Gedächtnis der Interpretation: Gedächtnistheorie als Fundament für Hermeneutik, Ästhetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder [2 ed.] 3787313567, 378731704X, 9783787313563

Ralf Simons vorliegende Studie erschließt das Werk Johann Gottfried Herders vom Thema des Gedächtnisses her. Unterhalb d

186 16 16MB

German Pages 398 [302] Year 1998

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Gedächtnis der Interpretation: Gedächtnistheorie als Fundament für Hermeneutik, Ästhetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder [2 ed.]
 3787313567, 378731704X, 9783787313563

Citation preview

JOHANN GOTTFRIED HERDER

Sprachphilosophie Ausgewählte Schriften

Herausgegeben von ERICH HEINTEL

Mit einer Einleitung von ULRIKE ZEUCH

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG



Inhalt

Einleitung. Von Ulrike Zeuch 1. 2. 3. 4.

„ . „ „ „ „ ... „ „ „ . „ „ . „ „ „ „ .. „ „ „ •. „

VII

Biographisches .. „ .. „ „ „ „ .. „ ... „ ... „ ... „ „ „ . „ „ .. „ ... „ ... „ .. „ . „ „ VII Leitgedanken von Herders Gesamtwerk „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ . XVI Herders sprachphilosophischer Ansatz „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ . xxv Zu dieser Ausgabe „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ . XLV

5. Sekundärliteratur zu Herders Sprachphilosophie

„„„„„

LI

JOHANN GOTTFRIED HERDER

Sprachphilosophische Schriften l. Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772)

1

ERSTER TEIL

Haben die Menschen, ihren Naturfähigkeiten überlassen, sich selbst Sprache erfinden können? „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ . „ „ „ .

3

Erster Abschnitt ... „ ..• „ „ ... „ ........ „ ... „ . „ ....... „ ... „ ... „ ... „ . „ . 3 Zweiter Abschnitt „ .. „ . „ .. „ ... „ ... „ ... „ .. „ . „ .. „ „ . „ „ .. „ .. „ „ „ . . . 19 Dritter Abschnitt „ „ „ „ „ „ „ . „ „ „ „ . „ . „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ . 31 ZWEITER TEIL

Auf welchem Wege der Mensch sich am füglichsten hat Sprache erfinden können und müssen . „ „ . „ •••. „ „ . „ „ „ „ .

56

Erstes Naturgesetz „ „ .. „ „ „ „ „ .. „ „ „ „ „ . „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ 56 Zweites Naturgesetz . „ . „ „ . „ . „ „ „ . „ „ „ . „ „ „ „ . „ „ . „ „ „ „ „ „ „ „ 67 Drittes Naturgesetz „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ . „ „ „ . „ „ „ . „ . „ „ . „ „ „ „ „ „ . 74 Viertes Naturgesetz . „ .. „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ . „ „ „ . „ „ . „ „ „ „ „ „ . . . 81

VI

Inhalt

II. Aus den ,,Fragmenten" .............................. „ .. „..............

89

A.

91

AUS DER ERSTEN SAMMLUNG .......................................

1. Einleitung: Die Sprache wird überhaupt betrachtet .................................................................. 91 2. Fragmente über die Eigenheit unserer Sprache ....... 106 3. Fragmente über die Bildung einer Sprache: Wo ein Roman von ihren Lebensaltern vorausgeschickt wird ... ..... ....... ... ..... ..... ..... ..... ....... ... 115 B.

AUS DER DRITTEN SAMMLUNG .....................................

142

III. Aus den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" Erster und zweiter Teil (1784, 1785) ............................. 159

IV Aus „ Verstand und Erfahrung" Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft (1799)

181

V Textergänzungen anläßlich der zweiten Aufiage ......... 227 Anmerkungen ...................................................................... 233 Personenregister ..... ............................................................. 240 Sachregister ......................................................................... 241

