] aber er kann nicht ersetzt werden durch einen anderen; denn keine noch so gute spätere Formulierung könnte dieselbe repräsentative Funktion erfüllen als Zeichen der Identität des christlichen Glaubens durch die Jahrhunderte.118

Aufgrund dieser repräsentativen Funktion durch die Jahrhunderte hinweg sollte das Bekenntnis von Nicaea-Konstantinopel heute im Gottesdienst wieder häufigere Verwendung finden und vor allem in den ökumenischen Bemühungen mehr und mehr in den Mittelpunkt gestellt werden. „In ihm können die heutigen Kirchen, die in ihrer Mehrzahl dieses Symbol ausdrücklich anerkennen, die Einheit im Glauben wiederentdecken, die ihren heutigen Spaltungen vorausgeht.“119 Eine solche Zentralstellung des Symbols von Nicaea-Konstantinopel schließt das Bewusstsein um die Relativität seiner Formulierungen ein und weiß auch darum, dass es keine Gesamtheit beanspruchende Zusammenfassung der kirchlichen Lehre darstellt, aber eine Gesamtheit beanspruchende Zusammenfassung des kirchlichen Glaubens. So können „die verschiedenen Typen konfessioneller Lehrbildung im Osten, im lateinischen Westen und in den Reformationskirchen als unterschiedliche Auslegungstraditionen eines und desselben Bekenntnisses der Kirche“120 aufgefasst und gewürdigt werden und letzteres Basis der gegenseitigen Verständigung sein. Denn obwohl es immer wieder einer 116 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 140f. Die Reformatoren selbst haben dem Apostolikum gegenüber dem Symbol von Nicaea-Konstantinopel eine größere Bedeutung zugemessen. Diese muss aber in der Sicht Pannenbergs heute revidiert werden, da sie von der Überzeugung geleitet waren, das Apostolikum sei von den Aposteln verfasst worden. 117 Vgl. Pannenberg, Einheit des Glaubens, 380. Dass Pannenberg dem Bekenntnis von NicaeaKonstantinopel eine höhere Bedeutung als dem Apostolikum zuspricht, ist nicht als Abwertung des letzteren zu verstehen. Dies zeigt sich schon darin, dass er sich der Auslegung des apostolischen Glaubensbekenntnisses eingehend gewidmet hat, mit dem Ziel, dass auch in heutiger Zeit in die Intention der dort getätigten Glaubensaussagen bekennend eingestimmt werden kann. Denn auch dieses ist ernst zu nehmen als eine über die Jahrhunderte hinweg rezitierte Zusammenfassung des christlichen Glaubens, wenn auch nur innerhalb der westlichen Christenheit. Vgl. Pannenberg, Glaubensbekenntnis. 118 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 140. 119 Wolfhart Pannenberg, Nicaea-Konstantinopel, 132. 120 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 141.

Die unmittelbare Christusbeziehung des Einzelnen als Grund kirchlicher Gemeinschaft 129

Auslegung und Verständlichmachung dieses Symbols braucht, ist für Pannenberg auch heute noch das Einstimmen in dessen Intention möglich und zwar „als Bekenntnis der Kirche zu Jesus Christus in dessen Verbundenheit mit Gott dem Vater und dem Wirken des Heiligen Geistes.“121 Die Geschichte christlichen Bekennens hat bereits den engen Zusammenhang von Taufe und Bekenntnis gezeigt. Beides zusammen war schon in der Alten Kirche Grund der Kirchenmitgliedschaft. Diese Funktion haben beide für Pannenberg bis heute. Sie ist aber nicht nur in ihrem geschichtlichen Gebrauch begründet. Vielmehr handelt es sich bei der Taufe wie auch bei dem Bekenntnis um ein eschatologisches Geschehen „Daher ist das Bekenntnis in besonderer Weise mit der Taufe verbunden worden, denn die Taufe ist die eschatologisch

121 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 141. Von dieser Grundintention her erteilt Pannenberg dann auch zwei Bestrebungen eine klare Absage, die in den letzten beiden Jahrhunderten immer wieder eine Rolle spielten: Erstens der Forderung eines neuen, der Zeit angemessenen Bekenntnisses. Ein solches neues Bekenntnis ist zwar denkbar, muss aber immer dem Nicaea-Konstantinopel untergeordnet werden und an diesem seine Beurteilung finden. Keine noch so angemessene und treffende Formulierung kann dessen Funktion einnehmen, nämlich die Einheit des christlichen Glaubens über die Jahrhunderte hinweg auszudrücken. Sollten bestimmte Teile des Bekenntnisses aus der je eigenen Zeit heraus unverständlich wirken, bedarf es deren Verstehen ermöglichender Auslegung, nicht deren Ersetzung. Zweitens stellt sich Pannenberg der gerade im ökumenischen Diskurs immer wieder auftretenden Mahnung entgegen, dass das altkirchliche Bekenntnis als Ausdruck einer bestimmten Kultur zu verstehen ist, nämlich der hellenistischen und so der westlichen. Diese Forderung wird damit verbunden, dass bei der Inkulturation des Evangeliums in andere Kulturkreise der Glaube demgegenüber einen Ausdruck in der neuen Sprach- und Vorstellungwelt finden muss und somit auch in neuen Bekenntnissen. Auch diesem Anliegen erteilt Pannenberg eine klare Absage, aus demselben Grund wie der Forderung nach zeitgemäßen Bekenntnistexten: Das Bekenntnis von Nicaea-Konstantinopel ist deshalb unersetzlich, da es die Einheit des Glaubens und dessen wesentlichen Kern repräsentiert. Auch hier ist nur eine Übersetzung in die Gedankenwelt der neuen Kultur möglich; aber auch nur dergestalt, dass die christlichen Glaubensaussagen nicht einfach an die je eigene kulturelle Tradition angepasst, sondern letztere eine Transformation vom christlichen Glauben her erfährt. Eben dies sieht Pannenberg auch vollzogen in der Aneignung hellenistischer Sprach- und Vorstellungsgehalte im Urchristentum. Vgl. Pannenberg, Nicaea-Konstantinopel, 134–137. Pannenberg kritisiert daher auch, dass während der Konferenz der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung in Bangalore von einigen afrikanischen Kirchen die Verbindlichkeit der altkirchlichen Bekenntnisse als Bedingung der kirchlichen Einheit zurückgewiesen wurde. Kirchliche Einheit ist für ihn nur möglich, wenn die jeweilige Kirche die eigene Geschichte in die Geschichte der gesamten Christenheit integrieren kann. Dafür ist die Rezeption und Anerkennung der Bekenntnisse der Alten Kirche unabdingbar. Vgl. Pannenberg, Bericht, 480–482. In der Anerkennung und Rezeption der gesamten Christentumsgeschichte als ein Teil der eigenen Kirchengeschichte sieht Pannenberg die Einsicht ernstgenommen, dass auch neu gegründete Kirchen ihr Dasein der Vermittlung durch eben diese Christentumsgeschichte verdanken. „Keine Kirche kann aus dem Prozeß der geschichtlichen Vermittlung des Evangeliums herausspringen.“ Pannenberg, Christenheit, 307.

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definitive Übereignung des Täuflings an Jesus Christus.“122 Aufgrund dieses engen Zusammenhangs soll im Folgenden die Tauflehre Pannenbergs dargestellt werden, in welcher auch das Verhältnis von Taufe und Bekenntnis näher bestimmt werden soll.

4.3

Taufe als Neukonstitution des Einzelnen

„Wer mich bekennt vor den Menschen, den wird auch der Menschensohn bekennen vor den Engeln Gottes. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, der wird verleugnet werden vor den Engeln Gottes“123. Dieses jesuanische Verheißungswort, überliefert in Lk 12,8f, gilt nach dem Urteil Pannenbergs nicht nur allen, die sich zu Jesus bekennen. Seines Erachtens gilt es vielmehr und vor allem denen, die im Namen Jesu Christi getauft wurden. Das Motiv der Jüngerschaft und die Bedeutung des Taufritus als Übereignung an Jesus Christus enthalten den Sachgrund für die grundlegende Rolle des Bekenntnisses bei der Taufe, wie sie in der Geschichte des christlichen Taufgottesdienstes ausgebildet worden ist.124

Nur von der Taufe her erschließt sich die Bedeutung, die dem Bekenntnis innerhalb des Christentums zugekommen ist und zukommt. Daher soll im Folgenden die Tauflehre Pannenbergs dargelegt werden. Pannenberg begreift im Anschluss an Röm 6,10 und Röm 7,4 die Taufe als Übereignung des Einzelnen an Jesus Christus. Wie die leibliche Geburt hat auch die im Taufwasser vollzogene Wiedergeburt einmaligen und bleibenden Charakter. Die Taufe ist nicht nur ein Ereignis zu Beginn des christlichen Lebens, sondern hat anschließend an Luther einen Bezug zu dem ganzen christlichen Leben.125 Sie begründet eine Verbundenheit zu Jesus Christus, die unverbrüchlich und unhintergehbar ist. Die Taufe ist Neuschöpfung des Getauften. Denn die Verbundenheit mit Christus und so mit dem trinitarischen Gott hat zur Folge, „daß sein (oder ihr) Personsein fortan durch die Beziehung zu Gott, und zwar konkret durch Teilhabe an der Sohnesbeziehung Jesu zum Vater konstituiert ist.“126 Durch die Teilhabe an Jesus Christus erhält der Getaufte Anteil an den Folgen des Todes Jesu sowie an dem in seiner Auferstehung erschienenem neuen, ewigen Leben. Dies begründet die seit dem Urchristentum geglaubte Konsequenz 122 Pannenberg, Bekenntnis, 121. 123 Das Bibelwort wird hier in der Übersetzung Pannenbergs wiedergegeben. Vgl. oben, S. 124, Anm. 100. 124 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 271, Anm. 465. 125 Vgl. Pannenberg, Spiritualität, 49–51. 126 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 268.

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der Taufe in der Sündenvergebung (z. B. Apg 2,38 oder 1. Kor 6,11), der zugeeigneten Versöhnung des Kreuzestodes sowie der Geistesgabe (z. B. Apg 2,38 oder Apg 19,5f), die Unterpfand für die eschatologische Vollendung des Einzelnen ist. Gerade in der eschatologischen Gabe des Geistes wurde schon im Urchristentum das zentrale Charakteristikum der Taufe gesehen als ein wirksames Zeichen des eschatologischen Heils.127 Was aber bedeutet die Neukonstitution des Getauften? Indem der Einzelne am Tod Jesu teilhat, sieht Pannenberg hiermit seinen eigenen Tod vorweggenommen. „Darin ist die Beziehung der Taufe auf den ganzen noch ausstehenden irdischen Lebensweg des Täuflings begründet, wie er von seinem künftigen Ende her als ganzer in den Blick gerückt wird.“128 Die Darstellung der identitätstheoretischen Ausführungen Pannenbergs haben gezeigt, dass dieser Identität als im Werden begreift. Anders als Heidegger und Dilthey sieht er die Identität nicht mit dem Tod vollendet, da der Tod Abbruch und nicht Vollendung des individuellen Lebensweges bedeutet. Daraus folgt, dass menschliche Identitätsprozesse auf eine Vollendung verweisen, die über den Tod hinausweist.129 Indem nun in der christlichen Taufe der eigene Tode vorweggenommen und Anteil an der in Jesu Auferstehung begründeten Vollendung gegeben wird, ist darin die vollendete Identität des Einzelnen antizipatorisch vorweggenommen. Sie ist nach Pannenberg aber nicht nur zeichenhafte Vorwegnahme der eigenen Identität, sondern auch Ermöglichung dieser, da das Zeichen der Taufe als Inbegriff des individuellen Christenlebens fortan über dem geschichtlichen Gang dieses Lebens steht und damit zugleich auch die Einheit dieses neuen Lebens in seiner Individualität begründet, wie es durch den in der Taufe empfangenen Eigennamen bezeichnet ist.130

Eine Individualität, die nun aber nicht in sich selbst gründet, sondern in Christus. Damit die Taufe die Wirkungen, die ihr innewohnen, entfalten kann, muss sie im Leben des Täuflings angeeignet werden. Dies folgt aus dem Verständnis der Taufe als Zeichenhandlung. Für Pannenberg ist es nicht nur Teil der Funktion 127 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 270. 128 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 272. 129 Vgl. Kap. 2.1.1. Anders als Heidegger und Dilthey sieht Pannenberg eine Vollendung der individuellen Identität in einem Leben, das mit dem Tod endet, als nicht möglich an. Diese Kritik nimmt er in seiner Tauflehre auf, indem die dort begründete Übereignung an Christus Verbundenheit mit seiner Auferstehung bedeutet und so der Einzelne begründete Hoffnung auf Vollendung seines Lebens und seiner Identität haben kann. Meines Erachtens übersieht Munteanu in seinen Darstellungen zu Pannenbergs Anthropologie, in welcher er ausgehend von dieser auch Pannenbergs Bestimmungen zur Taufe in den Blick nimmt, diesen fundamentalen Zusammenhang. Vgl. Munteanu, Mensch, 352–356. Gleichwohl hält Munteanu die Bedeutung der Auseinandersetzung mit Dilthey und Heidegger für Pannenbergs eigene Anthropologie durchaus fest. Vgl. Munteanu, Mensch, 162–165. 130 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 272f.

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eines Zeichens, „daß es auf die bezeichnete Sache hinweist, sondern auch, daß jemand der Richtung folgt, in die das Zeichen weist.“131 Erst dann findet das Zeichen seine Erfüllung. Das bedeutet, dass die gelebte Individualität im Vertrauen und Glauben an Jesus Christus Aneignung und Erfüllung der Taufe ist. Solche Angewiesenheit auf Aneignung zur vollen Entfaltung der Heilswirkung der Taufe ist allerdings nicht so zu verstehen, dass der in der Taufe vollzogenen Wiedergeburt irgendetwas fehlt. Vielmehr eignet ihr eine Objektivität, deren Sinngehalt den Getauften in Anspruch nimmt, ohne dass dieser etwas dazutun muss. Sie fordert ein ihr entsprechendes Verhalten, das eben auch verfehlt werden bzw. ausbleiben kann. Dieses Ausbleiben stellt aber nicht den Ruf oder den Sog infrage, der von der Taufe ausgeht. „Darum ist sie mehr als nur Ausdruck der Subjektivität des Glaubenden, obwohl das, was sie bezeichnet, erst durch die Aneignung im Glauben voll für den Täufling realisiert wird.“132 Auch wenn sie erst in der Aneignung ihre Wirksamkeit entfaltet, ist sie dennoch ein in sich endgültiges Geschehen. Für Pannenberg ist die Übereignung an Jesus Christus und die darin vollzogen Neukonstitution des Einzelnen durch die Taufe vollgültig realisiert. In dieser Perspektive beurteilt er dann auch die theologischen Auseinandersetzungen der Reformation bezüglich der Frage, ob und inwieweit in der Taufe die Sünde getilgt wird. Trotz der Verwerfung der lutherischen Tauflehre durch das Trienter Konzil sieht er die Grundanliegen beider Seiten im Recht. Für Luther sieht er es als maßgeblich an, dass die Erbsünde zwar weiterhin im Getauften wirkt, aber dem Wiedergeborenen vor Gott nicht mehr angerechnet wird. Dennoch muss laut Pannenberg auch lutherischerseits die dauerhafte Realität der Taufe betont werden. Ist dies nicht der Fall, sieht er die katholische Kritik völlig im Recht, dass die Taufe dann keine Veränderung im Lebensvollzug des Getauften nach sich zieht. Die Kritik kann nur abgewehrt werden, wenn die Taufe als die dauerhafte sowie konkrete Gestalt des neuen Lebens geglaubt wird.133 Die dauerhafte Veränderung des Täuflings durch die Taufe sieht Pannenberg im Trienter Konzil festgehalten, indem gelehrt wird, dass alles, was im eigentlichen Sinne Sünde ist, durch die Taufe getilgt wird und nur die Konkupiszenz im Menschen verbleibt. Pannenberg nun versucht beide Anliegen aufzunehmen. Für ihn ist die in der Taufe neu begründete Identität im Anschluss an Röm 8,1 ohne Sünde. „Die Übereignung an Jesus impliziert Beseitigung der Trennung von Gott, Auslöschung der Sünde.“134 Hierin sieht Pannenberg die Grundaussage des Konzils aufgehoben. Die Sündlosigkeit ist aber so zu begreifen, dass die neue Identität des 131 132 133 134

Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 272. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 272. Vgl. Pannenberg, Spiritualität, 53 sowie der., Grundlage, 254f. Pannenberg, Thesen, 38.

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Wiedergeborenen Antizipation der vollendeten Identität ist und bis zu dem in der Taufe vorweggenommenen Tod mit der sündigen Selbstsucht des alten Menschen verbunden ist. Der Getaufte lebt also im Widerspruch zwischen der neuen, sündlosen Identität des Wiedergeborenen und der Sündhaftigkeit des alten Menschen. Auch Trient hat an der verbleibenden Konkupiszenz im Menschen festgehalten und Luther hat laut Pannenberg mit Recht Konkupiszenz im Anschluss an Augustin und an Röm 6,12 sowie Röm 7,7f als eigentliche Sünde bezeichnet.135 Die nach Pannenberg aber der neuen Identität des Getauften untergeordnet ist und ihm nicht mehr angerechnet wird. Weil diese neue Identität aber auf der Antizipation des in diesem irdischen Leben noch vor uns liegenden Todes beruht, darum muß im Gang dieses irdischen Lebens der alte Mensch immer noch mit Leib und Seele von dem neuen ‚absorbiert‘ werden, bis wir am jüngsten Tage das im ‚Zeichen‘ der Taufe bereits Vollzogene vollständig eingeholt und erfüllt haben werden.136

Wie verhält es sich nun aber mit einem Rückfall gegenüber der in Taufe begründeten Identität in die Sünde und mit der dadurch notwendigen Umkehr des Einzelnen?

4.3.1 Taufe und Buße Die Taufe ist auf Aneignung im täglichen Lebensvollzug angewiesen, um ihre Wirkungen zu entfalten. Teil dieses täglichen Prozesses ist für Pannenberg angesichts der Sündhaftigkeit des Menschen auch Buße und kirchliche Beichte. Dabei gehören für Pannenberg Taufe und Umkehr seit den Anfängen des Christentums eng zusammen. Im Urchristentum wurde der Umkehrruf, der bis auf Hosea zurückreicht, mit der Aufforderung verbunden, sich taufen zu lassen. Grundlage des jesuanischen Umkehrrufes ist die anbrechende Heilszukunft in seinem Wirken und bei denen, die an ihn glauben.137 Der Glaube selbst wiederum 135 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 283f. Allerdings – und hierin kritisiert Pannenberg die katholische Tradition nachdrücklich – wird Konkupiszenz nur als Neigung zur Sünde verstanden und nicht als Sünde im eigentlichen Sinn. Das katholische Festhalten an dieser Deutung ist für Pannenberg auf katholischer Seite der Grund, dass es der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigung nicht gelungen ist, Übereinstimmung zu erzielen hinsichtlich des Sünderseins des Gerechtfertigten. Auf evangelischer Seite sieht Pannenberg den Grund für die fehlende Einigung in dieser Frage darin, dass es auch in der Erklärung nicht gelungen ist, darzulegen, inwiefern der Getaufte von Gott ungetrennt und gleichzeitig Sünder im eigentlichen Sinne ist. Vgl. Pannenberg, Rechtfertigungslehre, 292f sowie ders., Konsense, 297f. In dem im Folgenden dargelegten Verständnis Pannenbergs hinsichtlich der bleibenden Sündhaftigkeit des Getauften sieht er dieses Problem als gelöst an. 136 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 285. 137 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 274.

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ist dabei begriffen als Umkehrakt, was nach Pannenberg der Grund war, dass die johanneische Umkehrtaufe nicht von Jesus übernommen wurde. Die Wiederaufnahme der Taufpraxis nach dem Tod Jesu sieht Pannenberg darin begründet, dass die Taufe die Funktion des berufenden Jesuswortes einnahm. Nun vollzog sich die Bekehrung nicht mehr durch die Annahme des in die Jüngerschaft berufenden Wortes Jesu, sondern durch die Taufe auf seinen Namen. „Umkehr zu Gott oder Bekehrung zu ihm ist also nicht etwas vom Taufakt Verschiedenes, das der Taufe vorausginge oder ihr folgte, sondern Bekehrung und Taufe gehören zusammen.“138 In der Taufe empfängt derjenige, der im Glauben die apostolische Botschaft angenommen hat, objektiv und endgültig die Gemeinschaft mit Christus. Ein Glaube ohne Taufe geschieht für Pannenberg daher „noch in der Selbstverfügung des Menschen über sich, während dieser durch den Akt der Taufe ein neues Subjekt wird, wiewohl im Vollzug der Transformation selbst noch bezogen auf das, was er zuvor war.“139 Die neutestamentlichen Texte zeigen nun den für Pannenberg erstaunlichen Befund, dass sie kaum die Umkehr bereits Getaufter thematisieren. Dies unterstreicht noch einmal die Einmaligkeit und Endgültigkeit der in der Taufe vollzogenen Umkehr. Gegenüber diesem neutestamentlichen Befund verselbstständigte sich die Buße, die Pannenberg ebenfalls wesentlich als Umkehr begreift, gegenüber der Taufe aufgrund der kirchlichen Entwicklung hin zu Bußverfahren für die Wiederaufnahme der aufgrund schwerer Sünden aus der Gemeinde Ausgeschlossenen und der Zulassung regelmäßiger Bußakte bzw. Beichten, auch für leichtere Verfehlungen. Noch einmal verstärkt wurde das Auseinandertreten von Taufe und Buße durch die seit dem späten 2. Jh. entstehende Praxis der Kindertaufe.140 Demgegenüber begreift es Pannenberg als eine der größten Verdienste Luthers, die Buße wieder eng mit der Taufe zu verknüpfen und sie als täglich zu vollziehende Aneignung der in der Taufe realisierten Wiedergeburt zu begreifen.141 Wird Buße als Aneignung der Taufe verstanden, hat sie „es nicht mit einem Unfall des christlichen Lebens zu tun, sondern kennzeichnet seinen normalen Vollzug.“142 Dies will Pannenberg gerade gegenüber der von ihm ausgemachten Wirkungsgeschichte lutherischer Rechtfertigungslehre im Pietismus festhalten. Hier sieht er eine Frömmigkeit maßgebend, welche die Buße bzw. Reue der 138 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 275. 139 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 275. 140 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 276. Die in diesem Zusammenhang entstandene Praxis der Einzelbeichte beurteilt Pannenberg äußerst kritisch, da diese nicht die gemeinschaftsbetreffende Dimension der Sünde und die daher notwendige Wiederversöhnung mit der kirchlichen Gemeinschaft berücksichtigt. 141 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 277. 142 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 286.

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eigenen Schuld und Sünde zum Kriterium der Wahrheit des eigenen Glaubens erhebt.143 Eine solche Frömmigkeit konnte nach Pannenbergs Urteil an Luther anschließen, da auch bei diesem die eigene Rechtfertigungsgewissheit an den immer wieder aktualisierten Vergebungszuspruch gebunden ist.144 Somit aber kann die Reue über die eigene Sünde und die daraufhin zugesprochene Vergebung als Voraussetzung der Gewissheit der Rechtfertigung verstanden werden, also als Bedingung der Gewissheit der Verbundenheit mit Christus. Wird nun aber Sünde im Sinne Pannenbergs als Nichtidentität sowie Schuldbewusstsein als Bewusstsein der eigenen Nichtidentität begriffen, und wird daher die im Schuldbewusstsein erfahrene Nichtidentität zur Bedingung der im Glauben vollzogenen christlichen Identität, ist ein unlösbarer Widerspruch die Folge. Dem Einzelnen ist es dann nach Pannenberg nicht möglich, eine dauerhafte christliche Identität herauszubilden, wenn doch gerade die Nichtidentität das Kennzeichen und die Bedingung dieser sein soll.145 Demgegenüber ist die Einmaligkeit sowie Unhintergehbarkeit der Taufe zu betonen und Buße als Aneignung der in Taufe grundgelegten neuen Identität des Christenmenschen zu begreifen. Deswegen fordert Pannenberg auch eine stärkere Berücksichtigung von Taufe und Taufgedächtnis innerhalb der Liturgie und der Predigt. So sollte z. B. das zu Beginn des Gottesdienstes gemeinsam vollzogene Sündenbekenntnis mit der Ansprache der Gemeinde als Getaufte begonnen werden und nicht mit der Ansprache als Sünder, da so deutlich ist, dass der Einzelne nicht der Sünde, sondern der in der Taufe realisierten neuen Identität untersteht.146 143 Vgl. Pannenberg, Spiritualität, 13. 144 Die gesamte evangelische Frömmigkeit ist nach Pannenberg bis in das 20. Jh. fundamental von einer Bußgesinnung bestimmt gewesen. Dies zeigt z. B. der protestantische Wortgottesdienst, der durch das Bußmotiv strukturiert ist. Im 20. Jh. sind dann nach Pannenberg an die Stelle der Bußfrömmigkeit ein sozialethisches bzw. sozialpolitisches Engagement getreten, ein Bewusstsein von der Freiheit des Menschen als göttliches Geschenk und vor allem eine neu entstandene Abendmahlsfrömmigkeit. Vgl. Pannenberg, Differenzen, 124–127. Zur Kritik Pannenbergs an der protestantischen Bußfrömmigkeit vgl. auch Pannenberg, Existenz, 92–94. 145 Vgl. Pannenberg, Spiritualität, 13f. Hier zeigen sich Konsequenzen der von Pannenberg bereits als Jugendlicher nachgegangen Beschäftigung mit Friedrich Nietzsche. „Nietzsches Kritik an der christlichen Sünden- und Bussmentalität, die ihm zufolge die freie Entwicklung des Einzelnen vereitle, statt sie zu fördern, hat sich dem jungen Pannenberg tief eingeprägt.“ Axt-Piscalar, Pannenberg, 220. Auch wenn nach Pannenberg diese Kritik nicht für das gesamte Christentum gilt, ist doch jede christliche Frömmigkeitsform daraufhin zu überprüfen, inwieweit sie die individuelle Identität und die individuelle Entfaltung fördern. 146 Pannenberg gibt in diesem Zusammenhang konkrete Formulierungsvorschläge, durch welche im Sündenbekenntnis der Agende I der VELKD die Ansprache der Gemeinde als Getaufte in den Vordergrund gerückt wird. Vgl. Pannenberg, Spiritualität, 51f. Die Bedeutung, die nach Pannenberg der Taufe auch in der Predigt zukommen soll, zeigt sich in seinen veröffentlichten Predigten, in denen er immer wieder auf den Stellenwert der Taufe für das gesamte christliche Leben eingeht, gerade angesichts von Sünde und Tod. Vgl. u. a. Pannenberg, Predigten, 22–26; 33–36.

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Sieht Pannenberg ein solches Bußverständnis als Aneignung der Taufe bei Luther gegeben, so sieht er bei diesem gleichzeitig die ekklesiale Dimension des Bußaktes, also die Wiederversöhnung mit der Kirche, nicht berücksichtigt.147 Auch diese Dimension muss eingehegt sein in die alltägliche gläubige Aneignung des in der Taufe Geschehenen. Ein wirklicher Rückfall hinter dieses Geschehen und die daraus folgende Notwendigkeit eines kirchlichen Bußverfahrens besteht für Pannenberg nur, wenn die Sünde die Herrschaft im Lebensvollzug des Getauften zurückgewinnt. Eine solche Herrschaft der Sünde wird sich dabei nicht nur im privaten Leben zeigen, sondern dessen Grenzen aus sich heraus durchbrechen und so im kirchlichen Leben öffentlich werden. Der Bruch mit der Gemeinschaft, der durch die Herrschaft der Sünde sich beim Einzelnen bereits vollzogen hat – denn Trennung von Christus bedeutet auch Trennung von seinem Leib –, wird so auch öffentliche Konsequenzen haben. Solche Ausnahmefälle und die daraus sich ergebende Notwendigkeit einer Wiederversöhnung mit der Gemeinde sieht Pannenberg weder in den evangelischen noch in den katholischen Kirchen berücksichtigt, da die Einzelbeichte gerade die gemeinschaftliche Dimension ausklammert. Dennoch bleibt eine solche notwendige Wiederversöhnung die Ausnahme und gehört, auch wenn er hier von einem Rückfall spricht, „in den allgemeinen Rahmen des Nachvollzugs der im Akt der Taufe zeichenhaft dargestellten und vollzogenen Bekehrung und Buße im ganzen Lebensgang jedes einzelnen Christen.“148

147 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 277f. 148 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 287. Dass Pannenberg im Zusammenhang der Bußthematik den gemeinschaftlichen Charakter der Sünde betont, überrascht gerade auf dem Hintergrund seiner fundamentalanthropologischen Arbeiten nicht. Die Phänomene des Gewissens und der Schuld sieht Pannenberg unzureichend erklärt, wenn sie nur auf das eigene Selbst- und Identitätsbewusstsein bezogen werden. Im Anschluss an die Psychoanalyse behauptet Pannenberg die soziale Einbettung des persönlichen Gewissens, welche aus der sozialen Interaktion heraus entsteht. Dabei will er solche soziale Vermittlung des Gewissens nicht wie die Psychoanalyse als Verinnerlichung gesellschaftlicher Autorität verstehen. Vielmehr ist aufgrund der sozialen Konstitution des Einzelnen auch das Gewissen sozial konstituiert. Dabei geht es nicht um Unterweisung des Einzelnen in gesellschaftliche Normen, sondern dem Einzelnen soll eine verstehende und so Kritik ermöglichende Aneignung der Sinnordnung einer Gesellschaft ermöglicht werden. Macht der Einzelne sich nun schuldig, handelt es sich dabei in der Regel nicht nur um eine rein subjektive Schuld, sondern sie hat auch objektiven Charakter, indem durch sie die Sinnordnung einer Gemeinschaft verletzt wird. Hier liegt der Sinn von Sühne, welche auf Wiederherstellung der verletzten Ordnung zielt. „Bei der Sühne geht es nicht um ein Prinzip der Rache, sondern um die Wiederherstellung der durch die Tat verletzten Sinnordnung der Gemeinschaft und so auch der Identität des Täters selber.“ Pannenberg, Anthropologie, 302. In der christlichen Religion hat nun nicht die kirchliche Buße primär solche sühnende Funktion, sondern die Eucharistie, die den Einzelnen wieder in die Gemeinschaft eingliedert und ihm so seine Identität zurückgibt. Vgl. insgesamt Pannenberg, Anthropologie, 286–303.

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Pannenberg sieht in der Taufe die Übereignung des Täuflings an Jesus Christus definitiv realisiert. Die Taufe, in welcher die vollendete Identität des Einzelnen durch Teilhabe an Tod und Auferstehung Jesu antizipatorisch vorweggenommen wird, ist dabei auf Aneignung im Glauben angewiesen, um ihre volle Wirksamkeit im Leben des Einzelnen zu entfalten. Diese Ausführungen Pannenbergs zur Taufe machen daher eine genauere Verhältnisbestimmung von Taufe und Glaube notwendig.

4.3.2 Taufe und Glaube Brennpunkt des Verhältnisses von Taufe und Glaube ist für Pannenberg die seit dem späten 2. Jh. sich verbreitende Praxis der Säuglingstaufe. Hier zeigt sich, ob die Taufe bloß als öffentliches Zeugnis der persönlichen Hinwendung zum Glauben zu verstehen ist; bei einem solchen Verständnis ist die Säuglingstaufe abzulehnen. Oder aber es ist die Überzeugung leitend, dass durch die Taufe etwas vermittelt wird, was auch der bereits Glaubende nicht aus sich heraus bewirken kann, „nämlich die definitive Verbindung des Täuflings mit dem Geschick Jesu, dann ist der Sachverhalt offenbar vielschichtiger als es die Befürworter der Bekenntnistaufe oft angenommen haben.“149 Eben darin besteht für Pannenberg das Wesen der Taufe: Sie ist die unverbrüchliche Übereignung an Jesus Christus. Auch wenn es Menschen sind, die taufen, ist sie daher in ihrem Kern ein Handeln Gottes am Menschen.150 Daher sieht Pannenberg den Glauben immer bezogen auf die Taufe; der Glaube macht mit Luther die Taufe nicht, er empfängt sie. Dies ist für Pannenberg auch dann gegeben, wenn der Glaube an Christus und das Bekenntnis dazu der Taufe vorausgeht wie in der Erwachsenentaufe. Auch dann empfängt der Glaubende noch die Taufe als Siegel des Glaubens, die sein Leben unverbrüchlich mit dem Sterben und Auferstehen Jesu Christi verbindet, und seine Wirkung hat dieses Geschehen dadurch, daß das Leben des Christen von Schritt zu Schritt durch sein Getauftsein und durch die erinnernde Aneignung dessen, was das bedeutet, geprägt wird.151

Die Taufe verbürgt die Unverbrüchlichkeit der Übereignung an Christus. Sie zeigt darin die dauerhafte Anerkennung des Geschöpfes durch den Schöpfer. Die Praxis der Säuglingstaufe ist für Pannenberg nur dann zulässig, wenn vorausgesetzt ist, dass die Taufe auf den Glauben zielt, dass der Glaube aber die Taufe 149 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 290. 150 Da die Taufe Gottes- und nicht Menschenwerk ist, ist es die Frage der Einsetzung der Taufe von bleibender Bedeutung. Die Beantwortung dieser Frage entscheidet für Pannenberg, ob der Taufe die ihr zugeschriebene Funktion und Wirkung zukommt. Vgl. Kap. 4.4.3. 151 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 291.

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und das, was sie bezeichnet, nur empfangen kann.152 Die Taufe und ihre Wirkungen haben keine Voraussetzung aufseiten des Menschen. Zu einem solchen Taufverständnis sieht Pannenberg dann auch die altkirchliche Praxis nicht im Widerspruch, die nur die Taufe bereits zum Glauben gekommener Erwachsener vorsah. Zeigt sich hier, dass die Taufe offensichtlich nicht gegen den Willen und die Überzeugung des zu Taufenden durchgeführt werden, sobald diese ausgebildet sind, so ist sie in dem beschriebenen Verständnis nicht vom individuellen Glauben abhängig. Denn dieser ist veränderlich: „Wer kann für das eigene Beharren im Glauben garantieren?“153 Die Zusage Gottes aber bleibt. Darüber hinaus sieht Pannenberg bei Kindern und Säuglingen eine Voraussetzung gegeben, die Erwachsenen meist fehlt: Bereitschaft zu unbegrenztem Vertrauen. Das Grundvertrauen, das im Säuglingsalter am dichtesten ausgeprägt ist und für die weitere Identitätsbildung unerlässlich ist, ist nach Pannenberg zwar noch nicht explizites Gottvertrauen, hat aber Gott zum eigentlichen Gegenstand.154 Daher sieht es Pannenberg auch als legitim an, mit dem sogenannten Kinderevangelium in Mk 10,14 die Taufe von Kindern zu begründen, da Jesus hier die Offenheit für das nahe Gottesreich als etwas spezifisch Kindliches hervorhebt.155 Zeigt sich im kindlichen Grundvertrauen eine anthropologische Konstante, die in der Säuglingstaufe eingeholt wird, ist in dieser Perspektive auch das bei der Taufe von den Eltern stellvertretend abgelegte Bekenntnis zu interpretieren: Die Eltern sind zwar am Beginn des Lebens der Gegenstand des kindlichen Vertrauens, aber lediglich stellvertretend. Es bedarf daher der (religiösen) Erziehung des Kindes, damit Gott als alleiniger Garant eines solchen unbegrenzten Vertrauens erscheint.156 Das für das Kind stellvertretende Bekenntnis des Glaubens durch die Eltern, welches seit Beginn der Kindertaufe Teil der Zeremonie war, erscheint so der kindlichen Situation angemessen. „Das mag dem Individualismus der modernen Mentalität schwer eingehen, wird aber der menschlichen Wirklichkeit in ihrer sozialen Verflochtenheit eher gerecht als eine abstrakte Betrachtung des Individuums.“157 Ziel der religiösen Erziehung der Eltern sowie der kirchlichen Unterweisung ist die Aneignung der Taufe im Glauben. Teil dieser Aneignung ist es, dass der Getaufte das bei der Taufe stellvertretend abgelegte Bekenntnis selbst bekennt. Hier liegt der Sinngehalt der Konfirmation bzw. Firmung. Sie ist öffentliche Bestätigung der in der Taufe vollzogenen Wiedergeburt. Die Konfirmation verdeutlicht in ihrem Bezug zur Taufe die „Beziehung

152 153 154 155 156 157

Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 291f. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 293. Vgl. Kap. 2.1.1. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 293f. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 295f. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 293.

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der Taufe auf den ganzen Lebensweg“158. Nicht nur die Buße, auch das Bekennen im Glauben ist Teil der lebenslangen Aneignung. Dass solch bekennende Aneignung nicht nur Tat des Glaubenden ist, sondern dieser auch hierin auf Gott angewiesen ist, zeigt die Handauflegung im Konfirmationsgottesdienst.159 Hinsichtlich der variierenden Taufpraxis der verschiedenen Konfessionen ergeben sich aus Pannenbergs Plädoyer für die Säuglingstaufe zwei zentrale: Erstens bedeutet diese Positionierung für ihn keine Verurteilung derer, die gegen die Kindertaufe sind, wie noch von der CA ausgesprochen. Die Heilsnotwendikeit der Säuglingstaufe, die in der Tradition immer wieder behauptet wurde, beruht nach Pannenberg auf der Erbsündenlehre. Nicht getaufte Kinder sind demnach vom Heil ausgeschlossen. Dies widerspricht aber in seinen Augen dem neutestamentlichen Zeugnis. Aber selbst bei Beibehaltung der Erbsündenlehre werden im Anschluss an Mk 8,11 auch Menschen aus anderen Kulturen Teil des Reich Gottes sein, die nicht getauft wurden. Folglich muss es Raum im kirchlichen Handeln für die Erwachsenentaufe geben.160 Zweitens hat nur die Wiedertaufe kirchentrennende Wirkung und ist zu verurteilen, „weil damit ipso facto die Ungültigkeit der bereits empfangenen Taufe unterstellt wird.“161 In der Begründung der Säuglingstaufe hat Pannenberg, im Anschluss an Mk 10,14 sowie an seine identitätstheoretischen Ausführungen, das Grundvertrauen des Säuglings in den Mittelpunkt gestellt. Hier zeigt sich die Grundausrichtung seines Glaubensbegriffs, der ebenfalls wesentlich als Vertrauen gefasst wird. In solcher Charakterisierung des Glaubens sieht er eine reformatorische Grunderkenntnis aufgenommen: Die Erkenntnis des Glaubens als vertrauendes Sich-Verlassen auf den in Jesus Christus offenbaren Gott ist die grundlegende Einsicht der Reformation, durch die sie eine neue, durch Unmittelbarkeit zu Gott gekennzeichnete, christliche Frömmigkeit begründet hat.162

Für Pannenberg sind hier gerade Luthers exegetische Einsichten maßgebend, in denen letzterer die zeitliche Struktur des Glaubens wieder entdeckt hat und damit die Unmittelbarkeit des einzelnen Glaubenden zu Gott. Gegenstand des Vertrauens ist Gott, wie er sich in seinen Verheißungen offenbart hat. „Der

158 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 300. Eine ökumenische Verständigung über die Frage der Sakramentalität der Firmung ist für Pannenberg nur möglich, wenn diese von der Sakramentalität der Taufe abgeleitet wird. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 297–299. 159 Zu Konfirmation bzw. Firmung und Taufe insgesamt vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 297–303. 160 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 294f. 161 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 295. (Hervorhebung im Original.) 162 Pannenberg, Thesen, 24.

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Glaubende vertraut Gott, indem er sich auf seine Verheißung einläßt.“163 Der wechselseitige Bezug von Verheißung und Glauben zeigt sich Pannenberg bei Luther dergestalt, dass das Verheißungswort dem gilt, der es gläubig ergreift, und dass umgekehrt nur der Glaube die einzige angemessene Zustimmung diesem Wort gegenüber ist. Gegenstand des Vertrauens ist Gott, der treu gegenüber seinen Verheißungen ist und sich in diesen offenbart.164 Im Anschluss an Melanchthon setzt solcher der Verheißung vertrauende Glaube die Kenntnis seines Gegenstandes bereits voraus. Der Glaubende muss nach Pannenberg um die Verheißung Gottes in Jesus Christus wissen, um dieser vertrauend zustimmen zu können.165 Dies meint jedoch kein bloß historisches Wissen. Vielmehr bedarf solche historische Kenntnis des vertrauenden Sicheinlassens darauf, denn nur so wird der eigentliche Sinn der Historie erfasst, der Verheißungssinn der Geschichte offenbar. „Um der der Historie Jesu eigenen Bedeutsamkeit willen, um ihres Verheißungssinnes willen also, muß die Kenntnisnahme von ihr in das Vertrauen auf den in dieser Geschichte handelnden Gott übergehen.“166 Trotz der Umwälzungen innerhalb der Moderne, gerade ausgehend von der historisch-kritischen Bibelkritik, möchte Pannenberg daran festhalten, dass der Grund des Glaubens und damit auch die Voraussetzung des Glaubens die geschichtliche Offenbarung Gottes ist. Daher sind die Kenntnis geschichtlicher Tatsachen, in welchen Gott gehandelt hat, sowie die Zustimmung, dass Gott sich in diesen offenbart, Voraussetzung des vertrauenden Glaubens. Ein Rückzug auf den Glauben, dem gegenüber die historischen Bezüge sekundär sind, oder eine Begründung der Plausibilität historischer Annahmen durch die individuelle Glaubenserfahrung, wie gerade in der Erweckungstheologie vorgenommen, ist demgegenüber für Pannenberg unzureichend.167 Ein solches Vorgehen ist unzureichend, weil es der Glaubensstruktur selbst zuwider läuft, die sich extra se gegründet weiß, nämlich extra se in Christus. Wird hingegen der Glaube zum Bürgen seiner Inhalte erklärt, dann ist er selbst der tragende Grund und dies widerspricht seinem Wesen. Zur Integrität des Glaubens gehört zu allererst, daß der Glaube nicht aus sich selber lebt, sondern von der ihm vorgegebenen Wirklichkeit Gottes und seiner Offenbarung in der Geschichte Israels und ihrer eschatologischen Vollendung in Jesus von Nazareth.168

Das Handeln Gottes in der Geschichte, besonders in dem einen Menschen Jesus Christus ist der vorgegebene, dem Glauben entzogene Grund seiner selbst. Dies 163 164 165 166 167 168

Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 159. (Hervorhebung im Original.) Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 160–162. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 163. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 164. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 167–171. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 175.

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bedeutet aber auch, dass das Wissen um Gottes Handeln in der Geschichte und besonders in Christus nicht von dem vertrauensvollen Glauben an Christus getrennt werden kann. Hier zeigt sich im Glaubensbegriff Pannenbergs eine Struktur, die bereits für sein Verständnis vom Bekenntnis grundlegend war. Auch hier ist es der intentionale Akt, das Bekennen zu Christus, der Grund der Heilswirkungen des Bekenntnisses ist. Und auch hier ist Teil dieses Aktes eine lehrhafte Verständigung darüber, wozu sich der Einzelne bekennt. Bereits bei Paulus sieht es Pannenberg als Voraussetzung der Heilswirkung des Bekenntnisses an, dass dieses die Zustimmung zur Auferstehung Jesu beinhaltet (Röm 10,9).169 Dies markiert den Beginn der lehrhaften Ausformulierung christlicher Bekenntnisse. Sinn solcher lehrhaften Ausformulierung ist die Versicherung darüber, dass mit dem persönlichen Bekennen der Christus gemeint ist, den die Kirche bekennt. Dabei ist es für Pannenbergs Verständnis grundlegend, dass zwischen der Endgültigkeit des Bekenntnisakts und der jeweils nur vorläufigen Ausformulierung des Bekenntnisinhaltes zu unterscheiden ist.170 Analoges gilt für Pannenbergs Glaubensbegriff. Auch hier ist der Vollzug des Glaubens Zueignung des Heils in Christus. Demgegenüber bleibt das Wissen um den Grund des Glaubens immer vorläufig. Vielmehr ist sich der Glaubende um die stete Korrekturbedürftigkeit seines eigenen Verständnisses vom Grund seines Glaubens bewusst, einer Korrekturbedürftigkeit von eben diesem Grund her.171 Hierin liegt für Pannenberg kein Widerspruch zur eschatologischen Qualität des Glaubens, da in einer solcher Glaubensbeschreibung die Differenz von vorläufiger Einsicht in den Glaubensgrund sowie dessen Bedeutung für das eigene Leben in der Welt und endgültiger Einsicht im Eschaton eingeschlossen ist. Dies deckt sich auch mit moderner Hermeneutik, die von der Perspektivität und Relativität geschichtlichen Lebens und Erkennens ausgeht. Außerdem ermöglicht ein solcher Glaubensbegriff das Bewusstsein der Vorläufigkeit der eigenen Deutung des Glaubensgeschehens gegenüber seiner endgültigen Bedeutung und setzt plurale theologische Lehrbildungen grundsätzlich ins Recht.172 Die Spannung zwischen der Vorläufigkeit der eigenen Deutung und der Endgültigkeit des Glaubens ist für Pannenberg in der Beschreibung des Glaubens als Vertrauen aufgehoben: Wir müssen neu verstehen lernen, daß die Wahrheit, die Christen verbindet, als endgültige nur im Akt des Glaubens, des Vertrauens zu ergreifen ist, während alle Er-

169 170 171 172

Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 165f. Vgl. Kap. 4.2.2. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 177f. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 179–181.

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kenntnis dieser Wahrheit beschränkt und vorläufig bleibt, auch die Erkenntnis, die jeweils zum Ausgangspunkt des gläubigen Vertrauens wird.173

Wie jedes Vertrauen beruht auch das religiöse Vertrauen auf vorläufiger Kenntnis, aufgrund derer der Einzelne den Gegenstand seines Vertrauens für vertrauenswürdig hält. Das Vertrauen selbst aber geht über diese vorläufige Kenntnis hinaus, indem sich der Einzelne darin selbst verlässt und sein Wohlergehen dem ausliefert, dem er vertraut. Er hofft darauf, dass der, dem er vertraut, es gut mit ihm meinen wird. Wenn es im Vertrauen um die Ganzheit des eigenen Lebens geht, um die künftige Vollendung des eigenen Selbst, wenn also uneingeschränktes Vertrauen herrscht, dann ist für Pannenberg von Glauben zu sprechen. Die proleptische, auf endgültiges (als solches noch nicht gegenwärtig realisiertes) Heil gerichtete Struktur des Vertrauens entspricht der proleptischen Struktur seines Gegenstandes und Grundes, da das Heil der Welt in der Auferstehung Jesu nur vorgängig, noch nicht in menschlicher Allgemeinheit erschienen ist.174

Im vertrauenden Glauben auf die in Botschaft und Geschichte Jesu Christi offenbarten Verheißungen Gottes ist der Einzelne verbunden mit Christus. Er partizipiert so an dessen Sohnesverhältnis zum Vater. „Das ist die ‚Gotteskindschaft‘, die dem Glaubenden die Gewißheit des künftigen ‚Erbes‘, nämlich des an Jesus Christus schon erschienenen neuen Lebens, gewährt.“175 Die Glaubenden sind so hineingenommen in die Liebe Gottes und die Gemeinschaft mit ihm sowie in den Gehorsam des Sohnes gegenüber dem Vater. Gotteskindschaft ist daher für Pannenberg der „Inbegriff der christlichen Existenz.“176 Ein solcher ist dieser Begriff für ihn nicht nur in den paulinischen Werken, sondern ansatzweise bereits bei Jesus selbst, wie die überlieferten Verheißungsworte in Mt 5,9 und Lk 6,35 zeigen sowie die Aussage Jesu über das kindliche Vertrauen im Hinblick auf das Gottesreich, welches in Mk 10,15 und Lk 18,17 überliefert ist. Darin unterscheidet sich die Aussage von der Gotteskindschaft auch von der Rechtfertigungslehre, welche lediglich ein Thema paulinischer Theologie darstellt.177 173 174 175 176 177

Pannenberg, Reformation, 24f. Pannenberg, Thesen, 25f. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 238. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 238. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 238–240. Pannenberg vollzieht immer wieder eine ausführliche Kritik der Rechtfertigungslehre lutherischer Prägung. Dabei zielt er zum einen auf die Dauerhaftigkeit der neuen Identität in Christus, die er in der Rechtfertigungslehre unzureichend berücksichtigt sieht. Vgl. Pannenberg, Spiritualität, 14–24 sowie Kap. 4.3.1. Zum anderen stellt er sich gegen ein Verständnis der Rechtfertigung, welches die in der Rechtfertigung von Gott vollzogene Gerechterklärung des Glaubenden als Grund seiner Gerechtigkeit versteht. Dies kann für Pannenberg schon gar nicht als Beginn eines Prozess verstanden werden, der aus dem Gerechterklärten einen Gerechten werden lässt. Es

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Die Gemeinschaft mit Christus im Glauben ist begründet durch Bekenntnis und Taufe. In der Taufe ereignet sich die Wiedergeburt des Menschen durch den Heiligen Geist. In der Taufe ist die Gotteskindschaft der Glaubenden begründet (Gal 3,26f; vgl. Joh 1,12f), verbunden mit der Hoffnung auf das ‚Erbteil‘ des ewigen Lebens (1. Pt 1,3f)178.

Die Taufe zeigt dabei die Vorgängigkeit des Handeln Gottes und seiner Verheißung, die dem Glauben entzogen sind und auf welchen dieser sich gründen kann. Und in der Taufe zeigt sich und weiß der Einzelne, dass die Verheißungen Gottes ihm gelten, auf ihn bezogen sind. „Erst die Taufe gibt dem Christen das Recht und die Gewißheit, sich selbst als Adressaten der Verheißungen Gottes zu verstehen.“179 Somit kann die Taufe dem Glauben Halt geben. Indem in der Taufe ein für allemal die Verbundenheit mit Christus und damit die neue Identität des Getauften konstituiert ist, nimmt die christliche Religion für Pannenberg eine zutiefst menschliche Frage auf: Nämlich, wie der Mensch seine eigene Identität zugleich als unverfügbar bzw. sich gegeben erfahren und dennoch als autonomen Selbstvollzug begreifen kann. Diese subjektive Spannung umgreift die Taufe, indem hier Identität außerhalb der unmittelbaren Selbstvertrautheit begründet wird und gleichzeitig die neugegründete Identität auf lebenslange Aneignung angewiesen ist.180 Voraussetzung dafür, dass die Taufe „den Menschen zu sich selber bringt in Übereinstimmung mit seiner natürlichen, in seiner Schöpfung begründeten Bestimmung“181, ist, dass diese das Werk Gottes ist. Daher bedarf es noch einiger abschließender Bemerkungen zu Frage der Einsetzung der Taufe.

178 179

180 181

ist als eschatologische Urteil Gottes zu verstehen, das aufgrund der Teilhabe an Christus im Glauben vorweggenommen wird. So ist dann auch die Gerechterklärung nicht erst Ursache der Gerechtigkeit im Glauben, sondern setzt letztere vielmehr voraus. Indem der Glaubende glaubt, ist er gerecht und wird daher von Gott für gerecht erklärt. „Nach Paulus ist der Glaube selbst die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, weil wir durch den Glauben an Jesus Christus der in ihm erwiesenen Bundesgerechtigkeit Gottes entsprechen, indem wir die darin vollbrachte Sühne zur Vergebung der Sünden (Röm 3,24f) für uns annehmen und so Gott in seinem Handeln recht geben.“ (Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 250.) Vgl. insgesamt Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 240–265. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 264. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 304. Damit ist für Pannenberg auch die Taufe der eigentliche Ort der Rechtfertigung des Einzelnen und der Glaube ist dies nur, insofern er die in der Taufe vollzogene Rechtfertigung aneignet. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 304f. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 305f. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 306.

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4.3.3 Zur Frage der Einsetzung der Taufe Pannenberg begründet die Einsetzung der Taufe mit der Taufe Jesu durch Johannes, deren Historizität kaum zu bestreiten ist. Dabei impliziert der Zusammenhang von Vateranrede sowie Geistgabe bei der Taufe den Gedanken der Sohnschaft Jesu im Verhältnis zum Vater und somit kann die Taufpraxis im Urchristentum für Pannenberg auf Jesus selbst zurückgeführt werden.182 Dass Jesus selbst nicht taufte, begründet Pannenberg mit Unterschieden in der jesuanischen und johannäischen Verkündigung, da Jesus nicht das Gericht, sondern die nahe gekommene Rettung verkündigte. Dennoch war die Taufe für Jesu Selbstverständnis weiterhin von Bedeutung. Hierfür zieht Pannenberg Mk 10,38 und Lk 12,49f heran: Beide Worte deuten nicht nur den bevorstehenden Leidensweg an, sondern stellen auch einen Rückbezug zur Taufe Jesu her und verbinden diese so mit der Erwartung seines Martyriums. Das aber bedeutet nichts Geringeres, als daß das spätere, bei Paulus begegnende Verständnis der christlichen Taufe als Teilhabe an Jesu Sterben und Auferstehen der Auffassung Jesu selber von der Bedeutung seiner von Johannes empfangenen Taufe und umgekehrt der Deutung des Martyriums, auf das er zuging, als einer ‚Taufe‘ korrespondiert.183

Somit kann die Taufe Jesu als Grund der christlichen Taufe angesehen werden. Hier ist ihr Sinngehalt begründet, nämlich Teilhabe des Getauften am Sterben Jesu und – in der Perspektive von Ostern – an seiner Auferstehung. Daher ist die Taufpraxis auch nach Ostern als Teil der missionarischen Tätigkeiten des Christentums wieder aufgenommen worden, da sie dann Unterpfand des eigenen Heils des Getauften sein konnte.184 Teilhabe am Tod Christi hat für Pannenberg die Konsequenz, dass der Getaufte alles seiner göttlichen Berufung unterzuordnen hat, wie auch Christus seiner Berufung gehorsam gegenüber war bis ans Kreuz. Daher verändert die Taufe auch die persönliche Individualität im Lichte ihrer Berufung, aber tilgt diese nicht, sondern ermöglicht sie allererst. Dem Einzelnen wird so die Freiheit der Gotteskindschaft zuteil, seinen je eigenen Weg zu beginnen, nun aber in Gemeinschaft mit Christus und so in der Gemeinschaft mit der Kirche. So wie Jesu Sendung der Verkündigung der Gottesherrschaft und ihrer Darstellung in der Gemeinschaft seiner Jünger diente, so ist jeder einzelne Christ durch Jesu Taufe zu einem besonderen Beitrag zum Zeugnis für die Gottesherrschaft und in der Gemeinschaft der Kirche berufen.185 182 183 184 185

Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 308–311. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 312. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 313. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 314.

Das eucharistische Zentrum der Kirche

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Von der Sendung Jesu her, das Gottesreich zu verkündigen, welches dann im Jüngerkreis seine Darstellung fand, konstituiert die Taufe die Mitgliedschaft in der Kirche. Der Einzelne wird so Teil der Gemeinde, welche vorläufige Darstellung des Reiches Gottes ist. Am dichtesten ist diese Darstellung für Pannenberg nicht in der Taufe, sondern im Abendmahl.

4.4

Das eucharistische Zentrum der Kirche

Pannenberg begreift die Kirche als vorwegnehmende Darstellung einer vollendeten Menschheit im Reich Gottes. In einer solchen eschatologischen Perspektive kann die Vorstellung einer weltweiten, alle Menschen umfassenden Gemeinschaft gewürdigt und anerkannt werden; wenn auch aus christlicher Sicht jegliches politisches Konzept, das eine solche herbeiführen will, zu kritisieren ist, da eine weltweit geeinte Menschheit, in Frieden und Gerechtigkeit, unter irdischen Bedingungen nicht möglich ist. Sie kann nur unter der Herrschaft Gottes, nicht unter menschlicher Herrschaft realisiert werden.186 Dennoch ist die Vorstellung einer geeinten Menschheit ein wirkmächtiges Symbol, welches den Gemeinschaftssinn des Einzelnen stärken kann. Generell ist für Pannenberg dem Einzelnen sein Bezug zu übergeordneten Gemeinschaftsformen und seine Verantwortung diesen gegenüber nur vermittelbar durch Symbole. Dies zeigt sich z. B. in der Nationalhymne oder in Einheitsfeiertagen, die dem Einzelnen seine Teilhabe an nationalen oder kulturellen Gemeinschaften vermitteln. Auch öffentliche Ämter sind von ihrem Symbolcharakter her zu begreifen, da sie nur als Repräsentation der Einheit der durch sie Vertretenen ihren Anspruch auf Gehorsam begründen können.187 In der gesamten Geschichte ist es nach Pannenberg die vermittelnde Kraft solcher Symbole gewesen, die den Einzelnen zum Dienst an einer größeren Gemeinschaft motivierten. Auch die Kirche ist dem Einzelnen durch Symbole gegenwärtig, z. B. durch das Kreuz oder die kirchlichen Ämter. Aber der Symbolcharakter reicht weit darüber hinaus: „Im Fall der Kirche ist auch die Gemeinschaft als solche symbolisch.“188 Ein solches Symbol ist die Kirche für Pannenberg seit ihrer Gründung, da sie ihrem Wesen nach von Beginn an Darstellung versöhnter Gemeinschaft gewesen ist und so auf das Reich Gottes verweist.189 Dies erklärt für Pannenberg, warum der Gottesdienst und gerade der 186 Vgl. Pannenberg, Spiritualität, 30f. 187 Dies gilt nicht nur für politische Ämter, sondern auch für kirchliche, welche das gläubige Volk repräsentieren. Vgl. Pannenberg, Spiritualität, 30. 188 Pannenberg, Spiritualität, 30. 189 Vgl. Kap. 4.1 und hier insbesondere die Ausführungen zum Zeichen- bzw. Symbolbegriff Pannenbergs. Noch einmal sei erwähnt, dass Pannenberg den Zeichen- und Symbolbegriff deckungsgleich verwendet.

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Kirche als vorwegnehmende Darstellung des Reiches Gottes

eucharistische Gottesdienst das Zentrum der Kirche bildet, seit ihrer Gründung.190 Dass hier das Wesen der Kirche liegt, ist für Pannenberg nur zu bestreiten, wenn der symbolische Charakter der Kirche verkannt wird.191 In der Feier der Eucharistie wird wie in keinem anderen Ereignis des Lebens der Kirche und ihres Gottesdienstes die Begründung ihres eigenen Daseins und Wesens kommemoriert und symbolisiert sowie auch effektiv erneuert.192

Die Gemeinschaft mit Jesus Christus, welche der Grund der Kirche ist, ist in der Eucharistie in all ihrer Fülle zeichenhaft gegenwärtig. Die Eucharistie ist so die Wurzel des Seins der Kirche, aus welcher heraus diese lebt und sich immer wieder erneuert. Die Bedeutung des Abendmahls, seine Wirksamkeit sowie sein symbolischer Charakter ist begründet in dessen Einsetzung durch Jesus.

4.4.1 Ursprung und Bedeutung des Abendmahls Die zentrale Stellung und die Bedeutung des Abendmahls in und für die Kirche ist nach Pannenberg nur von dessen Ursprung durch Jesu Einsetzung her zu begreifen. Denn dass das Abendmahl auf den geschichtlichen Jesus zurückgeht, ist „nach gemeinchristlichem Verständnis für das Wesen der Mahlfeier selbst konstitutiv“193. Dabei kann die Einsetzung auf der Grundlage der historischen Kritik nicht nur aufgrund des Abschiedsmahls mit seinen Jüngern und dessen neutestamentlicher Überlieferung behauptet werden, auch wenn die Tradition hier immer wieder ihren Ausgang bei der Begründung des Abendmahls genommen hat.194 Im Anschluss an Ferdinand Hahn urteilt Pannenberg über die 190 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 314. 191 Vgl. Pannenberg, Spiritualität, 32–34. Eine solche Verkennung des symbolischen Charakters der Kirche liegt für Pannenberg bereits dann vor, wenn Kirche es zu ihrem Ziel und Daseinszweck erklärt, Hunger, Armut und Krankheit auf der Erde beheben zu wollen. Hier verkennt Kirche ihren Symbolcharakter, der auf die Erfüllung der menschlichen Bestimmung im Eschaton verweist und diese eben nicht auf Erden realisieren will. Dennoch kommt auch den diakonischen Tätigkeiten der Kirche eine Bedeutung zu, aber wiederum nur eine symbolische, analog zu Jesu Sättigungen oder Heilungen, welche auf die Fülle im Reich Gottes verweisen, im Bewusstsein der eigenen Vorläufigkeit. Vgl. Pannenberg, Spiritualität, 33. 192 Pannenberg, Spiritualität, 36. 193 Pannenberg, Abendmahlslehre, 293. 194 Wie der Exkurs zu Pannenbergs Sakramentsbegriff im Anschluss an die Abendmahlslehre zeigen wird, ist eine Begründung des Abendmahls aus diesem nicht möglich. Hiergegen spricht für Pannenberg einerseits, dass dieser Begriff nachträglich eine bestimmte Klasse kirchlicher Handlungen zusammenfasst; andererseits spricht gegen eine solche Begründung, dass die grundlegende Bedeutung der Einsetzung Jesu umgangen wird, wenn nicht von hier aus nach der ursprünglichen Bedeutung und Gestalt des Abendmahls gefragt wird. Vgl. Pannenberg, Abendmahlslehre, 294f.

Das eucharistische Zentrum der Kirche

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neutestamentlichen Berichte, dass es sich hierbei um nachösterliche Ätiologien der urchristlichen Abendmahlspraxis handelt. Dieser Befund sowie die Differenzen in den Berichten lassen daher keinen Rückschlüsse auf Jesu ursprüngliche Worte sowie den genauen Ablauf und die Eigenart des Abschiedsmahls zu. So ist für die Begründung und der Frage der Einsetzung des Abendmahls durch Jesus analog zur Taufe unabdinglich, „auf das Ganze der Jesusüberlieferung zurückzugehen, um eine hinreichend gesicherte Basis für eine Urteilsbildung zu gewinnen.“195 Von der Perspektive auf die gesamte Mahlpraxis des irdischen Jesus her sind dann auch die Berichte von seinem Abschiedsmahl zu interpretieren. In der Jesusüberlieferung der Evangelien nehmen Berichte über seine Mahlfeiern einen wichtigen Platz ein. Neben konkreten Darstellungen wie in Mk 14,3 oder Lk 7,36ff sind es für Pannenberg vor allem die überlieferten Kritiken an Jesus, die dies belegen. So wird berichtet, dass Jesus und seine Jünger anders als der Täufer nicht fasteten, sondern aßen und tranken (Lk 5,33; Lk 7,34). Des Weiteren wird der Vorwurf gegen Jesus überliefert, dass er sich durch Mahlgemeinschaft mit Sündern und Zöllnern verunreinigte (z. B. Lk 15,2). Diese Kritik zeigt, dass Jesu Teilnahme an Mahlzeiten „als charakteristisch für sein Auftreten und für das Verhalten seines Jüngerkreises galten“196. Die Annahme der Einladung zum gemeinsamen Mahl zeigt Jesu Bereitschaft, mit sich Gemeinschaft zu gewähren (Mk 2,16; Lk 15,2). So konnte die Teilnahme Jesu an einem gemeinsamen Mahl Zeichen des anbrechenden Gottesreiches und Zeichen der Aufnahme der anderen Mahlteilnehmer in die Gemeinschaft des Gottesreiches sein. Gerade in Mk 2,17 zeigt sich für Pannenberg, dass mit der Teilnahme Jesu am gemeinsamen Mahl die Aufhebung alles von Gott Trennenden, also Vergebung der Sünden verbunden war. Die Mahlgemeinschaft kann daher als „Realysmbol der Gemeinschaft mit Gott selbst und der Teilhabe an der Zukunft des Gottesreiches“197 verstanden werden. Der traditionsgeschichtliche Hintergrund eines solchen Mahlverständnisses liegt wiederum in der jüdischen Tradition, in welcher ebenfalls die Vorstellung des Eschatons als eines Mahls geläufig war, wie z. B. Jes 25,6 zeigt. Eine solche Darstellung des eschatologischen Gottesreiches als Mahlgemeinschaft findet sich auch in jesuanischen Gleichnissen, z. B. in Lk 12,35ff. Die Bilder vom Hochzeitsmahl in Mt 22, 1–10 und vom Freudenmahl in Lk 14, 16–24 zeigen für Pannenberg noch einmal den Bezug zur Sendung Jesu selbst. Jesus verkündigt die Einladung Gottes zur eschatologischen Mahlge195 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 315. 196 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 316. 197 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 316. Ein solches Verständnis zeigt sich für Pannenberg auch in dem Gleichnis vom verlorenen Sohn. Es ist für ihn nicht zufällig, dass dieses mit einem Festmahl endet. Daher unterstreicht es die Deutung, dass in Jesu Mahlpraxis die Aufhebung von allem von Gott Trennenden symbolisiert ist.

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meinschaft und anstelle der ursprünglich Eingeladenen nehmen die Kranken und Landstreicher deren Platz ein. Hier zeigt sich, dass Jesus ganz bewusst die gemeinsamen Mahlfeiern als eine zeichenhafte Vorwegnahme der eschatologischen Gemeinschaft im Reich Gottes verstanden hat. Als seine zentrale Symbolhandlung verdichtet sich hier die Verkündigung des nahen Gottesreiches und des angebrochenen eschatologischen Heils.198 Die Interpretation der Überlieferung zur Mahlpraxis des irdischen Jesus bildet nun für Pannenberg den Hintergrund, von welchem her das Abschiedsmahl sowie die Berichte davon zu deuten sind. In einer solchen Perspektive zeigt sich, dass sich der implizite Sinngehalt der vorösterlichen Mahlgemeinschaft Jesu weitgehend damit [deckt], was die neutestamentlichen Berichte über das letzte Mahl Jesu als explizite Sinndeutung dieses Mahles hervortreten lassen.199

So zeigen die überlieferten Deuteworte Dimensionen auf, die Pannenberg zufolge bereits der vorangegangenen Mahlpraxis inhärent waren, nun aber allererst expliziert werden. Dies zeigt sich z. B. in der Rede vom neuen Bund in Mk 14,24 parr und 1. Kor 11,25: Stand bei den vorangegangen Mahlgemeinschaften und deren Deutung durch Jesus primär die Symbolisierung und Verwirklichung der Gemeinschaft der Teilnehmenden mit Gott im Vordergrund, findet im Wort vom neuen Bund auch die Gemeinschaft unter den Teilnehmern eine Begründung. Trotz aller Schwierigkeiten, die Pannenberg hinsichtlich der Erforschung des ursprünglichen Ablaufs sowie der ursprünglichen Fassung der Deuteworte immer wieder einräumt,200 hält er die überlieferte Deutung des Kelchs mit dem Bundesgedanken für authentisch. Sie unterstreicht noch einmal, dass die Gemeinschaft der Jünger im Mahl nicht mit dem Abschluss dieses Mahls endet, sondern diesen überdauert.201 Die Sühneaussagen in Mk 14,24 und Lk 22,20 198 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 317. 199 Pannenberg, Abendmahlslehre, 299. 200 Vgl. u. a. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 315; 318f. In frühen Texten hat Pannenberg aufgrund dieser Schwierigkeiten auch die Frage nach der Ursprünglichkeit des Ablaufs des Abendmahls und der überlieferten Deuteworte offengelassen. Es war für ihn ausreichend, dass es sich beim Sühnemotiv, bei der Deutung des eigenen Todes als einem Bundesopfer und bei der Charakterisierung als Passahmahl als dem Geschehen sachlich angemessene Deutungen handelt. Entscheidend war in seinen Augen, „daß die Einladung zur Mahlgemeinschaft mit ihm und die damit verbundene Teilgabe am künftigen Heil […] auf Jesus selbst zurückgehen und daß die Mahlgemeinschaft mit ihm Teilhabe auch an der Heilsbedeutung seines Todes vermittelt.“ (Pannenberg, Abendmahlslehre, 300.) Vgl. insgesamt Pannenberg, Abendmahlslehre, 299–301. 201 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 320. Dieser exegetischen Einsicht entspricht, dass Pannenberg dem Abschiedsmahl den Charakter eines Bundesmahles nach Ex 24,11 zuspricht. Für die Bundesdeutung des Kelches spricht nach Pannenberg, dass der neue Bund traditionsgeschichtlich (Jer 31,31ff) ohne Blutopfer auskommt. Dieser Gegensatz, um den Paulus wusste, hinderte ihn aber nicht an dessen Überlieferung. Dies spricht

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betrachtet er demgegenüber für eine sekundäre Erweiterung dieses Gedankens. Wie die hyper-Formel können sich diese an den Gedanken des Blutopfers anschließen. Somit ist für Pannenberg der Sitz im Leben der Ausdeutungen des Todes Jesu als Sühnetod die Abendmahlsliturgie der urchristlichen Gemeinde.202 Die Deutung der Brotgabe mit „für euch gegeben“ in 2. Kor 11,24 und Lk 22,19 impliziert den Sühnegedanken noch nicht. Das demgegenüber für Pannenberg als ursprünglicher anzunehmende Brotwort in Mk 14,22 unterstreicht noch einmal den Zusammenhang mit der vorangegangen Mahlpraxis Jesu: „Im Brot ist Jesus selbst (und mit ihm die Gottesherrschaft) den Seinen gegenwärtig, um sie in die Gemeinschaft mit sich aufzunehmen.“203 Diese sachliche Kontinuität wird noch einmal durch den eschatologischen Ausblick in Mk 14,25 parr gestärkt. Er nimmt für Pannenberg die eschatologische Ausrichtung der Mahlfeiern Jesu auf und stellt eine Verbindung zum im Kelchwort gegebenen Verweis auf sein Martyrium her. Die Zusage der über seinen Tod hinaus bestehenden Gegenwart erhält sodann durch das Wort vom neuen Bund für Pannenberg den Charakter eines testamentarischen Erlasses. „Damit ist auch die Gemeinschaft der Jünger Jesu über seinen Tod hinaus begründet.“204 Es ist die Gemeinschaft des neuen Bundes, welche typologisch auf den alten Bund verwiesen bleibt bei gleichzeitiger Unterscheidung von diesem. Damit ist für Pannenberg zu Recht in der Tradition immer wieder auf den engen Zusammenhang vom letzten Abendmahl und der Gründung der Kirche verwiesen worden. Hier hat sie ihren Ursprung. Das Sein der Kirche besteht somit „primär in der Zeichenhandlung des Mahles“205, als Zeichen der gegenwärtigen Gottesherrschaft und der damit vollendeten Menschheit. Ist dies im Abschiedsmahl bereits angelegt, wird es durch die Geistgabe nach Ostern in der Kirche und besonders dem Abendmahl realisiert. „Wegen der Gegenwart des auferstandenen Herrn durch den Geist ist der eucharistische Gottesdienst der Kirche mehr als nur ein Gedächtnismahl.“206 Darum ist die Kirche, was sie ihrem Wesen als eschatologische Gemeinde nach ist, primär in ihrem gottesdienstlichen Vollzug, welcher seinen Höhepunkt in der Eucharistie findet. Hier „ist sie Zeichen und Werkzeug der eschatologischen

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nach Pannenberg dafür, dass der Zusammenhang vom neuen Bund und Blutopfer auch für den geschichtlichen Jesus nicht zwingend ein Widerspruch gewesen sein muss. Im Kreuz ist jedenfalls beides zusammengeschlossen. Gestärkt sieht Pannenberg diese Vermutung durch das für ihn authentische Logion in Lk 22,28–30, welches den Jüngern den Platz der Stämme des Alten Israels am eschatologischen Mahl zusagt. Daher sieht Pannenberg den Bundesgedanken als ein authentisches Deutewort an. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 319–321. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 321. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 321. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 322. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 323. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 323.

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Bestimmung der Menschheit zur Gemeinschaft im Reiche Gottes.“207 Hier wird der Grund der Kirche dargestellt, der extra se in Christus liegt. In diesen Bestimmungen zeigen sich für Pannenberg Analogien von Abendmahl und Taufe, welche die Identität des Christen vorwegnehmend darstellt und so allererst ermöglicht. „Durch die Taufe werden wir Glieder Christi und seines Leibes, und die Feier des Herrenmahls erneuert die Gemeinschaft der Kirche, indem sie ihre Begründung im Mahl ihres Herren darstellt und nachvollzieht.“208 Es ist die Gemeinschaft mit Jesus Christus im Mahl, welche die daran Teilnehmenden zur Gemeinschaft untereinander, zur Einheit des Leibes Christi (1. Kor 10,16f) zusammenschließt. Im Mittelpunkt des Mahls steht also Jesus Christus und dessen Zusage seiner bleibenden Gegenwart. Daher hat die Frage nach dem Verständnis seiner Gegenwart im Abendmahl innerhalb der Geschichte des Christentums eine zentrale Rolle eingenommen.

4.4.2 Die Frage nach der Gegenwart Christi im Abendmahl Was bedeutet es, dass Christus in Brot und Wein mit Leib und Blut gegenwärtig ist? Pannenberg sieht es in der modernen Exegese als Konsens an, dass es sich gerade im Hinblick auf das Brot um die ungeteilte Gegenwart der Person Jesu Christi handelt. Dabei schließt das Brotwort vom Leib Christi das Blut Christi mit ein. Aufgrund dieser Konkomitanz wird immer in beiden Elementen der ganze Christus empfangen.209 Eine solche Lehre, dass in beiderlei Gestalt der ungeteilte 207 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 323. Dass die Kirche Zeichen und Werkzeug einer geeinten Menschheit und das heißt der eschatologischen Bestimmung der Menschheit ist, formuliert Pannenberg im bewussten Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil und die Vollversammlung des Ökumenischen Rates in Uppsala. Vgl. u. a. Pannenberg, Menschheit, 319. Im Zweiten Vatikanischen Konzil wird diese Formulierung direkt zu Beginn der dogmatischen Konstitution Lumen Gentium gebraucht, indem die Kirche als Sakrament in Christus sowie als Zeichen und Werkzeug der Einheit der Menschheit mit Gott und so der Einheit untereinander bestimmt wird. Vgl. II. Vatikanische Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen Gentium, in: Denzinger, Enchiridion, 1093. Die Vollversammlung in Uppsala hat demgegenüber in ihrem Bericht der Sektion I „Der Heilige Geist und die Katholizität der Kirche“ die Kirche nur als Zeichen, nicht aber als Werkzeug einer geeinten Menschheit bestimmt. Vgl. Goodall, Uppsala, 15. Pannenberg entscheidet sich für die Aufnahme beider Begriffe zur Bestimmung der Kirche, da die Kirche für ihn zwar primär Zeichen ist, jedoch ein Zeichen, das bewirkt, was es bezeichnet. So kann die Kirche dann auch, indem sie Darstellung der geeinten Menschheit ist, eine solche Einheit bewirken. 208 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 324. 209 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 325. Auch wenn dies in der katholischen Kirche die seit dem Konstanzer Konzil vollzogene Abschaffung des Laienkelches nach sich gezogen hat, sieht Pannenberg mittlerweile in der unterschiedlichen Praxis keine kirchentrennenden Gründe mehr. Hierfür führt er die Verlautbarung seitens der Ritenkongregation des Vatikans von 1967 (vgl. Ritenkongregation, Eucharistie) an sowie eine Veröffentlichung

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Christus gegenwärtig ist, deckt sich für Pannenberg mit dem heutigen Verständnis der Personengegenwart. Dieses Verständnis der Personengegenwart und somit auch der Ganzheit seines geschichtlichen Lebens im Vollzug der Eucharistie soll vor einer strikten Fixierung auf die Elemente schützen. Demgegenüber sieht er im Mittelalter und in den konfessionellen Auseinandersetzungen die Frage der ontologischen Identität der Elemente im Vordergrund. Eine Frage, die bei der Klärung des Verständnisses der Gegenwart Christi nicht zu umgehen ist. Denn bei der Feier des Abendmahls wird offensichtlich eine Wandlung vollzogen, durch welche sich die Bedeutung der Elemente verändert. Wäre dies anders, könnte das Brot nach Pannenberg nicht als Leib Christi bezeichnet werden.210 Wie ist diese Wandlung zu begreifen? Um diese Frage zu beantworten, bedient sich Pannenberg wieder des Zeichenbegriffs. Für ein Zeichen ist es grundlegend, dass es unterschieden ist von dem, was es bezeichnet.211 Dies ist beim Abendmahl anders: „Zeichen und Sache fallen hier in eins so wie in den Fällen, in denen das Zeichen Anzeichen ist für die Gegenwart der bezeichneten Sache.“212 Pannenberg verdeutlicht dies am Beispiel der Morgenröte, welche den Tagesanbruch anzeigt und mit welcher gleichzeitig der Tagesanbruch bereits da ist. Analoges gilt für Jesu Botschaft und Wirken, in welchen er die Gottesherrschaft verkündigte und mit welchen diese bereits angebrochen war. Analoges gilt auch für Jesu Mahlpraxis, mit welcher die von ihr dargestellte eschatologische Gemeinschaft bereits Gegenwart wird. Und analoges gilt für das Abendmahl, bei welchem Christus im Brot gegenwärtig ist; dergestalt, dass das Bezeichnete als Anzeichen gegenwärtig ist.213 Dabei verschwindet die Gegenwart des Leibes Christi nicht durch den Verzehr des Brotes, sondern die am Mahl Beteiligten werden selbst zum Leib Christi. „Das Zeichen wird erfüllt und aufgezehrt von der Gegenwart des Bezeichneten durch seine Darreichung und den Verzehr des Dargereichten.“214 Für Pannenberg korreliert diese Interpretation der Anwesenheit Christi im Abendmahl mit dem in der neueren katholischen Theologie vertretenen Begriff der Transsignifikation. Dieser dient als Interpretation der klassischen Transsubstantiationslehre und bezeichnet eine Bedeutungsänderung, durch welche sich auch die Identität des Gegenstandes verändert. Pannenberg plausibilisiert

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der Gemeinsamen Römisch-Katholischen und Evangelisch-Lutherischen Kommission (vgl. Gemeinsame Römisch-Katholische/Evangelisch-Lutherische Kommission, Herrenmahl), welche die Eucharistie in beiderlei Gestalt als das deutlichere Zeichen bzw. deren Vollgestalt bezeichnen. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 326f. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 327. Vgl. oben, S. 107–109. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 331f. (Hervorhebung im Original.) Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 332. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 332.

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diesen Gedanken durch seine identitätstheoretischen Ausführungen im Anschluss an Dilthey: Da die Identität einer Sache, ihr Wesen, von den Beziehungen geprägt ist, in welchen diese steht, zieht eine Veränderung ihrer Bezüge auch eine Veränderung der Sache selbst nach sich.215 Damit ist das Wesen einer Sache oder deren Substanz nicht in sich unveränderlich und jeglichen Prozessen zugrundeliegend, sondern selbst Teil des Prozesses, an dessen Ende es endgültig offenbar ist. „Jedes Ereignis und jeder Gegenstand sind von sich her noch offen, in neue Bedeutungsbezüge einzutreten, aus denen ihre eigene Bedeutung sich neu bestimmt.“216 Ein solcher Bedeutungswandel vollzieht sich im Abendmahl, wenn aus den Speisen Zeichen der Gegenwart Christi und damit der anbrechenden Gottesherrschaft werden. „[Der] Bedeutungswandel des Brotes im Zusammenhang der Mahlhandlung Jesu [kann] insofern als endgültig angesehen werden, als das zum Verzehr dargereichte Brot tatsächlich empfangen und verzehrt wird.“217 Denn das Brot, das zum Zeichen wurde, verschwindet, aber das Bezeichnete bleibt, nämlich der Leib Christi: Er ist nun übereignet an die Empfänger, die dadurch dessen Glieder werden.218 Das bedeutet, dass das Geschehen der Transsignifikation auch die eucharistische Gemeinde selbst einschließt. Durch ihre Teilnahme am Mahl tritt auch sie in neue Bedeutungsbezüge ein, wodurch sich auch ihre Bedeutung verändert: Die am Mahl teilnehmende Gemeinde wird in der Eucharistie selbst zum Zeichen der anbrechenden Gottesherrschaft. Eine solche Transsignifikation der Gaben bewirkt nach Pannenberg nicht der Liturg. Er vermittelt nur die Einladung des geschichtlichen Jesu, dessen Worte die Transsignifikation bewirken. Dass seine Einladung nicht nur in einer historischen Situation eine solche Wandlung bewirkte, sondern auch gegenwärtig bewirkt, ist darin begründet, dass in der nachösterlichen Perspektive der geschichtliche Jesus auch der Erhöhte ist. Die Auferstehung Jesu ist Grund der Gewissheit, dass die Einladung Jesu bestehen bleibt und dadurch die Speisen gewandelt werden.219 Unbeschadet dessen ist die Gemeinschaft, die das Mahl vermittelt, in erster Linie Gemeinschaft mit dem geschichtlichen Jesus, mit seiner Sendung und seinem Kreuz, Anamnese, und nur so in noch verborgener Weise auch Teilhabe an der Herrlichkeit dessen, der zu einem unvergänglichen Leben zur Rechten Gottes erhöht ist.220 215 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 332f. Vgl. die Darstellung von Pannenbergs Identitätsbegriff in Kap. 2.1.1. 216 Pannenberg, Abendmahlslehre, 311. 217 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 334. 218 Hier zeigt sich für Pannenberg die Relevanz der Bindung der Gegenwart Christi an den Vollzug des Mahls, welche von den Reformatoren immer wieder behauptet wurde. Dabei ist der Gebrauch des Sakraments nicht auf den reinen Verzehr beschränkt, sondern auf die gesamte Mahlfeier. Vgl. Pannenberg Systematische Theologie Bd. 3, 334f. 219 Vgl. Pannenberg, Abendmahlslehre, 314f. 220 Pannenberg, Abendmahlslehre, 315. (Hervorhebung durch B.A.)

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Die eucharistische Mahlgemeinschaft verbindet die Teilnehmenden mit dem irdischen, seinem Martyrium am Kreuz entgegengehenden Jesus. Dies zeigt besonders der Blick auf die Ursprungssituation im Abschiedsmahl. Die Gemeinschaft mit ihm im Gedenken seines Todes begründet die Hoffnung auf Teilhabe an seinem neuen, in der Auferstehung erschienenem Leben.221 Begründet ist die Gemeinschaft mit dem Gekreuzigten nach Pannenberg nicht im Gedenken, also nicht in einem Akt der eucharistischen Gemeinde, sondern in der Selbstvergegenwärtigung Christi im Geist, welche sich in der Abendmahlsanamnese der Kultgemeinde vollzieht. Im Zentrum der Anamnese stehen die Einsetzungsworte Jesu als deren Höhepunkt.222 Solche Anamnese ist nicht auf die Eucharistie zu beschränken, sondern der gesamte eucharistische Gottesdienst ist als solche zu verstehen. Sie ist der eigentliche Ort der Realpräsenz und das heißt der Gegenwart Christi. „Nur im Zusammenhang des gläubigen Gedenkens, in welchem die Gemeinde und der Liturg vereint sind, wird Jesus Christus, seiner Verheißung entsprechend, den Seinen gegenwärtig in Brot und Wein.“223 Die Gemeinde und der Liturg sind somit nicht selbstständige Akteure neben Christus. Selbst ihr Lob und Dank sind Lob und Dank des Glaubens, der teilhat am Lobe Christi. Sie werden so hineingezogen in das Opfer Christi und bringen sich in und mit Christus dar.224 Das bedeutet für Pannenberg nichts anderes, als dass in der Gemeinschaft alles, was die daran Teilnehmenden von Gott trennt, aufgehoben wird und letztere in das Opfer Christi selbst hineingezogen werden, das heißt in den Dienst am Nächsten und die Bezeugung der Gottesherrschaft, sie also sein Leib werden.225 Um das eucharistische Mahl begreifen zu können, bedarf es neben einem Verständnis von diesem als Anamnese, in welcher Christus sich selbst vergegenwärtigt, noch des Momentes der Epiklese. Die Wirkung des Geistes im Abendmahl ist bereits angeklungen, indem durch diesen Christus vergegenwärtigt wird. Damit Christus sich vergegenwärtig, muss nach Pannenberg der liturgische Vollzug des Gedenkens übergehen in die Bitte um das Kommen des Herrn. 221 Vgl. Pannenberg, Thesen, 35. Von dieser Annahme aus bedarf es für Pannenberg einer Korrektur einseitiger, in der Tradition immer wieder vertretener Vorstellungen der leiblichen Gegenwart des Erhöhten im Abendmahl. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 344–348. 222 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 338f. 223 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 343. Ein solches Verständnis des gesamten Gottesdienstes als Anamnese, in dessen Zentrum die Einsetzungsworte Jesu stehen und welcher so Ort der Realpräsenz Christi ist, sieht Pannenberg als einen möglichen Fortschritt über alle Schranken der verschiedenen Positionen in der Reformationszeit hinweg. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 340–343. 224 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 348f. 225 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 350–352.

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Durch die Verbindung der Epiklese mit der Anamnese wird im eucharistischen Gottesdienst die Auferweckung des Gekreuzigten vergegenwärtigt und zugleich die Zukunft seiner Wiederkunft und der Vollendung des Reiches Gottes antizipiert.226

Es bedarf des Wirkens des Geistes, damit der Auferstandene gegenwärtig wird.227 Daher sieht Pannenberg die Rückbesinnung auf den Stellenwert der Epiklese innerhalb der Theologie der westlichen Christenheit im 20. Jh. als einen großen Gewinn an, der u. a. ermöglicht wurde durch einen stärker werdenden Dialog mit den Ostkirchen, in welchen die Epiklese über die Jahrhunderte hinweg in der Liturgie einen festen Platz hatte.228 Eine solche Besinnung auf die Epiklese als Korrelat zu der in der Eucharistie vollzogenen Anamnese bringt der westlichen Abendmahlstheologie laut Pannenberg zwei entscheidende Bereicherungen: Erstens wirkt sie einer Zuspitzung des Abendmahlsgeschehens und des darin sich ereignenden Gegenwärtigwerdens Christi auf die Vollmacht des Liturgen und seines Sprechens der Einsetzungsworte entgegen. Es ist nicht menschliches Handeln, dass die Gegenwart des Herrn bewirkt; es ist der Geist, um dessen Handeln die Gemeinde bittet und der die Einsetzungsworte erfüllt.229 Zweitens unterstützt die Besinnung auf die Epiklese das Begreifen der Gegenwart Christi im Mahl. Die eschatologische Weltverwandlung, die durch den Geist im Ostergeschehen anbricht, erfüllt die Verheißung Jesu im Angesicht seines Todes, seinen Jüngern in Brot und Wein gegenwärtig zu sein. Die Identität des Auferstandenen mit dem Gekreuzigten, dessen die Gemeinde in ihrer Anamnese gedenkt, wird darin Ereignis – aber nur für den Glauben, der sich der Worte der Einsetzung Jesu erinnert und auf seine endgültige Offenbarung bei seiner Wiederkunft noch wartet.230

Das Wirken des Geistes innerhalb der Feier der Eucharistie ist für Pannenberg natürlich nicht auf die Epiklese beschränkt. Vielmehr wirkt der Geist in Dank

226 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 353. 227 Da Pannenberg Schöpfung und Neuschöpfung als wesentliche Wirkungen des Geistes begreift, ist in der Gegenwart des Erhöhten im Geist auch die Gegenwart seiner Wiederkunft und der damit anbrechenden Vollendung der Schöpfung begründet. Zu den Wirkungen des Geistes vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 13–33, bes. 13–24. Eine Interpretation der Pneumatologie Pannenbergs liefert Henning, Pneumatologie, 148–200, in welcher Henning vor allem kritisiert, dass Pannenberg den Heiligen Geist als Instrument zur Durchsetzung der Herrschaft begreift. Der Vorwurf, dass die Theologie Pannenbergs die Herrschaftsdurchsetzung Gottes zum Zielpunkt hat, auch zu Kosten des selbstständigen, individuierten Subjektes, begegnet in der Forschung häufiger. Vgl. z. B. Lange, Religion, 254–258. Von daher wird dieser Vorwurf noch zu thematisieren sein. Vgl. bes. Kap. 5.1.1. 228 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 353f. 229 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 354f. 230 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 355f.

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und Gedenken des gesamten Gottesdienstes und bewirkt darin die „Aktualpräsenz Christi“231.

4.4.3 Der Glaube an die Gegenwart Christi im Abendmahl als Voraussetzung der Teilhabe daran Den dargestellten Versuch, das eucharistische Geschehen und die Gegenwart Christi darin zu begreifen, versteht Pannenberg nicht als Voraussetzung der Teilhabe daran. Voraussetzung ist allein der Wille zur Gemeinschaft mit Jesus Christus. Darüber hinaus darf die Kirche die Teilnahme an der Eucharistie nicht einschränken, da nicht sie es ist, die einlädt, sondern Jesus selbst. Keine geschichtliche gewordene Kirche darf seine Einladung einschränken aufgrund Unterschiede in der Lehre oder in der kirchlichen Ordnung.232 Sie gilt jedem, der diese im gläubigen Vertrauen darauf annimmt, dass Jesus Christus im Mahl gegenwärtig ist und mit sich Gemeinschaft schenken will. Die Fragen, die damit verbunden sind, übersteigen nach Pannenberg jegliches Verstehen, gerade angesichts der Unabgeschlossenheit menschlicher Erkenntnis. Sie dienen lediglich der Interpretation des eucharistischen Geschehens. Dabei sieht Pannenberg den Interpreten nicht in einer wesentlich anderen Situation als den Gläubigen: „Grundsätzlich bleibt es immer dabei, daß das im Glauben Ergriffene das Verstehen übersteigt, und Klarheit darüber kennzeichnet gerade das theologische Verstehen.“233 Dass Pannenberg den Glauben an die Gemeinschaft mit Christus im Abendmahl über dessen gedankliche Durchdringung stellt, hat zwei wesentliche Konsequenzen. Zum einen unterstützt Pannenberg die Praxis der Kinderkommunion, sobald das Kind in der Lage ist zu begreifen, dass Christus im Mahl gegenwärtig ist. Zum anderen plädiert er für die Interkommunion, da die verschiedenen Lehrtraditionen keinen Grund darstellen, jemandem seinen Platz am Tisch des Herrn zu verweigern.234 Kein Widerspruch ist diese Forderung 231 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 356. Pannenberg unterscheidet im Anschluss an Johannes Betz die Aktualpräsenz von der Realpräsenz Christi. Dabei bezeichnet er mit der Aktualpräsenz die im gesamten gottesdienstlichen Vollzug vom Geist gewirkte Gegenwart Christi. Durch die Aktualpräsenz wiederum ist es möglich, dass das Gedächtnis des letzten Mahles im Gottesdienst zur Selbstvergegenwärtigung Christi wird, weswegen Pannenberg sie als Grund der Realpräsenz Christi in den eucharistischen Elementen begreift. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 327; 356. 232 Vgl. Pannenberg, Thesen, 36. 233 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 364. 234 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 364f. Die Forderung nach Interkommunion folgert Pannenberg nicht nur aus der nicht vollständig möglichen gedanklichen Erfassung des Geschehens in der Eucharistie, sondern aus dem Wesen des eucharistischen Mahls selbst, wie unter Kap. 4.5.5. noch genauer darzustellen sein wird.