Einleitung

1. Biographisches 1 „Liebster Eichhorn", schreibt Herder aus Weimar, den 12. Juli 1782, „Ihr letzter Brief war so gedrückt, so traurig: was fehlt Ihnen? Ihr ganzes Wesen ist ja zur Heiterkeit, zur Freude geschaffen; übersehen Sie Augenblicke u. raffen sich auf. Ich danke Ihnen vielfach für Ihre Mühe in Ansehung meines Buchs. Was ich Ihnen schrieb, war blos des Verlags wegen: denn wolle der Himmel nicht daß ich auch meinen besten Freund nur mit einem Wort bestechen wollte. Ich bin auf die Recension sehr begierig." 2 Der, der diesen Brief voll Einfühlungsvermögen und Anteilnahme am Wohlergehen des anderen, ihn ermunternd, sich nicht gehen zu lassen, und gleichzeitig interessiert an dessen ehrlichem Urteil über selbst Verfaßtes schreibt: Johann Gottfried Herder, zu diesem Zeitpunkt 38 Jahre alt, was war das für ein Mensch? Seit seiner Kindheit auf der Suche nach Inhalten, nach Orientierung durch geistig ausgerichtete Bezugspersonen, glücklich in der Umgebung von Büchern, anhänglich in Freundschaften, dankbar für jede Möglichkeit, sich in anspruchsvoller Geselligkeit gedanklich auszutauschen, in seinem Lebensgefühl Für ausführliche Information zu Herders Biographie vgl. den Katalog Stiftung Weimarer Klassik, Goethe-Nationalmuseum (Hg.): Johann Gottfried Herder. Ahndung künftiger Bestimmung, Stuttgart! Weimar 1994. 2 Johann Gottfried Herder: Briefe. Gesamtausgabe 1763-1803, unter Leitung von Karl-Heinz Hahn hg. v. den Nationalen Forschungsund Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv), fortgeführt von der Stiftung Weimarer Klassik, bearbeitet von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold, Weimar 1977 ff., Bd. 9, 326. 1

Ulrike Zeuch

VIII

maßgeblich beeinträchtigt durch eine, wie sich nach zahlreichen medizinischen Eingriffen herausstellt, inoperable Tränenfistel, hungrig nach Anerkennung und ehrgeizig, von übersteigertem Selbstgefühl, introvertiert, leicht verletzbar, gefühlsbetont und sensibel - Herder kam aus einfachen Verhältnissen, im ostpreußischen Ackerstädtchen Mohrungen als Sohn eines Glöckners und Elementarlehrers und der Tochter eines Hufschmieds geboren. Herder selbst schreibt dazu, er sei „in einer dunkeln [ ... ] Mittelmäßigkeit geboren", seine Eltern hätten ihn „aus tausend Vorurtheilen [... ] nicht zur Wißenschaft bestimmen" wollen. 3 Nach Absolvierung der Stadtschule von Mohrungen fand Herder im Haus des Diakons Sebastian Friedrich Treschko eine Anstellung als Hilfskraft, nutzte dessen Bibliothek, in der er neben antiken Schriftstellern die Schriften von Ewald von Kleist, Klopstock, Haller, Uz, aber auch Winckelmann und Lessing kennenlernte, und kompensierte damit die Demütigungen, die er durch die niedrigen Dienste im Haus des Diakons empfunden haben muß. Das Bedürfnis, sich selbstbestimmt und frei für ihn wichtigen Inhalten zuwenden zu können, auch oder vielleicht trotz widriger Lebensumstände, hält sich in seinem ganzen Leben durch. So schreibt Herder, ebenfalls aus Weimar, am 25.August 1782 an seinen Freund Christian Gottlob Heyne: „ [ ... ] was ich suche, was ich in der Welt allein suche, wohnt nicht auf einer Universität. Es ist nehmlich - Ruhe, Entfernung vom Gedräng der Menschen, diese mögen sich in der Hofluft oder in einer Hauptstadt oder gar auf einer Universität drängen [ ... ] Könnte ich eine etwas distinguirte, geistliche Stelle in ihrem Lande erhalten, etwa im Schoos einer guten Natur, eines Gebürges [ ... ], wo ich blas Geistlicher seyn dörfte u. Ruhe für mich hätte, übrigens freilich vom Consistorio weder durch ein colloquium noch sonst chikanirt würde: wie wohl wäre es mir auf einige Jahre."4 3 4

Ebd., Bd. 1, 228. Ebd., Bd. 9, 327.

Einleitung

IX

Ohne die Erlaubnis seiner Eltern - auch das ist für sein Bedürfnis symptomatisch - verläßt Herder 1762 mittellos Mohrungen und folgt dem Angebot des Regimentsarztes Christian Schwartz-Erla der aus dem Siebenjährigen Krieg zurückgekehrten russischen Truppen, ihm nach Königsberg zu folgen, um Medizin zu studieren. Doch sind die Leichenöffnungen nichts für Herder, da er bei dem Anblick ohnmächtig wird, und so wendet er sich der Theologie zu, findet am Collegium Fridericianum erst eine Aufseher-, später eine Hilfslehrerstelle, gibt Privat- und Nachhilfeunterricht und finanziert sich auf diese Weise sein Studium. Bei Kant hört Herder von August 1762 an Vorlesungen über Logik, Metaphysik, Moral, Mathematik und Geographie. Viele Stunden verbringt er auch im Haus des Buchhändlers Johann Jacob Kanter, und er lernt in Königsberg den 14 Jahre älteren Schriftsteller Johann Georg Hamann kennen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbindet, aber auch den Verleger Johann Friedrich Hartknoch. Seine erste Anstellung erhält Herder an der Domschule zu Riga, wo er von 1764 bis 1769 als Lehrer und Prediger arbeitet. Prägend für ihn ist das friedliche Zusammenleben verschiedener Nationalitäten, das er in Riga kennenlernt. Und so schreibt er im November 1768 an Kant: „Es ist Zweck meines Hierseyns, mehr Menschen kennen zu lernen, u. manche Dinge anders zu betrachten, als Diogenes sie aus seinem Faße sehen konnte."5 In Riga formuliert Herder auch das erste Mal seine Überzeugung von der zentralen Rolle der Sprache für jede Art geistiger Entwicklung und nimmt dabei, als Theologe, eine entschieden weltliche Haltung ein: „Kurz! Die ganze Hypothese vom göttlichen Ursprunge der Sprache ist wider die Analogie aller menschlichen Erfindungen, wider die Geschichte aller Weltbegebenheiten und wider alle Sprachphilosophie[ ... ] Ich darf also immer einen menschlichen Ursprung voraussetzen[ ... ]" Denn, so Herder weiter, „was ist für Menschen würdiger und wichtis Ebd., Bd.

1, 120.

Ulrike Zeuch

X

ger als Produktionen menschlicher Kräfte, die Geschichte menschlicher Bemühungen, und die Geburten unseres Verstandes zu untersuchen ?06 Bei aller Wertschätzung des Buches ist Herders Verhältnis zur Gelehrsamkeit ambivalent, wie schon aus seiner abwehrenden Äußerung über die Universität deutlich wurde; denn er hält sie für erfahrungsarm. So begibt sich Herder, um Erfahrungen zu gewinnen, von Riga aus für zwei Jahre auf Reisen, zunächst über See nach Frankreich. In Paris lernt er Voltaire, Montesquieu und Rousseau kennen. Von Paris aus reist er in Richtung Eutin; der Fürstbischof von Lübeck will Herder für seinen Sohn, den Erbprinzen Peter Friedrich Wilhelm von Holstein-Gottorp, als Prediger für eine Bildungsreise durch Europa gewinnen. Herder führt sein Weg nach Eutin über Brüssel, Antwerpen, Den Haag, Amsterdam, Leiden, Hamburg, wo er sich mit Gotthold Ephraim Lessing und Mathias Claudius anfreundet, und Kiel. Von Eutin aus reist er mit dem Erbprinzen und dessen Erzieher, dem Geheimrat Cappelmann, einige Monate später erneut über Hamburg, Hannover, Göttingen, Kassel, Darmstadt schließlich nach Straßburg, wo er und Goethe sich zum ersten Mal begegnen. Bereits in Straßburg trennt Herder sich, da ihm der Graf Wilhelm von Schaumburg-Lippe ein anderes berufliches Angebot macht, von dem Prinzen und läßt sich an der Tränenfistel operieren. In Darmstadt hat Herder durch Johann Heinrich Merck seine künftige Frau, Karoline Flachsland, kennengelernt, der er in seinem ersten Brief an sie vom 25. August 1770 schreibt: „[ ... ] warum sollten wir uns einander, meine liebste Freundin, unser Herz verhelen und über eine Art von Empfindungen erröthen wollen, die uns auf eine so sonderbare Weise gleichsam überraschet [ ... ] ". 7 Und wenn er in demselben Brief davon spricht, daß Johann Gottfried Herder: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Fragmente. Erste Sammlung, in: ders.: Sämmtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan u.a„ 33 Bde„ Berlin 1877-1913, Bd. 2, 67f. [= SWS] 7 Herder: Briefe (Anm. 2), Bd.1, 189. 6