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für Pannenberg gegenüber seiner Bindung der Zulassung zum Abendmahl an die Taufe. Bereits beim Abschiedsmahl bildete die Jüngerschaft die Voraussetzung zur Teilnahme; auch wenn angesichts der Mahlpraxis Jesu, der mit Sündern und Zöllnern Tischgemeinschaft gesucht hat, der Jüngerkreis prinzipiell für jeden Menschen offen ist. Aber dennoch muss der Wille zur Jüngerschaft bestehen, und das heißt Wille zur Umkehr zu Jesus und dem in ihm offenbarten Gott sowie Wille zur Nachfolge.235 Umkehr nun kann aber bei all denen vorausgesetzt werden, die bereits getauft sind.236 Wo letztere nicht gegeben ist, muss nach Pannenberg daher auch die Bereitschaft zur Umkehr bezweifelt werden. Mit dem Gedanken der Jüngerschaft rückt für Pannenberg auch die individuelle Lebensführung in den Blick. Wo das Abendmahl nicht in das Verhalten des Einzelnen ausstrahlt bzw. wer in seinem Lebensvollzug die im Mahl empfangene Gemeinschaft mit Jesus bricht, der empfängt das Mahl „zum Gericht über sein Verhalten.“237 Daher ist es für Pannenberg auch kein Fortschritt hin zu einer dem Evangelium gemäßen Abendmahlspraxis, „[daß] der Zusammenhang zwischen Zulassung zum Abendmahl und Kirchenzucht heute in den meisten christlichen Kirchen mehr oder weniger vernachlässigt wird“238. Denn Glaube und persönliche Lebensführung sind nicht zu trennen. Bei Getauften sieht Pannenberg diese Bedingung allerdings erfüllt, so dass sie nur noch der Tauferinnerung bedürfen. Daher sieht er auch die Forderung nach der Ablegung der Beichte vor der Eucharistie als unberechtigt an, da die Umkehr zu Christus in der Taufe bereits endgültig erfolgt ist. Außerdem ist so die Gefahr der Verdunkelung des Freudencharakters des Mahls gegeben.239 Es ist Anlass zur Freude, da die daran 235 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 362f. In der Thesenreihe zur Kirche 1970 hat Pannenberg lediglich von der Bereitschaft zur Gemeinschaft als Voraussetzung für das Abendmahl gesprochen. Vgl. Pannenberg, Thesen, 36. Rückblickend sagt er in der Systematischen Theologie aber selbst, dass er damit bereits die Taufe als Voraussetzung gemeint hat. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 362. 236 Vgl. Kap. 4.3.1. 237 Pannenberg, Thesen, 36. 238 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 363. Zum Verständnis der Kirchenzucht bei Pannenberg sei noch einmal auf die Ausführungen zu seiner Tauflehre verwiesen, besonders auf Kap. 4.3.1. Hier hat sich gezeigt, dass für Pannenberg bei dem christlichen Verständnis der Buße auch die ekklesiale Dimension dieser zu berücksichtigen ist. Dabei betont Pannenberg den absoluten Ausnahmecharakter eines möglichen kirchlichen Bußverfahrens angesichts eines nur in Ausnahmefällen vollständigen Rückfalls des Einzelnen unter die Herrschaft der Sünde. In aller Regel ist der Umkehrwille des Einzelnen in der Taufe endgültig besiegelt. Daher sieht Pannenberg auch hier die für die Teilnahme am Abendmahl notwendige Bedingung der Umkehr des Einzelnen mit der Taufe als gegeben an. 239 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 363f. Die verdunkelnde Auswirkung der Bußfrömmigkeit auf die Eucharistie zeigt sich Pannenberg besonders in der herkömmlichen Interpretation der paulinischen Worte zum unwürdigen Empfang des Abendmahls in 1. Kor 11,27ff. Nach der Auslegung Pannenbergs hat Paulus hier weder moralische Vorbedingungen im Blick noch die Notwendigkeit einer Beichte oder Absolution vor dem Emp-

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Teilnehmenden in der gläubigen Annahme der Einladung Jesu Christi Gemeinschaft mit ihm erleben können, in welcher jegliche Trennung von Gott aufgehoben ist und welche so vorwegnehmende Darstellung eschatologischer Mahlgemeinschaft ist. Zugleich werden sie so in die Gemeinschaft der gesamten Christenheit gestellt, die ebenfalls um das Mahl versammelt ist. Bevor abschließend die Konsequenzen in den Blick genommen werden, die dem kirchlichen Leben aus seinem eucharistischen Zentrum erwachsen, soll Pannenbergs Verhältnisbestimmung von Abendmahl und Evangeliumsverkündigung im Gottesdienst nachvollzogen werden.

4.4.4 Das Verhältnis von Abendmahl und Evangeliumsverkündigung im christlichen Gottesdienst Seit dem Urchristentum gehören Abendmahlsfeier und Evangeliumsverkündigung im Gottesdienst eng zusammen. Dabei war die Verkündigung für Pannenberg Teil des Gedenkens Jesu und seines Todes, damit die Gemeinde angeleitet wurde zum richtigen Gedenken. „Das ‚Gedenken‘ an Jesus und seinen Tod bei der Feier des Herrenmahls verlangte nach einer Auslegung des dem Mahl zugrundeliegenden Heilsgeschehens wie auch des darin begründeten Vollzugs der Mahlfeier selbst.“240 Zur Auslegung des zugrunde liegenden Heilsgeschehens wurden alttestamentliche Texte herangezogen, welche auf Christus hin interpretiert wurden.241 Es ist die universale Heilsbedeutung des Christusgeschehens, derer nach Pannenberg in der Verkündigung gedacht wurde und die den Hörern als sie betreffend vermittelt wurde. Aufgrund der sich stetig verändernden Situation sowie Lebenserfahrung und -deutung der Menschen, auf welche hin das Heilsgeschehen in Christus ausgelegt werden muss, konnte die Heilstat Gottes in Christus so eine Verkündigungsgeschichte aus sich heraus freisetzen. Bis heute hat die Predigt für Pannenberg die Aufgabe aufzuzeigen, dass und inwiefern es in Christus um das Heil der je angesprochenen Hörer geht sowie um ihre Vollendung im Reich Gottes.242 Sie nimmt diese Aufgabe nicht wahr, indem der Prediger fang. Vielmehr werden hier die Konsequenzen für die am Mahl Teilnehmenden thematisiert. So ist nur dann von einem unwürdigen Empfang zu sprechen, wenn die kirchliche Dimension der Eucharistie aus dem Blick gerät zugunsten des eigenen Heils. Vgl. Pannenberg, Spiritualität, 37. 240 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 365. 241 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 365f. 242 Vgl. Pannenberg, Thesen, 32. Nach Goz´dz´ soll die Verkündigung bei Pannenberg „die Kraft zu einem solchen Streben nach der wahren Demokratie vermitteln.“ Goz´dz´, Sinn 169. Vermutlich ist mit wahrer Demokratie die „Demokratie des Reiches Gottes“ (Goz´dz´, Sinn 169) gemeint, in welcher die Menschheit geeint sein wird. Meines Erachtens sind diese Formulierungen missverständlich. Sie legen nahe, dass die Predigt bei Pannenberg der

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den jeweiligen Bibeltext auf die Situation der Hörer anwendet. Dies erscheint Pannenberg zu gewaltsam, da die historische Differenz zwischen der Situation des Textes und der Gegenwart ausgeblendet wird und der Text so nicht vor einer Indienstnahme für bestimmte Gegenwartsinteressen bewahrt werden kann.243 Stattdessen ist in der Predigt der Bezug des Bibeltextes zur eschatologischen Vollendung der Menschheit herauszuarbeiten, welche in Christus angebrochen ist. Weil die biblischen Texte die Vollendung der menschlichen Bestimmung im Reich Gottes thematisieren, können sie die konkrete Situation des Menschen erhellen, über jegliche Zeitbedingtheit hinweg. Nur so ist es den Hörenden möglich, „sich zwischen dem damals Geschehenen und der Zukunft, auf die die Geschichte verweist, in den Zusammenhang der göttlichen Heilsökonomie einzuordnen.“244 In der Proklamation der in Jesus Christus angebrochenen Vollendung der Menschheit verfolgt die Gemeindepredigt für Pannenberg dieselbe Aufgabe wie die missionarische Verkündigung der Kirche.245 Sie hat innerhalb des Gottesdienstes darüber hinaus eine „doppelte Integrationsfunktion“246. Zum einen dient sie der Integration des Gottesdienstes zu einer Einheit. Sie konvergiert im Idealfall mit der Dynamik, die in den Liedern, Gebeten, Lesungen usw. wirkt, und ermöglicht den Gottesdienstbesuchern, ihre Herzen Gott zu öffnen. Den Höhepunkt dieser Dynamik bildet dann die Eucharistie, in welcher die Glaubenden einbezogen werden in die von Christus geschenkte Gemeinschaft. Zum anderen soll die Predigt die Gemeinde in die Einheit des kirchlichen Glaubens integrieren und der Gemeinde bewusst werden lassen, dass sie im Abendmahl nicht nur ihre Gemeinschaft feiert, sondern die der gesamten Christenheit.247 In beiden Funktionen zeigt sich noch einmal, wie stark Pannenberg die Predigt auf das Evangelium hinordnet und damit letzterem unterordnet. Sie hat für ihn keine Autorität an sich, wie es sich fälschlicherweise im protestantischen Raum in der Vorstellung der Predigt als Wort Gottes ausdrückt.

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Demokratie als Gesellschaftsordnung verpflichtet ist und diese fördern soll. Dies ist mitnichten der Fall, denn die primäre Aufgabe der Kirche ist es, das Reich Gottes zu verkündigen, das jede gesellschaftliche Ordnung relativiert (vgl. Kap. 4.5.2). Das Reich Gottes, in welchem die Bestimmung des Menschen realisiert sein wird und nicht eine konkrete gesellschaftliche Ordnung. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 367. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 368. Vgl. Pannenberg, Frage, 418. Zu Pannenbergs Missionsverständnis vgl. Wrogemann, Mission, 147–173. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 368. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 368f. Die gesamtkirchliche Integrationsfunktion, die Pannenberg der Predigt zuschreibt, unterstreicht Florian Ihsen. Die Predigt ist daher „in höchstem Maße ökumenisch brisant, denn die Predigt steht als freie Rede eines Einzelnen in der besonderen Gefahr, entweder individualistische oder konfessionalistische Engführungen der Katholizität der christlichen Kirche zu präsentieren.“ Ihsen, Liturgie, 182.

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Die religiöse Individualität des Predigers, die sich auf der Kanzel zur Darstellung bringt, während sie den Anspruch erhebt, das Wort Gottes zu verkündigen, sollte nicht das Zentrum des Gottesdienstes bilden. Die Predigt muß dienen, nicht herrschen im Leben der Kirche.248

Sie dient der Plausibilisierung der Heilstat Gottes in Christus, damit die Predigthörer dieser gedenken können. Das Gedenken findet seinen Höhepunkt in der Feier der Eucharistie, in welcher die eschatologische Heilstat Gottes zur Darstellung kommt, die in Christus angebrochen ist und in der Vollendung der Menschheit in Christus ihr Ziel findet. Die Eucharistie und nicht die Predigt bildet für Pannenberg das Zentrum der Kirche.249

4.4.5 Die Eucharistie als Lebenszentrum der Kirche – Konsequenzen für das kirchliche Leben Die Eucharistie ist für Pannenberg das Zentrum der Kirche, aus der heraus die Kirche lebt und sich stetig erneuert. Da sich Christus im eucharistischen Gottesdienst durch den Geist vergegenwärtigt und so Gemeinschaft mit sich schenkt, stiftet und erneuert er die Gemeinschaft der Christen untereinander. Hier zeigt sich, dass und inwiefern Christus der Grund der Kirche ist: Nicht anders als durch das Wirken des Geistes also ist Jesus Christus das Fundament der Kirche, weil das Werk des Geistes in nichts anderem besteht als darin, den Sohn zu verherrlichen, indem er im Sohn den Vater erkennen lehrt, zu dem wir durch den Sohn Zugang haben.“250

Indem der Geist Jesus Christus im Mahl vergegenwärtigt, so Gemeinschaft mit Christus schenkt und damit die Gemeinschaft der zum Mahl Versammelten untereinander stiftet, gibt er diesen Anteil an der in Christus angebrochenen Verwirklichung des Menschen im Reich Gottes. Indem das Abendmahl vorweggenommene Darstellung des Gottesreiches ist, ist hier die verwirklichte Identität des Einzelnen vorweggenommen in verwirklichter Gemeinschaft. Das, was das Abendmahl damit bezeichnet – die vollendete Menschheit im Reich Gottes –, ist zwar von ihm unterschieden und bricht doch darin an. Es entspricht hierin nach Pannenberg Botschaft und Wirken Jesu, der ebenfalls die Gottesherrschaft von sich und seinem Wirken unterschied, welches dennoch bzw. ge248 Pannenberg, Spiritualität, 36. 249 Den Vorwurf, eine solche Verhältnisbestimmung von Eucharistie und Predigt sei „katholisierend“, beurteilt Pannenberg als „töricht“, da gerade im Urchristentum die Eucharistie das Zentrum des Gottesdienstes bildet. Pannenberg, Zeitgeist, 269. 250 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 29.

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rade dadurch darin angebrochen ist.251 So verstanden sieht Pannenberg im Abendmahl die verdichteste Darstellung des kirchlichen Wesens. „Darum muß weiterhin das Abendmahl, in welchem dieses Wesen der Kirche seinen sichtbaren und konzentrierten Ausdruck findet, wieder neu als die Mitte des gottesdienstlichen Lebens entdeckt werden“252. In der Eucharistie als Zentrum der Kirche und sichtbarer Darstellung ihres Wesens zeigen sich daher entscheidende Grundüberzeugungen der Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs. Eine solche Wesensbestimmung der Kirche zeigt ihren ortsgemeindlichen Charakter. Kirche ist für Pannenberg ihrem Wesen nach dort, wo die Ortsgemeinde zur Feier des eucharistischen Gottesdienstes zusammenkommt.253 Sie ist dies aber nur, wenn sie sich in der Eucharistie verbunden weiß mit der weltweiten Christenheit durch alle Zeiten hindurch. Eine solche Einheit der gesamten Christenheit ist nicht etwas sekundär zur Feier des Abendmahls Hinzutretendes; vielmehr ist die Feier des Abendmahls selbst Gemeinschaft mit allen Christen über alle Zeiten hinweg. Denn es ist der eine Christus, mit dem die zum Mahl Versammelten, an allen Orten und zu allen Zeiten, in Gemeinschaft sind.254 Wird der Einzelne bereits durch die Taufe in die Gemeinschaft der Christen eingliedert, durch die Gründung des Einzelnen in Christus und damit auch in seinen Leib, wird diese Gemeinschaft im Mahl sichtbar und erneuert: Am deutlichsten aber tritt die Einheit aller Christen in Christus in Erscheinung durch das Sakrament der Eucharistie; von ihr sagt das Zweite Vatikanische Konzil in seinem Ökumenismusdekret mit Recht, daß durch die Eucharistie die Einheit der Kirche sowohl bezeichnet als auch bewirkt wird255.

Aufgrund der einheitsstiftenden Funktion des Abendmahls sieht es Pannenberg als angemessen an, dass dessen Feier dem kirchlichen Amtsträger vorbehalten ist. Ist es doch gerade die Funktion des kirchlichen Amtes, der Einheit der Ortsgemeinden untereinander zu dienen und diese darzustellen.256 Aus einer solchen einheitsbegründenden Wirkung des Abendmahls zieht Pannenberg klare Konsequenzen hinsichtlich des ökumenischen Dialogs: Eine ökumenische Verständigung, die auf die Einheit der Kirchen zielt, ist ein für alle Kirchen notwendiger Prozess. Wo von einer Kirche die Spaltungen hingenommen werden und Anstrengungen zu ihrer Überwindung unterlassen werden, ist diese keine Kirche mehr, sondern eine Sekte. Und ein solches Verschließen in

251 252 253 254 255 256

Vgl. Kap. 4.1. Pannenberg, Christentum ohne Kirche, 198. Vgl. Pannenberg, Gemeinschaft, 15. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 358. Pannenberg, Glaubenswirklichkeit, 200. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 361. Die einheitsstiftende und -darstellende Funktion des Amtes wird unter Kap. 5.3.1. noch genauer zu thematisieren sein.

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sich gegenüber dem restlichen Leib Christ muss nach Pannenberg als Häresie bezeichnet werden.257 Das demgegenüber notwendige Streben nach kirchlicher Einheit sieht er nicht als den Versuch der Wiedervereinigung der Christenheit an, sondern als eine Rückkehr „im Sinne der Umkehr zu der im Christusglauben schon bestehenden und für unser Christsein konstitutiven Einheit.“258 Christlicher Glaube ohne solche Einheit der Kirchen ist für Pannenberg nicht denkbar. Bleibt das Streben danach aus, „muß das als Ausdruck des Unglaubens und des Widerstandes gegen das Wirken des heiligen Geistes betrachtet werden.“259 Wie Pannenberg eine solche Einheit der Kirchen denkt und begründet, wird ausführlich Gegenstand des fünften Kapitels sein. Vorwegnehmend ist festzuhalten, dass die ökumenische Annäherung zum Ziel haben muss, Formen und Riten zu entwickeln und zu vollziehen, in welchen sich die Einheit der Christenheit ausdrückt. Für die hier dargestellte Abendmahlslehre hat das zur Folge, dass Pannenberg sich vehement für die Interkommunion einsetzt. Die Kirchen müssen auf dem Weg der Verständigung dazu kommen, die Abendmahlsfeiern der jeweils anderen Kirche anzuerkennen, um so die Teilhabe daran all denen zu eröffnen, die die Einladung des Herrn zum gemeinsamen Mahl annehmen wollen. In solch gemeinsamen Abendmahlsfeiern sollen die Kirchen „ein alle Christen angehendes Zeichen der Zukunft des einen Herren erkennen, der die Einheit aller seiner Jünger will, wie er in jeder Abendmahlsfeier gegenwärtig ist, um die Gläubigen durch sich selbst zu vereinen.“260 In solcher Offenheit der Einladung über die eigene kirchliche Gemeinschaft hinaus würde sich für Pannenberg auch noch einmal die theologische Einsicht in die Begrenztheit menschlichen Verstehens zeigen, da der Glaube an die Gemeinschaft mit Christus in der Eucharistie so den Vorzug erhalten würde vor dem Einstimmen in eine bestimmte Lehrtradition über die Gegenwart Christi im Mahl. Wo eine ökumenische Öffnung des Abendmahls unterbleibt, wo die Einladung der Eucharistie eingeschränkt wird und so der Partikularität einer bestimmten Kirche unterstellt ist, da wird das Abendmahl den Gläubigen nie nur zum Heil, sondern auch zum Gericht gereicht.261 Solche Forderungen nach einer ökumenischen Annäherung, die ein wesentliches Ziel in der Interkommunion hat, sind dabei nicht die einzigen entscheidenden Konsequenzen aus Pannenbergs Abendmahlsverständnis für seine Ekklesiologie. Vielmehr ist sein Abendmahlsverständnis auch Grundlage seiner Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche. Wird das Abendmahl nämlich als vorwegnehmende Darstellung des Reiches Gottes verstanden und damit als 257 258 259 260 261

Zu Pannenbergs Häresieverständnis vgl. oben, S. 108, Anm. 28. Pannenberg, Glaubenswirklichkeit, 201. (Hervorhebung im Original.) Pannenberg, Glaubenswirklichkeit, 202. Pannenberg, Abendmahl, 292. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 361f.

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Darstellung vollkommener Gemeinschaft in Gerechtigkeit und Frieden, in der der Einzelne den Platz erhält, durch welchen seine persönliche Individualität vollkommene Anerkennung erfährt, hat dies einen immanenten Bezug zur politischen Gestaltung der Gesellschaft. Auch hier ist das Ziel, eine möglichst gerechte Gesellschaftsordnung zu entwerfen, in der jeder Einzelne sein eigenes Selbstsein vollends verwirklichen kann. Darin hat politisches Handeln für Pannenberg wie das Abendmahl einen ihm eigenen Bezug zu dem von Jesus Christus verkündigten Reich Gottes. Die daraus resultierende Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche soll im folgenden Kapitel thematisiert werden. Bildet das Abendmahl das Zentrum der Ekklesiologie Pannenberg, in welchem das Wesen der Kirche am dichtesten deutlich wird, so ist die daraus folgende Verhältnisbestimmung zum politischen Gemeinwesen die entscheidende Pointe seiner Ekklesiologie. Bevor letztere in den Blick genommen werden, bedarf es noch eines Exkurses zu Pannenbergs Sakramentsverständnis. Er behandelt dies in der Systematischen Theologie ebenfalls im Anschluss an die Tauf- und Abendmahlslehre. Dies ist nicht lediglich in der evangelischen Tradition einer solchen Abfolge begründet, sondern hat sachliche Gründe: Der Gehalt der Sakramente, ihre Bedeutung, liegt nach Pannenberg nicht in ihrer Bestimmung als Sakrament begründet, sondern in den so bezeichneten Handlungen selbst. Hiervon ausgehend plädiert er für einen gegenüber der Tradition weiten Sakramentsbegriff. Diesem Plädoyer soll im Folgenden nachgegangen werden.

Exkurs: Pannenbergs Plädoyer für einen weiten Sakramentsbegriff Die Bedeutung der als Sakramente bezeichneten kirchlichen Lebensvollzüge und Handlungen, die nach Pannenberg alle mit einer gottesdienstlichen Handlung zusammenhängen, ist für ihn nicht erst dadurch konstituiert, dass sie Sakramente sind. Vielmehr ist diesen Handlungen und Vollzügen ihre Bedeutung inne und sie werden erst nachträglich als Sakramente bezeichnet. Diese Kennzeichnung zeigt an, dass alle so bezeichneten Handlungen von den anderen kirchlichen Handlungen unterschieden sind.262 Als eine solche nachträgliche Bezeichnung verliert nach Pannenberg die Frage nach der genauen Zahl der Sakramente an kontroverstheologischem Gewicht. Sie ist davon abhängig, wie weit oder eng der Sakramentsbegriff gefasst wird. Pannenberg selbst plädiert für einen weiten Sakramentsbegriff. Die wesentlichen Akzente dieses Plädoyers und Pannenbergs daran anschließende Betrachtung der über Taufe und Abendmahl hinausgehenden, vor allem von der römisch-katholischen Kirche als Sakramente bezeichneten Handlungen, soll im Folgenden dargelegt werden. 262 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 369f.

Exkurs: Pannenbergs Plädoyer für einen weiten Sakramentsbegriff

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Die reformatorische Begründung des Sakramentsbegriffs mit dem Nachweis einer Einsetzung durch Jesus selbst sieht Pannenberg, wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, bereits bei Taufe und Abendmahl als problematisch an. So ist lediglich beim Abendmahl die jesuanische Aufforderung zur Wiederholung belegt und dies auch nur, wenn man den paulinisch und lukanisch überlieferten Wiederholungsbefehl für authentisch hält. Nimmt man hinzu, dass Taufe und Abendmahl im Neuen Testament nicht als Sakramente bezeichnet werden, so kann der Anschein entstehen, dass der Sakramentsbegriff gänzlich problematisch geworden ist.263 Die in katholischer und evangelischer Theologie beschrittenen Auswege aus diesem Dilemma kritisiert Pannenberg. Katholisch sieht er das Problem der Einsetzung dadurch umgangen, indem der Sakramentsbegriff vom Kirchenbegriff abgeleitet wird oder die Sakramente als Vollzüge des Ursakraments Kirche beschrieben werden. Nach Pannenberg jedoch ist es im Anschluss an Thomas von Aquin unerlässlich, dass die Sakramente in Jesus Christus ihren Grund haben, da sie nur so Gnade mitteilen. „In seiner Funktion als Quelle der Gnade und Versöhnung steht Jesus Christus der Kirche unaufhebbar gegenüber als das Haupt seines Leibes.“264 Nur wenn Christus und nicht die Kirche Quelle der Sakramente ist, ist bei ihrem Empfang die Unmittelbarkeit der Glaubenden zu ihm gegeben. Dies ist festzuhalten, auch wenn im Epheserbrief Christus und die Kirche im Heilsmysterium zusammengefasst werden. Denn die Kirche hat zwar Anteil an dem in Jesus Christus offenbarten Heilsmysterium, aber dennoch bleibt er als ihr Haupt ihr Gegenüber.265 Auf protestantischer Seite wird die in der Neuzeit problematisch gewordene Begründung des Sakramentsbegriffs laut Pannenberg damit umgegangen, dass die Sakramente auf das in ihnen wirksame Wort Gottes bezogen werden und als Darstellung eines Aspektes dieses Wortes begriffen werden. Auch in einem solchen Verständnis sieht er die einzelnen Sakramente auf eine Handlung der Kirche, nicht auf Jesus selbst zurückgeführt. Wird auf die Einsetzung durch Jesus selbst verzichtet, dann werden die Sakramente zur bloßen Erfindung des Urchristentums. Auch dann kann die Unmittelbarkeit zu Jesus Christus im Sakrament nicht begründet werden. Eine Subordination des Sakraments unter das Wort, wie sie Pannenberg vor allem bei Gerhard Ebeling identifiziert, verkennt, dass eigentlich dem Sakrament das Proprium zukommen muss. Denn missionarische Verkündigung zielt auf die Taufe und die Gemeindepredigt setzt die Taufe voraus, da nur durch sie der Gläubige definitiv mit Jesus Christus verbunden ist. Und auch geschichtlich waren Taufe und Abendmahl konstitutiv für

263 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 373f. 264 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 375. 265 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 375f.

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die Entstehung der Kirche; das Abendmahl als Zentrum der Zusammenkünfte der Jünger und die Taufe als Aufnahme in ihren Kreis.266 Pannenberg selbst schlägt hingegen vor, den Einsetzungsbegriff weiterzufassen, um den Sakramentsbegriff zu begründen: Von einer Einsetzung ist dann zu sprechen, wenn sich zeigen lässt, „daß Herrenmahl und Taufe in der Weise auf Jesus zurückgehen, daß ihre urchristlichen Anfänge sich als Konsequenz des in Jesu Verhalten und Geschichte Vorgegebenen im Lichte des Ostergeschehens verstehen lassen.“267 Beim Abendmahl ist dieser Zusammenhang sehr eng, da für Pannenberg die Sinnintention des letzten Mahles im Lichte der Gemeinschaft mit dem Auferstandenen durch den Wiederholungsbefehl expliziert wird. Und auch in der Taufe sieht er diesen Zusammenhang gegeben, insofern der Einzelne in seiner Taufe an der Taufe Jesu Anteil hat und so auch an dessen Tod. In eine solche Begründung der Sakramente ist das Handeln der Urgemeinde einbezogen, und zwar dergestalt, dass diese Taufe und Abendmahl als zentrale kirchliche Handlungen aus der Erfahrung mit Jesus Christus abgeleitet hat. Wie bei der Entstehung des Kanons aber bleibt sie nach Pannenberg Empfangende, da sich ihr Taufe und Abendmahl aufdrängen aufgrund ihrer Erfahrung mit Jesus Christus. Insofern sieht er die Einsetzung durch Christus in der Kraft des Heiligen Geistes gegeben, welche „damit trinitarisch formuliert“268 ist. Taufe und Abendmahl stehen so in einem Zusammenhang mit dem geschichtlichen Wirken Jesu und sind als von Gott gegründet zu betrachten, durch sein Heilshandeln in Jesus Christus. Was bedeutet dies für die Bezeichnung von Taufe und Abendmahl als Sakrament? Pannenberg will zwischen der Sachfrage nach dem Zusammenhang von Taufe und Abendmahl mit der göttlichen Heilsoffenbarung in Christus sowie der Frage nach der Verwendung des Sakramentsbegriffs unterscheiden. Dass im Urchristentum letzterer nicht verwendet wurde und das neutestamentliche Zeugnis den Mysteriumsbegriff auf Christus konzentriert, kann den Schluss nahelegen, zwischen dem einen Sakrament Christus und den sakramentalen Vollzüge der Kirche zu unterscheiden. Dementsprechend haben K. Barth und Jüngel nach Pannenberg dafür plädiert, den Sakramentsbegriff auf Jesus Christus zu beschränken.269 In einer solchen Sicht werden beide Handlungen klar abgegrenzt 266 267 268 269

Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 376f. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 377. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 378. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 378. In den 1970 veröffentlichten Thesen zur Theologie der Kirche plädierte Pannenberg noch dafür, den Sakramentsbegriff innerhalb der Abendmahls- und Tauflehre aufzugeben, da die biblische Bezeichnung mysterion, die mit sacramentum ins Lateinische übersetzt wurde, nicht auf diese kirchlichen Handlungen bezogen ist, sondern auf den in Christus offenbaren Heilsplan Gottes. Bereits hier allerdings hielt er fest, dass dieser Heilsplan auch bestimmte Ereignisse in der Kirchengeschichte umfasst, wie z. B. die Bekehrung der Heiden. Vgl. Pannenberg, Thesen, 39. In der 1974

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vom göttlichen Handeln in Christus. Dem Gehalt beider Handlungen ist dies nach Pannenberg nicht angemessen, da sich in beiden Jesus Christus mit den Gläubigen verbindet. So stehen beide in einem engen Zusammenhang mit dem in Jesus Christus offenbaren Heilsmysterium. Dieser Sachzusammenhang plausibilisiert nach Pannenberg den Anteil der Kirche an diesem Heilsmysterium, wie ihn Eph 3,3–10 bezeugt.270 Neben dem in Jesus Christus offenbarten Heilsplan identifiziert Pannenberg im neutestamentlichen Zeugnis weitere Sachverhalte, die als Mysterium bezeichnet werden, wie z. B. die Heilsbedeutung der Verstockung des Volkes Israel in Röm 11,25 oder den Augenblick, in welchem die Glaubenden zu neuem Leben auferstehen werden (vgl. 1. Kor 15,51). Daher sprach Paulus in 1. Kor 4,1 von den Geheimnissen Gottes. Diese Mysterien sind Bestandteile des Geschichtsplans Gottes, der in Jesus Christus zusammengefasst und proleptisch offenbart wird. Dieser Geschichtsplan, der am Ende der Geschichte, also von ihrem Resultat her offenbar wird, bekundet sich schon in ihrem Verlauf durch Ereignisse und Tatsachen, die typologisch auf Künftiges, und zwar insbesondere auf die letzte Zukunft, vorausweisen271.

Diese Funktion dieser Ereignisse wird allerdings erst nachträglich erkennbar. Dies zeigt sich nach Pannenberg u. a. in 1. Kor 10,4, wo Paulus den Schlag des Mose in Ex 17,6 auf den Felsen, wodurch letzterer Wasser für das Volk Israel freisetzte, typologisch auf Jesus Christus deutete und gemeinsam mit der Mannaspeisung in Ex 16,4 auf das Abendmahl bezog. Nachpaulinisch wurden solche Sachverhalte, die vom Christusereignis Sachverhalte typologisch auf dieses bezogen, als Mysterium bezeichnet. Ebenso typologisch deutet nach Pannenberg Eph 5,32 die Ehe von Mann und Frau, die als Mysterium auf die Gemeinschaft Christi mit seiner Kirche vorausweist. Im Neuen Testament das einzige Mal, dass ein später als Sakrament benannter Sachverhalt als Mysterium bezeichnet wird, und zwar in typologischem Sinn. Daraus schließt Pannenberg, dass der Heilswille des Geschichtsplans Gottes, welcher in Jesus Christus offenbar ist, in bestimmten Ereignissen und Sachverhalten sich vorlaufend ankündigt, die daher Mysterium genannt werden. In der Mannigfaltigkeit dieser verschiedenen göttlichen Mysterien geht es um das eine Heilsmysterium, welches in Jesus Christus enthüllt erschienenen zweiten Auflage korrigierte Pannenberg diese Auffassung, da der Zusammenhang zwischen dem biblischen Mysteriumsbegriff und dem Kirchenbegriff den Zusammenhang mit zentralen Vollzügen im kirchlichen Leben und ihres gottesdienstlichen Vollzuges impliziert. Hinzukommt, dass im Neuen Testament immer wieder Mysterien im Plural gebraucht werden, auch wenn damit nicht die später als Sakramente bezeichneten kirchlichen Vollzüge gemeint sind. Vgl. Pannenberg, Thesen, 21974, 39 sowie Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 378, Anm. 759. 270 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 378f. 271 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 380.

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wurde (vgl. Röm 16,25f).272 Eine solche Verbindung der apokalyptischen Idee vom Heilsmysterium Gottes, dass in der Geschichte verborgen und an ihrem Ende enthüllt ist, mit einer typologischen Interpretation bestimmter geschichtlicher Ereignisse „ist ermöglicht durch das Erscheinen Jesu Christi als antizipatorischer Offenbarung des Heilsziels der Geschichte“273. Durch dieses Erscheinen werden bestimmte Ereignisse als Andeutung der Heilszukunft erkennbar und auf das Kommen Jesu Christi beziehbar. Und auch Jesu Geschichte selbst wird zum Vorzeichen der künftigen Vollendung. Hierin erblickt Pannenberg den Bezugsrahmen, in welchem mit Beginn des 3. Jh. Taufe und Abendmahl als Sakrament gedeutet wurden. In ihnen wird das mit Christi Passion vollbrachte Heil in der Gegenwart zugänglich, wie es nach Pannenberg Ambrosius der Taufe und Cyprian der Eucharistie zuspricht.274 272 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 380f. 273 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 381. 274 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 381f. Die von Augustin eingeführte Deutung des Sakraments als Zeichen hat nach Pannenberg den Gedanken von der Sakramentalität Christi und dessen Passion in der Abhandlung der Sakramente verblassen lassen. Die Sakramente wurden als Zeichenhandlungen verstanden, in welchen die mit der Passion verwirklichte Gnade lediglich ausgeteilt wird. Der Begriff des Sakraments wurde zum Gattungsbegriff für kirchliche Zeichenhandlungen. Grund ist hierfür nach Pannenberg ein abstrakter Zeichenbegriff, der auf der augustinischen Unterscheidung von Zeichen und Sache fußt. Bei Augustin sind die Menschen nach Pannenberg angewiesen auf wahrzunehmende Anhaltspunkte, durch welche sich ihnen die Wirklichkeit Gottes und sein Heil erschließt. Als solche Zeichen fungieren in der Kirche Lehre und Sakrament, wobei letzteres als sichtbares Wort verstanden wurde. Zu diesem sichtbaren muss das verkündigte Wort hinzutreten, damit es sakramentales Zeichen wird. An Ebeling anschließend wendet Pannenberg hier ein, dass ein solches Verständnis des Wortes als Zeichen, welches auf die von ihm unterschiedene Sache verweist, dann zwar auf letztere verweist, aber doch gleichzeitig von ihr trennt. Außerdem verdeckt die Betonung des Zeichencharakters des Wortes seinen effektiven Charakter. Denn wenn erst das hinzutretende sichtbare Wort das gesprochene Wort zu einem Geschehen werden lässt, wird das gesprochene Wort selbst auf seine signifikative Funktion beschränkt. Entgegen einer solchen augustinisch geprägten Sakramentenlehre verstand die lutherische Reformation nach Pannenberg die Sakramente nicht nur als Veranschaulichung des Verheißungswortes. Vielmehr zielt die Verkündigung der Christusbotschaft auf die definitive Übereignung ihrer Hörer an Jesus Christus. Diese wird allererst durch die Taufe verwirklicht. Die Sakramente übersteigen daher Verkündigung und Hören des Evangeliums. Gleiches gilt für das Abendmahl, durch welches die Glieder der Kirche ihre Gemeinschaft bekennen und erfahren. Der Heilssinn der Verkündigung kommt daher nach Pannenberg erst in den Sakramenten zu seinem vorläufigen Ziel. Das, was Taufe und Abendmahl verheißen, indem sie es vorwegnehmend darstellen, ist in ihnen schon gegenwärtig, da sie Anteil geben an Jesus Christus, in dem sich alle Verheißungen erfüllen. Mit alledem will Pannenberg nicht den Zeichencharakter der sakramentalen Handlungen bestreiten. Letzterer unterstreicht das „Noch-nicht“ der christlichen Existenz. Damit ist aber nicht wie bei Augustin die Differenz von Sache und Zeichen benannt, sondern vielmehr die Gegenwart der bezeichneten Sache im Zeichen bei gleichzeitiger Unterschiedenheit. Diesen Sachverhalt sieht Pannenberg eher mit dem Begriff des Anzeichens erfasst. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 382–387. Vgl. oben, S. 151.

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In der biblischen Vorstellung des in Jesus Christus offenbarten Heilsmysteriums Gottes sieht Pannenberg die Einheit der als Sakramente bezeichneten kirchlichen Vollzüge begründet. Das Heilsmysterium Christi umfaßt nicht nur die vergangene Geschichte Jesu Christi, sondern ist durch die Verkündigung des Evangeliums, durch Taufe und Herrenmahl auch im gottesdienstlichen Leben der Kirche gegenwärtig und realisiert so auch in der Kirche die Einheit des Versöhnungsgeschehens.275

Daher sind nach Pannenberg Taufe und Abendmahl völlig zurecht als Sakrament zu bezeichnen. Dabei ist die Gegenwart des Heilsmysterium Christi an Vollzug und Empfang der Zeichenhandlung gebunden und nicht davon zu trennen. Eine solche Trennung identifiziert er bei Thomas von Aquin, bei welchem er die Gnadenwirkung des Sakraments nicht an die Wirkung des Zeichens, sondern an die göttliche Anordnung gebunden sieht276 Das Heilsgeschehen und dessen gegenwärtige Gnadenwirkung sind hingegen für Pannenberg nicht zu trennen. Die Kommemoration oder Anamnese der Passion Christi ist vielmehr selbst das Medium ihrer Gegenwart, da das vergangene Heilsgeschehen als Versöhnungsgeschehen zugleich die eschatologische Heilszukunft mit sich bringt, die durch den Geist im Vollzug der Anamnese den Glaubenden gegenwärtig wird.277

Dass das vergangene Heilsgeschehen gegenwärtig wirksam ist, hat seinen Grund für Pannenberg darin, dass in der Geschichte das eschatologische Heil bereits angebrochen ist. Weil die Zukunft Gottes in Jesu Leben und Auferstehung bereits angebrochen ist, kann sie im gottesdienstlichen Leben durch die Anamnese, verbunden mit der Epiklese, in den Gläubigen vergegenwärtigt werden. Dies geschieht in Taufe und Abendmahl, aber gilt das auch für weitere kirchliche Lebensvollzüge? Grundsätzlich ist die Präsenz des Heilsmysterium für Pannenberg überall dort im kirchlichen Leben denkbar, wo ein Bezug zu Jesu Leben und Wirken dergestalt ausgesagt werden kann, dass Jesus selbst darin gegenwärtig ist. Dies kann z. B. für die Werke der Barmherzigkeit (vgl. Mt 25,35–37) gelten oder gemäß Mt 11,4f für Krankenheilung und Evangelisation. Es sind zwar keine rituellen Zeichenhandlungen, aber dennoch ist ihnen eine sakramentale Zeichenhaftigkeit inne. Allerdings unterliegen diese Handlungen der Ambivalenz menschlichen Lebens. Sie sind nicht so eindeutig wie Taufe und Abendmahl, da ihnen die entsprechende Einsetzung fehlt; Einsetzung freilich in dem von Pannenberg weit gefassten Sinn.278 Sakramental gegenwärtig ist das göttliche Heilsmysterium für ihn 275 276 277 278

Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 388. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 387f. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 388. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 389.

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in jedem Fall in der Evangeliumsverkündigung. Dies galt für Jesu Botschaft vom anbrechenden Gottesreich und dies gilt für das verkündigte apostolische Evangelium. In beiden ist das eschatologische Heil gegenwärtig, in letzterem, weil es ersteres zum Inhalt hat. Die Präsenz des Heils ist für Pannenberg der Grund, dass die Reformatoren die aus der Evangeliumsverkündigung resultierende Sündenvergebung in den Mittelpunkt stellen konnten. Denn das Wort bewirkt, was es verheißt. Da die Verkündigung des Evangeliums an dem Versöhnungs- und Offenbarungsgeschehen des göttlichen Heilsmysteriums in Christus Anteil hat, sieht es Pannenberg als sakramental an. Dies ändert nichts an der besonderen Stellung von Taufe und Abendmahl, da sie als Zeichenhandlungen das Heilsmysterium repräsentieren und zugleich mitteilen. Folgt man der seit dem Mittelalter entstandenen theologischen Tradition, Sakramente auf Zeichenhandlungen zu beschränken, die in dem oben skizzierten weiteren Sinne von Jesus Christus eingesetzt sind, kann man nach Pannenberg erwägen, weitere kirchliche Zeichenhandlungen zu den Sakramenten hinzuzurechnen. „Das Kriterium muß dabei sein, ob durch diese Handlungen in vergleichbarer Weise wie bei Taufe und Abendmahl die Gegenwart des Heilsmysteriums Christi für die Glaubenden zugänglich wird.“279 Nach Pannenberg gilt dieses Kriterium für den Zuspruch der Vergebung der Sünden, die Segnung von Kranken sowie die Firmung. Diese Handlungen sind zwar nicht unmittelbar Ausdruck der göttlichen Heilsgegenwart in Christus, da sie nicht wie Taufe und Abendmahl durch Handlungen Jesu begründet werden können. Allerdings sind sie alle bezogen auf die Taufe: „Sie partizipieren sozusagen an der Sakramentalität der Taufe, indem sie deren lebensgeschichtliche Relevanz an dafür bedeutsamen Punkten […] artikulieren und vermitteln.“280 Daher trifft der Begriff des Sakraments auf sie zu, aber nicht in gleichem Maße wie auf Taufe und Abendmahl. Sie „sind nur in einem analogen Sinne sakramental zu nennen.“281 Noch anders verhält es sich mit Amt und Ehe,

279 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 390. 280 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 391. 281 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 391. Die Sündenvergebung als Teil des Bußsakramentes ist laut Pannenberg nicht auf die den Jüngern von Jesus übertragenen Schlüsselgewalt (vgl. Mt 18,18; Joh 20,23) zurückzuführen und kann daher auch nicht als von Jesus eingesetzt bezeichnet werden. Vielmehr wurde die Sündenvergebung im Zusammenhang mit der Taufe institutionalisiert. Dennoch hat die Vergebungspraxis ihren Ursprung bei Jesus und die Vollmacht bzw. sogar die Pflicht zur Vergebung ist nach Pannenberg allen Jüngern mitgeteilt worden. Die Krankensalbung kann durchaus auf Jesu Heilungstätigkeit zurückgeführt werden, aber auch hier kann nach Pannenberg nicht von einer Einsetzung gesprochen werden, wie dies im Trienter Konzil geschah. Dennoch ist sie durchaus als zeichenhafter Ausdruck des Christusmysteriums zu verstehen, zum einen aufgrund des Christustitels selbst, zum anderen da der Salbungsakt an die Taufe erinnert. Auch die Firmung partizipiert an der Sakramentalität der Taufe, da die Salbung, welche die Mitteilung des Geistes wie die Verbundenheit mit Christus symbolisiert, im Urchristentum

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da hier nicht lediglich die kirchliche Handlung, sondern eine dauerhafte Lebensform Sakrament genannt wird. Dabei wird die Sakramentalität des Amtes noch von der rituellen Handlung der Ordination abgeleitet (vgl. dazu Kap. 5.3.2), während bei der Ehe nicht die kirchliche Handlung deren Sakramentalität begründet. Grund für die Bezeichnung der Ehe als Sakrament ist nach Pannenberg Eph 5,31f, wo die in Gen 2,24 ausgesagte Bestimmung von Mann und Frau zu einem Leib auf Jesus Christus und seine Kirche bezogen wird. Dabei wird die Einheit als ein Leib als Mysterium bezeichnet. Mit Bezugnahme auf dieses biblische Wort ist nach Pannenberg die Ehe seit Laktanz und Tertullian in der theologischen Tradition als Sakrament bezeichnet, trotz daraus resultierender Schwierigkeiten. Denn, so Pannenberg, wenn in Eph 5,32 die Ehe nicht nur die Ehe von Christen meint, sondern aller Menschen, wie kann dies ihre Sakramentalität begründen? Als Einsetzungswort jedenfalls ist es nicht zu begreifen. Auch der Begriff des Mysteriums dient nicht zur Begründung, da er nach Pannenberg nicht auf die Ehe bezogen. Das Mysterium besteht vielmehr „in der Beziehung der zur Geschöpflichkeit des Menschen gehörenden Gemeinschaft von Mann und Frau auf das Geschehen der Inkarnation Jesu Christi und seiner Gemeinschaft mit seiner Kirche.“282 Die menschliche Bestimmung zur Ehe erscheint hier als Teil des göttlichen Heilsplans, der in Jesus Christus offenbart wurde. „Bereits in der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen deutet sich dieser Heilsplan Gottes an.“283 Die Bestimmung der Menschheit, versöhnt zu werden, deutet sich in der menschlichen Bestimmung zur ehelichen Gemeinschaft an. So ist sie für Pannenberg Teil des Christusmysteriums und daher auch sakramental. Denn für ihn ist in Eph 5,32 die eheliche Bestimmung (vgl. Gen 2,24) typologisch auf Christus und seine Beziehung zur Kirche bezogen.284 und der Alten Kirche zentraler Bestandteil der Taufpraxis gewesen ist. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 400f. 282 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 392. (Hervorhebung im Original.) 283 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 392. 284 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 392f. Ein solcher typologischer Bezug entspricht nach Pannenberg der gängigen Sprechweise der Patristik, in welcher einzelne Mysterien auf das Christusmysterium bezogen wurden. Diese Sprechweise sieht er der Bezeichnung von Taufe und Abendmahl als Sakrament vorausgegangen und ist vielleicht auch ihre traditionsgeschichtliche Voraussetzung. Dogmatisch festgelegt wurde die Sakramentalität der Ehe laut Pannenberg erst durch das Konzil von Trient als Reaktion auf die Reformation. Durch sie wird Gnade vermittelt, das Konzil bezeichnet die Gnade aber nicht dezidiert als rechtfertigend. Die Reformation hat nach Pannenberg Ehestand und -schließung als weltliches Geschäft bezeichnet, gleichzeitig die Ehe aber eine göttliche Stiftung genannt. Melanchthon hielt 1530 an der göttlichen Einsetzung dieser fest, aber nicht durch Jesus, sondern durch den Schöpfer. Den in Eph 5,32 bekundeten typologischen Bezug der Zweigeschlechtigkeit des Menschen und seiner ehelichen Bestimmung auf das Verhältnis Christi zu seiner Kirche sieht Pannenberg in solchen Interpretationen der Ehe nicht be-

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Die Ehe kann in dem Sinne als Sakrament bezeichnet werden, daß die Menschen bereits durch ihre geschöpfliche Natur, und zwar insbesondere durch die Bestimmung ihrer Zweigeschlechtlichkeit zur ehelichen Gemeinschaft, auf die im Verhältnis Jesu Christi zu seiner Kirche zu offenbarende Bestimmung des Menschen bezogen sind.285

Dass die Ehe dabei als unverbrüchlich angesehen wird, ist für Pannenberg erst ein christliches Urteil, nicht schon allgemeines Charakteristika der Ehe. Die Unverbrüchlichkeit der Ehe erscheint in der Perspektive der Botschaft Jesu als Hinweis auf die unverbrüchliche Bestimmung der Menschheit zur Gemeinschaft mit Gott in seinem Reich. Sie ist ein Gleichnis der Treue Gottes seinem erwählten Volk gegenüber. Daher begreift Pannenberg im Anschluss an Helmut Schelsky das Ideal der Monogamie im Christentum begründet. Sie hat gerade im Christentum zur Gleichstellung der Geschlechter geführt (vgl. Gal 3,28), auch wenn beide Ideale – Monogamie und Gleichstellung – in der Christentumsgeschichte nur ungenügend realisiert wurden. Gerade in der Monogamie erblickt Pannenberg das Ziel, das eigene Glücksstreben der Einheit der Beziehung unterzuordnen.286 Mit alledem will Pannenberg nicht aussagen, dass Unverheiratete keinen Anteil an der allgemeinmenschlichen Bestimmung hätten. Denn die Ehe ist lediglich Hinweis auf diese Bestimmung. Dieser Hinweis muss im Glauben der Eheleute allererst angeeignet werden, damit letztere Anteil an Jesu Heil haben. Der Verzicht auf die Ehe kann sogar eine besondere Berufung ausdrücken (vgl. 1. Kor 7,32ff). Aber natürlich nur, wenn Ehelosigkeit nicht Promiskuität bedeutet. „Für den ganzen Bereich des geschlechtlichen Lebens bleibt die Ehe in christlicher Sicht die Norm, auf die alle andern Verhaltensweisen und Lebensformen zu beziehen sind.“287 Dass die Ehe die Norm ist „für den ganzen Bereich der Geschlechtsbeziehungen“288, beurteilt Pannenberg nicht als Intoleranz gegenüber davon abweichendem Verhalten. Diese Norm meint vielmehr, anderes Verhalten daran zu messen. Denn auch der Begriff der Toleranz setzt laut Pannenberg eine Norm und eine Differenz von ihr voraus. Ohne diese Differenz würde Toleranz eigentlich Gleichgültigkeit meinen. Gegen letztere jedoch sind Normen gerichtet, auch die der Ehe.

285 286 287 288

rücksichtigt. In der späten Fassung der Loci ist diesem Bezug mehr Rechnung getragen, wenn Melanchthon dort die Sakramantesbezeichnung der Ehe für möglich erachtet, werden Sakramente nicht auf Zeichenhandlungen beschränkt. Aber eben daran erinnert die Sakramentalität laut Pannenberg, dass sie eben nicht nur auf Zeichenhandlungen begrenzt ist. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 393–395. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 395. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 395–397. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 397. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 395.

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Das gilt auch im Hinblick auf die Homosexualität. Der einzelne Christ und die Kirche können sie tolerieren, sie können aber eine homosexuelle Verbindung nicht als ethisch gleichwertig und gleichberechtigt mit der Ehe anerkennen.289

Begründet sieht Pannenberg dieses Urteil gegenüber der Homosexualität im Anschluss an Rendtorff darin, dass Homosexualität eigentlich nicht Determination bedeutet, man also ihr gegenüber die Möglichkeit der autonomen Stellungnahme behält.290 Gerade die Ehe als Mysterium des Heilsplans Gottes schärft nach Pannenberg noch einmal ein, den Begriff des Sakraments möglichst weit zufassen, und nicht dadurch einzuschränken, dass eine so bezeichnete Praxis notwendig auf eine Einsetzung durch Jesus selbst zurückgeführt werden muss. Gleichzeitig aber bedarf es auch einer Grenze für die Anerkennung eines Sakraments. Diese liegt darin, dass der so benannte Sachverhalt bzw. die so benannte Handlung Teil des Heilsmysteriums Christi sein muss.291 Eine kirchliche Handlung ist dann sakramental, wenn ihr Gehalt seinen Ursprung in Christus hat und zeichenhafter Ausdruck des Heilsmysteriums Christi ist, welches ihn mit seiner Kirche vereint. Allein schon deshalb ist keine beliebige Vielzahl an Sakramenten möglich. Wenn das Heilsmysterium etwas mit der Einheit der Kirche in Christus zu tun hat (Eph 1,10; vgl. 2,14), dann muß sich bei als Sakrament zu bezeichnenden Handlungen auch die Einheit der Kirche durch die Zeiten hin darstellen292.

Und das bedeutet für Pannenberg, dass nur solche Handlungen Sakrament zu nennen sind, für deren Funktion als Darstellung des Heilsmysteriums es bereits in apostolischer Zeit Ansätze gibt. Dies ist neben den von Pannenberg selbst als sakramental bezeichneten Handlungen besonders beim christlichen Gottesdienst der Fall, da in ihm die Einheit der Kirche mit Jesus Christus als Werkzeug und Zeichen der im Reich Gottes geeinten Menschheit dargestellt wird. Die Wirksamkeit der Sakramente ist in der anamnetischen Vergegenwärtigung des in 289 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 398. Dementsprechend positioniert sich Pannenberg in den Debatten um den grundgesetzlichen Schutz der Ehe und Familie gemäß Art. 6 Abs. 1 GG. Eine in diesem Sinne gesetzliche Gleichstellung homosexueller Lebensgemeinschaften mit der heterosexuellen Ehe beurteilt er ebenfalls als Verwechslung von Toleranz und Gleichgültigkeit. Der Staat muss homosexuelle Lebensgemeinschaften und Verhaltensweisen tolerieren, aber an der Norm der Ehe und Familie festhalten. Vgl. Pannenberg, Rechtsüberzeugungen, 263f. Das politische Streben, den im Grundgesetz festgehaltenen besonderen Schutz von Ehe und Familie aufzulösen, indem ihr andere Beziehungsmodelle gleichgestellt werden, zeigt nach Pannenberg, wie weit Deutschland sich Deutschland und auch Europa von ihren christlichen Wurzeln entfernt haben. Vgl. Pannenberg, Neutralität, 386. 290 Vgl. Pannenberg Systematische Theologie Bd. 3, 398, Anm. 810. 291 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 398f. 292 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 402.

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Kirche als vorwegnehmende Darstellung des Reiches Gottes

Jesus Christus offenbaren eschatologischen Heils begründet. Dies gilt für Abendmahl, Taufe, Firmung, Ordination, Absolution und Krankensalbung. Sie alle lassen sich als Anamnese entsprechender Aspekte des Wirkens Jesu verstehen, das in solchem Gedenken weiterwirkt und immer wieder neue Menschen ergreift und einbezieht in das Heilsmysterium der Versöhnung, das Jesus mit seiner Kirche vereint und dessen Dynamik auf die gesamte Menschheit gerichtet ist.293

Auch die Ehe konnte vom frühen Christentum in typologischer Weise als Zeichen dieses Ziels des göttliche Heilswillens verstanden und so als Sakrament bezeichnet werden. Das Versöhnungshandeln Gottes zielt darauf, im Eschaton den Bruch zwischen Mensch und Gott zu überwinden und die Menschheit zu vollenden. Da dieses Ziel in Jesus Christus angebrochen ist, kann es in der anamnetischen Vergegenwärtigung seines Heilsmysteriums selbst Gegenwart werden, nicht als eine von Christus getrennte Gnadenwirkung, sondern als eine Verwandlung des Menschen in Christi Bild.

4.5

Das Verhältnis von Staat und Kirche

Bei der Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche setzt Pannenberg mit dem Bezug beider zum Reich Gottes ein. In der Kirche ist dieser – wie in Kap. 4.4 ausgeführt – am dichtesten im Abendmahl präsent. Hier sind das Reich Gottes und damit die Bestimmung der Menschheit symbolisch dargestellt und in dieser symbolischen Darstellung antizipativ gegenwärtig. Ist somit das Wesen der Kirche vom Reich Gottes her zu erfassen, sind nach Pannenberg alle ekklesiologischen Bestimmungen von diesem Bezug her zu entwickeln. Nun sieht er aber nicht nur die Kirche von ihrem Gottesreichbezug her bestimmt, sondern auch das politische Handeln, die politische Ordnung. Der Bezug ergibt sich daher, dass in den Augen Pannenbergs jegliches politisches Handeln darauf zielt, Frieden und Gerechtigkeit zu verwirklichen; deren Realisierung wiederum erwartet nun die jüdisch-christliche Tradition vom Reich Gottes. Weil politische Ordnung in ihren schlechten ebenso wie in ihren besseren Gestalten es immer mit der Aufgabe der Herstellung eines Rechts- und Friedenszustandes zu tun hat, steht sie überall in einer Beziehung zum Reiche Gottes, auch da noch, wo die staatliche Ordnung und die Inhaber der Staatsgewalt von einer solchen Beziehung nichts wissen oder auch nichts davon wissen wollen.294 293 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 403. 294 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 62. Noch einmal sei darauf hingewiesen, dass Pannenberg die Begriffe gesellschaftliche Ordnung, staatliche Ordnung sowie politische Ordnung deckungsgleich gebraucht. Vgl. oben, S. 59, Anm. 97.

Das Verhältnis von Staat und Kirche

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Pannenberg sieht so grundsätzlich jegliche Form staatlicher Ordnung als legitimierten Versuch anerkannt, das menschliche Zusammenleben gerecht zu gestalten. Das bedeutet für ihn aber nicht, dass jemals eine staatliche Ordnung Gerechtigkeit und Frieden realisiert hat oder auch jemals realisieren wird, im Gegenteil: Indem für Pannenberg Gerechtigkeit und Frieden allererst im Reich Gottes herrschen, da dort Gott in den Herzen der Menschen herrschen wird, kann diese kein weltliches Herrschaftssystem verwirklichen. Es kann immer nur das Ziel politischen Handelns sein, diesem Ideal möglichst nahe zu kommen. Diese Differenz muss nach Pannenberg für jede politische Ordnung grundlegend sein, will sie ihrer Aufgabe gerecht werden.295 Da sowohl die Kirche als auch die politische Ordnung von ihrem Reich-Gottes-Bezug her bestimmt sind, geht es für Pannenberg in beiden um dieselbe Lebensthematik, aber einmal um ihre unmittelbare, immer gebrochene und provisorische Verwirklichung, das andere Mal um ihre endgültige Vollendung, die aber eben darum nur in zeichenhafter, sakramentaler Gestalt gegenwärtig ist.296

Somit ist für beide nicht nur der Bezug, sondern auch die Unterscheidung vom Reich Gottes notwendiger Bestandteil, wenn die Kirche Darstellung des Reiches Gottes sein will und der Staat einem Leben in Frieden und Gerechtigkeit näher kommen will. Dass im Christentum der Staat wie die Kirche vom Gottesreich her zu bestimmen sind, ist für Pannenberg der Grund dafür, dass im Wirkraum des Christentums allererst die Trennung beider Institutionen entstanden ist: Das Gegenüber von religiöser und politischer Autorität ist ja bei aller Verschiedenheit seiner Ausprägungen im Laufe der christlichen Geschichte ein sehr charakteristisches Merkmal der durch das Christentum bestimmten Gesellschaftsstruktur, ein Merkmal, in dem sich das eschatologische Bewußtsein des Christentums […] bekundet.297

Für die von Pannenberg vorgenommene Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche ist die kritische Auseinandersetzung mit zwei Modellen der Tradition von entscheidender Bedeutung: Die lutherische Lehre von den zwei Reichen und als Korrektiv dazu die eusebianische Reichstheologie. Daher soll im Folgenden Pannenbergs Kritik an Luthers Ausführungen dargestellt werden, um davon ausgehend die Interpretation seiner eigenen Konzeption zu vertiefen.

295 Vgl. Pannenberg, Bestimmung, 24f. 296 Pannenberg, Aufgabe, 166f. 297 Pannenberg, Reichsidee, 87.

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Kirche als vorwegnehmende Darstellung des Reiches Gottes

4.5.1 Pannenbergs Auseinandersetzung mit Luthers Zwei-Reiche-Lehre und der eusebianischen Reichstheologie Nach Pannenbergs Auffassung verbindet Luther die augustinisch geprägte Unterscheidung der zwei Reiche mit der im Mittelalter entstandenen Lehre von den zwei göttlichen Regimenten. Die Verbindung dieser beiden Traditionen ist „der originale Beitrag Luthers zur politischen Theologie“298. Bei Augustin sind nach Pannenberg mit den zwei Reichen zwei Menschengruppen gemeint, die entweder Gott bis zur eigenen Selbstaufgabe lieben oder die sich selbst lieben bis hin zum Hass gegenüber Gott. Augustin nun kann politische Herrschaft würdigen, insofern dieser trotz der Sündhaftigkeit der Menschen die Aufgabe der Friedenserhaltung zukommt, wenn es sich auch immer nur um einen vorläufigen Friedenszustand handelt. Dabei ist aber nach Pannenberg in der augustinischen Lehre der politische Herrschaftsbereich nicht mit einer der beiden Menschengruppen deckungsgleich. Vielmehr kommt allen Menschen die Aufgabe zu, durch die politische Ordnung Frieden zu erreichen.299 Luther nun übernahm die augustinische Aufgabenbestimmung politischer Ordnung, ergänzte sie um die Aufgabe der Erhaltung des Rechtes und ordnete sie dem weltlichen Regiment Gottes zu, welches dem geistlichen Regiment gegenübergestellt ist.300 Wurde diese im Mittelalter entstehende Unterscheidung zu Beginn noch dahingehend verstanden, dass der Kaiser als Stellvertreter Christi an dessen Königsherrschaft partizipiert,301 hatte sich dies bis in die Zeit Luthers geändert: „Als ein sakrales Amt in der Christenheit hat Luther […] das Kaisertum nicht mehr gesehen.“302 Dass Luther an eine solche entsakralisierte Interpretation der weltlichen Gewalt angeknüpft, erklärt für Pannenberg die Mängel seiner Zwei-Reiche-Lehre, welche folgenschwere Konsequenzen nach sich zogen: Weltliches und geistliches Regiment waren nicht mehr zwei Pole innerhalb der Christenheit. Vielmehr vertrat Luther die Selbstständigkeit der weltlichen Gewalt, um sie vor kirchlichen Übergriffen zu schützen, und begründete diese aus der eigentümlichen Natur und dem Eigenrecht politischer Herrschaft als solcher […], nicht aber aus der Selbständigkeit der politischen Funktion in einer durch das

298 299 300 301 302

Pannenberg, Reichsidee, 80. Vgl. Pannenberg, Reichsidee, 80–82. Vgl. Pannenberg, Reichsidee, 82. Vgl. Pannenberg, Reichsidee, 83f. Pannenberg, Reichsidee, 86. Damit nimmt Luther keine Sonderstellung in seiner Zeit ein, sondern eine solche entsakralisierte Sicht auf das Kaisertum sieht Pannenberg für seine Zeit als weit verbreitet an, folgend aus verschiedenen kirchen- und geistesgeschichtlichen Entwicklungen. Vgl. Pannenberg, Reichsidee, 84–86.

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Christentum geprägten Gesellschaft und im christlichen Überlieferungszusammenhang.303

Für Pannenberg ist zwar unbestreitbar, dass es sich bei Luther um ein dezidiert christlich geprägtes Verständnis des Verhältnisses von Kirche und politischer Ordnung handelt. Dies zeigt sich bereits im Gegenüber beider Autoritäten, was für Pannenberg eine spezifisch christliche Ausprägung darstellt aufgrund des eschatologischen Bewusstseins des Christentums.304 Was Luther bei dieser Verhältnisbestimmung nicht berücksichtigte – und in den Augen Pannenbergs auch nicht berücksichtigen konnte – ist, dass er sie in einer spezifischen, geschichtlich gewachsenen Situation vornimmt. Es fehlt die Einsicht Luthers, dass es sich bei seiner Interpretation politischer Herrschaft um eine solche politische Herrschaft handelt, die sich auf der Grundlage des Christentums entwickelt hat. Nach Pannenberg liefert er zwar eine theologische Deutung und Rechtfertigung politischer Herrschaft, aber so, dass das der jeweiligen politischen Ordnung eigene Selbstverständnis irrelevant ist: Es kommt nicht darauf an, dass der Staat sich als christlich begründet versteht, um ihn als Regiment Gottes zu bezeichnen.305 Das Interesse Luthers sieht Pannenberg im Schutz der politischen Herrschaft vor kirchlicher Bevormundung begründet, weswegen er die Selbstständigkeit des Staates stärken wollte. Demgegenüber ist die Kirche auf das innere Leben, die Spiritualität beschränkt.306 Beide Reiche nun, die Kirche wie den Staat, sieht Luther nicht als dem Menschen anvertraute Vollmachten, sondern als Regimente Gottes. Gott selbst wirkt durch sie. Mit dieser Deutung folgt Luther nach Pannenberg der für ihn charakteristischen Wendung vom menschlichen zum göttlichen Handeln und überschreitet dabei den Horizont der mittelalterlichen Zwei-Regimenten-Lehre. Eine solche Deutung beider Reiche als Regimente Gottes ermöglicht es Luther, „die rein säkulare Begründung politischer Herrschaft dennoch theologisch zu interpretieren, nämlich als unmittelbare Beauftragung auch nichtchristlicher Obrigkeit durch Gott selbst“307. So bleibt der Mensch ein von Gott empfangender und kann dennoch im weltlichen und geistlichen Lebenszusammenhang am göttlichen Liebeswerk mitwirken. Indem nun die unterschiedenen Regimente 303 304 305 306

Pannenberg, Reichsidee, 86. Vgl. Pannenberg, Reichsidee, 87. Vgl. Pannenberg, Reichsidee, 87f. Vgl. Pannenberg, Reichsidee, 89. Dieser von Luther vorgenommenen Trennung beider Regimente, die Pannenberg als Abstraktion von der konkreten geschichtlichen Verflochtenheit beider bezeichnet, stehen nach Pannenberg Schriften gegenüber, die sich an eben dieser Verflochtenheit orientieren. So zieht er z. B. Luthers Adelsschrift heran, in welcher Luther die Fürsten für verantwortlich erklärt für das kirchliche Wohl. Vgl. Pannenberg, Reichsidee, 88. 307 Pannenberg, Reichsidee, 90.

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noch einmal im Lichte der augustinischen Zwei-Reiche-Lehre interpretiert werden, kann Luther einerseits die Notwendigkeit von politischer Herrschaft begründen und andererseits ihre Ansprüche begrenzen. Ist es die Aufgabe politischer Herrschaft angesichts der Sünde Recht und Frieden zu erhalten, dann folgt für Pannenberg daraus, „daß politische Herrschaft ihre Grenze findet an der Innerlichkeit des Menschen und keine Diktatur über die Gewissen und die Überzeugungen der Menschen über darf.“308 Die bei Luther identifizierte theologische Begründung politischer Herrschaft in der Erhaltung von Recht und Frieden angesichts der Sünde ist für Pannenberg unzureichend. Politische Herrschaft ist so nur auf den Erhaltungswillen Gottes, nicht aber auf seine Erlösungsabsicht bezogen. Eine Beziehung des politischen Lebens selbst auf die christliche Hoffnung, auf das himmlische Jerusalem, in dem die politische Bestimmung des Menschen so vollkommen verwirklicht sein soll, daß es dann keiner besonderen Kirche, keines Tempels mehr bedarf, sucht man bei Luther vergebens.309

Daher denkt er nach Pannenberg die politische Ordnung nicht als Teil der allgemeinmenschlichen Bestimmung, sondern lediglich als göttliche Notordnung im Angesicht der Sünde. Dies kritisiert Pannenberg entschieden. Durch eine solche negative Funktionsbestimmung waren dann auch die Kirchen, die Luther in diesen für Pannenberg abstrakten Bestimmungen politischer Herrschaft folgten, wehrlos gegenüber sich verselbstständigenden und sich selbst verabsolutierenden Staaten.310 Eine Gestalt politischer Theologie, die politische Herrschaft von ihrem Bezug zum Reich Gottes her bestimmt, sieht Pannenberg in der byzantinischen Konzeption des christlichen Kaisertums. Aufgrund der schwerwiegenden Probleme der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre kann Pannenberg daher nicht so ohne weiteres einstimmen […] in die heute übliche Verdammung der eusebianischen Reichstheologie, der an ihr orientierten Kaiseridee des Mittelalters und der Konzeption einer durch das Christentum bestimmten und das heißt doch auch strukturell veränderten Gesellschaft, eines corpus Christianum.311

Eusebius würdigt nach Pannenberg Kaiser Konstantin als Repräsentanten der Herrschaft Christi auf Erden. Sein Amt ist nicht nur ein Amt innerhalb des Imperiums, sondern auch ein Amt der Kirche. Kirche wiederum definiert er nicht als eine Institution neben anderen im gesellschaftlichen Lebenszusammenhang. Kirche ist das gesamte Volk, das der Organisation und Führung bedarf und diese 308 309 310 311

Pannenberg, Reichsidee, 90. Pannenberg, Reichsidee, 91. Vgl. Pannenberg, Reichsidee, 91f. Pannenberg, Reichsidee, 93

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ist Aufgabe der Bischöfe und des Kaisers.312 Pannenberg nun bezieht sich nicht auf die eusebianische Reichstheologie, weil er für deren Aktualisierung eintreten will. Vielmehr sieht er auch diese von Einseitigkeiten belastet, vor allem weil sie die Vorläufigkeit jeglicher politischen Ordnung und ihre Differenz zum Reich Gottes unberücksichtigt lässt.313 Sie ignoriert damit nicht nur die Macht der Sünde in der Welt, sondern vor allem den Charakter der Herrschaft Gottes, die sich gerade in der Aufhebung menschlicher Herrschaft zeigt: Die göttliche Herrschaft wurde nicht in ihrem Wesen als Aufhebung der Herrschaft verstanden; statt dessen wurde die irdische Vertretung des Himmelskönigs durch den Monarchen oder später durch den Papst, der sich anstelle des Kaisers nun Vicarius Christi nennen ließ, als eine unverbrüchliche göttliche Ordnung von Urbild und Abbild verstanden, die zu einer vollständigen ständischen Hierarchie ausgebaut werden konnte.314

Gleichzeitig würdigt Pannenberg in dieser Konzeption, dass sich die Wesensbestimmung der politischen Ordnung am Reich Gottes orientiert. Hierin besteht für ihn die Stärke dieses Entwurfs und der daran anschließenden Tradition politischer Theologie. Demgegenüber kann man bei Luther „wie kaum irgendwo sonst den wachen Sinn für die Vorläufigkeit aller innerweltlichen Lebensordnung, der kirchlichen wie der politischen, gegenüber der Zukunft des Heils und des Gerichtes Gottes finden.“315 In seiner eigenen Konzeption der politischen Herrschaft sowie der Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche will Pannenberg die Stärken beider Konzeptionen verbinden: Politische Ordnung soll vom Reich Gottes und so vom göttlichen Erlösungswerk her bestimmt werden; gleichzeitig muss dem Wissen um die Vorläufigkeit jeglicher Ordnung strikt Rechnung getragen werden.

4.5.2 Die gesellschaftliche Funktion der Kirche Die staats- und gesellschaftstheoretischen Bestimmungen Pannenbergs sind bereits in Kap. 2.2 dargestellt worden. Dabei hat sich gezeigt, dass für Pannenberg die gemeinsame Welt der Menschen in dem ihnen entzogenen Sinnbewusstsein, in der ihnen entzogenen Sinnordnung ihren Grund hat. Die kulturelle Lebenswelt und die institutionelle Ausgestaltung einer Gesellschaft sind nach Pannenberg erschließender Nachvollzug der ihnen vorgegebenen Wirklichkeit.316 312 313 314 315 316

Vgl. Pannenberg, Bestimmung, 62–66. Vgl. Pannenberg, Reichsidee, 93. Pannenberg, Geschichtstatsachen, 239. Pannenberg, Reichsidee, 95f. Vgl. Kap. 2.2.1 und 2.2.2.

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Diese entzogene Sinnordnung, für Pannenberg die Bestimmung der Gesellschaft und des Einzelnen, thematisiert der Mythos und ist den Menschen zugänglich im Kult.317 Die bisherigen Interpretationen zu der Ekklesiologie Pannenbergs haben gezeigt, wie er diese staats- und gesellschaftstheoretischen Bestimmungen theologisch umsetzt: In der Kirche, genauer, in ihrem Zentrum, dem eucharistischen Mahl, ist die Bestimmung des Menschen und damit die Bestimmung des Einzelnen wie der Gesellschaft antizipatorisch gegenwärtig. Und auch die politische Ordnung ist – wie ebenfalls bereits in der Interpretation der anthropologischen Grundlagen der Ekklesiologie Pannenbergs deutlich wurde – an der Bestimmung des Menschen, dem Reich Gottes ausgerichtet. Anders als in den Ausführungen Luthers zum Staat ist Pannenberg an einer positiven Beschreibung desselben interessiert. Nur so sieht er die politische Natur des Menschen theologisch anerkannt. In jeder politischen Ordnung erblickt er grundsätzlich den Versuch, diese gesellschaftliche Bestimmung zu verwirklichen. Der Bezug von politischer Ordnung und Reich Gottes sieht er dabei vor allem im Recht. Jedes staatliche Recht stellt einen Versuch dar, dem göttlichen Rechtswillen zu entsprechen. Und dieser göttliche Rechtswille ist nicht bloße Reaktion auf die Sünde. Er ist vielmehr der Schöpfung inhärent als deren Ziel, die menschliche Bestimmung zu realisieren. Die Funktion des Staates ist so nicht lediglich von der Sünde her bestimmt, sondern vom göttlichen Erlösungswerk her. Dabei darf die politische Ordnung allerdings nicht mit dem realisierten Rechtswillen Gottes in dessen Reich verwechselt werden. Trotz positiver Bezogenheit kann keine gesellschaftliche Ordnung das Reich Gottes auf Erden umsetzen. Wo gesellschaftliche Ordnung sich als Verwirklichung der allgemeinmenschlichen Bestimmung versteht, dort herrscht Tyrannei und eine freie Selbstentfaltung des Einzelnen ist nicht mehr möglich.318 Was aber heißt dies nun für Verhältnis von Staat und Kirche?

317 Vgl. Kap. 2.2.1.1. Geisthardt unterzieht die Ausführungen Pannenbergs zu der Aufgabe der politischen Ordnung und zu der Funktion der Kirche in der Gesellschaft einer scharfen Kritik. Der entscheidende Grund seiner Kritik scheint die von Pannenberg behauptete vorgegebene Sinngrundlage der institutionellen Gestaltung und Ausdifferenzierung einer Gesellschaft zu sein. Denn nach Geisthardt ist mit Habermas klar, dass jede Legitimierung politischer Herrschaft, die nicht auf einer Vereinbarung von Gleichen und Freien beruht, sondern sich auf letzte Gründe oder unbedingt Geltendes stützt, vorneuzeitlich ist. Nach Geisthardt ist Vorneuzeitlichkeit zwar kein Argument, das die Schlüssigkeit theologischer Argumentation zwingend infrage stellt. Da Pannenberg aber laut Geisthardt ein solches vorneuzeitliches Herrschaftsverständnis für das genuin christliche Verständnis von Herrschaft hält, ist seine theologische Argumentation nur noch daraufhin zu befragen, ob er recht hat, dass die „Affinität des christlichen Glaubens zur ‚mittelalterlichen‘ Denkweise über politische Legitimität mit theologischen Argumenten nachgewiesen werden kann.“ Geisthardt, Konzeptionen, 173. Vgl. insgesamt Geisthardt, Konzeptionen, 157–173. 318 Vgl. Kap. 2.2.3.

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Die primäre politische Funktion der Kirche ist für Pannenberg, die Differenz von Staat und Gottesreich im Bewusstsein zu erhalten.319 Dieser Funktion kommt sie für ihn qua Existenz nach. Denn indem die Kirche im Mahl ihr Wesen vollzieht und das Reich Gottes antizipativ vergegenwärtigt, vermittelt sie die allgemeinmenschliche Bestimmung und stärkt so das Bewusstsein der Vorläufigkeit jeder gegenwärtigen Realisierung dieser Bestimmung. Für Pannenberg muss Kirche also nichts anderes als Kirche sein, um ihrer gesellschaftlichen Funktion nachzukommen. Sie ist auf scheinbar unpolitische Weise politisch und entspricht hierin dem politischen Charakter der jesuanischen Reich-Gottes-Verkündigung. Das politische Reich Gottes wurde bei Jesus auf erstaunlich unpolitische Weise Gegenwart, nämlich nicht auf dem Wege über eine Reform oder Revolution der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern über die Frage nach der Einstellung des Einzelnen zur Zukunft Gottes, zum Kommen der Gottesherrschaft.320

In dieser Analogie sieht Pannenberg die Funktion der Kirche in einer Gesellschaft begründet, da auch diese sich an den Einzelnen richtet und in ihrem Wirken diesem Anteil an der anbrechenden Gegenwart der Gottesherrschaft vermittelt. Sie vermittelt dem Einzelnen so schon jetzt Anteil an der erst eschatologisch realisierten Bestimmung des Menschen. Und zeigt so die Vorläufigkeit und Verbesserungswürdigkeit jeder konkreten politischen Ordnung. Und nur in dem Bewusstsein der Vorläufigkeit der gegenwärtigen Ordnung ist für Pannenberg Freiheit des Einzelnen möglich.

319 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 437. 320 Pannenberg, Gesellschaft, 118. Die Begründung der gesellschaftlichen Funktion der Kirche durch den Rückbezug auf die Art und Weise der jesuanischen Verkündigung dient Pannenberg auch als Positionierung in der in den 1960er und 1970er Jahren viel diskutierten Verhältnisbestimmung von Privatheit und Öffentlichkeit. (Einen Überblick über die verschiedenen Fassungen gerade des Begriffs der Öffentlichkeit liefert Imhof, Öffentlichkeitstheorien.) In der 1970 veröffentlichten Thesenreihe zur Ekklesiologie verhandelt Pannenberg im dritten Kapitel das Verhältnis von Kirche und Gemeinwesen. Er beginnt seine Erläuterungen mit dem Verweis auf das „private Kolorit der Botschaft Jesu“ (Pannenberg, Thesen, 16) und entfaltet von hier seine Bestimmungen zur gesellschaftlichen Funktion der Kirche, die in ihrer Aufgabe in der demokratischen Öffentlichkeit münden. Vgl. Pannenberg, Thesen, 16–20. Für die Verhältnisbestimmung von Öffentlichkeit und Privatheit bedeutet dies, dass der Adressat der christlichen Botschaft der Einzelne und sein privates Gottesverhältnis ist, dass dieses Gottesverhältnis aber politische und mithin öffentliche Konsequenzen hat. Der Glaube muss öffentlich sichtbar werden! Daher ist ein Rückzug des Religiösen in das Private nach Pannenberg für das Christentum nicht hinnehmbar. Vgl. zu der Bedeutung der öffentlichen Sichtbarkeit des Glaubens die Ausführungen zur Bedeutung des Bekenntnisses für Pannenberg in Kap. 4.2.2; Pannenbergs Kritik an der Privatisierung des Religiösen wurde ausführlich in Kap. 3 dargestellt. Zum Begriff der Öffentlichkeit bei Pannenberg vgl. Huber, Öffentlichkeit, 106f.

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Wenn die Bestimmung des Menschen und damit seine Freiheit nicht definitiv durch politisches Handeln realisierbar ist, dann ist die Freiheit des Einzelnen nur in Differenz zur jeweiligen politischen Lebensordnung offenzuhalten.321

Daher bedarf es für Pannenberg im Sinne der Freiheit des Einzelnen der Selbstständigkeit der Kirche gegenüber der politischen Ordnung. In dieser kritischen Funktion der Kirche erblickt Pannenberg ihre Existenzbedingung. Sie macht sich selbst überflüssig, wenn sie dieser Funktion nicht mehr nachkommt, und „bleibt dann höchstens als Institution religiöser Bedürfnisbefriedigung für die Schlechtangepaßten im Rahmen der Konsumgesellschaft übrig“322. Sollte Kirche nur noch einer solchen Bedürfnisbefriedigung nachgehen, dann „würde sie ebenso zur Stabilisierung bestehender Verhältnisse beitragen wie das die Kirche in vergangenen Zeitaltern oft genug, wenn auch bei weitem nicht immer getan hat.“323 In der Konsequenz bedeutet dies auch, dass es die Kirche nur so lange braucht, bis Frieden und Gerechtigkeit vollkommen realisiert sein werden. Das heißt, dass die Kirche nur unter den Bedingungen des Irdischen existiert, da die gesellschaftliche Bestimmung des Menschen im Reich Gottes verwirklicht sein wird. Pannenberg kann daher die Kirche als eine „göttliche[] Interimsordnung“324 oder als ein „Provisorium“325 bezeichnen, die nur angesichts noch nicht erfüllter Humanität existiert. „Die marxistische Erklärung für den Fortbestand von religiösen Gemeinschaften ist insofern korrekt.“326 Der Marxismus erkennt nämlich vollkommen richtig, dass der Fortbestand der Religionen zeigt, dass die allgemeinmenschliche Bestimmung noch nicht realisiert ist. Nur die im Marxismus daraus abgeleiteten Konsequenzen erachtet Pannenberg als falsch, da durch kein menschliches Handeln die Bestimmung des Menschen verwirklicht werden kann.327 Die gesellschaftliche Funktion der Kirche geht aber nicht in der reinen Kritik bzw. in dem Aufzeigen der Grenzen der konkreten politischen Ordnung auf. Vielmehr liegt hierin auch die legitimierende Kraft, die von der Kirche ausgeht. Indem die Kirche die Vorläufigkeit der politischen Ordnung im Bewusstsein erhält, kann sie die Säkularität einer Gesellschaft und ihrer Institutionen wahren. „Auf der anderen Seite aber sanktioniert sie auch die gesellschaftliche Ordnung als eine vorläufige, wenn auch mangelhafte und ständig reformbedürftige Gestalt

321 Pannenberg, Gesellschaft, 120. Vgl. die Ausführungen zum Recht auf Selbstbehauptung in Kap. 2.1.3. 322 Pannenberg, Theologie, 42. 323 Pannenberg, Theologie, 42. 324 Pannenberg, Reichsidee, 94. 325 Pannenberg, Theologie, 40. 326 Pannenberg, Theologie, 40. 327 Zu Pannenbergs Kritik am Sozialismus und Marxismus vgl. Kap. 3.4.1.

Das Verhältnis von Staat und Kirche

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der Autorität von Frieden und Recht.“328 Insofern bedingen bzw. ergänzen die gesellschaftskritische und die legitimierende Funktion der Kirche einander. Dabei haben die Darstellungen in Kap. 2.2.3 und 2.2.4 gezeigt, dass die politische Ordnung, egal in welcher konkreten Gestalt, in den Augen Pannenbergs auf solche Legitimierung angewiesen ist. Die so bestimmte gesellschaftliche Funktion will Pannenberg nicht als einen gänzlichen Rückzug aus der Auseinandersetzung um die konkreten politischen Fragen verstanden wissen. Die Aufgabe der Kirche ist nicht nur, jegliche Ausgestaltung einer Gesellschaft unter den eschatologischen Vorbehalt zu stellen und so zu relativieren, sondern auch ganz konkret „die politischen Mythen der jeweiligen Zeit zu entmythologisieren und diejenigen zu ernüchtern, die trunken sind vom Besitz der Macht.“329 Für demokratische Gesellschaften bedeutet dies, dass die Kirche die Aufgabe hat, öffentlich für das Gemeinwohl einzutreten. In einer solchen Gesellschaft begreift er es als Aufgabe der Politiker, Mehrheiten für die Bedürfnisse des Gemeinwohls zu gewinnen. Dabei ist es für ihn Angelegenheit der Öffentlichkeit, durch breite Diskussion dazu beizutragen, das Gemeinwohl zu erkennen und so die Herrschenden durch die öffentliche Meinung zu kontrollieren. In diesem Prozess liegt auch die Verantwortung der Kirche, da sowohl an der öffentlichen Diskussion um das Gemeinwohl beteiligte Parteien als auch Interessenverbände immer auf die Durchsetzung partikularer Sonderinteressen ausgerichtet sind.330 Dabei kommt der Kirche die Aufgabe zu, die sie nach Pannenberg in der Geschichte auch immer wieder wahrgenommen hat, einzelne Personen und Gruppen zu befähigen, die eigenen Interessen den Geboten der Humanität und so dem Gemeinwohl unterzuordnen. Dieser Aufgabe kommt sie nach, indem sie ihrer Grundaufgabe nachkommt: Dem Einzelnen das auf Erden nie realisierte Heil und damit die nicht realisierte Ganzheit seines Daseins zu vermitteln. „Daher ist gerade das spezifisch religiöse und gottesdienstliche Leben der Kirche ihr bedeutendster Beitrag für die Gesellschaft.“331 Dem gottesdienstlichen Handeln entspricht das öffentliche Eintreten für das Gemeinwohl – und das heißt nach Pannenberg für gerechtes Recht.332 Ein solches Eintreten zeigt sich zum einen in Stellungnahmen zu konkreten Fragen, zum anderen in der Ausbildung bestimmter kirchlicher Einrichtungen, die im Sinne des Gemeinwohls agieren. Dabei ist deren Engagement unterbestimmt, wenn ihre Aufgabe nur in der Hilfeleistung für Betroffene begründet ist, so wichtig solche Hilfe auch 328 Pannenberg, Aufgabe, 167. 329 Pannenberg, Theologie, 44. 330 Vgl. Pannenberg, Thesen, 18f. Pannenberg selbst hat sich auch immer wieder in die öffentliche Debatte über politische Fragen eingemischt, z. B. zu Frage der nuklearen Aufrüstung. Vgl. Pannenberg, Rüstungswettlauf, 81–92. 331 Pannenberg, Thesen, 20. 332 Zu Pannenbergs Ausführung bezüglich des Gemeinwohls vgl. Kap. 2.2.4.

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Kirche als vorwegnehmende Darstellung des Reiches Gottes

ist. Vielmehr müssen sich solche kirchlichen Einrichtungen stets als gesellschaftskritisch begreifen, insofern, als dass sie vorübergehend Aufgaben wahrnehmen, für die generell die Gesamtgesellschaft verantwortlich ist und die sobald wie möglich auch von dieser wieder wahrzunehmen sind. In der vorübergehenden Übernahme von der Gesellschaft vernachlässigter Aufgaben weisen sie [kirchliche Einrichtungen/B.A.] sowohl auf den Abstand der bestehenden Gesellschaft von der Gerechtigkeit des Gottesreiches, als auch auf die Relevanz der religiösen Thematik für die gesellschaftliche Dimension der Ganzheit des Menschseins hin.333

Wenn Kirche auf solche Weise die Konsequenzen ihres gottesdienstlichen Handelns ernstnimmt, ist Pannenberg fest davon überzeugt, dass durch die Botschaft von der eschatologischen Vollendung „die Kirche die Phantasie zum gesellschaftlichen Handeln entzünden [kann], indem sie Visionen einer menschlicheren Gesellschaft inspiriert.“334 Pannenberg verortet die gesellschaftliche Aufgabe der Kirche also darin, dass sie politisches Handeln legitimiert und begrenzt. Sie kommt dieser Aufgabe dadurch nach, dass sie den Bezug politischer Ordnung zum im Gottesreich waltenden Frieden und Gerechtigkeit anerkennt und gleichzeitig die bleibende Unterschiedenheit beider bewusst hält. Sie leistet dies, indem in ihr das Reich Gottes antizipativ gegenwärtig ist. Damit nimmt sie eine Funktion ein, die nach Pannenberg für das gesellschaftliche Leben und darin auch für die freiheitliche Selbstverwirklichung des Einzelnen von fundamentaler Bedeutung ist. Dass moderne Gesellschaften ihren religiösen Grund ignorieren und die öffentliche Funktion des Religiösen negieren, ist daher nach Pannenberg nicht ohne Folgen geblieben.335 Damit eine Religion die ihr zukommende Funktion erfüllen kann, muss sie in der Lage sein, sich von Toleranz und Pluralität leiten zu lassen. Werte und Lebensvollzüge, die nach Pannenberg gerade für die christliche Religion wesentlich sind, auch wenn im Christentum in seiner Geschichte das Wissen um die eschatologische Vorläufigkeit alles Menschlichen und mithin auch der Kirche und des Glaubens immer wieder in Vergessenheit geraten ist.336 Pannenberg selbst will die Kirche in solch eschatologischer Vorläufigkeit verstanden wissen. Dies zeigt sich in dem grundlegenden ökumenischen Charakter seiner Ekklesiologie, der Gegenstand des nächsten Kapitels ist.

333 334 335 336

Pannenberg, Thesen, 55. Pannenberg, Theologie, 44. Vgl. Kap. 3.4. Vgl. Pannenberg, Religionsfreiheit, 72f.

5.