Einleitung

XI

sie sich „die ersten Accente einer Empfindung, die sich ganz ohne unser Bewußtseyn meldete, einander stamleten", 8 dann meint er mit dem Stammeln eben diejenige Sprache der ersten Empfindung, der er in seiner Schrift Abhandlung über den Ursprung der Sprache von 1772 eine zentrale Bedeutung innerhalb der Entwicklung des menschlichen Geistes zuschreibt. In Bückeburg, der Haupt- und Residenzstadt der Grafschaft Schaumburg-Lippe, findet Herder von 1771 an für die nächsten Jahre eine Anstellung als Oberprediger an der Stadtkirche; was ihm in diesem Städtchen von Anfang an fehlt, ist der geistige Austausch; denn die Mehrheit der Bevölkerung besteht aus Bauern, Handwerkern und Kleinhändlern: Dieser Mangel beeinträchtigt zunehmend seine seelische Verfassung. Abgemildert wird das Gefühl, niedergedrückt zu werden durch die Enge der beruflichen Sitution und die Geistlosigkeit der Stadt, nur durch die 1773 in Darmstadt geschlossene Heirat mit Karoline Flachsland. 9 Auch sucht er Kontakt zu Freuden außerhalb, wie etwa zu dem Anakreontiker Johann Wilhelm Ludwig Gleim, der ihn 1775 in Bückeburg besucht, Johann Kaspar Lavater, Pastor an der zwinglianisch-reformierten Peterskirche in Zürich und Physiognom, oder Christian Gottlob Heyne, Professor der Beredsamkeit und Universitätsbibliothekar in Göttingen. Im Februar 1772 bittet Herder seinen Dienstherren, Graf Wilhelm, um Befreiung vom Dienst, um sich zu Studienzwecken nach Göttingen zu begeben. Unzufrieden mit Bückeburg, bemüht sich Herder seit 1774 um eine Professur für Theologie an der Universität Göttingen, allerdings vergebens.

Ebd. Vgl. Norgard Kohlhagen u. Siegfried Sunnus: Eine Liebe in Weimar. Caroline Flachsland und Johann Gottfried Herder, Stuttgart 1993; Malgorzata Korzeb: Herders Verhältnis zu seiner Frau, in: Jan Watrak u. Rolf Bräuer (Hgg.): Herders Idee der Humanität. Grundkategorie menschlichen Denkens, Dichtens und Seins, Szczecin 1995, 159-171; Andrea Schütte-Bubenik: „Empfindsamkeit" auf Abwegen. Die Korrespondenzen der Caroline Herder, Berlin 2001. 8