Einheit und Pluralität der Kirche

In der Interpretation sowohl der gegenwartsdiagnostischen Ausführungen Pannenbergs im dritten Kapitel als auch seiner Wesensbestimmungen der Kirche im vierten Kapitel war eine zentrale Einsicht, dass er die Ökumene der christlichen Kirchen als notwendig erachtet. Sie ist angesichts der Herausforderungen der Moderne notwendig, da nur so das Christentum die Funktion und Aufgaben übernehmen kann, die der Religion in einer Gesellschaft zukommen. Dabei ist gerade eine ökumenisch verfasste Kirche der Garant dafür, dass die Kirche ihrer Funktion in einer pluralistisch verfassten Moderne nachkommen kann, ohne in die Aporien und Probleme zu verfallen, die infolge der Konfessionalisierung entstanden sind.1 Und die Ökumene ist für Pannenberg theologisch notwendig, wie die Darlegung seiner Wesensbestimmungen der Kirche gezeigt hat. Denn es ist der eine Herr Jesus Christus, der im Abendmahl als dem Zentrum der Kirche mit sich Gemeinschaft schenkt, wodurch die mit ihm Gemeinschaft Habenden vorwegenehmend Anteil an der vollendeten Menschheit im Reich Gottes erhalten. Vollends realisiert sein wird das Reich Gottes erst im Eschaton selbst. Daher ist jede sich hiervon leitende Konkretisierung in theologischen Entwürfen oder im kirchlichen Leben unter den eschatologischen Vorbehalt gestellt. Dies gilt nicht nur für die Kirche, sondern für jede Aussage über jeden beliebigen Gegenstand.2 Dass erst im Eschaton die Wahrheit allen Seins offenbar sein wird, hat zur Konsequenz, dass die Bedeutung und das Wesen jeden Seins gegenwärtig vorläufig bleibt. Es bedeutet aber auch, dass hierin die Pluralität allen Seins und die Pluralität seiner Deutung begründet ist. Pluralität erhält so eine theologische Begründung. Dieser theologischen Begründung der Pluralität soll im Folgenden nachgegangen werden. Hier liegt die Grundlage der ökumenischen Theologie Pannenbergs. Dabei wird begonnen mit der Interpretation seiner Gotteslehre in ihrer Bedeutung für die Pluralität der Religionen und Konfessionen (Kap. 5.1). Vor diesem Hintergrund soll dann Pannenbergs Modell der Ökumene beleuchtet 1 Vgl. Kap. 3.5. 2 Vgl. Kap. 4.1.1 zum Antizipationsbegriff.

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Einheit und Pluralität der Kirche

werden (Kap. 5.2), bevor abschließend Pannenbergs Deutung des kirchlichen Amtes interpretiert wird (Kap. 5.3). Dass das kirchliche Amt in dem Kapitel zur Ökumene behandelt wird, liegt darin begründet, dass Pannenberg ihm die primäre Aufgabe zuschreibt, der Einheit der Kirche zu dienen und diese darzustellen.3 Abschließend sollen dann noch einmal die in den vorherigen Kapiteln behandelten Perspektiven auf die Ökumene mit dem von Pannenberg entworfenen Modell der Ökumene diskutiert werden (Kap. 5.4). Dabei liegt der Fokus der gesamten Interpretation in diesem Abschnitt auf Pannenbergs theologischen Ausführungen zur Ökumene, nicht auf seinem ökumenischen Engagement.4

5.1

Die Strittigkeit Gottes und die Pluralität der Religionen

In den Ausführungen zu Pannenbergs Antizipationsbegriff hat sich gezeigt, dass und wie Pannenberg den Zukunftsbezug allen Seins denkt. Aufgrund der steten Veränderlichkeit allen Seins sowie seiner noch nicht abgeschlossenen Bedeutung wird dieses erst im Eschaton, im Reich Gottes realisiert sein. Das realisierte Reich Gottes aber gehört wesentlich zu Gott selbst. „Das Sein Gottes kann nicht ohne seine Herrschaft gedacht werden.“5 Monotheistischer Glaube kann für Pannenberg nur bedeuten, an einen Gott zu glauben, dem alle Macht zukommt. Nur wenn Gott der Herr über alles Sein ist, kann er wahrhaft Gott sein. Das bedeutet für Pannenberg nicht eine Abhängigkeit vom endlichen Sein. Auch ohne geschaffenes Sein kann Gott Gott sein. Aber sobald endliches Sein ist, muss er über dieses mächtig sein.6 In der jesuanischen Verkündigung sieht Pannenberg das Reich Gottes und damit die endgültige Realisierung seiner Herrschaft so bestimmt, dass es erst in Zukunft vollendet sein wird.7 Ist nun die Gottheit Gottes abhängig von seiner Herrschaft, letztere aber erst in Zukunft realisiert, heißt das, „daß in gewissem Sinne Gott noch nicht ist.“8 Bevor dieser Gedanke, dass Gott in gewisser Hinsicht noch nicht ist, weiter interpretiert wird, bedarf es noch der Konkretion dessen, was für Pannenberg Herrschaft Gottes heißt.

3 4 5 6 7 8

Vgl. u. a. Pannenberg, Reformation, 265–267 oder ders., Amtsverständnis, 276. Zum ökumenischen Engagement Pannenbergs vgl. oben, S. 13, Anm. 21. Pannenberg, Theologie, 13. Vgl. Pannenberg, Theologie, 13f. Für die Frage der gegenwärtigen Wirksamkeit des künftigen Gottesreiches vgl. Kap. 4.1. Pannenberg, Theologie, 14.

Die Strittigkeit Gottes und die Pluralität der Religionen

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5.1.1 Die zukünftige Herrschaft Gottes als Einheit der Welt Pannenberg will die göttliche Herrschaft nicht als Unterdrückung verstanden wissen, nicht als Selbstdurchsetzung Gottes gegen alles geschöpfliche Leben. Vielmehr bedeutet seine in der Zukunft realisierte Herrschaft die Vervollkommnung und Versöhnung allen Lebens, da Gottes Macht einigende Macht ist. Daraus folgt, daß die Einheit aller Dinge nicht verstanden werden kann als ewige Ordnung eines Kosmos, sondern daß sie nur zu erreichen ist durch einen Prozeß der Versöhnung vorangegangener Gegensätze, Spaltungen und trennender Abgründe.9

Versöhnung ist das Charakteristikum des Schöpfungshandelns Gottes und in einem solchen Sinn kann Pannenberg „die Evolution der Menschheit als […] Prozeß der Versöhnung“10 bezeichnen. Für ihn gehören Zukunft, Einheit und Herrschaft Gottes eng zusammen: Die Einheit der Welt und so die Einheit jedes einzelnen Menschen mit der gesamten Menschheit ist die gemeinsame Zukunft aller irdischen Ereignisse. Ohne eine solche versöhnte Einheit als Zukunft der Welt würde nach Pannenberg die Welt in die Vielheit zerfallen. Wie die Identität erst durch die Einheit aller Lebensmomente in ihrer Abgeschlossenheit begründet ist, wie es zu einem umfänglichen Verständnis eines geschichtlichen Momentes die Einheit der abgeschlossenen Universalhistorie braucht, wie die gesellschaftliche Welt Nachvollzug einer vorgegebenen Sinneinheit ist, so ist die gesamte Vielfalt und Vielheit gelebten Lebens auf die vereinigende Macht der Zukunft angewiesen. In diesem Sinne verweisen die Erfahrung wechselseitiger Beziehung und Abhängigkeit aller Ereignisse auf- und voneinander und das Vorhandensein von dauerhaften Gestalten, wenn auch ihre Dauer begrenzt ist, auf die Wirksamkeit der einigenden Macht der Zukunft.11

Dies zeigt, wie in den bisherigen Darstellungen bereits immer wieder deutlich wurde, dass Pannenbergs Zukunftsverständnis nicht reine Vertröstung meint auf eine Zeit, die noch nicht da ist und so auch nicht gegenwärtig wirksam sein kann.12 Stattdessen begründet und bestimmt die Zukunft allen Lebens nach Pannenberg die Gegenwart, nicht nur in Momenten geschenkter Selbstidentität oder bei anderen Erfahrungen der Antizipation der noch unabgeschlossenen 9 Pannenberg, Theologie, 17. 10 Pannenberg, Zukunft, 170. 11 Pannenberg, Theologie, 17. Die konstitutive Verwiesenheit menschlichen Lebens auf die Zukunft zeigt sich für Pannenberg in den Gefühlen der Lebens- bzw. Existenzangst und der Lebensfreude bzw. Hoffnung auf ein erfülltes Leben. Hierin wird das Ausgeliefertsein des Menschen und seine Bezogenheit auf die Zukunft sichtbar, derer er sich nicht entziehen kann und die kontingent bleibt. Vgl. Pannenberg, Theologie, 16–18. 12 Vgl. z. B. zur gegenwärtigen Wirksamkeit des Reiches Gottes Kap. 4.1.

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Ganzheit; vielmehr geht jeder gegenwärtige Augenblick und jedes noch kommende Ereignis hervor „aus der Unendlichkeit der Zukunft Gottes, durch sie freigesetzt in die Existenz.“13 So zeigt sich in der Macht der Zukunft Gottes seine Liebe. Denn wie die Zukunft Gottes die Gegenwart aus sich heraus freisetzt, ist es die Liebe Gottes, die das Leben des Geschöpfes will.14 Dabei sieht Pannenberg jedes existierende Ereignis in zweifacher Hinsicht als Ausdruck der Liebe Gottes: Zum einen ist ein solches Ereignis qua Existenz Ausweis der Liebe Gottes, welche jedem Ereignis sein Dasein schenkt; zum anderen ist der dauerhafte Charakter eines solchen Ereignisses Ausdruck der göttlichen Liebe. Kein Ereignis und keine Gestalt, die auf sich wiederholenden Ereignissen beruht, wie z. B. die menschliche Identität, fällt zurück ins Nichts. „Die göttliche Macht der Zukunft setzt Ereignisse frei, aber gibt sie nicht auf.“15 Vielmehr hält Gott in seiner Liebe an ihnen fest und sie dadurch mit sich verbunden. Für Pannenberg zeigt sich ein solches Festhalten der göttlichen Liebe in der Tatsache, dass jedes neue Ereignis auf die eine oder andere Weise mit bereits Bestehendem in Beziehung tritt. Jedes Ereignis, jedes Dasein ist in seiner Selbstständigkeit immer auch zugleich verwiesen auf andere und in solcher Vermittlung aller Ereignisse bleibt für Pannenberg jedes davon in Beziehung zur schöpferischen Liebesmacht Gottes, die immer wieder Neues schafft. Auch hierin zeigt sich der einende Charakter der göttlichen Macht.16 Das Verständnis Gottes als Macht der Zukunft, die aus sich heraus Neues schafft, sieht Pannenberg in der trinitarischen Gottesdeutung ausgedrückt: Gott ruht nicht in sich, sondern er ist seine in der Zukunft realisierte Herrschaft. In Jesus war und ist diese Leben stiftende Zukunft Gegenwart. Sie ist dies, indem der Geist den Glauben an Jesus stiftet, welcher Leben und Freiheit schenkt; ein Glaube, der um die Verwiesenheit allen Seins auf seinen Ursprung in 13 Pannenberg, Theologie, 17. 14 Vgl. Pannenberg, Theologie, 22–24. In dieser Perspektive deutet Pannenberg auch das Gottesprädikat der Allmacht. Der Begriff der Allmacht bezeichnet die in der gesamten Schöpfung unbegrenzte Macht Gottes, die aber nicht als tyrannische Herrschaft, als Gegenmacht gegen die Geschöpfe begriffen werden darf. Vielmehr will Gott als Schöpfer das Dasein der Schöpfung und der Geschöpfe und so auch deren Vollendung. Für Pannenberg ist die Allmacht der Grund der Möglichkeit und Wirklichkeit geschöpflichen Lebens, welches Gott im Eschaton vollenden will. Daher kann die Allmacht Gottes als Allmacht der Liebe verstanden werden, die Leben und Vollendung seines Gegenübers will. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 444–456. 15 Pannenberg, Theologie, 23. 16 Vgl. Pannenberg, Theologie, 23f. Für Pannenberg berühren sich diese Gedanken mit den Einsichten des Philosophen und Mathematikers Alfred North Whitehead. Laut Pannenberg selbst übernimmt er von diesem den Gedanken, dass jedes neue Ereignis die vorgefundene Welt übernehmen muss. Allerdings sieht er bei Whitehead die Kontingenz allen Seins bei gleichzeitiger Verwiesenheit auf die vorgefundene Welt ungenügend berücksichtigt. Vgl. Pannenberg, Theologie, 24f. Zur ausführlichen Auseinandersetzung Pannenbergs mit Whitehead vgl. Pannenberg, Metaphysik, 80–91.

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der schöpferischen Liebe Gottes weiß. Die Verschiedenheit der drei trinitarischen Personen gründet so für Pannenberg in dem Unterschied von Gegenwart und Zukunft Gottes, welcher in der Einheit der ewigen göttlichen Gegenwart aufgehoben ist. In wechselseitiger Bezogenheit ist also der Sohn die Gegenwart Gottes, in und durch welchen das künftige Reich des Vaters gegenwärtig wirksam ist, vermittelt durch die Einheit des Geistes.17 So verstanden drückt der trinitarische Gottesgedanke eine Einheit Gottes aus, die dynamisch und lebendig ist und nicht statisch und bewegungslos. Gott wird selbst als geschichtlich begriffen und nicht als außerhalb der Geschichte. Die Trinitätslehre beschreibt den kommenden Gott als den Gott der Liebe, dessen Zukunft schon angekommen ist, und der die vergangene und gegenwärtige Welt durch sich selbst integriert und so verwandelnd bejaht zur Teilhabe an seinem eigenen unsterblichen Leben.18 17 Vgl. Pannenberg, Theologie, 28. 18 Pannenberg, Theologie, 29. Pannenberg spricht in der Gotteslehre von der künftigen Herrschaft Gottes, an welche sein Sein gebunden ist. In seiner Interpretation der Trinität ordnet er die Herrschaft bzw. das Reich der Person des Vaters zu. Es ist das Reich des Vaters, von dem der Sohn sich unterscheidet und welchem gegenüber der Sohn gehorsam ist. In dieser Unterscheidung überträgt der Vater seine Herrschaft dem Sohn bis zu der eschatologischen Vollendung, in welcher der Sohn die Herrschaft dem Vater zurückerstattet. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 338–341. Eine solche Deutung der trinitarischen Personen birgt die Tendenz, die Monarchie des Vaters zu vertreten bei gleichzeitiger Subordination des Sohnes. Von einer Monarchie des Vaters spricht Pannenberg auch selbst, will diese aber eben nicht als Subordination des Sohnes verstanden wissen. Denn das Reich des Vaters wird durch das Wirken des Sohnes heraufgeführt und durch das Wirken des Geistes vollendet. So verstanden dienen letztere zwar der Monarchie des Vaters, aber diese ist wiederum auf ihren Dienst angewiesen. Hier kann für Pannenberg insofern nicht von einer Subordination des Sohnes gesprochen werden, da dieser sich selbst unterwirft und dem Vater nicht ontologisch untergeordnet ist. Gleichzeitig kann das Reich des Vaters nur durch den Gehorsam des Sohnes und die Vollendung des Geistes realisiert werden. „Die Monarchie des Vaters ist nicht die Voraussetzung, sondern das Ergebnis des Zusammenwirkens der drei Personen.“ Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 353. Vgl. insgesamt Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 347–355. Michael Murrmann-Kahl sieht in der Trinitätslehre Pannenbergs die Selbstständigkeit des Menschen zugunsten der sich durchsetzenden Herrschaft Gottes aufgelöst. „Wenn man sich das von Pannenberg zur Illustration herangezogene Wort von Irenäus vor Augen hält, daß Sohn und Geist die beiden ‚Hände‘ Gottes des Vaters in der Heilsökonomie seien, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß diese beiden Hände das Geschöpf strangulieren, so daß das endliche Wesen keinen Raum zum Atmen mehr hat.“ Murrmann-Kahl, Trinitätslehre, 196f. Für Murrmann-Kahl vertritt Pannenberg die eschatologische Wahrung der Selbstständigkeit des Geschöpfes bei gleichzeitiger Aufhebung seiner Verselbstständigung. Autonomie sei bei Pannenberg Sünde und Freiheit meine eigentlich Gehorsam gegenüber Gott. Da nun die Autonomie beseitigt werden müsse, da Gottes Herrschaft Gehorsam fordere, denkt Pannenberg das von Gott unterschiedene Andere letztendlich nur im Vollzug der Negation dessen zugunsten der Selbstdurchsetzung Gottes. Vgl. Murrmann-Kahl, Trinitätslehre, 199–201. Dem ist der in dieser Arbeit herausgearbeitete Gedanke Pannenbergs entgegenzustellen, dass die Realisierung der Herrschaft Gottes Vervollkommnung der menschlichen Bestimmung und damit Vervollkommnung der je indivi-

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5.1.2 Die Strittigkeit Gottes und die Pluralität der Religionen Die Herrschaft Gottes ist die Zukunft der Welt, in welcher er die Vielheit geschöpflichen Lebens vereinen und so versöhnen wird. Ist nun aber die Herrschaft Gottes erst in der Zukunft realisiert, so ist für Pannenberg – trotz aller gegenwärtigen Wirksamkeit dieser Zukunft – Gott in einem gewissen Sinn noch nicht.19 Gerade der trinitarisch verstandene Gott nun kann eine solche Dynamik in den Gottesbegriff integrieren, anders als z. B. die philosophische Gottesvorstellung der Antike: „Der trinitarische Gott ist in sich selbst ein geschichtlicher Prozeß, während der Begriff eines höchsten Seienden von Gott spricht wie von einem außerhalb der menschlichen Geschichte vorhandenen Ding.“20 In der Gotteslehre zeigt sich so die Entschiedenheit des eschatologischen Bewusstseins innerhalb der Theologie Wolfhart Pannenbergs: Die für alles Sein geltend gemachte wesenhafte Zukünftigkeit wird auch in der Gotteslehre umgesetzt. Die Konsequenz, die Pannenberg daraus zieht, ist die Rede von der Strittigkeit Gottes: Im Verlauf der menschlichen Geschichte bleibt die göttliche Wirklichkeit strittig. Dies tritt bei der Betrachtung der Religionsgeschichte umso deutlicher hervor, was im Folgenden erläutert werden soll. Dabei ist ausgehend von Pannenbergs Wesensbestimmung der Religion dem von ihm behaupteten Verhältnis von göttlicher Wirklichkeit und den vielfältigen religiösen Deutungen nachzugehen. 5.1.2.1 Das Wesen der Religion Im Anschluss an Friedrich Heiler ist die Religion für Pannenberg durch eine Doppelseitigkeit ausgezeichnet: Sie umfasst Mensch und Gottheit, allerdings so, dass die Gottheit als die Zuvorkommende, die Absolute, die Unantastbare erscheint. Dies ist das Wesen der Religion. Eine solche Wesensbestimmung der duellen Bestimmung bedeutet; und zwar Vervollkommnung unter der Bedingung der Selbstständigkeit des Geschöpfes. Gleichzeitig betont Pannenberg, dass der irdische Lebensvollzug immer von der Spannung zwischen Ichzentriertheit – und das heißt Verselbstständigung gegen meine Mitmenschen und Gott – sowie Exzentrizität – und das heißt der Realisierung meiner Bestimmung – geprägt ist. Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 77–83. Diese Spannung ist nicht nach einer der beiden Seiten aufzulösen; vielmehr ist für Pannenberg die Einheit des gelebten Lebens, gerade auch seines geschichtlichen Werdens, die im Glauben immer wieder antizipatorisch erlebt werden kann, eschatologisch realisiert. Solche Einheit als Auslöschung des individuierten Geschöpfes zu interpretieren, wird daher meines Erachtens den Ausführungen Pannenbergs nicht gerecht. Statt Auslöschung ist der Einzelne vielmehr dem Gericht Gottes anheimgestellt, was aber eben laut Pannenberg nicht seine Negation bedeutet, sondern Neuschöpfung in Kontinuität zu seinem geschichtlichen Dasein. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 656–658. 19 Vgl. Pannenberg, Theologie, 14. 20 Pannenberg, Theologie, 29.

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Religion hält Pannenberg auch angesichts vielfältiger religiöser Deutungen und Anschauungen innerhalb der Menschheitsgeschichte für möglich. Darin kommt seine Überzeugung zum Ausdruck, dass es trotz der Vielfalt religiöser Phänomene möglich ist, das darin Gemeinsame zu bestimmen. Und dieses Gemeinsame liegt für ihn eben darin, dass es in der Religion um die Beziehung von Gottheit und Mensch geht, dergestalt, dass die Gottheit als der bestimmende Grund erfahren wird. Darin sieht Pannenberg die Einheit der Religion.21 Dem gläubigen Subjekt erscheint die Wirklichkeit Gottes eben nicht als subjektiv gesetzt, sondern vielmehr als dem Glauben des Menschen zuvorkommend. Es würde seinen Glauben nicht als in sich selbst begründet betrachten, auch wenn es die nur subjektive Erfassung und Ausdrucksformen zugesteht. Die Wahrheit meines Glaubens ist subjektive Wahrheit, indem sie meine Wahrheit ist. Aber sie ist von mir unterschiedene Wahrheit, insofern sie nicht in mir gegründet ist. Die Inhalte des religiösen Bewusstseins dürfen folglich nicht als Ergebnis menschlicher Sinnstiftung verstanden werden, weil sie damit als ein Handlungsprodukt aufgefaßt werden würden, und das würde den Begriff der Religion aufheben, demzufolge der Mensch sich in ihr von göttlicher Wirklichkeit und göttlichem Handeln her versteht.22

Aufgrund des Vorrangs der gelebten Religion vor der vernünftigen Reflexion auf die Religion, welche Pannenberg im Anschluss an David Hume behauptet,23 ist diese religiöse Grunderfahrung ernst zu nehmen. Dieses Primat Gottes in der religiösen Selbsterfahrung wird von Pannenberg durch die Definition Gottes als alles bestimmende Wirklichkeit aufgenommen,24 welche sich in der Welt- und Selbsterfahrung des Menschen als alles bestimmend bewähren muss. In dieser Definition ist aufgehoben, dass dem religiösen Subjekt Gott als der Handelnde, der Souveräne erscheint. Um den Aspekt der Bewährung Gottes an der Wirklichkeitserfahrung des Menschen vertiefen zu können, muss die Frage in den Blick genommen werden, wie sich die von Pannenberg vorgenommenen Wesensbestimmung der Religion zu den vielfältigen geschichtlichen Religionen verhält.

21 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 151–158. Eine solche Bestimmung der Einheit der Religion hat zur Konsequenz, dass alle spirituellen Deutungen und Vollzüge, die nicht auf eine Gottheit bezogen sind oder eine solche thematisieren, für Pannenberg nicht als Religion zu bezeichnen sind. 22 Pannenberg, Rückblick, 151. (Hervorhebung im Original.) 23 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 2, 143. 24 Vgl. oben, S. 113–115.

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5.1.2.2 Die Vielfalt der Religionen Für Pannenberg korrespondiert der Einheit des Religiösen in der Vielfalt der religiösen Phänomene auch eine Einheit innerhalb der göttlichen Wirklichkeit, die den vielfältigen Phänomenen zugrunde liegt.25 Diese Einheit der göttlichen Wirklichkeit zeigt sich für ihn in der Betrachtung der Religionsgeschichte. Nur in wenigen polytheistischen Systemen war es nach Pannenberg der Fall, dass eine Göttergestalt auf nur eine Funktion festgelegt wurde. Vielmehr wurden in geschichtlich gewachsenen Gottesvorstellungen dem geglaubten Gott ein ganzer Bereich von Aufgaben und Funktionen zugeschrieben. Das Wachstum einer solchen Gottesgestalt scheint so stattzufinden, daß die in ihr in Erscheinung getretene und benennbar gewordene Macht als wirksam auch in solchen Bereichen erfahren wird, für welche sie vordem nicht als zuständig galt.26

Eine solche Integration neuer Wirkbereiche in die geglaubte Gottheit hat so auch die Konkurrenz mit anderen Gottheiten zur Folge, wie es als ein Beispiel die Religionsgeschichte Israels zeigt und die in ihr vollzogene Entwicklung von der Monolatrie hin zum Monotheismus. Hier wurden Wirkbereiche anderer Götter auf Jahwe übertragen, wodurch dieser nach und nach vom einzig verehrten Gott zum einzigen Gott wurde. Für Pannenberg gilt dies aber nicht nur für die israelitische Religion. „Die Geschichte einer einzelnen Gottesgestalt war immer auch Geschichte einer Auseinandersetzung mit konkurrierenden Göttern und Wahrheitsansprüchen.“27 In solcher Auseinandersetzung hat dabei die eine Gottheit die Zuschreibungen bzw. Machtbereiche der anderen in sich integriert und sich so letzterer gegenüber behauptet. Dies zeigt für Pannenberg, dass im Ringen der Wahrheitsansprüche der Götter innerhalb der Religionsgeschichte sich die Einheit der göttlichen Wirklichkeit herausbilden musste. Eine Entwicklung, die in der den Religionen vorgegeben Einheit der göttlichen Wirklichkeit selbst ihren Grund hat. „So wie Religion überhaupt dem Selbstverständnis der Religionen zufolge im Wirken der Götter gründet, so muß auch die Einheit der religiösen Thematik in der Einheit der Gottheit ihren Grund und Ursprung haben.“28 Daraus zieht Pannenberg den Schluss, dass „die Religionsgeschichte als Erscheinungsgeschichte der Einheit Gottes zu betrachten“29 ist. 25 26 27 28 29

Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 159. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 162f. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 163. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 164. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 164. Pannenberg ist sich durchaus bewusst, dass eine solche Sicht auf die Religionsgeschichte und den darin mitgesetzten Religionsbegriff von der Perspektive des Monotheismus geprägt ist, findet dies aber nicht problematisch. Vielmehr hält er es für illusorisch, einen Religionsbegriff zu formulieren, der von dem konkreten Standort innerhalb der Religionsgeschichte absieht. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 164f.

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Wie aber vollzieht sich konkret die Auseinandersetzung von verschiedenen Gottheiten und was bedeutet dies für die Einheit der göttlichen Wirklichkeit? Der Widerstreit der Religionen in der Religionsgeschichte um die Wahrheit der je geglaubten Gottheit sowie die in der Religion vollzogenen Deutungen ihrer Gottheit ist für Pannenberg ein Streit darum, welche Religion in der Lage ist, die Wirklichkeit angemessener und das heißt besser zu deuten: Im Wettstreit zwischen den Religionen im Namen der von ihnen verehrten Götter geht es um die Fähigkeit zur besseren, überzeugenderen Interpretation der Wirklichkeit, wie sie von den Menschen in ihrer Welt erfahren wird.30

Die Traditionen einer Religion müssen sich als tragfähig im Alltag der Gläubigen erweisen; sie müssen in der Lage sein, das gelebte Leben und die erlebte Wirklichkeit zu erhellen. Das bedeutet auch, dass sie veränderte Wirklichkeitsdeutungen in sich aufnehmen müssen. Gelingt dies, kann dies zur Folge haben, dass die religiösen Deutungen selbst sich ändern. Die hiervon ausgehenden Transformationsprozesse der verschiedensten religiösen Gottesvorstellungen in der Menschheitsgeschichte, einschließlich des Erliegens bestimmter Religionen aufgrund ihrer mangelnden Integrationsfähigkeit von veränderter Wirklichkeitserfahrung, beurteilt Pannenberg als ein Ringen um die Bewährung ihrer Wahrheit. Indem sich religiöse Traditionen als tragfähig und erhellend im Vollzug und der Deutung des gelebten Lebens erweisen, zeigt sich an der Welterfahrung des Menschen, ob sich diese als von Gott bestimmt erfährt. Sie [die Götter/B.A.] müssen sich bewähren an den Sinnimplikationen der Welterfahrung selber, so daß deren jeweiliger Gehalt als Machtäußerung des Gottes verstanden werden kann und nicht als Ausdruck seiner Ohnmacht erscheint.31

Gelingt eine solche Bewährung, hat sich die geglaubte Gottheit selbst in der Lebenswirklichkeit der Menschen bewährt. Und indem sich Gott als der tragender Grund in der menschlichen Erfahrung erweist, findet das religiöse Glaubensbewusstsein in dem sich so vollziehenden Selbsterweis Gottes seine Wahrheitsvergewisserung.32 Um die Möglichkeit der Bewährung einer Religion zu verstehen bzw. den Vollzug einer solchen Bewährung bedarf es noch einer Vertiefung, wie die Religionen nach Pannenberg die Wirklichkeit erschließen bzw. was eigentlich die spezifische Aufgabe der Religion ist. In der Religion geht es für Pannenberg um 30 Pannenberg, Religionen, 166. Vgl. dazu Pannenberg, Hermeneutik des Christentums, 206. 31 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 184. 32 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 174f. Hierin zeigt sich Pannenberg auch noch einmal der Vorrang der positiven Religion vor der natürlichen Religion: Gelangt philosophische Reflexion lediglich zum Gedanken Gottes, wird über die Wirklichkeit Gottes innerhalb der positiven Religion entschieden, da letztere auf den Selbstbekundungen Gottes beruht. Vgl. Axt-Piscalar, Unendliche, 331f.

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das Ganze des Lebens.33 Die dem Menschen vorgegebene Bestimmung, die der gemeinsamen Welt vorgegebene Sinnordnung wird in der Religion thematisiert. Die Ganzheit des Seins und des Sinns, die sowohl in dem Sein eines jeden Moments wie in dessen Bedeutung antizipativ mitgesetzt ist, ist Gegenstand der Religion. Die göttliche Wirklichkeit zu thematisieren, heißt also, die Ganzheit des Sinns zu thematisieren.34 Ein Sinn, der – wie ausgeführt – dem Menschen und damit der Religion vorgegeben ist und den letztere versucht zu erfassen. Dies allerdings nicht nur in einem kognitiven, reflektierenden Sinne. Natürlich stellt eine Religion Überlieferungen und Erzählungen bereit, die versuchen, Wirklichkeit reflexiv zu erschließen. Wenn Pannenberg jedoch den Maßstab an eine Religion formuliert, dass diese die Lebenserfahrung des Einzelnen erschließen bzw. tragen muss, schließt dies auch religiöse Handlungen und kultische Vollzüge mit ein. Auch hier muss Religion es leisten, die Lebenserfahrung wie -deutung des Einzelnen zu erhellen. „Der eigentliche Sinn des Kultus ist die Verehrung der Gottheit und der Verzicht des Menschen auf seine Partikularität angesichts des umfassenden Anspruchs der Gottheit.“35 Gerade im Kult wird der Mensch hineingezogen in das göttliche Handeln und kann hierin sein Dasein erneuert empfangen.36 In kultischen Handlungen vollzieht sich die Hingabe des Menschen an die göttliche Wirklichkeit, z. B. in der Meditation, der Andacht oder im kultischen Tanz. Gleichzeitig sind kultische Handlungen für Pannenberg immer von einer Zweideutigkeit, von einer Ambivalenz geprägt. Wird doch in kultischen Handlungen, wie es auch in anderen Dimensionen des religiösen Verhältnisses des Menschen möglich ist, die göttliche Wirklichkeit auf bestimmte Manifestationen festgelegt. Dies kann dazu führen, dass der Mensch sich nicht mehr seiner eigenen Partikularität bewusst wird, sondern vielmehr im Kult über 33 Vgl. Pannenberg, Rückblick, 153. 34 Vgl. Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 312–314. 35 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 200. Gerade diesen Vollzugscharakter, durch welchen dem religiösen Subjekt Sinn erschlossen wird, ignoriert Lange, wenn er immer wieder die reflexive Einseitigkeit in Pannenbergs Ausführungen zur Religion betont. Vgl. Lange, Religion, 134f. Noch weiter geht Asouza in seiner Kritik an Pannenberg. Asouza identifiziert bei ihm die Auffassung, dass sich eine religiöse Aussage nur dann bewahrheitet, wenn „sie im Einklang steht mit vorverfaßten wissenschaftlichen Schemata und Regeln“.Asouza, Gedanken, 105. Richtig ist, dass sich eine theologische Aussage nach Pannenberg daran zu bewähren hat, inwieweit sie andere wissenschaftliche Erkenntnisse über die Wirklichkeit in sich aufnehmen kann. Theologie wie auch Religion darf für ihn nicht im fundamentalen Widerspruch zu sonstiger Wirklichkeitserfahrung und -deutung stehen. Aus dem bisher Ausgeführten ergibt sich allerdings, dass dies nicht bedeutet, dass alleiniger Prüfstein einer Aussage über Gott deren Wissenschaftlichkeit ist. 36 Das Kultverständnis Pannenbergs unterstreicht so noch einmal die Zentralität des eucharistischen Gottesdienstes für die Kirche als grundlegende christliche Kulthandlung, in welcher die am Mahl Teilnehmenden durch die Gemeinschaft mit Christus im Lichte des hierin anbrechenden Reiches Gottes Anteil gewinnen an der ihnen eigenen Bestimmung. Zum Abendmahlsverständnis vgl. Kap. 4.4.

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die göttliche Wirklichkeit verfügen will. Wird die göttliche Wirklichkeit auf eine bestimmte Form oder ein bestimmtes Medium ihrer Erscheinung festgelegt, liegt für Pannenberg eine solche Verkehrung vor. Er identifiziert solches Dienstbarmachen der göttlichen Wirklichkeit vor allem in der Magie, welche er daher auch als „Verfallsform der Religion“37 bezeichnen kann. Daher ist trotz des Glaubens an die Anwesenheit der göttlichen Wirklichkeit in konkreten kultischen Vollzügen ein Bewusstsein der Differenz von Kult und göttlicher Wirklichkeit notwendig. Daran können und müssen sich Kultverständnisse messen lassen. Analoge Kritik äußert Pannenberg auch gegenüber dem urzeitlichen Mythos, der das göttliche Handeln auf eine unvordenkliche Urzeit begrenzt und so auf die Vergangenheit festlegt.38 Die positiven Religionen thematisieren durch ihre Traditionen und Vollzüge die Antizipation der Gesamtwirklichkeit und darin die göttliche Wirklichkeit. Das bedeutet für Pannenberg, dass die geschichtliche Gotteserfahrung in den Religionen nicht einfach hinzutritt zu dem Verständnis Gottes als Grund aller Wirklichkeit. Vielmehr ist solche geschichtliche Gotteserfahrung die Konsequenz aus der vorgenommenen formalen Bestimmung Gottes.39 Wenn nun religiöse Aussagen die Sinnimplikationen der Wirklichkeitserfahrung in Bezug zu ihrem göttlichen Grund thematisieren, sind sie sogleich damit kritisch konfrontiert, ob sie deren komplexe Beziehungen angemessen zur Darstellung bringen. „Religiöse Anschauungen sind also der Frage ausgesetzt, ob sie ihre Funktion angemessen erfüllen, das Unendliche im Endlichen zur Anschauung zu bringen.“40 Dies ist für Pannenberg gleichbedeutend damit, dass sich die Götter der verschiedenen Religionen in der menschlichen Welterfahrung als deren tragender Grund erweisen müssen. Ob ein solcher Erweis gelingt, entscheiden in erster Linie die Angehörigen der jeweiligen religiösen Gemeinschaft selbst. „[Die] Wahrheit eines geglaubten Gottes [steht] in erster Linie für den Glaubenden selbst auf dem Spiel in der Spannung zwischen Glauben und Erfahrung.“41 Wie bereits ausgeführt bewährt sich bei einer gelingenden Bewährung 37 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 202. 38 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 200–203. Zu Pannenbergs Stellung zum Mythos vgl. Pannenberg, Christentum und Mythos. 39 Vgl. Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 315f. 40 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 183. 41 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 184. Pannenberg weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es zum einen für die Angehörigen einer Religionsgemeinschaft zur Spannung zwischen ihrer Welterfahrung und ihrer religiösen Überlieferung kommen kann, wenn letztere Menschen nahe gebracht werden soll, die nicht Teil der eigenen Gemeinschaft und Traditionen sind. Zum anderen kann es zu einer solchen Spannung im Verlauf der Überlieferung der Traditionen kommen, wenn der nachfolgenden Generation die eigenen Traditionen als erschließungs- und tragfähig für ihren Lebensvollzug plausibilisiert werden sollen. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 184f.

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der religiösen Vollzüge und Traditionen Gott selbst. Pannenberg will so einer atheistischen Kritik den Boden entziehen, die er vor allem mit Ludwig Feuerbach verknüpft. Die entscheidende Anfrage, vor die Pannenberg die Theologie durch Feuerbach gestellt sieht, ist der Vorwurf der Selbstentfremdung und Projektion des Menschen durch die Religion: Es sind eigentlich rein menschliche Sehnsüchte und Ängste, die der Mensch in von ihm erfundene Gottheiten hineinprojiziert, wodurch er seine eigene Bestimmung nicht realisiert.42 Vor diesem Hintergrund sieht es Pannenberg als Aufgabe der Theologie an, aufzuzeigen, dass und inwiefern der Mensch in seinem Lebensvollzug auf eine göttliche Wirklichkeit bezogen ist. Und er will zeigen, dass dem Menschen dies in irgendeiner Form auch bewusst ist. Denn aufgrund des menschlichen Selbstbewusstseins kann dieser sich zwar täuschen darüber, woher sein Selbstsein konstituiert ist, es kann ihm aber nach Pannenberg nicht grundsätzlich verborgen bleiben.43 Das bedeutet, dass nicht erst im Lichte der christlichen Botschaft, sondern auch unter Absehung von dieser die religiöse Anlage bzw. die religiöse Verwiesenheit des Menschen gezeigt werden muss. „Die Welt der Religionen und die in ihnen sich dokumentierende religiöse Anlage des Menschen schlechthin ist das Feld, auf dem sich die Theologie der Auseinandersetzung mit dem Atheismus stellen muss.“44 Dieses Anliegen versucht Pannenberg einerseits in seinen anthropologischen Arbeiten umzusetzen. Hier war es vor allem der entscheidende Bedeutung des Grundvertrauens für die Identitätsentwicklung sowie das menschliche Streben nach Ganzheit, welche im Lebensvollzug auf die göttliche Wirklichkeit verweisen.45 Andererseits setzt Pannenberg sein Anliegen in seinen religionstheologischen Arbeiten um. Seine Darstellungen, dass sich in der Tragfähigkeit religiöser Überlieferungen die geglaubte Gottheit selbst erweist, zielen nämlich ebenfalls darauf, die Wahrheit der göttlichen Wirklichkeit unabhängig vom religiösen Subjekt sein zu lassen und dessen Sein reiner menschlicher Sinnkonstruktion zu entheben.46 42 43 44 45

Vgl. Pannenberg, Gott, 30f. Vgl. Pannenberg, Gott, 34f. Pannenberg, Gott, 35. Vgl. Kap. 2.1. Daneben ist es vor allem das den menschlichen Lebensvollzug bestimmende Phänomen der Weltoffenheit, in welchem sich nach Pannenberg dieser Bezug des Menschen zur göttlichen Wirklichkeit zeigt. Vgl. Pannenberg, Mensch, 5–13 sowie ders., Anthropologie, 32–76. Pannenbergs Ausführungen zur Weltoffenheit haben viele Interpretationen erfahren, vgl. u. a.: Overbeck, Mensch, 118–135 sowie Kaufner-Marx, Freiheit, 62–100, 46 Nach Falk Wagner und Christian Danz gelingt es Pannenberg nicht, dieses Anliegen in seinen religionstheologischen Arbeiten umzusetzen. Denn auch in seinem Entwurf bleibt die göttliche Wirklichkeit dem Verdacht ausgesetzt, Ergebnis der Konstruktion des religiösen Bewusstseins zu sein. Vgl. Wagner, Religion, 522 sowie Danz, Religionsbegriff, 265f. Natürlich sind auch Pannenbergs Ausführungen diesem Verdacht ausgeliefert, da sie beim religiösen Vollzug des Menschen ihren Ausgang nehmen. Dennoch liefert er Kriterien, die gegen diesen Verdacht ins Feld geführt werden können. Das entscheidende Kriterium ist dabei meines

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Eine Bewahrheitung religiöser Gehalte ist für Pannenberg nie definitiv gegeben, sondern aufgrund der unabgeschlossenen Welterfahrung auf Zukunft hin offen. Indem die Geschichte der Menschheit fortdauert und sich damit auch die Deutungen der Wirklichkeit immer weiter verändern, muss sich auch eine Religion immer wieder neu bewähren. Dies ist die Grundlage für die Rede von einer Religionsgeschichte, in welcher Gott sich selbst bezeugt hat. Die Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte hat also von der Bewährung der Sinngehalte auszugehen, von der Wirklichkeitserschließung der verschiedenen religiösen Überlieferungen und ihrer Integrationsfähigkeit für veränderte Wirklichkeitserfahrungen. Gelingt eine solche Integration, kann dies auch zu einer veränderten Deutung der Gottheit selbst kommen, kann sein Wirken und sein Wesen in einem anderen Licht erscheinen.47 Die Vielfalt der Religionen und deren Ringen um ein angemesseneres Verständnis der Wirklichkeit ist die Grundlage der Rede Pannenbergs von der Strittigkeit Gottes: „Die Wirklichkeit der Götter – und Gottes – steht selbst auf dem Spiel im Prozeß der Religionsgeschichte, in welchem Götter stürzen und neu entstehen.“48 Wie auch das Streben der Religionsgeschichte auf eine Einheit hin für Pannenberg seinen Grund in der Einheit der göttlichen Wirklichkeit selbst hat, so muss auch das Phänomen der Vielfalt der Religionen, die sich in dieser Vielfalt ihren Wahrheitsanspruch gegenseitig bestreiten, in der göttlichen Wirklichkeit selbst begründet sein. Das bedeutet, dass die Vielzahl der Religionen nicht nur den Wahrheitsanspruch jeder dieser Religionen bestreitet; dass also aus der Vielheit der Religionen die Strittigkeit der Religion abzuleiten ist. Vielmehr kann eine solche Vielfalt nur richtig verstanden werden, wenn sie als Ausdruck dessen verstanden wird, dass Gott selbst sich darin als strittig erweist. Die Strittigkeit Gottes wiederum ist für Pannenberg der Grund dafür, dass die Wahrheit bzw. Geltung der verschiedenen Religionen nicht daran zu bemessen ist, inwiefern sich diese mit christlichen Einsichten decken. Vielmehr ist diese Vielfalt anzuerkennen als Ausdruck der auf Erden strittigen göttlichen Wirk-

Erachtens, dass die Entscheidung den religiösen Gemeinschaften zukommt, ob sich bestimmte religiöse Deutungen bewahrheiten oder nicht. Es ist also nicht dem individuellen Bewusstsein allein anheimgestellt, sondern erhält externe und somit objektive Gründe. 47 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 185f. Die Ausführungen zu Pannenbergs Verständnis der Religionsgeschichte und der sich darin vollziehenden Offenbarung Gottes in dargestellter Weise expliziert auch noch einmal die von Pannenberg in „Offenbarung als Geschichte“ vertretene Grundauffassung, dass Gott sich in der Geschichte offenbart. Vgl. Pannenberg, Dogmatische Thesen, 92–114. Auch wenn der Inhalt dieser These nicht vollkommen darin aufgeht, dass Gott sich in der Geschichte der Religionen offenbart, so ist sie hiervon nicht zu trennen. Das Handeln Gottes in der Geschichte wird ausführlich Gegenstand von Kap. 6 sein. 48 Pannenberg, Religionsgeschichte, 289.

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lichkeit und alle sind daran zu beurteilen, wie und ob sie sich an der Wirklichkeitserfahrung und -deutung messen lassen: Ihre [die nichtchristlichen Religionen/B.A.] Unmittelbarkeit zum göttlichen Geheimnis zu respektieren, ist auch von der christlichen Offenbarung her geboten: Es entspricht der Art, wie Jesus mit seiner Botschaft von sich selbst wegwies auf den Gott, den er verkündete.49

5.1.2.3 Pannenbergs Zeit- und Ewigkeitsverständnis als Konkretion der Rede von der Strittigkeit Gottes Wie nun ist es zu verstehen, dass für Pannenberg Gott selbst sich als strittig erweist in der Geschichte der Religionen? Bedeutet die Aussage, dass Gott in einem gewissen Sinne noch nicht ist, dass die Heraufführung seiner Herrschaft als Vollendung der Welt ausbleiben kann und sich so zeigt, dass Gott nicht ist? Eine Antwort auf diese Fragen bietet das Zukunfts- und Zeitverständnis Pannenbergs. Wie bereits mehrfach ausgeführt ist für Pannenberg die eschatologische Zukunft nicht bloß eine von der Gegenwart weit entfernte Zeit. Vielmehr ist die Gegenwart nur von dieser Zukunft her zu verstehen. Sie ist in jedem Moment 49 Pannenberg, Religionsgeschichte, 294. Für die interreligiöse Begegnung folgert Pannenberg daraus, dass mit Verständnis und Respekt denen zu begegnen ist, die den eigenen Glauben an Jesus Christus nicht teilen können. Darüber hinaus sollen sich Christen in einem solchen Dialog die Offenheit bewahren, von anderen religiösen Traditionen Aspekte des eigenen Glaubens aufgezeigt zu bekommen. Vgl. Pannenberg, Selbstdarstellung, 315f sowie ders., Pluralism, 103f. Die sich hierin ausdrückende und in der Strittigkeit Gottes begründete positive Anerkennung religiöser Vielfalt sieht auch Urszula Pe˛kala in den religionstheologischen Ausführungen Pannenbergs gegeben. „Paradoxerweise aber sollte seine Deutung der religiösen Vielfalt gar nicht so positiv ausfallen, denn seine Voraussetzungen […] verhindern eigentlich eine solch positive Deutung.“ Pe˛kala, Religionen, 224. Dieses Paradox sieht Pe˛kala vor allem in Pannenbergs Sündenverständnis begründet. Denn laut Pe˛kala sind die Religionen bei Pannenberg Deutung der Offenbarung Gottes, welche es nur aufgrund der menschlichen Sünde braucht. Denn die Sünde verkehrt die natürliche Gotteserkenntnis. Vgl. Pe˛kala, Religionen, 151. Meiner Meinung nach interpretiert Pannenberg die natürliche Gotteserkenntnis als die Bezogenheit des Menschen auf die Ganzheit des Lebens und darin auf Gott. Dieser Bezug konkretisiert sich zunächst im Grundvertrauen dem symbiotischen Lebenszusammenhang gegenüber und kann erst im weiteren Lebensvollzug des Menschen zu einem expliziten Gottesbewusstsein werden. Dass es sich bei diesem Ganzheitsbezug des Menschen um ein unthematisches Wissen von Gott handelt, wurde nach Pannenberg im Verlauf der Welterfahrung durch die positiven Religionen bewusst, welche die in Röm 1,20 genannten Werke der Schöpfung auf in ihnen wirkende Gottheiten bezogen. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 127–132. Jegliche religiösen Deutungen nun unterliegen laut Pannenberg der Zweideutigkeit, da der Mensch das Unendliche nur durch dessen Manifestationen im Endlichen wahrnehmen kann. Er ist daher versucht, dass Endliche mit dem Unendlichen zu verwechseln. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 200–202. Aus meiner Sicht identifiziert Pe˛kala diese Zweideutigkeit zu unrecht mit menschlicher Sündhaftigkeit und kommt daher zu dem Schluss, dass es bei Pannenberg die geschichtliche Offenbarung Gottes nur aufgrund der menschlichen Sünde braucht.

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gegenwärtig, insofern die Bedeutung eines jeden Moments erst von der Totalität allen Seins her erschlossen ist und so in jedem Moment die vollendete Zukunft antizipativ gegenwärtig ist. Alles Sein ist nur, was es ist, von dieser Zukunft her: „Sie [alle Dinge/B.A.] sind das, was sie am Ende sein werden, schon auf dem Wege dahin. Aber sie sind es nur in der Weise der Antizipation ihrer Zukunft.“50 So verdankt sich die Möglichkeit jedes neuen Momentes der Zukunft Gottes, welche diesen aus sich heraus freisetzt und in der Einheit und das heißt in der gegenseitigen Verwiesenheit allen Seins erhält. Das bedeutet, dass Zukunft und Gegenwart trotz Unterschiedenheit nicht getrennt voneinander sind und in einem gewissen Sinne in eins sind. Dies wird noch einmal durch die Ausführungen zu Pannenbergs Verständnis von Zeit und Ewigkeit verdeutlicht. Das Bewusstsein von Zeit bzw. die Erfahrung von Zeitlichkeit ist für Pannenberg grundlegend für das endliche Subjekt. Für den Menschen sind die Momente seines Lebens nicht gleichzeitig, sondern fallen auseinander in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Frage der Selbstidentität gewinnt gerade dadurch ihre Dringlichkeit. Wie kann ich jetzt mit dem identisch sein, der ich gestern, im letzten Jahr oder in meiner Kindheit war? Wie ist das möglich gerade angesichts der Veränderung, die ich in meinem Leben durchlaufe? Für den Menschen zerfällt die Selbst- und Welterfahrung so in fragmentierende Zeitlichkeit. Die Vielfalt solcher Zeitmomente ist allerdings unerlässlich für geschöpfliches Leben. Nur dadurch ist die Vielfalt desselben möglich und nur dadurch ist den Geschöpfen die Möglichkeit eröffnet, zu werden; und das heißt, durch solche Zeitlichkeit ist geschöpfliche Selbstständigkeit möglich.51 Gleichzeitig strebt der Mensch bei der Realisierung seiner Selbstständigkeit nach Dauer, indem die Vielheit der Lebensmomente intergiert wird in eine dauerhafte Form; und das heißt der Mensch will die vielen Momente seines Lebens integrieren zu der Ganzheit seines Selbst. Wo dies gelingt hat der Mensch für Pannenberg Anteil an der Ewigkeit Gottes, denn erst durch sie können die auseinanderfallenden Momente eines Lebens zu einer Ganzheit integriert werden. „Alle zeitüberbrückende Dauer und alle Erfahrung solcher Dauer im Strom der Zeit kann als Antizipation der eschatologischen Zukunft einer Teilhabe der Geschöpfe an der Ewigkeit Gottes aufgefaßt werden.“52 Die Ewigkeit Gottes nun ist für Pannenberg 50 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 649. 51 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 646. 52 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 443. Pannenberg unterscheidet die Dauer der Ganzheit des eigenen Lebens von der jedem Geschöpf geschenkten Dauer. Dem Geschöpf wird Dauer in der Zeit geschenkt, wodurch ihm selbstständiges Leben ermöglicht wird. Das Zeitgefühl solcher Dauer ist für Pannenberg durch das gegenwärtige Lebensganze im Gefühl bestimmt, allerdings ist dieses nur vage gegenwärtig. Die auf Dauer ausgerichtete Integration der vielen Momente in die Ganzheit des Lebens kann meines Erachtens demgegenüber als bestimmte Dauer bezeichnet werden. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 643– 648.

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die Einheit aller Zeit. In ihr ist kein Unterschied mehr zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern in ihr ist alles Geschehen zusammen.53 War das irdische Leben des Menschen durch getrennte Zeitmomente geprägt, so sind in der Ewigkeit alle Zeitmomente gleichzeitig. Das bedeutet nicht, dass sie aufgehoben werden, sondern vielmehr, dass sie nicht mehr getrennt sind. In Gottes Ewigkeit ist die Zeit aufgehoben „in die ewige Gleichzeitigkeit des göttlichen Lebens“54. Daraus folgt, dass Zeitbewusstsein als ein Bewusstsein getrennter, auf einander folgender Momente nur im menschlichen Leben, nicht aber in der göttlichen Ewigkeit existiert. Was aber bedeutet dies für die hier verhandelte Rede von der Strittigkeit Gottes? Die Ausführungen zu Pannenbergs Verständnis von Zeit und Ewigkeit konkretisieren meines Erachtens noch einmal die Rede von der Strittigkeit Gottes. Steht Gott selbst im Verlauf der Welt auf dem Spiel, so gilt dies nur für den Menschen.55 Denn nur für den irdischen Menschen sind Gegenwart und Zukunft 53 Vgl. Pannenberg, Was ist der Mensch, 53. Eine gute Darstellung des Zeit-, Zukunfts- und Ewigkeitsverständnisses Pannenbergs findet sich bei Lebkücher, Natur, 137–149. 54 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 653. 55 Sowohl Murrmann-Kahl als auch Nüssel kommen zu dem Ergebnis, dass die Rede von der Strittigkeit Gottes bei Pannenberg so zu verstehen ist, dass Gott in der Welt, in seiner Schöpfung, aber nicht in seinem Sein strittig ist. Vgl. Murrmann-Kahl, Trinitätslehre, 164 sowie Nüssel, Transformation, 58f. Allerdings argumentieren beide an dieser Stelle nicht mit den Bestimmungen Pannenbergs zu Zeit und Ewigkeit. Nüssel sieht in der Rede von der Strittigkeit Gottes eine Transformation lutherischer Grundeinsichten. Beiden eignet der feste Zusammenhang von Christologie und Soteriologie: So bleibt die Rekonstruktion der Geschichte Jesu für Pannenberg von Bedeutung, da in ihr die Gründe zu suchen sind, die zum Bekenntnis von Jesu Gottheit führten. Die Bedeutung, die Jesus für den Menschen hat, muss seiner eigenen Geschichte innewohnen. Vgl. Nüssel, Transformation, 46f. Nüssel sieht daher die Inkarnation bei Pannenberg so verstanden, dass sie nicht den Beginn des irdischen Weges Jesu meint, sondern den gesamten Weg, der unweigerlich ans Kreuz führte und dann in der Auferstehung von Gott bestätigt wurde. Vgl. Nüssel, Transformation, 48–52. Sie deutet nun Pannenbergs Christologie dahingehend, dass sich Gott dergestalt offenbart, dass er in der Welt abwesend und nur durch seinen Sohn gegenwärtig ist. Denn der Sohn beanspruchte vollkommene Einheit mit Gott in der Unterscheidung von ihm und trat in diesem Vollmachtsbewusstsein auf; ein Anspruch, der als Gotteslästerung empfunden werden musste. Aufgrund dieser Zweideutigkeit im Auftreten Jesu ist seine Auferweckung als Bestätigung des Anspruchs Jesu zu interpretieren, bleibt aber selbst angewiesen auf die endgültige Durchsetzung der Gottesherrschaft. Bis dahin ist Gott strittig. Den theologischen Grund seiner Strittigkeit sieht Nüssel bei Pannenberg daher in der Zweideutigkeit der Geschichte Jesu. Vgl. Nüssel, Transformation, 57–59. Der von Nüssel vorgetragenen Deutung der Christologie Pannenbergs selbst soll hier nicht widersprochen werden. Inwieweit es sich hierbei um eine Transformation zentraler Anliegen Luthers handelt, kann hier nicht beurteilt werden. Ob allerdings die Christologie der theologische Grund der Rede von der Strittigkeit Gottes ist, muss bezweifelt werden. Richtig ist, dass in Pannenbergs Deutung der Auferweckung Jesu diese auf die Heraufführung der Gottesherrschaft angewiesen bleibt und deren Bedeutung bis dahin strittig ist. Vgl. oben, S. 116, Anm. 63. Die Strittigkeit Gottes aber ist vielmehr in Gott selbst und seinem Verhältnis zu seiner Schöpfung begründet. Insofern in der Auferweckung Jesu die Bestimmung dieses Verhältnisses anbricht, nämlich seine eschatologische Vollen-

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getrennt voneinander. Getrennt insofern, also dass sie nicht zu der Ganzheit seines Seins und damit zur Ganzheit der gesamten Welt integriert sind. In der Ewigkeit Gottes, in der alle Zeit gleichzeitig ist, ist bereits alles Sein zu seiner Ganzheit integriert und insofern die Zukunft nicht von der Gegenwart getrennt. Das bedeutet nicht, dass von Ewigkeit her alles festgelegt und statisch ist.56 Im Gegenteil, die göttliche Ewigkeit ist die Gleichzeitigkeit aller Zeitmomente. Sie bleibt aber in der Spannung von „schon jetzt“ und „noch nicht“, insofern sie das geschöpfliche Werden nicht ausschließt und so die Geschichtlichkeit und Veränderlichkeit der Welt will. Und dennoch ist sie schon jetzt die Ganzheit dieses Werdens. Der Radikalität der Rede von der Strittigkeit ist damit meines Erachtens nichts genommen, da ihre entscheidende Konsequenz ist, dass Gottes Sein erst dann im Recht ist, erst dann zur Herrschaft und so zur Vollendung gelangt ist, wenn alles Leben Vervollkommnung erfährt. Darin liefert er sich ganz seiner Schöpfung aus.

5.1.3 Pannenbergs Religionsbegriff: Verallgemeinerung des spezifisch Christlichen? Die hier vorgetragenen Ausführungen will Pannenberg als Grundbestimmungen über die Wirklichkeit Gottes und das religiöse Selbstverhältnis bzw. den religiösen Vollzug des Menschen verstanden wissen. Er will den grundlegenden Zusammenhang aufweisen zwischen Gottesgedanken und menschlichem Lebensvollzug und zwischen Gottesgedanken und den geschichtlichen Religionen. Für ihn ist dies nicht spezifisch christliches Wahrheitsverständnis, spezifisch christliches Geschichtsverständnis oder spezifisch christliche Sicht auf die eigene Religion. Vielmehr sollen hier Grundstrukturen des menschlichen Lebens in seiner Verwiesenheit auf die Einheit der Wirklichkeit und darin auf Gott als dessen Grund offengelegt werden. Auch die Thematisierung Gottes als allesbestimmender Wirklichkeit in den Religionen hat grundsätzlichen Charakter, ebenso wie deren notwendige Überprüfung im geschichtlichen Lebensvollzug des Menschen. Gleichzeitig deckt sich dies nach Ansicht Pannenbergs immer wieder dung, kann sie als dichtester theologischer Ausdruck der Strittigkeit Gottes interpretiert werden, allerdings nicht als deren theologischer oder gar geschichtlicher Grund. 56 Lebkücher vertritt die Auffassung, dass Pannenbergs Ewigkeitsbegriff endlich ist. Denn indem in der Ewigkeit die Zeit vorüber ist, insofern letztere in der Ewigkeit vollendet ist, kann nichts Neues mehr geschehen. Die Ewigkeit ist somit begrenzt und daher endlich. Vgl. Lebkücher, Natur, 146f. Es ist richtig, dass nach Pannenberg nach der Vollendung der Welt keine Zeitmomente mehr hinzutreten können. Denn Vollendung beinhaltet das Ende der Zeit. Dennoch ist die Ewigkeit nicht identisch mit der Summe aller Zeitmomente. Sie ist mehr als diese, indem sie alle Zeit umgreift.

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mit der Gottesvorstellung der christlichen Religion. In den alttestamentlichen Vorstellungen ist für ihn die Geschichtlichkeit Gottes und seines Selbsterweises in der Geschichte grundlegend. Dabei wird überlieferungsgeschichtlich der Gedanke eines endgültigen Selbsterweises am Ende der Geschichte immer zentraler, worin das Christentum nicht nur einstimmt, sondern dieser Gedanke charakterisiert das gesamte Geschick Jesu. Gott zeigt sich als der, der er immer schon war, erst eschatologisch.57 Dadurch steht im Christentum jede Gotteserfahrung und jeder Gottesbegriff unter einem eschatologischen Vorbehalt und ist nur im Vorgriff auf die eschatologische Wahrheit Gottes möglich. Die Strittigkeit Gottes, die laut Pannenberg fundamental für den Gottesbegriff ist und die aufgrund der Bestimmung Gottes als alles bestimmender Wirklichkeit in Gott selbst begründet sein muss, findet sich somit gerade als Grundüberzeugung im christlichen Gottesglauben.58 Die hier angedeuteten strukturellen Parallelen in der Argumentation Pannenbergs legen den Verdacht nahe, dass gerade seine christlich geprägte Gottesvorstellung der sachliche Grund seiner generell aufgestellten Kriterien über die göttliche Wirklichkeit und ihres Bezuges zum Lebensvollzug sowie für die Thematisierung dieser Bezüge innerhalb der Religionen und deren kritischer Überprüfung ist. Pannenberg selbst thematisiert den möglichen Widerspruch zwischen einer religiösen Prägung des Theologen und der Erarbeitung allgemeingültiger Kriterien, nach denen Gottesgedanke und religiöse Vollzüge ausgerichtet sind. Für ihn gehört die religiöse Vorprägung jedoch zum Entdeckungs-, nicht zum Begründungszusammenhang theologischer Aussagen. Beides wird dann verwechselt, wenn „eine persönliche Glaubensüberzeugung zum Ausgangspunkt einer Argumentation gemacht wird, für die im gleichen Atem intersubjektive Gültigkeit beansprucht wird.“59 Die oben vorgetragenen Problematisierungen an Pannenbergs Ansatz deuten an, dass in diesem zumindest die Möglichkeit einer Verwechslung zwischen Entdeckungs- und Begründungszusammenhang gegeben ist. Und auch wenn in der Forschung umstritten ist, ob Pannenberg hier seiner eigenen Maxime gerecht geworden ist,60 kann ein abschließendes Urteil darüber meines Erachtens nicht gefällt werden. Hierfür bedürfte es einer umfassenden Analyse der von Pannenberg dargelegten Grundbestimmungen bezüglich der Wirklichkeit Gottes, deren Thematisierung in den praktischen Religionen und des Zusammenhangs zwischen menschlichem Lebensvollzug und der Einheit der Wirklichkeit. Es wäre eine kritische Untersuchung der Argumente und Herleitungen nötig, die Pannenberg dafür vorträgt. Und es bräuchte demgegenüber eine Analyse seines systematischen Entwurfes 57 58 59 60

Vgl. Pannenberg, Religionsgeschichte, 291f. Vgl. Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 369, Anm. 687. Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 324. Vgl. Euler, Religionen, 185f.

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der christlichen Religion, wie in ihr die göttliche Wirklichkeit samt ihres Bezuges zur Lebenswirklichkeit der Menschen thematisch wird, um dann eine kritische Verhältnisbestimmung der Grundbestimmungen und des systematischen Entwurfs vorzunehmen. Vor allem aber bedürfte es für ein mögliches Urteil der Einlösung der von Pannenberg geforderten Grundaufgabe der Theologie: Die religionsgeschichtliche Betrachtung der Religionen der Menschheit und die Reflexion darauf, inwiefern sich ihr Wahrheitsanspruch in der Wirklichkeitserfahrung der Träger einer religiösen Überlieferung erweist und inwiefern die religiösen Überlieferungen in der Lage sind, gegenwärtige Wirklichkeitserfahrung zu erschließen. Dieses Verfahren ist gerade durch die Erwägung bestimmt, daß in der Geschichte die Frage nach der ‚wahren‘ Religion strittig ist und daß es bei dieser Strittigkeit um die Fähigkeit der verschiedenen religiösen Überlieferungen zur Integration der sich verändernden Wirklichkeitserfahrung von den Motiven der eigenen Überlieferung aus und zur Assimilation der in ihrem Licht sich aufdrängenden Wahrheitsmomente anderer religiöser Traditionen geht.61

61 Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 369. Pannenberg leitet aus seinen Bestimmungen zum Religionsbegriff weitereichende Konsequenzen ab: Eine Reform des Studiums der Theologie, mit Religionswissenschaften betrieben als Theologie der Religionen, als grundlegendem Fach. Dabei ist nicht eine Religionswissenschaft gemeint, wie sie sich Pannenberg in seiner Gegenwart darstellt: Eine Religionswissenschaft nämlich, die die Wahrheitsfrage ausblendet und allein religiöse Phänomene, deren Zusammenhänge mit anderen menschlichen Erfahrungen und ihre Institutionalisierungen in Gesellschaften beschreibt. Vielmehr hat Religionswissenschaft „nach der im religiösen Leben und seiner Geschichte erfahrenen Wirklichkeit zu fragen.“ Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 366. Für Pannenberg heißt das, dass die Religionswissenschaft, die von Religionen behaupteten Bekundungen der göttlichen Wirklichkeit in ihnen darauf hin zu hinterfragen hat, inwiefern diese Behauptungen, und das heißt die religiösen Deutungen und Vollzüge, die Wirklichkeit der Anhänger einer Religion erschließen und tragen können. Nur so nimmt die Religionswissenschaft den Wahrheitsanspruch der Religionen ernst und nur dadurch kann sie ihrer Aufgabe nachkommen, wie dies jede Realwissenschaft leistet, nämlich durch eine unvoreingenommene Erforschung ihres Gegenstandes. Dies leistet für Pannenberg nur eine Theologie der Religionen. Ein solches Vorgehen schützt nach Pannenberg vor dogmatischen Prämissen des Forschers, da eben von der strittigen Wahrheit jeglicher religiöser Tradition ausgegangen wird und die unterschiedlichen Traditionen daraufhin befragt werden, wie sie veränderte Wirklichkeitsdeutungen und sich als wahr erweisende Motive anderer Religionen in sich aufnehmen können. Das heißt, dass erstens die Religionsphilosophie Teil einer solchen Theologie der Religionen ist, die einen allgemeinen Begriff der Religion entwickelt und dabei den Gottesgedanken als alles bestimmende Wirklichkeit einführt. Des Weiteren muss die Religionsphilosophie Grundformen religiöser Vorstellungen von der göttlichen Wirklichkeit und des dazu gehörigen Selbst- und Weltverständnisses erörtern sowie Grundformen des Kultus. Sodann ist zweitens die religionsgeschichtliche Theoriebildung Teil einer so verstandenen Religionswissenschaft. In ihr müssen Modelle der verschiedenen Entwicklungsprozesse der jeweiligen Religion entworfen werden sowie auch der weltweiten Geschichte der Religion. Dabei darf die Unabgeschlossenheit und Pluralität der Geschichte der Religionen nicht zugunsten eines Einheitsschemas geopfert werden. Erst in diesem Rahmen ist dann der reli-

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Gerade das von Pannenberg vorgeschlagene und für sein theologisches Denken grundlegende Verfahren, von dem Primat der geschichtlichen Religionen auszugehen und besonders von dem für das religiöse Subjekt grundlegenden Wahrheitsanspruch seiner eigenen Gotteserfahrung, ist ein Indiz gegen eine mögliche Verwechslung des Entdeckungs- und Begründungszusammenhangs. In jedem Fall ist es Pannenbergs Anliegen, die verschiedenen Religionen eben nicht von einem christlichen Standpunkt aus zu betrachten und ihnen eine intersubjektive Geltung nur durch Bezüge zum Christentum zuzusprechen. Gerade die Pluralität der geschichtlichen Religionen und ihrer Wahrheitsbezüge zu stärken, indem diese Pluralität aus dem Gottesgedanken notwendig folgt, lässt sich als seine Grundintention erkennen. Denn „[ jede] Verabsolutierung einer Gegenwartswahrheit würde die geschichtliche Vielfalt der Wahrheitsbilder von vornherein verkennen.“62 Vielmehr partizipieren die positiven Religionen an dem geschichtlichen Wesen der Wahrheit, indem sie notwendig Teil der Geschichte Gottes mit der Menschheit sind.

5.1.4 Die Bedeutung der Bestimmungen Pannenbergs über die Religion für seine Ekklesiologie Was aber tragen nun die Ausführungen zum Religionsbegriff und den geschichtlichen Religionen für Pannenbergs Ekklesiologie aus? Es ist deutlich geworden, dass Pannenberg eine Anerkennung der Pluralität der Religionen fordert. Gleichzeitig lehnt er ein bloßes Nebeneinander der verschiedenen Religionen, in welcher alle gleich gültig und somit gleichberechtigt sind, ab.63 Für ihn gionsgeschichtliche Ort auch des Christentums zu bestimmen. Da die gegenwärtige Religionswissenschaft nicht eine solche Theologie der Religionen leistet, muss nach Pannenberg diese Aufgabe provisorisch von der Systematischen Theologie übernommen werden. Vgl. Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 361–374. Die Umsetzung der provisorisch übernommenen Aufgabe findet sich an verschiedenen Stellen bei Pannenberg. So sind die von ihm vorgenommenen allgemeinen Bestimmungen zum Religionsbegriff und des Verhältnisses von Religion und Gottesgedanke ein Beitrag dazu. Neben der Überprüfung der christlichen Traditionen und Riten anhand allgemeiner Bestimmungen zu Religion und Gottesgedanke wagt Pannenberg darüber hinaus auch immer wieder die Beurteilung anderer religiöser Traditionen in dem vorgetragenen Sinne. Vgl. dazu z. B. Pannenberg, Spiritualität, 82–98, wo Pannenberg buddhistische Traditionen erörtert. 62 Pannenberg, Wahrheit, 217. 63 Pannenbergs Ablehnung eines bloßen Nebeneinanders ist der Grund, warum er sich in den 1990er Jahren entschieden gegen das gesellschaftliche Ideal einer multikulturellen Gesellschaft wendet, hinter welchem er einen kulturellen Pluralismus vermutet. Unter letzterem versteht er das gleichgültige und gleichberechtigte Nebeneinander verschiedener Kulturen in einer Gesellschaft. Ein solcher prinzipieller Pluralismus gefährdet nach seinem Urteil die gesellschaftliche Einheit. Demgegenüber tritt Pannenberg für einen gemäßigten Pluralismus ein, in dem die Vielfalt unterschiedlicher kultureller Prägungen und Formen zwar anerkannt

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ist ein solches Nebeneinander aufgrund der Religionen selbst nicht denkbar, da der Wahrheitsanspruch einer bestimmten Religion den Wahrheitsanspruch der anderen per se bestreitet. Ein solches Ringen um die Wahrheit ist ernst zu nehmen. Dieses Ringen versteht Pannenberg als einen Wettstreit um die bessere Interpretation der Wirklichkeit.64 In diesem Wettstreit können bestimmte Traditionsbestände einer Religion zum Korrektiv einer anderen werden, wenn diese Bestände sich als angemessenere Interpretation der Lebenserfahrung und -wirklichkeit und damit als wahr erweisen. Dabei ist die Wahrheit nie endgültig gegeben, sie ist vielmehr auf Zukunft hin offen. „Naive oder gar bonierte dogmatische Sicherheit ist auf dem heutigen Stand des Bewußtseins von der Relativität alles menschlichen Denkens nicht mehr verantwortbar.“65 Ob eine religiöse Tradition, ein religiöses Symbol oder ein religiöser Vollzug sich als wahr erweisen wird, müssen diese immer wieder neu zeigen. Sie müssen in der Lage sein, sich zu verändern, um veränderte Wirklichkeitsdeutungen und -erfahrungen in sich aufnehmen zu können. Erst im Eschaton, wenn alles Sein vollendet ist und jeglicher Sinn offenbar ist, wird auch die Wahrheit religiöser Traditionen und Deutungen offenbar sein. In alledem zeigt sich für Pannenberg die Strittigkeit Gottes unter den Bedingungen der Welt, weswegen die Pluralität der Religionen noch einmal als legitimer und notwendiger Ausdruck dieser Strittigkeit zu verstehen ist und so theologische Begründung erfährt. Hierauf aufbauend gelingt es Pannenberg, „das christliche Proprium geradezu als Katalysator von Pluralität zu konturieren.“66 Die vorläufige Wahrheit der Religion als Deutung von Erfahrungen mit der göttlichen Wirklichkeit ist ein Gedanke, der für Pannenberg genuin christlich ist. Für das Christentum gehört solche Strittigkeit Gottes und die daraus folgende Vorläufigkeit zu den Grundelementen der noch nicht vollendeten Schöpfung.67 Was nun für die Pluralität der Religionen gilt, gilt daher auch für die Pluralität der Konfessionen. Auch sie sind legitimer Ausdruck der Strittigkeit Gottes und der Unabgeschlossenheit menschlichen Verstehens. Auch sie müssen sich daran messen lassen, wie weit sie die Lebenserfahrung und -deutung ihrer Anhänger erhellen und tragen können. Für die religiösen Aussagen und Vollzüge christli-

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wird, aber innerhalb des Rahmens einer gegebenen Einheit. Vgl. Pannenberg, Pluralismus, 23–25. Eben ein solches Einheitsmodell fordert er auch für die christlichen Kirchen, was im Folgenden weiter auszuführen ist. Wenn Lange zu der Auffassung kommt, dass Pannenberg mit seinen religionstheoretischen Abhandlungen und seiner Gotteslehre „Stimulantien für den ‚Kampf der Kulturen‘“ (Lange, Religion, 149) liefert, dann ist von folgenschweren Missverständnissen auszugehen. Den Ausführungen Pannenbergs zur theologischen Anerkennung der pluralen Religionen scheint Lange jedenfalls keinerlei Bedeutung zuzumessen. Pannenberg, Nachwort, 141. Wunderlich, Pluralität, 258. Vgl. Pannenberg, Religionen, 169f.

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cher Konfessionen ist dabei ein grundlegender Prüfstein, ob diese sich in sich verschließen und sich selbst verabsolutieren oder ob sie um ihre eigene Strittigkeit und ihren eschatologischen Vorbehalt wissen.68 Gerade vom Christusgeschehen her ist die Vorläufigkeit jeder theologischen Deutung sowie die Pluralität dieser Deutungen unumgänglich, trotz oder gerade wegen der eschatologischen Endgültigkeit der Offenbarung Gottes in Christus. Denn Christus war gerade darin der Selbsterweis Gottes, dass er sich von diesem unterschieden wusste. Analog bleibt für Pannenberg auch die vom Menschen erkannte Wahrheit von der eschatologischen Wahrheit Gottes unterschieden.69 Darüber hinaus ist für ihn Vielfalt der verschiedenen Christusdeutungen innerhalb der Geschichte in Christus selbst angelegt. Denn die Deutung eines Geschehens ist in ihm selbst begründet und tritt nicht sekundär zu diesem hinzu.70 Damit ist nicht gesagt, dass Pannenberg einen Relativismus in religiösen bzw. christlichen Fragen vertritt. Denn trotz der berechtigten Pluralität der Deutungen, wird sich eschatologisch eine als die richtige erweisen; aber eben erst im Eschaton und damit ist sie im Zusammenhang der Welt nicht zu erreichen.71 Für Pannenberg ist dies bereits bei Paulus begründet, welcher das Wissen, das die Christen im Glauben gegenwärtig besitzen, unterscheidet von dem Wissen, das ihnen im Reich Gottes zuteil werden wird (1. Kor 13,12).72 Daher ist für Pannenberg aufgrund der Vorläufigkeit allen Lebens und Verstehens die Einheit der Kirche nur in der Vielfalt der Kirchen, in der Vielfalt verschiedenster Traditionen und Frömmigkeiten denkbar. Das Bewusstsein um solche Vorläufigkeit der je eigenen Tradition ist dabei die „Grundlage für besseres Verständnis und gegenseitige Anerkennung verschiedener Kirchen im Hinblick auf ihre unterschiedlichen Überlieferungen, theolo-

68 Vgl. dazu Pannenbergs Häresiebegriff, der in oben, S. 108, Anm. 28 dargelegt wird. 69 Vgl. Pannenberg, Religionsgeschichte, 294. Selbst die Auferweckung Christi, in welcher Gott nach Pannenberg seine Einheit mit dem irdischen Jesus und so dessen Verkündigung und Werk bestätigt (vgl. Pannenberg, Grundzüge, 21966, 131–136) und in welcher sich das Ende der Geschichte proleptisch vorwegereignet hat (vgl. Pannenberg, Dogmatische Thesen, 103– 106), unterliegt der Pluralität der Deutungen. Denn bis zum eschatologischen Selbsterweis Gottes bleibt die Bedeutung auch dieses Geschehens offen. 70 Vgl. Pannenberg, Hermeneutik, 123–125. 71 Vgl. Berten, Geschichte, 108f. Ignace Berten selbst vertritt dabei die Ansicht, dass es für Pannenberg eigentlich seine eigene Deutung ist, die er für die richtige hält. Vgl. Berten, Geschichte, 109f, Anm. 33. Mehr als eine polemische Spitze aber kann diese Aussage nicht sein. Natürlich ist Pannenberg überzeugt von seinen theologischen Deutungen. Aber wie jede Deutung untersteht sie, gerade für Pannenberg selbst, dem offenen Prozess der Bewährung im Welt- und Lebenszusammenhang sowie dem eschatologischen Urteil Gottes. In dieser Perspektive ist dann auch zu verstehen, dass Pannenberg am Absolutheitsanspruch des Christentums festhalten kann. Vgl. Pannenberg, Weltreligionen, 152f. Denn auch diesen hat es immer wieder neu zu erweisen. Letzteres übersieht meines Erachtens Walter A. Euler in seinen Ausführungen. Vgl. Euler, Religionen, 186f. 72 Vgl. Pannenberg, Glauben und Kirchenverfassung, 335.

Ökumenische Katholizität: Einheit in der Vielfalt

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gischen Perspektiven und kirchlichen Strukturen.“73 Eine solche ökumenische Katholizität in der konfessionellen Pluralität, welche Pannenberg entwirft, ist Gegenstand des nächsten Kapitels.

5.2

Ökumenische Katholizität: Einheit in der Vielfalt

In der bisherigen Interpretation der Ekklesiologie Pannenbergs rückte die von ihm geforderte Einheit der Kirchen vor allem an drei Stellen in den Fokus: Zuerst innerhalb der Darstellung seiner gegenwartsdiagnostischen Einsichten. Waren für Pannenberg die kirchlichen Spaltungen im 16. Jh. infolge der Reformation der zentrale Grund für die Entstehung einer von der Religion emanzipierten säkularen Kulturwelt in der Moderne, folgert er hieraus die Notwendigkeit der Einheit der Kirchen. Denn nur so kann das Christentum seine Botschaft der Welt gegenüber authentisch verkünden, ohne wieder in damalige Aporien zurückzufallen. Und nur so kann das Christentum die gesellschaftliche Funktion der Religion einnehmen, auf welche in seinen Augen die moderne Gesellschaft angewiesen ist, um die aus ihr hervorgegangenen Errungenschaften zu erhalten.74 Des Weiteren folgte aus Pannenbergs Verständnis des eucharistischen Gottesdienstes, welcher für ihn das Zentrum der Kirche darstellt, die notwendige Einheit der Kirchen.75 Gerade am Tisch des Herrn, an welchem die am Mahl Teilnehmenden durch ihre Gemeinschaft mit Jesus zu einer Gemeinschaft untereinander verbunden werden, zum Leib Christi, wird die Zerrissenheit dieses Leibes durch die Spaltungen und gegenseitigen Verwerfungen der Kirchen offenbar.76 Dieser enge Zusammenhang zwischen dem Abendmahl und dem Bewusstsein der Gemeinschaft mit der gesamten Christenheit zeigt sich Pannenberg in der Ökumenischen Bewegung, die von dem Wunsch nach Abendmahlsgemeinschaft geprägt ist und dadurch in den reformierten und lutherischen Kirchen eine neue Abendmahlsfrömmigkeit initiierte.77 Das Abendmahl ist daher für ihn der zentrale Grund für die Forderung nach der Einheit der Kirchen. Es ist dies, insofern es die sichtbarste Darstellung des Wesens der Kirche ist. In ihm zeigt sich, dass Kirche zeichenhafte Darstellung versöhnter Gemeinschaft im Reich Gottes ist. Die konfessionellen Spaltungen und Verwerfungen entstellen 73 74 75 76 77

Pannenberg, Bestimmung, 39. Vgl. Kap. 3, besonders Kap. 3.1, 3.4 und 3.5. Vgl. Kap. 4.5, besonders Kap. 4.5.5. Vgl. Pannenberg, Überwindung, 162. Vgl. Pannenberg, Ökumene, 73. Dass demgegenüber seit dem 18. Jh. das Abendmahl im protestantischen Gottesdienst immer mehr an Bedeutung verlor, betrachtet Pannenberg als eine Fehlentwicklung, die nicht im Sinne der Reformation ist. Vgl. Fries/Pannenberg, Situation, 45f.

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dieses Wesen, indem sie das Gegenteil versöhnter Gemeinschaft sind. Eine kirchliche Einheit ist demgegenüber notwendige Konsequenz aus der Eucharistie, da in dieser sichtbar wird, dass die Einheit den Kirchen vorgegeben und nicht bloße Möglichkeit kirchlichen Handelns ist. Die dritte Perspektive, in welcher Pannenberg die Einheit der Kirchen in konfessioneller Vielfalt begründet, sind seine theologischen Bestimmungen zu der geschöpflichen Pluralität und seine damit zusammenhängenden religionstheologischen Einsichten, welche Gegenstand des vorangegangenen Kapitels waren. In diesen wurde deutlich, dass eine Einheit der Kirche für Pannenberg nur als eine Einheit in der Pluralität möglich ist. Aber was bedeutet das konkret? Wie stellt sich Pannenberg die Einheit pluraler Kirchen vor? Die Einheit der Christen ist diesen im Glauben an Jesus Christus vorgegeben: „Durch den Glauben an den einen Herrn und durch die gemeinsame Teilhabe an ihm in der Taufe und im Abendmahl sind alle Christen schon zur Einheit verbunden.“78 Die Einheit der Kirche ist damit nichts, was erst sekundär zum Glauben hinzutritt. Sie tritt auch nicht sekundär zu einer Ortsgemeinde hinzu. Denn indem der Einzelne in Taufe und Glaube mit Jesus Christus verbunden ist, ist er Teil nicht nur der lokalen Ortsgemeinde, sondern der weltweiten Christenheit; und zwar nicht nur der gegenwärtigen weltweiten Christenheit, sondern der gesamten Christenheit zu allen Zeiten an allen Orten. Und da die Gemeinschaft mit Christus und die darin begründete Gemeinschaft der gesamten Christenheit im Abendmahl vergegenwärtigt und erneuert wird, wird jede Abendmahlsfeier in der Gemeinschaft mit der ganzen Christenheit vollzogen. Die Einheit der Kirche tritt also nicht sekundär zu der einzelnen Ortsgemeinde hinzu, sondern letztere ist in ihrem gottesdienstlichen Vollzug in der Einheit mit der gesamten Kirche. „Wo immer die Feier des Herrenmahls stattfindet, da ist christliche Kirche.“79 Ist Einheit der Kirche so Teil des Glaubens an Jesus Christus, dann sind die Spaltungen der Christenheit für Pannenberg als Abfall von diesem Glauben zu interpretieren. Sie stellen einen fundamentalen Gegensatz zwischen den theologischen Bestimmungen über die Kirche und ihrem empirischen Zustand dar: „Besonders kraß und offensichtlich ist der Widerspruch zwischen dem geglaubten Wesen der Kirche und dem tatsächlichen Zustand der Christenheit bei der Behauptung der Einheit der Kirche.“80 Ein solcher Widerspruch ist für Pannenberg kein Grund, an der vorgenommenen Wesensbestimmung zu zweifeln. Denn für ihn ist es gerade Aufgabe der Ekklesiologie, theologische We78 Pannenberg, Glaubenswirklichkeit, 200. 79 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 324. (Hervorhebung durch B.A.) Zum Zusammenhang von Eucharistie und Einheit der Kirche vgl. Kap. 4.5.5. 80 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 447.

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sensbestimmungen der Kirche vorzunehmen, ausgehend von ihrem Verhältnis zum Reich Gottes. Die empirischen Zustände der Kirche können nie Grund des Wesens der Kirche sein, da so die Gefahr einer ideologischen Verklärung der gegenwärtigen Zustände besteht.81 Das letztere im Widerspruch zum Wesen der Kirche stehen, ist für Pannenberg die Folge davon, dass die Kirche Teil dieser Welt ist und erst im Eschaton vollendet sein wird. Bis dahin hat die Kirche Anteil an den Zweideutigkeiten des Lebens in dieser Welt.82 Dass die gegenwärtige Verfasstheit der Kirche aufgrund ihrer Spaltungen der Einheit zutiefst widerspricht, ist also kein Grund diese aufzugeben. Im Gegenteil, sie ist fundamentaler Bestandteil des kirchlichen Wesens.83 Daher kann für Pannenberg auch in der Situation der getrennten Kirchen von der Unsichtbarkeit der einen, wahrhaft katholischen Kirche gesprochen werden. Allerdings schränkt er ein: Die These von der Unsichtbarkeit der Kirche hat nur da ein Wahrheitsmoment, wo von dem Wissen um eine die vorhandene kirchliche Wirklichkeit übersteigende, größere und umfassendere Einheit in Christus ein Antrieb ausgeht zur Sichtbarmachung dieser größeren Einheit.84

Die kirchliche Einheit darf also nicht reine Glaubenswirklichkeit bleiben, sie muss auch empirische Wirklichkeit werden. Jeder Christ und jeder Amtsträger muss nach Pannenberg daher um sichtbare Einheit bemüht sein. Die ökumenische Bewegung nun sieht er von einem solchen Bemühen getragen: „Die ökumenische Bewegung unseres Jh. ist entstanden aus einem neu geschärften Bewußtsein der Unerträglichkeit der christlichen Spaltungen.“85 Aufgrund der Zentralität der Einheit für die Kirche stellt diese für Pannenberg das primäre der vier Wesensattribute dar, wie sie im Symbol von Nicaea-Konstantinopel bekannt werden. Heiligkeit, Apostolizität und Katholizität sind Implikationen der Einheit und erläutern diese. Pannenbergs Darlegungen zu den Wesensattributen soll im Folgenden nachgegangen werden, da diese die von ihm geforderte Einheit der Kirche in der Pluralität weiter konkretisieren.86 81 82 83 84 85 86

Vgl. Kap. 4.1. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 404f. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 441f. Pannenberg, Glaubenswirklichkeit, 202. Pannenberg, Glaubenswirklichkeit, 200. In der Systematischen Theologie behandelt Pannenberg die Wesensattribute der Kirche am Beginn des Kapitels „Die Einheit der Kirche und die Stufung ihres Leitungsamts“. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 442–452. Dies ist meiner Meinung nach darin begründet, dass die kirchlichen Wesensattribute die Einheit der Kirche konkretisieren, welcher dann das kirchliche Leitungsamt nach Pannenberg zu dienen hat, wie in Kap. 5.3 dargelegt wird. Diesem gedanklichen Aufbau folgt die vorliegende Interpretation, da sie ebenfalls Pannenbergs Verständnis von kirchlicher Einheit und konfessioneller Vielfalt behandelt, bevor Pannenbergs Verständnis vom kirchlichen Amt in den Blick genommen wird, das dieser Einheit in der Vielfalt verpflichtet ist.

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Einheit und Pluralität der Kirche

5.2.1 Die Wesensattribute der Kirche als ihre eschatologische Bestimmung Die Einheit ist für Pannenberg das zentrale Wesensattribut der Kirche. Sie steht im Zentrum, da sie in Jesus Christus selbst begründet ist.87 Spaltungen und Zerwürfnisse stellen daher das Christsein eines jeden Christen wie auch den Anspruch einer jeden Kirche infrage, Kirche Jesu Christi zu sein.88 Daher muss es das ureigene Interesse aller Kirchen sein, auf ihre Einheit hinzuwirken. Dabei ist das Ziel für Pannenberg nicht eine Kirche in theologischer und liturgischer Uniformität, „sondern die versöhnte Einheit im Geiste Jesu Christi bei aller Verschiedenheit.“89 Eine Einheit also in der versöhnten Pluralität der verschiedenen spirituellen, theologischen und liturgischen Traditionen, welche die jeweils andere Tradition anerkennen. Anerkennen, dass gerade in der Besonderheit der je anderen Überlieferung die gesamte christliche Wahrheit gegenwärtig ist, auch wenn sie nicht mit letzterer identisch ist. Im Verhältnis der verschiedenen christlichen Gruppen zueinander kann die katholische Einheit nur in der Weise zum Ausdruck kommen, daß sie wechselseitig die Gegenwart der katholischen Fülle der Wahrheit in den besonderen Lebensformen, Überlieferungen, Ordnungen und Bekenntnissen der anderen respektieren und anerkennen.90

Katholizität ist für Pannenberg nach Eph 4,13 durch die eschatologische Fülle konstituiert. Sie ist für ihn nicht gleichzusetzen mit kirchlicher Einheit, wie es von der Tradition immer wieder behauptet worden ist. Vielmehr weist die Katholizität über jede gegenwärtig bestehende Kirche hinaus, die gegenüber ihrem universalen Auftrag notwendig partikular und beschränkt ist. Denn Katholizität meint die Durchdringung der gesamten Menschheit durch den christlichen Glauben. Die katholische Kirche umfasst eben nicht nur bestimmte gegenwärtige Gruppen, sondern alle Christen durch alle Zeiten hinweg, mit dem Ziel der Vollendung der gesamten Menschheit. Das heißt, dass volle Katholizität, in welcher das Gegenüber von Kirche und Gemeinwesen aufgehoben ist, da die gesamte Menschheit unter der Herrschaft Gottes vereint ist, erst eschatologisch realisiert ist. Demgegenüber kann jede gegenwärtige Kirche nur partikularer Ausdruck der katholischen Gesamtheit sein.91 Daher versteht es Pannenberg auch als Perversion wahrhafter Katholizität, wenn eine Kirche letztere für sich exklusiv beansprucht. Denn eine Kirche erweist sich eben nur darin als katho-

87 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 442, Anm. 926. 88 Vgl. Pannenberg, Glaubenswirklichkeit, 200f. 89 Pannenberg, Ökumene, 78. Dass die Einheit der Kirche nicht Uniformität, sondern Verschiedenheit bedeutet, stellt auch Manfred Zeuch in seiner Interpretation des Einheitsverständnisses Pannenbergs heraus. Vgl. Zeuch, Einheit, 381–385. 90 Pannenberg, Eschatologie, 236. 91 Vgl. Pannenberg, Eschatologie, 234f.

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lisch, wenn sie sich der eigenen Vorläufigkeit bewusst ist und in den anderen Kirchen ebenfalls die partikulare Gegenwart der katholischen Fülle anerkennt. So verstanden ist Katholizität der umfassendste Aspekt der Einheit der Kirche in ihrer Treue zum apostolischen Ursprung, in der Gemeinschaft mit der Christenheit aller früheren Zeitalter und aller gegenwärtigen Kirchen sowie in der Offenheit für die Zukunft des Christentums im Lichte der Ankunft der Gottesherrschaft92

Nach Pannenberg zeigt sich hier der enge Zusammenhang von Katholizität und Apostolizität der Kirche, da beide auf die eschatologische Vollendung verweisen. Die Apostolizität der Kirche zeigt ihre Verbundenheit mit der Zeit der Apostel. Hierin ist sie treu gegenüber ihren Ursprüngen. In Kontinuität zu den Anfängen stehen bedeutet für Pannenberg in Kontinuität zu der apostolischen Sendung stehen. Will die Kirche den Auftrag der Apostel fortführen, „müssen in der Apostolizität der Kirche die tragenden Motive des urchristlichen Apostolates selbst eine Fortsetzung finden.“93 Das entscheidende Motiv der Sendung der Apostel nun sieht Pannenberg in deren eschatologischem Bezug. Dieser zeigt sich einmal darin, dass nach paulinischem Zeugnis die Sendung der Apostel von dem Auferstandenen selbst ausging. Das eschatologische Leben des Auferstandenen bestätigt nicht nur die eschatologische Sendung seines irdischen Wirkens, sondern erneuert diese zugleich für seine Jünger.94 Daraus folgert Pannenberg, dass die apostolische Sendung eschatologisch begründet ist, da sie im Angesicht des auferstandenen, eschatologischen Lebens konstituiert wird. Darüber hinaus ist auch der Inhalt der Sendung selbst, die von dem Auferstandenen ausging, eschatologisch, indem die Apostel beauftragt werden, alle Völker zur Umkehr zu dem Heil in Christus zu bewegen, indem sie die in ihm angebrochene Gottesherrschaft verkündigen. „Die Gegenwartsmacht der kommenden Gottesherrschaft im Lehren und Wirken Jesu findet ihr apostolisches Gegenstück in der universalen Mission an alle Völker.“95 Erscheinen die Apostel so als Fortsetzer der Botschaft Jesu, so setzen sie diese in veränderter Gestalt fort. Jesus und das in ihm endgültig angebrochene Heil wird nun zu der apostolischen Botschaft. Der Verkündiger wird zum Verkündigten. Für Pannenberg zeigt dies, dass die Apostel den eschatologischen Sinn des Lebens Jesu nur durch Veränderung fortführen konnten. Daher kann auch die Kirche nur durch Veränderung diesem eschatologischen Sinn treu bleiben,

92 93 94 95

Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 444. Pannenberg, Eschatologie, 223. Vgl. Pannenberg, Eschatologie, 223–225. Pannenberg, Eschatologie, 225.

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nämlich durch das Einbringen ihrer eigenen historischen Differenz zu den Aposteln und zum apostolischen Zeitalter im ganzen in ihr Selbstverständnis und in ihr Verständnis der Christusbotschaft als Botschaft an die jeweilige Gegenwart.96

In dem Bekenntnis zur Apostolizität der Kirche drückt sich also nicht das Verlangen aus, die Vergangenheit für die Gegenwart zu konservieren und zu normieren. Vielmehr weiß die apostolische Kirche um ihre veränderte Situation gegenüber der Zeit der Apostel und legt das eschatologische Geschehen in Christus in ihrer Zeit neu aus. Das bedeutet, sie ist offen für Veränderung, für Erneuerung von ihrem Ursprung her. Nur so kann sie ihre universale Sendung erfüllen, der Welt das Reich Gottes zu verkündigen.97 Die universale Sendung der Kirche wird immer wieder verstellt durch die Sünden ihrer Glieder. Entgegen dieser Sünden wird ihre Heiligkeit behauptet. Sie ist heilig, da sie Christus geheiligt wurde, wie das Volk Israel durch seine göttliche Erwählung heilig ist. Ausgangspunkt ist hier für Pannenberg Eph 5, 25f: Christus hat sich für seine Gemeinden dahingegeben, um diese in der Taufe zu heiligen. Die Taufe begründet so die Gemeinschaft der Kirche und begründet die Heiligkeit des Getauften, indem er an Christus übereignet wird. Dabei bleibt die Taufe auf Aneignung im Lebensvollzug angewiesen und wird erst im Eschaton vollendet werden. Analoges gilt auch für die Heiligkeit der Kirche: Ebenso wie im individuellen Leben ist die in der Taufe vollzogene Reinigung von der Sünde aber auch für die Gemeinschaft der Kirche ein Lebensthema, das sie durch ihre ganze Geschichte begleitet zu immer neuer Abkehr von der Sünde der Welt, hin zur Vertiefung ihrer Gemeinschaft mit Jesus Christus.98

Alle vier Wesensattribute – die Einheit, die Katholizität, die Apostolizität und die Heiligkeit – sind für Pannenberg keine Aussagen über den empirischen Zustand der Kirche. Im Gegenteil: In der empirischen Kirche sind diese immer wieder bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Die Spaltungen entstellen ihre in Christus begründete Einheit. Der absolutistische, sich selbst verschließende Geist, der in den gegenseitigen Verwerfungen sichtbar wird, verhindert die Gegenwart der katholischen Fülle in den gegenwärtigen, partikularen Traditionen. Denn wirkliche Katholizität lebt von einer Offenheit über die eigene Vorläufigkeit hinaus.99 Die Treue zu ihrem apostolischen Ursprung verfehlt die Kirche immer wieder, wenn sie das Vergangene zur Norm erhebt, welche die Gegenwart legitimieren soll, 96 Pannenberg, Eschatologie, 226. 97 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 443. Es ist daher nach Pannenberg fatal, dass sich gerade im Rückbezug der getrennten Kirchen auf ihren apostolischen Ursprung die Gegensätze der Konfessionen zeigen. Denn jede Konfession hält sich dabei für die authentische Fortsetzung des apostolischen Zeitalters. Vgl. Pannenberg, Vergangenheit, 211f. 98 Pannenberg Systematische Theologie Bd. 3, 443. 99 Vgl. Pannenberg, Eschatologie, 236f.

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darin die Zeitbedingtheit des Vergangenen leugnet und sich so heutigen Herausforderungen verschließt; und die Kirche verfehlt die Treue zu ihrem Ursprung, wenn sie aktuelle Antworten in die apostolischen Zeugnisse hineinliest.100 Die Heiligkeit der Kirche wird immer wieder durch die Sündhaftigkeit ihrer Glieder entstellt. Daher lehnt Pannenberg die Bezeichnung der vier Wesensattribute als Kennzeichen der Kirche, als notae ecclesiae ab, so verstanden, dass die Kirche anhand dieser erkannt werden könnte. Stattdessen zieht er im Anschluss an Ebeling die Bezeichnung als Glaubensattribute vor: Daß die Kirche als Leib Christi eine unverbrüchliche, Jesus Christus geheiligte Gemeinschaft der Glaubenden ist, die die Sendung der Apostel weiterführt und in deren gottesdienstlichem Leben die eschatologische Fülle Christi schon gegenwärtig ist, das gehört zwar zu ihrem Wesen, wie es der Glaube erkennt, aber es läßt sich nicht als unzweideutige Gegebenheit empirisch feststellen101.

Pannenberg sieht den Widerspruch zwischen dem Zustand der Kirche und ihrem geglaubten Wesen bei der Einheit der Kirche als eklatantesten. Er sieht es daher als Pflicht der Kirchen an, der ihnen vorausgesetzten Einheit näher zu kommen. Dabei vertiefen Pannenbergs Ausführungen zu den ekklesialen Wesensattributen noch einmal sein eigenes ökumenisches Einheitsmodell. Die Einheit ist für ihn notwendige Folge des Glaubens an Jesus Christus. Gleichzeitig unterliegt auch die Kirche den Versuchungen und der Vorläufigkeit der irdischen Welt. Ihr Wesen und so auch ihre Einheit werden erst eschatologisch offenbar sein.102 Das entlässt 100 Vgl. Pannenberg, Eschatologie, 228f. Dabei beobachtet Pannenberg in der Christentumsgeschichte immer wieder die Tendenz, die Spannungen innerhalb der neutestamentlichen Zeugnisse, welche wiederum Ausdruck der Widersprüche im Urchristentum selbst sind, zugunsten einer apostolischen Einmütigkeit zu verdrängen. Eine solche Harmonisierung des Urchristentums ist mitverantwortlich, dass einander widerstreitenden Ansichten innerhalb der Kirche immer wieder zu wenig Platz eingeräumt wurde. 101 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 445. Auch die reine Lehre des Evangeliums und die rechte Verwaltung der Sakramente sind für Pannenberg eher Wesensmerkmale der Kirche als wirkliche Kennzeichen. Denn auch hier ist umstritten, was unter rechter Sakramentsverwaltung und reiner Lehre zu verstehen ist. Zwar sieht er es als evangelischen und katholischen Konsens an, dass der Glaube an das Evangelium das oberste Kriterium für die Kirche ist. Aber was eben unter Evangelium zu verstehen ist, dazu besteht keinerlei Konsens. Dies gilt es zu klären, da nur vom Evangelium her das Wesen der Kirche zu erschließen ist, jedoch nicht von der Kirche selbst her. Vgl. Pannenberg Systematische Theologie Bd. 3, 446f. 102 Dies mag als ein Widerspruch erscheinen gegenüber den Ausführungen in Kap. 4.5.2 zu Pannenbergs Verhältnisbestimmungen von Staat und Kirche. Dort wurde festgehalten, dass für Pannenberg die Kirche lediglich innerhalb des geschichtlichen Weltzusammenhangs notwendig ist, sie daher im Reich Gottes nicht mehr existiert, weil dann die Bestimmung der Gesellschaft und so jedes einzelnen Menschen realisiert sein wird. Wie passt das mit der Aussage zusammen, dass das Wesen der Kirche erst eschatologisch realisiert sein wird? Pannenberg sieht das Wesen, den Auftrag der Kirche universal. Ihr geht es um nicht weniger als die Einheit der gesamten Menschheit. Daher realisiert sich mit der vollkommenen Einheit der Menschheit im Reich Gottes auch das Wesen der Kirche: Es bedarf keiner

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die Kirchen aber nicht aus ihrer Pflicht, sich auch gegenwärtig um Einheit zu bemühen. Dabei haben gerade Pannenbergs Darlegungen zu dem Attribut der Katholizität gezeigt, dass für ihn gerade dort die eschatologische Fülle gegenwärtig ist, wo eine Kirche um die Partikularität und Vorläufigkeit ihrer eigenen Traditionen weiß. Im Reich Gottes wird alles Sein vollendet sein und alle Wahrheit offenbar sein. Daher kann jede Erkenntnis in der Geschichte nur vorläufig bleiben. Die eigene Vorläufigkeit anzuerkennen ist für Pannenberg daher Bedingung, dass die eigene Erkenntnis partikularer Ausdruck der endgültigen Wahrheit und damit der eschatologischen Fülle sein kann. Und solche Vorläufigkeit begründet die notwendige Veränderlichkeit aller Erkenntnis: Daher bleibt es stets möglich, dasselbe – nämlich die eine Wahrheit Christi – nicht nur neu, sondern auch anders zu sagen, sogar im Gegensatz gegen frühere Lehrformulierungen, ohne daß damit notwendigerweise geleugnet wäre, daß diese früheren Formulierungen zu ihrer Zeit ein wenn auch beschränkter Ausdruck derselben Christuswahrheit gewesen sind.103

Bestimmte Lehrformulierungen, Pannenberg nennt als Beispiel das Trienter Konzil und die reformatorischen Bekenntnisse, können so als beschränkte und doch teilweise berechtigte Auslegungen des christlichen Glaubens anerkannt werden. Das ermöglicht ihre Veränderlichkeit und Neuformulierung von einem neuen Standpunkt aus und das eben ohne sie gänzlich fallen zu lassen.104 Aufgrund der Partikularität menschlicher Erkenntnis und somit auch jeglicher theologischer Deutung ist letztere notwendig auf Veränderung angewiesen. Und dies führt notwendig zu der Pluralität theologischer Traditionen, die trotz manchmal expliziter Gegensätzlichkeit die Einheit dieser pluralen Deutungen nicht auflösen muss. Denn ihre Einheit ist ihr Grund: Sie sind der Versuch, die in der Schrift bezeugte endgültige Offenbarung Gottes in Jesus Christus zu explizieren. Darin sind sie katholisch, weil sie die universale Bedeutung des eschatologischen Christusgeschehens darlegen. Und darin sind sie apostolisch, weil sie Ausgang vom apostolischen Evangelium als Grund ihrer Erkenntnis nehmen. Dies wird noch einmal durch die Interpretation der Funktion verdeutlicht, die Pannenberg der Lehre und dem Bekenntnis im Christentum zuweist, und deren Bedeutung für die Einheit der Kirche. besonderen Institution mehr im Gegenüber zur Gesellschaft, da dann die Gesellschaft selbst und das heißt die gesamte Menschheit in Einheit lebt. Eine vorwegnehmende Darstellung des Reiches Gottes braucht es dann nicht mehr. 103 Pannenberg, Eschatologie, 239. 104 Vgl. Pannenberg, Eschatologie, 238–240. Was dies konkret bedeutet, wurde bereits in der Tauflehre deutlich. Pannenberg versucht hier den vom gegenwärtigen Standpunkt aus sich als wahr erweisenden Gehalt der Taufdeutungen sowohl der Reformatoren als auch des Trienter Konzils festzuhalten und in einer Neuformulierung beide miteinander zu verbinden. Vgl. oben, S. 132f.

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5.2.2 Vielfältige theologische Traditionen und das Bekenntnis zu dem einen Christus Entgegen der in der Geschichte des Christentums immer wieder auftretenden Tendenz, Absolutheitsansprüche und Uniformität in Leben und Lehre der Kirche durchzusetzen, betrachtet Pannenberg Toleranz und Pluralität als genuin christliche Werte und Lebensvollzüge: Der Gedanke der Toleranz ist […] aus der Vorläufigkeit theologischer Erkenntnis und kirchlicher Lehre und Lebensform gegenüber der Universalität endgültiger Wahrheit [zu begründen], die nur in der liebenden Anerkennung und Verbindung des Entgegengesetzten eine gegenwärtige Gestalt findet.105

Eine solche Unterscheidung des endlichen Lebensvollzuges und der endgültigen Wahrheit sieht Pannenberg für das Christentum als grundlegend an. Von daher muss Raum sein für plurale christliche Deutungen und Vollzüge, ohne dass die Einheit des Christentums automatisch infrage gestellt wird. „Das ist auf christlichem Boden möglich, weil das Christentum zwar auf einer Offenbarung endgültiger Wahrheit beruht, aber die Gestalt dieser Offenbarung ausdrücklich als vorläufig versteht.“106 Die für den christlichen Glauben grundlegende Struktur, die zwischen der Wahrheit des eigenen Glaubens und der eschatologischen Wahrheit unterscheidet, ist nach Pannenberg kennzeichnend für das christliche Bekenntnis. Bekenntnis bedeutet für ihn endgültige Parteinahme für Jesus Christus. Aufgrund dieser Funktion hat das Bekenntnis in der nachösterlichen Situation die Entwicklung von Lehrformeln freigesetzt, die gemeinsam bekannt wurden. Auf diese Weise sollte gewährleistet sein, dass mit dem Bekenntnis auch Jesus Christus gemeint ist. Die eschatologische Endgültigkeit, die dem Bekenntnis eignet, ist aber nicht in den Lehrformeln begründet, sondern in seiner Intention, also in der Parteinahme für Christus. Die Lehre bleibt demgegenüber vorläufig. Sie ist von dem apostolischen Zeugnis her immer wieder zu überprüfen, was an ihr zeitbedingt und was an ihr von bleibender Wahrheit ist.107 Der Unterschied zwischen dem Akt des Bekennens, das endgültig ist, und der kirchlichen Lehre, die vorläufig ist, muss im kirchlichen Leben gewahrt bleiben. „Keine Kirche bekennt sich zu einer Lehre als solcher, sondern die christlichen Kirchen bekennen sich durch die Lehre zu dem einen Jesus Christus.“108 Die Konsequenz dieser Einsicht ist für Pannenberg, dass die in der Geschichte des Christentums entstandenen dogmatischen Lehrformulierungen, die für ihn

105 106 107 108

Pannenberg, Thesen, 17. Pannenberg, Thesen, 18. Zum Bekenntnis bei Pannenberg vgl. Kap. 4.3. Pannenberg, Konfessionen, 248.

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ebenfalls Bekenntnisformulierungen darstellen,109 an ihrer Intention überprüft werden müssen. Das bedeutet, dass sie daraufhin befragt werden müssen, ob sie „sich als Bedingungen wirklicher Glaubensverbundenheit des einzelnen Christen mit Jesus Christus erweisen lassen.“110 Eine solche Überprüfung hält er für möglich aufgrund des Neuen Testamentes und der hier festgehaltenen Bedingungen für ein Bekenntnis zu Jesus Christus. Die biblischen Zeugnisse können diese Funktion einnehmen, da sie für Pannenberg zwar nicht gänzlich, aber in sehr hohem Maße von der Lehr- und Dogmenbildung unabhängig sind. Fungiert die Schrift dergestalt als kritische Instanz der Bekenntnisbildung, ist damit nicht gesagt, dass die spätere Bekenntnisbildung nicht über die Schrift hinausgehen darf. Sie muss sogar über die biblischen Zeugnisse hinausgehen, da spätere Lehrbestände die Bedingungen des Bekenntnisses zu Jesus Christus in einer anderen Zeit formulieren, mit der ihr eigenen Sprache sowie den ihr eigenen Problemen und Herausforderungen. Der jeweils aktuelle Bezug einer Bekenntnisformulierung auf eine bestimmte geschichtliche Situation rechtfertigt das Hinausgehen über biblische Aussagen, beschränkt allerdings zugleich auch den Geltungsanspruch der so entstehenden Formulierungen111.

Dabei wird es nicht zu gänzlich neuen Lehrbildungen kommen, sondern zu Neuformulierungen des apostolischen Evangeliums. Eine solche Neuformulierung ist notwendig, da zu einer späteren Zeit das Christentum wieder vor neuen Problemen stehen wird und so der christliche Glaube neu ausgelegt werden muss. Kriterium der Neuformulierung bleibt das biblische Zeugnis. „Das in der Schrift bezeugte Evangelium muß die kirchliche Lehrverkündigung und auch die Theologie gerade da leiten, wo sie anders formuliert als die Schrift.“112 In einem solchen Prozess wird sowohl der Intention der kirchlichen Lehrbildung als auch der Intention des apostolischen Evangeliums entsprochen. Denn das Evangelium drängt aufgrund seines Anspruches, die endgültige Offenbarung Gottes in Jesus Christus zu bezeugen, aus sich heraus darauf, in immer wieder neuen Situationen 109 110 111 112

Vgl. Pannenberg, Konfessionen, 247f. Pannenberg, Konfessionen, 248. Pannenberg, Konfessionen, 249. Pannenberg, Dogmatische Theologie, 157. Unter den Lehrbildungen innerhalb der Geschichte des Christentums nimmt für Pannenberg das Symbol von Nicaea-Konstantinopel eine besondere Bedeutung ein. Vgl. Kap. 4.2.2.1. Als Gesamtheit beanspruchendes Zeugnis des kirchlichen Glaubens ist es auch für die Ökumene von zentraler Bedeutung. Daher hätte sich Pannenberg gewünscht, dass im Zuge der von dem Weltkirchenrat veranlassten ökumenischen Auslegung des Symbols von Nicaea-Konstantinopel (vgl. World Council of Churches/Commission on Faith and Order, Gemeinsam), dieses von Repräsentanten aller Kirchen öffentlich als Ausdruck des gemeinsamen Glaubens gesprochen worden wäre. Darin hätte er einen wirkmächtigen Schritt auf dem Weg zur Einheit der Kirchen erblickt. Vgl. Pannenberg, Glauben und Kirchenverfassung, 331f.

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neu entfaltet zu werden. Und das Ziel der kirchlichen Lehre ist es, der in der Schrift bezeugten endgültigen Offenbarung Gottes in Christus zu dienen und ihre Bedeutung zu entfalten.113 Die Einheit der unterschiedlichen Bekenntnisse durch die Zeiten liegt für Pannenberg in ihrer Grundintention, den Glauben an Jesus Christus zu bekennen, wie ihn das apostolische Evangelium verkündigt. Und diese Intention ist der hermeneutische Schlüssel zu den Sachaussagen der Bekenntnisse. Auf diese Weise sind dann auch die teilweise gegensätzlichen Lehrbildungen der Konfessionen zu behandeln. Sie können so trotz ihrer Gegensätzlichkeit produktiv interpretiert werden, indem sie im Licht ihrer eigenen Intention gelesen werden, nämlich Bedingungen zu formulieren, unter denen das Bekenntnis Jesus Christus gilt. Denn trotz ihrer Gegensätzlichkeit sind die konfessionellen Lehrbildungen Deutungen des einen Glaubens an den einen Christus. Aus der Perspektive heutiger Christuserkenntnis ist es für Pannenberg dann möglich zu beschreiben, inwieweit es in den verschiedenen Lehrbeständen um die Deutung der einen Wirklichkeit Christi ging. Durch diese produktive Interpretation der gegensätzlichen Lehraussagen kann der Inhalt der Aussagen bei dem Versuch aufgenommen werden, gegenwärtig Bekenntnisformulierungen zu finden, die der Wirklichkeit Christi entsprechen. In dem Maße, wie sich dabei der intendierte Inhalt der verschiedenen Bekenntnisformulierungen als ein einziger, nämlich als mit der einen Wirklichkeit Jesu Christi verbunden erweist, werden die gegenseitigen Exkommunikationen der Vergangenheit überwindbar.114

Einen solchen Zugang zu gegensätzlichen Lehrüberlieferungen, der die Intentionen letzterer ernstnimmt, sieht Pannenberg in der Leuenberger Konkordie

113 Vgl. Pannenberg, Dogmatische Theologie, 155–158. Eine solche grundlegende Bedeutung der Schrift sieht Pannenberg als ökumenischen Konsens an. So konstatiert er 1993, dass die unterschiedlichen ökumenischen Dialoge und Begegnungen gezeigt haben, dass trotz verschiedenster Lehrtradition und trotz unterschiedlichen Schriftgebrauchs allen gemeinsam ist, dass sie die Autorität der biblischen Zeugnisse in hohem Maße achten. Innerhalb der katholischen Kirche sieht er diese Hochschätzung der Schrift bereits im zweiten Vatikanum grundgelegt. Zum einen dadurch, dass die hier beschlossenen Texte sich grundsätzlich an der biblischen Sprache orientieren und nicht mehr an der Sprache der Schultheologie. Zum anderen durch die Verlautbarungen in Dei Verbum, welches die Schrift zum Maßstab christlicher Verkündigung und Frömmigkeit erhebt und die Funktion der Lehre darin bestimmt, der Auslegung des in der Bibel bezeugten Wortes Gottes zu dienen. Vgl. Pannenberg, Dogmatische Theologie, 155f. Allerdings fragt Pannenberg hier mit Ratzinger an, was eine Unterordnung der Lehrtradition und damit des Lehramtes unter die Schrift genau bedeutet und wie sich eine solche vollzieht. Diese Fragen sind für ihn in den Verlautbarungen des zweiten Vatikanums und auch danach durch die katholische Kirche nicht geklärt worden. Vgl. Pannenberg, Verurteilungen, 312. 114 Pannenberg, Konfessionen, 250.

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gegeben; auch wenn er hier die methodischen Voraussetzungen einer solchen Interpretation nicht geklärt sieht.115 Ist so im Christentum der Raum eröffnet für plurale Traditions- und Dogmenbildungen, folgert Pannenberg daraus die Notwendigkeit, dass die verschiedenen Kirchen die vorläufige Wahrheit der je anderen Traditionen anerkennen müssen. Damit eine Kirche und deren Traditionen als wahr anerkannt werden können, und das bedeutet anerkannt werden können als Verwirklichung der einen, wahrhaft katholischen Kirche, ist es für Pannenberg unumgänglich, dass die jeweilige Kirche um ihre eigene Vorläufigkeit weiß. Sie muss offen sein für Veränderungen von der Zukunft des anbrechenden Reiches Gottes her und darf ihre eigene Partikularität nicht mit der Endgültigkeit der eschatologischen Wahrheit verwechseln. Nur so kann die eine katholische Kirche in einer der voneinander getrennten Kirchen sichtbar werden: In dieser Lage (der getrennten Kirchen/B.A.) aber ist das Maß der Sichtbarkeit der Kirche Christi in den heutigen Konfessionskirchen unter anderem auch abhängig von ihrer Offenheit auf eine größere und umfassendere Verwirklichung der Katholizität der Kirche Christi in einer alle Christen umfassenden Gemeinschaft hin, in der die heute noch einander ausschließenden Konfessionskirchen einmal Teilkirchen einer umfassenderen, wahrhaft katholischen Kirche sein können.116

Eine Kirche darf sich nicht verschließen in der Wahrheit ihrer eigenen Deutungen und Vollzüge, sondern muss offen sein für die Deutungen und Vollzüge der anderen Kirchen und für Kritik im Lichte der eschatologischen Wahrheit Gottes. Dies ist notwendige Bedingung dafür, dass in einer Kirche die eine Kirche Jesu Christi sichtbar wird. Dadurch ist es möglich, die Vielstimmigkeit der Dogmenund Theologiegeschichte in gegenwärtiger Lehrbildung Rechnung zu tragen. So können die Traditionen der anderen Konfessionen Verkürzungen der eigenen Tradition aufzeigen und einen selbstkritischen Umgang mit der persönlichen konfessionellen Prägung ermöglichen. Es gilt vielmehr, auch die Tradition der anderen Konfessionen als Teil der eigenen, nämlich als Bestandteil der einen, aber mannigfach verzweigten Geschichte christlicher Theologie zu rezipieren – in derselben kritischen Haltung, die auch den Umgang mit der eigenen konfessionellen Tradition im Lichte der Aufgabe der Explikation der Wahrheit des Evangeliums bestimmen sollte.117

Pannenberg selbst treibt Theologie in genau diesem Bewusstsein. Er ist um Selbstkritik an der eigenen Tradition bemüht, wie es sich z. B. in seiner Kritik an der Rechtfertigungslehre lutherischer Prägung zeigt,118 und versucht den 115 116 117 118

Vgl. Pannenberg, Konfessionen, 250f. Pannenberg, Glaubenswirklichkeit, 204f. Pannenberg, Dogmatische Theologie, 160. Vgl. Kap. 4.3.1. Diesen selbstkritischen Umgang mit der eigenen Tradition lässt Koch meines

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Reichtum der anderen konfessionellen Traditionen in seiner eigenen Theologie fruchtbar zu machen. In der Ekklesiologie hat sich dies z. B. in der Betonung der Funktion des Heiligen Geistes in der Eucharistie gezeigt und wird besonders deutlich in seinen amtstheologischen Bestimmungen.119 Das Bewusstsein für die eigene Vorläufigkeit muss grundlegend für das Christentum sein. Es weiß zu unterscheiden zwischen der Endgültigkeit des Glaubens, durch welchen die eschatologische Bestimmung des Menschen im Leben des Einzelnen gegenwärtig wird und der Vorläufigkeit jeglicher Deutung dieses Glaubens. Daraus folgert Pannenberg dass die verschiedenen Konfessionen und ihre Traditionen sich gegenseitig anerkennen als partikularer Ausdruck der eschatologischen Fülle. Die Bedingungen zu klären, nach denen eine solche gegenseitige Anerkennung möglich ist, ist für Pannenberg ein offener Prozess. Denn das Ziel solcher Anerkennung muss für Pannenberg die Kirchengemeinschaft der noch getrennten Kirchen sein. „Kirchengemeinschaft ist nur möglich auf der Basis eines gemeinsamen Glaubensbewußtseins, das aber für unterschiedliche Formen, den Glauben an den einen Herrn auszudrücken, Raum bieten muß.“120 Es muss Raum bleiben für die verschiedenen Lehrbildungen, für verschiedene Formen des gottesdienstlichen Lebens, für verschieden ausgestaltete Kirchenverfassungen; Raum in der Gemeinschaft der unterschiedlich geprägten Kirchen. Diesem Ziel sieht er die Ökumenische Bewegung verpflichtet, welche durch zahlreiche Begegnungen einer solchen Einheit der Kirche in der Pluralität der Konfessionen näher gekommen ist. Nur so kann die der Christenheit vorgegebene Einheit sichtbar werden. „Das Ausmaß der hier nötigen, aber zur Wahrung der Gemeinschaft auch hinreichenden Übereinstimmung zu

Erachtens in der von ihm gehaltenen Pannenberg-Lecture vermissen. Koch bezieht sich zwar auf den kritischen Umgang Pannenbergs mit der eigenen Tradition, z. B. in der Rezeption der Kritik Pannenbergs an dem Scheitern der Reformation aufgrund der Spaltung der Kirche (vgl. Koch, Reformationsgedenken, 28f; vgl. dazu Kap. 5.2.3) oder in der Anlehnung an den kritischen Umgang Pannenbergs mit der lutherischen Rechtfertigungslehre (vgl. Koch, Reformationsgedenken, 35f). Demgegenüber unterlässt Koch aber einen kritischen Umgang mit der eigenen Tradition und Geschichte, wenn er aufgrund des Konzils von Trient, für ihn ein Konzil der Reform, „auch die Katholische Kirche als „Ecclesia semper reformanda“ (Koch, Reformationsgedenken, 26) bezeichnet. Ein kritischer Umgang mit der Verfasstheit der mittelalterlichen Kirche unterbleibt, verstärkt dadurch, dass er die Reformbemühungen des Franziskus von Asissi als idealtypisch denen Luthers gegenüberstellt, da sich bei Franziskus ein radikaler Reformeifer zeigt, in der Einheit mit der Kirche, der nicht zu deren Spaltung führte. Vgl. Koch, Reformationsgedenken, 27f. An das Bemühen Pannenbergs, die verschiedenen christlichen Traditionen auf ihren Beitrag zum christlichen Glauben zu befragen und die eigene Prägung und Tradition kritisch zu hinterfragen, schließt Koch in diesen Ausführungen nicht an. 119 Zur Funktion des Heiligen Geistes in der Eucharistie vgl. Kap. 4.4.2; Pannenbergs theologische Deutung des Amtes wird Gegenstand von Kap. 5.3 sein. 120 Pannenberg, Dogmatische Theologie, 164.

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ermitteln,“121 begreift Pannenberg als Pflicht der Kirche und Theologie. Damit eine solche Kirchengemeinschaft Realität wird, ist allerdings die Überwindung der in der Kirchengeschichte vollzogenen Spaltungen und Verwerfungen unumgänglich. Denn diese besiegelten nicht die Einheit, sondern die Trennung der Christenheit.

5.2.3 Die notwendige kritische Revision der gegenseitigen Spaltungen und Verwerfungen in der Kirchengeschichte Für eine Einheit in der versöhnten Vielfalt, die von gegenseitiger Anerkennung getragen ist, wird nach Pannenberg eine Revision der Spaltungen und Verwerfungen notwendig sein. Denn zu einer versöhnten Vielfalt stehen die Spaltungen der Kirchengeschichte und die damit einhergehenden gegenseitigen Verwerfungen in einem fundamentalen Gegensatz. Von daher sind diese aus der gegenwärtigen Perspektive heraus neu zu betrachten und zu beurteilen. Dabei gibt es Trennungen, die für Pannenberg durchaus notwendig waren; immer dann 121 Pannenberg, Dogmatische Theologie, 164. In der Spätphase seines akademischen Wirkens (1996) sieht Pannenberg im Anschluss an die Stellungnahme der katholischen Bischofskonferenz in Deutschland zu Lehrverurteilungen Bd. I folgende Probleme bzw. offene Fragen, bezüglich derer es auf dem Weg zur Kirchengemeinschaft gerade mit der katholischen Kirche noch der Verständigung bedarf: 1. Eine genauere Bestimmung des Verhältnisses von Autorität der Schrift, Lehrtradition und Kirche. In diesem Themenfeld ist die Verbindlichkeit von geschichtlichen Lehrdokumenten zu klären sowie das Verhältnis von Gesetz und Evangelium. 2. In der Rechtfertigungslehre besteht noch Differenz hinsichtlich der Vorbereitung zur Rechtfertigung, welche Bedeutung der Kirche und den Sakramenten bei der Rechtfertigung zukommt und wie die guten Werke zu beurteilen sind. 3. Hinsichtlich der Sakramentenlehre ist nach Pannenberg zum einen ungeklärt, wie mit den gewandelten Elementen nach dem Gottesdienst zu verfahren ist. Zum anderen bedarf es weiterer Klärung bezüglich der Sakramente, abgesehen von Taufe und Abendmahl. Gerade bei letzterem sieht Pannenberg eine Verständigung erreicht, auch hinsichtlich des Messopfercharakters der Eucharistie, mit welcher eigentlich gemeint ist, dass die Glaubenden einbezogen werden in die Hingabe des Sohnes an den Vater. 4. Eine zentrale Herausforderung sind für Pannenberg Fragen bezüglich des Amtes und der Ordination. Hier wird es einmal um das Verhältnis von altkirchlichem Bischofsamt und evangelischem Pfarramt gehen, sowie unabhängig davon eine Verständigung über das heutige Verhältnis von Pfarr- und Bischofsamt. Auf dieser Grundlage ist dann auch die Frage der apostolischen Sukzession zu klären. Und es wird zu klären sein, ob es Teil des Wesens des kirchlichen Amtes ist, dreigegliedert zu sein in Diakon, Priester und Bischof. Teil der Verständigungen zum Amt muss für Pannenberg auch das Thema der Frauenordination sein, welches die Bischofskonferenz in ihrer Stellungnahme zu seiner Verwunderung ausspart. 5. Eng verbunden mit Fragen des kirchlichen Amtes ist die Frage des Petrusamtes des römischen Bischofs. Hier bedarf es einer Verständigung bezüglich des päpstlichen Lehramtes und der Unfehlbarkeit des Papstes, des Verhältnisses von Papstamt und Konzilien sowie der Rechtsansprüche des lat. Patriarchats, welche die in diesem Gebiet sich befindenden evangelischen Kirchen betreffen. Vgl. Pannenberg, Verurteilungen, 309–316.

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nämlich, wenn der Glaube an Christus und damit die Gemeinschaft der Glaubenden verlassen wurde. Hierfür nennt er als Beispiel die Lehren der Gnosis und des Arianismus, die nach seinem Urteil zurecht verworfen wurden.122 Anders gestaltet es sich in seinen Augen mit den Gegensätzen, die sich nach dem Konzil von Chalkedon 451 entwickelt haben, mit dem Bruch zwischen östlicher und westlicher Christenheit im 11. Jh. und mit den Kirchenspaltungen im Zuge der Reformation: Waren und sind diese Spaltungen wirklich unvermeidlich um des Glaubens und des Bekenntnisses zu Jesus Christus willen, oder handelt es sich vielmehr um Katastrophen der Kirchengeschichte mit weitreichenden verhängnisvollen Folgen123?

Hinsichtlich der Spaltungen im Zuge der Reformation kommt Pannenberg zu dem Urteil, dass diese im Lichte des Glaubens sowie des Bekenntnisses nicht zwingend notwendig waren. Ziel der Reformatoren war jedenfalls nicht die Gründung einer eigenen, von Rom getrennten Kirche. Vielmehr zielte sie auf eine Reform der gesamten Kirche. „Weder Luther noch Rom wollten die Spaltung der Kirche.“124 Letztere beurteilt Pannenberg als ungewolltes Ergebnis gegenseitiger Missverständnisse, Verzeichnungen und Polemisierungen.125 Der Prozess, der zu der Spaltung der Kirche führte, wurde begünstigt durch die Neuartigkeit einiger reformatorischen Einsichten, die Sorge der Bischöfe um ihr Ansehen und ihre Autorität, persönliche Rivalitäten und eine fehlende spirituelle Sensibilität seitens der Gegner Luthers diesem gegenüber.126 Rein theologische Gründe waren es damit für Pannenberg nicht, aus denen heraus die Trennung der Kirchen unumgänglich war, auch nicht aufgrund der Auseinandersetzungen um die Rechtfertigungslehre. Er sieht es bereits in den 1970er Jahren als gerade von der römisch-katholischen Lutherforschung herausgearbeiteten Konsens an, dass die lutherische Rechtfertigungslehre zwar in Denkformen entwickelt wurde, die der Tradition der Scholastik fremd waren; dass aber die Rechtfertigungslehre in ihrer Substanz genuin christliche Wahrheiten formuliert, die auch auf römisch-katholischer Seite nicht zu bestreiten sind.127 Hier kann also eigentlich nicht der Grund für die damals vollzogene Trennung der Kirchen liegen.

122 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 448. 123 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 448. 124 Pannenberg, Kirchenspaltung, 171. Dass die Reformation eine ungewollte Spaltung der Kirche nach sich zog, lässt Pannenberg von einem Scheitern der Reformation sprechen. Eine geeinte Kirche, welche das Ziel der ökumenischen Bewegung ist, wäre hingegen auf die gesamte Kirche bezogen erst die Vollendung der Reformation. Vgl. Pannenberg, Neuzeit, 34 sowie ders., Prinzip, 188–190. 125 Vgl. Pannenberg, Verurteilungen, 305f. 126 Vgl. Pannenberg, Kirchenspaltung, 165f. 127 Vgl. Pannenberg, Reformation, 259.

220

Einheit und Pluralität der Kirche

Die wesentliche Ursache für die Spaltungen liegt für Pannenberg somit jenseits der Theologie und auch jenseits vereinzelter Missverständnisse und Polemiken. Der zentrale Grund ist für ihn der desolate Zustand der mittelalterlichen Kirche und im Kern ihre hierarchische Verfasstheit. Es war die hierarchische Struktur der mittelalterlichen Amtskirche, die dazu führte, daß Mißverständnisse im Zusammenhang mit einer offenen Kritik an heute auch auf katholischer Seite bedauerten kirchlichen Mißbräuchen und in Verbindung mit ungewohnten theologischen Formulierungen zu einer Kirchenspaltung führen konnten.128

Sind die Kirchenspaltungen der Reformation für Pannenberg daher wesentlich in der damaligen Verfasstheit der Kirche begründet, will er damit nicht die theologischen Differenzen jener Zeit bagatellisieren. Er ist nicht der Auffassung, dass alle an den Auseinandersetzungen Beteiligten dieselben Positionen vertraten in einer für den je anderen missverständlichen Sprache. Im Gegenteil, er hält an den in den Auseinandersetzungen sich zeigenden und bis heute bestehenden Lehrdifferenzen fest. Aber aus den Lehrdifferenzen folgt nicht notwendig die gegenseitige Verurteilung. Die Gegensätze können als Gegensätze theologischer Schulen beurteilt werden, die die Einheit der Kirche nicht zerstören, sondern innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft ausgetragen werden.129

Und eben dies ist das Ziel der ökumenischen Annäherung und der gegenseitige Anerkennung: Dass die verschiedenen Konfessionen sich anerkennen als verschiedene christliche Traditionen, als verschiedene theologische Schulen, aber als Traditionen und Schulen innerhalb der geeinten Christenheit. Damit eine solche Einheit der verschiedenen Konfessionen möglich ist, bedarf es darum nicht einer Aufgabe der Differenzen, aber einer Überwindung der gegenseitigen Verurteilungen, die diese Einheit aufkündigen. Dafür ist nicht nur eine theologische Neubewertung dieser Verurteilungen nötig, sondern es braucht darüber hinaus das öffentliche Schuldbekenntnis der getrennten Kirchen: „Alle christlichen Kirchen müssen sich zusammenfinden im Bekenntnis ihrer gemeinsamen Schuld an der christlichen Spaltung, sowie ihrer gemeinsamen Verantwortung auch für deren Folgen.“130 Die in der Kirchengeschichte vollzogenen Spaltungen und Verwerfungen zwischen den Konfessionen stehen einer Einheit der Kirche in der versöhnten 128 Pannenberg, Reformation, 260. 129 Pannenberg, Verurteilungen, 305. 130 Pannenberg, Glaubenswirklichkeit, 203. Daher war es für Pannenberg auch einer der spirituellen Höhepunkte des zweiten Vatikanums, dass dieses sich in Unitatis redintegratio zur Schuld aller Kirchen einschließlich der römisch-katholischen an den Spaltungen innerhalb der Christenheit bekannt hat und dass das Konzil dadurch die Ausdrucksformen auch der eigenen Katholizität beeinträchtigt sieht. Vgl. Pannenberg, Glaubenswirklichkeit, 202.

Ökumenische Katholizität: Einheit in der Vielfalt

221

Verschiedenheit der pluralen Traditionen fundamental entgegen. Letztere ist das Ziel der ökumenischen Bestimmungen Pannenbergs. Hierfür bedarf es der gegenseitigen Anerkennung der unterschiedlichen Konfessionen, dass jede von ihnen partikularer Ausdruck der eschatologischen Fülle ist. Für eine Einheit der Kirche reicht aber eine solche versöhnte Gemeinschaft der verschiedenen Konfessionen nicht aus. Vielmehr muss nach Pannenberg die Einheit der Kirche sichtbar werden, um wirkliche Einheit zu sein. Nur so ist sie Ausdruck der im Glauben bereits realisierten Einheit. Und nur als eine solche sich realisierende Einheit kann die Religion die Funktionen einnehmen, die der Religion im Leben des Einzelnen und der Gesellschaft zukommt. Sichtbar wird die Einheit der Kirche für ihn zum einen in der Formulierung des Gemeinsamen. Es reicht nicht aus, das Trennende zurückzulassen, sondern die Konfessionen müssen das Gemeinsame ihres Glaubens formulieren. Zum anderen wird die Einheit der Kirche sichtbar in dem primären Ziel, von dem nach Pannenberg alle ökumenischen Bemühungen getragen sein müssen: In der gemeinsamen Feier des Abendmahls.

5.2.4 Die verwirklichte Einheit der Kirchen als Symbol für die Einheit der Menschheit Im Zentrum der ökumenischen Theologie Pannenbergs und seines ökumenischen Engagements steht ein Ziel: Die gemeinsame Abendmahlsfeier der (noch) getrennten Kirchen. Denn die Einheit der Kirche ist in jeder Feier des Abendmahls bereits gegenwärtig und muss daher im Leben der Kirchen über diese Feier hinaus wirksam werden. Grundlage einer gemeinsamen Feier sind vorangehende theologische Klärungen, besonders hinsichtlich der in der Kirchengeschichte ausgesprochenen Verwerfungen. Wer sich […] offiziell gegenseitig verdammt, kann nicht gemeinsam zum Tisch des Herrn gehen, weil das Mahl Jesu nicht nur jeden einzelnen für sich mit ihm verbindet, sondern auch die Mahlgenossen untereinander. Abendmahlsgemeinschaft und gegenseitige Verurteilungen sind daher unvereinbar.131

Gerade in einer solchen sich in der Eucharistie vollziehenden Einheit unterscheidet sich die innerchristliche Ökumene vom interreligiösen Dialog. Der interreligiöse Dialog zielt auf Kooperation der Religionen angesichts bestimmter Herausforderungen wie Frieden und Gerechtigkeit oder ökologischen Fragen. In einer multikulturellen Welt ist hierfür der interreligiöse Dialog unumgänglich, da dieser die gegenseitige Anerkennung zwischen den Kulturen stärken kann. Und 131 Pannenberg, Verurteilungen, 304.

222

Einheit und Pluralität der Kirche

auch die Kirchen stehen für Pannenberg vor einer Verantwortung für solche ethischen Menschheitsfragen und auch hierfür ist der ökumenische Dialog von Bedeutung. Aber solche gemeinsame Verantwortung sieht Pannenberg nicht als das erste Ziel der ökumenischen Bemühungen. Das erste Ziel ist die Wiederherstellung der kirchlichen Einheit, die sich in der Eucharistie vollzieht und die aus der Einheit im Glauben folgt. Und nur wenn solche Einheit realisiert ist, spricht die geeinte Kirche auch in Lebensfragen mit ausreichend Gewicht.132 Eine auf diese Weise geeinte Kirche wäre nach Pannenberg für die Menschheit von enormer Bedeutung. Denn eine in der Pluralität vereinte Kirche, die in ihrer Vielfalt sich zu dem einen Herrn bekennt und deren Einheit im gemeinsamen Abendmahl sichtbar und erneuert wird, wäre eine entscheidende Etappe auf dem Weg zur einer in Frieden und Gerechtigkeit geeinten Menschheit; auch wenn letztere erst eschatologisch vollkommen realisiert sein wird. Aber eine in Vielfalt geeinte Kirche wäre ein wirkmächtiges Symbol für das Zusammenleben der Völker, die von unterschiedlichsten kulturellen und religiösen Traditionen geprägt sind. Die reale Situation der Menschheit ist gekennzeichnet durch Konkurrenz und Interessenkonflikte, durch Übermut der Sieger und der Herrschenden, durch Ressentiment der Benachteiligten, gewaltsame Befreiung und neue Unterdrückung.133

Die darin begründete Gefährdung einer in Frieden und Gerechtigkeit geeinten Menschheit wird verstärkt durch Konflikte zwischen den Völkern und Kulturen. Aber auch die Einheit innerhalb einer Gesellschaft ist immer wieder bedroht durch einander widerstreitende Interessen verschiedener Gruppen sowie des Gegensatzes zwischen Herrschern und Beherrschten. Eine in Vielfalt vereinte Kirche könnte solchen Tendenzen entgegentreten. Denn wenn diese gelingen würde, würde es der Kirche gelingen, „damit zugleich ein Modell zu schaffen für die Vereinbarkeit von Einheit und Pluralität auch im Verhältnis zu anderen Religionen und im Bereich der politischen Welt.“134 Eine Pluralität, die für Pannenberg dezidiert nicht schrankenlos und gänzlich beliebig ist, sondern eine Pluralität unterschiedlicher Glaubenstraditionen in einem Rahmen gemeinsamer Überzeugungen und Vollzüge. Nur als eine solche Pluralität, die sich auf dem Boden gemeinsamer Grundüberzeugungen vollzieht, kann eine geeinte Kirche wirksames Symbol sein für eine geeinte Menschheit. „Realistisch ist also nur ein 132 Vgl. Pannenberg, Glauben und Kirchenverfassung, 328–330. 133 Pannenberg, Menschheit, 323. 134 Pannenberg, Menschheit, 332. Rebekka Klein urteilt über die Ekklesiologie Pannenbergs, dass in dieser die Verschiedenheit, Heterogenität und Pluralität nicht einbezogen wird; dass in dieser der soziale Antagonismus zwischen den Individuen als nur scheinbar beurteilt wird und vom Gottesreich her überwindbar. Vgl. Klein, Einheit, 132. Es ist richtig, dass für Pannenberg im Reich Gottes die Antagonismen zwischen den Individuen aufgehoben sind. Aber eben nicht in Homogenität, sondern in versöhnter Pluralität und Verschiedenheit.

Das kirchliche Amt – Dienst an der Einheit

223

gemäßigter Pluralismus, Anerkennung von Pluralität im Rahmen einer irgendwie gegebenen Einheit.“135

5.3

Das kirchliche Amt – Dienst an der Einheit

Alle Kirchen stehen nach Pannenberg vor der Aufgabe, die ihnen in Eucharistie und Glauben vorgegebene Einheit zu realisieren. Auf dem Weg zu einer solchen Einheit, die in der gemeinsamen Feier des Abendmahls ihren sichtbaren Höhepunkt findet, ist neben der Überwindung der Verurteilungen und Spaltungen vor allem die gegenseitige Anerkennung des Amtes von fundamentaler Bedeutung. Dies hat einen zentralen theologischen Grund. Sowohl die Eucharistie als auch das Amt sind auf die Einheit der Kirche bezogen.136 Denn genau hierin besteht für Pannenberg die zentrale Funktion des kirchlichen Amtes: Es muss der Einheit dienen. Zum einen ist dieser Dienst auf die Ortsgemeinde bezogen, da die verschiedenen Gaben und Bereiche in einer Gemeinde zu einer Einheit integriert werden müssen. Zum anderen gilt dieser Dienst der Einheit der verschiedenen Ortsgemeinden untereinander, die eine Gemeinschaft sind im Glauben an den einen Herrn Jesus Christus.137 Den bisherigen Bestimmung zu Pannenbergs Einheitsverständnis folgend bedeutet dies, dass die Ausübung des kirchlichen Amtes „nicht mehr durch Uniformisierung der vorgegebenen Vielfalt erfolgen darf“138. Stattdessen muß ein ausgleichendes, den Frieden zwischen den vielfältigen Richtungen vermittelndes Wirken an Stelle bürokratischer oder autistischer Herrschaft den Charakter kirchenleitender Ämter und ihrer öffentlichen Verkündigung auf allen Ebenen bestimmen.139

Da die Einheit zu repräsentieren und zu fördern die theologische Funktion des kirchlichen Amtes ist, ist ihm auch die Verkündigung des Evangeliums und die Verwaltung der Sakramente übertragen. Daher obliegt dem Amtsträger die Leitung einer Gemeinde und die Verantwortung für deren Organisation.140 135 136 137 138 139 140

Pannenberg, Pluralismus, 24. Vgl. Pannenberg, Lima-Texte, 124f. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 452f. Pannenberg, Thesen, 48. Pannenberg, Thesen, 48. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 405f. Gerade das Abendmahl, das Sakrament der Einheit, zu feiern, obliegt nach Pannenberg allein dem ordinierten kirchlichen Amtsträger. Die in den evangelischen Kirchen Deutschlands verbreitete Praxis, dass durch Beauftragung das Abendmahl ohne Ordination verwaltet werden kann bzw. Vikare von den Predigerseminarsleitungen dazu angehalten werden, das Abendmahl zu feiern, ist für Pannenberg eine kirchliche Praxis von weitreichender, ökumenischer Bedeutung. Der Weg

224

Einheit und Pluralität der Kirche

Ist die Einheit die zentrale Funktion des kirchlichen Amtes, so ergeben sich daraus auch die Kriterien für das Handeln der kirchlichen Amtsträger. Dieses muss an den Wesensattributen der Kirche ausgerichtet sein, welche die Einheit konkretisieren. Das kirchliche Amt muss also apostolisch sein, das heißt, es muss die apostolische Sendung fortführen, indem es vor der Welt das in Jesus Christus angebrochene Reich Gottes bezeugt. Daher bedeutet apostolisches Handeln für Pannenberg auch die Bereitschaft, traditionelle Denk- und Lebensformen in der Treue zum apostolischen Ursprung immer wieder zu hinterfragen, damit die Auslegung der Bedeutung Christi in der Gegenwart gelingen kann.141 Und das kirchliche Amt muss katholisch sein, indem es um die Vorläufigkeit der eigenen konfessionellen Formen und Traditionen weiß und offen ist für die Gemeinschaft mit allen Christen zu allen Zeiten. Dabei ist es gerade darin katholisch, wenn es von einer Offenheit für die Zukunft bestimmt ist und darin offen ist für alle, die sich noch nicht zum Christentum bekennen. Des Weiteren ist das kirchliche Amt der Heiligkeit verpflichtet. Dies bedeutet für Pannenberg, dass die Amtsträger Mut haben sollen, das Christliche zu bekennen, gerade dort, wo das Christentum in Opposition zu bestehenden Vorurteilen und gegenwärtigen Herrschaftsstrukturen steht. In alledem dient das kirchliche Amt der Einheit, „nicht im Sinne einer bürokratisch hergestellten Uniformität, sondern durch gegenseitige Anerkennung verschiedener Ausprägungen christlichen Lebens und Denkens aus dem Geist der Liebe.“142 Dass die Einheit die zentrale Aufgabe des kirchlichen Amtes ist, zeigt sich für Pannenberg auch in seiner geschichtlichen Entstehung. Letzterer nachzugehen wird dazu beitragen, das Verhältnis vom allgemeinen Auftrag aller Christen und dem besonderen Dienst kirchlicher Amtsträger darzulegen (Kap. 5.3.1). Daran anschließend sollen Pannenbergs Bestimmungen zur Einsetzung ins kirchliche Amt, zur Ordination in den Blick genommen werden (Kap. 5.3.2), um abschließend seinen Ausführungen bezüglich der konkreten Ausgestaltung des kirchlichen Amtes nachzugehen (Kap. 5.3.3).

zu einer Einheit der Kirchen, gerade auch zu der von Pannenberg erhofften vollzogenen Einheit in gemeinsamen Abendmahlsfeiern, wird dadurch extrem erschwert. Vgl. Pannenberg, Differenzen, 132f sowie ders., Antwort, 167. 141 Vgl. Pannenberg, Thesen, 44f. 142 Pannenberg, Thesen, 45.

Das kirchliche Amt – Dienst an der Einheit

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5.3.1 Der Auftrag jedes Christen und der besondere Dienst des kirchlichen Amtes Um das besondere Amt und deren Eigenart zu bestimmen, muss nach Pannenberg von der Berufung der gesamten Kirche ausgegangen werden. „Diese gemeinsame Berufung aller Christen besteht darin, die Sendung Jesu Christi zum Zeugnis für die Gottesherrschaft fortzuführen.“143 Diese Fortsetzung der jesuanischen Sendung durch alle Jünger sieht Pannenberg durch die biblischen Worte in Joh 20,21 und Lk 10,16 bzw. Joh 13,20 begründet sowie den Wiederholungsbefehl bei der Einsetzung des Abendmahls (Lk 22,1), der sich an alle Jünger Jesu richtet.144 Aus der Teilnahme aller Christen an der Sendung Jesu wurde nach Pannenberg von der Alten Kirche die Teilhabe aller am Priester- und Königtum Jesu abgeleitet. In dieser Tradition sieht er dann auch die reformatorische Lehre vom Priestertum aller Gläubigen, für welche 1. Pt 2,9 die zentrale Bezugsstelle darstellt. Heute ist die Teilhabe aller Christen an dem priesterlichen Amt Christi nach Pannenberg konfessionell unstrittig.145 Teilen alle Christen denselben Auftrag, kann diesem auch nur gemeinschaftlich nachgegangen werden: Der gemeinsame Auftrag aller Christen, ihren Glauben zu bekennen und die Botschaft des Evangeliums weiterzugeben, […] schließt auch eine gemeinsame Verantwortung dafür ein, daß das entsprechend der Einheit der Glaubenden in Jesus Christus und also gemeinschaftlich geschieht.146 143 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 406. 144 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 406f. 145 Das spezifisch reformatorische ist nach Pannenberg erst die Konsequenz dieser Lehre: Laien sind nicht mehr unterschieden von den kirchlichen Amtsträgern durch das Priestertum, sondern letzteres gilt jedem. Bischöfe und Priester sind damit nicht nach geistlichem Stand, sondern aufgrund ihres bestimmten Dienstes und Auftrages von den anderen Christen unterschieden. Aber auch in dieser Pointe der reformatorischen Lehre sieht Pannenberg keine konfessionellen Differenzen mehr. Zwar hält das zweite Vatikanum in Lumen gentium an einem hierarchischen, kirchlichen Priesteramt fest, das vom Priestertum aller unterschiedenen ist, in der gegenwärtigen katholischen Theologie jedoch wird das kirchliche Amt nach Pannenberg als Dienst beschrieben. Daher sieht er in dieser Frage keinerlei konfessionelle Differenzen. Denn es ist der besondere Dienst als Vollmacht und Funktion des kirchlichen Amtes, welches dieses vom allgemeinen Christentum unterscheidet. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 407–409. Eine andere Pointe der Lehre vom allgemeinen Priestertum allerdings findet im zweiten Vatikanum keinerlei Bestätigung, nämlich die aus dem allgemeinen Priestertum folgende Selbstständigkeit des Einzelnen im Gottesverhältnis samt seiner Befähigung zum kritischen Urteil über die Ausführung des kirchlichen Amtes. Pannenberg selbst sagt, diese Konsequenz sei nicht ausdrücklich im zweiten Vatikanum aufgenommen und damit auch nicht ausgeschlossen. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 147. „Damit fehlt aber, so muß […] gegen Pannenberg eingewendet werden, der entscheidende Gesichtspunkt.“ Fischer, Theologie, 175. Zumindest hinsichtlich dieser Konsequenz muss daher die von Pannenberg behauptete überkonfessionelle Anerkennung der Lehre vom allgemeinen Priestertum fraglich bleiben. 146 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 409.

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Einheit und Pluralität der Kirche

Diese Gemeinschaft im Glauben ist der Kirche vorausgesetzt, sie ist im Evangelium begründet und so für Pannenberg der Vielheit der Glieder und Gaben in einer Gemeinde vorgegeben. Doch auch wenn eine solche Einheit vorgegeben ist, stellt sie sich nicht von selbst ein. Es braucht daher nach Pannenberg eine Instanz, die genau dieser Aufgabe verpflichtet ist, nämlich die verschiedenen Bereiche und Aktivitäten einer Gemeinde immer wieder in die Einheit des Glaubens zu integrieren. Dies ist die Aufgabe des kirchlichen Amtes. Dabei ist es immer in eine gewisse Spannung gesetzt. Es ist angewiesen auf die Gesamtheit der Gläubigen und deren Mitverantwortung am kirchlichen Auftrag. Daher sind diese auch mit einzubeziehen bei Gestaltung und Besetzung der kirchlichen Ämter.147 Gleichzeitig repräsentiert das Amt den der Gemeinde vorgegeben Auftrag Jesu und ist dieser damit in gewissem Maße vorausgesetzt: Eine Instanz, die diese Funktion (Integration der Vielheit/B.A.) erfüllen soll, ist einerseits angewiesen auf das gemeinsame Glaubensbewußtsein der Glieder der Kirche, repräsentiert aber andererseits ihnen gegenüber die Einheit des Auftrags Jesu Christi, in welchem jenes gemeinsame Glaubensbewußtsein selber gründet und aus dem es sich immer wieder erneuern muß.148

Der Auftrag des kirchlichen Amtes partizipiert an dem Auftrag der gesamten Kirche, die Sendung Jesu fortzuführen.149 Gleichzeitig repräsentiert das Amt den Auftrag Jesu, durch welchen die Sendung der Kirche allererst konstituiert wird. Soll bei der Ausübung dieses Auftrages die Einheit mit der gesamten Christenheit gewahrt werden, und das heißt die Einheit mit allen Christen zu allen Zeiten, gelingt dies nur in der Treue zum apostolischen Ursprung der Kirche.150 In der Urchristenheit war es die Aufgabe der Apostel, die Gemeinschaft im Glauben an Christus zu erhalten und diese so zu einer Einheit zu integrieren.151 Nachdem die Apostel verstorben waren, war nach Pannenberg zwischen zweiter und dritter Generation im Urchristentum unsicher, wie diese Aufgabe fortgeführt werden kann. Die verschiedenen Gemeindeämter waren laut Pannenberg dazu nicht in der Lage. Die Wandercharismatiker mussten nach Did 11f am apostolischen Glauben geprüft werden. Die übrigen Gemeindeämtern, die Äl-

147 Vgl. Pannenberg, Thesen, 42. 148 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 410. 149 Damit ist für Pannenberg in keiner Weise die Einmaligkeit der jesuanischen Sendung berührt, da Jesus nun selbst Gegenstand der Verkündigung ist. Vgl. Pannenberg, Thesen, 42. 150 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 411f. Ist es der Auftrag der gesamten Kirche, die Sendung Jesu fortzuführen, hat dies für Pannenberg die Konsequenz, dass die getauften Christen in Situationen, in denen eine ordentliche Amtseinsetzung nicht gewährleistet ist, nicht nur berechtigt sind, das Evangelium zu verkünden und die Sakramente zu verwalten, sondern auch dazu verpflichtet. 151 Die gesamten Ausführungen zu Ämtern und Gemeindeverfassungen im Urchristentum stützt Pannenberg auf die Arbeiten des Neutestamentlers Jürgen Roloff.

Das kirchliche Amt – Dienst an der Einheit

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testenverfassung, die z. B. in Röm 12,7 erwähnten Lehrer oder die z. B. in Phil 1,1 belegten Vorsteher der jeweiligen Hausgemeinde (Episkopen) samt den ihnen zur Seite gestellten Diakonen, hatten offensichtlich nicht die Autorität, die apostolische Aufgabe fortzusetzen. Die von den Pastoralbriefen nahgelegte Vorstellung, dass die Apostel selbst Nachfolger zu Bischöfen eingesetzt hätten, muss nach Pannenberg als fiktiv beurteilt werden, da diese Briefe eben nicht von Paulus selbst verfasst wurden, sondern in seinem Namen Jahrzehnte später. Die Intention dieser Briefe liest Pannenberg als Bemühen, in nachapostolischer Zeit an der von den Aposteln bezeugten Lehre festzuhalten und sich an dieser auch in späteren Verfassungsfragen der Gemeinde zu orientieren.152 Dabei zeigt sich ihm in den Pastoralbriefen die Tendenz, dass das Amt des Vorstehers einer Hausgemeinde, das Episkopenamt, nach und nach nicht mehr auf den hausgemeindlichen Gottesdienst beschränkt war. Es wurde nun auf die gesamte Ortsgemeinde bezogen und mit der Leitung der Ortsgemeinde war die Verantwortung für die Lehre verbunden. Das Episkopenamt war nun für die Einheit der Gemeinde auf dem Boden der apostolischen Lehre zuständig. Ab dem 2. Jh. hat sich dieses Modell der Gemeindeleitung durchgesetzt. Und dies nach Pannenberg völlig zurecht, da es durch die Verknüpfung der Funktionen von Lehre und Gemeindeleitung eine Institution begründete, die gegenüber der ständig drohenden Gefährdung der Einheit der Gemeinden durch Irrlehren die einst den Aposteln obliegende Funktion ihrer Erhaltung in der Lehre des Evangeliums unter den inzwischen veränderte Umständen zu erfüllen vermochte.153

Für die dogmatischen Bestimmungen des kirchlichen Amtes hat dieser historischer Befund nach Pannenberg vier Konsequenzen: 1. Sowohl die Gestaltung als auch die Autorität der kirchlichen Leitung in Form des Bischofsamtes geht nicht auf eine direkte Anordnung oder Einsetzung der Apostel zurück. Hierbei handelt es sich um eine Idealisierung, wie sie noch dem Lumen gentium zugrunde liegt.154 2. Dennoch besteht zwischen Apostel- und Leitungsamt eine sachliche Kontinuität. Indem dem Bischofsamt Leitungsfunktion und Lehrautorität zuerkannt wurden, entspricht dieses einem Aspekt des Apostelamtes. Denn die Apostel hatten ebenfalls die Funktion, die Treue der Gemeinden zur Lehre des Evangeliums zu bewahren. Nun waren die Bischöfe verantwortlich, den Glauben der Gemeinde an das apostolische Evangelium zu erhalten, und genau hierin liegt die theologische Legitimation des Bischofsamtes. Dabei war der Leitungsanspruch zunächst, anders als bei den Aposteln, auf einen lokalen Rahmen beschränkt und 152 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 412f. 153 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 413. 154 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 413f.

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Einheit und Pluralität der Kirche

wurde durch die Bischofsversammlungen sowie die entstehende Patriarchal- und Metropolitanverfassung regional sowie gesamtkirchlich ausgebaut. Aufgrund der Funktion des Bischofsamtes ist dieses mehr als nur eine zeitbedingte Ausgestaltung der Gemeindeordnung: Die in ihm Gestalt gewordene Verbindung von Gemeindeleitung und Lehre ist vielmehr als die in der Kirche klassisch gewordene Lösung der Aufgabe einer Bewahrung der Gemeinden im Glauben des apostolischen Evangeliums und insofern auch als im Sendungsauftrag des Auferstandenen begründet anzuerkennen.155

3. Gleichzeitig bedeutet dies, dass das apostolische Evangelium der Grund ist, wieso es zur Entstehung des Bischofsamtes kam. Dieses ist die vorgegebene Norm, die das Amt legitimiert und an welches die Bischöfe bei der Amtsausübung gebunden bleiben. Es bleibt eine solche Norm und geht nicht gänzlich in der Lehrautorität des Bischofs auf. In diesem Sinn deutet Pannenberg die Formulierung aus Dei verbum, dass das Lehramt dem Wort Gottes dient und nicht über ihm steht. Zwar sind beide nicht gänzlich zu trennen, das Wort und die kirchliche Lehrverkündigung, aber dennoch sind das göttliche Wort und der Dienst an diesem Wort in der kirchlichen Lehre nicht so untrennbar verbunden wie bei den Aposteln. Den späteren Amtsträgern ist das apostolische Evangelium vorgegeben, welches gleichzeitig zur Ausbildung des Bischofsamtes im Kanon des Neuen Testaments festgelegt wurde und mit der Geltung des Alten Testament als Verheißung der göttlichen Offenbarung in Christus verbunden wurde. Diese Norm verlangte in der Zeit nach dem Tod der Apostel „nach Ausbildung eines dem apostolischen Dienst zur Bewahrung der Gemeinden im Glauben entsprechenden Amt, wie es dann im altkirchlichen Bischofsamt Gestalt gewonnen hat.“156 4. Dass das Bischofsamt entstanden ist, um den Glauben der Gemeinden in der Einheit des Evangeliums zu bewahren, zeigt einerseits die Wurzeln dieses Amtes im Glauben der gesamten Kirche, auch wenn es andererseits die Autorität des apostolischen Evangeliums den Gemeinden gegenüber repräsentiert. Deswegen ist die Forderung nach Beteiligung der Gemeinden bei der Auswahl des Bischofs und der Umsetzung seiner Leitungsfunktion berechtigt. Gleichzeitig hat die Amtseinführung durch andere Amtsträger, insofern diese die Einheit der gesamten Kirche sowie den Auftrag der Kirche, das Evangelium zu verkünden, repräsentieren, seine Berechtigung. Dabei muss eine Verselbstständigung der Amtskirche gegenüber dem allgemeinen Glaubensbewusstsein der Kirche verhindert werden. Denn Bischöfe und Gemeinden „sind miteinander verbunden durch die gemeinsame Unterordnung unter die Norm des Evangeliums.“157 155 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 414f. 156 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 416. 157 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 416.

Das kirchliche Amt – Dienst an der Einheit

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Dies sind die vier Leitlinien, die sich nach Pannenberg aus dem historischen Befund für die Theologie des kirchlichen Amtes ergeben. Dass es Aufgabe des bischöflichen Amtes ist, die Treue der Gemeinden zur Lehre des Evangeliums zu bewahren, bildet für Pannenberg die Grundlage seiner Interpretation von CA 5, nach welchem das Predigtamt von Gott eingesetzt ist, das Evangelium zu verkünden und die Sakramente zu verwalten.158 Eine göttliche Einsetzung lässt sich eben nur behaupten, wenn das Predigtamt als auf die Gemeinschaft der gesamten Christenheit bezogen verstanden wird, mit dem Auftrag, diese in der Einheit der Lehre des apostolischen Evangeliums zu bewahren. Dann eignet dem Auftrag des Predigtamtes eine Kontinuität zu der Sendung der Apostel, das Evangelium zu bewahren und zu verkünden.159 Um diese Treue zu gewähren, hat das kirchliche Amt die Leitung der Gemeinde inne und ist damit zuständig für die Ordnung und die Lehre einer Gemeinde. Die Gemeindeleitung nennt die Confessio Augustana nach Pannenberg in CA 28 nur implizit als Aufgabe des kirchlichen Amtes, anders als die Aufgabe der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung in CA 5.160 Stärker berücksichtigt findet Pannenberg diese Aufgabe in der Tradition Bucers und Calvins. Für diese ist die Verbindung von Predigt- und Hirtenamt charakteristisch sowie der Versuch, die Ordnung der Gemeinde aus den neutestamentlichen Zeugnissen abzuleiten. Gerade die Verantwortung des Amtes für die Lebensordnung einer Gemeinde zu betonen stellt daher ein besonderes Verdienst Calvins dar.161 Innerhalb der reformatorischen Tradition ist nach 158 Vgl. Pannenberg, Confessio Augustana, 18. 159 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 416f. Gerade die Verkündigung, also die Predigt, betonte die lutherische Reformation nach Pannenberg als die Hauptaufgabe des kirchlichen Amtes. Damit wollte sie ein vorherrschendes Amtsverständnis korrigieren, bei welchem die Predigtaufgabe kaum eine Rolle spielte und das Priesteramt vor allem auf die Feier der Eucharistie bezogen wurde. Durch das zweite Vatikanum sind nach Pannenberg in dieser Frage die Gegensätze weitestgehend ausgeräumt. Zwar sieht er hier weiterhin das priesterliche Amt dem Messopfer zugeordnet, gleichzeitig aber wird die Evangeliumsverkündigung als erste Aufgabe des Priesters bezeichnet. Da das Messopfer heute als anamnetische Teilnahme am Opfer Christi gedeutet wird, ist hier kein konfessioneller Gegensatz mehr vorhanden, gerade da auch im Luthertum das Amt nie nur auf die Predigt bezogen war, sondern ihm von Anfang an auch die Verwaltung der Sakramente unterstellt war. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 419f. 160 Dass CA 28 dem kirchlichen Amt, verbunden mit seinem Auftrag, das Evangelium zu verkünden und die Sakramente zu verwalten, die Schlüsselgewalt zuspricht, die dann als iurisdictio bezeichnet wird, impliziert für Pannenberg die Leitungsfunktion des kirchlichen Amtes. Vgl. Pannenberg, Herausforderung der Amtstheologie, 408. In den neueren ökumenischen Verlautbarungen sieht Pannenberg die Leitungsfunktion des Amtes stärker berücksichtigt. So ist für ihn in der Limaerklärung Taufe, Eucharistie und Amt (vgl. World Council of Churches/Commission on Faith and Order, Konvergenzerklärungen) das kirchliche Amt einerseits als Bezugspunkt der kirchlichen Einheit, andererseits als verantwortlich für die Gemeindeleitung bestimmt, begründet aus seinem Auftrag zur Wortverkündigung. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 421f. 161 Vgl. Pannenberg Systematische Theologie Bd. 3, 420f.

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Einheit und Pluralität der Kirche

Pannenberg für das Hirtenamt dessen öffentliche Ausübung charakteristisch. In dieser öffentlichen Ausführung zeigt sich, dass das Amt nicht nur auf das Ganze einer Gemeinde, sondern auch auf die gesamte Kirche bezogen ist. „Das ist im Unterschied zu anderen Diensten eben der besondere Dienst und das besondere Charisma des kirchlichen Amtes.“162 Die öffentliche Ausübung der allen Christen gemeinsamen Sendung unterscheidet somit das kirchliche Amt vom allgemeinen Priestertum. Dieses unterscheiden sich für Pannenberg eben nicht dem Grade nach, da sie nicht graduell unterschiedlich an der Gnade Jesu Christi teilhaben. Kirchliches Amt und allgemeines Priestertum unterscheiden sich auch nicht in ihrem Auftrag, denn allen Christen ist aufgetragen, das Evangelium zu verkünden. Die öffentliche Ausübung markiert den wesentlichen Unterschied und begründet die Besonderheit des kirchlichen Dienstes.163 Daher kann für Pannenberg die Besonderheit des kirchlichen Amtes auch nicht darin begründet werden, dass der Amtsträger in persona Christi handelt, wie in der Unionsbulle an die Armenier von 1439 behauptet. Insofern alle Christen an der Sendung Jesu teilhaben, ist es auch mit Luther allen Christen aufgetragen, einander zum Christus zu werden. Auch diesbezüglich ist das entscheidende Spezifikum des kirchlichen Amtes, dass es öffentlich in persona Christi handelt. Das Merkmal der Öffentlichkeit zeigt sich Pannenberg besonders deutlich in der Feier der Eucharistie, in welcher der Liturg die eucharistische Anamnese an der Stelle der gesamten Gemeinde vollzieht, die so an seinem Handeln partizipiert. Ebenso sichtbar ist es in der Wortverkündigung, die der gesamten Kirche aufgetragen ist und die der Amtsträger öffentlich vollzieht. Und dieses Merkmal ist sichtbar in der Sündenvergebung, zu der Jesus Christus ebenfalls die gesamte Kirche bevollmächtigt hat und die der Amtsträger im Namen der gesamten Christenheit zuspricht.164 Somit ist es keiner der konkreten Vollzüge, die das Amt auszeichnet, sondern es partizipiert in diesen an der Sendung und dem Glaubensbewusstsein der gesamten Kirche. Auf diese Weise repräsentiert der Amtsträger einer konkreten Gemeinde gegenüber die Einheit der gesamten Christenheit sowie die Einheit ihres Auftrages: Die auf die Einheit der Gesamtkirche bezogene, sie am Ort einer gottesdienstlichen Gemeinde repräsentierende ‚Öffentlichkeit‘ des kirchlichen Predigt- und Leitungsamtes bedeutet, daß der Amtsträger nicht im eigenen Namen, sondern in der Autorität des der ganzen Christenheit gegebenen Auftrags zur Lehre des Evangeliums handelt und also im Auftrag Jesu Christi selbst165.

162 163 164 165

Pannenberg, Amtsverständnis, 278. (Hervorhebung im Original.) Vgl. Wenz, Kirche, 94. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 423f. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 424.

Das kirchliche Amt – Dienst an der Einheit

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Daher ist es in der Verantwortung eines jeden Amtsträgers, den Zusammenhang zwischen einer Ortsgemeinde und der ganzen Kirche samt ihrer Geschichte zu wahren und immer wieder die verschiedene Lebens- und Aufgabenbereiche einer Gemeinde in diesen Gesamtzusammenhang zu integrieren.166 Die Amtsträger begründen damit nicht die Einheit der Kirche, denn das Fundament dieser Einheit ist Jesus Christus. Aber sie repräsentieren die von Jesus Christus begründete Einheit und seinen Auftrag an die Christenheit. Für Pannenberg ist dies „entgegen minimalistischen Amtstheologien mancher Kirchen“167 Ausdruck des christlichen Glaubensbewusstseins sowie ein sozialpsychologischer Fakt, da die Gemeindeglieder in den Amtsträger eben einen solchen Repräsentanten der gesamten Kirche sehen. Auf ihre Funktion als Zeichen und Repräsentanten der Sendung Christi und der in ihm begründeten Einheit der Kirche beruht die Autorität der Amtsträger in den einzelnen Gemeinden, und sie werden Autorität haben in dem Maße, wie sie diese Funktion glaubwürdig erfüllen.168

Solche Repräsentation von Einheit und Sendung geschieht nicht von allein durch das bloße Dasein der Amtsträger, sondern diese geschieht durch Evangeliumsverkündigung und Ausübung des Hirtenamtes169.

166 Lange folgert daraus, dass Kirchenleitung für Pannenberg fast identisch ist mit Spannungsabbau und Konfliktvermeidung, um so in der Kirche maximale Homogenität zu erzeugen. Damit ist für Lange der Amtsträger komplett unterschieden von der restlichen Gemeinde: „Denn er ist nach Pannenberg nicht nur mit einer Aufgabe betraut, die ihn vom sonstigen Christenvolk signifikant unterscheidet; […] er ist auch im Idealfall noch über die Konflikte erhaben, die seine Kirche beunruhigen, verkörpert sozusagen in sich bereits deren Versöhnung oder Überwindung und ist darin dem Kirchenvolk immer einen Schritt voraus.“ Lange, Religion, 226f. Für Lange besteht die besondere Aufgabe in der Verantwortung für die Einheit. Doch inwiefern unterscheidet dies den Amtsträger signifikant vom Kirchenvolk? Jede Gabe in einer Gemeinde ist für Pannenberg auf die Einheit der Gemeinde und der Kirche bezogen. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 422f. Jeder Glaube ist auf die Einheit der gesamten Christenheit bezogen. Die besondere Verantwortung des Amtsträgers ist dieser Einheit zu dienen durch die Verkündigung des Evangeliums und die Verwaltung der Sakramente. Die Bemerkung, er sei darin dem restlichen „Kirchenvolk immer einen Schritt voraus“, kann nur als Polemik ohne Begründung eingeordnet werden. 167 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 427. 168 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 427. 169 In den von Pannenberg 1970 veröffentlichten Thesen zur Theologie der Kirche hat er den Begriff des Hirtenamtes noch kritisiert. Pannenberg meinte, dass der Begriff den Eindruck erwecken kann, dass die Mitglieder einer Gemeinde lediglich als Fürsorgeobjekte des Amtsträgers verstanden werden. Dies aber verletzt ihre in der Unmittelbarkeit zu Christus begründete Mündigkeit. Vgl. Pannenberg, Thesen, 54. In seinen Ausführungen zum Amt in der Systematischen Theologie hat er diese Bedenken offensichtlich nicht mehr, da er hier den Begriff ohne jegliche Problematisierungen benutzt mit dem Verweis darauf, dass es sich bei dem Bild vom Hirten um einen maßgeblichen Ausdruck für die Leitung einer Gemeinde im Urchristentum handelt. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 423–427. Zur

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Einheit und Pluralität der Kirche

Das kirchliche Amt dient der Einheit der Kirche, indem es die pluralen Lebensäußerungen der Gemeinde auf dem Boden des apostolischen Evangeliums zu einer Einheit mit der gesamten Christenheit integriert. Kennzeichnend für Pannenbergs Verständnis von der Einheit in der Pluralität ist, dass er diese nicht als Uniformisierung des Unterschiedenen begreift, sondern dass gerade das kirchliche Amt einer anerkennenden Integration der verschiedenen religiösen Erfahrungen und Äußerungen einer Gemeinde verpflichtet ist. Der Amtsträger vertritt nicht die eine Lehre, die die religiösen Deutungen der Gemeindeglieder normiert. Vielmehr ist es seine Aufgabe, die vielfältigen Deutungen in die Lehre vom apostolischen Evangelium zu integrieren. Der christliche Glaube kann nur dann überzeugend vermittelt werden, wenn er sich im Leben des Einzelnen als tragfähig erweist. Dies ist die Aufgabe des Amtsträgers, indem er den Einzelnen in seiner Unmittelbarkeit zu Christus stärkt, aus der heraus sich dieser die christliche Tradition als sein Leben tragend aneignen kann. Wo immer ein kirchlicher Amtsträger sich auf seine formale Autorität beruft zum Ausgleich für die fehlende sachliche Überzeugungskraft seiner Entscheidungen und Verlautbarungen, da besteht zumindest die unmittelbare Gefahr einer Verkehrung des Dienstes an der Herrschaft Gottes in menschliche Herrschaft.170

Der Mündigkeit des Einzelnen, seiner Urteilsfähigkeit gegenüber der Lehre des apostolischen Evangeliums und somit auch gegenüber dessen Auslegung durch den kirchlichen Amtsträger, ist das kirchenleitende Amt verpflichtet. Es muss der Aufgabe nachkommen, „den einzelnen Christen in die Unmittelbarkeit des Glaubens zu Christus und durch Christus zu Gott zu vermitteln und die Einheit der Christen als ihre Einheit in diesem Glauben darzustellen.“171 Die dargestellten Bestimmungen Pannenbergs zu Wesen und Auftrag des kirchlichen Amtes bilden die Grundlage seiner Ausführungen zur Ordination (Kap. 5.3.2) sowie zur Frage der Stufung des kirchlichen Amtes (Kap. 5.3.3).

5.3.2 Die Ordination in das kirchliche Amt Pannenberg sieht die immer wieder auftretenden Gegensätze in Theologie und Praxis des Amtes als entscheidende Gefährdungen der kirchlichen Einheit. Dies zeigen die Trennungen der Gegenwart. So besteht zwischen der römisch-katholischen Kirche und den orthodoxen Kirchen des Ostens ein entscheidender Gegensatz hinsichtlich des universalen Lehramtes, welches Rom für sich beanBedeutung des Hirtenbildes im Urchristentum vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 423, Anm. 847. 170 Pannenberg, Christentum ohne Kirche, 196f. 171 Pannenberg, Thesen, 48.

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sprucht. Und zwischen der römisch-katholischen Kirche und den Kirchen der Reformation besteht ein grundsätzlicher Dissens hinsichtlich der Gültigkeit des Amtes in den Reformationskirchen. Pannenberg hält demgegenüber fest, dass er hinsichtlich Auftrag und Wesen des Amtes keinen unüberwindlichen Gegensatz mehr zwischen katholischem und evangelischem Amtsverständnis ausmachen kann.172 Demgegenüber ist es für ihn die Frage der Amtsübertragung, hinsichtlich welcher laut zweiten Vatikanum ein entscheidender Gegensatz besteht. Nach Unitatis redintegratio ist es für ihn katholische Auffassung, dass im kirchlichen Amt der Reformationskirchen die Einheit der Kirche nicht angemessen dargestellt wird und daher in der Eucharistie die Einheit mit der Kirche nicht gewahrt ist; die kirchliche Einheit wiederum ist ein Wesensmerkmal der Eucharistie. Dieser Mangel des kirchlichen Amtes ist begründet in einem Mangel der Amtsübergabe. Letzterer ist für Pannenberg nicht in der Frage der Sakramentalität und Durchführung der Ordination begründet oder in verschiedenen Deutungen ihrer Wirkung, sondern in der Frage, wer die Ordination durchführen darf. Dies versucht Pannenberg in seinen Bestimmungen zu diesen drei genannten, zentralen Aspekten der Ordination zu zeigen.173 5.3.2.1 Zur Sakramentalität und Durchführung der Ordination Die Ablehnung Luthers, die Ordination als Sakrament zu bezeichnen, da diese keinerlei Grundlage im Neuen Testament hat, ist für Pannenberg nur plausibel auf dem Hintergrund der damals gängigen Ordinationspraxis. Festgelegt durch die Unionsbulle 1439 an die Armenier bestand diese darin, dass Kelch sowie Patene übergeben wurden und die Bevollmächtigung ausgesprochen wurde. Damit wurde dem Ordinierten die Vollmacht verliehen, das Opfer für Lebende und Tote darbringen zu können. Eine solche Praxis hat für Pannenberg in der Tat keinen Anhalt am Neuen Testament, sehr wohl aber die z. B. in 1. Tim 4,14 belegte Ordinationshandlung durch Gebet und Handauflegung.174 Erst 1947 wurde die Handauflegung von Pius XII. zum eigentlichen Zeichen der Ordination erhoben, wohingegen für ihn die Übergabe von Kelch und Patene nicht Wesensbestandteile der Ordination darstellten. Damit sieht Pannenberg die wesentliche reformatorische Forderung eingelöst, die Ordination durch Handauflegung und Gebet zu vollziehen, wie es z. B. Melanchthon in der Apologie zu CA 13 formuliert.175 Damit ist für ihn die Bezeichnung als Sakrament von den lutherischen Be172 173 174 175

Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 428. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 428f. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 429. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 430f. Ist eine solche Durchführung des Ritus gegeben, sieht Pannenberg bei Melanchthon sogar die Bereitschaft, die Ordination als Sakrament zu bezeichnen, wenn der Priesterdienst nicht als Opferdienst verstanden wird.

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kenntnisschriften nicht grundsätzlich ausgeschlossen.176 Vorausgesetzt, ein Sakrament wird als Teilhabe am Heilsmysterium Christi verstanden und nicht auf Handlungen begrenzt, welche dem Empfangenden Rechtfertigungsgnade vermitteln. Dabei untersteht das Amt nicht direkt der Verheißung Jesu Christi, sondern nur in vermittelter Form; vermittelt durch die Sendung der Apostel durch den Auferstandenen. Insofern das kirchliche Amt nämlich beauftragt ist, die Sendung der Apostel fortzuführen, die Gemeinden in der Einheit mit der gesamten Christenheit zu bewahren, unterstehen die Amtsträger damit ebenfalls der Beauftragung des Auferstandenen. „Der Amtsträger, der in Ausübung seines Amtes in der Autorität Jesu Christi selbst handelt, hat zweifellos am Heilsmysterium Christi teil, und zwar zusammen mit der ganzen Kirche.“177 Auch die Beauftragung des Amtsträgers wird also aus der Beauftragung aller Christen abgeleitet. Denn wie Kap. 5.3.2 gezeigt hat, ist die Besonderheit des kirchlichen Amtes nicht in besonderen Tätigkeiten oder einem besonderen Gnadenstand begründet, sondern in seiner öffentlichen Ausführung. Zu dieser öffentlichen Ausführung ist er durch die Ordination berufen. Die Berufung zum persönlichen Zeugnis, die jedem Christen zuteil wird, erfolgt durch eine Zeichenhandlung […], nämlich durch die Taufe […]. Die Berufung zur Teilnahme an der apostolischen Sendung im besonderen Dienst an der Einheit der Kirche erfolgt ebenso durch eine Zeichenhandlung, die Ordination.178

Da für Pannenberg durch diese Zeichenhandlung das Heilsmysterium Christi konkretisiert wird, kann die Ordination Sakrament genannt werden, auch wenn dieser die in der Taufe begründete Gemeinschaft mit Christus und seiner Kirche vorausgesetzt ist.179 5.3.2.2 Zu den Wirkungen der Ordination Pannenberg sieht es als lutherischen und katholischen Konsens an, dass dem Ordinierten durch die Ordination eine Gnadengabe vermittelt wird. Einen konfessionellen Unterschied zumindest während der Reformation sieht er darin, dass Luther ein bleibend in die Seele des Empfängers eingeprägtes Merkmal (character indelebilis) bestritt. Begründet sieht Pannenberg diese Ablehnung in Luthers Kritik an der Tauflehre der aristotelischen Scholastik, wonach dem Ge176 Entsprechend tritt Pannenberg in der Diskussion um die Limaerklärung dafür ein, dass ihr, wenn sie die Ordination ein sakramentales Zeichen nennt, von lutherischer Seite nicht widersprochen werden muss. Vgl. Pannenberg, Lima, 231f. 177 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 432. Die Einsetzung der Ordination durch Jesus selbst auf der Grundlage von Lk 10,16 schließt Pannenberg aus, da diese Verheißung allen Christen gilt. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 432. 178 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 433. 179 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 432f.

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tauften die Gnade in die Seele eingegossen werde; für Luther hingegen betrifft die Veränderung der Taufe das menschliche Verhältnis zu Gott, nicht den Menschen an sich unter Absehung von diesem Verhältnis. Da nach Pannenberg die Unionsbulle von 1439 ein durch die Ordination verliehenes Prägemal lehrt, in Analogie zur Taufe, musste Luther diese Lehre ablehnen, gerade da die Unionsbulle die Deutung zuließ, dass die Gnadengabe der Ordination neben die durch Taufe und Glauben empfangene Heilsgabe gestellt wird.180 Durch das zweite Vatikanum sieht Pannenberg diesen Gegensatz entschärft, da nun die bleibende Kennzeichnung auf den Dienst bezogen ist, in welchem der Amtsträger als Priester, Hirte oder Lehrer in persona Christi handelt. Damit ist für ihn die verliehene Gnadengabe nicht mehr auf den Gnadenstand der ordinierten Person bezogen, sondern auf seinen Dienst. Die von der Unionsbulle gelehrte Unwiederholbarkeit der Ordination ist für Pannenberg auch in den reformatorischen Kirchen Konsens. Sie wird in den lutherischen Kirchen nicht wiederholt, da sie einerseits auf die gesamte Kirche bezogen ist, also nicht nur auf einen bestimmten Dienst in einer bestimmten Gemeinde, und da sie andererseits auf die gesamte Lebensdauer bezogen ist und so zeitlich nicht eingeschränkt ist. Pannenberg sieht es heute als breiten Konsens an, dass eben dieser einmalige Vollzug der eigentliche Sinn der Lehre vom charakter indelebilis ist. Daher besteht für ihn auch in den Wirkungen der Ordination eine Analogie zur Taufe, da der Ordinierte ein Ordinierter bleibt wie der Getaufte ein Getaufter bleibt, auch wenn der Ordinierte sein Amt nicht mehr ausübt.181 „Die göttliche Sendung betrifft – wie das von allem religiösen Leben gilt – den Ordinanden in der Ganzheit seiner Person.“182 Daher kennzeichnet die Ordination sein ganzes Leben, über die Ausführung des Amtes hinaus.

5.3.2.3 Der Vollzug der Ordination als Zeichen für die kirchliche Einheit Sieht Pannenberg in der Frage der Sakramentalität der Ordination, ihres Vollzuges und ihrer Wirkungen die konfessionellen Differenzen als überwindbar an, so besteht für ihn Dissens in der Frage, wer zur Ordination befugt ist. Die Konsequenzen dieser Frage haben Auswirkung auf die Gültigkeit des evangelischen Amtes. Grundlage dieses Dissens sind für Pannenberg die Aussagen der CA und ihrer Apologie gegenüber den Lehraussagen des Trienter Konzils. Für die Lutheraner ist laut der Apologie zu CA 14 ein exklusives bischöfliches Recht zur Ordination sowie generell eine Stufung des kirchlichen Amtes und damit eine Überordnung des Bischofs über den Pfarrer als menschliches Recht zu beurtei180 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 433f. 181 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 434f. 182 Pannenberg, Thesen, 50.

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len, nicht als göttliches Recht. Das Konzil hielt hingegen an einem exklusiven Ordinationsrecht durch die Bischöfe fest.183 Aufgrund der in den Reformationskirchen gängigen nichtbischöflichen Ordinationspraxis ist aus römisch-katholischer Sicht die bischöfliche Sukzession in diesen Kirchen abgerissen. Darin liegt für Pannenberg der Grund, dass in Unitatis redintegratio ein Mangel des Amtes in diesen Kirchen festgehalten wurde.184 Dabei zeigen die lutherischen Kirchen Skandinaviens, in welchen die bischöfliche Sukzession gewahrt wurde, dass das entscheidende Kriterium ist, dass bei der bischöflichen Ordination die Einheit mit der gesamten Kirche erhalten bleibt. Daher muss auch für die Beurteilung des Abreißens der Amtssukzession in der lutherischen Reformation das entscheidende Kriterium sein, ob den lutherischen Kirchen die kirchliche Einheit im Amt gleichgültig war. Dies ist nach Pannenberg nicht der Fall: „Die Reformatoren haben sich sorgfältig bemüht, die Abweichung von der Regel der bischöflichen Ordination zu rechtfertigen unter Berufung auf die Grundlagen der traditionellen Amtstheologie.“185 Dabei war der entscheidende Grund für die Einführung einer eigenen Ordinationspraxis die Notlage, dass die entstandenen Gemeinden Pfarrer benötigten, um das Evangelium gelehrt zu bekommen. Eine solche Notsituation war nach Pannenberg für Luther deshalb möglich, da überall dort, wo sich Christen um das Evangelium versammeln, Kirche ist. Diese bedarf der Verkündigung des Evangeliums und daher kann jeder Christ mit dieser Aufgabe betraut werden, wenn kein vom Bischof ordinierter Amtsträger verfügbar ist. Bei einer solchen Praxis muss darauf gehofft werden, dass Gott selbst die Ordination wirkt. Die gängige Regel, so Pannenberg, war aber auch für Luther die bischöfliche Amtssukzession, durch welche die Übergabe des Amtes bis auf die Apostel zurückreicht. Daher blieben auch die lutherischen Kirchen um apostolische Amtssukzession bemüht, indem grundsätzlich die Ordination durch andere Amtsträger durchgeführt wurde, gemäß des vierten Kanons des Konzils von Nicaea. Die Pointe einer solchen, als presbyterial zu bezeichnenden Ordinationspraxis nun ist, dass diese als episkopale Amtssukzession zu verstehen ist.186 Dies wird noch einmal durch Kap. 5.3.3 verdeutlicht, da für Pannenberg regionales Bischofsamt und lokales Pfarramt dieselbe Wurzel haben. 183 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 435f. Die Stufung des Amtes wird Gegenstand von Kap. 5.3.3. sein. 184 Der vom zweiten Vatikanum aufgrund der fehlenden Sukzession festgehaltene Mangel des Amtes in den Reformationskirchen führte nach Pannenberg in der Erklärung Dominus Jesus dazu, diesen Kirche abzusprechen, im eigentlichen Sinn Kirche zu sein. Daher sieht Pannenberg einen Dialog bezüglich dieser Fragen als sehr dringlich auf dem Weg zur kirchlichen Einheit an. Seine im Folgenden dargelegten Erläuterungen zur evangelischen Ordinationspraxis sind diesem Dialog verpflichtet. Vgl. Pannenberg, Einzigkeit sowie ders., Verhältnis. 185 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 436. 186 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 436–438.

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In den Ausführungen zum lutherischen Verständnis der kanonischen Durchführung der Ordination und dem darin sichtbaren Bemühen um eine Fortsetzung der bischöflichen Sukzession zeigt sich nach Pannenberg noch einmal, dass lutherisch von einer Ableitung des kirchlichen Amtes vom Priestertum aller Gläubigen nicht gesprochen werden kann. „Es geht beim ordinierten Amt der Kirche um die Fortsetzung der kirchenleitenden Funktion der Apostel.“187 Es bedarf des Amtes zur Leitung der Gemeinden, indem das apostolische Evangelium verkündigt wird. Und dies ist die Aufgabe der Amtsträger. Einem solchem apostolischem Amtsverständnis folgend hat sich nach Pannenberg in der gegenwärtigen Diskussion bezüglich der apostolischen Sukzession durchgesetzt, dass diese an erster Stelle als Sukzession in Glauben und Lehre der Apostel zu begreifen ist. Eine solche Einheit im Glauben zeigt, dass die Ordination durch bereits ordinierte Amtsträger vollzogen wird, welche wiederum die gesamte Kirche Christi repräsentieren.188 Eine Auseinandersetzung um die Gültigkeit der Ordination ist folglich für Pannenberg immer dann entstanden, wenn diese auf eine Weise durchgeführt wurde, die der kirchlichen Einheit widersprach. Die Reformatoren aber wussten um eine solche Gefahr und haben versucht, der Sorge um die Einheit wie der akuten Notlage in der Rechnung zu tragen. Wenn in den damals strittigen Lehren heute insoweit Einverständnis erzielt werden kann, daß die verbleibenden Differenzen ihr kirchentrennendes Gewicht verlieren, dann sollten die Reformationskirchen von der römisch-katholischen Kirche auch erwarten können, daß die damals von den Reformatoren geltend gemachte Notlage und damit auch die Legitimität der Ämter in den reformatorischen Kirchen anerkannt werden kann.189

Dafür ist aber laut Pannenberg Voraussetzung, dass die evangelischen Kirchen weiterhin ihre Ordinationspraxis in der damaligen Situation als Notlage beurteilen und sie generell nicht vom allgemeinen Priestertum ableiten. Letzteres hätte eine anderes Konzept von Ordination und Amt zur Folge. Auch fordert Pannenberg, dass die evangelischen Kirchen die Verkündigung des Evangeliums sowie die Verwaltung der Sakramente an das ordinierte Amt binden und nicht statt der Ordination eine Berufung durch Kirchenleitung oder Predigerseminardirektoren einführen.190 Die Sendung des Ordinierten geht auf die Sendung der Apostel durch den Auferstandenen zurück; und darin ist auch die Freiheit 187 188 189 190

Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 438f. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 438–440. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 440. Entsprechend scharf kritisiert Pannenberg die Pläne der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, das Kandidatengesetz Ende der 1980er Jahre dahingehend zu verändern, Predigtamtskandidaten bereits vor der Ordination zur Sakramentsverwaltung zu berufen. Vgl. Pannenberg, Abendmahlsverwaltung.

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des Ordinierten gegenüber kirchenleitenden Einrichtungen begründet. Ebensowenig darf Reordination eines in einer anderen Kirche Ordinierten vorgenommen werden. Die Ordination würde dann nicht mehr vollzogen werden als Dienst an der von Jesus Christus selbst ausgehenden und alle partikularkirchlichen Unterschiede übergreifenden Sendung zur Verkündigung des Evangeliums und zur Bewahrung der Gemeinden im Glauben an seine Lehre.191

Das Amt dient der Einheit der Kirche. Daher sieht Pannenberg eine Theologie des Amtes der Einheit der Kirchen verpflichtet und ist in seinen Darlegungen um eine möglichst breite Rezeption konfessioneller Traditionen zum Amt bemüht. Dies ist für ihn die Konsequenz der Geschichte des Christentums, da Differenzen im Amtsverständnis immer wieder zu Spaltungen der Kirche führten.192 Daher ist in den Ausführungen zum Amt auch eine Auseinandersetzung mit der Praxis der Frauenordination notwendig, eine Praxis, die faktisch bis in die Gegenwart das Leben einiger Kirchen voneinander unterscheidet und trennt. 5.3.2.4 Die Praxis der Frauenordination In der ökumenischen Auseinandersetzung um die Praxis der Frauenordination muss nach Pannenberg betont werden, dass diese „nicht dem feministischen Zeitgeist zuliebe oder wegen der Gleichstellung von Mann und Frau in der Rechtsordnung der säkularen Gesellschaften“193 eingeführt worden ist. Vielmehr ist der neutestamentliche Befund das entscheidende Argument. So hat Paulus Frauen als Diakonin erwähnt (vgl. Röm 16,1f), als Vorsteherin oder Mitarbeiterin einer Hausgemeinde (vgl. Röm 16,5), als Missionarin (vgl. Phil 4,2f) oder in Röm 16,7 sogar als Apostel. Demgegenüber beurteilt Pannenberg die in 1. Kor 14,34 ergangene Weisung, Frauen sollen in der Gemeindeversammlung schweigen, als konkrete Weisung für eine ganz konkrete Situation.194 Hinzu kommt Kritik von Paulus an einer generellen Unterordnung der Frau unter den Mann, wie Pannenberg im Anschluss an 1. Kor 11,11f festhält, wonach für beide im Miteinander das Prinzip der Gegenseitigkeit gilt. Dies entspricht dem in Gal 3,27f geäußerten paulinischen Grundgedanken, dass in der Taufe alle Unterschiede zwischen Menschen aufgehoben sind. Für Pannenberg muss daraus folgen, dass in der Kirche zwar nicht alle gleich sind, dass jedoch in der durch die gemeinsame Christusbeziehung begründeten Beziehung untereinander die Unterschiede aufgehoben sind. Solche in Christus begründete Gleichheit meint 191 192 193 194

Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 441. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 428. Pannenberg, Ordination, 99. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 425f.

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dabei für Pannenberg nicht eine Gleichmacherei, die von allen Unterschieden und so der individuierten Besonderheit des Menschen absieht. Gleichheit bedeutet vielmehr in christlicher Perspektive, dass alle Menschen zu ihren höchsten Möglichkeiten bestimmt sind. Solche Gleichheit muss immer wieder geschaffen werden, sie ist nicht von selbst da.195 Dieser christliche Grundsatz gilt auch hinsichtlich des Unterschiedes von Mann und Frau und ist neben der von Pannenberg herausgestellten Bedeutung der Frau in den urchristlichen Gemeinden der entscheidende Grund für die theologische Begründung der Frauenordination. Rückblickend hätte es allerdings bei deren Einführung in den evangelischen Kirchen einen begleitenden Prozess ökumenischer Konsultationen in dieser Frage gebraucht. Nicht um die Frage der theologischen Grundlage der Öffnung des Amts zu diskutieren, jedoch um diesen notwendigen Schritt zu kommunizieren und plausibilisieren.196

5.3.3 Die Stufung des kirchlichen Amtes Bereits in den Ausführungen in Kap. 5.3.1 zu dem Verhältnis vom allgemeinen Priestertum und besonderem Dienst hat sich gezeigt, dass Pannenberg der historischen Rekonstruktion der Entstehung des Bischofsamtes entscheidende Bedeutung zumisst. Dabei war er im Anschluss an Roloff zu dem Ergebnis gekommen, dass sich im 2. Jh. das Episkopenamt, welches ursprünglich die Leitung der Hausgemeinde innehatte und nach und nach auf die gesamte Ortsgemeinde ausgeweitet wurde, als das Modell christlicher Gemeindeleitung durchgesetzt hat. Und dies für Pannenberg völlig zu recht, da mit diesem Amt eine Institution geschaffen wurde, welche aufgrund der Verknüpfung von Leitung und Lehrverantwortung die Gemeinde auf dem Boden der Lehre des apostolischen Evangeliums bewahren konnte. Dieser historische Befund ist für Pannenberg entscheidend für die dogmatische Besinnung über das Amt und leitet daher auch seine Bestimmungen zu der Stufung des kirchlichen Amtes. Das kirchliche Amt dient der Einheit der Kirche, an allen Orten und zu allen Zeiten, indem es die vielfältigen Bereiche und Vollzüge in den Gemeinden in die in Christus gegründete Einheit integriert.

195 Vgl. Pannenberg, Nation, 135–137. 196 Vgl. Pannenberg, Ordination, 99. Gleichzeitig verweist Pannenberg darauf, dass zu der Zeit der Einführung der Ordination einige führende katholische Theologen, wie z. B. Rahner, und einige führende katholische Bischöfe der Auffassung waren, bei der Einführung der Frauenordination handelt es sich nicht um eine dogmatische Frage, weswegen davon in die ökumenische Verständigung über das Amt nicht beeinflusst ist.

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Einheit und Pluralität der Kirche

Darum gehört es auch zur Aufgabe und Verantwortung des kirchlichen Amtes, durch den Dienst am Wort, die Lehre des Evangeliums, die Widersprüche zwischen der geschichtlichen Zerrissenheit und Verwirklichung der Kirche und ihrem geglaubten Wesen als der einigen, heiligen, apostolischen und katholischen Kirche zu überbrücken und, soweit Gott durch seinen Geist die Kraft und Gnade dazu gibt, sie zu überwinden.197

Dieser Aufgabe ist das Amt verpflichtet, auf unterschiedlichen Ebenen. Auf der lokalen Ebene, also der Ebene der Ortsgemeinde, kommt dieser Aufgabe der Pfarrer nach, der durch seine Verkündigung die Gemeinde in der Einheit mit der gesamten Kirche bewahren soll. Vor dieser Aufgabe steht aber nach Pannenberg nicht nur eine Gemeinde, sondern auch die Gemeinschaft verschiedener Ortskirchen und ihrer Amtsträger. Zu diesem Zweck werden Synoden gebildet, bestehend aus leitenden Amtsträger sowie Repräsentanten der einzelnen Gemeinde. Nun brauchen auch solche Synoden eine Leitung, die ständig tätig ist und für Kontinuität zwischen den unterschiedlichen Zusammenkünften verantwortlich ist.198 Daneben bedarf es auf der regionalen Ebene eines Amtsträgers, der verantwortlich ist, die Einheit der Gemeinden mit der Kirche zu wahren. Diese Aufgabe wurde nach Pannenberg seit dem 4. Jh. den Bischöfen übertragen, die bis dahin vor Ort für die Leitung zuständig waren. Der Unterschied zwischen Pfarrer und Bischof war nun Umfang und Ebene der Zuständigkeit, der Jurisdiktion. „Es handelt sich um unterschiedliche Ausprägungen des einen Leitungsamtes.“199 Diese Deutung der regionalen Stufung des Leitungsamtes sieht Pannenberg als übereinstimmend sowohl mit der lutherischen Reformation auf der Grundlage von CA 28 und Apol 14 an als auch mit der römisch-katholischen Kirche auf der Grundlage des zweiten Vatikanums, auch wenn letztere auf der Überordnung des Bischofs besteht.200 197 198 199 200

Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 452. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 452f. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 453. Für Pannenberg wurde diesbezüglich innerhalb des Lumen Gentiums bewusst zurückhaltend formuliert. So spricht dieses laut Pannenberg von nur einem Dienstamt, welches auf verschiedenen Stufen ausgeführt werde. Auf die Lehre des Trienter Konzils, dass es sich bei dem dreigegliederten, hierarchisch verfassten Amt von Diakon, Presbyter und Bischof um eine göttliche Anordnung handelt, wird verzichtet. Damit sieht Pannenberg das zweite Vatikanum an dieser Stelle ganz nah an lutherischer Amtsauffassung. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 453. Die Unterscheidung des regionalen und lokalen Amtes sowie die Dreigliederung des Amtes beurteilt Pannenberg als verschiedene Themen, welche sich darin überschneiden, dass sich bei der Entwicklung des Bischofsamtes zum lokalen Leitungsamt dieses mit der Unterscheidung von Presbyter und Bischof verbunden hat, wobei das Diakonenamt seine Nähe zum Bischofsamt verlor. Presbyter und Bischof waren im Urchristentum lokale Gemeindeämter. Dabei wurzelt nach Pannenberg das Presbyteramt in judenchristlichen Gemeinden, das Bischofsamt samt der ihm zur Seite gestellten Diakonen entstammt den paulinischen Gemeinden. In dem von Ignatius von Antiochien

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Aufgrund der geschichtlichen Wandlungen in den Amtsbezeichnungen und den damit einhergehenden Amtsfunktionen muss es für Pannenberg heute möglich sein, sich darüber zu verständigen, das sowohl das regionale Bischofsamt als auch das lokale Presbyter- bzw. Pfarreramt von episkopalem Charakter ist. Dabei muss es gleichgültig sein, ob das lokale Amt als Grundgestalt verstanden wird, von welchem das regionale Amt durch Ausweitung der Zuständigkeit abgeleitet ist; oder ob mit dem zweiten Vatikanum das bischöfliche Amt die Vollgestalt des Leitungsamtes darstellt, an dem die Presbyter teilhaben. Die erste Variante nimmt die Tatsache ernst, dass das Bischofsamt zunächst auf lokaler Ebene entstanden ist. Die zweite Variante stellt in Rechnung, dass das bischöfliche Amt der klassische Dienst an der kirchlichen Einheit geworden ist. Jedenfalls braucht das kirchliche Leben für Pannenberg sowohl lokale als auch regionale Leitungsämter. Dabei schließen sich regionale Leitungsämter und synodale Einrichtungen nicht gegenseitig aus, sondern sind als gegenseitige Ergänzungen zu betrachten.201 Während nach Pannenberg die reformierten Kirchen während der Reformation einem Bischofsamt skeptisch gegenüber standen aufgrund dessen herrschaftlicher Ausführung, wurden von den lutherischen Kirchen das regionale Leitungsamt um der Einheit willen anerkannt, solange sich die Bischöfe der Autorität des Evangeliums unterstellten. Eine solche Stufung des Leitungsamtes wurde zwar als menschliches Recht bezeichnet, da eine Einsetzung Jesu fehlt, aber damit nicht als theologisch unbegründet angesehen. Liebe und Frieden zu erhalten durch Einrichtung und Befolgung einer Ordnung des gemeinsamen Lebens, auch wenn deren Form nicht für alle Zeiten durch göttliche

entworfenen Dreierschema sieht Pannenberg dann zum ersten Mal eine Überordnung des Bischofsamtes über den Presbyter. In diesem Modell fungiert der Diakon als repräsentierender Vertreter des Bischofs. Trotz der breiten kirchlichen Rezeption diese Dreierschemas blieb in der Kirche nach Pannenberg ein Bewusstsein von der ursprünglichen Einheit von Presbyter und Bischof präsent, wie es das Gratianische Dekret zum Kirchenrecht belegt. So blieb diese Interpretation in Scholastik und in der lutherischen Reformation vorherrschend. Das Trienter Konzil hingegen hielt an der durch göttliche Anordnung begründeten Dreigliederung des Amtes fest, um so die von der Reformation als menschliches Recht beurteilte Hierarchie des Amtes festzuhalten. Das zweite Vatikanum urteilt hier nach Pannenberg anders, indem es trotz der Hervorhebung des bischöflichen Amtes an der Einheit des kirchlichen Amtes festhält. Dabei will Pannenberg die Andeutung in Lumen Gentium, dass der Presbyter den Bischof in einer Gemeinde gegenwärtig werden lässt, dezidiert nicht als Aufnahme des ignatianischen Dreiämterschemas verstanden wissen. Vor diesem Hintergrund sieht er die Aussagen der Limaerklärung Taufe, Eucharistie und Amt, nach denen die Dreigliederung des Amtes in den Kirchen erneuert werden soll, als wenig hilfreich an. Vor allem kann so die für Pannenberg seit Spätantike bzw. Mittelalter bestehende Frage, ob regionales und lokales Leitungsamt in ihrem Wesen dasselbe Amt sind, nicht geklärt werden. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 453–456. 201 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 456.

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Einheit und Pluralität der Kirche

Autorität festgelegt ist, gehört notwendig zum Leben der Kirche Christi, und dieser Aufgabe dienen die regionalen Leitungsämter als Ausgliederungen des einen, von Gott selbst gestifteten Dienstes an der Einheit der Kirche durch die Lehre des Evangeliums.202

In dieser Perspektive beurteilt Pannenberg auch die Frage eines höchsten Amtes im Christentum, welches auf universaler Ebene der Einheit der Kirche dient.

5.3.3.1 Zur Frage eines universalen Leitungsamtes Braucht es neben dem lokalen und regionalen Leitungsamt auch ein universales Amt, welches der Einheit der Christenheit dient und diese repräsentiert, neben ökumenischen Konzilien? Für Pannenberg behauptet die römisch-katholische Kirche nicht aufgrund überzogener Ansprüche im Bischof von Rom bzw. im Patriarchen des Abendlandes ein solches Amt zu besitzen, welchem der Vorsitz im Kollegium der Bischöfe zukommt. Vielmehr ist es „ein Faktum der Geschichte des Christentums, daß seit dem Ende der Jerusalemer Urgemeinde Rom das historische Zentrum der Christenheit geworden ist.“203 Wenn also einem Amt diese Funktion zukommt, dann dem Bischof von Rom, trotz der zahlreichen Missbräuche dieses Papstamtes in der Geschichte des Christentums. Eine solche Funktion wird dem Bischof von Rom seitens der Weltöffentlichkeit zugesprochen. Auch den meisten Kirchen ist nach Pannenberg bewusst, dass es zum Bischof von Rom keine Alternative gibt. „Strittig ist denn auch weniger die Tatsache selbst als die Art ihrer Beschreibung und die Frage nach den daraus abzuleitenden Rechten.“204 Die Ostkirchen haben nach Pannenberg dem römischen Bischof den Ehrenprimat zuerkannt innerhalb des Kollegiums der Bischöfe. Allerdings lehnen sie die vom ersten und zweiten Vatikanum getroffenen Bestimmungen bezüglich des Papstamtes ab. Die anglikanischen Kirchen sieht Pannenberg in der Frage der Anerkennung des päpstlichen Primates noch weiter, da nach gemeinsamen Lehrgesprächen mit Rom für die Anglikaner nur noch die Frage der Unfehlbarkeit und des gesamtchristlichen Jurisdiktionsprimates fraglich sind. Die lutherischen Kirchen räumen die Möglichkeit ein, den Bischof von Rom als Repräsentanten der Einheit anzuerkennen, wenn dessen Amt theologisch reinterpretiert und praktisch umstrukturiert wird.205 Auch in der lutherischen Reformation sieht Pannenberg eine solche Anerkennung des 202 203 204 205

Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 457. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 458. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 458. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 458f. Eine mögliche Anerkennung des Papstamtes durch die lutherischen Kirche bei dessen Umstrukturierung und Reinterpretation entnimmt Pannenberg: Gemeinsame Römisch-Katholische/Evangelisch-Lutherische Kommission, Amt.

Das kirchliche Amt – Dienst an der Einheit

243

Papstes zu keinem Zeitpunkt gänzlich ausgeschlossen.206 So hat Luther erst in Folge der Ablehnung seiner Auslegung des Evangeliums den Papst als Antichristen bezeichnet, da dieser nach 2. Thess 2,4 seine Autorität über die der Bibel gestellt hat. Auch die Bekenntnisschriften haben sich nach Pannenberg ähnlich geäußert und unter Verweis auf das gratianische Dekret einem häretischen Papst den Gehorsam verweigert. Sollte der Papst seine Ansichten ändern, hat Luther hingegen sich bedingt bereit gezeigt, dessen Amt anzuerkennen. Aufgrund des zweiten Vatikanums und der in Dei verbum vollzogenen Unterordnung des Lehramtes unter das Wort Gottes sieht Pannenberg die damaligen Vorwürfe als überholt an. Auch die Kirchen der Reformation erkennen dies seiner Meinung nach an. Ebenso bedauern diese den Vorwurf des Antichristen und die daraus entstehenden Verunglimpfungen, wie er im Anschluss an Lehrverurteilungen – kirchentrennend? Bd. 1 festhält.207 Pannenberg schließt sich der lutherischen Forderung nach Umstrukturierung und Reinterpretation des Papstamtes an. Dies betrifft vier Aspekte: 1. Die Begründung des päpstlichen Primates, 2. die Form seines Lehramtes, 3. der gesamtkirchliche Jurisdiktionsprimat des Papstes sowie 4. die Gestaltung des Papstamtes. Dabei bleibt für Pannenbergs eigene Reinterpretation der Gedanke leitend, dass das kirchliche Leitungsamt der Einheit der Kirche dient. 1. Die Begründung des päpstlichen Primats durch die Behauptung, dass unter Verweis auf Mt 16, 16–18 bzw. Joh 21, 15–17 Jesus Christus selbst Petrus zum Haupt der Kirche eingesetzt hat, weist Pannenberg zurück. Für ihn ist es heute exegetischer Konsens, dass die herangezogenen Bibelstellen sich explizit auf Petrus beziehen, nicht auf etwaige Nachfolger. Zwar waren die römische Gemeinde und ihr Bischof Petrus besonders verbunden, da er dort zuletzt wirkte und als Märtyrer starb; das Petruswort in Mt 16, 16–18 diente allerdings erst nachträglich, nach Pannenberg erst ab dem 5. Jh., der Legitimation des Anspruches des päpstlichen Primats.208 Dessen unbenommen kommt in den urchristlichen Schriften Petrus eine herausgehobene Bedeutung zu. Er wird als paradigmatischer Apostel beschrieben, indem ihm die Erstbezeugung der Auferstehung Jesu zugeschrieben wird, sein Glauben sowie sein beispielhaftes Bekennen betont werden und er in der Rolle als Erster unter den zwölf Aposteln erscheint. Gerade nach seinem Tod wurde seine Bedeutung unterstrichen: „In der Zeit nach dem Tode der Apostel, als sich die Frage der Bewahrung der Kirche auf dem Boden ihrer Lehre stellte, wurde Petrus offenbar zu einem Symbol für die Einheit der Gesamtkirche.“209 Daher zeigt nach Pannenberg das neutestament206 207 208 209

Vgl. Pannenberg, Tradition, 386f. Vgl. Pannenberg Systematische Theologie Bd. 3, 459f. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 467f. Pannenberg, Petrusdienst, 373.

244

Einheit und Pluralität der Kirche

liche Petrusbild das Bedürfnis danach, dass es einen Dienst an der Einheit der Kirche brauchte, aber nicht nach einem Amt, welches an eine bestimmte Person gebunden ist. Petrus ist daher Vorbild für jeden Bischof und dessen Verantwortung für die kirchliche Einheit. Demgegenüber ist die besondere Bedeutung des römischen Bischofs aus der Geschichte der Kirche erwachsen, in welcher Rom immer mehr zum Zentrum des Christentums wurde.210 2. Das kirchliche Amt ist für Pannenberg auf allen Ebenen ein Lehramt. Innerhalb der Gemeinde wird dies durch die Predigt im Gottesdienst wahrgenommen, welche den Glauben an das apostolische Evangelium stärken soll und so die Gemeinde zusammenhält. Daneben ist dem lokalen Pfarramt auch der Unterricht der Gemeindeglieder übertragen. Auf regionaler Ebene wird das Lehramt durch die bischöfliche Lehraufsicht über die Pfarrer ausgeübt sowie durch Denkschriften und Lehrschreiben der Bischöfe.211 Auf gesamtkirchlicher Ebene wird das Lehramt durch Hirtenbriefe und Lehrschreiben vollzogen. Daneben räumt Pannenberg ökumenischen Konzilien und deren Verlautbarungen aufgrund ihrer Seltenheit und aufgrund der ihr in der Kirchengeschichte zugesprochenen außerordentlichen Autorität und Repräsentativität besondere Bedeutung ein. Als Ausdruck des Glaubensbewußtseins der Gesamtkirche haben solche Lehraussagen in besonderer Weise teil an der Verheißung Christi, daß die Pforten der Hölle seine Kirche nicht überwinden werden (Mt 16,18), daß er bei seinen Jüngern bleiben werde ‚bis ans Ende der Welt‘ (Mt 28,20; vgl. Joh 14,16).212

Dies ist der Grund für den definitiven Charakter konziliarer Lehraussagen. Denn die Verheißungen gelten der Kirche als ganzer und, von dieser abgeleitet, den die gesamte Kirche repräsentierenden Institutionen wie einem ökumenischen Konzil. „Ein solches bleibt daher angewiesen auf seine Rezeption bei der Gesamtheit der Glaubenden.“213 In deren positiver Rezeption erweisen sich Aus210 Vgl. Pannenberg, Petrusdienst, 373f. Diese geschichtliche Entwicklung kann nach Pannenberg durchaus als Ausdruck der Vorsehung Gottes interpretiert werden. Vgl. Pannenberg, Petrusdienst, 374, Anm. 13. 211 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 460. Die Lehraufsicht durch Bischöfe sieht Pannenberg heute in den evangelischen Kirchen zu seinem Bedauern kaum wahrgenommen, obwohl dies in einer zunehmend vom Christentum sich entfremdenden, säkularistischen Welt zwingend notwendig wäre. Stattdessen wird die Lehraufsicht immer mehr von den Synoden wahrgenommen, wofür diese nach CA 14 und CA 28 nicht autorisiert sind. Vgl. Pannenberg, Skepsis, 46f. 212 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 461. Auch wenn die angeführten Verheißungen für Pannenberg wahrscheinlich nicht Worte des historischen Jesus sind, so entsprechen sie inhaltlich der Verheißung seiner Gegenwart in seiner Gemeinde. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 461, Anm. 990. 213 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 461. Zum Wahrheitsverständnis Pannenbergs vgl. insbesondere Kap. 4.1.1. Eine solche Bestimmung des kirchlichen Lehramtes, welche die

Das kirchliche Amt – Dienst an der Einheit

245

sagen der Konzilien wie jede Lehraussage als wahr und damit als irrtumslos. In der römisch-katholischen Kirche wird nun diese Unfehlbarkeit auch für Aussagen des Papstes beansprucht, wenn dieser als die Kirche repräsentierendes Lehramt spricht. Dann bedürfen die Aussagen keiner Konsensbildung, um als wahr zu gelten. Für Pannenberg aber gilt, dass jede Aussage als Behauptungssatz nur dann wahr ist, soweit sie sich als wahr erweist. Zwar ist der Kirche Irrtumslosigkeit verheißen und an dieser kann auch ein sie repräsentierendes Amt partizipieren, aber auch dieses bleibt angewiesen auf die Rezeption seiner Aussagen durch die gesamte Kirche.214 Bleibt letztere aus, ist dadurch zwangsläufig der Anspruch des Lehramtes angezweifelt, mit seinen Verlautbarungen das Glaubensbewusstsein der gesamten Kirche zu repräsentieren.215 3. Der universale Jurisdiktionsprimat des Papstes bedarf ebenfalls einer Uminterpretation, damit eine ökumenische Verständigung über das Papstamt möglich ist. Dieser Anspruch ist für die Christenheit innerhalb wie außerhalb der heutigen römischkatholischen Kirche mit schmerzlichen Erinnerungen an eine lange Geschichte der

Wahrheit seiner Äußerungen an deren Rezeption bindet, entstammt nach Pannenberg der ostkirchlichen Tradition. Vgl. Pannenberg, Herausforderung der Amtstheologie, 411. Sie wurde auch von den Anglikanern in den Gesprächen mit der römisch-katholischen Kirche präferiert, ist aber von der vatikanischen Glaubenskongregation im Zuge dieser Gespräche als unvereinbar mit den Lehren des ersten und zweiten Vatikanischen Konzils zurückgewiesen worden. Vgl. Pannenberg, Schlußbericht, 381–384. Die Zurückweisung der Ergebnisse des Dialoges zwischen der anglikanischen und der römisch-katholischen Kirche durch die Glaubenskongration stellt für Pannenberg einen Rückschlag für den ökumenischen Prozess dar, da durch eine mögliche Einigung zwischen diesen beiden Kirchen eine Einigung zwischen Rom und den übrigen Reformationskirchen deutlich wahrscheinlicher geworden wäre. Vgl. Pannenberg, Weg, 18f. Zur Position und Geschichte der Anglikanischen Kirche innerhalb der Ökumene vgl. Pannenberg, Anglikanismus. 214 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 462f. Auf bisherige Äußerungen des Papstes bezogen, für die er solche Definitivität in Anspruch genommen hat, also für die Lehre der unbefleckten Empfängnis Mariens 1854 sowie ihrer leiblichen Aufnahme in den Himmel 1950, bedeutet dies, dass der Papst diese lediglich als Repräsentant der römischkatholischen Kirche ausgesprochen hat, da sie in den anderen Kirchen nicht rezipiert wurden. Vgl. Pannenberg, Petrusdienst, 377. 215 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 466. Eine Angewiesenheit der kirchlichen Lehre auf Rezeption ist für Pannenberg seit dem Urchristentum vertreten worden. Deswegen betont Paulus in 1. Kor 15,1, dass das Evangelium von Jesus Christus verkündigt und angenommen worden ist. In der gesamten Geschichte der christlichen Lehrverkündigung korrespondieren für Pannenberg Tradition und Rezeption. „Das Lehramt der Kirche, angefangen von der Predigt des Pfarrers, wird dabei nicht an einem ihm fremden Maßstab gemessen; denn seine Autorität in der Kirche beruht ja darauf, daß es das für den Glauben aller ihrer Glieder verbindliche Gotteswort des Evangeliums auslegt“. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 464. Dass das Lehramt dem Wort dient und diesem so untergeordnet ist, lehrt nach Pannenberg auch das zweite Vatikanum. Vgl. oben, S. 215, Anm. 113.

246

Einheit und Pluralität der Kirche

Verwechslung von Leitungsdienst und Herrschaftszwang durch Inhaber des römischen Stuhls verbunden.216

Gerade bezüglich der Jurisdiktionsgewalt ist daher eine Selbstkritik und Umstrukturierung des Papsttums notwendig. Dabei wäre für Pannenberg eine Möglichkeit solcher Umstrukturierung, die Funktionen des Papstes als Patriarch des Abendlandes und als oberster Repräsentant der Christenheit zu unterscheiden.217 Eine solche Unterscheidung fehlt dem ersten Vatikanum und seinen Bestimmungen zur päpstlichen Jurisdiktionsgewalt. Gerade die Ostkirchen erkennen den Vorrang des Patriarchen des Abendlandes an, aber wehren sich gegen eine Einmischung in die rechtliche Eigenständigkeit ihrer Bischöfe. Demgegenüber muss bei der Umbestimmung der Patriarchalgewalt nach Pannenberg Subsidiarität und Kollegialität leitend sein, um jeglichem römischen Zentralismus vorzubeugen.218 Gerade für die Jurisdiktionsgewalt des Papstes gilt, dass sie als Dienst an der Einheit verstanden werden muss. Der Papst muss als oberster Anwalt der kirchlichen Einheit fungieren. Sein Ansehen beruht nicht auf Amtsgewalt, sondern auf Überzeugungskraft. Das Gewicht seiner Autorität in der Gesamtchristenheit wird wachsen, je mehr der Papst als Anwalt der Versöhnung zwischen den heute noch getrennten Kirchen redet und handelt und je mehr er dabei die besonderen Nöte der unterdrückten und verfolgten Teile der Christenheit dem Bewußtsein der Gesamtchristenheit nahebringt.219

4. Seinem Amt als Anwalt der Einheit kann der Papst dadurch nachkommen, dass er gerade zu den derzeit von Rom getrennten Kirchen reist und sich dabei öffentlich zur Situation in der Ökumene äußert sowie die Nöte der Kirchen artikuliert, gerade in Gebieten, in denen das Christentum unter Verfolgung leidet.220 Des Weiteren tritt er besonders dann als Anwalt der Einheit auf, wenn er in seinen 216 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 466. Aus evangelischer Sicht sieht Pannenberg das vom ersten Vatikanum gelehrte universale Jurisdiktionsprimat als folgenreicher für die Ökumene an als die Lehre der päpstlichen Unfehlbarkeit. Zum einen zielte die Kritik der lutherischen Reformation am Papst auf dessen Jurisdiktionsprimat, da das Unfehlbarkeitsdogma noch nicht existierte. Zum anderen ist die Zumutung des Unfehlbarkeitsdogmas für die evangelischen Kirchen im päpstlichen Jurisdiktionsprimat begründet. „Hier nämlich hat die These ihren Grund, daß es keine die Lehraussagen des Papstes beurteilende Instanz geben könne, wie es mit der Behauptung der Geltung päpstlicher Glaubensdefinitionen ex sese intendiert ist.“ Pannenberg, Papsttum, 144. (Hervorhebung im Original.) 217 Eine mögliche Trennung der Funktionen als Patriarch des Abendlandes und Primas der Gesamtkirche ist nach Pannenberg im anglikanisch-römischen Dialog leider nicht aufgenommen worden. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 466. Im Zuge dieser Reform fordert Pannenberg auch, dass die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen aus der Jurisdiktionsgewalt des abendländischen Patriarchen entlassen werden. Vgl. Pannenberg, Petrusdienst, 369. 218 Vgl. Pannenberg, Petrusdienst, 371f. 219 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 467. 220 Vgl. Pannenberg, Petrusdienst, 375.

Das kirchliche Amt – Dienst an der Einheit

247

Erklärungen und Entscheidungen die besondere Mentalität der getrennten Konfessionen berücksichtigt und einbringt.221 Ein höchstes Amt der Kirche, welches der Einheit der Kirchen dient, kann segensreich für die gesamte Christenheit sein, trotz der immer wieder in der Kirchengeschichte auftretenden Machtstreben seiner Amtsinhaber, die der Autorität dieses Amtes erheblichen Schaden zufügten.222 Die Einheit der Kirche jedenfalls ist für Pannenberg ohne ein solches Amt nicht denkbar.223 Dessen Amtsinhaber wie im Lumen Gentium als Haupt der Kirche oder Fundament der kirchlichen Einheit zu bezeichnen, kritisiert Pannenberg entschieden. Denn Haupt und Fundament der Kirche ist allein Jesus Christus (vgl. z. B. 1. Kor 11,3f).224 Vielmehr repräsentiert ein höchstes Amt die Einheit der gesamten Christenheit und ist dieser verpflichtet, wie das kirchliche Amt auf allen seinen Ebenen dieser Einheit verpflichtet ist. Dabei muss gerade aufgrund der vielen Missbräuche dieses Amtes seine Ausführung von Versöhnung und der Anerkennung der pluralen Traditionen der kirchlichen Konfessionen geleitet sein.225

221 222 223 224 225

Vgl. Pannenberg, Glaubenswirklichkeit, 206f. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 468. Vgl. Pannenberg, Glaubenswirklichkeit, 207f. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 468, Anm. 1014. Vgl. Pannenberg, Glaubenswirklichkeit, 208f.

6.

Das pilgernde Gottesvolk – Die Kirche als Gegenstand des göttlichen Erwählungshandelns

Das Wesen der Kirche sieht Pannenberg am tiefsten erfasst mit dem Begriff des Leibes Christi. Dieser bringt zum Ausdruck, dass die Kirche im Herrenmahl begründet ist. Sie ist eben kein sozialer Zusammenschluss Gleichgesinnter, der dann Riten der Zusammengehörigkeit entwickelt. Es ist vielmehr der zentrale Ritus der Eucharistie, die zentrale Zeichenhandlung, aus der heraus die Kirche ihr Wesen empfängt. „Kirche ist die Schar der Glaubenden erst durch die Feier des Herrenmahls, die sie zum Leibe Christi und so zur Gemeinde des neuen Bundes macht.“1 Durch die Zeichenhandlung des Herrenmahls wird die Kirche selbst zum Zeichen; zum Zeichen für die im Gottesreich geeinte Menschheit. Sie ist nicht eine irgendwie anders begründete Gemeinschaft, die dann noch zum Zeichen für etwas wird; sie ist, was sie ist, als dieses Zeichen. „Als Leib Christi ist die Kirche Bestandteil des in Jesus Christus offenbaren Heilsmysteriums, Bestandteil des Heilsplans Gottes für die Menschheit.“2 In und durch die Kirche vollzieht sich für Pannenberg die von Kreuz und Auferstehung begründete Versöhnung der Menschen mit Gott nach dem ewigen Ratschluss Gottes, dass alles zusammengefasst wird in Christus (Eph 1,10); und das heißt, dass alles in Jesu Sohnverhältnis zum Vater einbezogen wird. Das Resultat dieses Einbezogenwerdens in Jesu Sohnverhältnis ist die Gemeinschaft der Glaubenden als Leib Christi, die sich im eucharistischen Gottesdienst verwirklicht. Denn durch die Gemeinschaft des Einzelnen mit Christus im Glauben, die ihn an seinem Sohnverhältnis zum Vater partizipieren lässt, wird die Gemeinschaft der Glaubenden untereinander begründet.3 Dass die Kirche wesentlich als Zeichen existiert, bedeutet für Pannenberg nicht, dass sie nicht auch als ein konkreter sozialer Zusammenhang existiert. Sie ist dies in Ortsgemeinden, in deren Zusammenschluss und in Institutionen und Ämtern, die für diese Zusammenschlüsse verantwortlich sind. Das kirchliche 1 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 469. 2 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 470. 3 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 470.

250 Das pilgernde Gottesvolk – Kirche als Gegenstand des göttlichen Erwählungshandelns Wesen muss sich dabei auf die Gestaltung des Zusammenlebens der Gemeinden auswirken, z. B. in der Diakonie und anderen Zeichen, in denen die heilende Kraft des eschatologischen Heil sichtbar wird, welches im gottesdienstlichen Zentrum der Kirche gegenwärtig ist. So kann auch die Kirche als sozialer Zusammenschluss Zeichen des Heilswillens Gottes sein, der auf die im Reich Gottes erneuerte und geeinte Menschheit zielt. Die Auswirkungen des kirchlichen Wesens auf den Lebensvollzug der Gemeinden entsprechen für Pannenberg der Heiligung des Einzelnen, die aus seiner im Glauben an Christus begründeten Gotteskindschaft folgt.4 In ihrer konkreten, geschichtlichen Gestalt hat die Kirche ihrer Bestimmung als Zeichen der zukünftigen Vollendung der Menschheit nicht immer entsprochen. Vielmehr hat sie ihre Bestimmung immer wieder verdunkelt und entstellt. Durch ihre Spaltungen, durch Intoleranz und Herrschsucht des Klerus, aber auch durch übermäßige Anpassung an die wechselnden Moden der Welt einerseits und die Enge zwanghafter Frömmigkeitsformen andererseits […] hat die Kirche dem in ihrem Wesen begründeten Auftrag immer wieder im Wege gestanden.5

Aber auch als verdunkeltes Zeichen bleibt das Zeichen ihre Bestimmung. Und es bleibt die Möglichkeit der Reinigung, so dass ihre Bestimmung wieder sichtbar wird. Daher hat es nach Pannenberg in der Geschichte der Kirche immer wieder Phasen gegeben, in denen die Kirche als Darstellung der menschlichen Bestimmung erkennbar wurde, erneuert durch die Botschaft vom Evangelium. „In dieser Perspektive gesehen ist die Kirche Volk Gottes, vorläufige Darstellung der Zukunft der Menschheit als im Reiche Gottes mit Gott versöhnt und dadurch zur Gemeinschaft des Menschen untereinander befreit.“6 Der Begriff des Gottesvolkes und dessen Gehalt bildet den Schlussstein der Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs. Seiner Abhandlung in der Systematischen Theologie folgend wurde dieser bis hierhin zurückgestellt. Er ist nach Pannenberg weder die fundamentalste noch die spezifische Bezeichnung der Kirche; beides ist mit der Bezeichnung als Leib Christi gegeben. Er ist auch kein exklusiver Begriff, um die Kirche zu beschreiben, sondern wurde vielmehr vom Volk Israel, das sich ebenfalls als Gottesvolk versteht, auf die Kirche übertragen. Was es bedeutet, dass letztere das Volk Gottes ist, muss daher von ihrem exklusiven, ihr Wesen erfassenden Begriff des Leibes Christi abgeleitet werden. Dass der Begriff des Gottesvolkes auf sie übertragen werden konnte, liegt nach Pannenberg im Abendmahl begründet. Es ist für ihn der neue Bund (1. Kor 11,25), der die Kirche als neues Gottesvolk konstituiert. Anders als im alten Bund ist es nicht die Abstammung von Abraham, welche die Teilhabe am Bund begründet, sondern 4 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 470f. 5 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 471. 6 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 471.

Erwählung und Geschichte

251

die Gemeinschaft mit Jesus Christus im Mahl.7 Und anders als im alten Gottesvolk wird man nicht in dieses hineingeboren, sondern es ist die Taufe, durch welche der Einzelne zur Gemeinschaft des neuen Gottesvolkes gehört.8 Die Tradition des Gebrauchs der Gottesvolk-Bezeichnung im Alten Israel zeigt sogleich an, dass es sich hierbei um einen Erwählungsbegriff handelt. Gegenüber dem Wesensbegriff des Leibes Christi nimmt die Bezeichnung als Volk Gottes die geschichtliche Konkretion des kirchlichen Wesens im Weltzusammenhang in den Blick. „Denn zur Erwählung gehört die Sendung, und die Sendung weist die Erwählten in die Welt und ihre Geschichte, die der Zukunft der Gottesherrschaft entgegengeht.“9 Dabei geht die Bestimmung der Kirche, das, wozu sie erwählt ist, ihrem geschichtlichen Wirken voraus. Dieses Verhältnis von Erwählung und Geschichte lässt sich plausibilisieren durch die beiden zentralen Zeichenhandlungen, aus denen die Kirche sich speist.

6.1

Erwählung und Geschichte

In Wirken und Verkündigung Jesu Christi war die Gottesherrschaft antizipativ gegenwärtig. So wurde er selbst zum Zeichen der kommenden allgemeinmenschlichen Bestimmung, die im Reich Gottes realisiert sein wird. Durch die Gemeinschaft mit ihm wird diese im Leben der Menschen bereits gegenwärtig. Besonders gilt dies für die beiden zentralen Zeichenhandlungen der Kirche, für die Eucharistie und die Taufe. In beiden hat der Einzelne Anteil an seiner Bestimmung. Im Mahl, indem es die vorweggenommene Darstellung der versöhnten Menschheit im Reich Gottes ist. In der Taufe, indem in ihr Tod und Auferstehung des Täuflings vorweggenommen werden. Die Bestimmung des Menschen, die durch das Handeln der Kirche gegenwärtig wirksam werden kann, ist letzterer vorgegeben wie die Bestimmung des Einzelnen ihm vorgegeben ist. So wird das Leben des Einzelnen wie das der Gemeinschaft zum Nachvollzug der ihnen vorgegebenen Bestimmung.10 Dies lässt sich besonders an der Taufe plausibilisieren: In der Taufe des Einzelnen wird seine Bestimmung vorweggenommen. Um aber ihre Wirkungen zu entfalten, ist sie angewiesen auf selbsttägigen Nachvollzug und Aneignung im geschichtlichen Leben des Einzelnen. Darin drückt sich die Passivität des Menschen gegenüber seiner Bestimmung aus, aber auch seine Beteiligung an deren Realisierung. Pannenberg kann den 7 Vgl. Pannenberg Systematische Theologie Bd. 3, 471f. Zum neuen Bund im Abendmahl vgl. Kap. 4.4.1. 8 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 475. Das Verhältnis von neuem und altem Bund, von neuem und altem Gottesvolk wird ausführlich Gegenstand von Kap. 6.3.1 sein. 9 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 472. 10 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 473.

252 Das pilgernde Gottesvolk – Kirche als Gegenstand des göttlichen Erwählungshandelns Nachvollzug der eigenen Bestimmung auch durch den Bildungsbegriff ausdrücken: „Die Bildungsgeschichte der Menschen zum Ebenbilde Gottes […] bedarf ihrer tätigen Beteiligung“11. Anders als Erziehung enthält Bildung den Aspekt der Beteiligung, da Bildung auf die Spontaneität des sich Bildenden angewiesen ist. Das Verhältnis von Vorgegebensein und Nachvollzug drückt sich für Pannenberg auch im Begriff des Lebensideals aus. So ist das Lebensziel des Einzelnen seine Identität, welche er durch die sein Handeln leitenden Lebensideale zu konkretisieren sucht. Die Lebensideale werden also an der dem Menschen vorgegebenen Bestimmung ausgerichtet. Damit sind sie für ihn letztlich religiös verwurzelt, da sie der Verwirklichung der in der göttlichen Wirklichkeit begründeten Bestimmung dienen. Gleiches gilt für die Lebensideale einzelner Kulturen. Auch sie sind nicht menschliche Produkte, sondern Ausdruck der Bestimmung der Menschen im Weltzusammenhang. Wird nun eine Gottheit als in der Geschichte wirkend und sich selbst offenbarend erfahren, wird die gemeinschaftliche Lebensordnung nicht mehr kosmologisch, sondern geschichtlich begründet. Der göttliche Grund der Lebensideale wird daher im Bewusstsein von Erwählung und Berufung erfahren, welche Einzelne oder eine Gemeinschaft in ein Verhältnis zu anderen Menschen und Kulturen setzen.12 Ein solches Erwählungsbewusstsein, das für die Lebensordnung einer Kultur grundlegend ist, eignet nach Pannenberg dem Volk Israel, welches Gott durch sein Handeln in der Geschichte zu seinem Volk erwählte. Daraus hervorgegangen ist das Erwählungsbewusstsein der Kirche. Die Kirche gründet nun nicht wie das Volk Israel aus einer Geburtenfolge, sondern der Einzelne wird durch die Taufe Teil der kirchlichen Gemeinschaft. Damit sieht Pannenberg das Erwählungsbewusstsein der Kirche als eschatologisch begründet an, da es durch die Teilhabe des Einzelnen an der eschatologischen Wirklichkeit des Auferstandenen konstituiert ist. Der eschatologische Charakter des christlichen Erwählungsverständnisses findet darin seinen Ausdruck, daß die Erwählung dem einzelnen in einer Zeichenhandlung widerfährt, die sein irdisches Leben und dessen Ende im Tod vorwegnimmt, um es mit der Heilszukunft Gottes, die in Jesu Auferstehung erschienen ist, zu verbinden.13

In ihr wird vorweggenommen, was im konkreten Lebensvollzug angeeignet werden muss. Der Zusammenhang nun zwischen der Vorwegnahme der Bestimmung in der Taufe und die Beteiligung an deren Nachvollzug wird für Pannenberg im Bewusstsein von Erwählung und Berufung ermöglicht.

11 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 473. 12 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 473–475. 13 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 475

Die Transformation der klassischen Erwählungslehre

253

Indem Menschen der eigenen Berufung ansichtig werden und sich von ihr ergreifen lassen als von einem höheren Willen, der über ihrem Leben steht und ihm seine Richtung gibt, werden sie zugleich zu dieser ihrer Bestimmung hin auf den Weg gesetzt14.

Dabei führt die Selbsttätigkeit und Selbsterfahrung auf diesem Prozess nach Pannenberg zu immer tieferer Klarheit über das eigene Ziel, die eigene Bestimmung. Wie der Einzelne lebt auch die Kirche aus dem Bewusstsein einer solchen Erwählung. Auch sie lebt geschichtlich in einem auf eine eschatologische Bestimmung ausgerichteten Prozess, der durch Erwählung, Berufung und Sendung begründet wird. Dabei zeigen sich auch im Leben der Kirche immer wieder Spannungen zwischen Einzelnem und Gemeinschaft, die erst eschatologisch aufgelöst werden. Dennoch ist jeder Einzelne, der sich selbst als berufen versteht, immer auf die kirchliche Gemeinschaft bezogen, da seine Berufung in Jesus Christus begründet ist, der das Haupt der Kirche ist.15 Dass die Kirche in einem geschichtlichen Prozess lebt, der durch Erwählung, Berufung und Sendung begründet ist, bedeutet für Pannenberg eine Transformation traditioneller Erwählungslehre, die die Aporien letzterer zu lösen vermag.

6.2

Die Transformation der klassischen Erwählungslehre

Pannenbergs Verwendung des Gottesvolkbegriffs als Schlusspunkt der Ekklesiologie impliziert für ihn eine Umbestimmung der traditionellen Erwählungslehre. Diese erfolgt in drei Schritten, die im Folgenden nachvollzogen werden sollen. Dabei beginnt die Darstellung mit seiner Kritik an der klassischen Erwählungslehre (Kap. 6.2.1), die zu einer Umbestimmung des Verhältnisses von Erwählung und Berufung führt (Kap. 6.2.2) und mit Pannenbergs Verhältnisbestimmung von Erwählung des Einzelnen und Erwählung der Gemeinschaft endet (Kap. 6.2.3).

6.2.1 Pannenbergs Kritik an der klassischen Erwählungslehre Pannenberg sieht die Entwicklung der christlichen Erwählungs- und Prädestinationslehre wesentlich von paulinischer Theologie geprägt. Neben dessen Ausführungen in Röm 9–11 sind es in erster Linie die Aussagen zum Erwählungsvorsatz in Röm 8,28–30, die dabei von entscheidender Bedeutung waren. Anders als Paulus, der nach Pannenberg hier das göttliche Geschichtshandeln 14 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 475f. 15 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 476.

254 Das pilgernde Gottesvolk – Kirche als Gegenstand des göttlichen Erwählungshandelns mit Bezug auf dessen Heilsplan in Jesus Christus thematisiert, legte die spätere Theologiegeschichte den Fokus auf die in Röm 8,29f erwähnten einzelnen Gläubigen, die durch Christus berufen und verherrlicht werden. Erwählung wurde in der Folge auf das Heil bzw. die Verwerfung des Einzelnen bezogen. Sie wurde als Entscheidung Gottes verstanden, die in Ewigkeit vor aller Zeit getroffen wurde; analog zu der in Röm 8,29 getroffenen Unterscheidung von Erwählung und Berufung. Als herausragende Beispiele einer solchen Konzeption nennt Pannenberg Origenes und Augustin, denen trotz aller Unterschiede in ihrer Erwählungslehre diese beiden Annahmen – der ewige Akt Gottes vor aller Zeit, der auf die Erwählung des Einzelnen bezogen ist – gemeinsam sind.16 Auch in der Scholastik und der reformatorischen Theologie blieb der Bezug zum Einzelnen bei der Erörterung von Berufung und Erwählung maßgebend.17 Gegenüber den biblischen Zeugnissen beurteilt Pannenberg die von Origenes und Augustin geprägte traditionelle Erwählungslehre als abstrakt. Sie ist dies erstens, da die göttliche Entscheidung als zeitlos gedacht wird und die biblisch bezeugte Geschichtlichkeit göttlichen Erwählungshandelns ignoriert. Zweitens sieht sie von den konkreten Gemeinschaftsbezügen des Einzelnen ab, indem sie ihn allein als Gegenstand der göttlichen Erwählung begreift. Der Einzelne wurde damit „aus seinem sozialen und lebensgeschichtlichen Kontext herausgelöst.“18 Und sie kann schließlich als abstrakt bezeichnet werden, da sie das Ziel der Erwählung allein im zukünftigen Heil, nicht aber in der geschichtlichen Funktion des Erwählten sieht.19 Eine gänzlich andere Art der Erwählungsvorstellung erkennt Pannenberg in der biblischen Tradition. So war es für das Erwählungsbewusstsein des Volkes Israel grundlegend, dass Erwählung durch konkretes Handeln Gottes in der Geschichte begründet war. Ebenso konstitutiv war es, dass die Erwählung Gottes auf die Gemeinschaft des Volkes bezogen geglaubt wurde. Auch wenn Einzelpersonen wie Könige oder Erzväter erwählt wurden, geschah dies in bestimmter Absicht bzw. Funktion für das Volk. Erst nachexilisch wird nach Pannenberg die Erwählung auf das Heil bzw. Unheil des Einzelnen bezogen, das letzterem entsprechend seinem Verhalten verheißen ist (Ez 18, 4–20). In dieser nachexilischen Wendung liegt für ihn die Wurzel der späteren, abstrakten Erwählungstradition.20

16 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 477–479. Den wesentlichen Unterschied sieht Pannenberg darin, dass bei Origenes die Erwählung Gottes aufgrund des göttlichen Vorherwissens der freien Tat des Menschen erfolgt und bei Augustin als souveräne Entscheidung Gottes vor aller Zeit. 17 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 479f. 18 Pannenberg, Bestimmung, 43f. 19 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 480. 20 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 480f.

Die Transformation der klassischen Erwählungslehre

255

Außer in Mt 22,14 ist nach Pannenberg das neutestamentliche Zeugnis dieser Wende nicht gefolgt. Das Urchristentum wusste sich durch die Begründung der Kirche in Christus einbezogen in Gottes geschichtliches Erwählungshandeln, welches durch die Kirche und deren Mission allen Menschen die Möglichkeit zum Heil im Reich Gottes eröffnete. Dies ist der Rahmen, in dem Paulus die Gemeinde in Röm 8,33 „Erwählte Gottes“ bzw. in Röm 9,24ff „Volk Gottes“ nennt. Nur wenn Röm 8,29f und Röm 9,13.16 aus diesem heilsgeschichtlichen Rahmen herausgelöst werden, kann mit diesen Bibelwörtern eine abstrakte Erwählungslehre begründet werden, wie sie die christliche Tradition bestimmt hat.21 Wird Erwählung aber als zeitloser Akt verstanden, der Heil bzw. Unheil des Einzelnen betrifft, zieht dies entscheidende Aporien nach sich, wie sie nach Pannenberg die Diskussion um die Prädestinationslehre seit dem Mittelalter belasten: Entweder Gott hat vor Anbeginn nur einigen wenigen seiner Geschöpfe das Heil zugedacht und die übrigen verdammt. Oder der göttliche Heilswille wird zwar als universal gedacht, aber in Abhängigkeit von den Geschöpfen, deren Glauben und Verhalten die Grundlage von Heil und Unheil bildet.22 Verortet Pannenberg letztere Position in der Nähe von Pelagianismus bzw. Semipeligianismus, stellt erstere für ihn die Gerechtigkeit und Güte Gottes grundsätzlich infrage.23 Luther und die Konkordienformel weisen demgegenüber über diese Problematik hinaus, insofern für sie die ewige Erwählung Gottes nicht in einem verborgenen Ratschluss vor der Zeit getroffen wurde, sondern in Jesus Christus und der in ihm geschichtlich vollzogenen Zuwendung Gottes zum Menschen. Dann aber ist das Problem, „wie sich die Wirksamkeit der göttlichen Erwählung in und durch Jesus Christus zu der vor aller Zeit getroffenen göttlichen Entscheidung verhält“24. Denn der ewige Erwählungsakt Gottes kann nach Pannenberg im Anschluss an Röm 8,28f und Eph 1,4 nicht aufgegeben werden. Es geht also um die Frage des Verhältnisses von Ewigkeit und Zeit in der Erwählungslehre, die Pannenberg mit dem Verhältnis von Erwählung und Berufung zu beantworten versucht.

21 22 23 24

Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 481f. Vgl. Pannenberg, Prädestination, 488f. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 482f. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 485.

256 Das pilgernde Gottesvolk – Kirche als Gegenstand des göttlichen Erwählungshandelns 6.2.2 Berufung und Erwählung Die Deutung der göttlichen Erwählung als ein Akt vor aller Zeit hat nach Pannenberg auch das Verständnis der Berufung25 beeinflusst. Biblisch verstanden zielt die Berufung auf den Glauben des Einzelnen durch das Evangelium (vgl. 2. Thess 2,14); sie ergeht also in der Zeit an den Einzelnen. Steht die geschichtliche Berufung aber unter dem Vorzeichen einer ewigen Erwählung, dann können die Nichterwählten das Evangelium gar nicht annehmen. Selbst wenn der Grund der Erwählung das göttliche Vorherwissen der geschöpflichen Entscheidung ist, bleibt es fraglich, ob letztere wirklich frei getroffen werden kann. Für Pannenberg ein Zweifel mit weitreichenden Folgen: „Kann die Verheißung des Heils für die Glaubenden im Hinblick auf alle, an die die Verkündigung des Evangeliums ergeht, dann noch gleichermaßen ernst gemeint sein?“26 Diese Frage trifft den Kern des Evangeliums, da es die Ernsthaftigkeit und Zuverlässigkeit der in ihm ausgesprochenen Verheißung infrage stellt. Pannenberg sieht in seinem Verständnis von Zeit und Ewigkeit eine Antwort auf die Frage der Verhältnisbestimmung von zeitlicher Berufung und ewiger Erwählung, die auch die herausgearbeiteten Aporien der traditionellen Erlösungslehre lösen kann. Wie in Kap. 5.1.2.3 dargelegt, begreift Pannenberg Ewigkeit und Zeit nicht als Gegensatz. Vielmehr umgreift die Ewigkeit trotz bleibender Differenz die Zeit. Sie ermöglicht allererst die Zeit und begründet als Ganzheit allen Lebens die Kontinuität der Lebens- und Zeitmomente. Angewendet auf die Erwählungslehre bedeutet das: „Dem Gedanken eines ewigen Vorsatzes Gottes entspricht […] als zeitliche Realisierung nur das Ganze des zeitlichen Geschehens, das erst von seiner letzten Zukunft her vollendet wird.“27 Die Erwählung Gottes wird erst in der Zukunft seines Reiches vollkommen realisiert sein. Für Pannenberg ein genuin biblischer Gedanke. Denn dass es in Eph 1,10 heißt, die Zeit wird erfüllt, indem alles auf Erden und im Himmel in Christus zusammengefasst wird, bildet für ihn den Rahmen, in dem die göttliche Erwählung vor der Grundlegung dieser Welt in Eph 1,4 zu interpretieren ist. Die Sendung Jesu aber wird erst mit der Heraufführung des Gottesreiches vollendet. Erst dann wird der Wille Gottes realisiert sein, alle Geschöpfe an der Vaterbeziehung Jesu Christi teilhaben zu lassen (Eph 1,5). Bis zum Eschaton ist daher „die Gemeinschaft der Glaubenden mit Jesus Christus Ausdruck ihrer ewigen Erwählung durch Gott.“28 Diese Gemeinschaft ist nie als abgeschlossen und exklusiv zu begreifen, sondern offen für alle, die durch den Glauben an das Evangelium teilhaben werden an der Ge25 In seinen Ausführungen zur Berufung ist Pannenberg wesentlich von Wagner beeinflusst. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 485, Anm. 32. 26 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 486. 27 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 487. 28 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 488.

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meinschaft Jesu mit dem Vater. Auch für Pannenberg kann der Einzelne als Gegenstand göttlicher Berufung und Erwählung begriffen werden, aber nicht ohne Gemeinschaftsbezug.29 Aber keiner ist es [Gegenstand der Erwählung/B.A.] für sich allein, und jeder einzelne wird der ewigen Erwählung teilhaftig durch das geschichtliche Ereignis der Berufung zum Glauben an das Evangelium von Jesus Christus.30

Pannenberg begreift die göttliche Erwählung nicht lediglich als vorzeitlichen Akt. Er ist ebenso auf die zukünftige Vollendung der Welt bezogen. Vollendung bedeutet, dass alles in Christus zusammengefasst wird; dazu ist die gesamte Schöpfung erwählt. Für die Glaubenden ist schon jetzt proleptisch Gegenwart, was der gesamten Schöpfung erst für die eschatologische Vollendung verheißen ist. Denn Zusammenfassung in Christus bedeutet Teilhabe an ihm und seiner Beziehung zum Vater. Dies ist im Glauben bereits proleptische Wirklichkeit. Die Berufung zum Glauben gibt dem Einzelnen so Gewissheit über seine ewige Erwählung. Der Sohn vollendet die Schöpfung aber nicht nur, er ist auch ihr Ursprung. Er ist dies, indem er mit seiner Selbstunterscheidung vom Vater eine von Gott unterschiedene, selbstständige Schöpfung ermöglicht.31 Daher wird bei der Zusammenfassung der gesamten Schöpfung im Sohn ihre Selbstständigkeit nicht aufgehoben. Deswegen kann nach Pannenberg das Ziel der Vollendung nicht die Wiederbringung aller bedeuten, wie Schleiermacher behauptet hat, da auch dies die Aufhebung der geschöpflichen Selbstständigkeit bedeuten würde.32 Der Zusammenhang von Schöpfung und Vollendung wird dabei ermöglicht durch das Wirken des Geistes. Er ist es, der die Teilhabe der Glaubenden am Sohn realisiert und sie so ihre Geschöpflichkeit annehmen lässt. Denn wie der Geist die Gemeinschaft des Sohnes mit dem Vater in deren Unterschiedenheit ermöglicht, so gewinnt auch nur durch das Wirken des Geistes die Sohnschaft in den Geschöpfen Gestalt, allerdings wiederum nur so, daß der Geist in ihnen den Sohn und den Vater 29 Vgl. Pannenberg, Erwählung, 615f. 30 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 488. Pannenberg sieht es als Verdienst Schleiermachers an, den unvermittelten Bezug der göttlichen Erwählung auf den Einzelnen überwunden zu haben, indem er die Erwählung auf die Menschheitsgeschichte bezogen hat und in deren Rahmen ewige Erwählung mit geschichtlicher Berufung verband. Nach Pannenberg begreift Schleiermacher Erwählung als Ordnung, in welcher sich die Erlösung eines jeden realisiert. Ordnung meint dabei die Zeitpunkte, an denen Menschen in den Erlösungszusammenhang einbezogen werden. Die zu bestimmten Zeitpunkten der Geschichte NichtErwählten sind dann nur übergangen, aber nicht endgültig verworfen. Schleiermacher begreife daher Erwählung, sich manifestierend als Rechtfertigung des Einzelnen, als einen menschheitsgeschichtlichen Prozess. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 488f. 31 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 492f. Zur Begründung geschöpflicher Selbstständigkeit in der Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 2, 36–48 sowie Kap. 2.1.1 in dieser Arbeit. 32 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 491.

258 Das pilgernde Gottesvolk – Kirche als Gegenstand des göttlichen Erwählungshandelns verherrlicht, sie also dazu befähigt, wie der Sohn ihr Unterschiedensein vom Vater (und damit ihre Endlichkeit und Geschöpflichkeit) anzunehmen.33

Der Einzelne ist zur Selbstständigkeit erwählt, die das Wirken des Geistes ermöglicht, indem der Einzelne an der Beziehung des Sohnes teilhat. Darin hat der Einzelne Teil an der Bestimmung der gesamten Schöpfung. Wer daher seine Berufung zum Glauben annimmt, für den wird diese Erwählung schon jetzt Gewissheit. Vermittelt wird diese Teilhabe an der Bestimmung der gesamten Schöpfung durch die Gemeinschaft der Glaubenden, indem in ihr das Evangelium verkündigt und die Sakramente verwaltet werden und welche der Gegenstand der göttlichen Erwählung ist.

6.2.3 Die Gemeinschaft als Gegenstand der göttlichen Erwählung Das göttliche Erwählungshandeln ist nach Pannenberg auf die Gemeinschaft der Glaubenden gerichtet. Aufgrund dieses Gemeinschaftsbezuges sieht Pannenberg sich in der Erwählungstradition des Volkes Israels verortet. Wie bereits ausgeführt ist für ihn dort auch die Erwählung Einzelner stets auf das gesamte Volk bezogen, indem sie für einen bestimmten Dienst am Volk erwählt wurden. Die Erwählung des Volkes wiederum konnte in Deuterojesja selbst als Dienst für andere interpretiert werden: Israel ist dazu erwählt, den Rechtswillen Gottes vor den Völkern zu bezeugen (Jes 42,1), damit diese Gott erkennen können (Jes 43,10). Durch diesen Dienst wird Israel zum Licht für die Völker (Jes 42,6 und 49,6). Die Bestimmung Israels ist nun nach Pannenberg auf die gesamte Völkerwelt bezogen, vergleichbar mit der Abrahamsüberlieferung in Gen 12,3 und 18,18f, nun aber verbunden mit dem Gedanken, dass das Volk Israel erwählt ist, seinen Gott vor allen Völkern zu bezeugen.34 Im Neuen Testament ist für Pannenberg aufgrund dessen apokalyptischen Hintergrundes der Einzelne Gegenstand der Erwählung. Die Gemeinde ist demgegenüber Gemeinschaft der Erwählten und in ihrem Selbstverständnis die gegenwärtige Erscheinung der endzeitlichen Gemeinde. Daher meinen nach Pannenberg die von Paulus z. B. in 1. Thess 1,4 im Plural erwähnten Erwählten die konkrete christliche Gemeinde. Erwählt sind sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu Christus (1. Kor 1,30). Für Pannenberg ist damit bei Paulus sowohl die gegenwärtige Erscheinung der endzeitlichen Gemeinde in der konkreten christlichen Gemeinde als auch die Erwählung des Einzelnen vergeschichtlicht. Jesus Christus, nach Eph 1,4 ewiger Grund der Erwählung, ist Teil der Geschichte geworden und so zum Ausgangspunkt der Berufung seiner Gemeinde. Daher ist die Be33 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 492f. 34 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 493f.

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ziehung des erwählten Einzelnen zur Gemeinschaft anders akzentuiert als im Alten Testament: Durch die Zugehörigkeit zu dem einen Herrn ist jeder einzelne Christ der Gemeinde verbunden, so daß die Gliedschaft in der Gemeinde bereits Ausdruck individueller Erwählung ist und diese sich nur sekundär in bestimmten charismatischen Diensten an der Gemeinde äußert.35

Die Erwählung des Einzelnen zeigt sich also bereits in seiner Zugehörigkeit zum Gottesvolk, nicht erst in einem bestimmten Dienst für dieses. Demgegenüber ist den Erwählungsvorstellungen des Alten und Neuen Testaments nach Pannenberg gemeinsam, dass der göttliche Erwählungswille auf die gesamte Menschheit zielt. Die christliche Gemeinde bezeugt den in Christus offenbarten göttlichen Heilswillen, der auf die gesamte Menschheit zielt, indem in ihr die Bestimmung des Menschen vorweggenommen dargestellt wird. Die Erwählung des Einzelnen und der Gemeinde bedeutet, dass in diesen die Bestimmung der gesamten Menschheit antizipativ gegenwärtig ist. „Diese Antizipation konstituiert den Begriff der Erwählung“36. Durch die Berufung des Einzelnen und der Gemeinschaft, an der ewigen Erwählung Gottes in Christus teilzuhaben, wird die eschatologische Bestimmung des Menschen gegenwärtig. Der Erwählte wird so zugleich in einen Dienst gestellt, denn er hat sein Heil, zu dem er berufen ist, nicht für sich allein. Letzteres, also eine Absonderung von den vermeintlich Verworfenen, ist für Pannenberg vielmehr eine Perversion der eigenen Erwählungsgewissheit. „Das wahre Erwählungsbewußtsein findet seinen Ausdruck im Dienst an der Menschheit und an den Gemeinschaften, in denen die Menschheit sich für den einzelnen vorläufig konkretisiert.“37 Ein solcher Dienst ist für Pannenberg in Jesu Geschichte exemplarisch realisiert, welcher als Erwählter Gottes (Mk 1,11) dazu bestimmt war, den Menschen zu dienen (Lk 22,28). Das Ziel des göttlichen Erwählungshandelns ist nach Pannenberg die vollkommene Gemeinschaft der gesamten Menschheit im Reich Gottes, begründet in der Gemeinschaft des Einzelnen mit Gott. Im Gottesvolk ist diese eschatologische Menschheit paradigmatisch realisiert. Die traditionelle Erwählungslehre hatte den Gemeinschaftsbezug der Erwählung und ihre Geschichtlichkeit nicht berücksichtigt. Erst durch Schleiermacher und Albrecht Ritschl wurden diese beiden Dimensionen des göttlichen Erwählungshandelns wieder ins Bewusstsein gebracht.38 Durch eine solche Umbestimmung der traditionellen Erwählungs35 36 37 38

Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 495. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 495. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 496. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 496f. Nach Pannenberg ist Ritschl Schleiermacher darin gefolgt, dass das Ziel der Erwählung die Vollendung der gesamten Schöpfung ist, nicht die Erwählung Einzelner. Für Ritschl ist die Vorstellung, dass die Erwählung die

260 Das pilgernde Gottesvolk – Kirche als Gegenstand des göttlichen Erwählungshandelns lehre sieht Pannenberg deren Aporien überwunden. In der traditionellen Fassung bedeutete Erwählung immer zugleich auch Verwerfung. Wird Erwählung statt auf das Individuum auf die Gemeinschaft bezogen, impliziert auch das den Ausschluss anderer Gemeinschaften. War das Volk Israel das Eigentum Gottes, so markierte dies einen entscheidenden Unterschied zu den übrigen Völkern. Aber die Anzahl derer bleibt offen, die an der Bestimmung des Volkes partizipieren. Wird darüber hinaus das Volk als vorläufige Darstellung der eschatologischen Menschheit verstanden, ist für Pannenberg erst recht offen, wer Teil dieser Menschheit sein wird. Besonders dann, wenn die Partizipation an diesem Volk nicht durch leibliche Abstammung begründet wird. Die Kirche, die aus Juden und Heiden hervorgegangen ist und sich als Antizipation des Reiches Gottes begreift, ist für Pannenberg von einer solchen Offenheit bestimmt.39 Gleichzeitig erhebt sie den Anspruch, um die Kriterien zu wissen, nach denen der Einzelne Teil der eschatologischen Gemeinschaft ist. Dies ist der Rechtswille Gottes, wie ihn das Alte Testament bezeugt und wie er von Jesus ausgelegt wurde. Damit gibt es für Pannenberg einen Zusammenhang zwischen der gegenwärtigen und der eschatologischen Gemeinde der Erwählten, begründet im Wissen um die Kriterien für die Zugehörigkeit zum Reich Gottes. „Darum kann, wer dem Rechtswillen Gottes entspricht und sich zu Jesus als dessen Verkünder und Ausleger bekennt, schon gegenwärtig der Teilhabe an der endgültigen Heilsgemeinschaft gewiß sein.“40 Das schließt nicht aus, dass Menschen Teil der eschatologischen Vollendung sein werden, die jetzt noch nicht Teil des Gottesvolkes Gemeinde zu ihrem Gegenstand hat, der angemessene Ausdruck dafür, dass Erwählung zugleich immer auch Beschränkung bedeutet, indem andere übergangen werden. Denn die Gemeinde ist offen für weitere Individuen. Den Unterschied zwischen Schleiermacher und Ritschl sieht Pannenberg darin, dass Ritschl die Gründung der christlichen Gemeinde direkt auf Jesu geschichtliches Wirken zurückführt als Zweck seiner Reich-Gottes-Verkündigung. Damit ist Jesus Christus selbst Teil der göttlichen Erwählung. Bei Schleiermacher hingegen ist die Gründung der Gemeinde nach Pannenberg lediglich eine Wirkung der Vollkommenheit Jesu. K. Barth hat nach Pannenberg an Ritschl angeschlossen, indem er die Erwählung auf Jesus Christus bezog und die Gemeinde als seinen Spiegel in diese Erwählung eingeschlossen hat. Mit einer solchen Urbild-Abbild-Vorstellung ist nach Pannenberg das Verhältnis der Erwählung Jesu zur übrigen Menschheit nicht angemessen ausgedrückt. Für ihn existiert das Haupt nicht ohne seine Gemeinde. Die Verkündigung Jesu ist zwar nicht wie bei Ritschl direkt auf die Gründung der Kirche zu beziehen, vielmehr galt sie ursprünglich dem jüdischen Gottesvolk. Jesu Christi Erwählung ist zum Dienst am erwählten Gottesvolk bestimmt, in welchem die Bestimmung der Menschheit dargestellt ist. Durch diesen Dienst sind die Identität des Menschen Jesus und des ewigen Sohnes vermittelt, in dessen Vaterverhältnis die Glaubenden einbezogen werden. Indem die Glaubenden so einbezogen sind in Jesu Vaterverhältnis, sind sie nach Eph 1,4 in Christus erwählt. Wie die Erwählung eines jeden Einzelnen auf die Gemeinschaft bezogen ist, so ist auch Jesu Erwählung auf die Gemeinschaft bezogen. An dieser Stelle war K. Barth nach Pannenberg nicht konsequent. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 497–499. 39 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 500. 40 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 501.

Die Kirche als Volk Gottes

261

sind. Und es bedeutet nicht, dass die Teilhabe am Gottesvolk das künftige Heil garantiert. Vielmehr können Einzelne verworfen werden, indem ihr Verhalten das göttliche Gericht nach sich zieht. Die Erwählung der Gemeinschaft selbst ist für Pannenberg im Anschluss an Jer 31,37 und Röm 11,1f.28f unverbrüchlich. Ihre vorübergehende Verstockung bedeutet nicht ihre Verwerfung. Denn wie dem Einzelnen gilt ihr die dem Umkehrenden verheißene Vergebung.41

6.3

Die Kirche als Volk Gottes

Die von Gott erwählte Gemeinschaft wird in ihrer umfassenden Bestimmung erst eschatologisch realisiert sein. Demgegenüber ist die erwählte Gemeinschaft innerhalb der Geschichte noch unterwegs zu dieser Bestimmung. Es ist für Pannenberg eine Gemeinschaft, die sich im göttlichen Rechtswillen gründet und so die vollendete Menschheit vorweggenommen darstellt. Als solche Darstellung ist sie Zeichen der Schöpfungsabsicht Gottes.42 Für die Kirche war eine solche Zeichenfunktion nach Pannenberg von Beginn an grundlegend. Dabei hatte sie „von Anfang an mit der Versuchung zu kämpfen, die eigene Gemeinschaft mit der Gemeinschaft der endzeitlich Erwählten in einem exklusiven Sinne gleichzusetzen“43. Das Bewusstsein der eigenen Vorläufigkeit und der eigenen Partikularität ist so immer wieder verblasst. Für Pannenberg ist ein solches Bewusstsein notwendig für die Kirche. Sie entspricht darin ihrem Haupt Jesus Christus, der sich auch vom Reich Gottes unterschieden wusste. Sie ist sakramentale Darstellung der eschatologischen Gemeinschaft der Menschheit und darin von letzterer unterschieden.44 Im Abendmahl ist diese Darstellung am dichtesten sichtbar. Und auch die Bezeichnung der Kirche als Gottesvolk ist für Pannenberg im Abendmahl begründet. Es ist der neue Bund, den Jesus mit dem beim Mahl gereichten Kelch verknüpft, der das Gottesvolk konstituiert (vgl. 1. Kor 11,25; Lk 22,20). Hierdurch wird die Gemeinschaft der Jünger vom jüdischen Volk abgegrenzt. „Der Bundesgedanke hat sein Korrelat in dem des Gottesvolkes, mit dem der Bund geschlossen wird und das durch den Bund konstituiert wird.“45 Aufgrund der darin begründeten Bezeichnung der Kirche als Gottesvolk46 sind nach Pannenberg zwei Verhältnisbestimmungen 41 42 43 44 45 46

Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 501. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 501f. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 503. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 502–504. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 504. Hat das Verständnis der Kirche als Gottesvolk in der Alten Kirche nach Pannenberg noch eine zentrale Rolle gespielt, so geriet dieses im 5. Jh. in den Hintergrund. Da nun das Christentum die Religion des römischen Imperiums geworden war, galt das theologische Interesse dem

262 Das pilgernde Gottesvolk – Kirche als Gegenstand des göttlichen Erwählungshandelns notwendig: Das Verhältnis der Kirche zum jüdischen Gottesvolk (Kap. 6.3.1) sowie das Verhältnis der erwählungstheologischen Bezeichnung der Kirche als Gottesvolk und ihrer geschichtlichen Konkretion als Amtskirche (Kap. 6.3.2).

6.3.1 Kirche und Israel Der Begriff des Gottesvolkes lässt nach Pannenberg keinen Plural zu. Damit stellt sich unweigerlich die Frage des Verhältnisses der Kirche und des jüdischen Volkes. Eine Notwendigkeit, die laut Pannenberg die Weltkirchenkonferenz in Evanston 1954 übersehen hat und das Zweite Vatikanum mit der Gegenüberstellung von neuem und altem Gottesvolk ungenügend bedacht hat.47 Im Neuen Testament wird die Kirche nicht als „neues“ Gottesvolk bezeichnet, sondern erst im Barnabasbrief (vgl. 5,7; 7,5). Hier hatte es laut Pannenberg eine antijüdische Funktion, da nach Barnabas die Juden den von Moses angebotenen Bund nicht angenommen hatten. Bei Hippolyt von Rom und Melito von Sardes findet sich die etwas abgeschwächte Position der Ablösung Israels als Gottesvolk durch die Kirche, welche Pannenberg als Substitutionsthese bezeichnet. Doch auch in dieser ist Israel nicht mehr das Volk Gottes.48 Im Römerbrief identifiziert Pannenberg demgegenüber eine andere erwählungstheologische Verhältnisbestimmung. Hier wird die Erwählung Israels als unverbrüchlich bezeichnet (vgl. Röm 9,6; Röm 11,29).49 Wäre sie nicht unverbrüchlich, auch angesichts des Verhältnis von geistlicher und weltlicher Gewalt. Kirche wurde hierarchisch-juridisch begriffen als priesterliche Herrschaftsordnung (sacerdotium) sowohl im Verhältnis zur weltlichen Gewalt (regnum) als auch im Verhältnis zum Kirchenvolk. Demgegenüber war in der Reformation nach Pannenberg die Rede vom Volk Gottes ein ekklesiologischer Grundbegriff. Für das Verständnis der Einheit der Christenheit sieht er aber den Gedanken der Gemeinschaft der Glaubenden, nicht den des Gottesvolkes als zentral an. Im Katholizismus erhielt das Verständnis der Kirche als Volk Gottes erst in den Texten des zweiten Vatikanums entscheidende Bedeutung. Dass es im Lumen Genitum die Erörterung der Kirche als Gottesvolk der Erörterung der Ämterhierarchie vorangestellt wird, deutet Pannenberg so, dass nun das kirchliche Amt als Teil des kirchlichen Lebenszusammenhangs begriffen wird und nicht als selbstständige Hierarchie dem Kirchenvolk gegenüber. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 504–506. 47 Vgl. Pannenberg Systematische Theologie Bd. 3, 508f. Nach Pannenberg wollte das zweite Vatikanum mit der Gegenüberstellung von alt und neu die heilsgeschichtliche Kontinuität und Differenz ausdrücken. Der Unterschied besteht für das Konzil im Wesentlichen darin, dass nicht die leibliche Abstammung, sondern die Taufe die Zugehörigkeit konstituiert. Das neu erwählte Gottesvolk wird gleichzeitig auf die im Reich Gottes versöhnte Menschheit bezogen. Die Kirche wird nach Pannenberg als Keim der zukünftigen Menschheit verstanden. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 507f. 48 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 509f. 49 Ganz anders urteilt Paulus nach Pannenberg im ersten Thessalonicherbrief, in welchem die Folge der Ablehnung Israels unwiderruflich das Gericht ist (vgl. 1. Thess 2,14–16). Für seine

Die Kirche als Volk Gottes

263

Unglaubens Israels, könnten die Christen auch ihrer Erwählung nicht gewiss sein. Dass Gott an seinem Bund mit dem jüdischen Volk festhielt, obwohl große Teile davon Jesus ablehnten, erklärt Paulus laut Pannenberg im Rückgriff auf den Propheten Elias damit, dass in der judenchristlichen Gemeinde ein Rest des Gottesvolkes bewahrt ist (vgl. Röm 11,7). Ist das Gottesvolk zunächst darauf beschränkt, wird es durch die apostolische Heidenmission ausgeweitet (vgl. Röm 9,24–26). „Damit ist bereits ein bleibender Zusammenhang zwischen Kirche und jüdischem Volk gegeben“50. Die Ablehnung des Evangeliums von Jesus Christus durch den Großteil des jüdischen Volkes wird laut Pannenberg im Römerbrief als von Gott gewirkte Verstockung beurteilt (vgl. Röm 11,25). Diese dauert an, bis alle Heidenvölker Anteil am Heil gewonnen habe. Die Verstockung Israels ist damit nicht endgültig und seine Erwählung nicht hinfällig.51 Im Römerbrief bleibt nach Pannenbergs Urteil das jüdische Volk genauso wie alle anderen Völker angewiesen auf Jesus Christus, um am eschatologischen Heil teilzuhaben. Dabei ist Paulus von der Erwartung bestimmt, dass der wiederkehrende Christus sich mit dem Menschensohn bzw. Messias der jüdischen Heilserwartung identisch erweist und den göttlichen Bund mit Israel erneuert, indem er ihm die Sünden vergibt. Für diese Erwartung kann sich Paulus nach Pannenberg auf die Verheißung des neuen Bundes in Jes 59,20f beziehen, verbunden mit dem Gedanken der Sündenvergebung in Jer 31,34 bzw. Jes 27,9c. Somit konstituiert der neue Bund kein neues Gottesvolk, sondern bleibt bezogen auf das Gottesvolk des alten Bundes. Beide unterscheiden sich nach Pannenberg dadurch, dass in dem prophetisch erwarteten neuen Bund das Gesetz im Inneren des Menschen ist (vgl. Jer 31,33) und der göttliche Geist auf ihnen ruht (vgl. Jes 59,21). Des Weiteren wird erwartet, dass Nichtjuden Teil des erneuerten israelitischen Bundesverhältnisses sein werden.52 Pannenberg nun erblickt in dem neuen Bund, an dem nach Röm 11,27 Israel bei der Wiederkunft Christi teilhaben wird, den in Christi Blut geschlossenen neuen Bund, an welchem der Kelch beim Abendmahl Anteil gibt. Die in der Mahlgemeinschaft mit Jesus zur Einheit seines Leibes zusammengeschlossene Kirche hat schon jetzt Anteil an dem Neuen Bund, der dem Volke Israel als ganzem

eigenen Ausführungen orientiert sich Pannenberg aber ganz an den Darlegungen im Römerbrief. 50 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 511. Diesen bleibenden Zusammenhang sieht Pannenberg in dem paulinischen Bild der Baumwurzel in Röm 11,17f ausgedrückt, die die eingepfropften Zweige trägt, sowie in den Ausführungen in Eph 2,12–20, wo Heiden und Juden durch Christi Frieden in der Kirche als sein Leib vereint sind. 51 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 511. 52 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 511f.

264 Das pilgernde Gottesvolk – Kirche als Gegenstand des göttlichen Erwählungshandelns (Röm 11,26) bei der Wiederkunft Christi als der von Israel erwarteten Ankunft des eschatologischen Erlösers gewährt werden wird.53

Juden und Christen sind Teil eines Gottesvolkes aus der Perspektive ihrer eschatologischen Bestimmung. In dem von der jüdischen Prophetie erwarteten neuen Bund werden das alte Gottesvolk und die Kirche vereint. Gegenwärtig hat letztere bereits Anteil an diesem neuen Bund aufgrund ihrer Teilhabe an Jesus Christus.54 Was bedeutet das nun für das Verhältnis von Christen und Juden? Eine Judenmission, vergleichbar mit der Mission der heidnischen Völker, lehnt Pannenberg strikt ab. Die Juden glauben bereits an den einen Gott (vgl. 1. Thess 1,9). „Mehr noch: Sie sind den Christen in diesem Glauben vorangegangen.“55 Das hat zur Konsequenz, dass das christliche Zeugnis gegenüber den Juden sich darauf beschränkt, Jesus Christus als endgültige Offenbarung dieses einen Gottes zu bezeugen, welche zuerst an die Juden und dann an die Heiden erging. Das bedeutet, dass in christlicher Perspektive Jesus Christus Teil der Identität des einen Gottes geworden ist. Denn Jesu Botschaft und Wirken war auf das erste Gebot bzw. auf Dtn 6,4f als dessen Auslegung bezogen. Hierin besteht die bleibende christliche Anfrage an das Selbstverständnis des jüdischen Glaubens und nur als eine solche Anfrage kann die sogenannte Judenmission begriffen werden.56 In der Geschichte des Christentums ist nach Pannenberg die Notwendigkeit einer differenzierten Verhältnisbestimmung von Juden und Christen übersehen worden, die aus der Bezeichnung der Christen als Volk Gottes folgt. Bereits im ersten Petrusbrief fehlt eine solche Verhältnisbestimmung, anders als noch bei Paulus. Die Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahre 70 n. Chr. wurden vielmehr als Gericht über Israel interpretiert, wie es in Mk 13,1–4 parr und Lk 19,43f vorhergesagt wurde. Die Christen beanspruchten die Bezeichnung als Gottesvolk exklusiv für sich, wie der Barnabasbrief in polemischer Weise zeigt. Pannenberg erblickt darin das Verschwinden des für die Kirche notwendigen Bewusstseins der eigenen Vorläufigkeit zugunsten eines Bewusstseins der eschatologischen Erfüllung. Und auch bei der eingangs skizzierten Substitutionsthese sieht Pannenberg das Bewusstsein der eigenen Vorläufigkeit verfehlt. Ein für das Christentum verhängnisvoller Sachverhalt: In ihren Beziehungen zum Judentum hatte die Kirche zum ersten Mal zu entscheiden, ob sie ein Element von Pluralität in ihr Verständnis der Geschichte Gottes mit der Menschheit und ihres eigenen Ortes in dieser Geschichte anzunehmen bereit war oder

53 54 55 56

Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 512f. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 513. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 514. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 514f.

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aber eine jeden konkurrierenden Anspruch ausschließende Auffassung ihrer eigenen Erwähltheit bevorzugen wollte.57

Für Pannenberg ist es unzweifelhaft, dass die Kirche sich für die zweite Variante entschied. Das Wesen der Kirche als Darstellung der versöhnten Menschheit im Reich Gottes wurde verkannt. Das aus diesem Wesen notwendig folgende Bewusstsein um die eigene Vorläufigkeit wurde ignoriert und damit die daraus entstehende Möglichkeit religiöser Pluralität ausgeschlagen. Diese theologische Entscheidung prägte die Geschichte des Christentums nachhaltig: Die folgende Geschichte des Christentums ist voll von den gefährlichen Konsequenzen dieser Entscheidung in Gestalt dogmatischer Intoleranz und einer nicht abreißenden Reihe von Spaltungen, die aus solcher dogmatischen Exklusivität hervorgingen.58

Der dogmatischen Intoleranz und den daraus folgenden Spaltungen innerhalb der Kirchengeschichte liegt diese Fehlentwicklung im Verhältnis zum jüdischen Volk zugrunde. Die Gefahr eines Bewusstseins exklusiver Erwählung hätte aufgrund der Warnungen des Paulus erkannt werden können. So aber wurde die Geschichte des Juden- und des Christentums nicht nur eine Geschichte der Erwählung, sondern auch eine des göttlichen Gerichts. Es hat freilich lange gedauert und des Erschreckens über den Judenmord der deutschen Nationalsozialisten bedurft, bis die Kirche sich bereit fand, sich zu dieser Schicksalsgemeinschaft und der ihr gemäßen Solidarität mit dem jüdischen Volk zu bekennen.59

Vor diesem Hintergrund sieht Pannenberg heutige christliche Theologie in der Pflicht, sich an der Offenheit der paulinischen Ausführungen zu orientieren. Kirche darf und soll sich als im Herrenmahl konstituiertes Gottesvolk verstehen. Aber sie darf dies nicht in einem exklusiven Anspruch gegenüber dem Volk Israel tun. Der Bezug Jesu beim letzten Mahl auf den verheißenen neuen Bund hebt den Bezug dieser Verheißung zu Israel nicht auf. Vielmehr wird damit die im Mahl vollzogene Gemeinschaft mit Jesus als Heilzukunft auch des jüdischen Volkes bezeichnet.60 Der Einheit des göttlichen Reiches, auf dessen Realisierung die eschatologische Hoffnung zielt, korrespondiert nach Pannenberg notwendig der Gedanke eines Gottesvolkes, welche das Ziel des göttlichen Erwählungshandelns ist. „Der Begriff des Gottesvolkes kennt darum keinen Plural. Aber er bietet Raum für die ganze zur Teilhabe an der Gottesherrschaft verwandelte und erneuerte Menschheit.“61 Die christliche Kirche ist zu jedem Zeitpunkt in der Geschichte 57 58 59 60 61

Pannenberg, Bestimmung, 57. Pannenberg, Bestimmung, 57. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 516. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 516f. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 517.

266 Das pilgernde Gottesvolk – Kirche als Gegenstand des göttlichen Erwählungshandelns nur die vorläufige Gestalt dieses im Reich Gottes vollendeten Gottesvolkes. Dem Bewusstsein um diese Vorläufigkeit muss sie verpflichtet sein. Im Folgenden soll Pannenbergs Verhältnisbestimmung zwischen dem Verständnis der Kirche als Gottesvolk und ihrer geschichtlichen Konkretion als Amtskirche nachgegangen werden.

6.3.2 Gottesvolk und Amtskirche Wenn die Kirche als Gottesvolk verstanden wird und darin als Antizipation des im Eschaton vollendeten Bundevolkes, „so erhebt sich die Frage, wie sie sich in dieser Eigenschaft geschichtlich konkret darstellt.“62 Bei Israel ist nach Pannenberg mit dem Gottesvolkbegriff ein konkretes Volk gemeint, eine durch Abstammung begründete Nation mit gemeinsamer Kultur und Sprache, die in wichtigen Phasen der eigenen Geschichte ein eigenes Territorium samt eigener politischer Ordnung innehatte. Demgegenüber ist die Kirche ein geistlich begründeter Lebenszusammenhang, insofern dieser durch die Taufe des Einzelnen begründet wird (vgl. 1. Kor 12,13). Die Kirche ist nur als Leib Christi das vorauslaufende Zeichen der eschatologisch vollendeten Menschheit. „Christsein gründet in Taufe und Glauben, und die Taufe begründet ein Sein extra nos in Christo, an dem wir nur durch den Glauben teilhaben.“63 Die Kirche hat ihr Wesen jenseits der Glaubenden selbst in Jesus Christus, in dem ihr Glauben gründet. Eine Folge des Glaubens ist die Heiligung eines jeden Einzelnen. Der Glaube muss sich auswirken im Zusammenleben mit anderen und so auch in der Gestaltung dieses Zusammenlebens. Wenn die Gemeinschaft der Christen nicht nur Minderheit in einer nichtchristlichen Gesellschaft ist, dann sollten auch die politischen und ökonomischen Formen des gesellschaftlichen Lebens von christlichem Geist bestimmt sein.64

Dabei stärkt aber der Gottesvolkbegriff noch einmal das kritische Potential, das in jeder christlichen Bestimmung des Staates und der Kirche gegeben ist: Die endgültige Realisierung einer dem christlichen Glauben entsprechenden Staatsform wird erst im Eschaton gegeben sein. Hiervon können zwar Impulse ausgehen zur Veränderungen gegenwärtiger Gestaltungen der sozialen Ordnung. Aber jede Gestaltung bleibt vorläufig gegenüber dem Reich Gottes. „Der Staat, als dessen Bürger die Christen sich wissen, hat seine eigentliche Realität jenseits dieser Welt, in der Zukunft Gottes.“65 Dies ist für Pannenberg der Grund, dass 62 63 64 65

Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 517. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 518. (Hervorhebung im Original.) Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 518. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 520.

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267

sich auf dem Boden des Christentums nach der konstantinischen Wende ein Gegenüber von weltlicher und geistlicher Gewalt herausgebildet hat; ein religionsgeschichtlich einmaliger Vorgang. Dabei meint ein solches Gegenüber aber nach Pannenberg keine Trennung von Kirche und Staat, sondern ist vielmehr Teil einer vom Christentum geprägten Gesellschaft. Eine prinzipielle Trennung ist das Ergebnis einer erst später eintretenden Entwicklung, die die Kirche auf den kultischen Lebensvollzug ihrer Glieder beschränkt hat und so auf einen Teilaspekt ihres gesellschaftlichen Lebens. Geschichtlich notwendig wurde eine Trennung der altkirchlichen Symphonie von Kaiser und Bischöfen durch den Anspruch des Papsttums, die Autorität über die weltliche Ordnung innezuhaben. Die Folge war für Pannenberg das Wormser Konkordat 1122, welches Kirche und Staat trennte und die Begrenzung der Kirche auf die institutionelle Gestalt des religiösen Lebens besiegelte. Ein Kirchenbegriff, der sich demgegenüber nicht auf eine solche institutionelle Gestalt der Amtskirche einengt, kann das dadurch entstandene Verhältnis zur weltlichen Ordnung korrigieren.66 Die Erneuerung des Volk-Gottes-Begriffs in der Ekklesiologie enthält also ein Potential für künftige neue Lösungen der Frage nach dem Verhältnis von Kirche und politischer Ordnung, so wenig aktuell solche Möglichkeiten auch zu sein scheinen angesichts der fortschreitenden Ablösung des Säkularismus der ‚westlichen‘ Staatenwelt von den christlichen Wurzeln ihrer kulturellen Tradition.67

6.4

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Die göttliche Erwählung konstituiert nach Pannenberg die Geschichte des Gottesvolkes. Denn das göttliche Erwählungshandeln bildet […] den Ausgangspunkt einer Geschichte des Erwählten, weil die Erwählung auf ein zukünftiges Ziel gerichtet ist und sie dem Erwählten in der Regel eine Funktion für einen größeren Lebenszusammenhang in Orientierung auf dieses Ziel hin zuweist.68 66 Pannenberg weist in der Systematischen Theologie darauf hin, dass er in einigen früheren Veröffentlichungen selbst einen solchen verengten Kirchenbegriff verwendet hat. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 520f, Anm. 117. Er nennt als Beispiel die Ausführungen in Wissenschaftstheorie und Theologie, in welchen er die Kirche als eine Institution innerhalb des Lebens des Gottesvolkes bezeichnet. Vgl. Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 405. Die Bezeichnung der Kirche als Gottesvolk ermöglicht demgegenüber einen weiter gefassten Kirchenbegriff, der auf den gesamten gesellschaftlichen Lebenszusammenhang bezogen ist, in welchem der Staat und die Amtskirche einzelne Institutionen sind. 67 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 521. Pannenbergs eigene Ausführungen zum Verhältnis von Staat und Kirche sind Gegenstand von Kap. 4.5. Seine Bestimmungen zur Funktion der Religion in der gemeinsamen Welt und damit auch für die politische Ordnung sind immer wieder Thema in Kap. 2.2 und besonders in Kap. 2.2.5. 68 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 523.

268 Das pilgernde Gottesvolk – Kirche als Gegenstand des göttlichen Erwählungshandelns Dieser Gedanke wird plausibilisiert durch das Erwählungsverständnis Israels. Indem dieses sich als gesamtes Volk durch den Auszug aus Ägypten erwählt wusste, wurde der Erwählungsgedanke der Rahmen für das eigene Geschichtsverständnis. So zeigt z. B. das deuteronomistische Geschichtswerk für Pannenberg eine Deutung der gesamten Geschichte Israels unter dem Vorzeichen seiner Erwählung, die an die Einhaltung des Bundesrechts gebunden wurde. Die Geschichte der Könige Israels wird so eine Geschichte von der Geduld Gottes und seines Gerichts. Endet das Geschichtswerk mit dem Scheitern Israels, geht Deuterojesaja darüber hinaus, indem es die gesamte Geschichte Israels als ein Zeugnis des göttlichen Rechtswillens vor den Völkern deutet. Nach Pannenberg besteht in der christlichen Theologie eine große Einigkeit darüber, dass diese in der Erwählung Gottes begründete Heilsgeschichte Israels in den Religionen und Kulturen des Alten Orients analogielos und einzigartig ist. Kulturgeschichtlich hält Pannenberg diese Übereinkunft für durchaus angemessen. Dennoch kann nach seiner Auffassung durch einen Vergleich der Kulturen nicht nur die Besonderheit geschichtlicher Phänomene gezeigt werden, sondern auch „die Relevanz des Besonderen für das kulturgeschichtlich Allgemeine“69 erkennbar werden. Diesem kulturgeschichtlichen Vergleich Pannenbergs soll im Folgenden nachgegangen werden, um das für ihn allgemeinmenschlich Bedeutende der Erwählungstradition Israels herauszustellen (Kap. 6.4.1). Daran anschließend soll dem Geschichtsverständnis nachgegangen werden, welches aus einem solchen Erwählungsbewusstsein folgt (Kap. 6.4.2), um abschließend die Konsequenzen in den Blick zu nehmen, die Pannenberg daraus für das Verständnis und die Deutung der Kirchengeschichte zieht (Kap. 6.4.3).

6.4.1 Der Erwählungsgedanke als Begründung einer geschichtlichen kulturellen Ordnung im Alten Israel Nach Pannenberg haben die Kulturen im Alten Orient genau wie Israel ihre politischen Ordnungen als religiös fundiert verstanden. Allerdings nicht durch einen Erwählungsakt begründet, sondern durch die kosmische Ordnung. Die politische Ordnung repräsentierte die kosmische.70 Pannenberg nun hält im Anschluss an Voeglin fest, dass aus heutiger Perspektive unzweifelhaft ist, dass 69 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 524. 70 Der Glaube an eine kosmische Ordnung als Grund der politischen Ordnung ist nach Pannenberg infolge geschichtlicher Veränderungen und sie begleitender Ängste zerstört worden. Dass der geglaubte Gott von der kosmischen Ordnung abgelöst und zum Herrn der Geschichte wurde, ereignet sich erst im Erwählungsglauben des Alten Israels, auch wenn es nach Pannenberg Andeutungen in eine solche Richtung bereits bei den Sturmgöttern Hattis und Sumers gibt. Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 478–482.

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269

die Hochkulturen faktisch aufgrund geschichtlicher Ereignisse entstanden sind, die auch das religiöse Bewusstsein verändert haben. Wenn nun Israel um seinen geschichtlichen Ursprung im göttlichen Erwählungshandeln wusste, wie z. B. die Völkertafel in Gen 10 zeigt, „dann zeigt sich darin also zugleich ein größeres Maß an bewußter Klarheit über den faktisch geschichtlichen Ursprung der eigenen sozialen Lebensordnung.“71 Der faktisch geschichtliche Ursprung einer Kultur wird nach Pannenberg in religiöser Hinsicht von der Erwählungsvorstellung Israels besser erfasst als von den kosmologischen Vorstellungen des mythischen Bewusstseins. Denn auch in der Kosmogonie sind es historische Ereignisse, die dann kosmologisch begründet werden. Als ein Beispiel nennt Pannenberg die kosmogenische Begründung des Königtums in Mesopotamien. Die Wechsel der Herrschaftszentren in dessen Geschichte wurden kosmogenisch begründet. Plausibler als eine solche urzeitliche ist jedoch eine erwählungstheologische Begründung.72 Denn die Vorstellung einer Erwählung ermöglicht es, historische Ereignisse in sich aufzunehmen und einen historischen Zusammenhang zu stiften. Ein geschichtliches Ereignis, das als Erwählung erfahren wird, geht der weiteren Geschichte des Erwählten voran und liegt dieser zugrunde. Insofern begründet der Akt der Erwählung die Einheit jener nachfolgenden Geschichte, da er dem Gang der Ereignisse eine bestimmte Richtung des Geschehens zuordnet, auf die dann Schritt für Schritt die tatsächlich erfahrenen Ereignisse bezogen werden können73.

Die Idee göttlichen Erwählungshandelns ermöglicht sowohl die Integration von Geschichte als auch die Konstruktion einer Geschichte. Daher ist sie für Pannenberg die angemessenere religiöse Beschreibung der Geschichte von Kulturen und Gesellschaften. Auch in den Hochkulturen des Alten Orients selbst entdeckt Pannenberg Spuren eines geschichtlichen Bewusstseins, verbunden mit der Idee der eigenen Erwählung. Gerade bei irregulären Berufungen zum König wurde diese so begründet. Anders als in Israel blieb die Erwählung dann aber auf den König bzw. seine Dynastie beschränkt. Dadurch daß in Israel die Erwählung auf das Volk bezogen wurde, ist sie dort zum Ausgangspunkt eines sehr viel weiträumigeren und in immer wieder neuen Anläufen ausgearbeiteten Bewußtseins geschichtlicher Prozesse geworden.74

Der kulturgeschichtliche Vergleich ermöglicht nun nach Pannenberg, die Eigenart dieses heilsgeschichtlichen Verständnisses zu erfassen: Diese besteht 71 72 73 74

Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 525. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 525. Pannenberg, Bestimmung, 93. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 526.

270 Das pilgernde Gottesvolk – Kirche als Gegenstand des göttlichen Erwählungshandelns erstens im Bezug der Erwählung auf das gesamte Volk und zweitens in der Funktion der Erwählungs- sowie Bundesvorstellung, mit welcher die kulturelle und gesellschaftliche Ordnung religiös begründet wird. Die Verbindung mit dem gesamten Volk ermöglichte laut Pannenberg die Ablösung kosmologischer Begründungen der Gesellschaft durch eine geschichtliche Begründung. Dann aber, so Pannenberg, führt das Besondere Israels zu der Frage, „ob sich die Beschreibung des göttlichen Ursprungs einer gesellschaftlichen und kulturellen Ordnung im Sinne eines geschichtlichen Ursprungs, wie sie durch den Erwählungsgedanken begründet wurde, verallgemeinern läßt.“75 Dafür spricht für Pannenberg die eben dargelegte Argumentation: Auf diese Weise lässt sich das heutige Wissen des geschichtlichen Ursprungs von Kulturen und Gesellschaften vereinbaren mit dem religiösen Selbstverständnis der alten Kulturen, nur eben nicht in einem mythisch-kosmologischen Ausdruck. Dem Gedanken der Einzigartigkeit der Erwählung Israels wird damit nicht widersprochen. Diese Einzigartigkeit ist nach Pannenberg nur auf die biblisch bezeugte Weise der Beziehung von Gott und Israel bezogen; nicht aber darauf, dass Gott auch zu anderen Völkern in besonderen Beziehungen steht. Ein solches besonderes Verhältnis des israelitischen Gottes zu anderen Völkern zeigt sich Pannenberg z. B. in Am 9,7b, wo die Herausführung anderer Völker aus Ägypten mit der Herausführung Israels gleichgesetzt wird. Eben hier zeigt sich, dass die Besonderheit der israelitischen Erwählung nicht jeden Vergleich Israels mit anderen Völkern ausschließt. Und auch wenn der Prophet Amos entgegen der religiösen Traditionen der anderen Völker diesen ein Verhältnis zum israelitischen Gott zuspricht, so ist diese Deutung für Pannenberg nicht bloße Fremddeutung, ohne Anhalt in der Tradition und der Geschichte besagter Völker: Sie kann sich ja auf einen empirischen Anhaltspunkt berufen, nämlich auf den tatsächlichen geschichtlichen Ursprung dieser Völker. Insofern könnte sie für realistischer gelten als das zu vermutende Selbstverständnis dieser Völker.76

In einer Theologie der Religionen könnte es daher für Pannenberg möglich sein, dass die Vorstellung der göttlichen Erwählung angewendet werden kann auf den Zusammenhang von göttlicher Weltregierung und dem Entstehen der religiösen Kulturen in der Menschheitsgeschichte. In jedem Fall eignet sich diese theologische Perspektive, um die Geschichte des Christentums als Erwählungsgeschichte darzustellen. Die zentralen Deutungskategorien einer solchen Geschichte sind für Pannenberg die Bundesverpflichtung, die Sendung der Erwählten sowie das göttliche Gericht an dem erwählten Volk, wenn es den Bund und seine Sendung verfehlt. 75 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 527. (Hervorhebung im Original.) 76 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 528.

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6.4.2 Erwählungsglaube und Geschichtsverständnis Der Gedanke der Erwählung ermöglicht nach Pannenberg nicht nur, die Begründung einer Gesellschaftsordnung auf Gott zu beziehen. Vielmehr wird das dadurch begründete Leben einer Gemeinschaft als ein Prozess erfahren, der unter der göttlichen Herrschaft steht. Denn Erwählung einer Gemeinschaft richtet sie auf ein bestimmtes Ziel aus, mit der Konsequenz, dass nach der Entsprechung der erwählten Gemeinschaft zu ihrer Bestimmung gefragt werden kann. Daraus folgert Pannenberg vier Leitlinien eines Geschichtsverständnisses, das aus dem Gedanken der Erwählung folgt: 1. Offenbarung und Erwählung. Um sich als erwählt zu wissen, ist die Kenntnis des erwählenden Gottes Voraussetzung; gerade dann, wenn die Erwählung auf einem bestimmten Ereignis gründet. Die zugrundeliegende Offenbarung muss keine vollständige Selbstoffenbarung Gottes sein, aber sie muss den Gedanken eröffnen, dass der sich offenbarende Gott die Erwählten zu einem Ziel führen kann. In Israel war nach Pannenberg darüber hinaus der Aspekt der Selbstverpflichtung Gottes mit seinem Erwählungshandeln verbunden (vgl. Dtn 7,8). Neben der Macht Gottes ist also seine Treue Voraussetzung, wenn der Erwählte auf das Ziel der Erwählung und die damit verbundenen Verheißungen vertrauen soll. „Daher wird eine sich als erwählt verstehende Gemeinschaft in höchstem Maße an der Wirklichkeit und Gottheit des Erwählenden interessiert sein, ebenso wie an der Beständigkeit seiner Zuwendung zu seinen Erwählten.“77 Die in Kap 5.1 explizierte Rede von der Strittigkeit Gottes innerhalb der Religionsgeschichte ist für den Erwählungsglauben nach Pannenberg von fundamentaler Bedeutung. Denn in einem religionsgeschichtlichen Prozess, der von göttlicher Erwählung ausgeht, ist die Frage der Identität und Bewahrheitung Gottes elementar. Er bewährt sich, indem er sich als treu zu seinen Verheißungen offenbart. Indem der geglaubte Gott das Leben des Einzelnen und seine Lebensdeutungen erhellt und trägt, offenbart er die Treue seiner Erwählung. Da letztere sich auf ein Ziel hin bewährt, nämlich das Ziel der Erwählung, impliziert dies nach Pannenberg die Erwartung eines endgültigen Selbsterweises Gottes. So bleiben das „Dass“ wie das „Was“ der göttlichen Offenbarung offen auf Zukunft hin.78 2. Erwählung und Entsprechung. Ist die göttliche Offenbarung Voraussetzung der Erwählung, so hat letztere zur Konsequenz, dass die Erwählten ihr entsprechen müssen. Klassisch ausgedrückt sieht Pannenberg diesen Gedanken im alttestamentlichen Bundesbegriff. Die Vorstellung enthält von Anfang an den Aspekt einer Verpflichtung, die eingehalten werden muss, damit das durch den Bund begründete Gemeinschaftsverhältnis gewahrt bleibt. Explizit wird dieser 77 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 529. 78 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 529f.

272 Das pilgernde Gottesvolk – Kirche als Gegenstand des göttlichen Erwählungshandelns Aspekt im Alten Testament nach Pannenberg in der Sinaitradition, indem die Einhaltung des göttlichen Rechts Voraussetzung der bleibenden Zusage des Bundes wird (vgl. Dtn 7,12), oder indem in Ex 19,5 den Bund einzuhalten zur Bedingung der Zugehörigkeit Israels zu seinem Gott wird. Eine solche Vorstellung der Verpflichtung des Bundesvolkes liegt nach Pannenberg auch jenen Vorstellungen im Alten Testament zugrunde, die die Heiligkeit Israels thematisieren (vgl. Ex 19,5f) und daraus bestimmte Forderungen ableiten, z. B. für den Kult (vgl. Dtn 14,21). Der Gedanke, dass das zu Gott gehörige Volk heilig sein soll (vgl. Dtn 16,19), ist sodann nach Pannenberg der Leitgedanke der priesterschriftlichen Gesetzesüberlieferung (vgl. Lev 19,2). Dieses Motiv klingt auch im Neuen Testament an, z. B. in der Forderung nach Vollkommenheit in Mt 5,48. Zu Gott zu gehören, bedeutet Abkehr von der Sünde und ein heiliges Leben, wie es für Paulus ebenso die Konsequenz der Zugehörigkeit zu Christus ist (vgl. u. a. 1. Thess 5,23).79 Dabei ist der Adressat dieser Forderungen nach Pannenberg nicht der Einzelne, sondern die Gemeinde. Sie muss als erwähltes Gottesvolk nach Heiligung streben und so einen Lebensstil ausbilden, der sie aussondert aus dieser Welt. Ein Bewusstsein, dass Pannenberg im gegenwärtigen Christentum verlorengegangen sieht. „Doch gerade die Differenz der Lebensweise der Christen von einer sie umgebenden moralisch korrupten Welt trug in den Anfängen der Christenheit zur Anziehungskraft ihrer Gemeinschaft und ihres Glaubens bei.“80 Die Christen müssen laut Pannenberg ein Gespür dafür entwickeln, welche ethischen Konsequenzen in ihrem Zusammenleben aus der Gemeinschaft mit Gott folgen.81 In Israel war es das Gottesrecht als Lebensordnung seines Zusammenlebens, das es von anderen Völkern unterschied. Nicht als eine unveränderliche Ordnung, die zu allen Zeiten Bestand hat, sondern als Antizipation der eschatologischen Ordnung, die immer wieder der Interpretation bedurfte. In einer solchen aus der Erwählung folgenden Verpflichtung zeigt sich, inwieweit die Erwählung selbst Antizipation des Reiches Gottes ist. Das Christentum ist 79 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 530–532. 80 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 532. 81 Welche ethischen Konsequenzen aus dem christlichen Glauben in den Augen Pannenbergs folgen müssten, die das Christentum von der restlichen Welt unterscheidet, zeigt seine 1996 erschienene Ethik. Hier fordert er: 1. Dem leitenden Ideal der Selbstverwirklichung in westlichen Demokratien den Dienst an Gott und dem Nächsten entgegenzustellen. Dabei gilt gerade innerhalb der christlichen Gemeinschaft nach Röm 12,10 und Eph 5,21ff das Gebot der Unterordnung. 2. Die Folge eines solchen Dienstes ist notwendig Entsagung und Selbstbeherrschung. 3. Die getrenntgeschlechtliche, monogame Ehe ist das christliche Beziehungsideal, welches den Rahmen für die Familie bildet. Diese Vorstellung von Ehe ist die Norm, nach der andere sexuelle Handlungen zu beurteilen sind. 4. Anerkennung eines staatlichen Systems und ein Engagement des Gläubigen darin ist daran zu koppeln, dass die Verfassung dieses Staates eine Verwandtschaft zeigt zu dem christlichen Verständnis des Menschen und dass der Staat Raum lässt für die freie Verkündigung der Kirche. Vgl. Pannenberg, Ethik, 108– 142.

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eine solche Antizipation nicht primär als Rechtsgemeinschaft, sondern als sakramentale Darstellung im eucharistischen Gottesdienst. Aber auch diese impliziert, dass sie sich in der Gestaltung des Zusammenlebens der an der Eucharistie Teilnehmenden verwirklicht.82 3. Erwählung und Mission. Die Rechtsthematik, die nach Pannenberg aus dem Gedanken der Verpflichtung des Erwählten folgt, deutet für ihn bereits auf den Zusammenhang von Erwählung und Mission hin. „Die universale Mission ist die Kehrseite der Partikularität der Erwählung.“83 Und diese Mission besteht in der Bezeugung des göttlichen Rechtswillens (vgl. Jes 42,1), der auf eine erneuerte Gemeinschaft der Menschheit unter sich und mit Gott zielt. Dabei vollzieht sich das Zeugnis der Erwählten nicht in einer moralischen Belehrung der anderen Völker, sondern dadurch, dass die erwählte Gemeinschaft dem göttlichen Rechtswillen entspricht. Und das Zeugnis vollzieht sich nach Pannenberg durch das göttliche Gericht, immer dann, wenn die erwählte Gemeinschaft dem göttlichen Rechtswillen nicht entspricht.84 Der allgemeine Zusammenhang, dass Erwählung Aussonderung aus der Völkerwelt und gleichzeitig Sendung in die Völkerwelt bedeutet, um den erwählenden Gott zu bezeugen, kennzeichnet nach Pannenberg auch den christlichen Missionsauftrag. Den Völkern nach Mt 28,19 das Evangelium von Jesus Christus zu verkündigen und sie auf den dreieinen Gott zu taufen bedeutet für ihn, Menschen aus allen Völkern hineinzuziehen in die zeichenhaft vermittelte Gegenwart der kommenden Gottesherrschaft, die in Jesus Christus schon angebrochen ist, und dadurch der Bestimmung der Menschen zur Versöhnung mit Gott und untereinander zu dienen.85

Die für Pannenberg besondere Form christlicher Mission sieht er im eschatologischen Charakter des Lebens und Wirkens Jesu Christi begründet und dem darauf beruhenden Selbstverständnis der Kirche. Jesus selbst sowie die Urgemeinde war nach Pannenberg von der prophetischen Erwartung bestimmt, dass in der Endzeit alle Völker zum Zion wallfahrten und ihnen dort das Gottesrecht verkündigt wird. Der nachösterliche Glaube an die Auferstehung Jesu und seine Einsetzung zur Rechten Gottes zogen den Auftrag nach sich, vor allen Völkern davon Zeugnis abzulegen (vgl. Mt 18,18f). Dass der Glaubensruf nicht mehr die Befolgung des Gesetzes beinhaltet, sieht Pannenberg in dem Verständnis der Kreuzigung Jesu als Gesetzesfluch (vgl. Gal 3,13) begründet. Aufgrund seiner 82 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 532f. Bezüglich Pannenbergs Verhältnisbestimmung von Recht und Gesetz vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 104–113. 83 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 533f. 84 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 533f. 85 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 534.

274 Das pilgernde Gottesvolk – Kirche als Gegenstand des göttlichen Erwählungshandelns Auferstehung hat das Gesetz keine Autorität mehr, es ist durch Christi Tod außer Kraft gesetzt und Juden und Heiden sind keine Feinde mehr (vgl. Eph 2,14f).86 Dieses eschatologische Bewusstsein ist für Pannenberg der Motor der christlichen Völkermission. Das Bewußtsein der in Jesu Wirken schon angebrochenen Gottesherrschaft, sowie der Erhöhung des Auferstandenen zu deren Ausübung als Kyrios, gehört zusammen mit der universalen Mission als der diesem Bekenntnis angemessenen Form des Zeugnisses.87

4. Erwählung und Gericht. Die vierte geschichtstheologische Perspektive, die die Vorstellung der göttlichen Erwählung eröffnet, ist die des göttlichen Gerichtes, wenn das Gottesvolk abweicht von seiner Bestimmung. Im Alten Testament wurde gerade diese Interpretation der Geschichte fundamental, da sie die Katastrophen Israels in den eigenen Glauben zu integrieren ermöglichte. Der Gerichtsgedanke ist aber nicht nur für Israel relevant. Seine Wirksamkeit oder sein Verschwinden bilden ein Indiz dafür, ob einzelne oder Gemeinschaften sich im Bewußtsein ihrer Berufung oder Erwählung der Souveränität Gottes unterstellen und sich ihm, seiner Herrschaft über den Gang der Geschichte gewärtig, verantwortlich wissen, oder ob ihr Erwählungsglaube ideologisch pervertiert ist.88

Es ist also gerade der Gedanke des göttlichen Gerichts in der Geschichte, durch welchen das Bewusstsein der eigenen Erwählung der Hoheit Gottes unterstellt wird. Das göttliche Gericht trifft nach Pannenberg nicht nur das erwählte Gottesvolk. Vielmehr trifft es alle, die sich nicht an das göttliche Recht halten. „Durch sein Gerichtshandeln erweist sich die Wirklichkeit Gottes auch den Sündern […] als unentrinnbar.“89 Anders als Israel, dass um den Rechtswillen Gottes weiß, erfahren die anderen Völker „die Gerichte Gottes als blindes Schicksal.“90 Das erwählte Volk allerdings weiß, dass es sich in den ihm zuteilgewordenen geschichtlichen Katastrophen um das göttliche Gericht handelt (vgl. Am 3,2). Gott offenbart seinem Volk in diesen seine Heiligkeit.

86 Dass Gesetz ist aufgehoben im christlichen Liebesgebot. Denn der göttliche Rechtswille zielt auf die Liebe, die in Jesus Christus offenbar ist und die die Gemeinschaft der Menschen untereinander ermöglichen will, auf der Grundlage der Gemeinschaft des Einzelnen mit Gott. Die Liebe erfüllt daher das Gesetz, indem sie das Recht vollendet. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 109–111. Zum Verhältnis von Recht, Liebe und Gesetz vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 104–113 sowie ders., Theologie des Rechts, 32–40. 87 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 535. 88 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 535. 89 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 535. 90 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 535.

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Wie an seinem erwählten Volk ergeht auch an den anderen Völkern das Gericht Gottes, indem er sie den Folgen ihrer Taten überlässt und diese nicht gnädig verhindert. Eine solche Vorstellung gibt es nach Pannenberg aber auch außerhalb Israel. So sind gerade die Werke Herodots vom Zusammenhang des menschlichen Hochmuts und der darauf folgenden göttlichen Nemesis im Verlauf der Geschichte geprägt. Eine solche Geschichtsdeutung ist für Pannenberg keineswegs vorkritisch und gehört nicht einfach vergangenen Zeitaltern an. Auch moderne Geschichtsschreibung sieht er im Anschluss an Herbert Butterfield in der Lage, die Dimension des Gerichts als Folge menschlicher Taten als geschichtlichen Ereignissen implizit anzuerkennen, wenn sich die Geschichtsschreibung ohne Vorurteile der Möglichkeit theologischer Interpretation der Geschichte öffnet.91 Die zusammengehörigen Themen der göttlichen Erwählung, der Offenbarung, der durch die Erwählung begründeten Verpflichtung und Mission und das göttliche Handeln in Bewahrung wie Gericht entspringen zwar den biblischen Zeugnissen und deren Deutung der Geschichte Israels und des Lebens Jesu Christi. Allerdings sind sie nicht auf diese Geschichte zu beschränken. Gerade christliche Theologie kann und soll nach Pannenberg mit diesen geschichtstheologischen Kategorien die Menschheitsgeschichte deuten. Anders kann in seinen Augen die göttliche Weltregierung nicht bekannt werden.92 Dabei sind solche geschichtstheologischen Perspektiven auf die Geschichte für ihn keine Eintragung supernaturaler Kategorien in die Geschichte. Es sind vielmehr deskriptive Deutungen, die es ermöglichen die Geschichte theologisch in Anspruch zu nehmen als Feld des Handelns Gottes.93 Wie alle Deutungen sind sie daran zu messen, ob sie die zu deutende Lebenswirklichkeit angemessen erfassen. Und wie alle Deutungen bleiben sie damit offen für Veränderung bis zur eschatologischen Vollendung. Voraussetzung einer solchen Interpretation der Geschichte ist für Pannenberg die Bereitschaft, „konkret mit Gott als dem Herrn der Geschichte zu rechnen“94. Dies gilt für die Menschheitsgeschichte im Allgemeinen wie für die Christentumsgeschichte im Besonderen. Wird ein solches Handeln Gottes in der Geschichte allerdings nicht mehr angenommen, dann ist es für Pannenberg nicht verwunderlich, dass die Wirklichkeit Gottes im menschlichen Bewusstsein verblasst. Dies ist der Rahmen für Pannenbergs Leitlinien der theologischen Interpretation der Geschichte des Christentums, welche im Folgenden in den Blick genommen werden. 91 92 93 94

Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 536f. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 537f. Vgl. Pannenberg, Bestimmung, 89–92. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 538.

276 Das pilgernde Gottesvolk – Kirche als Gegenstand des göttlichen Erwählungshandelns 6.4.3 Eine theologische Interpretation der Geschichte der Kirche Mit Gottes Handeln in der Geschichte rechnen – dies war bereits das Grundanliegen Pannenbergs innerhalb seiner Programmschrift Offenbarung als Geschichte. Er vertritt hier die Auffassung, dass sich nach den biblischen Zeugnissen die Selbstoffenbarung Gottes nicht in wunderbaren Theophanien ereignet, sondern indirekt, in den Ereignissen der Geschichte, in welchen Gott handelt. Dabei ist die endgültige Offenbarung Gottes nicht in der Geschichte zu erwarten, sondern wird erst am Ende der Zeit, im Eschaton erfolgen; trotz der proleptischen Vorwegnahme dieses Endes in Jesus Christus.95 Um Gottes Handeln in der Geschichte zu erkennen, bedarf es nach Pannenberg nicht der Voraussetzung des Glaubens. Gottes Taten sind vielmehr unübersehbar und auch die Bedeutung dieser Taten drängt sich jedem auf: „Im Unterschied zu besonderen Erscheinungen der Gottheit ist die Geschichtsoffenbarung jedem, der Augen hat zu sehen, offen. Sie hat universalen Charakter.“96 Der Sünder ist zwar Gott und seinen Taten gegenüber verschlossen, das ändert aber nichts an dem offensichtlichen Charakter der Offenbarung: „Daß die Wahrheit so vor aller Augen liegt, daß ihre Wahrnehmung die natürliche, von der Sache her einzig mögliche Folge sein müßte, davon wird nichts zurückgenommen.“97 Mit Gottes Handeln in der Geschichte rechnen – für die Deutung von Kirche und Christentum ist diese Annahme nach Pannenberg fundamental. Schließt christliche Geschichtsdeutung Gottes Handeln in der Geschichte aus, liefert sie Argumente für den Atheismus. Für Pannenberg geht es an diesem Punkt um den theologischen Charakter der Kirchengeschichtsdeutung: Wenn nun die Geschichte dieser Religion [Christentum/B.A.] ohne Bezugnahme auf die Frage nach dem Handeln ihres Gottes in ihrer Geschichte dargestellt wird, dann ist die Kirchengeschichte als solche schon die Bestreitung des Glaubens an den in der Geschichte handelnden Gott.98

Es widerspricht Pannenberg zufolge der Unvoreingenommenheit des wissenschaftlichen Arbeitens, wenn die Frage nach dem göttlichen Geschichtshandeln 95 Vgl. Pannenberg, Dogmatische Thesen, 91–98. 96 Pannenberg, Dogmatische Thesen, 98. 97 Pannenberg, Dogmatische Thesen, 99. Im ersten Band seiner Systematischen Theologie räumt Pannenberg als Antwort auf die breite Kritik an diesem offenkundigen Charakter der Offenbarung ein, dass hierin das „Noch-nicht“ der christlichen Existenz und die bleibende Strittigkeit im Verlauf der Geschichte ungenügend berücksichtigt sind. Allerdings bedeutet dies keine Revidierung der Erkennbarkeit des göttlichen Handelns in der Geschichte. Es wird vielmehr das Wort Gottes von Pannenberg stärker gewichtet, das es braucht, um die Offenbarungen Gottes zu erkennen und deren Bedeutungsgehalt zu explizieren. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 272–281. Vgl. dazu Fischer, Theologie, 165f. 98 Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 398.

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von vornherein verneint wird und nicht als offen betrachtet wird. Sie wird verneint, wenn religiöse Vorgänge und Deutungen lediglich als Ausdruck von menschlichen Vorstellungen und als bedingt durch andere Bereiche menschlicher Lebenswirklichkeit verstanden werden. Die Folge einer solchen Prämisse in der Kirchengeschichtsschreibung ist die Argumentation für die Ohnmacht und damit nach Pannenberg für die Unwirklichkeit Gottes. Denn Gott kann für ihn nicht als alles bestimmende Wirklichkeit und gleichzeitig als ohnmächtig gegenüber seiner Schöpfung gedacht werden.99 Die Entwicklung hin zu einem solchen Kirchengeschichtsverständnis begann nach Pannenberg bereits im 16. Jh. mit der Trennung der Weltgeschichte als Geschichte des Menschen gegenüber einer von Gottes Eingriffen gelenkten Geschichte und mit der Aufgabe des im Buch Daniel überlieferten Viermonarchieschemas. Kirchengeschichte wurde nun als menschliche Geschichte verstanden. Diese Entwicklung wurde laut Pannenberg verstärkt durch die im 18. Jh. beginnende pragmatische Geschichtsschreibung, welche entscheidend von Johann Lorenz von Mosheim initiiert wurde.100 In dem hier grundgelegten Verständnis von Geschichte wurden die Gründe für geschichtliche Entwicklungen allein beim Handeln des Menschen gesucht. Ein göttliches Eingreifen als Ursache bestimmter Ereignisse schied ebenso wie bei der modernen Naturwissenschaft aus, für welche ein solches Eingreifen ein Wunder darstellt, dass die Gesetze des Naturgeschehens durchbricht. Das Handeln Gottes wurde also in beiden Feldern, so Pannenberg, als Konkurrenz gegenüber geschöpflichen Faktoren verstanden. Für ihn eine grundsätzlich falsche Verhältnisbestimmung: „Das Handeln Gottes in seiner Schöpfung darf weder in bezug auf das Naturgeschehen, noch hinsichtlich der Geschichte der Menschheit in Konkurrenz zum Wirken geschöpflicher Faktoren aufgefaßt werden.“101 Schöpfer und Schöpfung stehen nicht in einer Konkurrenz zueinander, vielmehr wirkt der Schöpfer im Handeln der Geschöpfe. Die göttliche Weltregierung ist so auf die gesamte Geschichte bezogen und nicht auf bestimmte Eingriffe in den Wirkzusammenhang geschöpflicher Ursachen.102 Diese Auffassung von der göttlichen Weltregierung im geschöpflichen Wirkzusammenhang sieht Pannenberg aufgegriffen in der Kirchengeschichte Ferdinand Christian Baurs. Letztere ist für ihn ein herausragender Versuch innerhalb der jüngeren evangelischen Theologiegeschichte, eine Theologie der Kirchengeschichte zu entwerfen. Nach Pannenberg ist bei Baur die Einheit des Menschen mit Gott in Christus die der Kirche vorgegebene Idee und die Geschichte der 99 100 101 102

Vgl. Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 398f. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 539–541. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 542. Zu Pannenbergs Verständnis der göttlichen Weltregierung und des Wirkens Gottes im Handeln seiner Geschöpfe vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 2, 63–79.

278 Das pilgernde Gottesvolk – Kirche als Gegenstand des göttlichen Erwählungshandelns Kirche wird als Entfaltung dieser Idee begriffen und dargestellt. Damit ist die göttliche Vorsehung dem Begriff der Kirche nicht äußerlich, sondern in ihn eingegangen. Trotz der großen Wertschätzung für die Darlegungen Baurs sieht Pannenberg bei ihm die gottmenschliche Einheit zu undifferenziert auf die Kirche übertragen. Trotz der Teilhabe am Vaterverhältnis Jesu ist die Differenz dieser Teilhabe innerhalb der Geschichte von der vollkommen realisierten Teilhabe im Eschaton zu wahren. Die Einheit Gottes mit dem Menschen in Christus ist daher zu unterscheiden von der Gemeinschaft Gottes mit den Menschen in seiner Kirche. „Die Geschichte der Kirche ist nicht Fortsetzung der Inkarnation, wenn auch Ausbreitung des in dieser begründeten Versöhnungsgeschehens.“103 Daher sieht Pannenberg die Verbundenheit Gottes mit der Kirche durch den Erwählungsgedanken besser erfasst als mit dem der Inkarnation. Anders als bei Baur bleibt die Kirche der Erwählung, und damit dem göttlichen Handeln, untergeordnet, was sowohl ihre Sendung als auch ihre Bewahrung bzw. ihr Gericht zeigen. Indem Gott an der Kirche handelt, bleibt letztere von ihm unterschieden und gleichzeitig fest mit seinem Heilsplan verbunden.104 Eine Deutung der Kirchengeschichte, die ihren Gegenstand angemessen erfassen will, darf die Wahrheit des christlichen Glaubens weder voraussetzen noch übergehen. Übergeht sie den Wahrheitsanspruch, dann übergeht sie, dass es im kirchlichen Leben allein um die Gemeinschaft mit dem dreieinen Gott geht. Setzt sie die Wahrheit des Glaubens voraus, dann übersieht sie, dass in der Geschichte der Kirche die Wahrheit des geglaubten Gottes strittig bleibt.105 Dass Gott strittig bleibt, setzt den Glauben an ihn immer wieder der Bewährung aus, angesichts mannigfaltiger Anfechtungen. Und es eröffnet die Möglichkeit der universalen 103 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 543. 104 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 543f. Neben Baur diskutiert Pannenberg in der Entfaltung seines Kirchengeschichtsverständnisses die Arbeiten seines Schülers Ekkehard Mühlenberg. Laut Pannenberg begreift dieser die Geschichte als Erscheinung Gottes. Diese Erscheinung ist nicht die Kirche, sondern die von ihr unterschiedene Macht des Guten, von welcher zu allen Zeiten erhofft wurde, dass sie mit ihrer Erscheinung das Böse überwindet. Die Epochen der Christentumsgeschichte sind so verbunden durch die Erwartung, dass Gott das Böse überwindet. So waren z. B. die Christen in der Spätantike davon überzeugt, dass Gott die Dämonen einschließlich des Polytheismus überwindet. Einen geschichtlichen Zusammenhang in der Abfolge der Epochen als Konkretisierung dieser Erwartung verneint Mühlenberg laut Pannenberg. Letzterer stimmt Mühlenberg darin zu, dass Gott tatsächlich als Macht des Guten erwartet und geglaubt wurde. Allerdings enthält der Gedanke Gottes als alles bestimmender Wirklichkeit, wie ihn laut Pannenberg auch Mühlenberg denkt, mehr als die Vorstellung einer Macht des Guten. Es enthält auch den Gedanken der Herrschaft, die der Schöpfer über seine Schöpfung innehat. Und er enthält den Gedanken, dass Gottes Macht auch in seinem Gericht in Erscheinung tritt. Daher sieht er die Erfahrung des Unheils, die der Kirche in ihrer Geschichte immer wieder zuteil wurde, in die Konzeption Mühlenbergs nicht integrierbar. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 544–547. 105 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 547f.

Das erwählte Gottesvolk in der Geschichte

279

Mission, durch welche allen Menschen die Teilhabe am Heil ermöglicht werden soll. Denn im Eschaton ist Mission überflüssig. Sie hat ihren Ort nach Pannenberg in der noch unvollendeten, geschichtlichen Welt. Die Geschichte der Kirche […] ist zwar nicht ausschließlich, doch immer auch Missionsgeschichte; denn zur Endgültigkeit der Offenbarung des einen Gottes aller Menschen in Person und Geschichte Jesu gehört notwendig ihre Verkündigung an die ganze Menschheit, um alle Menschen in die eschatologische Entscheidung zum Glauben zu rufen.106

Die Bedeutung der Mission für die Geschichte der Kirche ist laut Pannenberg empirisch nicht zu bestreiten. Ihre Bedeutung für die Theologie der Kirchengeschichte hängt an den Implikationen des kirchlichen Selbstverständnisses für die Mission. Die Kirche begreift sich als eschatologische Gemeinde. In der Feier des Abendmahls kommt die eschatologisch realisierte Gemeinschaft der Menschheit mit Gott zur Darstellung. Insofern wird in ihr das eschatologische Gottesvolk sichtbar. Darum weiß die Kirche um ihre Erwählung und ihre Sendung, die in Jesus Christus offenbare Zukunft der Menschheit zu bezeugen. „Die christliche Mission setzt also das Erwählungsbewußtsein der Kirche als des eschatologischen Gottesvolkes voraus.“107 Neben dieser Sendung, der Mission der Kirche, ist zur Erfassung ihrer Geschichte die Kategorie des Gerichts grundlegend. Nur so sind die Unheilserfahrungen des erwählten Gottesvolkes laut Pannenberg theologisch interpretierbar. Ausgehend von seinen Bestimmungen zu einer dem Gegenstand angemessenen Deutung der Kirchengeschichte nimmt Pannenberg selbst eine prägnante Interpretation der Kirchenund Christentumsgeschichte vor.

6.4.3.1 Pannenbergs Grundzüge einer Kirchengeschichte Die bisherigen Darlegungen zum Verständnis der Kirchengeschichte, welche aus dem Gedanken der Erwählung abgeleitet werden, haben Pannenberg 1978 veranlasst, in einem kleinen Abschnitt in Die Bestimmung des Menschen eine eigene, knappe Kirchengeschichte vorzulegen.108 Diese zeigt, inwiefern Pannenberg die 106 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 548. Die Bedeutung der Mission für die Kirchengeschichte sieht Pannenberg von Jean Daniélou ins Zentrum gestellt. Allerdings sieht er bei letzterem die Differenz von kirchlichem und göttlichem Handeln nicht ausreichend reflektiert sowie das göttliche Gerichtshandeln zwar festgehalten, aber nicht genügend konkretisiert. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 549. 107 Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 550. 108 Dass Pannenberg an seiner dort vorgetragenen Kirchengeschichtsdeutung auch später festhält, zeigt die Aufnahme zentraler Einsichten dieser in Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 557f. Eine gelungene Darstellung der Kirchengeschichtsdeutung Pannenbergs findet sich bei Koch, Gott, 236–241.

280 Das pilgernde Gottesvolk – Kirche als Gegenstand des göttlichen Erwählungshandelns theologischen Kategorien historischer Deutung auf die Geschichte der Kirche anwendet. Dabei geht er davon aus, dass die Bestimmung der Kirche, als Gottesvolk die im Reich Gottes erneuerte Menschheit darzustellen und als solche den Heilswillen Gottes zu bezeugen, in der Geschichte der Kirche verschiedene Formen angenommen hat. Verschiedene Formen einerseits hinsichtlich der Gestaltung des kirchlichen Lebens und andererseits hinsichtlich ihrer Prägung der gesellschaftlichen Ordnung. Jede Gestaltwerdung der kirchlichen Bestimmung führt laut Pannenberg zu spezifischen Versuchungen und zog, da die Kirche den Versuchungen erlag, das göttliche Gericht nach sich.109 Die erste Periode innerhalb der Christentumsgeschichte ist nach Pannenberg das christliche Imperium. Diese begann mit dem Widerstand gegen den religiösen Absolutheitsanspruch des römischen Kaisers. Das hier zum Ausdruck kommende christliche Selbstverständnis, dass die Gläubigen allein der Herrschaft Christi unterstehen, setzte sich auch dann fort, als sich der Kaiser infolge der konstantinischen Wende ebenfalls der Herrschaft Christi unterordnete. Beide Phasen der Christentumsgeschichte vor und nach der Wende sieht Pannenberg nicht als so unterschiedlich an, wie gemeinhin angenommen. Vielmehr sind beide dadurch bestimmt, dass nach den Konsequenzen des Glaubens an die Herrschaft Christi für die gesellschaftliche Ordnung gefragt wird. Die Versuchung dieser ersten Periode identifiziert Pannenberg darin, das eigene Erwählungsbewusstsein zu verabsolutieren. Sie zeigte sich zuerst im Verhältnis zum Judentum, gegenüber welchem sich das Christentum als alleiniges Gottesvolk wähnte. Im byzantischen Imperium wurde diese Abkehr von der christlichen Bestimmung weiter pervertiert durch eine vom Kaiser durchgesetzte dogmatische Uniformität.110 „Das Gericht Gottes über diese Perversion der christlichen Sendung erschien historisch im Aufstieg des Islam.“111 Die Eroberung der Ursprungsgegenden des Christentums in Syrien und Palästina sowie die Eroberung Nordafrikas und Ägyptens durch islamische Heere ist nicht zu erklären „ohne die innere Entfremdung dieser Provinzen von Byzanz infolge der kaiserlichen Bemühungen um Durchsetzung dogmatischer Orthodoxie, insbesondere um die Annahme der Formel von Chalcedon 451.“112

109 Vgl. Pannenberg, Bestimmung, 108f. 110 Vgl. Pannenberg, Bestimmung, 109. Allerdings ist nach Pannenberg dem Kaiser nicht allein die Verantwortung dafür zuzusprechen. Denn oft war es der Kaiser, der der Verantwortung für die Einheit der Kirche mehr nachkam als die kirchlichen Amtsträger. Die Symphonie aus Kirchenleitung und Kaisertum im byzantischen Modell war dennoch immer dem Problem ausgesetzt, dass die Kirche zu eng mit den Machtinteressen des Imperiums verbunden war. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 552. 111 Pannenberg, Bestimmung, 109. 112 Pannenberg, Bestimmung, 109.

Das erwählte Gottesvolk in der Geschichte

281

Die zweite Periode innerhalb der Christentumsgeschichte ist nach Pannenberg dadurch gekennzeichnet, dass die kirchliche Autorität den Vorrang innehatte im religiösen wie im gesellschaftlichen Leben. Sieht Pannenberg im byzantischen Imperium ein Bewusstsein der Differenz gegenüber dem Reich Gottes, so begreift sich die Kirche des Mittelalters als zeitliche Repräsentation des Reiches Gottes. Dadurch wurde aus dem kirchlichen Amt eine hierarchische, sakralrechtliche Ordnung mit dem Anspruch, das gesamte Leben des Menschen zu umfassen. Hierin zeigte sich ein Bewusstsein dogmatischer Exklusivität. Gottes Gericht über diese Deformation seiner Kirche ereignete sich in den Spaltungen der Kirche, nicht zuletzt in denjenigen Spaltungen, die aus der Reformation des 16. Jh. hervorgegangen sind und zu der Periode konfessioneller Kriege führten, die zur Schwelle der Neuzeit wurde.113

Die dritte Periode der abendländischen Neuzeit begreift Pannenberg als eine ebenfalls vom Christentum bestimmte Kulturwelt. Die Auseinandersetzungen der Konfessionskirchen mussten auf den Bereich des Privaten beschränkt werden, um den gesellschaftlichen Frieden nicht zu gefährden. Die Einheit der Kultur wurde nun in einem säkularen Geist gegründet, der für Pannenberg nicht zwingend als unchristlich, aber mindestens als zweideutig zu beurteilen ist. Das die moderne Kultur leitende Prinzip der religiösen und politischen Freiheit ist für Pannenberg in der Geschichte die konkreteste Realisierung des christlichen Glaubens innerhalb der gesellschaftlichen Lebenswelt. Nach Pannenberg verwirklicht sich in dieser Freiheit diejenige christliche Freiheit, welche reformatorisch als Wesensgehalt des Glaubens zu bezeichnen ist.114 Aufgrund der Zweideutigkeit der säkularen Freiheitsidee wurden andere Werte für die geistliche Einheit der modernen Kultur und Gesellschaft erforderlich, die deren vormals religiöse Begründung ersetzen. Dies ist neben dem Liberalismus vor allem der Nationalismus.115 Das Gericht Gottes über letzteren wurde nach Pannenberg bereits geschichtliche Realität: Es fand seinen deutlichsten Ausdruck in dem selbstzerstörerischen Ausbruch der Antagonismen zwischen den europäischen Nationen im ersten Weltkrieg, der das Ende der führenden Rolle Europas in der Welt bedeutete.116

Das negative Potential des Nationalismus wurde noch einmal umso deutlicher im zweiten Weltkrieg.

113 114 115 116

Pannenberg, Bestimmung, 110. Vgl. Pannenberg, Bestimmung, 110f. Zu Pannenbergs Sicht auf die Ideologien der Neuzeit vgl. Kap. 3.4.1. Pannenberg, Bestimmung, 111f.

282 Das pilgernde Gottesvolk – Kirche als Gegenstand des göttlichen Erwählungshandelns Zu den davon am härtesten betroffenen Völkern gehörte die deutsche Nation und der schwerwiegendste Grund dafür mag in theologischer wie in historischer Perspektive die Verfolgung und versuchte Vernichtung des jüdischen Volkes sein.117

Mit dem Gericht über den Nationalismus ist nach Pannenberg die Verwirklichung des neuzeitlichen Freiheitsgedankens nicht beendet. Die Zweideutigkeit seiner säkularen Begründung jedoch, die sich gerade in der Vereinzelung des Individuums zeigt, lässt ihn bereits das nächste Gericht am Horizont erblicken: Den Sozialismus, in welchem das Individuum total von der Gemeinschaft beansprucht wird und so seine Selbstständigkeit und Freiheit verliert. Um dieses Gericht abzuwenden, müssen die Kirchen in ihrem Lebensvollzug ihre Bestimmung wieder sichtbarer zum Ausdruck bringen. Dies kann nur durch die Überwindung der Spaltungen und gegenseitigen Verwerfungen gelingen. Es ist also der ökumenische Geist, der die Gefahren der säkularen Freiheitsidee auffangen kann und so die Verwirklichung wirklicher Freiheit im gesellschaftlichen Leben ermöglichen kann. Dieser Bestimmung ist die Kirche verpflichtet und dieser Bestimmung ist die Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs verpflichtet.

117 Pannenberg, Bestimmung, 112.

7.

Schlussbetrachtungen

Zum Abschluss der vorliegenden Interpretation der Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs sollen zentrale Einsichten dieser Interpretation gebündelt und diskutiert werden. Dies erfolgt in einem ersten Schritt durch die Zusammenfassung der jeweiligen Kapitel (Kap. 7.1 – Kap. 7.5), in welcher die jeweils zentralen theologischen Einsichten herausgestellt und gewürdigt werden. Danach werden die zentralen Impulse festgehalten, die ich aus der Auseinandersetzung mit Pannenbergs Ekklesiologie ziehe (Kap. 7.6).

7.1

Die Sinndeutung des Menschen als konstruktiver Nachvollzug des vorgegebenen Sinns

Für Pannenberg ist der entscheidende Ort, an dem die Theologie die Wahrheit des Christlichen plausibilisieren muss, die Anthropologie. Denn es ist der Mensch selbst, der in der Moderne ins Zentrum der Weltdeutung rückt.1 Theologie muss sich dabei die Erkenntnisse der anthropologischen Wissenschaften kritisch aneignen und darf nicht in Widerspruch zu ihnen stehen. Sie muss zeigen, dass die theologische Deutung des menschlichen Daseins eine diesem Dasein angemessene Deutung ist, will sie der Bestreitung der Religion durch den modernen Atheismus entgegnen.2 Auch wenn Theologie vom Primat Gottes ausgeht, muss sie durch „fundamentaltheologische Anthropologie“3 die religiösen Dimensionen nichttheologischer Wirklichkeitsdeutungen aufzeigen. Somit gilt für jeden theologischen Topos, dass er, soll seine Wahrheit aufgezeigt werden, anthropologisch plausibilisiert werden muss. Dieses gilt auch und in besonderer Weise für die Ekklesiologie. Pannenberg bestimmt die Kirche als vorläufige Darstellung des 1 Vgl. Pannenberg, Gottesfrage, 11. 2 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 15–21. 3 Pannenberg, Anthropologie, 21. (Hervorhebung im Original.)

284

Schlussbetrachtungen

Reiches Gottes.4 Sie ist damit auf das eschatologische Reich Gottes bezogen, in dem die Bestimmung jedes Einzelnen und damit die Bestimmung der gesamten Menschheit realisiert sein werden. Im Reich Gottes ist der vollendete Einzelne Teil der vollendeten Gemeinschaft der Menschheit, aufgrund der Gemeinschaft eines jeden Einzelnen mit Gott.5 Um diesen theologischen Gedanken zu plausibilisieren, bedarf es eines Verständnisses dessen, was Gemeinschaft ist und wie sich Individuum und Gemeinschaft zueinander verhalten. Dabei wird sich in der Zusammenfassung der Ekklesiologie noch einmal zeigen, dass für Pannenberg das Reich Gottes und seine antizipative Vorwegnahme in der Kirche wesentliche Bedeutung für gelingendes Leben des Einzelnen und der Gesellschaft in der Welt haben.6 Was ein solches gelingendes Leben ist, ist daher der Ekklesiologie selbst vorangestellt. Die anthropologischen Einsichten Pannenbergs zeigen einen wesentlichen Grundzug, der sowohl seine identitätstheoretischen Darlegungen (Kap. 2.1) als auch seine Interpretation der gemeinsamen Welt (Kap. 2.2) prägt: Er betont die Vorgegebenheit des Sinns und zeigt eine grundlegende Skepsis gegenüber den menschlichen Möglichkeiten zu handeln. Die Unabgeschlossenheit der menschlichen Identität7 im geschichtlichen Leben (Kap. 2.1.1) weist bereits in diese Richtung. Der Mensch kann seine Identität eben nicht aus sich heraus herstellen. Es bedarf vielmehr der gesamten Momente eines Lebens, damit die Bedeutung eines jeden dieser Momente feststeht. Dabei ist die Bedeutung der Momente des eigenen Lebens wiederum eng verwoben mit der Gemeinschaft, in welcher der Einzelne lebt, und deren Geschichte. Darin zeigt sich nach Pannenberg eine Verbundenheit der individuellen Identität mit der gesamten Menschheitsgeschichte, denn die Geschichte einer bestimmten Gemeinschaft ist wiederum angewiesen auf den übergeordneten Zusammenhang bis hin zur Universalgeschichte. Nur von diesem universalhistorischen Rahmen her ist ihre letztgültige Bedeutung offenbar. Ist die geschichtliche Identität so stets unvollendet im geschichtlichen Leben, kann sie nicht als autonome Tat des Menschen begriffen werden. Sie bleibt dem Einzelnen entzogen. Der Einfluss der Gemeinschaft auf die eigene Identität erschöpft sich für Pannenberg nicht in der Verbundenheit der eigenen Lebensgeschichte mit der Geschichte der Gemeinschaft, in der sich das eigene Leben vollzieht. Vielmehr geht er von einem grundlegenden Sozialbezug der Identität aus (Kap. 2.1.2). Dies 4 Vgl. besonders Kap. 4.1. 5 Vgl. Pannenberg, Auferstehung, 9–11. 6 Der Zusammenhang zwischen den anthropologischen Einsichten und den ekklesiologischen Bestimmungen Pannenbergs wird auch noch einmal verdichtet Gegenstand der Zusammenfassung in Kap. 7.3 sein. 7 Pannenberg gebraucht den Begriff der Identität und den des eigenen Selbst deckungsgleich. Vgl. oben, S. 38, Anm. 19.

Sinndeutung des Menschen als konstruktiver Nachvollzug des vorgegebenen Sinns

285

beginnt schon beim Bewusstsein vom eigenen Selbst, welches durch das Bewusstsein der Unterschiedenheit von einem Anderen entsteht.8 Aber auch die Frage nach der eigenen Identität, die Frage danach, wer ich bin, ist sozial vermittelt. Sie erfolgt durch die Auseinandersetzung mit Fremdbildern und deren Integration in das eigene Selbst. Zwar wirkt der Einzelne daran mit, aber er erschafft das eigene Selbst nicht aus dem Nichts. Vielmehr sind ihm sein sozialer Kontext, seine Umwelt und deren Blick auf ihn vorgegeben. Wie das Leben selbst sind die konkreten Bezüge, in die der Mensch gestellt ist, ihm vorgegeben. Menschliches Leben ist daher für Pannenberg stets verdanktes Leben, nie ein gänzlich auf persönlicher Autonomie gegründetes Leben. Der Grund dafür, dass der Einzelne Fremdbilder in das eigene Selbstbild integriert, ist nach Pannenberg im Anschluss an Eriksson das menschliche Grundvertrauen. Dieses ist unerlässlich für die eigene Identitätsbildung. Seinen angemessenen Gegenstand hat dieses Vertrauen allerdings nicht in seinen Eltern oder seiner sozialen Umwelt, sondern allein in der göttlichen Wirklichkeit. Denn es ist allein die göttliche Wirklichkeit, die das eigene Selbst fördern und erhalten kann. Ist das eigene Selbst stets sozial vermittelt und die eigene Identität zu Lebzeiten nie abgeschlossen, stellt sich die Frage nach der Möglichkeit des „Mit-sichSelbst-identisch-sein“ innerhalb des eigenen Lebensvollzuges. Diese Frage ist umso dringlicher, da der Mensch stets nach der Ganzheit des eigenen Selbst strebt. Er will sich als Ganzes und nicht als Fragmentarisches erleben. Eine solche Ganzheit entsteht laut Pannenberg, wenn das Ganze des Lebens im aktuellen Moment gegenwärtig ist. Ihre Gegenwart zeichnet den Menschen als Person aus (Kap. 2.1.3). „Person ist die Gegenwart des Selbst im Augenblick des Ich“9. Der Personenbegriff zeigt nach Pannenberg, dass jeder Mensch eine Bestimmung hat: Die Bestimmung, er selbst zu sein; die Bestimmung, Person zu sein. Es ist das in Zukunft vollendete Selbst des Einzelnen, nicht sein augenblickgebundenes Ich, das die Grundlage der eigenen Identität und Grundlage des eigenen Person-Seins ist. Auf die Ganzheit seines eigenen Selbst ist der Mensch in jedem Augenblick seines Lebens bezogen, auch wenn dies nicht bedeutet, dass er im Bewusstsein solcher Ganzheit lebt. Vielmehr zeigt sich hierin die Bezogenheit des geschichtlichen Lebensvollzuges auf die Zukunft der eigenen Bestimmung. Die Ausführungen Pannenbergs zum Personenbegriff unterstreichen, dass für ihn das eigene Person-Sein außerhalb des Handelns der jeweiligen Person begründet ist. Die Zukunft, durch welche sie bereits jetzt Person ist, steht noch aus. Sie ist keine Tat des Ich. Außerdem stärkt der Personenbegriff noch einmal den Stellenwert des Sozialbezuges des Menschen. Denn das Selbst, das erst in Zukunft realisiert ist, ist eben sozial vermittelt, wie Kap. 2.1.2 gezeigt hat. Gleichzeitig sieht 8 Vgl. Kap. 2.1.1. 9 Pannenberg, Anthropologie, 233. (Hervorhebung durch B.A.)

286

Schlussbetrachtungen

Pannenberg dadurch das Recht des Einzelnen auf Selbstbehauptung gestärkt. Er hat eben das Recht, er selbst zu sein; er hat das Recht auf seine eigene Bestimmung. Der Anspruch, die eigene Bestimmung zu realisieren, zeigt das Noch-nicht der menschlichen Existenz. Sie ist offen auf eine Zukunft hin, von der sie die Verwirklichung ihrer Bestimmung erhofft. Dadurch ist der Einzelne totalitären Ganzheitsansprüche einer jeglichen Gemeinschaft enthoben. In Pannenbergs identitätstheoretischen Ausführungen zeigen sich somit drei wesentliche Grundzüge: Erstens begreift er menschliches Leben als verdanktes Leben. Wie das Leben selbst ist die persönliche Identität dem eigenen Handeln entzogen. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass menschliches Handeln, menschliche Konstruktion vollkommen unbedeutend für die eigene Identitätsbildung sind. Vielmehr steht der Einzelne in einem Verhältnis zu sich selbst wie auch zu seiner Umwelt. Er setzt sich selbst konstruktiv mit den Fremd- und Selbstbildern auseinander und ist durch deren Integration und Modifikation in das eigene Selbstbild am eigenen Identitätsprozess aktiv beteiligt. Der konstitutive Sozialbezug jedes individuellen Lebens unterstreicht das Moment des Gegebenseins des Lebens, welches der eigenen Selbstbeteiligung, der eigenen Selbstkonstruktion vorausgeht.10 Dabei bleibt der fundamentale Sozialbezug des Menschen für Pannenberg keinesfalls auf die Anthropologie beschränkt. Er nimmt ihn ernst für seine gesamte Theologie: Seine Absage an eine Beschränkung jeder Religion auf den privaten Bereich11 ist hier bereits grundgelegt. In keinem Bereich des Lebens wird der Mensch angemessen erfasst unter Absehung seiner Sozialbezüge. Dies gilt auch für den Menschen als religiöses Subjekt. Im Christentum ist daher der Einzelne auf die kirchliche Gemeinschaft angewiesen. Ein rein individuelles Christsein ist unmöglich. Zweitens unterstreicht Pannenberg, dass die persönliche Identität erst in der Zukunft vollendet ist. Erst von der Zukunft erwartet der Mensch die Verwirklichung der eigenen Bestimmung. Ihm diese Zukunft nicht zu verstellen, ist die Pflicht jeder Gemeinschaft. Sie schützt den Einzelnen daher vor absolutistischen Ansprüchen einer Gesellschaft. Die Angewiesenheit des Einzelnen auf die Gemeinschaft bedeutet also nicht seine generelle Auslieferung an die Gemeinschaft. Letztere ist dazu verpflichtet, die Verwirklichung des Einzelnen zu befördern. Sein Recht auf eine Bestimmung begrenzt die Ansprüche jeder Gemeinschaft. Drittens ist Pannenberg bemüht, die religiösen Implikationen der Identitätsbildung aufzudecken. Zum einen anhand des menschlichen Grundvertrauens, dessen eigentlicher Gegenstand Gott ist. Zum anderen hinsichtlich der Möglichkeit, im geschichtlichen Lebensvollzug 10 Der Vorwurf Zarnows, der gegen Pannenberg „ein konstitutives Ineinander von Gegebenheit und spontaner Konstruktion“ (Zarnow, Identität, 48. Hervorhebung im Original.) bei der Identitätsentwicklung festhalten will, läuft daher meines Erachtens ins Leere. 11 Vgl. Kap. 7.2.

Sinndeutung des Menschen als konstruktiver Nachvollzug des vorgegebenen Sinns

287

bereits mit sich selbst identisch zu sein. Dies ist für Pannenberg nur möglich durch die Gegenwart des Selbst im Augenblick des Ich. Also durch die Gegenwart der individuellen Zukunft im momentanen Augenblick. Eine solche Ganzheitserfahrung qualifiziert Pannenberg als Heil. Dieses ist nur in den Religionen erfahrbar.12 Die Konsequenzen dieser Aussage sind weitreichend. Pannenberg spricht damit jedem Menschen, der nicht religiös ist, die Möglichkeit ab, persönliche Identität und Ganzheit zu erfahren. Denn diese Möglichkeit besteht für ihn nur im Überlieferung- und Lebenszusammenhang konkreter Religionen. Dem ist zu widersprechen. Selbst wenn jede Ganzheitserfahrung religiös genannt wird, dann heißt dies meines Erachtens zweierlei: Einmal, dass jede positive Religion daran zu beurteilen ist, ob sie in der Lage ist, dem Einzelnen die Erfahrung solcher Ganzheit zu ermöglichen. Eine Konsequenz, die Pannenberg auch selbst zieht. Eine Religion ist also daraufhin zu beurteilen, inwiefern sie der individuellen Bestimmung des Einzelnen dient. Zum zweiten, und dies muss gegen Pannenberg festgehalten werden, darf eine Charakterisierung erfahrener Ganzheit als religiös nicht bedeuten, dass eine solche Erfahrung nur innerhalb der positiven Religionen möglich ist. Eine solche Beschränkung ist dem Menschen gegenüber unangemessen, weil sie faktische Ganzheitserfahrungen außerhalb positiver Religionen negiert. Und sie ist Gott gegenüber unangemessen, da sie sein Wirken auf den Lebenszusammenhang positiver Religionen beschränkt und ihm so eine Grenze setzt. Sind die Ausführungen Pannenbergs zur Identität des Einzelnen von einer Skepsis gegenüber der konstitutiven Bedeutung des menschlichen Handelns geprägt, wird dies umso deutlicher in seiner Interpretation der gemeinsamen Welt (Kap. 2.2). Die gemeinsame Welt und ihre kulturelle Ausgestaltung sind dem Einzelnen vorgegeben. Er schafft sie nicht aus sich heraus (Kap. 2.2.1). Das heißt, dass die symbolisierende Aktivität des einzelnen Bewusstseins lediglich als aktiver Nachvollzug der vorgegeben kulturellen Deutungen und Ausgestaltungen begriffen werden kann.13 Dies will Pannenberg allerdings nicht als eine hierarchische Vorordnung der Gesellschaft über den Einzelnen verstanden wissen. Vielmehr basiert auch jede Kultur und gesellschaftliche Ordnung auf einer ihr vorgegebenen Sinnstruktur. Dieser einer Gesellschaft vorgegebene Sinn ist Inhalt des Mythos bzw. des religiösen Bewusstseins. Die schöpferische Tätigkeit des Menschen – des Einzelnen wie einer Gesellschaft – ist als Nachvollzug dieses vorgegebenen Sinns zu begreifen. Die Aktivität des Menschen bleibt auf den Nachvollzug einer vorgegeben Wirklichkeit, eines vorgegebenen Sinnzusam12 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 467. 13 Vgl. Kap. 2.2.1

288

Schlussbetrachtungen

menhangs beschränkt. Dieser vorgegebene Sinnzusammenhang besteht jedoch nicht „an sich“, sondern erschließt sich im Medium dieses Nachvollzuges. „Dieser Prozeß des Sichzeigens der Wirklichkeit durch das Medium schöpferischer Tätigkeit des Menschen darf über dem Gesichtspunkt menschlichen Schöpfertums nicht vergessen werden.“14 Pannenbergs Darlegungen zur Entstehung und Ausgestaltung der Institutionen vertiefen dieses Verständnis weiter (Kap. 2.2.2). In den Institutionen einer Gesellschaft bildet das gemeinsame Sinnbewusstsein einen gemeinsamen Lebensstil aus. Dabei grenzt sich Pannenberg von Durkheim dadurch ab, dass die Individuen einer Gesellschaft nicht gleichgültig sind für die Anzahl und Ausgestaltung der Institutionen. Vielmehr entstehen die Institutionen im Lebensvollzug konkreter Individuen, auch wenn sie nach ihrem Entstehen ihr Bestehen von diesen konkreten Individuen ablösen können. Für den Ursprung von Institutionen ist nach Pannenberg zwischenmenschliches Rollenverhalten von entscheidender Bedeutung: Eine einzelne Person beobachtet bei einer anderen Person ein bestimmtes Verhalten und schreibt diesem bestimmte Motivationen zu. Tritt dasselbe Verhalten wieder auf, werden auch dieselben Motivationen diesem zugeschrieben. Ein Vorgang, der in Interaktion reziprok geschieht, wodurch wiederum Verhaltensstrukturen entstehen. Das bedeutet nichts anderes, als dass beide Personen konkrete Rollen im gegenseitigen Verhältnis annehmen. Die an der Interaktion Beteiligten sind so in der Lage, das Verhalten des anderen vorauszusagen und um dessen wechselseitige Bedingtheit zu wissen. Dass sich ein solches institutionalisiertes Verhalten nun von den Individuen löst und in manchen Fällen diesen gegenüber sogar vorgeordnet erscheint, liegt nach Pannenberg ebenfalls im vorgegebenen Sinnzusammenhang begründet. Denn dieser bildet sich bei der Beobachtung von wiederkehrendem Verhalten und dem Zuschreiben von wiederkehrenden Motivationen heraus und bindet das Verhalten der beteiligten Individuen aneinander. Erfassen letztere diesen Sinnzusammenhang, verständigen sich über ihn und ordnen das eigene Verhalten darin ein, ist nach Pannenberg von institutionalisierten Wechselbeziehungen zu sprechen. „Die Überordnung der Institution über den einzelnen beruht also auf der Vorgegebenheit erfahrener und sprachlich artikulierter Sinnzusammenhänge.“15 Institutionen sind daher für Pannenberg auf Dauer angelegte Sinngestalten des menschlichen Zusammenlebens und als solche dem Handeln vorgegeben. Ihre konkrete Ausgestaltung jedoch ist damit nicht vorgegeben, sondern kann ausbleiben oder entstehen auf der Grundlage des kulturellen Sinnbewusstseins des gesellschaftlichen Zusammenlebens, welches dem einzelnen Individuum vorgegeben ist und im Glauben und Mythos zugänglich wird. 14 Pannenberg, Anthropologie, 310. (Hervorhebung durch B.A.) 15 Pannenberg, Anthropologie, 394.

Sinndeutung des Menschen als konstruktiver Nachvollzug des vorgegebenen Sinns

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Der Institutionenbegriff Pannenbergs zeigt, dass für ihn die Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens im letzteren vorgegebenen Sinnzusammenhang gründet. Diese Sinnordnung hat es mit der Bestimmung des Einzelnen und der Gemeinschaft zu tun. Sie ist daher auch der Grund jeder politischen Ordnung, die an der Bestimmung des Einzelnen und der Gemeinschaft ausgerichtet ist (Kap. 2.2.3). Pannenberg plädiert dafür, jede politische Ausgestaltung des Zusammenlebens als Versuch anzuerkennen, diese Bestimmung zu realisieren. Gerade der christliche Glaube an das Reich Gottes erkennt diesen Zusammenhang an, da jede politische Ordnung der vorläufige Versuch ist, dieses Reich Gottes auf Erden zu realisieren. Dabei muss die politische Ordnung von dem Bewusstsein geprägt sein, vorläufig zu sein, da sie sonst zur Tyrannei wird. Eine solche positive Würdigung der politischen Ordnung oder des Staates sieht Pannenberg in der Geschichte des Christentums zu selten gegeben. Gerade in der Tradition der Zwei-Reiche-Lehre wurde der Staat vor allem negativ bestimmt, indem ihm die Funktion zugesprochen wurde, die Sünde des Menschen einzudämmen.16 Eine solche positive Anerkennung jeglicher gesellschaftlicher Ordnung bedeutet für Pannenberg aber nicht, dass der Einzelne dieser gänzlich untergeordnet ist. Vielmehr ist er zur Freiheit bestimmt, eine Freiheit, die zutiefst im christlichen Erbe verwurzelt ist, jedoch zu selten im Christentum konkrete Gestalt geworden ist. Eine Freiheit aber, die sich in der Gemeinschaft vollzieht und im Reich Gottes vollendet wird. Aber nicht nur das Christentum, sondern Religion an sich thematisiert nach Pannenberg die Bestimmung des Einzelnen und der Gemeinschaft, welche die gesellschaftliche Ordnung zu realisieren sucht. Die Religion hat somit das Potential, eine bestimmte Ordnung als vorläufige Gestalt dieser Bestimmung anzuerkennen und dadurch zu legitimieren (Kap. 2.2.4). Ein Potential, auf das gerade die politische Ordnung, nicht jedoch die Religion angewiesen ist. Denn es ist nur das den Menschen vorgegebene Sinnbewusstsein, welches eine bestimmte Herrschaftsform fundiert und den Grund der Herrschaft den Herrschenden selbst entzieht. Die Moderne hat sodann auch nach Pannenberg gezeigt, wie angewiesen die gesellschaftliche Ordnung auf eine solche ihr entzogene Begründung ist. In den dargelegten anthropologischen Ausführungen hat Pannenberg die Grenzen menschlichen Handelns betont und dem Menschen dennoch eine Bedeutung beigemessen. Er will an beidem festhalten: Einem dem Menschen vorgegeben Sinn und menschliche Konstruktion des Sinns, die für ihn konstruktiver Nachvollzug ist. Der vorgegebene Sinn erschließt sich selbst nur in diesem Nachvollzug. Dabei ist das Leben des Einzelnen wie der Gesellschaft auf diesen vorgegeben Sinn ver- und angewiesen. Nach Pannenberg zeigt sich hierin die 16 Vgl. dazu Kap. 4.5.1.

290

Schlussbetrachtungen

Verwiesenheit des Menschen auf die göttliche Wirklichkeit, welche die Religion zu erfassen sucht. Sie ist damit die dritte Ebene neben Einzelnem und Gemeinschaft, welche die Integration des Einzelnen in die Gemeinschaft leistet und gesellschaftliche Gestaltung begründet. Denn indem die Religion die göttliche Wirklichkeit thematisiert, thematisiert sie Einheit und Sinn aller Wirklichkeit und integriert die Einzelnen und deren Lebensbereiche wie die gesamte Gemeinschaft in diese Einheit (Kap. 2.2.5). Dadurch wird jeglicher Versuch, durch eine gesellschaftliche Ordnung eine solche Einheit zu erreichen, anerkannt wie legitimiert und gleichzeitig als vorläufig qualifiziert. So ist dann nach Pannenberg auch die Religion, welche die Bestimmung des Menschen und darin die Einheit aller Wirklichkeit thematisiert, Grundlage möglicher Kritik an bestehenden konkreten Entwürfen der Gesellschaft. Pannenberg ist bemüht zu zeigen, dass die beschriebenen Funktionen der Religion im Allgemeinen zukommen, nicht nur einer geschichtlichen Religion im Besonderen. Dennoch zeigen gerade seine Abhandlungen zur staatlichen Ordnung und deren Legitimierung, dass es gerade die christliche Religion ist, die dies zu leisten im Stande ist; aus der Impulse hervorgehen, die eine Gemeinschaft ermöglichen, die die Freiheit des Einzelnen und sein Recht auf Individuiertheit ermöglichen. Eine Besinnung moderner Gesellschaften des Westens auf dieses Potential des Christentums ist damit auch das Ziel seiner Abhandlungen zur Säkularisierung, da eine Gesellschaft mit diesem Potential die Aporien der Moderne umgehen und ihre Errungenschaften erhalten kann. Pannenbergs Sicht auf die Säkularisierung und inwiefern er eine Revision dieser fordert, ist noch einmal Gegenstand von Kap. 7.3. Daher sollen seine der Religion zugeschriebenen Funktionen innerhalb der Gesellschaft erst an dessen Ende kritisch gewürdigt werden. Festzuhalten ist an dieser Stelle noch einmal die Stärke der fundamentalanthropologischen Grundlegung seiner Theologie und mithin auch seiner Ekklesiologie. Er verankert die religiöse Deutung des Menschen und der Welt in allgemeinen, nichttheologischen Diskursen um das Selbstverständnis des Menschen. Der entscheidende Grund hierfür ist ein Anliegen Pannenbergs, das bis heute nicht an Aktualität verloren hat: Die Auseinandersetzung mit dem modernen Atheismus ist nur auf diesem Feld möglich. Denn nur, wenn gezeigt werden kann, dass die Religion nicht eine Fehldeutung des Menschen ist, dass sie nicht bloße Projektion ist, durch die er sich seiner eigenen Bestimmung in den Weg stellt, kann die Kritik des modernen Atheismus zurückgewiesen werden. Denn der Vorwurf der Projektion und der Selbstfehldeutung steht im Zentrum des modernen Atheismus, welcher nach Pannenberg darin entscheidend von Feuerbach, Karl Marx, Nietzsche und Freud geprägt ist. Für diese Auseinandersetzung wagt sich Pannenberg in das Feld der anthropologischen Wissenschaften, um in den von ihnen beschriebenen Phänomenen des menschlichen Lebensvollzuges religiöse Implikationen aufzuzeigen. Die An-

Die Funktion der Religion in der modernen Gesellschaft

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thropologie in theologischer Perspektive zeigt ebenso wie Pannenbergs Wissenschaftstheorie und Theologie, dass er entschieden gegen eine Selbstabschließung der Theologie vorgehen will. Denn nur so kann der Marginalisierung der Theologie entgegengetreten werden, indem sie in der Lage ist, die eigenen Einsichten dergestalt in den akademischen und gesellschaftlichen Diskurs einzuspielen, dass sie voraussetzungsfrei nachvollzogen werden können und nicht in einem Widerspruch zum gängigen Wissenschaftskanon bzw. den gängigen Einsichten über den Menschen stehen.

7.2

Die Funktion der Religion in der modernen Gesellschaft: Der Versuch einer öffentlichen Revitalisierung christlicher Gehalte

Das zentrale Kennzeichen der Moderne ist nach Pannenberg die Säkularisierung. Der Grund der Säkularisierung ist nach seinem Urteil eindeutig zu benennen: Die Konfessionskriege im 16. und 17. Jh. (Kap. 3.1). Die sich im Zuge der Reformation herausgebildeten Konfessionskirchen, die sich im eigenen Absolutismus und Dogmatismus verschlossen und sich gegenseitig verwarfen, überzogen Europa mit vielfachen kriegerischen Auseinandersetzungen. Die Religion, die nach Pannenberg bis dahin der Grund der Einheit einer Gesellschaft war, wurde nun zum größten Feind dieser Einheit. Die Staaten hatten infolgedessen gar keine andere Möglichkeit, als auf eine religiöse Begründung ihrer Gesellschaft zu verzichten. Nur so schien dauerhafter Frieden möglich. Die Religion selbst wurde in der Folge dieser Entwicklung mehr und mehr in den Bereich des Privaten verdrängt, ohne jegliche Relevanz für das öffentliche Leben. Es sind also nach Pannenberg primär historische Gründe, die zur Säkularisierung führten, und nicht geistesgeschichtliche Umbrüche oder eine voranschreitende Pluralisierung, die vielmehr wiederum die Folge der beschriebenen historischen Ereignisse sind. Das Fundament einer Gesellschaft wurde nun nicht mehr in der Religion gesehen, sondern in einem allgemeinen Begriff vom Menschen. Mit seinem Fokus auf die historischen Ereignisse leistet Pannenberg einen wichtigen Beitrag zur Debatte um die Säkularisierung, die in vielen Entwürfen seiner Zeit als eine rein geistesgeschichtliche Entwicklung charakterisiert wurde.17 Diese Schlagseite der 17 Gerade die Debatte der ersten Nachkriegsjahre um den Begriff der Säkularisierung war ideengeschichtlich bestimmt. Die Säkularisierung wurde zurückgeführt auf Entwicklungen seit der Renaissance, die von einer Selbstentschließung des Menschen zu reiner Diesseitigkeit bestimmt waren. Eine solche Perspektive auf die Säkularisierung diente der entlastenden Deutung der NS-Zeit, da mit diesem Entschluss und den daraus resultierenden Entwicklungen der Grund benannt war, dass der nationalsozialistische Faschismus an die Herrschaft gelangen konnte. Vgl. Lübbe, Säkularisierung, 109–117. Auch in der Folgezeit wurde die Säkularisierung in erster Linie geistes- und ideengeschichtlich begründet. Blumenberg z. B.

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Schlussbetrachtungen

damaligen Debatte ist vermutlich der Grund, dass er die geistesgeschichtlichen Gründe der Säkularisierung, die er zweifelsfrei einräumt, in seinen Darlegungen vernachlässigt. Ihm lag daran, den Blick des damaligen Diskurses auf die geschichtlichen Gründe zu lenken, und eben darin besteht ein wesentlicher Verdienst seiner Darlegungen zur Säkularisierung. Folge der historischen Ereignisse war nach Pannenberg entweder die strikte Trennung von Staat und Kirche und die Beschränkung der Religion auf den privaten Bereich (z. B. Frankreich) oder eine Unterordnung der Religion unter die Staatsräson (z. B. Schweden). Letzteres sieht er in den Ländern, in welchen durch die staatlichen Autoritäten eine Konfession zur Staatsreligion erhoben wurde. Die Ablösung des gesellschaftlichen Lebens von der Religion führte des Weiteren zu einer schrittweisen Emanzipation der Erziehung bzw. Bildung und der Wirtschaft bis hin zur vollständigen Lösung der modernen Kultur von ihren religiösen Grundlagen (Kap. 3.2). Religion, und das heißt das Christentum, verlor seinen grundlegenden Rang im Bildungssystem. Mit der Konsequenz, dass nach Pannenberg die prägende Bedeutung des Christentums für die Entstehung und Charakteristika der europäischen Kultur bei den Menschen immer mehr verblasste. Darüber hinaus hatte die Säkularisierung die immer stärker werdende Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft zur Folge, auch hinsichtlich des kulturellen Bewusstseins. Kulturelle Überlieferungen und religiöse Traditionen wurden zu einem beliebigen Konsumgut neben anderen, mit entscheidender Bedeutung für sieht die entscheidende Wende zur Neuzeit in der Selbstbehauptung des Menschen gegenüber einem allmächtigen, absolutistischen Gott, wie ihn das Christentums glaubt. Dieser Gott ließ nach Blumenberg keinen Platz für die Freiheit des Menschen, so dass letzterer gerade angesichts des Leids dieser Welt keine andere Wahl hatte, als sich gegen Gott zu behaupten und sich mit der Entstehung der Naturwissenschaften und dem technischen Fortschritt der Welt zu bemächtigen. Vgl. Blumenberg, Legitimität, bes. 75–98. Die historischen Ursachen der Säkularisierung übersieht meines Erachtens auch Rendtorff, wenn er in seiner Antrittsvorlesung die Säkularisierung auf eine veränderte theologische Sicht auf die Kirche in der Reformation zurückführt. Nach Rendtorff war das Mittelalter von einer strikten Regulierung des christlichen Verhaltens durch die Kirche geprägt, z. B. durch klar geregeltes Kalendarium oder durch die klare hierarchische Stufung des Kirchenvolkes. In der Reformation wurden diese kirchlich-regulierten Verhaltensbestimmungen zu den menschlichen Traditionen gezählt, die hinsichtlich des Heils jegliche Notwendigkeit verloren. Da nun diese als traditiona humana bezeichneten Bestimmungen laut Rendtorff mit dem Verhalten in jeglichen anderen Lebensbezügen untrennbar zusammenhingen, war deren theologische Neubewertung von entscheidender Bedeutung für die damit einsetzende Verweltlichung. Vgl. Rendtorff, Säkularisierung, 319–322. Auch Friedrich Gogarten sieht von jeder historischen Ursache der Säkularisierung ab, wenn er diese als eine legitime Wirkung des christlichen Glaubens bestimmt. Die säkulare Welt ist für ihn Wesensbestandteil des christlichen Glaubens selbst. Denn im Glauben gründet sich der Mensch in Gott und nicht in der Welt. Letztere wird damit anerkannt als das, was sie ist, nämlich die Welt. Nur wenn der Mensch sich in Gott gründet, kann er der Verantwortung für die Welt als Schöpfung Gottes gerecht werden. Vgl. Gogarten, Verhängnis, 11–35. Zum Begriff der Säkularisierung bei Gogarten vgl. Rendtorff, Säkularisierung, 330–335.

Die Funktion der Religion in der modernen Gesellschaft

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die Religion. Denn beliebiger Kulturkonsum, in dem bestimmte Überlieferungen und Bräuche nur ein Angebot neben vielen sind, führt zu einem Verbindlichkeitsverlust der Religionen. Emanzipation der Bildung und Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft sind somit verstärkende Faktoren der Säkularisierung, die so immer weiter voranschritt. Für Pannenberg eine folgenschwere Entwicklung. Um die Folgen der Säkularisierung für das individuelle wie gesellschaftliche Leben zu bestimmen, knüpft Pannenberg an Bergers Arbeiten in The Homeless Mind an (Kap. 3.3). Für Berger ist die moderne Bewusstseinsstruktur durch drei Merkmale charakterisiert: Die Anonymisierung menschlicher Lebensvollzüge, die Trennung der öffentlichen Lebenssphäre und der Privatsphäre und die damit einhergehende Überladung letzterer sowie der Wegfall eines übergreifenden symbolischen Universums wie es in vormodernen Gesellschaften seitens der Religion bereitgestellt wurde. Für Berger ist es neben der Technisierung vor allem die immer weiter um sich greifende Bürokratisierung in der Moderne, die eine Anonymisierung zur Folge hat. Anonymität ist in der Bürokratie ein moralischer Imperativ, da diese von jeglicher Individuiertheit absehen muss. Des Weiteren ist es die Pluralisierung der Lebenswelten, die die Moderne entscheidend von vorangegangenen Epochen unterscheidet, die von einer deutlich stärkeren Einheit geprägt waren. Dies betrifft in besonderem Maße die Religion, die in früheren Zeiten die verschiedenen Bereiche einer Gesellschaft zu einer sinnvollen Einheit integrierte. Menschen der Moderne bewegen sich demgegenüber in verschiedenen, teils sogar gegensätzlichen Erfahrungs- und Bedeutungswelten. In einer differenzierten und diffus gewordenen Lebenswelt ist nun der private Bereich der Ort, an welchem versucht wird, eine Ordnung stützender und integrierender Sinngehalte herzustellen. Eine schwer zu bewältigende Aufgabe, da wiederum gerade der private Bereich von der Pluralisierung betroffen ist, wie für Berger die Merkmale moderner Identität zeigen. Der Mensch lebt in den verschiedenen Lebensbereichen seines Alltages verschiedene Identitäten und kann im gesamten Verlauf seines Lebens unterschiedliche Identitäten verfolgen wie verwerfen. Die Identität erscheint daher als besonders offen und unabgeschlossen. Gleichzeit haben die pluralisierten sozialen Welten eine gegenseitige Relativierung zur Folge und führen so zu einem Wirklichkeitsverlust der institutionellen Ordnung. Daher verlagert sich der Wirklichkeitsakzent in die eigene Subjektivität. Sie ist der Ort, an dem Halt für die eigene Wirklichkeit gesucht wird. Damit ist die eigene Identität, die stets unabgeschlossen ist und sich dauernd verändert, der Ort, der dem Individuum Halt in seiner Wirklichkeit geben soll. Die eigene Subjektivität ist zusätzlich der Ort, an welchem über die Verbindlichkeit letztgültiger Wirklichkeitsdeutungen entschieden wird. Auch sie sind infolge der wachsenden Pluralisierungen und des Kontakts des Einzelnen mit anderen Überzeugungen und Werten relativ geworden. Ihnen eignet keine selbstverständliche Evidenz mehr, sie sind vielmehr Gegenstand der freien Entscheidung. Daher können

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Schlussbetrachtungen

weder letzte Wirklichkeitsdefinitionen noch die eigene Identität eine sinnvolle Integration der verschiedenen Lebensbereiche zu einem Ganzen leisten. Die Konsequenz ist laut Berger eine wachsende Heimatlosigkeit des modernen Menschen, mit der Gefahr, dass letzterer sich Ideologien zuwendet, die dem Menschen eine neue Heimat geben. In seiner eigenen Beschreibung der Folgen der Säkularisierung für das individuelle und gesellschaftliche Leben knüpft Pannenberg an die Erkenntnisse Bergers an (Kap. 3.4). Auch für Pannenberg ist die Moderne von zunehmender Anonymisierung durch Bürokratisierung, von der Pluralisierung der Lebenswelt sowie von fehlender Integrationskraft letztgültiger Wirklichkeitsdeutungen geprägt. Es ist auch für Pannenberg in dieser Situation das Private, welches eine sinnhafte Integration der verschiedenen Lebensbereiche leisten soll, es aber nicht leisten kann. Die Folge ist Heimatlosigkeit und Entfremdung der Menschen bis hin zu neurotischen Fehlentwicklungen. Aber nicht nur das individuelle, auch das gesellschaftliche Leben sieht Pannenberg infolge verlorener Sinnorientierungen gefährdet. Die zentrale Bedrohung für die gesellschaftliche Ordnung ist ihr Legitimationsverlust. In vormodernen Gesellschaften wurden Politik und Herrschaft der Manipulation enthoben geglaubt, aufgrund ihrer Begründung in der göttlichen Wirklichkeit. Sie war zugleich kritischer Maßstab jeglicher gesellschaftlicher Ordnung. Durch den Wegfall der religiösen Begründung erscheint zwangsläufig jede Herrschaft als Zwangsherrschaft, da jeder Herrschaft per se Zwang innewohnt. Trotzdem bleibt jede Gesellschaft auf Herrschaft angewiesen. Das durch die Säkularisierung entstandene Begründungsdefizit kann nach Pannenberg weder durch das Recht noch durch die Moral kompensiert werden. Durch das Recht nicht, da es aufgrund seiner Lösung von der religiösen Fundierung ebenfalls den Machtverhältnissen unterliegt und so subjektiv-willkürlich erscheint. Durch die Moral nicht, da sie infolge der Lehren Kants und der Psychoanalyse Allgemeingültigkeit verloren hat und der individuellen Selbstverwirklichung anheim gegeben ist. Das Legitimationsdefizit moderner Gesellschaften ist daher für Pannenberg auch der Grund, dass die Geschichte der Neuzeit sich als eine Geschichte der Ideologien lesen lässt. Diese ersetzen die verlorengegangene religiöse durch eine quasireligiöse Begründung. Aber indem sie sich selbst zur Verwirklichung der Bestimmung des Menschen erklären, bedeuten sie das Ende jeglicher individueller Freiheit. Anders als Berger fordert Pannenberg daher eine Revision der Säkularisierung. Diese ist nötig, um die Errungenschaften der säkularen Moderne selbst zu erhalten: Der Anstieg individueller Freiheiten, Toleranz als zentraler Wert im gesellschaftlichen Zusammenleben, Emanzipation von extrinsischen Grenzen menschlicher Erfahrung, Freiheit der Wissenschaft sowie der Kunst und die wachsende Pluralität innerhalb des religiösen Lebens. All diese Werte, welche die säkulare Moderne gegen die hierarchisch-dogmatisch verfasste Kirche des Mittelalters erstritten hat, kann

Die Funktion der Religion in der modernen Gesellschaft

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sie aus sich heraus nicht bewahren. Daher fordert Pannenberg im Sinne dieser Errungenschaften die Säkularisierung zu revidieren und das bedeutet vor allem, die Begrenzung des Religiösen auf den privaten Bereich ohne jegliche gesellschaftliche Relevanz zu revidieren. Pannenberg arbeitet nicht nur die ideologische Gefährdung moderner Gesellschaften aufgrund deren Legitimationsdefizit heraus, sondern unterzieht selbst die drei wesentlichen Ideologien der Neuzeit einer deutlichen Kritik:18 Den Sozialismus, Liberalismus und Nationalismus. Der Liberalismus ist wie der Sozialismus nach Pannenberg von der Grundannahme geprägt, dass der Mensch von Geburt an gut ist, weswegen er zu freier Entfaltung bestimmt ist. Das christliche Menschenbild ist demgegenüber insofern skeptischer, als dass die Menschen zu Freiheit und Gleichheit bestimmt sind, aber diese nicht bereits Realität sind. Im Sozialismus identifiziert Pannenberg die Annahme, dass es zur freien Entfaltung aller die Abschaffung des Privateigentums braucht. Daher erkennt auch der Sozialismus nicht, dass der Mensch auf Selbstdurchsetzung angelegt ist. Das Dilemma des Sozialismus ist daher, dass nach der Vergemeinschaftung allen Besitzes nicht automatisch die Selbstentfaltung aller zusammenstimmt. Deswegen bedeutet sozialistische Herrschaft meist Unfreiheit der Beherrschten. Theologische Positionen, die im Sozialismus einen Verbündeten erblicken, kritisiert Pannenberg daher entschieden. Auch der Nationalismus ist nach Pannenberg in der Moderne für großes Leid verantwortlich. Denn sobald die Nation im Zentrum politischen Denkens steht, ist die Auseinandersetzung um die Vorherrschaft der eigenen Nation die logische Konsequenz. Positiver beurteilt Pannenberg einen partikular geprägten Nationalismus, in welchem die eigene Nation übergeordneten Zielen verpflichtet ist. Eine solchen erblickt er zumindest in den 1960er Jahren noch in den USA, auch wenn es dort immer wieder Phasen der Vergötzung der eigenen Nation gab und gibt. Gleichzeitig gab es aber immer wieder christliche Stimmen, die sich der Verantwortung der eigenen Nation für die gesamte Menschheit im Lichte eines christlichen Nationalismus bewusst waren. Nur ein göttlich begründetes Verantwortungsbewusstsein für die gesamte Menschheit rechtfertigt nach Pannenberg die Pflege nationaler Brauchtümer und Besonderheiten. Dafür kann ein geeintes Europa ein Beispiel sein, wenn es sich nicht abschottet gegenüber der restlichen Welt. Damit die Begrenzung des Religiösen auf den privaten Bereich revidiert werden kann, müssen Theologie und Kirche nach Pannenberg in der Lage sein, das verkürzte Wirklichkeitsverständnis der säkularen Welt in eine größere Einheit zu integrieren und für eine weitere Vernunft zu öffnen, zu der auch die Bindung des Menschen an bzw. seine Verwiesenheit auf eine göttliche Wirklichkeit gehört (Kap. 3.5). Keine theologischen Optionen in der Moderne sind demgegenüber 18 Vgl. Kap. 3.4.1.

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Schlussbetrachtungen

nach Pannenberg die strikte Opposition zum Zeitgeist oder eine Anpassung an diesen. Eine strikte Opposition sieht er protestantischerseits in der Theologie K. Barths gegeben. Ein solcher Gegenkurs leidet unter geringer Plausibilität, da er der Lebenswelt unvermittelt gegenübertritt. Ebenso wenig ist für Pannenberg der Weg der Anpassung gangbar. Eine solche sieht er in der theologischen Rede vom Tode Gottes sowie im Entmythologisierungprogramm Bultmanns und mit Abstrichen in der Befreiungstheologie sowie der Feministischen Theologie gegeben. Letztere sehen zwar laut Pannenberg richtige Defizite – die Feministische Theologie, dass die im Christentum angelegte Gleichstellung von Mann und Frau zu selten realisiert wurde; die Befreiungstheologie, dass es extrem ungerechte Verhältnisse auf der Welt gibt, die der Veränderung bedürfen –, beide aber vernachlässigen das kritische Potential christlicher Theologie gegenüber dem Zeitgeist. Die Feministische Theologie, indem sie die Aufgabe der Vateranrede Gottes fordert. Die Befreiungstheologie, indem sie die Zweideutigkeiten innerweltlicher Befreiung unzureichend reflektiert und sich verzerrten Analysen der Gegenwart anschließt, so vor allem dem Marxismus, einer nach Pannenberg durchweg atheistischen Ideologie. Die Theologie der Entmythologisierung passt sich insofern an den Zeitgeist an, als dass diese fordert, weltbildhafte Aussagen der biblischen Zeugnisse preiszugeben und letztere nur auf das existentielle Selbstverständnis des Menschen hin auszulegen. Die säkulare Beschränkung der Religion auf das Individuum findet hier nach Pannenberg seine bibelhermeneutische Umsetzung. Die theologische Rede vom Tod Gottes ist für ihn demgegenüber nur als eine Aussage über das metaphysische Wesen der säkularen Kultur einsichtig, nicht als eine Aussage über Gott. Allerdings ist ihre theologische Adaption von fatalen Konsequenzen geprägt, indem damit jegliche Transzendenz Gottes aufgegeben wird. Daher sollte besser von der Abwesenheit Gottes in der säkularen Welt gesprochen werden, eine Abwesenheit, die in der Abwendung der Menschen von Gott begründet ist. Gegenüber diesen Versuchen der Anpassung wie auch gegenüber einer strikten Opposition müssen Theologie und Kirche das verkürzte moderne Wirklichkeitsverständnis in ein größeres Ganzes integrieren. Dafür ist es nach Pannenberg unerlässlich, die Errungenschaften der Moderne und dabei besonders die individuelle Freiheit sowie die Pluralität der Lebensvollzüge und -deutungen anzuerkennen und in die eigene Theologie zu integrieren. Denn nur so kann die Privatisierung der Religion aufgehoben werden, was wiederum die Voraussetzung ist, Freiheit und Pluralität zu schützen. Eine Pluralität, die bei Pannenberg allerdings nie die vollkommene Gleichberechtigung der verschiedenen Lebensformen und Wirklichkeitsdeutungen heißt. Eine solche Gleichberechtigung und Gleichgültigkeit unterschiedlicher Denkund Lebensformen ist für Pannenberg ein prinzipieller Pluralismus. Letzterer sitzt allerdings seiner Meinung nach einem Missverständnis auf, da er die Pluralität selbst zum obersten Prinzip erklärt und so doch nicht alle Prinzipien oder

Die Funktion der Religion in der modernen Gesellschaft

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Einsichten für gleich gültig hält.19 In ethischer Hinsicht ist ein solch prinzipieller Pluralismus schon gar nicht denkbar. So zeigt z. B. Art. 2 GG die freie Entfaltung des anderen als Grenze der eigenen. Deswegen kann Pluralismus nur in gemäßigter Form denkbar sein und das heißt, im Rahmen einer irgendwie vorgegebenen Einheit. Daher lehnt er das Ideal einer multikulturellen Gesellschaft ab, soll dieses bedeuten, dass unterschiedlichste Kulturen in einer Gesellschaft gleichgültig und gleichberechtigt nebeneinander existieren. Letzteres würde die Einheit und den Frieden einer Gesellschaft permanent bedrohen.20 Eine solche gemäßigte Pluralität, also eine Pluralität in der Einheit, fordert Pannenberg auch von den Konfessionskirchen. Eine solche zu erreichen wäre eine Einheit der Kirche, die eben nicht wie im Mittelalter Hierarchie und dogmatische Uniformität bedeutet, sondern Freiheit und versöhnte Vielfalt. Nur dann kann die Kirche die Aporien überwinden, die zur Säkularisierung geführt haben und dem Christentum zu neuer gesellschaftlicher Relevanz verhelfen.21 Die anthropologischen und gegenwartsdiagnostischen Ausführungen Pannenbergs zeigen, welchen konstitutiven Stellenwert er der Religion für ein gelingendes Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft beimisst. Sein eigener theologischer und insbesondere sein ekklesiologischer Entwurf sind diesen Einsichten verpflichtet. Für ihn ist das Ziel von Kirche und Theologie die Aufhebung der Privatisierung der Religion und die Revitalisierung der öffentlichen Relevanz des Christentums. Ein während des Wirkens Pannenbergs u. a. von Rendtorff verteidigtes privates Christentum22 ist für ihn keine Option. Ein solches steht nach Pannenberg christlichen Grundeinsichten entgegen, da für ihn der Glaube per se eine gesellschaftliche Relevanz hat und auf Öffentlichkeit drängt.23 Aber auch im Sinne moderner Gesellschaften und ihrer Errungenschaften ist die Beschränkung des Religiösen auf das Private keine hinnehmbare Möglichkeit, da die Errungenschaften nur auf einer erneuerten religiösen Grundlage erhalten werden können. Inwiefern seine Ekklesiologie diesem Prüfstein entspricht, wird 19 Vgl. Pannenberg, Gleichgültigkeit, 135. 20 Vgl. Pannenberg, Pluralismus, 24f. 21 Das Verhältnis von Pluralität und Einheit bei Pannenberg und sein in diesem Verhältnis begründete Ökumeneverständnis wird noch einmal Gegenstand von Kap. 7.4 sein. 22 Vgl. Rendtorff, Christentum. Private Religion und die Zentralstellung des Individuums in der Neuzeit zählen für Rendtorff zur Wirkungsgeschichte der Reformation. Vgl. dazu Axt-Piscalar, Theologie, 323–326. Zum Hintergrund seines Verständnisses von privater Religion, für die seine Rekonstruktion Johann Salomo Semlers eine entscheidende Rolle spielt, vgl. Laube, Christentum, 241–254. 23 Vgl. z.B die Bedeutung der kirchlichen Verkündigung und Sakramentsverwaltung, ohne die der Einzelne gar nicht den Traditionszusammenhang des Christentums kennenlernen könnte und ohne die ein Glaube an Jesus Christus nicht möglich wäre (vgl. Kap. 4.2.1). Oder vgl. die Bedeutung des Bekenntnisses als öffentliche Proklamation des Glaubens für die Bildung der kirchlichen Gemeinschaft (Kap. 4.2.2).

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Schlussbetrachtungen

im Laufe dieser Zusammenfassung noch weiter diskutiert werden. Die Möglichkeit der Aufhebung der Privatisierung der Religion und einer neuen religiösen Begründung der gesellschaftlichen Ordnung durch das Christentum ist meines Erachtens am Beginn des 21. Jh. allerdings keine Option und somit auch kein mögliches Ziel kirchlichen und theologischen Wirkens mehr. In der Frühphase des akademischen Schaffens Pannenbergs erschien eine solche christliche Fundierung der Gesellschaft aufgrund der religiösen Situation in Deutschland vielleicht noch realisierbar. Mitte der 1950er Jahre waren nur ungefähr vier Prozent der Bevölkerung Mitglied einer nicht-christlichen oder gar keiner Religionsgemeinschaft. „Religionspluralität war als soziales Faktum unbekannt.“24 Mittlerweile ist die Situation eine gänzlich andere: 2010 waren 61,2 Prozent Mitglied einer christlichen Religionsgemeinschaft, 8,3 Prozent Mitglied einer nicht-christlichen Religionsgemeinschaft und 30,3 Prozent Mitglied keiner Religionsgemeinschaft.25 Gerade die immer größer werdende Bevölkerungsgruppe derer, die nicht zu einer Religionsgemeinschaft gehören, aber auch die immer größere werdende religiöse Pluralität in Deutschland lassen eine christliche Begründung der gesellschaftlichen Ordnung als weder sinnvoll noch möglich erscheinen. Aber auch unter Absehung dieser religiösen Gegenwartssituation sind einige entscheidende Entwicklungen und damit auch Merkmale der Moderne aus meiner Sicht nicht mehr revidierbar. Der von Berger diagnostizierte Plausibilitätsverlust des symbolischen Universums und die Verlagerung der Entscheidung über letzte Verbindlichkeiten und Plausibilität in die Selbstbestimmung des Individuums ist unhintergehbar. Fällt die Entscheidung hierüber im einzelnen Subjekt, kann eine öffentliche Geltung einer bestimmten Religion im Sinne einer die Gesellschaft einenden und ihre Ordnung legitimierenden Religion weder möglich noch erstrebenswert sein. Denn dass der Einzelne über Sinn und Unsinn der Religionen wie jeder Wirklichkeitsdeutung entscheidet, hat zwangsläufig die Pluralität der Deutungen zur Folge. Unter dieser Bedingung einer Religion von Seiten des Staates den Vorrang vor allen anderen zuzuerkennen und die Legitimierung seiner Ordnung auf dieser zu gründen, ist in der Moderne im Anschluss an Berger nicht mehr möglich. Verbindlichen Letztbegründungen jeglicher Art muss sich der moderne Staat verweigern. Zwar analysiert Pannenberg meines Erachtens die Risiken und Gefährdungen, denen moderne Gesellschaften ausgeliefert sind, sehr treffend: Von der Überforderung des Einzelnen über die Gefahr der Ideologisierung bis hin zur Eigengesetzlichkeit des Kapitalismus. Eine Revision der Säkularisierung im Sinne einer religiös begründeten Gesellschaftsordnung allerdings ist keine mögliche Antwort auf diese Risiken. Vielmehr sollten moderne Gesellschaften die den Religionen innwoh24 Großbölting, Himmel, 97. 25 Vgl. Pollack/Olaf, Religionsmonitor, 32.

Die Funktion der Religion in der modernen Gesellschaft

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nenden Potentiale anerkennen, diesen Risiken entgegenzutreten. Indem zum einen den Religionen, die im Sinne Pannenbergs den in der Moderne errungenen Werten verpflichtet sind, öffentlich zuerkannt wird, dass sie Zugänge zu der dem Menschen entzogenen Bestimmung seiner selbst bereitstellen. Und indem die Gehalte der Religionen als für den öffentlichen Diskurs relevant anerkannt werden. In einem solchen Sinne ist mit Pannenberg gegen eine vollständige Privatisierung des Religiösen zu streiten. Denn, um es mit Jürgen Habermas zu sagen: „Religiöse Überlieferungen besitzen für moralische Intuitionen, insbesondere im Hinblick auf sensible Formen eines humanen Zusammenlebens, eine besondere Artikulationskraft.“26 Damit diese Kraft wirksam werden kann, bedarf es nach Habermas zwei entscheidender Voraussetzungen: Zum einen die Übersetzung religiöser Sprache in eine Sprache, die allgemein zugänglich ist. Die fundamentalanthropologischen Arbeiten Pannenbergs zeugen von genau diesem Geist. Zum anderen die Einsicht, dass die unterschiedlichen Positionen im öffentlichen Diskurs gleichberechtigt sind. Der Staat darf nicht zum Agenten einer religiösen Mehrheit werden. Eine solche illegitime Herrschaft sieht Habermas bereits dann erreicht, wenn die Mehrheitsbeschlüsse in der Sprache einer bestimmten religiösen Tradition formuliert werden und eben nicht in allgemein zugänglicher Sprache: Die Mehrheitsherrschaft verwandelt sich in Repression, wenn eine religiös argumentierende Mehrheit im Verfahren der politischen Meinungs- und Willensbildung der unterlegenen säkularen oder andersgläubigen Minderheit den diskursiven Nachvollzug der ihr geschuldeten Rechtfertigungen verweigert.27

In einer solchen von Habermas charakterisierten Weise ist auf eine öffentliche Geltung der Religion zu drängen. Aus der Perspektive der Religionen und mithin des Christentums selbst sind diese zugleich in eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft gestellt: Sie sollen durch ihre Überlieferungen und Vollzüge den gesellschaftlichen Lebenszusammenhang stärken und einen Beitrag leisten, der Verwirklichung der Humanität zu dienen. Dieser Überzeugung ist die Ekklesiologie Pannenbergs verpflichtet.

26 Habermas, Naturalismus, 137. 27 Habermas, Naturalismus, 140. (Hervorhebung im Original.) Zur Rolle der Religion im öffentlichen Diskurs bei Habermas sowie seiner Charakterisierung der gegenwärtigen Situation als postsäkular vgl. Knapp, Glauben.

300

7.3

Schlussbetrachtungen

Der Leib Christi als vorläufige Realisierung der Bestimmung des Menschen

Der fundamentale Bezug der Kirche zum Reich Gottes ist Ausgangspunkt der Ekklesiologie Pannenbergs (Kap. 4.1). „Das Wesen und der Zweck der Kirche können nur in ihrer Beziehung zum Reich Gottes angemessen bestimmt werden.“28 Nicht die empirische Gestalt der Kirche zu deuten, sieht er als Kernaufgabe der Ekklesiologie an. Das birgt die Gefahr der ideologischen Verklärung der gegenwärtigen Zustände. Vielmehr hat die Ekklesiologie die Kirche von ihrem Zweck her zu erfassen. Und dieser ist das Reich Gottes. Hier zeigt sich sogleich ein Grundzug der Ekklesiologie Pannenbergs: Sie ist christologisch fundiert.29 Denn historisch wie sachlich ist es die Gegenwart des Reiches Gottes in Wirken und Verkündigung Jesu Christi, von welchem her die Kirche zu erfassen ist. In Jesu Handeln und Verkündigung ist das Wesen der Kirche begründet; nur von daher ist es das, was es ist: Die vorwegnehmende Darstellung der im Reich Gottes in Frieden und Gerechtigkeit geeinten Menschheit. Hintergrund der jesuanischen Reich-Gottes-Verkündigung waren die apokalyptischen Vorstellungen des damaligen Judentums. In diesen wurde das Reich Gottes eschatologisch als Ablösung der Weltreiche erwartet. Die Realisierung des göttlichen Reiches ist dabei gebunden an die Verwirklichung des göttlichen Rechts. Herrschaft Gottes ist Herrschaft des Rechts. Herrscht letzteres, so ist auch die Bestimmung der Menschheit realisiert. Denn das Recht hat es mit den Bedingungen zu tun, unter denen die Bestimmung des Einzelnen und der Gemeinschaft verwirklicht werden können.30 In einem solchen Sinn war das erwartete Reich Gottes auch Inhalt der jesuanischen Verkündigung. Nun aber wurde die Heraufführung des Reiches durch Gott nicht mehr nur von der Zukunft erwartet. Vielmehr wurde es bereits bei denen Gegenwart, welche die Botschaft Jesu annahmen. Die, die sich dem Reich Gottes zuwandten, bei denen wurde dieses und das von ihm eröffnete eschatologische Heil wirksam gegenwärtig. Die Heilswirkungen der Annahme zeigen vor allem die jesuanischen Gleichnisse in Lk 15. Sie deuten die Zuwendung Jesu zu den Zöllnern und Sündern: Der, der Jesu Botschaft annimmt, für den ist die Trennung zu Gott aufgehoben. Dichtester Ausdruck dafür ist die Tischgemeinschaft mit Jesus. Der Ruf, sich dem Gottesreich zuzuwenden, erging dabei in erster Linie an das Volk Israel. Da aber nur eine Minderheit diesen Ruf annahm, waren der Bruch mit Israel und die Gründung einer neuen Gemeinschaft die 28 Pannenberg, Gottesreich, 119. 29 Dabei ist der christologische Grund der Kirche stets mit ihrem pneumatologischen Grund verbunden. Vgl. dazu unten, S. 308. 30 Zur Thematik des Rechts und seines Zusammenhangs mit der menschlichen Bestimmung vgl. bes. Kap. 3.4.

Der Leib Christi als vorläufige Realisierung der Bestimmung des Menschen

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zwangsläufigen Folgen. Damit ist für Pannenberg Jesu Ruf in die Gottesherrschaft das kritische Prinzip, an dem sich der Übergang von der an Israel ergangenen Sendung Jesu zur nachösterlichen Gemeinde vollzog. Die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu ist somit der sachliche wie historische Grund, aus welchem die Kirche entstand. Sie ist als vorauslaufende Darstellung der im Eschaton geeinten Menschheit stets von letzterer unterschieden. Sie hat den Charakter des Zeichens des Reiches Gottes und bleibt als solches Zeichen von der zu bezeichnenden Sache unterschieden. Dieser Partikularität gegenüber dem göttlichen Reich muss sich die Kirche stets bewusst sein, will sie ihrem Wesen entsprechen. Sie muss um ihre Selbstunterscheidung vom Eschaton wissen, will sie sichtbares Zeichen sein. Wie das Reich Gottes in ihr präsent sein kann, wenn es doch von ihr unterschieden ist und erst in Zukunft realisiert sein wird, wird durch den Begriff der Antizipation weiter plausibilisiert. Der Begriff der Antizipation ist für das gesamte theologische Werk Wolfhart Pannenbergs von fundamentaler Bedeutung.31 Laut Selbstaussage ist er der zentrale Begriff in seinem Denken. Ihm wohnt eine hermeneutische und eine ontologische Dimension inne. Die ontologische Dimension hat sich bereits in Pannenbergs Darlegungen zur Identität gezeigt. Wie alles Sein ist die Identität des Menschen erst im Eschaton vollkommen realisiert. Dennoch ist die Erfahrung der eigenen Identität im gegenwärtigen Leben möglich und zwar, wenn das Selbst im Augenblick des Ichs anwesend ist. Dies ist als Antizipation der noch nicht vollendeten Identität zu bezeichnen. Auch die hermeneutische Dimension des Antizipationsbegriffs beruht auf dem Zukunftsbezug allen Seins: Ist alles, was ist, erst in Zukunft in seinem Sein und seiner Bedeutung offenkundig, beruhen alle Aussagen über sein Sein bzw. seine Bedeutung auf der Antizipation dieser Zukunft. Das Verhältnis von Urteil bzw. Begriff zur Sache hat daher antizipativen Charakter: Sie sind als Antizipation noch nicht identisch mit der Sache, auf die sie sich beziehen und können von der Zukunft als unwahr überführt werden. Damit stimmen Sein und Denken eigentümlich überein. Sowohl das in der Gegenwart erfahrbare Wesen einer Sache wie auch ein Urteil über sie sind nur durch Antizipationen möglich. Ebenso gilt für beide, dass sie als Antizipationen vom Sein des jeweiligen Gegenstandes unterschieden bleiben, auch wenn sie Identität mit ihm beanspruchen. Der Gegenstand geht weder in der Aussage über ihn noch in der gegenwärtigen Realisierung seines künftigen Seins auf. Gegenwart dieser Zukunft und Aussage über diese Gegenwart können für Pannenberg nur in der Unterschiedenheit von der Zukunft mit dieser identisch sein. Die Bestimmung der Kirche als vorwegnehmende Darstellung des Reiches Gottes ist ebenfalls als

31 Vgl. Kap. 4.1.1.

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Schlussbetrachtungen

Antizipation zu begreifen. Das Reich Gottes, das erst in Zukunft sein wird, ist so schon jetzt in der Kirche gegenwärtig.32 Die Annahme der Person Jesu und seiner Verkündigung des Reiches Gottes war nach Pannenberg der Grund, dass sich bereits zu seinen Lebzeiten eine neue Gemeinschaft bildete. Diese Annahme bleibt auch nach seinem Leben der Grundstein dafür, dass der Einzelne Teil der kirchlichen Gemeinschaft wird (Kap. 4.2). Dabei bestätigt die Auferstehung Jesu Verkündigung vom Reich Gottes und seinen Anspruch, dass es mit ihm bereits gegenwärtig angebrochen ist. Und die Auferstehung verstärkt noch einmal den universalen Anspruch seines Wirkens. Mit ihr steht das Reich Gottes allen Menschen offen. Dies zeigt die Vorordnung von Jesu Wirken und seiner Verkündigung vor der individuellen Zustimmung dazu. Die Gemeinschaft der Gläubigen, die Kirche, ist konstituiert durch die Gemeinschaft eines jeden mit Christus (Kap. 4.2.1). Diesen Zusammenhang zeigt die traditionelle Bezeichnung der Kirche als communio sanctorum. Letztere hat einerseits einen personalen Sinn, indem sie die Gemeinschaft der Christen, der Heiligen, zu allen Zeiten meint. Anderseits hat die Bezeichnung einen sakramentalen Sinn, indem sie die Gemeinschaft am Heiligen meint, was im Allgemeinen auf die Teilhabe an der Eucharistie bezogen ist. Kirche ist also Gemeinschaft der Heiligen, konstituiert durch deren Teilhabe am Heiligen. Vermittelt wird diese Teilhabe im Anschluss an CA 7 durch Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung. Es ist daher für Pannenberg der Gottesdienst, in welchem die Einheit der Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen, in Erscheinung tritt. Durch sie erhält der Einzelne Anteil an Jesus Christus. Ist der ortsgemeindliche Gottesdienst der Ort, an dem die gesamte Kirche gegenwärtig ist, so ist die Gemeinschaft der Ortsgemeinden nichts zusätzlich Hinzutretendes, sondern dessen notwendige Konsequenz. Der Einzelne ist vermittelt durch Wort und Sakrament Teil der kirchlichen Gemeinschaft. Der Glaube des Einzelnen an Botschaft und Leben Jesu Christi ist nur durch solche Vermittlung möglich. Jedoch ist es nicht die Vermittlung für sich, sondern der darin Christus vergegenwärtigende Geist, der den Glauben ermöglicht. Ziel der kirchlichen Vermittlung muss sein, dass der Einzelne in solche unmittelbare Christusbeziehung eintritt. Die Aufgabe der Kirche ist es, die Inhalte der Überlieferung dergestalt zu plausibilisieren, dass sie die Lebenswirklichkeit des Einzelnen erhellen und tragen können. Deswegen muss laut Pannenberg das Wissen über diese Überlieferung gestärkt werden, da nur dann der Einzelne die christlichen Gehalte an seiner Lebenswirklichkeit überprüfen kann. Ziel der Vermittlung ist damit die Unabhängigkeit von dieser Vermittlung. Kirchliche Verkündigung soll daher nicht zu persönlichem Engagement aufrufen, sondern muss viel mehr biblisches 32 Der Begriff der Antizipation ist für Pannenberg gerade für die Rede von Gott grundlegend. Vgl. dazu oben, S. 113–115.

Der Leib Christi als vorläufige Realisierung der Bestimmung des Menschen

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und theologisches Wissen bereitstellen. Dadurch wird dem Gläubigen die Möglichkeit eröffnet, die Gehalte der Überlieferung, auf der Grundlage der Überlieferung selbst zu kritisieren. Eine solche christentumsinterne Traditionskritik beurteilt Pannenberg als etwas gänzlich anderes als ein Christsein, das sich in dezidiertem Abstand zur Kirche versteht. Dieses neuzeitliche Phänomen kritisiert er nachdrücklich. Es braucht die Kirche als Vermittlungszusammenhang, damit der Glaube entstehen und sich vertiefen kann. Er kann sich nur innerhalb einer Gemeinschaft voll entfalten. Dennoch wird die kirchliche Gemeinschaft dem Einzelnen nicht übergeordnet, da die Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Jesus Christus Ziel jeglichen kirchlichen Handelns ist. Die Gemeinschaft mit Christus, vermittelt durch Wort und Sakrament, ist der objektive Grund kirchlicher Gemeinschaft. Auf subjektiver Ebene vollzieht sich der Zusammenhang von Einzelnem und Gemeinschaft im Bekenntnis (Kap. 4.2.2). Indem der gemeinsame Glaube bekannt wird, vergewissert sich der Einzelne, dass er Teil der kirchlichen Gemeinschaft ist. Wirksam ist das Bekenntnis aufgrund der personalen Intention: Es ist definitive Parteinahme für Jesus Christus, der eschatologische Endgültigkeit zukommt. Diese Endgültigkeit ist begründet in der in Lk 12,8f überlieferten jesuanischen Verheißung, dass sich der kommende Menschensohn zu denen bekennen wird, die sich schon jetzt zu Jesus Christus bekennen. Bekennen ist also primär ein Akt des Einzelnen, durch welchen dieser öffentlich Partei für Jesus Christus ergreift. In dieser Funktion und seiner eschatologischen Endgültigkeit ist das Bekenntnis religionsgeschichtlich einzigartig. In der nachösterlichen Situation wurde das Bekenntnis zu Jesus Christus nach und nach durch Lehraussagen angereichert. Notwendig wurde eine solche Anreicherung, um sicherzustellen, dass der, der sich zu Jesus Christus bekennt, auch den Gekreuzigten und Auferstandenen meint. So begann eine Entwicklung, deren erster Beleg Röm 10,9 ist und die zu den altkirchlichen Bekenntnissen führte. Indem der Einzelne sich diese Bekenntnisse zu Eigen macht, stimmt er in das Bekenntnis des Glaubens der Kirche ein. Das kirchliche Bekenntnis wiederum bürgt dafür, dass das eigene Bekenntnis Jesus Christus gilt und der Gläubige somit auf seine Verheißungen vertrauen kann. Denn als sein Leib kann Christus nicht ohne die Kirche bekannt werden. Damit kirchliche Lehre ein solches authentisches Bekennen ermöglichen kann, muss sie mit der apostolischen Christusbotschaft übereinstimmen. Sie muss daher immer wieder von der Schrift her überprüft werden. Auch Form und Inhalt der Bekenntnisse bedürfen immer wieder der Überprüfung und Revision. Denn trotz eschatologischer Endgültigkeit, die dem Bekenntnis in seinem Vollzug gilt, wird es in dieser Welt, also in der Situation der Vorläufigkeit abgelegt. Die Kirche ist eben noch nicht das Reich Gottes und dieser Situation muss sie in ihrem Bekennen einsichtig sein. So bleiben der Glaube des Einzelnen und der Glaube der Kirche offen für Veränderungen von ihrem Grund her: Der Offenbarung Gottes in Jesus

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Schlussbetrachtungen

Christus, wie sie die Schrift bezeugt. Dadurch ist die Kirche offen gegenüber vielfältigen Glaubensdeutungen und -vollzügen. Eine besondere Stellung und Dignität unter den kirchlichen Bekenntnissen spricht Pannenberg dem Symbol von Nicaea-Konstantinopel zu, da sein Anspruch über Jahrhunderte hinweg von der Christenheit konfessionsübergreifend anerkannt wurde.33 Der Anspruch nämlich, den kirchlichen Glauben umfassend und für das gesamte Christentum verbindlich auszusprechen. Die fundamentale Bedeutung des Bekenntnisses erschließt sich laut Pannenberg in Gänze nur von der Taufe her (Kap. 4.3). Im Urchristentum waren Taufe und Bekenntnis noch eng miteinander verbunden. Für sie gilt die gleiche Verheißung, die Pannenberg bereits für seine Bestimmung des Bekenntnisses herangezogen hat: Das in Lk 12,8f überlieferte Jesuswort. Die Taufe versteht er im Anschluss an den Römerbrief als endgültige Übereignung an Jesus Christus. Sie hat als Wiedergeburt wie die leibliche Geburt einmaligen und endgültigen Charakter. Denn das Person-Sein des Getauften ist fortan durch seine Teilhabe an Jesus Christus und damit durch die Teilhabe an dessen Vaterbeziehung begründet. Durch die endgültige Teilhabe an Jesus Christus werden dem Getauften die Sünden vergeben und der Geist übertragen als Unterpfand für seine eschatologische Vollendung. Begründet ist dies darin, dass der Täufling in den Tod Jesu getauft wird und dadurch Anteil hat an seiner Auferstehung. Durch die Partizipation an Jesu Tod wird zugleich der eigene Tod vorweggenommen. Hier zeigt sich eine entscheidende Stärke der anthropologischen Fundierung der Theologie durch Pannenberg: Die Anthropologie ist der Plausibilisierungsrahmen, durch welchen die genuin ekklesiologischen Gehalte der christlichen Tradition allgemein zugänglich werden. So hat Pannenberg in seinen identitätstheoretischen Ausführungen festgehalten, dass erst mit dem Tod das eigene Leben in seiner Ganzheit vollendet wird. Bliebe es bei dem Tod, so wäre der Moment der eigenen Ganzheit gleichbedeutend damit, dass das eigene Leben ausgelöscht wird.34 Da nun in der Taufe mit dem Tod Jesu auch seine Auferstehung vorweggenommen wird, wird auch die Auferstehung und somit die Vollendung des Einzelnen antizipativ vorweggenommen. Die Taufe ist so Vorwegnahme der eigenen Identität, welche letztere allererst ermöglicht. Denn die Taufe steht nun über dem individuellen Leben, welches fortan in Jesus Christus begründet ist. Damit die Taufe zu voller Entfaltung gelangen kann, muss sie im Lebensvollzug angeeignet werden. Die Wirkungen der Taufe, die in der endgültigen Übereignung an Jesus Christus gründen, sind zwar in dieser objektiv vorhanden, aber damit sie subjektiv wirklich werden können, bedürfen sie der Aneignung. Letztere geschieht in gelebter Individualität im Vertrauen auf Jesus 33 Vgl. Kap. 4.2.2.1. 34 Vgl. Kap. 2.1.1.

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Christus. Die neue Identität des Getauften als Vorwegnahme seiner Vollendung ist für Pannenberg sündlos. Allerdings ist der Mensch deswegen nicht sündlos, da die neue Identität im geschichtlichen Leben mit der Selbstsucht des alten Menschen verbunden bleibt. Das gelebte Leben vollzieht sich daher im ständigen Ringen zwischen Ichzentriertheit und Exzentrizität, zwischen der Sündhaftigkeit des alten Menschen und der in Christus neu begründeten Identität. Die Aneignung der Taufe im konkreten Lebensvollzug geschieht durch Buße (Kap. 4.3.1) und Glauben (Kap. 4.3.2). Die Buße ist dabei vorangestellt, da nach Pannenberg Taufe und Umkehr seit dem Urchristentum eng zusammengehören. Die Taufe hat nach Ostern den Umkehrruf Jesu in die Nachfolge ersetzt, auf den der Glaube antwortete. Hier zeigt sich auch die sachliche Vorordnung der Taufe vor das Bekenntnis: Der Umkehrruf Jesu war der Anstoß, auf den die Jünger mit öffentlicher Parteinahme für Jesus antworteten. Nachösterlich ist es die Taufe, auf welche nun das individuelle, gläubige Bekenntnis antwortet. Dass das Neue Testament die Umkehr bereits Getaufter kaum thematisiert, zeigt, dass die Taufe bereits endgültige Umkehr bedeutet. Denn durch sie sind die Getauften in der Gemeinschaft mit Jesus Christus. In lutherischer Tradition ist daher die Buße als tägliche Aneignung dieser einmal vollzogenen Umkehr zu verstehen. Sie ist der Normalfall des christlichen Lebens, nicht der Sonderfall. Gerade gegen den Pietismus will Pannenberg die Unhintergehbarkeit der Taufe festhalten, durch die eine neue Identität dauerhaft grundgelegt ist. Ein wirklicher Rückfall hinter die Taufe geschieht nur, wenn die Sünde wieder die vollkommene Herrschaft über das Leben des Getauften erlangt, was sich im Bruch des Letzteren mit Christus und seinem Leib zeigt. Die Verhältnisbestimmung von Taufe und Glaube entbrennt vor allem an der Frage der Säuglingstaufe. Es geht im Kern um die Frage, ob die Taufe etwas vermittelt, was der Einzelne aus sich heraus nicht herstellen kann. Nach dem bisher Dargestellten ist klar, dass Pannenberg diese Frage entschieden bejaht. Die Taufe konstituiert die unmittelbare Gemeinschaft mit Jesus Christus, da Gott selbst in ihr handelt. Der Glaube kann demgegenüber die Taufe nur empfangen, er macht sie nicht. Dies gilt auch für die Erwachsenentaufe. Auch wenn der Glaube vorangeht, so ist die Christusbeziehung erst durch die Taufe unverbrüchlich. Die Bejahung der Säuglingstaufe sieht Pannenberg darüber hinaus durch ein anthropologisches Phänomen gestärkt: Gerade das Kleinkind ist zu einem Vertrauen fähig wie kein Erwachsener. Wie in Kap. 2.1.2 dargelegt, ist der eigentliche Gegenstand des Grundvertrauens Gott. Dieses anthropologische Phänomen ist in der Säuglingstaufe ernstgenommen. Das stellvertretende Bekenntnis durch die Eltern entspricht der sozialen Vermitteltheit der Identität des Kindes. Es verpflichtet die Eltern, das Kind in den Glauben zu erziehen, damit sein Bekenntnis bei der Konfirmation an die Stelle des elterlichen Bekenntnisses bei der Taufe tritt. Glaube bedeutet für Pannenberg wesentlich Vertrauen. Der Glaube vertraut

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Schlussbetrachtungen

den Verheißungen und Offenbarungen Gottes. Das setzt voraus, dass der Glaubende den Gegenstand kennt, dem er vertraut. Er muss folglich um die Offenbarung Gottes in Jesus Christus wissen. Allerdings nicht als bloße historische Kenntnis, sondern als ein Sicheinlassen auf diese geschichtliche Offenbarung. Ein Rückzug des Glaubens auf sich selbst, demgegenüber die historischen Erkenntnisse sekundär sind oder der solchen Erkenntnissen erst zur Plausibilität verhilft, steht im Gegensatz zur Glaubensstruktur: Er ist extra se gegründet, in Jesus Christus. Soll er selbst zum Bürgen seiner Wahrheit werden, widerspricht das seinem Wesen. Wie bereits beim Bekenntnis ist der Akt selbst das Entscheidende, das Endgültige. Die Deutung bleibt demgegenüber sekundär und vorläufig. Im Glauben partizipieren die Gläubigen an Jesus Christus. Sie partizipieren damit an Jesu Vaterbeziehung und werden so zu Kindern Gottes. Der Gotteskindbegriff ist für Pannenberg der Inbegriff der christlichen Existenz. Begründet wird sie bereits in der Taufe, die dem Glauben vorgängig ist. Hier zeigt sich im Verhältnis von Taufe und Glaube wieder eine Grundstruktur menschlichen Lebens. Nämlich die Frage, wie die eigene Identität vermittelt und gleichzeitig Teil des autonomen Selbstvollzuges ist. Diese Frage, die das Subjekt als eine Spannung erlebt, umgreift die Taufe: In ihr wird Identität außerhalb des eigenen Selbst begründet und gleichzeitig ist die neugegründete Identität auf lebenslange Aneignung angewiesen.35 Mit der Taufe wird der Einzelne Teil der kirchlichen Gemeinschaft. Denn Gemeinschaft mit Jesus Christus bedeutet Gemeinschaft mit seinem Leib. Am dichtesten sichtbar wird die kirchliche Gemeinschaft, wird das, was ihr Wesen ist, im Abendmahl (Kap. 4.4). Die Eucharistie ist das Zentrum der Kirche, der sichtbarste Ausdruck ihrer Bestimmung. Die Eucharistie symbolisiert die Kirche und zeigt zugleich, dass die Kirche selbst nur ein Symbol ist. Ein Symbol für die im Reich Gottes vereinte Menschheit. Die zentrale Bedeutung des Abendmahls für das Sein der Kirche gründet in seinem Ursprung bei Jesus selbst (Kap. 4.4.1). Die Einsetzung des Abendmahls durch Jesus ist nicht lediglich im letzten Mahl begründet. Es ist vor allem seine breit überlieferte Mahlpraxis, die diesen Ursprung zeigt. Die Bereitschaft Jesu zu einem gemeinsamen Mahl zeigt seinen Willen zur Gemeinschaft, vor allem mit den Ausgestoßenen der damaligen Gesellschaft. Das gemeinsame Essen ist ein sinnliches wie wirkmächtiges Symbol für seine Reich-Gottes-Verkündigung. Es ist Vorwegnahme des eschatologischen Mahls. Wer in Gemeinschaft mit Jesus is(s)t, für den ist die Trennung zu Gott aufgehoben. Die Bedeutung der Mahlpraxis innerhalb des irdischen Lebens 35 Eingesetzt sieht Pannenberg die Taufe durch Jesu eigene Taufe (Kap. 4.3.3). Die Jesusworte in Mk 10,38 und Lk 12,49f deuten den bevorstehenden Leidensweg und stellen einen Rückbezug zur Taufe her. Damit ist die Deutung der Taufe, den Täufling mit Tod und Auferstehung Jesu zu verbinden, bereits von Jesus auf seine eigene Taufe angewendet worden.

Der Leib Christi als vorläufige Realisierung der Bestimmung des Menschen

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Jesu ist der Hintergrund der Berichte vom letzten Abendmahl. In dieser Perspektive zeigt sich, dass die implizite Bedeutung der vorösterlichen Mahlpraxis im Bericht von seinem letzten Mahl expliziert wird. Im Zentrum steht dabei für Pannenberg die Rede vom neuen Bund. Sie zeigt, dass bereits die vorangegange Mahlpraxis Jesu den Sinn hatte, die eschatologische Gemeinschaft mit Gott zu symbolisieren und so zu verwirklichen. Die Deutung des Kelches als dem neuen Bund, die Pannenberg für authentisch hält, zeigt an, dass die hier gegründete Gemeinschaft den gegenwärtigen Moment überdauert. Dies wird gestärkt durch den eschatologischen Ausblick in Mk 14,25 parr. Zugleich stellt die Deutung der im Mahl begründeten Gemeinschaft als neuem Bund einen Bezug zur Gemeinschaft des alten Bundes her. Der neue ist auf den alten verwiesen und bleibt doch von diesem unterschieden.36 Die Rede vom neuen Bund unterstreicht, dass durch das Mahl eine neue Gemeinschaft entsteht. Der Ursprung der Kirche ist folglich das letzte Mahl im Lichte der vorangegangen Mahlpraxis Jesu. Darum ist die Kirche, was sie ihrem Wesen als eschatologische Gemeinde nach ist, primär in ihrem gottesdienstlichen Vollzug, welcher seinen Höhepunkt in der Eucharistie findet. Dieser Zusammenhang zeigt noch einmal, dass der Grund der Kirche nicht in ihr oder ihren Mitgliedern liegt, sondern extra se in Jesus Christus. Das Abendmahl symbolisiert und begründet, dass die Kirche der Leib Christi ist. Ist die Gemeinschaft mit Christus das Zentrum des Abendmahls, ist verständlich, dass die Frage nach seiner Gegenwart im Mahl innerhalb der Christentumsgeschichte immer wieder von entscheidender Bedeutung war (Kap. 4.4.2). Pannenberg begreift die Gegenwart Christi in den Elementen als Gegenwart der ganzen Person Jesu Christi. Um dies zu plausibilisieren, zieht Pannenberg den Zeichenbegriff heran. Das Abendmahl ist für ihn mehr als ein Zeichen, es ist ein Anzeichen. Wie die Morgenröte nicht nur Zeichen für den Morgen ist, sondern letzterer mit ihr anbricht, so sind die Elemente nicht nur Zeichen der Gegenwart Christi und der Gemeinschaft mit ihm, sondern sie brechen darin an. Der Leib Christi verschwindet dabei nicht einfach mit dem Verzehr des Brotes, sondern bleibt, indem die Essenden zu seinem Leib werden. Pannenberg verortet sich hier innerhalb der im 20. Jh. in der katholischen Theologie aufkommenden Deutung der Transsubstantiationslehre mit dem Begriff der Transsignifikation. Dieser besagt, dass die Bedeutung einer Sache von ihrem Kontext bestimmt ist. Gleiches hat Pannenberg bereits innerhalb seiner Identitätstheorie im Anschluss an Dilthey festgehalten: Das Wesen einer Sache ist nicht ewig gleichbleibend, es wandelt sich vielmehr durch die verschiedenen Bedeutungsbezüge, in die es eintritt. Ein solcher Bedeutungswandel ereignet sich mit den Elementen im eucharistischen Gottesdienst. Er betrifft nicht nur die Elemente, sondern auch die Gemeinde, die durch die Feier des Abendmahls 36 Das Verhältnis vom alten und neuen Bund wurde in Kap. 6.3.1 dargelegt.

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Schlussbetrachtungen

ebenfalls in einen neuen Kontext gestellt wird, der sie neu bestimmt. Solche Wandlung der Elemente bewirkt nicht der Liturg. Es ist vielmehr der Heilige Geist, der im Vollzug des eucharistischen Gottesdienstes den Auferstanden vergegenwärtigt, um im Mahl die Gemeinschaft mit dem geschichtlichen Jesus zu vermitteln. Daher kommt der Anamnese und Epiklese entscheidende Bedeutung zu, nicht nur in der Feier der Eucharistie, sondern in dem gesamten Gottesdienst. Noch einmal zeigt sich hier die christologische Fundierung der Ekklesiologie, die zugleich eine pneumatologische ist. Die Kirche ist der Leib Christi. Sie ist dies, da im Abendmahl der Gekreuzigte und Auferstandene Gemeinschaft mit sich schenkt. Er tut dies, indem er sich durch den Heiligen Geist vergegenwärtigt. Ist Christus das Haupt der Glieder, so verbindet der Heilige Geist die Glieder mit dem Haupt. Er schafft die Gemeinschaft der Kirche, die vorweggenommene Darstellung der im Eschaton neu geschaffenen Menschheit ist. Die Einladung zum Mahl geht von Jesus Christus selbst aus (Kap. 4.4.3). Sie darf durch die Kirche nicht eingeschränkt werden. Dies hat die Konsequenz, dass Pannenberg entschieden für die Interkommunion eintritt. Alles andere läuft dem Wesen des Mahls zuwider. In der Zulassung der Interkommunion würde sich ausdrücken, dass das Verstehen des eucharistischen Geschehens bei allen notwendigen Versuchen Stückwerk bleibt und daher dem Vollzug untergeordnet ist. Die einzige Voraussetzung aufseiten der Teilnehmenden ist ihre Bereitschaft, am Mahl teilzunehmen. Und das heißt der Glaube daran, dass Christus im Mahl Gemeinschaft mit sich schenken will. Die Bindung an den Glauben bedeutet zugleich die Bindung an die Taufe, da die Bereitschaft zur Teilnahme Bereitschaft zur Umkehr voraussetzt. Wo die Taufe nicht gegeben ist, muss diese Bereitschaft angezweifelt werden. Die Teilnahme am Mahl wiederum muss ausstrahlen in das Leben des Einzelnen. Denn die Gemeinschaft mit Christus muss Folgen für den individuellen Lebensvollzug haben. Bleiben diese aus, empfängt der Einzelne das Mahl zum Gericht. Die zentrale Stellung, die Pannenberg dem Abendmahl zuspricht, ist als Kritik an einer evangelischen Zuspitzung auf die Verkündigung des Wortes zu verstehen (Kap. 4.4.4). Denn erst aus dem Mahl als der zentralen christlichen Handlung wurde nach Pannenberg im Urchristentum die Notwendigkeit der Verkündigung abgeleitet. Sie sollte der Gemeinde das der Mahlfeier zugrundeliegende Heilsgeschehen entfalten. Aufgrund der sich stets verändernden Situation, in der die Hörer des Evangeliums leben, ist eine immer wieder neue Auslegung der das Heilsgeschehen entfaltenden Heiligen Schrift notwendig. Die Predigt muss zeigen, dass es im Christusgeschehen um das Heil der Hörer und ihre Vollendung im Reich Gottes geht. Dabei darf nach Pannenberg der Text nicht einfach auf die konkrete Situation angewendet werden. Vielmehr ist der Bezug des Textes zur in Christus angebrochenen eschatologischen Vollendung herzustellen. Nur so können die Hörenden sich und ihr Leben in den Zusammenhang des damaligen

Der Leib Christi als vorläufige Realisierung der Bestimmung des Menschen

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Geschehens und der Zukunft der Welt einordnen. Im Gottesdienst hat die Predigt zudem eine doppelte Integrationsfunktion. Zum einen integriert sie die gesamten Teile des Gottesdienstes zu einer Einheit, die in der Eucharistie mündet. Zum anderen soll die Predigt die Gemeinde in die Gesamtheit des christlichen Glaubens integrieren. Die Predigt dient dem Evangelium und mündet im Abendmahl. Die grundlegende Bedeutung der Eucharistie für die Kirche hat entscheidende Konsequenzen für das Leben der Kirche, die bereits schon vielfach angeklungen sind (Kap. 4.4.5). Eine Wesensbestimmung der Kirche, die von der Eucharistie ausgeht, zeigt ihren ortsgemeindlichen Charakter. Die Gemeinde vor Ort, die sich zum Gottesdienst um den Tisch des Herrn versammelt, ist im vollen Sinne Kirche. Zugleich verweist das Abendmahl sie auf die gesamte Kirche zu allen Zeiten und an allen Orten, die ebenfalls Teil der Tischgemeinschaft ist. Da das Amt wesentlich als Dienst an der Einheit bestimmt ist, obliegt die Durchführung des Abendmahls dem Amtsträger.37 Dass die Gemeinschaft am Tisch des Herrn die Gemeinschaft mit der gesamten Kirchen impliziert, hat entscheidende Konsequenzen für die Ökumene: Die Einheit der Kirchen ist keine Option des kirchlichen Handelns, sondern eine Pflicht. Eine Einheit, die den getrennten Kirchen im Mahl vorgegeben ist und die daher als Umkehr notwendig ist. Folgen ergeben sich für Pannenberg auch hinsichtlich des Verhältnisses von Staat und Kirche (Kap. 4.5). Indem im Abendmahl das Reich Gottes vorweggenommen dargestellt ist, wird die Bestimmung des Menschen dargestellt. Die am Mahl Teilnehmenden können so an ihrer Bestimmung partizipieren, an ihrer gemeinschaftlichen wie individuellen. Zugleich bleibt das Mahl unterschieden von der endgültigen Vollendung der Menschheit. Darin stellt die Kirche kultisch dar, was die Aufgabe der politischen und gesellschaftlichen Ordnung ist: Ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit. Ein Ziel, das der gesellschaftlichen Ordnung aufgegeben ist und das sie nicht erreichen kann. Damit stellt die Kirche im Abendmahl die Grundlagen jeder Ordnung dar, die letzterer entzogen sind. Darin ist zugleich der Versuch jeder Ordnung anerkannt, die menschliche Bestimmung zu verwirklichen, solange sie darum weiß, dass sie diese Bestimmung nicht verwirklichen kann. Auch die politische Ordnung muss um ihre Unterschiedenheit von der menschlichen Bestimmung wissen. Es ist damit der christliche Kult, der das der Gesellschaft und dem Individuum Entzogene in Taufe und Abendmahl darstellt und ihnen so eine Teilhabe daran ermöglicht. Die politische und gesellschaftliche Verantwortung besteht daher nach Pannenberg in erster Linie in der Feier des Abendmahls, nicht in politischen Verlautbarungen und diakonischen Tätigkeiten. Diese können notwendig sein, aber nur als symbolische Mahnung an die Gesellschaft, dass sie ihre Aufgaben unzureichend erfüllt. Gerade die diakonischen Aufgaben der Kirche sind für Pannenberg stets 37 Vgl. Kap. 5.3.

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Schlussbetrachtungen

nur vorübergehende Pflichten, deren Ausübung den Staat daran erinnert, dass er seinen Aufgaben nicht ausreichend nachkommt. Die zentrale Pflicht der Kirche ist, in ihren Vollzügen den Menschen die Möglichkeit zu vermitteln, an ihrer Bestimmung zu partizipieren. Eine Bestimmung, die im geschichtlichen Leben des Einzelnen wie der Gesellschaft nie vollständig realisiert werden kann. In seiner eigenen Konzeptionierung sieht Pannenberg die Aufgabe der politischen Ordnung theologisch positiv bestimmt. Sie hat einen Bezug zum Reich Gottes, indem sie Frieden und Gerechtigkeit verwirklichen will. Sie hat darin Anteil am göttlichen Erlösungswillen. In der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre sieht er demgegenüber eine nur negative Bestimmung der politischen Ordnung (Kap. 4.5.1). Denn ihre Aufgabe besteht in der Aufrechterhaltung von Frieden und Recht angesichts der Sünde. Sie ist somit lediglich Teil des göttlichen Erhaltungswillens. Für Luther hatte das weltliche Regiment in dieser Aufgabe ein Eigenrecht und zwar vor autoritativen Übergriffen der Kirche zu schützen. Damit aber sind die beiden Regimente, das weltliche und das geistliche, nicht mehr zwei Pole innerhalb des Überlieferungszusammenhangs des Christentums. Luther deutet zwar die politische Ordnung theologisch, als Erhaltung des Friedens und des Rechts angesichts der Sünde, aber das jeweilige Selbstverständnis der politischen Ordnung ist dabei ohne Bedeutung. Ein sinnvolles Korrektiv zur lutherischen Lehre erblickt Pannenberg in der eusebianischen Reichstheologie. Bei Eusebius sieht er den Kaiser als eine Autorität innerhalb der Kirche, welche die gesamte Gesellschaft umgreift. Der Kaiser repräsentiert die Herrschaft Christi auf Erden. Die weltliche Autorität ist somit ein Teil des christlichen Lebenszusammenhangs. Und das Verhältnis von politischer Ordnung und Reich Gottes ist positiv bestimmt. Die Gefahr der eusebianischen Konzeption erblickt Pannenberg im mangelnden Bewusstsein für die Vorläufigkeit irdischer Herrschaft gegenüber dem Reich Gottes. Dass der Charakter der göttlichen Herrschaft gerade darin besteht, jede Herrschaft aufzuheben, wird im Gedanken der Stellvertretung der göttlichen Herrschaft durch den irdischen Kaiser nicht erfasst. Demgegenüber ist die lutherische Sicht auf den Staat wie die Kirche von einem ausgeprägten Sinn für die Vorläufigkeit beider bestimmt. Beide Anliegen sieht er in seiner eigenen Konzeption miteinander verbunden (Kap. 4.5.2). Er will die politische Natur des Menschen anerkennen, indem er die politische Ordnung in ein positives Verhältnis zum Reich Gottes setzt. Wie ausgeführt besteht dieses Verhältnis darin, dass die politische Ordnung Frieden und Gerechtigkeit realisieren will, die erst im eschatologischen Gottesreich vollends realisiert sein werden. Indem der Staat durch das Recht versucht, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass der Einzelne und die Gemeinschaft sich verwirklichen können, versucht er dem göttlichen Rechtswillen zu entsprechen. Und dieser ist nicht Ausdruck des göttlichen Erhaltungs-, sondern des göttlichen Erlösungswillens. Gleichzeitig muss jede politische Ordnung darum wissen, dass sie ihr Anliegen immer nur

Der Leib Christi als vorläufige Realisierung der Bestimmung des Menschen

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vorläufig erreichen kann, um nicht zur Tyrannei zu werden. Diese Differenz bewusst zu halten, ist für Pannenberg die primäre gesellschaftliche Aufgabe der Kirche.38 „Von dieser kritischen Korrektivfunktion des theologischen Denkens Pannenbergs her […] verbietet sich ein vorschneller Vorwurf auf restaurative Funktionen seiner Theologie“39. Die Differenz bewusst hält die Kirche vor allem im eucharistischen Gottesdienst, in welchem sie den Einzelnen sakramental an der allgemeinmenschlichen Bestimmung teilhaben lässt. Die wesentliche gesellschaftliche Funktion der Kirche ist somit schlicht Kirche zu sein. Sie entspricht darin der jesuanischen Reich-Gottes-Verkündigung, die politisch auf unpolitische Weise war. Sie ermöglicht dem Einzelnen so Freiheit, da sie ihn letzter Ansprüche der Gesellschaft enthebt. Auf eine solche Weise hat die Kirche zugleich kritische und legitimierende Wirkung gegenüber dem Staat. Kritisch wirkt sie, indem sie die Vorläufigkeit und somit Verbesserungswürdigkeit der gesellschaftlichen Ordnung präsent hält. Darin wirkt sie zugleich legitimierend, da jede Ordnung nicht mehr als die vorläufige Realisierung der gesellschaftlichen Bestimmung des Menschen sein kann. Eine solche Funktion der Kirche gegenüber dem Staat, die wesentlich im Vollzug des eucharistischen Gottesdienstes besteht, bedeutet nicht, dass sie sich aus gesellschaftlichen Diskursen heraushalten soll. Vielmehr soll sie Teil der öffentlichen Debatten sein, deren Aufgabe es ist, immer wieder um die Frage des Gemeinwohls zu ringen und die Herrschenden zu kontrollieren. Hieran soll sich die Kirche beteiligen. Ihr Fokus liegt dabei darauf, Personen und Gruppen zu befähigen, die eigenen Sonderinteressen dem Gemeinwohl unterzuordnen. Ein solches öffentliches Eintreten für das Gemeinwohl entspricht dem gottesdienstlichen Handeln der Kirche. 38 Diese Differenz zwischen gegenwärtiger Gesellschaftsform und eschatologischem Gottesreich wachzuhalten, gilt nach Pannenberg gegenüber jeder Staatsform. Denn jeder Herrschaftsform eignet ein Charakter des Zwangs. Und auch in der Demokratie können Sonderinteressen zur Durchsetzung gelangen und so den Zwangscharakter erhöhen und dem Gemeinwohl schaden. Pannenberg zeigt hier ein deutlich ausgeprägteres Bewusstsein für die Vorläufigkeit der Welt, die auch jede gesellschaftliche Ordnung kennzeichnet, als die 1985 erschienene Demokratiedenkschrift der EKD. Vgl. EKD, Demokratie. Diese folgert aus dem allein Gott zustehenden Anspruch auf das gesamte Leben, dass jede Staatsform in ihrem Anspruch begrenzt bleibt. Allerdings sieht die Denkschrift eine solche Selbstbegrenzung in der Demokratie konstitutiv mitgesetzt. Aufgrund der Nähe der demokratischen Grundprinzipien der Gleichheit und Freiheit zum christlichen Verständnis des Menschen wird daher festgehalten, dass der Würde des Menschen nur der demokratische Verfassungsstaat entspricht. Vgl. EKD, Demokratie, 13f. Diese uneingeschränkte Zustimmung zu demokratischen Gesellschaftsordnungen lässt meines Erachtens das von Pannenberg zu recht immer wieder herausgestellte Bewusstsein für die Vorläufigkeit jedes menschlichen Lebenszusammenhangs vermissen. Zwar ließe sich über eine Nähe demokratischer Leitgedanken und christlicher Grundüberzeugungen diskutieren, jedoch vorschnell christliche Grundüberzeugungen in demokratischen Staaten verwirklicht zu sehen, lässt den christlichen Sinn für das Leben im Vorletzten vermissen. Einen Sinn, den Pannenberg nachdrücklich schärft. 39 Koch, Gott, 198.

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Schlussbetrachtungen

Der Leib Christi – dies ist für Pannenberg der zentrale Wesensbegriff der Kirche. Alles, was sie ist, erschließt sich von diesem her. Sie ist vorweggenommene Darstellung der versöhnten Menschheit im Reich Gottes, Vorwegnahme des eschatologischen Freudenmahles. Damit der Einzelne Teil der Gemeinschaft des Leibes Christi werden kann, ist er auf die Vermittlung durch Wort und Sakrament angewiesen. Nur so kann er Kunde von Jesus Christus erlangen, der durch den Geist in dieser Vermittlung vergegenwärtigt wird. Durch die Taufe wird der Einzelne Teil dieser Gemeinschaft, auf welche er in Glauben und Bekenntnis antwortet. Ziel allen kirchlichen Handelns ist dieser bekennende Glaube, der aus der Unmittelbarkeit zu Jesus Christus lebt. Allerdings ist solche Unmittelbarkeit nur möglich in und durch die Gemeinschaft. Die Gemeinschaft derer, die sich um den Tisch des Herrn versammeln, um als Gemeinschaft wie als Einzelne im gemeinsamen Mahl ihrer Bestimmung teilhaftig zu werden. Um diese theologischen Konkretionen der Bestimmung der Kirche als Christi Leib zu plausibilisieren, dienen deren anthropologische Bezüge. In der Taufe und dem Abendmahl sind diese am sinnfälligsten. Die Taufe, indem sie die Identität des Einzelnen vorwegnimmt, die erst in Zukunft in Gänze sein wird, ermöglicht ihm allererst eine eigene Identität. Die Bestimmung der Gemeinschaft, an der jeder an dem für ihn bestimmten Platz in Frieden und Gerechtigkeit lebt, wird sakramental zugänglich im Abendmahl. So stärkt die Kirche die vorläufigen Versuche jeder gesellschaftlichen Ordnung, solchen Frieden und solche Gerechtigkeit zu realisieren. Aber nicht nur in Taufe und Abendmahl, die gesamte Ekklesiologie ist auf Pannenbergs fundamentalanthropologische Bestimmungen zu dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft bezogen. Sehr deutlich wird dieser Bezug meines Erachtens in seinen Darlegungen zur kirchlichen Vermittlung, die auf das Bekenntnis der Gläubigen zielt. In den Interpretationen seiner Anthropologie hat sich gezeigt, dass für ihn die kulturelle Lebenswelt und ihre kulturellen Deutungen und Gestaltungen dem Einzelnen vorgegeben sind. So sind z. B. gesellschaftliche Institutionen als soziale Gestaltungen der gemeinsamen Lebenswelt dem Individuum vorgegeben. Gleichzeitig ist es die Aufgabe einer Gesellschaft, den Einzelnen in den Sinngehalt dieser Institutionen und anderer überlieferter kultureller Deutungen einzuführen, um ihn in die gemeinsame gesellschaftliche Ordnung zu integrieren. Auf der Seite des Einzelnen wiederum bietet der Nachvollzug der Gehalte der kulturellen Lebenswelt und der gesellschaftlichen Ordnung die Möglichkeit, diese zu kritisieren und mitzugestalten. Auf dem Boden der bereitgestellten Überlieferung. Analog begreift Pannenberg den Zusammenhang von der kirchlichen Vermittlung der christlichen Überlieferung und der Einstimmung darin im Bekenntnis des kirchlichen Glaubens durch den Einzelnen. Damit letzteres möglich ist, muss der Einzelne eingeführt werden in den Überlieferungszusammenhang des Christentums. Nur so ist es möglich, sein eigenes Leben in diesen zu integrieren, samt der Möglichkeit, die Überlieferung

Pluralität und Einheit

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darin auch zu kritisieren und zu revidieren. Die Kirche ist so Exempel für das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft. Der beschriebene Prozess ist dabei nie statisch, sondern stets dynamisch. Wenn Einzelne bestimmte Aspekte der vorgegebenen Überlieferung kritisieren, können sie auf die Anerkennung ihrer Kritik durch die kirchliche Gemeinschaft drängen. Dies wiederum ist nur möglich, wenn möglichst viele Mitgläubige die Kritik nachvollziehen und sich diese wiederum zu eigen machen, als eigene Deutung des christlichen Glaubens. So kann ein Prozess um eine auf intersubjektive Gültigkeit drängende Deutung der Gehalte der eigenen Überlieferung entstehen. In der Kirche wie innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung. Das Ziel dieses Prozesses ist in beiden Fällen ähnlich: Die Freiheit des Einzelnen innerhalb der Gemeinschaft, die im Glauben die Freiheit der Gotteskindschaft genannt wird. Noch einen weiteren Aspekt teilen die ekklesiologischen Bestimmungen Pannenbergs mit seinen anthropologischen: Der Zukunftsbezug allen Seins und Denkens, wobei alles Sein und Denken gegenüber dieser Zukunft vorläufig bleibt. Diese eschatologische Ausrichtung kennzeichnet die gesamte Theologie Pannenbergs. Sie hat fundamentalen Rang. Der Mensch ist das, wozu er bestimmt ist, erst im Eschaton. Er ist es erst, wenn Gott zur Herrschaft gelangt ist in seinem Reich. Nur dann kann die Bestimmung allen Seins realisiert werden. Die Konsequenzen dieser eschatologischen Ausrichtung sind mannigfach. Sie bildet den Rahmen für Pannenbergs Verständnis des Verhältnisses von Pluralität und Einheit, wie im folgenden Kapitel noch einmal zu vertiefen ist.

7.4

Pluralität und Einheit

Die eschatologische Grundstruktur der Theologie Pannenbergs zeigt sich am nachdrücklichsten in der Gotteslehre (Kap. 5.1). Für Pannenberg gehört das Reich Gottes wesentlich zu dessen Sein. Ist das Reich Gottes erst im Eschaton vollendet, dann ist Gott selbst in gewisser Weise erst dann vollendet. Herrschaft Gottes bedeutet für Pannenberg die versöhnende Vereinigung allen geschöpflichen Lebens (Kap. 5.1.1). Er begreift Gottes Macht als einigende Macht. Einheit, Zukunft und Herrschaft gehören daher eng zusammen. Gottes Herrschaft ist die Macht der Zukunft, durch welche alles geschöpfliche Leben geeint sein wird, weil es mit Gott vereint sein wird. Die Vielheit der Welt sieht er auf diese Einheit angewiesen. Die Welt würde sonst in diese Vielheit zerfallen. Gottes Macht ist dabei nicht lediglich in der Zukunft wirksam, vielmehr ist seine Zukunft bereits wirkmächtige Gegenwart. So geht jeder Augenblick, jedes Ereignis aus der Zukunft Gottes hervor, indem es ins Dasein gesetzt wird. Jedes Dasein zeigt so durch seine Existenz Gottes Liebe, die die Schöpfung will. Und die göttliche Liebe zeigt sich darin, dass das geschaffene Sein Dauer erhält. Kein Ereignis oder keine

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Schlussbetrachtungen

Gestalt, die auf der Wiederholung von Ereignissen beruhen, wie z. B. die Identität, fällt aufgrund der göttlichen Liebe zurück ins Nichts. Vielmehr werden sie von Gott im Sein gehalten sowie in der Verbindung mit ihm selbst und dadurch in der Verbindung zu allem anderen Sein. Die christliche Rede von der göttlichen Trinität ist von dem Verständnis der Herrschaft Gottes als vereinigende Macht geleitet: In Jesus war die Zukunft, also das Reich des Vaters Gegenwart und durch den Heiligen Geist wird es gegenwärtig in der Schöpfung. Die trinitarische Einheit Gottes ist für Pannenberg eine dynamische Einheit, da sie die Vergangenheit der Welt in die Zukunft Gottes einholt. Die Konsequenz, die Pannenberg aus der Einsicht zieht, dass das Reich Gottes aussteht und so Gott in einem gewissen Sinn noch nicht ist, ist die Rede von der Strittigkeit Gottes (Kap. 5.1.2). Im Verlauf der Geschichte bleibt die göttliche Wirklichkeit strittig. Diese Einsicht wiederum hat Folgen für das Verständnis der Religionen. Pannenberg sieht es als Wesen der Religion an, dass sie das Verhältnis von Mensch und Gottheit dergestalt umgreift, dass der Gottheit das Primat zukommt (Kap. 5.1.2.1). Die Gottheit ist der absolute Grund des religiösen Verhältnisses, nicht die Glaubenden. Dass Pannenberg eine solche Wesensbestimmung vornimmt, zeigt die Überzeugung, dass trotz mannigfacher religiöser Phänomene und Deutungen das ihnen allen Gemeinsame erfasst werden kann. Daher ist das Wesen der Religion zugleich ihre Einheit. In dieser Beschreibung der Religion sieht Pannenberg das Primat der religiösen Erfahrung theologisch ernstgenommen. Die Wahrheit des Glaubens sieht das gläubige Subjekt eben nicht in sich selbst begründet, sondern in Gott als dem Grund des Glaubens. Dass Gott der Souveräne, der Handelnde ist, holt Pannenberg durch die Bezeichnung Gottes als alles bestimmender Wirklichkeit ein. Der Einheit der vielfältigen religiösen Phänomene korrespondiert nach Pannenberg die Einheit der göttlichen Wirklichkeit. Letztere wird in der Religionsgeschichte sichtbar, die sich nach Pannenberg auf eben diese Einheit zubewegt (Kap. 5.1.2.2). Innerhalb der Geschichte der Religionen wurde den jeweils geglaubten Gottheiten selten nur eine bestimmte Aufgabe zugewiesen. Vielmehr wurde dem in einem Lebensbereich wirkmächtigen Gott nach und nach auch die Macht über andere Lebensbereiche zugeschrieben. Dadurch kam es zwangsläufig zur Konkurrenz zwischen den geglaubten Göttern, da die zugeschriebenen Wirkbereiche sich überschnitten. Dieser Vorgang zeigt sich in der Religionsgeschichte Israels und deren Entwicklung von der Monolatrie zum Monotheismus. Ein solcher Vorgang ist für Pannenberg verallgemeinerbar auf die gesamte Religionsgeschichte. Sie läuft daher zwangsläufig auf ihre Einheit hinaus, auch wenn diese erst eschatologisch realisiert sein wird. In diesem Zug der Religionsgeschichte auf eine Einheit hin erblickt Pannenberg das Wirken der göttlichen Einheit. Denn wie die Religionen ihr Selbstverständnis auf das Wirken Gottes zurückführen, muss auch der Verlauf der Religionsgeschichte auf Gott

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selbst zurückgeführt werden. Die Religionen ringen innerhalb dieser Geschichte um eine angemessenere Deutung der Wirklichkeit. Sie ringen darum, die Wirklichkeitserfahrung des Menschen in sich zu integrieren und zu erhellen. Indem die Religionen die göttliche Wirklichkeit thematisieren, thematisieren sie den Sinn aller Wirklichkeit. Sie müssen daher in der Lage sein, in ihre Deutung der göttlichen Wirklichkeit alle Bereiche und Deutungen der menschlichen Lebenswirklichkeit zu integrieren. Und das heißt, dass die Religionen in der Lage sein müssen, den Lebensvollzug der Menschen zu stärken und ihre Wirklichkeitserfahrung und -deutung zu erhellen. Durch die von ihnen bereitgestellten religiösen Traditionen, aber auch durch ihre religiösen Vollzüge. Ändert sich nun durch neue Erfahrungen oder Einsichten die Wirklichkeitsdeutung der Menschen, muss eine Religion dazu fähig sein, diese Veränderung in sich zu integrieren. Nicht selten kommt es dabei zu einer Transformation der Religion selbst. Gelingt eine Integration nicht, kann das zur Folge haben, dass bestimmte Religionen erliegen. Erweist sich eine Religion als wahr, erweist sich die geglaubte Gottheit als wahr. Denn sie ist der tragende Grund einer Religion. In dem Ringen der Religionen um ihre Wahrheit steht daher die jeweils geglaubte Gottheit selbst auf dem Spiel. Sie muss sich als wirkmächtig erweisen in der Lebenswirklichkeit und Lebensdeutung der Mitglieder der Religion. Sie sind es, die darüber entscheiden, ob sich ihr Leben durch eine konkrete Religion tragen lässt oder nicht. Ist den religiösen Traditionen und Vollzügen eine solche Wirk- und Integrationskraft inne, bewährt sich darin Gott selbst. Denn er ist der wirkende, der absolute Grund der Religionen. Daher ist auch das Ringen der Religionen um Wahrheit wie alles religiöse Geschehen auf Gott selbst zurückzuführen. Für Pannenberg ist daher die Rede von der Strittigkeit Gottes grundlegend für die Rede von Gott in dieser vorläufigen Welt. Unter den Bedingungen der Welt unterliegt jede Rede von Gott, jede Erfahrung mit Gott, jede Deutung von Gott der Strittigkeit. Denn sie steht unter dem Vorbehalt, durch die Zukunft und darin durch Gott selbst korrigiert oder sogar verworfen zu werden. „Die Wirklichkeit der Götter – und Gottes – steht selbst auf dem Spiel im Prozeß der Religionsgeschichte, in welchem Götter stürzen und neu entstehen.“40 Die Frage, ob Gott in der Welt selbst strittig ist, er also selbst auf dem Spiel steht, oder ob er unter den Bedingungen der Welt als strittig erfahren wird, die Strittigkeit also nur die geschöpfliche Wirklichkeit betrifft, kann meiner Meinung nach mit dem Zeit- und Ewigkeitsverständnis Pannenbergs beantwortet werden (Kap. 5.1.2.3). In dem Bewusstsein des endlichen Subjektes zerfällt die Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Virulent wird ein solches auseinanderfallendes Zeitbewusstsein z. B. innerhalb der Frage persönlicher Selbstidentität. Wie kann der Einzelne heute mit dem identisch sein, der er in 40 Pannenberg, Religionsgeschichte, 289.

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Schlussbetrachtungen

seiner Kindheit war, trotz aller Veränderungen? Die Veränderlichkeit des Lebens zeigt zugleich wiederum die Notwendigkeit der Zeit und der Vielfalt der Zeitmomente für geschöpfliches Leben: Nur so ist ein Werden möglich. Gleichzeitig strebt der Mensch nach Dauer, in welcher die Vielfalt seiner Momente integriert ist. Wo solche Dauer bereits im irdischen Leben gelingt, vollzieht sich eine Antizipation der Ewigkeit Gottes und mit ihr der zukünftigen, eschatologischen Vollendung. Denn in der Ewigkeit ist die Unterschiedenheit der Zeitmomente aufgehoben. In der Ewigkeit ist alle Zeit gleichzeitig. Partizipation des Einzelnen an der Ewigkeit schenkt ihm Dauer. Pannenberg will die Ewigkeit nicht als Gegensatz zur Zeit verstanden wissen, vielmehr ist alle Zeit in der Ewigkeit aufgehoben. Hierin zeigt sich noch einmal der Erhaltungswille des Schöpfers, der die Zeit und damit das geschichtliche Leben seiner Schöpfung festhalten will. Meiner Meinung nach hat das Ewigkeitsverständnis Pannenbergs wie das darin mitgesetzte Zukunftsverständnis Konsequenzen für die Rede von der Strittigkeit Gottes. Denn bei Gott ist der Unterschied der Zeit aufgehoben. Bei Gott ist die Zukunft der Welt bereits Gegenwart. Nur dann sind Antizipationen dieser Zukunft innerhalb der Zeit möglich. Das bedeutet, dass mit der Rede von der Strittigkeit Gottes nicht Gottes Sein für sich selbst auf dem Spiel steht. Vielmehr ist Gott bereits der, der er sein wird (Ex 3,14). Aber für seine Geschöpfe steht die Vollendung der Welt und die Teilhabe an der Ewigkeit noch aus. Innerhalb seiner Schöpfung steht Gott auf dem Spiel. Bevor die Konsequenzen des Religionsverständnisses Pannenbergs für die Ekklesiologie zusammenfassend dargestellt werden, sollen noch einmal drei entscheidende Linien seiner Perspektive auf die Religionen und auf den sich darin offenbarenden Gott festgehalten werden. Erstens hat die Rede von der Strittigkeit Gottes die Pluralität der Religionen notwendig zur Folge. Weil Gott strittig ist, weil seine Wahrheit erst eschatologisch offenbar ist, deshalb ist die Pluralität der religiösen Deutungen notwendig und als solche notwendige Pluralität von Pannenberg anerkannt. Diese Grundüberzeugung äußert Pannenberg bereits in den 1960er Jahren41 und muss bei seinem entschiedenen Eintreten für die (vorläufige) Wahrheit des Christentums stets mitgeführt werden. Um zweitens den Wahrheitsgehalt einer Religion zu erheben, muss sie an den Wirklichkeitserfahrungen und -deutungen ihrer Zeit beurteilt werden. Der Wahrheitsgehalt nichtchristlicher Religionen ist somit auch für den christlichen Theologen nicht aus seiner christlichen Perspektive heraus zu beurteilen. Sondern an der Deutungskraft einer Religion gegenüber der Wirklichkeit. Dabei sieht Pannenberg die Religionen zu jeder Zeit in einem Wettstreit darum, welche die angemessenere Deutung der Wirklichkeit bereithält. Eschatologisch wird Gott eine Religion als die wahre Religion erweisen, wobei diese meines Erachtens nach Pannenberg 41 Vgl. Pannenberg, Religionsgeschichte, 289.

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nicht deckungsgleich sein wird mit einer konkreten Deutung einer bestimmten geschichtlichen Religion. Vielmehr entspricht der Einheit der Wirklichkeit, der Einheit Gottes auch die Einheit der Religion. Und diese Einheit wird eschatologisch offenbar sein. Pannenbergs religionstheoretischen Ausführungen haben drittens das Ziel, Religion unter den Bedingungen der Moderne zu denken. Sie sind meines Erachtens darin dezidiert moderne Religionstheologie, indem sie die Pluralität zu ihrem Strukturmoment erheben. Die in der Moderne virulent gewordene Fraglichkeit aller Traditionen und Vollzüge, die es mit letztgültigen Wirklichkeitsdeutungen zu tun haben, findet bei Pannenberg eine religionstheologische Umsetzung und wird letztlich in Gott selbst begründet. Letztgültige Gewissheit ist unter irdischen Bedingungen nicht möglich, da die Zukunft immer alles verändern kann. Damit wird eine Grundstruktur menschlichen Lebens in dem Religionsverständnis und in der Gotteslehre Pannenbergs umgesetzt: Die Fraglichkeit jeder menschlichen Existenz. Dass es eine letztgültige Gewissheit nicht geben kann, deckt sich aus meiner Perspektive damit, auf welche Weise es für Pannenberg im Christentum nur Gewissheit geben kann: Im Modus des Vertrauens. Denn Glaube ist Vertrauen und Vertrauen ist immer ein Wagnis. Vertrauen kann zu Enttäuschung führen und wird erst erfüllt, wenn das worauf es vertraut, eintritt. Christliches Vertrauen ist dabei für Pannenberg nie blindes Vertrauen, da es auf die Prolepse des Reiches Gottes in Jesus Christus vertraut. Es vertraut auf die Verheißungen, die Gott darin der Menschheit gegeben hat, und darauf, dass Gott diesen Verheißungen treu bleibt. Aber es ist jeder Zeit offen für eine Zukunft, die alles verändern kann und von der das glaubende Vertrauen die Erfüllung erwartet. Das dargestellte Religionsverständnis gründet nach Pannenberg in allgemeine Bestimmungen zur Religion und ist nicht aus dem Christentum abgeleitet, auch wenn er zugesteht, dass es zwischen seinen allgemeinen Darlegungen zur Religion und seiner Interpretation der christlichen Religion Übereinstimmungen gibt (Kap. 5.1.3). Die Übereinstimmung besteht vor allem in dem Primat der Zukunft, welches Jesu Verkündigung und die biblischen Schriften bestimmt. Von entscheidender Bedeutung wiederum ist sein Religionsverständnis für sein Ökumeneverständnis (Kap. 5.1.4). Denn ist die Pluralität der religiösen Deutungen in Gott begründet und als notwendig anerkannt, gilt dies auch für die pluralen Deutungen des christlichen Glaubens. Somit ist das Entstehen verschiedener konfessioneller Traditionen und Bräuche nicht per se als ein Bruch innerhalb des Christentums zu bewerten, sondern Ausdruck der Strittigkeit Gottes in der Welt. Die kirchliche Einheit, die Pannenberg immer wieder fordert, kann daher nur eine Einheit in der Vielfalt sein. Das Anerkennen dieser Vielfalt entspringt dem Christusglauben selbst. Denn wie Jesus Christus sich und seine Verkündigung von der endgültigen Offenbarung Gottes in seinem Reich unterschieden wusste, müssen

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Schlussbetrachtungen

auch die christlichen Konfessionen um ihre Unterschiedenheit von der eschatologischen Wahrheit wissen. Gegenüber dem Ideal einer Einheit in versöhnter Vielfalt sind die Spaltungen der Kirche der zentrale Abfall von ihrem Wesen als Leib Christi (Kap. 5.2). Aufgrund der Strittigkeit Gottes in der Welt ist zwar die Vielfalt christlicher Deutungen und Konfessionen legitimer Ausdruck der Situation des Menschen. Die Spaltungen der Kirche aber, die mit gegenseitigen Verwerfungen einhergehen und die die eigene Konfessionalität für die absolute Wahrheit halten, widersprechen dem Glauben an Jesus Christus. Denn in diesem Glauben ist die Einheit der Kirche vorgegeben. Alle Christen zu allen Zeiten und allen Orten sind im Glauben an Jesus Christus geeint. Sie sind Teil der Mahlgemeinschaft mit ihm. Angesichts der Spaltungen ist diese im Glauben notwendige Einheit eine unsichtbare Glaubenswirklichkeit. Sie sichtbar werden zu lassen, indem Formen der Einheit gefunden werden und die Spaltungen überwunden werden, ist Pannenbergs gesamte Ekklesiologie wie auch sein Engagement in der Ökumene verpflichtet.42 Pannenbergs Interpretation der notae ecclesiae vertiefen sein Ökumene- und Einheitsverständnis (Kap. 5.2.1). Sie zeigt noch einmal die eschatologische Grundausrichtung seiner Ekklesiologie, denn er begreift die vier Wesensmerkmale der Kirche als eschatologische Größen. Die Katholizität der Kirche bezeichnet ihre eschatologische Fülle. Sie ist nicht auf die kirchliche Einheit bezogen, sondern zeigt vielmehr den universalen Charakter der Kirche. Der Auftrag der Kirche ist erst dann vollendet, wenn die gesamte Menschheit vom christlichen Glauben durchdrungen ist. Volle Katholizität ist also erst dann erreicht, wenn das Gegenüber von Kirche und Gemeinwesen aufgehoben ist und alle Menschen unter der göttlichen Herrschaft vereint sind. Ein Zustand, der erst eschatologisch realisiert sein wird. Demgegenüber muss jede gegenwärtige Kirche partikular sein. Und eben dieser Partikularität muss sich jede gegenwärtige Kirche bewusst sein. Sie ist nur dann katholisch, wenn sie den anderen Kirchen zuerkennt, ebenfalls partikulare Gegenwart der eschatologischen Fülle zu sein. Wie die Katholizität ist auch die Apostolozität auf die eschatologische Vollendung der Kirche bezogen. Dass die Kirche apostolisch ist, verweist sie auf ihre eschatologische Bestimmung und zugleich auf ihren geschichtlichen Ursprung. Denn sie steht in ihrer Bestimmung in Kontinuität zu der apostolischen Sendung, die eschatologisch bestimmt war, aufgrund der Beauftragung der Apostel durch den Auferstandenen. In der Auferstehung wurde nicht nur Jesu Sendung bestätigt, sondern letztere wurde zugleich für die Apostel erneuert. Sie bekamen im Angesicht des eschatologischen Lebens des Auferstandenen den Auftrag, das in Jesus Christus offenbare Heil allen Menschen zu verkünden. Die so begründete 42 Zum Engagement Pannenbergs in der Ökumene vgl. oben, S. 13, Anm. 21.

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Kontinuität zwischen Jesu Auftrag und dem der Apostel ist dabei von einer entscheidenden Veränderung geprägt: Jesus Christus wird nun selbst zum Gegenstand der Verkündigung. Daraus folgert Pannenberg, dass die Berufung auf die Apostolizität sich immer nur durch Veränderung vollziehen kann. Die Kirche kann ihren apostolischen Ursprüngen nur treu bleiben, wenn sie in ihrer jeweiligen Zeit den Inhalt des apostolischen Evangeliums immer wieder neu auslegt und dabei auch verändert. Die kirchliche Verkündigung ist so offen für Veränderung von ihrem apostolischen Ursprung her. Gerade die Apostolizität und Katholizität der Kirche konkretisieren ihre Einheit. Letztere wird nur dann realisiert sein, wenn der Glaube an das in Jesus Christus offenbarte Heil die gesamte Menschheit durchdringt. Und dies wird erst eschatologisch realisiert sein. Die universale Sendung der Kirche ist dabei immer wieder verstellt durch die Sündhaftigkeit ihrer Glieder. Daher ist auch ihre Heiligkeit erst im Eschaton verwirklicht und die Kirche in ihrem geschichtlichen Vollzug auf Erneuerung und Reinigung von ihrem Haupt her angewiesen. Alle vier Wesensaussagen über die Kirche sind folglich nach Pannenberg keine Aussagen über ihren empirischen Zustand. Im Gegenteil, sie sind Aussagen, die der Kirche zugesprochen werden als ihre Bestimmung, trotz ihres empirischen Zustandes. Dass das Wesen der Kirche und vor allem ihre Einheit gegenwärtig entstellt sind, entlässt die Kirche jedoch nicht aus der Pflicht, sich um eine gegenwärtige, vorläufige Realisierung ihres Wesens immer wieder zu bemühen. Damit die Bestimmung der Kirche in einer christlichen Konfession oder Tradition sichtbar werden kann, muss sie sich ihrer Vorläufigkeit bewusst sein. In dieser Vorläufigkeit ist zugleich die Veränderlichkeit jeder Deutung ihrer Bestimmung möglich. Das heißt, dass die jeweiligen Konfessionen und Traditionen immer wieder neu um die Auslegung, um die Bedeutung der eschatologischen Offenbarung in Jesus Christus ringen können. Damit ist jede Lehrformulierung als Deutung dieses Geschehens auf die Lebenswirklichkeit des Menschen hin für Veränderung offen. Die Pluralität der christlichen Deutungen sind daher kein notwendiger Grund für die Trennung und gegenseitige Verwerfung der Konfessionen. Vielmehr haben alle Deutungen den selben Grund, den sie versuchen auszulegen und von dem her sie ihre Einheit erhalten: Die eschatologische Offenbarung des anbrechenden Gottesreiches in Jesus Christus. Das Verhältnis von Einheit und Pluralität kennzeichnet nach Pannenberg auch das Verhältnis von Lehre und Bekenntnis (Kap. 5.2.2). Für ihn sind Pluralität und Toleranz wesentliche Werte des Christentums. Sie gründen in dem Unterschied von der Vorläufigkeit gegenwärtigen Erkennens und der Endgültigkeit des eschatologischen Gottesreichs. Der christliche Glaube weiß um die Vorläufigkeit seiner eigenen Wahrheit gegenüber der eschatologischen Wahrheit Gottes. Diese Struktur eignet besonders dem Bekennen. Der Akt selbst und dessen Intention als Parteinahme für Jesus Christus sind von eschatologischer Endgül-

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tigkeit. Den Lehrformulierungen, die der Inhalt des Bekenntnisses sind, eignet diese Endgültigkeit nicht. Sie müssen vom apostolischen Evangelium her immer wieder auf ihre Wahrheit hin befragt werden. Das bedeutet, dass jede Bekenntnisformulierung in der Geschichte des Christentums einschließlich der Dogmen immer wieder daraufhin zu prüfen ist, inwiefern in ihr die Verbundenheit der Glaubenden mit Christus zum Ausdruck kommt. Kritisches Prinzip ist dabei für Pannenberg die Heilige Schrift. Das heißt nicht, dass Bekenntnisformulierungen nicht über diese hinausgehen können. Sie müssen sogar darüber hinausgehen, insofern sie in ihrer Gegenwart die Inhalte der Schrift immer wieder neu auslegen. Es kann dabei nicht zu radikal neuen Lehren kommen, sondern nur zu Neuformulierungen des apostolischen Evangeliums, das die Schrift bezeugt. Die Einheit der pluralen Bekenntnisformulierungen ist somit ihre Intention, den Glauben an Jesus Christus zu bekennen. Von dieser Intention her können die verschiedenen konfessionellen Traditionen produktiv interpretiert werden, indem sie daraufhin befragt werden, wie sie ihre Intention zur Sprache bringen und mit Jesus Christus verbunden sind. Dadurch kann bei der produktiven Aneignung der unterschiedlichen konfessionellen Lehrbestände ihre Absicht ernst genommen werden, auch wenn einige ihrer Formulierungen revidiert werden. Ist damit der Raum für plurale Lehrbildungen eröffnet, sind die jeweiligen Kirchen verpflichtet, die anderen Konfessionen als partikularen Ausdruck der Katholitzität zu begreifen und als Korrektiv für die eigene Lehrbildungen zu befragen. Jede Konfession muss die gesamte Geschichte des Christentums als die eigene begreifen und somit die anderen wie die eigene Tradition kritisch konstruktiv aneignen bei dem Versuch, das Christusgeschehen gegenwärtig auszulegen. Werden so die unterschiedlichen Traditionen als vorläufiger Ausdruck der eschatologischen Wahrheit Gottes anerkannt, ist eine Einheit möglich, in der Raum für eben diese vielfältigen Deutungen und Vollzüge ist. Denn christliche Einheit meint nicht Einheit in der Uniformität, sondern in der Pluralität; in der Pluralität von Lehrauffassungen, von gottesdienstlichem Leben oder von Kirchenverfassungen. In der Verhältnisbestimmung von Lehre und Bekenntnis werden zwei Grundzüge der Ekklesiologie wie der Theologie Pannenbergs deutlich: Erstens die ökumenische Ausrichtung, in welcher die Traditionen aller Konfessionen als Teil der eigenen Theologiegeschichte kritisch angeeignet werden, bei dem Versuch der eigenen Interpretationen des christlichen Glaubens. In der Ekklesiologie zeigt sich dies z. B. in der Tauflehre, in der Pannenberg versucht, die Anliegen des Trienter Konzils und die Anliegen der lutherischen Bekenntnisse zu vereinen.43 Darüber hinaus ist die gesamte Systematische Theologie von dem Rekurs auf die verschiedenen Traditionen der Christentumsgeschichte geprägt. 43 Vgl. oben, S. 132f.

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Denn Pannenberg versteht sich und seine Theologie in der Einheit mit der gesamten Kirche und daher auch in der Tradition der gesamten Theologiegeschichte. Dabei ist seine primäre Rezeptionsquelle die römisch-katholische Theologie- und Dogmengeschichte. Gerade auch hinsichtlich der Spaltungen ist er bemüht zu zeigen, dass die Gegensätze der lutherischen und der römischkatholischen Kirche nicht kirchentrennend sind. Diese Konzentration auf die römisch-katholische Kirche liegt in seiner Überzeugung begründet, dass das Bemühen um die Einheit der Kirchen dann am erfolgreichsten ist, wenn der Fokus auf bilateralen Einigungen beruht.44 Zweitens zeigt sich in der Verhältnisbestimmung von Lehre und Bekenntnis die zentrale Stellung der Heiligen Schrift für die gegenwärtige Auslegung des christlichen Glaubens. Die Kritik an bestimmten Traditionen wie die gegenwärtige Auslegung des Glaubens müssen von der Schrift getragen sein als Zeugnis der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Die Schrift bildet daher immer wieder den Ausgang seiner systematischen Entfaltung. Dabei unternimmt Pannenberg immer wieder den Versuch, Systematische Theologie im Diskurs mit den exegetischen Erkenntnissen seiner Zeit zu führen.45 Bereits der entscheidende Grundzug seiner Theologie, die Ausrichtung auf das eschatologische Reich Gottes, ist biblisch fundiert: Pannenberg begreift die Ausrichtung des Christentums auf die Zukunft Gottes als das Kerncharakteristikum des christlichen Glaubens, welches Jesu Wirken und Verkündigung bestimmt hat, welches die Auslegungen des Christusgeschehens in der apostolischen Zeit bestimmt hat und welches nur aus der Kontinuität zum alttestamentlichen Zeugnis zu begreifen ist.46 Der ökumenische Prozess kommt nach Pannenberg nicht in der gegenseitigen Anerkennung der verschiedenen Traditionen und Konfessionen zum Ziel. Vielmehr bedarf es auch sichtbarer Zeichen der Einheit, durch welche die Gemeinschaft der getrennten Kirchen sichtbar wird. Unumgänglich für solche Sichtbarwerdung der Einheit ist die Überwindung der in der Kirche vollzogenen Spaltungen und gegenseitigen Verwerfungen (Kap. 5.2.3). Nur so ist eine Einheit in versöhnter Vielfalt möglich, die von gegenseitiger Anerkennung getragen wird. Dabei gab es nach Pannenberg durchaus notwendige Spaltungen innerhalb der Kirchengeschichte. Immer dann nämlich, wenn die Gemeinschaft der Glaubenden an Jesus Christus verlassen wurde, was in seinen Augen z. B. für die Gnosis zutrifft. Bei den Spaltungen der Reformation jedoch ist Pannenberg der Auffassung, dass diese in der Perspektive des Bekenntnisses zu Jesus Christus nicht notwendig waren. Schon gar nicht war es das Ziel der Reformation, eine 44 Vgl. Pannenberg, Dialog. 45 In der Ekklesiologie wird dies z. B. in der Abendmahlslehre sichtbar (vgl. Kap. 4.4.1) oder in seinen Ausführungen zur Erwählungslehre (vgl. Kap. 6.2). 46 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 40–44.

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eigene Kirche zu gründen. Letzteres war vielmehr das Ergebnis gegenseitiger Missverständnisse, Verzeichnungen und Polemisierungen. Die Wurzel der vollzogenen Trennung erblickt er in der hierarchischen, dogmatisch-uniformen Verfasstheit der mittelalterlichen Kirche. Das bedeutet nicht, dass die damaligen theologischen Akteure die gleichen Positionen vertraten. Er hält im Gegenteil an den Lehrdifferenzen fest, die bis heute wirken. Allerdings sind es für ihn Differenzen, die eine Trennung der Kirchen und ihrer gegenseitigen Verwerfungen nicht notwendig machten. Vielmehr könnten sie als verschiedene theologische Schulen begriffen werden. Sich als solche gegenseitig anzuerkennen, ist ein Ziel der ökumenischen Verständigung. Hierfür müssen sowohl die Verwerfungen revidiert als auch die Schuld an den Spaltungen bekannt werden. Erst dann kann von einer versöhnten Einheit gesprochen werden. Doch auch die Überwindung des Trennenden ist nicht hinreichend auf dem Weg, vorläufige Realisierung der Einheit der Kirchen zu sein. Vielmehr müssen diese auch in der Lage sein, das Gemeinsame ihres Glaubens zu formulieren und zu bekennen (Kap. 5.2.4). Nur dann kann die im Glauben vorgegebene Einheit der Kirchen sichtbar werden und das Christentum die Funktionen einnehmen, die der Religion im Leben des Einzelnen wie der Gesellschaft zukommen. Im Zentrum einer solchen vorläufig realisierten Einheit steht für Pannenberg die gemeinsame Feier des Abendmahls. Gerade hier, am Tisch des Herrn, muss die Trennung der Kirche überwunden werden. Denn in jeder ortsgemeindlichen Feier des Abendmahls ist die Einheit der gesamten Kirche zu allen Zeiten und allen Orten gegenwärtig. Nur wenn die Kirchen im Mahl ihre Einheit vollziehen und so sichtbar eins werden, können sie ihrer Verantwortung in der Welt gerecht werden. Eine so in der Vielfalt geeinte Kirche, die sich zu dem einen Herrn bekennt und die Gemeinschaft mit ihm im gemeinsamen Mahl feiert, könnte ein wirkmächtiges Symbol sein für eine in Frieden und Gerechtigkeit geeinte Menschheit. Einer Menschheit, die gegenwärtig unter den Differenzen unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen und unter den Gegensätzen von Herrschern und Beherrschten leidet, könnte eine in Vielfalt geeinte Kirche als wirkmächtiges Zeichen entgegentreten. Wenn sie es schafft, auf dem Boden gemeinsamer Grundüberzeugungen und Vollzüge plurale Deutungen und Prägungen anzuerkennen. Das erste Anliegen der ökumenischen Bewegung der Kirchen muß die Einigung der Christenheit bleiben […]. Aber die christliche ökumenische Bewegung kann diese ihre eigenste Aufgabe nicht lösen, ohne damit zugleich ein Modell zu schaffen für die Vereinbarkeit von Einheit und Pluralität auch im Verhältnis zu anderen Religionen und im Bereich der politischen Welt.47

47 Pannenberg, Menschheit, 332.

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In der Amtstheologie Pannenbergs laufen zwei Dimensionen seiner Ekklesiologie zusammen (Kap. 5.3): Das Amt ist der Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Jesus Christus verpflichtet, die das Ziel allen kirchlichen Handelns ist. Und es ist zum Dienst an der Einheit berufen. Da dem Amt dieser Dienst übertragen ist, obliegt ihm auch die Leitung der Abendmahlsfeier und die Leitung über die Gemeinde. Eine Leitung, die nicht hierarchisch, sondern integrativ und dienend ausgeführt werden muss. Die besondere Beauftragung des Amtes leitet sich für Pannenberg aus der Sendung der gesamten Kirche ab (Kap. 5.3.1): Die Kirche ist beauftragt, Zeugnis für das in Jesus Christus angebrochene Gottesreich abzulegen. Diesen Auftrag teilen alle Christen und darin partizipieren die Gläubigen am Priesteramt Jesu Christi. Dass allen Christen dieser Auftrag gemeinsam ist, bedeutet für Pannenberg, dass er nur gemeinschaftlich auszuführen ist. Die Sendung der Gläubigen hat zur Folge, sie gemeinsam in der Einheit der Kirche zu vollziehen. Solche Einheit stellt sich jedoch nicht von selbst her, sie ist vielmehr die Aufgabe des Amtsträgers. Er repräsentiert darin den Auftrag an die Kirche, welcher der Kirche vorgegeben ist, auch wenn sie ihn gemeinsam umsetzt. Das Amt ist also angewiesen auf die Mitverantwortung der Gläubigen, auf das Glaubensbewusstsein der Kirche, um seine Aufgabe auszuführen, und gleichzeitig steht es auch im Gegenüber zur Kirche, indem es den Auftrag Jesu Christi repräsentiert, der der Gemeinschaft der Kirche vorgegeben ist. In der Urchristenheit war es die Aufgabe der Apostel, die Gläubigen zur Einheit zu integrieren und sie darin in der Gemeinschaft mit Christus zu erhalten. Nach ihrem Tod wurde diese Aufgabe dem Episkopenamt zugeschrieben, welches nach und nach auf die Leitung der gesamten Gemeinde ausgeweitet wurde. Ihm wurde die Leitung der Gemeinde und die Lehre des Evangeliums übertragen, wodurch die Einheit der Gemeinde untereinander und mit Christus gewahrt wurde angesichts entstehender Irrlehren. Eine historische Entwicklung mit theologischem Recht. Damit besteht sachliche Kontinuität zwischen Apostel- und Episkopenamt, auch wenn die Ausgestaltung des letzteren nicht eindeutig vorgeschrieben war. Das apostolische Evangelium ist dabei der Grund, aus welchem das Bischofsamt entstand. Denn die Sendung zur Verkündigung der Christusbotschaft machte ein Amt erforderlich, das die Treue zum apostolischen Evangelium gewährleistet. Gleichzeitig ist das apostolische Evangelium die Norm, an der die Amtsausführung zu messen ist. Soll das Amt der Einheit des Glaubens der Gemeinden mit dem Evangelium dienen, ist es auf den Glauben der Kirche angewiesen und ihm zugleich entzogen. Diese Spannung ist in keine der beiden Pole aufzulösen. Dabei unterscheidet sich das Leitungsamt vom allgemeinen Priesteramt darin, dass es öffentlich ausgeführt wird. Die Sendung, die allen Christen aufgegeben ist, führt der Amtsträger öffentlich aus. Dies zeigt sich im Vorsitz der Abendmahlsliturgie, die der Amtsträger stellvertretend für und gemeinsam mit der gesamten Gemeinde vollzieht,

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und in der Wortverkündigung, die ebenfalls der gesamten Gemeinde aufgetragen ist. Es sind also nicht die Vollzüge, sondern deren öffentlichen Ausführung, die den Amtsträger von den übrigen Gläubigen unterscheidet. In der öffentlichen Ausübung zeigt sich, dass er in Jesu Vollmacht handelt, die er der Kirche übertragen hat. Das Amt begründet nicht die kirchliche Einheit, denn ihr Fundament ist Jesus Christus. Aber es repräsentiert die in Christus begründete Einheit. Es dient ihr, indem es die pluralen Lebens- und Aufgabenbereiche einer Gemeinde in den Gesamtzusammenhang der Christenheit integriert. Dies gelingt nicht durch hierarchische Uniformisierung, sondern durch anerkennende Integration der verschiedenen religiösen Erfahrungen und Äußerungen einer Gemeinde. Dabei ist das Ziel aller Handlungen des Amtsträgers, dass der einzelne Gläubige sich und sein Leben in der christlichen Tradition verorten kann und letztere als tragend erfährt, um so in seiner unmittelbaren Beziehung zu Jesus Christus gestärkt zu werden. Angesichts dessen, dass das kirchliche Amt zum Dienst an der Einheit bestimmt ist, ist es umso eklatanter, dass gerade die Amtstheologie immer wieder Grund konfessioneller Zerwürfnisse ist. Zwischen römisch-katholischer und evangelischer Kirche betreffen die Unterschiede der Amtstheologie nach Pannenberg nicht Wesen und Auftrag des Amtes, sondern die Ordination in das kirchliche Amt (Kap. 5.3.2). Dass Luther die Bezeichnung der Ordination als Sakrament ablehnte, ist für Pannenberg nur mit der zeitgeschichtlichen Ordinationspraxis zu erklären (Kap. 5.3.2.1). Eine biblische belegte Ordinationspraxis durch Gebet und Handauflegung ist demgegenüber durchaus als Sakrament zu bezeichnen. Diese Durchführung wurde auch in Apol 13 gefordert. Ein Sakrament ist dabei als Teilhabe am Christusmysterium zu begreifen, nicht als Empfang der Rechtfertigungsgnade.48 Das Amt partizipiert dabei an der Sendung der Apostel durch den Auferstandenen, wie die gesamte Kirche. Zur öffentlichen Ausführung dieser Sendung wird der Amtsträger durch die Ordination berufen. Durch sie wird dem Amtsträger eine Gnadengabe vermittelt (Kap. 5.3.2.2). Diese ist nicht auf den Menschen an sich bezogen, der dadurch bleibend verändert wird, sondern auf seinen Dienst. Der Ordinierte ist dauerhaft dazu berufen, öffentlich in persona Christi zu handeln. Daher ist die Ordination nicht wiederholbar. Insofern kennzeichnet sie den gesamten Menschen, als dass dessen ganzes Leben in den Dienst gestellt ist. In Fragen der Wirkung wie auch der Durchführung sieht Pannenberg keinen theologischen Dissens zwischen der lutherischen und der römisch-katholischen Kirche. Der entscheidende Dissens ist die Frage, wer die Ordination durchführen darf (Kap. 5.3.2.3). Die Differenz ist zurückzuführen auf die Einschätzung der lutherischen Bekenntnisschriften, dass 48 Zu Pannenbergs Sakramentsverständnis vgl. den Exkurs in Kap. 4, der nicht Teil dieser Zusammenfassung ist.

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die Stufung des Amtes und das exklusive Ordinationsrecht des Bischofs menschliches und nicht göttliches Recht ist. Dieser Auffassung widerspricht das Konzil von Trient. Daher ist in römisch-katholischer Perspektive die Sukzession in lutherischen Kirchen unterbrochen und deren Amt besitzt keine volle Gültigkeit. Die erhaltene Sukzession in den lutherischen Kirchen Skandinaviens zeigt jedoch nach Pannenberg, dass der eigentliche Grund, aus welchem den Lutheranern die Sukzession aberkannt wird, eine Ordinationspraxis ohne kirchliche Einheit ist. Die Frage der Berücksichtigung der kirchlichen Einheit bei der Durchführung der Ordination ist daher das entscheidende Kriterium, ob das Amt weiterhin in kirchlicher Sukzession steht. Doch auch für die lutherische Kirche stellt eine nichtbischöfliche Ordination die Ausnahme und nicht den Regelfall dar. Die kirchliche Notsituation, dass es weder Bischöfe noch Pfarrer gab, war der Grund dafür. Auch für Luther blieb die Ordination durch einen Amtsträger der theologische Regelfall. Eine solche Ordinationspraxis ist ebenfalls episkopal zu verstehen, da für Pannenberg Bischofs- und Priesteramt Ausdifferenzierungen des einen kirchlichen Amtes sind und nicht dem Wesen nach verschieden. Die Sukzession des Amtes ist für Pannenberg in erster Linie als eine Sukzession in Glauben und Lehre zu verstehen. Diese zeigt sich darin, dass andere Amtsträger an der Ordination beteiligt sind und darin die Einheit der Kirche repräsentieren. Daher dürfen die evangelischen Kirchen eine Anerkennung ihre Amtes durch die römisch-katholische Kirche fordern, solange die evangelischen Kirche eine Ordination ohne Amtsträger als Ausnahmefall bewerten. Ebenfalls notwendig ist, dass Sakramentsverwaltung und Evangeliumsverkündigung an das ordinierte Amt gebunden bleiben. Darin entspricht die Kirche der apostolischen Sendung durch den Auferstandenen. Was die Praxis der Frauenordination betrifft (Kap. 5.3.2.4), so ist diese nicht aus dem Zeitgeist heraus zu begründen, sondern mit dem neutestamentlichen Zeugnis. Pannenberg führt hier die paulinische Nennung unterschiedlicher weiblicher Mitarbeiter in den Gemeinden an, die paulinische Kritik an einer Unterordnung der Frau unter den Mann sowie vor allem Gal 3,27f, wonach die Taufe alle Unterschiede unter den Getauften aufhebt. Die Getauften sind durch die Aufhebung aller Unterschiede zwar nicht gleich in ihrem Sein, aber gleich in ihrer Bestimmung. Daher war die Einführung der Frauenordination theologisch notwendig, allerdings wären zur besseren Plausibilisierung ökumenische Konsultationen vorteilhaft gewesen. Wie in den Ausführungen zur Verhältnisbestimmung von allgemeinem und besonderen Priesteramt herausgestellt, sieht Pannenberg den Ursprung des kirchlichen Amtes in dem im 2. Jh. entstehenden Episkopenamt. Ihm ist zu Recht die Leitung der Gemeinde zusammen mit der Verantwortung für die Lehre übertragen worden. Dieser Befund ist auch für die Stufung des Leitungsamtes von Bedeutung (Kap. 5.3.3). Dem Amt ist aufgetragen, die verschiedenen Be-

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Schlussbetrachtungen

reiche und Vollzüge der Kirche zu einer Einheit zu integrieren, die auf Jesus Christus gegründet ist. Dies betrifft die verschiedenen Bereiche einer Gemeinde genauso wie die Gemeinschaft der verschiedenen Ortsgemeinden untereinander. Die regionale Leitung wurde dabei ab dem 4. Jh. den Bischöfen übertragen. Der Unterschied zum Pfarramt betraf dabei lediglich den regionalen Umfang. Das lokale wie das regionale Amt haben daher episkopalen Charakter. Für den kirchlichen Konsens ist es dabei gleichgültig, welches Amt aus welchem abgeleitet wird. Wird das presbyteriale Amt als das primäre betrachtet, ist darin berücksichtigt, dass das kirchliche Leitungsamt zuerst auf lokaler Ebene entstanden ist. Ist das bischöfliche Amt das primäre, dann zeigt sich darin, dass das Amt des Bischofs traditionell zum Amt für den Dienst an der Einheit geworden ist. Unabhängig davon, die Kirche bleibt auf beide Ämter angewiesen. Analoges gilt auch für ein universales Leitungsamt.49 Auch dieses ist als Dienst an der Einheit und deren Repräsentation zu begreifen. Pannenberg schließt sich der im ökumenischen Dialog eingebrachten Forderung der lutherischen Kirche an, dass zur Anerkennung des geschichtlich gewachsenen Primats des römischen Bischofs das Papstamt theologisch reinterpretiert und umstrukturiert werden muss. Er benennt vier entscheidende Forderungen: 1. Die Begründung des päpstlichen Primats darf nicht mehr durch die Annahme einer Einsetzung des Petrus durch Jesus geschehen. Eine solche ist exegetisch nicht haltbar. Petrus steht vielmehr paradigmatisch für die Aufgabe der Apostel, die Einheit der Kirche zu bewahren. Demgegenüber ist das päpstliche Primat des Bischofs von Rom vielmehr aus der Geschichte erwachsen. 2. Das kirchliche Amt ist auf allen kirchlichen Ebenen als Lehramt zu begreifen. Auf universalkirchlicher Ebene kommt den ökumenischen Konzilien herausragende Bedeutung zu. Indem sie die Gesamtkirche repräsentieren, partizipieren sie in besonderem Maße an den Verheißungen Christi. Die Wahrheit ihrer Aussagen hängt an ihrer Rezeption durch die gesamte Christenheit. Dies entspricht den religionstheoretischen Ausführungen Pannenbergs, dass es die Anhänger einer Religion sind, die über ihre Wahrheit entscheiden. Die gleiche Voraussetzung gilt für lehramtliche Äußerungen des Papstes, die nur dann wahr und somit irrtumslos sind, wenn sie durch die Christenheit rezipiert werden. 3. Auch das päpstliche Jurisdiktionsprimat muss neu bestimmt werden. Pannenberg schlägt dabei vor, die Funktionen des römischen Bischofs gegenüber der römisch-katholischen und der universalen Kirche zu trennen. Gegenüber letzterer hat er eine zentrale Aufgabe: Er muss ihrer Einheit dienen, daher müssen Kollegialität und Subsidiarität für ihn leitend sein. 4. Anwalt der kirchlichen Einheit ist der Papst gerade dann, wenn er in seinen Äußerungen die Mentalität anderer Konfessionen berücksichtigt und immer 49 Vgl. Kap. 5.3.3.1.

Die Erwählungslehre Pannenbergs als Theologie der Geschichte

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wieder zu den von Rom getrennten Kirchen reist und sich dabei öffentlich zur Ökumene äußert. Unter diesen Bedingungen würde Pannenberg dem Bischof von Rom das universale Leitungsamt zugestehen. Unzweifelhaft ist für ihn, dass ein solches Amt förderlich für die Einheit der Christenheit ist, wenn es die Vielfalt christlicher Deutungen und Vollzüge anerkennt. Pannenbergs Ekklesiologie wie Theologie ist zutiefst ökumenisch bestimmt. Der Aufbruch der ökumenischen Bewegung hat ihn nachhaltig beeindruckt und dieser ist er in seinem akademischen Wirken verpflichtet. Die Möglichkeiten einer in Vielfalt geeinten Kirche sind in seinen Augen immens. Sie könnte dem Christentum zu einer stärker werden Deutungskraft im individuellen wie gesellschaftlichen Leben verhelfen. Denn die Zerrissenheit des Leibes Christi stellt die Authentizität des christlichen Glaubens infrage wie nichts anderes. Dass sein theologisches Denken von der Anerkennung christlicher Pluralität wie generell menschlicher Pluralität getragen ist, heißt dabei nicht, dass diese Pluralität grenzenlos ist. So hat Kap. 5.2.3 gezeigt, dass es in seinen Augen innerhalb der Christentumsgeschichte durchaus notwendige Spaltungen gegeben hat. Immer dann nämlich, wenn eine christliche Bewegung oder Tradition die Einheit des kirchlichen Glaubens verlassen hat. Wo aber endet diese Einheit? Die ökumenische Theologie Pannenbergs begrenzt die kirchliche Einheit meines Erachtens mit zwei entscheidenden Pfeilern, die zusammenhängen: Zum einen ist die Einheit der Glaubenden in ihrer Beziehung zu Christus fundiert. Die Gemeinschaft mit ihm ist die Grundlage kirchlicher Einheit. Mit ihm in Beziehung zu stehen, heißt für Pannenberg, auf dem Boden kirchlicher Lehre zu stehen, die ihn in ihrer Deutung erfasst. Ob eine christliche Lehre dies tut, entscheidet zum anderen die Gesamtheit der Gläubigen. Ihre zustimmende und aneignende Rezeption bestimmter Traditionen zeigt deren Wahrheit. In ihrem Leben müssen sich die religiösen Gehalte als tragfähig erweisen. Somit ist die Einheit der Kirche nie vollends realisiert, sondern ein dynamischer Prozess. Sie ist nicht gegeben, sondern um sie muss immer wieder gerungen werden. An diesem Ringen ist die gesamte Kirche beteiligt, denn ihr ist in Mt 16,18 verheißen, dass die Pforten der Hölle sie nicht überwinden werden.

7.5

Die Erwählungslehre Pannenbergs als Theologie der Geschichte

Die Erwählungslehre bildet den Abschluss der Ekklesiologie Pannenbergs. Standen bisher die Wesensbestimmungen der Kirche im Fokus, die danach fragen, was Sinn und Zweck der Kirche ist, wird in der Erwählungslehre ihre ge-

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Schlussbetrachtungen

schichtliche Konkretion thematisiert. Leitend ist dabei die Bezeichnung der Kirche als Gottesvolk. Erfasst der Begriff des Leibes Christi das Wesen der Kirche, so nimmt der Begriff des Gottesvolkes ihren geschichtlichen Vollzug in den Blick. Die Erwählungslehre ist für Pannenberg also der Ort, an dem in der systematischen Reflexion auf die Kirche ihre geschichtliche Gestalt im Mittelpunkt steht. Denn Teil der Erwählung ist die Sendung der Erwählten in die Welt und deren Geschichte. Dass die Erwählungslehre und damit die geschichtliche Konkretion der Kirche den Schlussstein bildet, hat einen sachlichen Grund: Ihre Bestimmung geht ihrer geschichtlichen Konkretion voraus (Kap. 6.1). Dies lässt sich an der Taufe plausibilisieren. In der Taufe erhält der Täufling Anteil an der Bestimmung, die ihm vorgegeben ist, indem seine Bestimmung antizipativ vorweggenommen wird. Damit diese Vorwegnahme nicht folgenlos bleibt, ist sie auf Nachvollzug und Aneignung im geschichtlichen Leben angewiesen. Pannenberg konkretisiert diesen Gedankengang mit dem Begriff des Lebensideals. Das Lebensziel des Einzelnen ist seine Identität, die er durch Lebensideale verwirklichen will. Letztere werden also an der Bestimmung ausgerichtet. Sie sind somit für Pannenberg religiös verwurzelt, da die Bestimmung des Einzelnen in Gott gründet. Gleiches gilt für die Lebensideale von Kulturen. Auch sie sind nach Pannenberg an der vorgegebenen göttlichen Bestimmung ausgerichtet. Wird Gott dabei in einer Gemeinschaft als in der Geschichte erfahrbar geglaubt, sind deren Lebensideale geschichtlich begründet. Der göttliche Grund der Lebensideale wird daher im Bewusstsein von Erwählung und Berufung erfahren. Ein solches Erwählungsbewusstsein, in welchem die kulturelle Lebensordnung einer Gemeinschaft geschichtlich begründet ist, eignet dem Volke Israel, welches sich als von Gott in der Geschichte erwählt verstanden hat. Von hier hat das Christentum das Selbstverständnis als Volk Gottes übernommen. Teil des Volkes Israels wurde der Einzelne durch die leibliche Geburtenfolge. Teil des christlichen Gottesvolkes wird der Einzelne hingegen durch die Taufe. Seine Gemeinschaft ist somit eschatologisch begründet, da der Einzelne in der Taufe Anteil am Leben des Auferstanden hat und dadurch Teil der christlichen Gemeinschaft wird. Der Nachvollzug der dort zuteilgewordenen Bestimmung vollzieht sich im Bewusstsein von Erwählung und Berufung. Dort nämlich, wo sich der Einzelne über seine Berufung klar wird und sich von ihr ergreifen lässt, wird er instand gesetzt, seine Bestimmung zu verwirklichen, zu der er erwählt ist. Analoges gilt für die Gemeinschaft der Kirche. Auch sie lebt in einem auf ein Ziel ausgerichteten geschichtlichen Prozess, der durch Erwählung, Berufung und Sendung begründet ist. Dass Pannenberg den Gottesvolkbegriff auf die Kirche anwendet und sie damit der Erwählungslehre zuordnet, ist mit dem Interesse verbunden, die traditionelle Erwählungslehre zu transformieren und dabei deren Aporien zu lösen (Kap. 6.2). Die klassische Erwählungs- und Prädestinationslehre sieht Pannen-

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berg paulinisch bestimmt, durch den Rückgriff auf Röm 9–11 und Röm 8,28–30 (Kap. 6.2.1). Paulus selbst legte hier das Gewicht auf das göttliche Geschichtshandeln, bezogen auf dessen Heilsplan in Jesus Christus. Die Tradition hingegen legte das Gewicht auf die Erwählung des Einzelnen. Erwählung wurde als eine von Gott vor der Zeit gefällte Entscheidung verstanden, die über Verwerfung und Heil des Einzelnen bestimmt. Grundgelegt sieht Pannenberg diese klassische Gestalt der Erwählungslehre, die bis in die Reformation wirkte, von Origenes und Augustin. Gegenüber den biblischen Aussagen bleibt sie abstrakt, da sie die Geschichtlichkeit der göttlichen Erwählung ausblendet, sie den Einzelnen unter Absehung seiner Sozialbezüge zu ihrem Gegenstand erklärt und nur sein Heil und nicht seine geschichtliche Sendung thematisiert. Das biblische Erwählungsverständnis legt demgegenüber andere Akzente. Es gründet die göttliche Erwählung auf konkrete geschichtliche Ereignisse und erklärt zu ihrem Gegenstand eine Gemeinschaft. Das Urchristentum wusste sich durch die von Jesus Christus vollzogene Gründung der Kirche einbezogen in das Geschichtshandeln Gottes, welches durch die Kirche die Botschaft von seinem anbrechenden Reich den Menschen zugänglich machen will. Die Gemeinde steht so in einem heilgeschichtlichen Rahmen. Löst man die Einzelnen aus diesem heraus wie in der klassischen Erwählungslehre geschehen, entstehen entscheidende Aporien: Entweder Gott hat vor der Zeit nur wenigen Individuen das Heil zugedacht, wodurch die göttliche Gerechtigkeit massiv infrage gestellt wird, oder das göttliche Heil ist abhängig vom Verhalten des jeweiligen Individuums. Luther und die Konkordienformel weisen über dieses Dilemma hinaus, indem für sie die Erwählung Gottes in der Zuwendung zum Menschen in Jesus Christus getroffen wurde und nicht vor der Zeit. Dann aber stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Erwählung in der Zeit und der ewigen Erwählung. Das traditionelle Erwählungsverständnis hat Folgen für das Verständnis der Berufung (Kap. 6.2.2). Biblisch ist das Ziel der Berufung der Glaube an das Evangelium. Sie ergeht in der Zeit. Ist aber die Erwählung bereits vor der Zeit entschieden, können die Nichterwählten das Evangelium nicht annehmen. Damit ist seine Verheißung selbst infrage gestellt. Pannenberg nun versteht Ewigkeit nicht als Gegenüber zur Zeit, sondern als deren Ermöglichungsgrund. Die Ewigkeit umgreift die Zeit und setzt sie aus sich heraus frei. Daher zielt die ewige Erwählung auf das Ganze der Zeit. Sie ist erst erfüllt, wenn die Zeit erfüllt ist, und das heißt, wenn das Eschaton Realität ist. Denn die Erwählung wird im Anschluss an Eph 1,10 erst an ihr Ziel gelangt sein, wenn alles in Jesus Christus zusammengefasst wird. Dies wird erst im Reich Gottes geschehen, denn nur unter der Herrschaft Gottes können alle Geschöpfe an der Vaterbeziehung Jesu endgültig teilhaben. Bis zum Eschaton ist daher die kirchliche Gemeinschaft vorläufige Gegenwart der realisierten Erwählung, denn hier haben die Einzelnen im Glauben, der aus Taufe und Abendmahl lebt, antizipativ Anteil an Jesus Christus

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Schlussbetrachtungen

und so an seiner Vaterbeziehung. Diese Gemeinschaft ist nie eindeutig festgelegt, nie abgeschlossen, sondern ihrem Wesen nach stets offen für die gesamte Menschheit. Die Bestimmung der Schöpfung kann im Glauben proleptisch gegenwärtig werden. Zum Glauben berufen zu sein gibt dem Einzelnen Grund zur Gewissheit seiner Erwählung. In der noch ausstehenden Vollendung der Schöpfung durch die Zusammenfassung im Sohn, wird die Individualität und Identität des Geschöpfes gewahrt. Der Schöpfer will die Selbstständigkeit der Schöpfung, indem sie von ihm unterschieden ist. In dieser Selbstständigkeit wird er sie durch das Wirken des Geistes vollenden, welcher schon jetzt die Selbstständigkeit der Geschöpfe ermöglicht, indem er sie an der Vaterbeziehung Jesu teilhaben lässt. Eine Selbstständigkeit, die im Eschaton in vollkommener Gemeinschaft mit Schöpfer und Menschheit realisiert sein wird. Dazu ist der Einzelne erwählt. Darin hat er Anteil an der Bestimmung der gesamten Menschheit. Damit diese Bestimmung gegenwärtig Realität werden kann, muss der Einzelne seine Berufung zum Glauben annehmen. Letztere ist vermittelt durch die Gemeinschaft der Kirche, in welcher das Evangelium verkündigt und die Sakramente verwaltet werden und die der Gegenstand der göttlichen Erwählung ist. Sowohl in dem Bezug der göttlichen Erwählung auf eine Gemeinschaft als auch in der Vergeschichtlichung der Erwählung sieht sich Pannenberg im Traditionszusammenhang des Alten Testaments verortet (Kap. 6.2.3). Dort war die Erwählung auf das Volk Israel bezogen, das durch seine Erwählung wiederum zum Dienst für die Völker berufen war, um den Willen Gottes vor ihnen zu bezeugen. Im Neuen Testament ist der Einzelne durch seine Erwählung Teil der Gemeinde, der Erwählten Gottes. Grund der Erwählung ist die Zugehörigkeit zu Jesus Christus. Erwählung ist gänzlich vergeschichtlicht. Denn sowohl der Grund der Erwählung, Jesus Christus, als auch die vorläufige Darstellung der endzeitlichen Erwählten in der christlichen Gemeinde sind Teil der Geschichte. Die Erwählung des Einzelnen zeigt sich also darin, dass er Teil des Gottesvolkes ist. Neuem und Altem Testament ist darüber hinaus gemeinsam, dass der göttliche Erwählungswille auf die gesamte Menschheit gerichtet ist. Denn im Gottesvolk ist die Bestimmung der gesamten Menschheit vorweggenommen. Daher ist das erwählte Volk zugleich zum Dienst an der Menschheit bestimmt. Durch die Umbestimmung der Erwählungslehre gegenüber der traditionellen Fassung sind für Pannenberg die Aporien letzter überwunden. In letzterer war Erwählung auf den Einzelnen bezogen und bedeutete immer zugleich Verwerfung. Wird nun eine bestimmte Gemeinschaft zum Gegenstand, bedeutet das zwar auch den Ausschluss anderer Gemeinschaften, die eben nicht erwählt sind. Wird aber das Volk Gottes als vorläufige Darstellung der eschatologischen Menschheit verstanden, ist es offen für die gesamten Menschheit. Die Anzahl derer, die zum Volk dazugehören und dazugehören werden, ist offen. Die Kirche muss durch solche Offenheit bestimmt sein. Gleichzeitig beansprucht sie die Kriterien zu wissen,

Die Erwählungslehre Pannenbergs als Theologie der Geschichte

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nach welchen schon jetzt Gewissheit möglich ist, Teil des Gottesvolkes zu sein: Der von Jesus Christus verkündigte Gotteswille. Wer dem göttlichen Rechtswillen entspricht, der kann gewiss sein, Teil der eschatologischen Menschheit zu sein. Das heißt nicht, dass die Gemeinschaft mit dem Gottesvolk das eschatologische Heil garantiert, und schon gar nicht, dass nicht auch Menschen Teil des eschatologischen Gottesreichs sein können, die nicht Teil des geschichtlichen Gottesvolkes sind. Die Erwählung der Gemeinschaft selbst aber ist unverbrüchlich, sie kann nur verstockt, nie verworfen werden. Die Kirche ist Zeichen der Bestimmung der Menschheit. Dazu ist sie erwählt. In ihrer eigenen Geschichte stand sie immer wieder vor der Versuchung, diese Zeichenfunktion verblassen zu lassen (Kap. 6.3). Und damit verblasste der Sinn für die eigene Partikularität und Vorläufigkeit. Wie Jesus Christus sich vom Gottesreich unterschieden hat, muss die Kirche sich als sakramentales Zeichen für das Gottesreich von letzterem unterscheiden. Dass sie sich mit Recht als Volk Gottes bezeichnet, gründet im Abendmahl und der Rede vom neuen Bund. Damit stellt sich zwangsläufig die Frage nach dem Verhältnis von altem und neuem Bund, von altem und neuem Gottesvolk (Kap. 6.3.1). In der Tradition ist neben polemischen Abhandlungen zu diesem Verhältnis sehr früh die Substitutionsthese entstanden: Das alte wird vom neuen Gottesvolk abgelöst. Bei Paulus findet sich eine andere Bestimmung. Hier ist die Erwählung Israels unverbrüchlich als Ausweis der göttlichen Treue. Die Ablehnung der Botschaft Jesu durch große Teile des jüdischen Volkes deutet Paulus als vorübergehende Verstockung Israels, bis alle Heiden am Heil teilhaben. Sie ist temporär und nicht endgültig. Da alle Menschen Jesus Christus annehmen müssen, um am eschatologischen Heil partizipieren zu können, erwartet Paulus, dass der wiederkehrende Christus identisch ist mit dem jüdisch erwarteten Menschensohn, der bei seiner Wiederkunft den Bund mit Israel erneuert. Dies ist der verheißene neue Bund. Er bleibt bezogen auf den alten und ist zugleich für Nichtjuden zugänglich. Für Pannenberg ist dieser neue Bund der, an dem die christliche Gemeinde im Abendmahl Anteil hat. Darin wird der eschatologische neue Bund bereits jetzt Gegenwart, der bei der Wiederkunft Jesu Christi Israel gewährt wird. Dann werden Israel und Kirche geeint sein. Eine Judenmission ist daher abzulehnen. Das Judentum glaubt bereits an den einen Gott. Das christliche Zeugnis bleibt ihm gegenüber darauf beschränkt, Jesus Christus als endgültige Offenbarung dieses einen Gottes zu verkünden. Dieses Bekenntnis ist die bleibende christliche Anfrage an den jüdischen Glauben. Eine solche differenzierte Verhältnisbestimmung zu Israel ist in der christlichen Geschichte nur selten wirksam geworden. Bereits im Barnabasbrief war das Selbstverständnis als einziges Gottesvolk leitend. Der Sinn für die eigene Vorläufigkeit ist dabei gänzlich unterbestimmt. Gleiches gilt für die Substitutionsthese. Ein folgenschweres Versäumnis: Denn das Verhältnis zum Judentum stellte das Christentum das erste

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Schlussbetrachtungen

Mal vor die Aufgabe, die eigene Partikularität als vorläufige Darstellung des Gottesreiches zu leben. So zu leben, dass religiöse Pluralität das zentrale Kennzeichen des christlichen Selbstverständnisses ist. An dieser Aufgabe ist das Christentum im Verhältnis zu Israel das erste Mal gescheitert. Die in der Kirchengeschichte sich entwickelnde dogmatische Intoleranz und die daraus folgenden Spaltungen haben ihren Grund in diesem falsch bestimmten Verhältnis zum jüdischen Volk. Theologie und Kirche müssen, gerade angesichts der Erfahrungen des 20. Jh., von der paulinischen Offenheit im Verhältnis zum Judentum geprägt sein und auf jedes exklusive Erwählungsverständnis verzichten. Bei Israel meint der Gottesvolkbegriff ein konkretes Volk, mit gemeinsamer Sprache und Kultur. Die Kirche ist demgegenüber ein geistlicher Lebenszusammenhang, der in der Taufe gründet (Kap. 6.3.2). Grund der Kirche ist Jesus Christus, der in Taufe und Glaube Anteil an sich gibt und so die Glaubenden untereinander zur Gemeinschaft verbindet. Der Glaube muss, wie seine Gründung in der Taufe und seine Erneuerung im Abendmahl, die Heiligung des individuellen Lebens nach sich ziehen. Dazu gehört, dass der Glaube sichtbar im Zusammenleben der Glaubenden wird. Es muss erkennbar und erfahrbar sein, aus welchem Geist diese Gemeinschaft lebt. Der Gottesvolkbegriff zeigt dabei noch einmal das kritische Potential des Christentums. Denn eine im christlichen Sinne vollkommene Gemeinschaft ist erst eschatologisch realisiert, daher können für die geschichtliche Gemeinschaftsgestaltung nur Impulse aus dem christlichen Glauben ausgehen. Dabei meint die Bezeichnung als Gottesvolk nicht nur die Kirche, sondern einen christlich bestimmten Lebenszusammenhang. Im Begriff des Gottesvolkes sind das Gegenüber von Staat und Kirche umgriffen, auch wenn das Christentum deren Trennung aus sich heraus freigesetzt hat. Der Gottesvolkbegriff enthält daher für Pannenberg das Potential, das Verhältnis von Staat und Kirche so neu zu bestimmen, dass deren Trennung bejaht wird, aber sie dennoch als Teil eines gemeinsamen gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs begriffen werden. Die göttliche Erwählung ermöglicht nach Pannenberg dem erwählten Gottesvolk eine Geschichte (Kap. 6.4). Deren Beginn ist die Erwählung selbst, durch welche sie gleichzeitig auf ein Ziel, auf ihre Bestimmung ausgerichtet wird. Die im Alten Testament gedeutete Geschichte Israels zeigt ein solches Verständnis. Diese Geschichte beginnt mit der Herausführung aus Ägypten und ihr weiterer Verlauf wird an dem bei dieser Herausführung gestifteten Bund beurteilt. Ist ein solches Selbstverständnis im Alten Orient analogielos, zeigen sich darin dennoch für Pannenberg verallgemeinerbare Züge (Kap. 6.4.1): Auch die anderen Kulturen des Alten Orients haben ihre Gesellschafts- und Lebensordnung als religiös begründet erfahren. Allerdings als eine Repräsentation der kosmischen Ordnung. Demgegenüber sieht es Pannenberg heute als erwiesen an, dass jede Kultur sich geschichtlicher Gründe verdankt. Der Erwählungsglaube Israels erfasst einen

Die Erwählungslehre Pannenbergs als Theologie der Geschichte

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solchen geschichtlichen Ursprung besser als dessen kosmologische Begründung. Denn auch in der Kosmogenie Mesopotamiens z. B. gründen deren politische Veränderungen auf geschichtlichen Ursachen. Eine erwählungstheologische Begründung der eigenen Herrschaftsordnung wird diesem Sachverhalt gerechter, weil es die geschichtlichen Ereignisse in sich integrieren und einen geschichtlichen Zusammenhang stiften kann. Im kulturgeschichtlichen Vergleich zeigt sich noch einmal das Charakteristikum des israelitischen Erwählungsglaubens, in dem die eigene Heilsgeschichte gründet. Es ist der Bezug der Erwählung auf das ganze Volk, dessen gesellschaftliche Lebensordnung durch den Bundesgedanken begründet wird. Ein solches Verständnis ist auf das Selbstverständnis anderer Kulturen übertragbar, weil es deren geschichtliche Wandelbarkeit angemessener religiös begründen kann als das mythische Bewusstsein. Eine solche theologische Interpretation der Geschichte wendet Pannenberg auf die Geschichte des Christentums an. Die entscheidenden Kategorien sind bei dieser Deutung die Bundesverpflichtung, die Sendung des erwählten Volkes sowie das Gericht am Volk, wenn es im Widerspruch zu Bund und Sendung lebt. Pannenberg leitet aus seinem Erwählungsverständnis vier Leitlinien ab, welche für ein christliches Geschichtsverständnis grundlegend sind (Kap. 6.4.2). Zuerst ist dies die göttliche Erwählung und Offenbarung. Damit ein Volk sich als erwählt weiß, muss es um seine Erwählung und den erwählenden Gott wissen. Im Glauben Israels ging eine solche Offenbarung mit der Selbstverpflichtung Gottes einher, an seinem Bund treu festzuhalten. Die zweite Leitlinie ist das Verhältnis von Erwählung und Entsprechung. Die Erwählten müssen ihrer Erwählung entsprechen. Im Alten Bund zeigt sich dies im Gebot, das göttliche Gesetz einzuhalten, bzw. in der Forderung, dass das Volk heilig sein soll. Diese ethische Konsequenz sieht Pannenberg im modernen Christentum zu sehr verblasst. Der dritte Aspekt ist der Zusammenhang von Erwählung und Mission. Inhalt der Mission ist es, den göttlichen Rechtswillen zu bezeugen, der auf die Erneuerung der Menschheit zielt, auf der Grundlage der Gemeinschaft mit Gott. Dabei geht es nicht um moralische Belehrung, sondern darum, dass das Gottesvolk selbst den göttlichen Rechtswillen einhält. Dies beinhaltet das Gericht Gottes über das erwählte Volk, dann nämlich, wenn es dem göttlichen Recht widerspricht. Im Zusammenhang von Erwählung und Mission zeigt sich, dass die Aussonderung des erwählten Volkes aus der Welt und dessen Sendung an die Welt zusammengehören. Grundlage der christlichen Missionspraxis ist der Glaube an die in Jesus Christus angebrochene Gottesherrschaft, die durch die Auferstehung allen Menschen zugänglich ist. Die in der Auferstehung gegenwärtige Bestimmung der Menschheit zu bezeugen vor der Welt, ist die christliche Mission. Die vierte Leitlinie ist der Zusammenhang von Erwählung und Gericht. Ein Bewusstsein davon, dass Gott auch der Richter seines Volkes ist, zeigt, ob letzteres seine Erwählung und seine Geschichte ganz der Souveränität Gottes unterordnet. Das

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Schlussbetrachtungen

Gericht selbst trifft nicht nur das Volk Gottes, aber ihm ist es möglich, widerfahrene Katastrophen als göttliches Gericht zu begreifen. Andere Völker trifft dieses blind, indem sie den Folgen ihrer Taten überlassen werden. Diese vier Leitlinien ermöglichen es der Theologie, die Geschichte der Kirche wie der Menschheit theologisch zu interpretieren. Nur so wird der Weltregierung Gottes theologisch Rechnung getragen. Eine solche Geschichtsdeutung ist für Pannenberg nicht supernatural, sondern deskriptiv, indem sie mit dem Handeln Gottes in konkreten geschichtlichen Ereignissen rechnet. Sie ist wie jede Deutung daran zu beurteilen, wie adäquat sie den von ihr zu deutenden Gegenstand erfasst. Und wie alle Deutungen bleibt sie so offen für eine zukünftige Überholung. Die vorgetragenen Leitlinien sind Ausgangspunkt für Pannenbergs eigene Deutung der Christentumsgeschichte (Kap. 6.4.3). Grundlage einer solchen Deutung ist die Überzeugung, dass Gott in der Geschichte handelt. Diese Überzeugung hat Pannenberg programmatisch bereits 1961 in Offenbarung als Geschichte vorgetragen und zeitlebens vertreten. Schließt die Theologie selbst die Möglichkeit solchen göttlichen Handelns aus, liefert sie Argumente für den Atheismus. Kirchengeschichte verkommt dann zu einer Bestreitung des christlichen Glaubens, weil sie Gott aus einem bestimmten Bereich menschlichen Lebens ausschließt und so für seine Ohnmacht eintritt. Für Pannenberg ist es Folge der Unvoreingenommenheit wissenschaftlichen Arbeitens, nicht a priori Möglichkeiten auszuschließen. Seit dem 16. Jh. entstand eine Entwicklung, welche die Geschichte als eine rein menschliche Geschichte interpretierte. Mit der pragmatischen Geschichtsschreibung im 18. Jh. wurde diese Entwicklung verstärkt. Göttliches Eingreifen in die Geschichte wurde als Wunderglaube abgetan. Das göttliche Handeln wurde in Konkurrenz zu menschlichem Handeln begriffen, analog zu den Naturwissenschaften. Aber Schöpfer und Geschöpf stehen nicht in Widerspruch zueinander. Vielmehr wirkt der Schöpfer im Handeln seiner Geschöpfe. Die Auffassung der Weltregierung Gottes sieht Pannenberg im Bereich der Kirchengeschichte durch die Erwählungsvorstellung angemessen zum Ausdruck gebracht. Diese Vorstellung verbindet die kirchliche Geschichte mit dem göttlichen Handeln, indem die Kirche durch ihn berufen und gesendet ist. Gleichzeitig bleiben Gott und Kirche unterschieden, indem Gott der souverän Handelnde ist, der sein Handeln an ihr auch und gerade im Gericht zeigt. Die zentrale Sendung der Kirche besteht in der Mission. Sie muss Zeugnis ablegen von der universalen Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Wo sie dieses Zeugnis nicht authentisch ablegt, kommt es zum göttlichen Gericht. Pannenberg hat 1978 in Die Bestimmung des Menschen eine eigene, rudimentäre Kirchengeschichte vorgelegt.50 Er geht davon aus, dass die Bestimmung der Kirche in der Geschichte verschiedene Formen angenommen hat. Jede Ge50 Vgl. Kap. 6.4.3.1.

Die Erwählungslehre Pannenbergs als Theologie der Geschichte

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staltwerdung führte zu bestimmten Versuchungen, auf die das göttliche Gericht folgte, sobald die Kirche ihnen erlag. Die erste Phase dieser Geschichte war das christliche Imperium. Diese Phase, die bereits vor der Konstantinischen Wende begann, war von dem Verlangen geprägt, alle Lebensbereiche der Herrschaft Christi unterzuordnen. Die Versuchung lag darin, die eigene Erwählung zu verabsolutieren. Ihr erlag die Kirche erst gegenüber dem Judentum, dann im byzantischen Imperium, in welchem der Kaiser auf dogmatische Uniformität drang. Das Gericht ist der Siegeszug der islamischen Heere, durch welche das Christentum seine Ursprungsgebiete sowie Ägypten und Nordafrika verlor. Die zweite Phase ist dadurch charakterisiert, dass dem kirchlichen Amt alle Autorität, auch in weltlichen Dingen, zugeschrieben wurde. Das Amt wurde zu einer hierarchischen, sakralrechtlichen Ordnung im Bewusstsein dogmatischer Exklusivität. Gottes Gericht darüber erblickt Pannenberg in den Kirchenspaltungen der Reformation und den daraus folgenden konfessionellen Kriegen. Die dritte Phase der abendländischen Neuzeit sieht Pannenberg ebenfalls in kultureller Hinsicht vom Christentum geprägt, trotz der Privatisierung des Religiösen. Die Prägung besteht in der Verwirklichung des Prinzips der religiösen und politischen Freiheit im gesellschaftlichen Leben. Darin realisiert sich die von der Reformation als Wesensgehalt des Glaubens bezeichnete christliche Freiheit. Aufgrund der Zweideutigkeiten einer solchen rein säkular begründeten Freiheit wurde in der Moderne die Einheit der Kultur ideologisch begründet. Das Gericht Gottes über den Nationalismus, der die religiöse Leerstelle besetzte, zeigt sich in dessen selbstzerstörerischen Konsequenzen im ersten und zweiten Weltkrieg. Dennoch ist die Verwirklichung des Prinzips der Freiheit für Pannenberg noch nicht beendet, obgleich er im Sozialismus das nächste Gericht erblickt. Die Erwählungslehre Pannenbergs, die seine Ekklesiologie beendet, zeigt noch einmal zwei wesentliche Grundanliegen seines gesamten theologischen Entwurfs. Zum einen den konstitutiven Charakter der Eschatologie. Alle theologischen Topoi werden von dem in Jesus Christus offenbarten Reich Gottes abgeleitet: Das Eschaton ist die Bestimmung der Schöpfung. Gott selbst hat sich erst endgültig realisiert, wenn sein Reich heraufgeführt ist. Der Mensch ist das, was er ist, erst von diesem Eschaton her.51 Zum anderen zeigt sich in der Erwählungslehre die zentrale Stellung der Geschichte in Pannenbergs theologischem Denken. Er will 51 Zum konstitutiven Charakter der Eschatologie bei Pannenberg vgl. Axt-Piscalar, Eschatologie. Darin hält sie zu Beginn fest: „Die Eschatologie ist bei Pannenberg nicht nur letzter Abschnitt einer im großen und ganzen nach dem heilsgeschichtlichen Aufriß aufgebauten Dogmatik. Vielmehr bildet sie den Bedeutungshorizont, der das Ganze der Systematischen Theologie in ihrer Durchführung voranbringt und zugleich die einzelnen Lehrstücke inhaltlich durch die eschatologische Perspektive bestimmt sein läßt.“ Axt-Piscalar, Eschatologie, 130.

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Schlussbetrachtungen

sie nicht ausschließen aus dem Wirkbereich Gottes. Und er will sie nicht ausschließen aus den Artikulationsmöglichkeiten des Glaubens. Die Geschichte ist von fundamentaler Bedeutung für den Menschen und für Gott. Sie ist es für den Menschen, da hier sein konkretes Leben stattfindet. Die Bestimmung, zu der er erwählt ist, vollzieht sich in diesem Leben. Es hat eine Bedeutung für seine Bestimmung und damit eine Bedeutung für die Ewigkeit. Die konkrete Identität des Einzelnen, seine konkrete Geschichte wie die Geschichte der gesamten Menschheit ist es, die vollendet in die Ewigkeit eingehen. Und die Geschichte ist für Gott von fundamentalem Wert, indem er sich an diese Geschichte bindet. Er will die Geschichte seiner Schöpfung und liefert sich dieser aus, da er in ihr strittig ist. Er setzt sie aus seiner Ewigkeit heraus frei und gibt ihr ewige Bedeutung, insofern sie in vollendeter Gestalt in seine Ewigkeit eingehen wird. Eschaton und Geschichte sind also aufeinander bezogen, insofern das Eschaton die Zukunft der Geschichte ist und letztere allererst ermöglicht. Zugleich sind sie voneinander unterschieden, denn die Geschichte ist noch nicht das Eschaton. Diese fundamentale Unterscheidung zementiert sich noch einmal in der Erwählungslehre Pannenbergs. Ihrer muss sich die Kirche bewusst sein, will sie Zeichen ihrer Bestimmung sein. Dieser Unterschied hat die Pluralität menschlichen Seins und Denkens zur Folge, da alles erst in der Zukunft Gottes vollkommen verwirklicht ist. Dieser Unterschied bedeutet die Möglichkeit der Veränderung, da in der Geschichte nichts endgültig ist und alles von der Zukunft überholt werden kann. Aber dieser Unterschied bedeutet auch die Verpflichtung, gerade für die Kirche, zu realisieren, wozu sie berufen ist, sichtbar werden zu lassen, wozu sie bestimmt ist. Und dieser Unterschied bedeutet die Möglichkeit des Gerichts, immer dann, wenn die Kirche ihrer Bestimmung, ihrer Zukunft nicht entspricht. Gott ist der souverän Handelnde, er ist der Herr der Geschichte. Als solcher wirkt er in der Geschichte durch das Leben und Wirken seiner Geschöpfe. Als ein souverän Handelnder zeigt er sich auch in seinem Gericht über seine Geschöpfe, wenn er sie den Folgen ihre Handelns preisgibt. Pannenberg will mit der Kategorie des Gerichts sowohl den Abfall der Kirche und der Menschen von ihrer Bestimmung als auch die Erfahrung geschichtlicher Katastrophen in die theologische Deutung der Wirklichkeit integrieren. Ist Gott die alles bestimmende Wirklichkeit, so müssen auch diese Erfahrungen in den Glauben an Gott integriert werden können. Sie müssen religiös angeeignet werden bzw. religiös artikulierbar sein. Der Ausgangspunkt dieser wie aller theologischer Reflexion der Wirklichkeit ist die Erfahrung mit dieser Wirklichkeit. Auch Erfahrungen der Schuld und des Leids sind so Anlass theologischer Interpretation. Dieses Anliegen ist der Grund, auf welchem Pannenberg die Geschichte der Kirche interpretiert. Dabei identifiziert er in konkreten geschichtlichen Ereignissen das Gericht Gottes über die Kirche. Ein Gericht, was in den angeführten Kriegen nicht nur die Kirche, sondern die Menschheit trifft. Meines Erachtens ist an dieser

Impulse aus der Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs

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Stelle der Sinn für die eigene Vorläufigkeit, für die Vorläufigkeit des eigenen Verstehens unzureichend umgesetzt, trotz dem von Pannenberg immer mitgesetzten Vorbehalt jeder theologischen Aussage. Außerdem wird in seinen Analysen der Multikausalität geschichtlicher Ereignisse zu wenig Rechnung getragen. Sicherlich besteht ein Zusammenhang zwischen den Kirchenspaltungen des 16. Jh. und den kriegerischen Auseinandersetzungen des 16. und 17. Jh. Allerdings sind dessen Ursachen unzureichend beleuchtet, wenn diese nur auf die kirchlichen Spaltungen zurückgeführt werden. Vor allem aber wird durch eine solche Identifikation des göttlichen Handelns mit konkreten Ereignissen der Geschichte eine entscheidende theologische Herausforderung des 20. Jh. umso dringlicher, die Pannenberg gänzlich unberührt lässt: Die Frage einer Theologie nach Auschwitz.52 Wenn die Offenbarung Gottes in der Geschichte für jeden erkennbar ist, der Augen hat, wie Pannenberg 1961 schreibt,53 ist das 16 Jahre nach dem Holocaust eine Aussage von weitreichender Konsequenz. Was bedeutet es für Gott als den Herren der Geschichte, dass solche Gräueltaten Teil der Geschichte sind? Wie sind Gerechtigkeit und Macht Gottes vereinbar mit dem Erfahrenen? Ist Gott seinen Verheißungen dem Volk Israel gegenüber treu, wenn er solche unbegreifbaren Grausamkeiten an Menschen jüdischen Glaubens zulässt? Wenn diese Gräueltaten Teil des Gerichts Gottes an der Kirche sind, die ihrer Bestimmung nicht gerecht geworden ist, wie kann dann an der Liebe und Treue Gottes festgehalten werden? Meines Erachtens steht jede Theologie nach den Ereignissen der ersten Hälfte des 20. Jh. vor diesen Fragen. Ein Entwurf aber, der das geschichtliche Handeln Gottes in den Mittelpunkt der Theologie rückt, ist umso mehr zu Antworten auf diese Fragen herausgefordert. Pannenberg gibt sie in seinem gesamten theologischen Werk leider nicht.

7.6

Impulse aus der Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs

Bereits 1970 mit der Veröffentlichung der Thesen zur Theologie der Kirche hat Pannenberg den wesentlichen Rahmen seiner Ekklesiologie abgesteckt. Heute, fast 50 Jahre später, haben aus meiner Sicht einige seiner zentralen Anliegen nicht an Aktualität verloren, um das Wesen der Kirche zu erfassen und zu begründen. Ich will daher mit sieben entscheidenden Impulsen enden, die sich für mich aus der Auseinandersetzung mit Pannenberg für die Ekklesiologie der Gegenwart ergeben: 1. Die fundamentaltheologische Anthropologie. Pannenberg ist in seinem gesamten theologischen Werk darum bemüht, seine theologischen Überzeugungen 52 Ich teile diese Anfrage mit Koch, Gott, 266f sowie Pöhlmann, Denker, 164. 53 Vgl. Pannenberg, Dogmatische Thesen, 98f.

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Schlussbetrachtungen

anthropologisch zu plausibilisieren. Er tritt daher in einen interdisziplinären Diskurs mit den anthropologischen Wissenschaften ein, in welchem er versucht, die religiösen Dimensionen ihrer Erkenntnisse aufzuzeigen und mit seinem theologischen Entwurf ins Gespräch zu bringen. In einer Epoche, in der jegliche Religion fraglich geworden ist und alle letztgültigen Wahrheitsansprüche dem Individuum anheimgestellt sind, ein für die Theologie notwendiger Schritt. Es ist der wissenschaftliche Versuch, die Gehalte des Christentums am Selbstverständnis des Menschen zu plausibilisieren. Sie werden in einem solchem Diskurs durchsichtig gemacht für Menschen außerhalb der Theologie. Gleichzeitig dient ein solches Verfahren der eigenen Selbstklärung, indem die eigene Theologie anthropologische Tiefe erhält. Ein solches wissenschaftliches Verfahren ist aus meiner Perspektive wiederum die Grundlage für kirchliche Verkündigung und offizielle Verlautbarungen der Kirche. Denn auch diese versuchen, mit dem Menschen über seine Lebenswirklichkeit ins Gespräch zu kommen. Damit dies gelingt, ist eine Klärung darüber unabdingbar, welche Herausforderungen z. B. die eigene Identitätswerdung mit sich bringt oder welche Aufgaben gesellschaftlichen Institutionen zukommen. 2. Passivität und Aktivität des Menschen. Die anthropologischen Grundlagen der Ekklesiologie Pannenbergs sind von dem Bemühen bestimmt, das Ineinander der Passivität des Menschen in seinem Lebensvollzug und seiner aktiven Beteiligung daran zu berücksichtigen. Meines Erachtens weist Pannenberg darin der Theologie einen entscheidenden Weg zur Beschreibung des Menschen. Denn trotz aller menschlichen Subjektivität und Konstruktivität, trotz der individuellen Lebensgestaltung, ist menschliches Leben eben auch verdanktes Leben. Der Mensch schafft sich nicht selbst, er entscheidet nicht selbst darüber, in welche Kontexte er gestellt ist; in welchen Gemeinschaftsbezügen er aufwächst, die ihn prägen. Und gleichzeitig ist er aktiver Teil dieser Bezüge, in denen er mitbestimmt, mit welchen Prägungen er sich identifiziert und mit welchen nicht. Die Theologie kann und muss das Ineinander von Passivität und Aktivität des Menschen artikulieren und stärken. Sie denkt Gott als den Schöpfer, der seine Schöpfung will, in Unterschiedenheit zu ihm selbst. Der seiner Schöpfung wie jedem einzelnen Geschöpf eine individuelle Bestimmung zugedacht hat. Dieses Ineinander von Passivität und Aktivität, von Verdanktsein und kreativem Mittun des Menschen versucht Pannenberg in seinen anthropologischen und ekklesiologischen Arbeiten einzuholen: Die Identität, an welcher der Einzelne beteiligt ist und die ihm doch auch immer entzogen bleibt. Die gemeinsame Welt, die den Menschen vorgegeben ist, die sie nicht aus dem Nichts erschaffen, und an dessen Ausgestaltung sie gleichzeitig fortwährend mitwirken. Der Lebenszusammenhang der Kirche, auf welchen der Einzelne angewiesen ist, um zum Glauben zu gelangen, und gleichzeitig die Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Gott, die das Ziel allen kirchlichen Wirkens ist. Die Religionen, die sich der Offenbarung der

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göttlichen Wirklichkeit verdanken, über deren Wahrheit aber ihre Anhänger entscheiden. 3. Der sakramentale Vollzugscharakter der Kirche. In seiner Ekklesiologie stellt Pannenberg den Vollzugscharakter der Kirche in den Mittelpunkt. Sie ist das, was sie wesentlich ist, im eucharistischen Gottesdienst. Sie ist folglich das, was sie ist, in einem Geschehen. Einem erfahrbaren Geschehen, in welches sich die Teilnehmenden einordnen, an welchem sie partizipieren können. Aus meiner Perspektive ist mit der Betonung des Vollzugscharakters der Kirche einer Vereinseitigung auf das verkündigte Wort entgegenzutreten. Vielmehr ist die Verkündigung des Wortes Teil des sakramentalen Gottesdienstes und hat darin eine besondere, unabkömmliche Funktion. Es unterstützt die Gemeinde, in das Geschehen einzustimmen, indem es dessen Gehalte expliziert. Dergestalt expliziert, dass die Bedeutung des Gottesdienstes für das Leben der daran Teilnehmenden plausibilisiert wird, über den gottesdienstlichen Vollzug hinaus. Die Predigt dient darin dem sakramentalen Geschehen des Gottesdienstes sowie der Gemeinde und beide sind auf diesen Dienst angewiesen. 4. Sakramentales Handeln als gesellschaftliche Verantwortung der Kirche. Pannenberg tritt für die gesellschaftliche Verantwortung der Kirche ein. Allerdings nicht mit einem gesellschaftlichen Programm. Vielmehr muss die Kirche ihr sakramentales Wesen vollziehen, um ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Sie stellt darin die Bestimmung der Menschheit dar und ermöglicht den Teilnehmenden Zugang zu dieser Bestimmung. Dies ist die politische Verantwortung der Kirche. Sie entspricht darin Jesu Wirken selbst, der den Menschen das Reich Gottes brachte und sie im Glauben daran allen absoluten Ansprüchen dieser Welt enthob. In einer so bestimmten Verantwortung der Kirche für die Welt sehe ich einen der zentralen Verdienste Pannenbergs. Der Kirche ist kein politisches Programm, keine politische Botschaft aufgegeben. Sie zeigt vielmehr die Grenze jeder politischen Gestaltung auf, indem sie die eschatologische Bestimmung der Menschheit vermittelt. Sie ist sakramentales Geschehen und nur dadurch politisch. Das schließt weder diakonisches Handeln noch öffentliche Äußerungen zu politischen Themen aus. Im Gegenteil, es setzt sie frei. Sie werden immer dann nötig, wenn die Gesellschaft, in der die Kirche lebt, den Menschen dieser Gesellschaft die Möglichkeit verbaut, ihrer Bestimmung näher zu kommen. Die Kirche tritt daher für die Gemeinschaft ein, um sie vor absoluten Ansprüchen des Einzelnen zu schützen. Und sie tritt für den Einzelnen ein, um ihn vor absoluten Ansprüchen der Gemeinschaft zu schützen. Sie tut dies als Folge ihres sakramentalen Handelns, indem sie darin das Zeichen, das sie ist, sichtbar werden lässt. Sie ist sich aber der Vorläufigkeit ihres öffentlichen Handelns bewusst, sowohl ihrer kirchlichen Äußerungen als auch ihrer diakonischen Tätigkeiten. Diese sind vorläufig, da sie die Gesellschaft an die ihr aufgegebenen Pflichten erinnern. Und sie sind vorläufig, weil

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Schlussbetrachtungen

das, dem sie dienen, erst im Eschaton Realität sein wird: Eine in Frieden und Gerechtigkeit lebende Menschheit, die in dieser Welt am sichtbarsten im eucharistischen Gottesdienst wird. 5. Der Primat des göttlichen Grundes in der religiösen Erfahrung. Die religionstheoretischen Darlegungen Pannenbergs sind der Einsicht verpflichtet, dass in der religiösen Erfahrung des Menschen dem göttlichen Grund der Primat zukommt. Gerade für die Beschreibung und Erfassung theistischer Religionen ist meines Erachtens diese Einsicht grundlegend. In ihnen ist Gott der Handelnde, Gott der Zuvorkommende, Gott der Tragende, Gott der Absolute, von dem sich das religiöse Subjekt erfasst empfindet. In der theologischen Reflexion auf die Religion ist von der religiösen Erfahrung auszugehen und das Primat des göttlichen Grundes in dieser Erfahrung ernst zu nehmen. Die Selbsttätigkeit des Menschen, seine Mitwirkung und konstruktive Leistung ist zugleich bei Pannenberg berücksichtigt, als dass der Einzelne an der Deutung der religiösen Erfahrung konstitutiv beteiligt ist. Die religiösen Deutungen sind daher notwendig plural. Aber trotz Mitwirkung, trotz eigener Deutungsleistung ist es der geglaubte Gott selbst, der in der Perspektive des gläubigen Subjektes in diesen Deutungen seine Wahrheit erweist, wenn sich der Glauben als tragfähig im Leben des Einzelnen bewährt. 6. Die notwendige Pluralität in der Vorläufigkeit dieser Welt. Pluralität steht nicht nur in der Ekklesiologie, sondern in dem gesamten theologischen Werk Pannenbergs im Zentrum. Er deckt darin meiner Meinung nach eine Grundsignatur des menschlichen Lebens wie des christlichen Glaubens auf. Pluralität ist Folge der Vorläufigkeit dieser Welt, welche wiederum Folge des Zukunftsbezuges allen Seins ist. Da alles Sein erst im Reich Gottes endgültig offenbar sein wird, ist die Deutung jedes Seins in dieser Welt vorläufig und dadurch notwendig plural. Aber auch das Sein selbst ist notwendig Pluralität, da Gott mit seiner Schöpfung die Vielfalt der Geschöpfe erschaffen hat. Christliche Theologie entspricht dieser Pluralität, indem sie die Vielfalt geschaffenen Lebens bejaht und die Vielfalt der Lebensdeutungen bejaht als Teil dieser Welt. Möglich ist eine solche Bejahung aufgrund der Botschaft und des Wirkens Jesu Christi, der das Reich Gottes und damit die Vollendung der Welt von sich unterschied. Nur die Vollendung ist endgültig. Die Folge dieser Einsicht ist Demut, gerade hinsichtlich der Möglichkeiten des eigenen Erkennens und Urteilens. Das Bekenntnis zur Pluralität ist noch weiter zu fassen, als dies bei Pannenberg selbst geschieht. So endet für ihn z. B. christliche Pluralität bei der Anerkennung von Homosexualität und politische Pluralität bei dem Ideal der multikulturellen Gesellschaft. In beidem wird seine Überzeugung sichtbar, dass es in der Vielfalt der Deutungen und Lebensentwürfe eben doch die bzw. den einen gibt, die bzw. der die Wahrheit erfasst. Eine Wahrheit aber, die Gott erst im Eschaton offenbaren wird. Daher ist Pannenbergs Grundintention

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gegen ihn weiter zu stärken. Seinen Grundaussagen zur Pluralität folgend ist Homosexualität als Teil der von Gott geschaffenen Vielfalt des Lebens anzuerkennen. Und die multikulturelle Gesellschaft ist anzuerkennen, wenn diese bedeutet, dass die verschiedenen Kulturen, die in einer Gesellschaft vertreten sind, grundsätzlich anerkannt sind, als Versuch die Lebenswirklichkeit des Menschen zu deuten. Eine solche Anerkennung schließt nicht aus, dass die verschiedenen kulturellen Traditionen darüber streiten, welche die Wirklichkeit angemessener deutet. 7. Die Einheit der Kirchen als Gebot des Glaubens. Dass für Pannenberg Pluralität eine Grundsignatur des christlichen Glaubens ist, hat zur Folge, dass die Pluralität der Konfessionen und unterschiedlichen christlichen Traditionen notwendige Folge des Glaubens an Jesus Christus ist. Denn unter endlichen Bedingungen ist es gar nicht anders möglich, als dass die Bedeutung der göttlichen Offenbarung in Jesus Christus auf vielfältige Weise ausgelegt wird. Diese Vielfalt ist anzuerkennen. Sie ist aber nicht eine Vielfalt, welche die Einheit auflöst. Vielmehr ist auch die Einheit der Kirchen notwendige Folge des Glaubens an Jesus Christus. Im Glauben an Jesus Christus, in der Verbundenheit mit ihm, die in der Taufe gegründet ist und im Abendmahl erneuert wird, partizipiert der Einzelne nicht nur an Jesus Christus. Er ist zugleich Teil einer Gemeinschaft derer, die ebenfalls mit Christus in Glaube, Taufe und Abendmahl verbunden sind. Der Einzelne ist darin verbunden mit der gesamten christlichen Kirche zu allen Zeiten und an allen Orten. Die im Glauben des Einzelnen begründete Gotteskindschaft ist nie nur ein privates Verhältnis. Vielmehr ist der Einzelne dadurch immer Teil der Gemeinschaft der Kinder Gottes. Daher ist ökumenisches Engagement keine Möglichkeit christlichen Handelns, sondern eine Pflicht. Pannenberg zieht daraus zwei Konsequenzen, die immer noch aktuell sind: Zum einen fordert er, dass die Kirchen ihre Spaltungen und Verwerfungen überwinden und sichtbare Formen der Einheit finden müssen. Dazu gehören auch Bekenntnisse der eigenen Schuld an den christlichen Spaltungen. Der am Reformationstag 2016 in Lund gefeierte Gottesdienst, in welchem die katholische Kirche und die lutherischen Kirchen ihre Verantwortung für die Spaltungen öffentlich übernahmen sowie zu weiteren Schritten hin zur Einheit mahnten,54 zeigt die Aktualität der ökumenischen Bestimmungen Pannenbergs. Zum anderen zieht Pannenberg aus der ökumenischen Verpflichtung des Glaubens die Forderung, die gesamte Geschichte des Christentums als die eigene Tradition anzuerkennen. Sie ist daraufhin zu befragen, ob sie Verkürzungen der eigenen konfessionellen Tradition aufdeckt und inwieweit sie in der gegenwärtigen Auslegung des Glaubens angeeignet werden kann. Von dieser Verortung in der Tradition zeugt Pannen54 Vgl. o. V., Franziskus.

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Schlussbetrachtungen

bergs gesamtes theologisches Werk. Er ist in der Entfaltung jedes Topos darum bemüht, zu zeigen, wie er sich in der gesamten Tradition des Christentums verortet und an welche Deutungen er anknüpft. Sein Werk zu studieren ermöglicht es daher, an dem weiten Fundus christlicher Theologie zu partizipieren, um so Impulse für das eigene theologische Denken zu erlangen.

Literatur

Die Abkürzungen richten sich nach: Schwertner, Siegfried M., Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. Zeitschriften, Serien, Lexika, Quellenwerke mit bibliographischen Angaben, Berlin 32014.

8.1

Schriften Wolfhart Pannenbergs

8.1.1 Werke Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983. Christentum in einer säkularisierten Welt, Freiburg im Breisgau u. a. 1988. Christliche Spiritualität. Theologische Aspekte, Kleine Vandenhoeck-Reihe 1519, Göttingen 1986. Das Glaubensbekenntnis: ausgelegt und verantwortet vor den Fragen der Gegenwart, Hamburg 1972. Die Auferstehung Jesu und die Zukunft der Menschheit, München 1978. Die Bestimmung des Menschen. Menschsein, Erwählung und Geschichte. Göttingen 1978. Die ökumenische Bedeutung der Confessio Augustana, Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse 6, München 1981. – Ethik und Ekklesiologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1977. – Zur Theologie des Rechts, 11–14. – Christlicher Glaube und Gesellschaft, 115–128. – Nation und Menschheit, 129–145. – Der Friede Gottes und der Weltfriede, 146–165. – Zukunft und Einheit der Menschheit, 166–186. – Christentum ohne Kirche?, 187–199. – Einheit der Kirche als Glaubenswirklichkeit und als ökumenisches Ziel, 200–210. – Was bedeutet es für die getrennten Kirchen, sich auf eine gemeinsame Vergangenheit zu beziehen?, 211–218.

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Literatur

– Die Bedeutung der Eschatologie für das Verständnis der Apostolizität und der Katholizität, 219–240. – Konfessionen und Einheit der Christen, 241–253. – Reformation und Einheit der Kirche, 254–267. – Ökumenisches Amtsverständnis. Zu den Intentionen des Memorandums ökumenischer Universitätsinstitute vom Frühjahr 1973, 268–285. – Das Abendmahl – Sakrament der Einheit, 286–292. – Die Problematik der Abendmahlslehre aus evangelischer Sicht. Ein Beitrag zum ökumenischen Gespräch über das Abendmahl, 293–317. – Einheit der Kirche und Einheit der Menschheit, 318–333. Gegenwart Gottes. Predigten, München 1982. Gottesgedanke und menschliche Freiheit, Göttingen 1972. – Anthropologie und Gottesfrage, 9–28. – Reden von Gott angesichts atheistischer Kritik, 29–47. – Die Bedeutung des Christentums in der Philosophie Hegels, 78–113. – Die christliche Legitimität der Neuzeit, 114–128. Grundlagen der Ethik. Philosophisch-theologische Perspektiven, Kleine VandenhoeckReihe 1577, Göttingen 1996. Grundzüge der Christologie, Gütersloh 1964; 2. veränderte Auflage 1966. Grundfragen Systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze Bd. 1, Göttingen 31979. – Hermeneutik und Universalgeschichte, 91–122. – Über historische und theologische Hermeneutik, 123–151. – Was ist Wahrheit?, 202–222. – Glaube und Vernunft, 237–251. – Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte, 252–295. Kirche und Ökumene. Beiträge zur Systematischen Theologie Bd. 3, Göttingen 2000. – Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden, 11–22. – Pluralismus als Herausforderung und Chance der Kirche, 23–33. – Angst um die Kirche. Zwischen Wahrheit und Pluralismus, 34–42. – Zwischen Skepsis und Hoffnung: Zur Lage der Kirchen in Deutschland, 43–53. – Abendmahlsverwaltung und Ordination, 91–95. – Die Ordination zum kirchlichen Amt, 96–99. – Die Lima-Texte und die Diskussion um das Amt, 124–137. – Reformation und Kirchenspaltung, 160–172. – Das protestantische Prinzip im ökumenischen Dialog, 186–193. – Lima – pro und contra, 217–233. – Eine Grundlage für die Einheit? Über die Katholizität des Augsburger Bekenntnisses, 245–259. – Die gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre aus evangelischer Sicht, 289–294. – Neue Konsense, entschärfte Gegensätze und protestantische Ängste, 295–299. – Die Überwindung der gegenseitigen Verurteilungen als Schritt zur kirchlichen Gemeinschaft, 303–316. – Überlegungen zum Problem der Bekenntnishermeneutik in den evangelischen Kirchen, 355–365. – Evangelische Überlegungen zum Petrusdienst des römischen Bischofs, 366–377.

Schriften Wolfhart Pannenbergs

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– Der Schlußbericht der anglikanisch-römisch-katholischen Internationalen Kommission und seine Beurteilung durch die römische Glaubenskongregation, 378–385. – Die lutherische Tradition und die Frage eines Petrusdienstes an der Einheit der Christen, 386–388. Mit Lehmann, Karl (Hg.), Lehrverurteilungen – kirchentrennend? Bd. I Rechtfertigung, Sakramente und Amt im Zeitalter der Reformation und heute, Göttingen/Freiburg im Breisgau 1986. –, Lehrverurteilungen – kirchentrennend? Bd. II Materialien zu den Lehrverurteilungen und zur Theologie der Rechtfertigung, Göttingen/Freiburg im Breisgau 1989. –, Lehrverurteilungen – kirchentrennend? Bd. III Materialien zur Lehre von den Sakramenten und vom kirchlichen Amt, Göttingen/Freiburg im Breisgau 1990. –, Lehrverurteilungen – kirchentrennend? Bd. IV Antworten auf kirchliche Stellungnahmen, Göttingen/Freiburg im Breisgau 1994. Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988. Philosophie, Religion, Offenbarung. Beiträge zur Systematischen Theologie Bd. 1, Göttingen 1999 – Sinnerfahrung, Religion und Gottesfrage, 101–113. – Theologische Erwägungen zu den Prinzipien eines Dialoges mit den Weltreligionen, 145–159. – Die Religionen als Thema der Theologie. Die Relevanz der Religionen für das Selbstverständnis der Theologie, 160–172. – Die weltgründende Funktion des Mythos und der christliche Offenbarungsglaube, 185– 199. – Eine philosophisch-historische Hermeneutik des Christentums, 200–211. Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich, Göttingen 1997. Reformation zwischen gestern und morgen, AMTh 7, Gütersloh 1969. Systematische Theologie Bd. 1, Göttingen 1988. Systematische Theologie Bd. 2, Göttingen 1991. Systematische Theologie Bd. 3, Göttingen 1993. Theologie und Reich Gottes, Gütersloh 1971. Thesen zur Theologie der Kirche, München 1970; 2. veränderte Auflage 1974. Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen 4 1972. Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt am Main 1973.

8.1.2 Aufsätze III. Reich Gottes, Kirche und Gesellschaft in der Sicht systematischer Theologie, in: Franz Böckele/Franz-Xaver Kaufmann/Karl Rahner/Bernhard Welte (Hg.), Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Enzyklopädische Bibliothek Teilband 29, Freiburg im Breisgau u. a. 1982, 119–135. An intellectual pilgrimage, KuD 54, 2008, 149–158. Anglikanismus und Ökumene, KuD 48, 2002, 197–202.

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Literatur

Art. Erwählung, III. Dogmatisch, RGG 2, 31958, Sp. 614–621. Art. Person, RGG 5, 31961, Sp. 230–235. Art. Prädestination, Art. IV Dogmatisch, RGG 5, 31961, Sp. 487–489. Christentum und Mythos, in: Pannenberg, Grundfragen Systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze Bd. 2, Göttingen 1980, 13–65. Christliche Anthropologie und Personalität, in: Pannenberg, Natur und Mensch – und die Zukunft der Schöpfung. Beiträge zur Systematischen Theologie Bd. 2, Göttingen 2000, 150–169. Christliche Rechtsbegründung, in: Anselm Hertz/Wilhelm Korff/Trutz Rendtorff/Hermann Ringeling (Hg.), Handbuch der christlichen Ethik Bd. 2, Freiburg im Breisgau 1978, 323– 338. Christliche Rechtsüberzeugungen im Kontext einer pluralistischen Gesellschaft, ZEE 37, 1993, 256–266. Civil Religion? Religionsfreiheit und pluralistischer Staat: Das theologische Fundament der Gesellschaft, in: Peter Koslowski (Hg.), Die religiöse Dimension der Gesellschaft. Religion und ihre Theorien, Tübingen 1985, 63–75. Das Bekenntnis in der lutherischen Tradition, in: Hans-Georg Link (Hg.), Schritte zur sichtbaren Einheit. Lima 1982. Sitzung der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung. Berichte, Reden, Dokumente, ÖR.B 45, Frankfurt am Main 1983, 118–124. Das Besondere des Christentums, in: Pinchas Lapide/Wolfhart Pannenberg (Hg.), Judentum und Christentum. Einheit und Unterschied. Ein Gespräch, KT 60, München 1981, 19–31. Das Papsttum und die Zukunft der Ökumene. Anmerkungen aus lutherischen Sicht, in: Vasilios von Aristi (Hg.), Das Papstamt. Dienst oder Hindernis für die Ökumene?, Regensburg 1985, 139–149. Das Wirken des Heiligen Geistes in der Schöpfung und im Volk Gottes, in: Carl E. Braaten (Hg.), Kirche ohne Konfessionen? Sechs Aspekte ihrer künftigen Gestalt, München 1971, 16–36. Den Glauben an ihm selbs fassen und verstehen. Eine Antwort, ZThK 86, 1989, 355–370. Der Mensch als Person, in: Pannenberg, Natur und Mensch – und die Zukunft der Schöpfung. Beiträge zur Systematischen Theologie Bd. 2, Göttingen 2000, 162–169. Der ökumenische Weg seit dem II. Vatikanischen Konzil – aus evangelischer Sicht, KuD 50, 2004, 17–24. Der Sozialismus – das wahre Gottesreich?, in: Wolfgang Teichert (Hg.), Müssen Christen Sozialisten sein? Zwischen Glaube und Politik, Hamburg 1976, 60–65. Dialog auf Weltebene. Über die Verständigung zwischen den Konfessionen, EvK 13, 1980, 195–199. Die Antwort der Kirchen auf die Herausforderungen der Zeit: Überwindung der Spaltungen, in: Heinrich Fries (Hg.), Das Ringen um die Einheit der Christen. Zum Stand des evangelischen-katholischen Dialogs, Düsseldorf 1983, 161–168. Die Aufgabe einer politischen Theologie des Christentums, in: Marco M. Olivetti (Hg.), Religione e politica, Archivio di filosofia 1978; 2–3, Padua 1978, 161–171. Die Bedeutung des Bekenntnisses von Nicaea-Konstantinopel für den ökumenischen Dialog heute, ÖR 31, 1982, 129–140. Die Einzigkeit Jesu Christi und die Einheit der Kirche. Anmerkungen zu der Erklärung der vatikanischen Glaubenskongregation „Dominus Jesus“, KuD 47, 2001, 203–209.

Schriften Wolfhart Pannenbergs

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Die Geschichtlichkeit der Wahrheit und die ökumenische Diskussion, in: Max Seckler (Hg.), Begegnung. Beiträge zu einer Hermeneutik des theologischen Gesprächs, Graz u. a. 1972, 31–43. Die Grundlagenkrise der evangelischen Theologie, Radius. Die Kulturzeitschrift zum Weiter-Denken, Heft 4, 1962, 7–14. „Die Hoffnung der Christen und die Einheit der Kirche“. Bericht über die Sitzung der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung vom 15. bis 30. August 1978 in Bangalore/Indien, ÖR 27, 1978, 473–483. Die Kirche und das eschatologische Gottesreich, in: Carl E. Braaten (Hg.), Kirche ohne Konfessionen? Sechs Aspekte ihrer künftigen Gestalt, München 1971, 119–135. Die Kirchen und die entstehende Einheit Europas, IKZ Communio 23, 1994, 124–136. Die Ökumene als Wirken des Heiligen Geistes, in: Stephan Leimgruber (Hg.), Gottes Geist bei den Menschen. Grundfragen und spirituelle Anstöße, 68–78. Die Religionen in der Perspektive der Theologie und die Selbstdarstellung des Christentums im Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen, ThBeitr 23, 1992, 305–316. Die Säkularisierung des europäischen Geistes, in: Paulus Gordon (Hg.), Säkulare Welt und Reich Gottes, Graz u. a. 1988. Gemeinsam mit Fries, Heinrich, Die Situation der Ökumene. Zwei Gespräche, in: Karl W. Barwitz/Adalbert Deris (Hg.), Christliche Existenz und kirchliche Praxis heute, Freiburg im Breisgau u. a. 1975, 25–58. Die „westliche“ Christenheit in der Ökumene. Eine Antwort an M. M. Thomas, ÖR 28, 1979, 306–316. Die theokratische Alternative, in: Reinhard Löw/Peter Koslowski/Philipp Kreuzer (Hg.), Fortschritt ohne Maß?, Düsseldorf 1981, 235–251. Die Theologie und die neuen Fragen nach Intersubjektivität, Gesellschaft und religiöser Gemeinschaft, AF 54 1986, 411–425. Die zukünftige Rolle von „Glauben und Kirchenverfassung“ in einer säkularisierten Welt, US 44, 1989, 328–336. Differenzen und ihre Folgen, in: Heinrich Fries (Hg.), Das Ringen um die Einheit der Christen. Zum Stand des evangelischen-katholischen Dialogs, Düsseldorf 1983, 121– 133. Dogmatische Theologie in ökumenischer Perspektive, in: Eberhard Schockenhoff/Peter Walter (Hg.), Dogma und Glaube. Bausteine für eine theologische Erkenntnislehre. Festschrift für Bischof Walter Kasper, Mainz 1993, 152–164. Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, in: Pannenberg (Hg.), Offenbarung als Geschichte, KuD Beiheft 1, Göttingen 21963, 91–114. Dokumentation: Wozu verpflichtet das „C“ den Politiker?, Politische Studien 23, 1972, 632– 647 (Diskussion zwischen Werner Dollinger, Georg Muschalek, Wolfhart Pannenberg und Max Streibel). Eine geistliche Erneuerung der Ökumene tut not, in: Karlfried Froehlich (Hg.), Ökumene. Möglichkeiten und Grenzen heute, Tübingen 1982. Einige Bemerkungen zur öffentlichen Besorgnis über den nuklearen Rüstungswettlauf, besonders in Deutschland und über die Stellungnahmen der Kirchen dazu, in: Ethics and Public Policy Center Washington, D. C. (Hg.), Kernwaffen und christliche Moral. Zehn christliche Positionen zur Nuklearrüstung, München 1984, 81–92.

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Literatur

Entwicklungen und (Zwischen-)Ergebnisse der ökumenischen Bewegung seit ihren Anfängen, in: Heinrich Fries (Hg.), Das Ringen um die Einheit der Christen. Zum Stand des evangelischen-katholischen Dialogs, Düsseldorf 1983, 14–30. Frage und Antwort – das Normative in christlicher Überlieferung und Theologie, in: Manfred Fuhrmann/Hans Robert Jauß/Wolfahrt Pannenberg (Hg.), Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch, PuH 9, München 1981, 413–421. Geist gegen Zeitgeist. Gespräch mit dem Theologen Wolfhart Pannenbergs, EvK 28, 1995, 265–269. Geschichtstatsachen und christliche Ethik. Zur Relevanz geschichtlich politischer Fragen für die christliche Ethik, in: Helmut Peukert/Franz Böckle (Hg.), Diskussion zur „politischen Theologie“, Mainz 1969, 231–246. Heiligung und politische Ethik. Ein kritischer Blick auf einige Grundlagen der Befreiungstheologien im Protestantismus, in: Fernando Castillo (Hg.), Herausforderung. Die Dritte Welt und die Christen Europas, Regensburg 1980. In der Einheit des Glaubens. Ökumenisches Bekenntnis nach 1600 Jahren, EvK 14, 1981, 380–383. Ist Versöhnung unrealistisch? Stellungnahme zur Vertriebenen-Denkschrift der EKD, ZEE 10, 1966, 116–118. Leben in Gerechtigkeit, in: Heiko Franke/Thomas Krobath (Hg.), Veritas et communicatio. Ökumenische Theologie auf der Suche nach einem verbindlichen Zeugnis. Festschrift zum 60. Geburtstag von Ulrich Kühn, Göttingen 1992, 310–320. Lebensraum der christlichen Freiheit, EvK 8, 1975, 587–59. Luthers Lehre von den zwei Reichen und ihre Stellung in der Geschichte der christlichen Reichsidee, in: Anselm Hertz/Erwin Iserloh/ Johannes B. Metz/Wolfhart Pannenberg (Hg.), Gottesreich und Menschenreich. Ihr Spannungsverhältnis in Geschichte und Gegenwart, Regensburg 1971, 73–96. Macht der Mensch die Religion oder macht die Religion den Menschen? Ein Rückblick auf die Diskussionen des religionstheoretischen Arbeitskreises, in: Trutz Rendtorff (Hg.), Religion als Problem der Aufklärung. Eine Bilanz aus der religionstheoretischen Forschung, Göttingen 1980, 151–157. Nachwort, in: Berten, Ignace, Geschichte, Offenbarung, Glaube. Eine Einführung in die Theologie Wolfhart Pannenbergs, München 1970, 129–141. Neutralität des Staates gegenüber der Religion?, in: Philipp Jenninger (Hg.), Tamen! Gegen den Strom. Günter Rohrmoser zum 80. Geburtstag, Stuttgart 2007, 381–389. Ökumenische Aufgaben im Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche, KuD 50, 2004, 260–270. Reformation und Neuzeit, in: Friedrich W. Graf/Horst Renz (Hg.), Protestantismus und Neuzeit, Troeltsch-Studien Bd. 3, Gütersloh 1984, 21–34. Reich Gottes in Amerika, EvK 10, 1977, 333–336. Reich Gottes und Nationalismus. Vom politischen Sinn der christlichen Hoffnung, Kont. 1, 1965, 41–48. Religion in der säkularen Gesellschaft. Niklas Luhmanns Religionssoziologie, EvK 11, 1978, 99–103.

Weitere Literatur

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Religious Pluralism and Conflicting Truth Claims. The Problem of a Theology of the World Religions, in: Gavin D’Costa (Hg.), Christian uniqueness reconsidered. The myth of a pluralistic theology of religions, New Yok 41996, 96–106. Sakramente und kirchliches Amt, in: Heinrich Fries (Hg.), Das Ringen um die Einheit der Christen. Zum Stand des evangelischen-katholischen Dialogs, Düsseldorf 1983, 73–88. Signale der Transzendenz. Religionssoziologie zwischen Atheismus und religiöser Wirklichkeit, EvK 7, 1974, 151–154. Wahrheit statt Gleichgültigkeit. Antwort an Wilfried Gerhard, EvK 27, 1994, 134f. Was ist der Mensch?, in: Martin Stöhr (Hg.), Disputation zwischen Christen und Marxisten, München 1966, 192–194. Wissenschaft und Existenz aus der Sicht des Theologen, in: Dieter Bremer (Hg.), Wissenschaft und Existenz. Ein interdisziplinäres Symposium, Würzburg 1985, 87–94.

8.2

Weitere Literatur

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Internetquellen

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