9

Ulrike Zeuch

XII

Den letzten und längsten Abschnitt seines Lebens verbringt Herder in Weimar. 10 Auf Goethes Rat hin holt ihn der Herzog des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach, Karl August, als Prediger in die Residenzstadt - gegen erheblichen Widerstand, wie aus einem Brief Goethes an Herder vom 15. Januar 1776 hervorgeht: „Lieber Bruder, wir haben's von jeher mit den Scheißkerlen verdorben, und die Scheißkerle sitzen überall auf dem Fasse. Der Herzog will und wünscht Dich, aber alles ist hier gegen Dich. Indes ist hier die Rede von Einrichtung auf ein gut Leben und 2000 Reichstaler Einkünfte. Ich laß nit los, wenn's nit gar dumm geht". 11 Zu Herders Aufgaben zählen neben der praktischen Seelsorge und Kontrolle der Kirchenrechnungen die Prüfung von Bewerbern für das Prediger- und Lehramt, die Aufsicht über das gesamte Schulwesen und natürlich das Predigeramt an der Stadtkirche St. Peter und Paul. Über Herders Predigtstil berichtet Friedrich Schiller Christian Gottfried Körner in einem Brief vom 12. und 13. August 178T „Am vorigen Sonntag hört ich Herdern zum ersten Mal predigen. [... ] Die ganze Predigt glich einem Diskurs, den ein Mensch allein führt, äußerst plan, volksmäßig, natürlich. Es war weniger eine Rede als ein vernünftiges Gespräch. Ein Satz aus der praktischen Philosophie, angewandt auf gewisse Details des bürgerlichen Lebens - Lehre, die man ebensogut in einer Moschee als in einer christlichen Kirche erwarten könnte. " 12 Schillers Charakteristik von Herders Predigtstil zeigt, daß schon für die klugen Zeitgenossen erkennbar war, daß Herder trotz seiner Bindung an die lutherische Orthodoxie als TheoChristei Ringert: Herder in Weimar. Geschichten und Zeugnisse aus seinem Leben, Bucha bei Jena 2003. n Johann Wolfgang von Goethe: Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, IV Abtheilungen in 143 Bden., Weimar 1887-1913, IV, Bd. 3, 17. 12 Friedrich Schiller: Schillers Werke, Nationalausgabe, im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs und des Schiller Nationalmuseums, begründet von Julius Petersen u. Hermann Schneider, Weimar 1943 ff., Bd. 24, 128. 10

Einleitung

XIII

loge ein überkonfessioneller Grenzgänger war; dafür wurde er ja auch immer wieder harsch kritisiert. 13 Schon bald stellt sich heraus, daß Herder die Verwaltungsaufgaben als aufreibend, als Last empfindet, da kaum Zeit bleibt für eigenständige schriftstellerische Tätigkeit, was seine Rastlosigkeit beim Schreiben, auch die Tendenz zum Fragmentarischen, Unvollendeten erklärt. Dazu quälen ihn Schreibblokkaden. Schon 1778 klagt er in einem Brief vom 20. März an Johann Georg Hamann: „Es ist und bleibt doch immer ein elend Leben, sich früh auf die hölzerne Folterbank zu spannen, u. unter dem alten Sächsischen Dreck zu wühlen." 14 Nach 14 Jahren im Dienst des Herzogs läßt Herder sich sogar zu der Äußerung hinreißen: „[ ... ] jetzt wartet eine Reihe anderer Arbeiten auf mich, die ich beinah hasse, weil ich die Art hasse, wie man hier alles was Arbeit ist behandelt. Solche mit uns gehende Empfindung, frißt, wie ein geheimer Krebs an unsrer innern Zufriedenheit und Schnellkraft, für uns und andre zu leben [ ... ]. "15 Herder fühlt sich eingezwängt in ein Korsett administrativer Tätigkeiten, die ihm Lebensfreude und Kreativität nehmen; er fühlt sich zurückgesetzt, gekränkt und ausgeschlossen von wichtigen politischen Entscheidungen am Hof, vor allem durch Herzog Karl August und dessen engsten Vertrauten Goethe. Auch quälen ihn ständige Geldsorgen. Er hat eine große Familie zu versorgen: acht Kinder, von denen eins im Alter von vier Monaten stirbt; er schafft sich eine umfangreiche Bibliothek an, die mit 8000 Bänden größer ist als die von Goethe, Schiller oder Wieland, er gönnt sich öfter eine Kur, vor allem in Bad Pyrmont, aber auch in Aachen, Eger oder Franzensbad, und begibt Zu Herders Verhältnis zur lutherischen Orthodoxie vgl. Michael F. Möller: Die ersten Freigelassenen der Schöpfung. Das Menschenbild Johann Gottfried Herders im Kontext von Theologie und Philosophie der Aufklärung, hg. v. Ulrich Kühn, Frankfurt/M. 1998, 24ff.; Martin Kessler u. Volker Leppin (Hgg.): Johann Gottfried Herder. Aspekte seines Lebenswerks, Berlin 2005 (Arbeiten zur Kirchengeschichte. 92). 14 Herder: Briefe (Anm. 2), Bd. 4, 60. 15 Ebd., Bd. 4, 137. 13

XIV

Ulrike Zeuch

sich auf Erholungsreisen, so beispielsweise mit seinem neunjährigen Sohn Wilhelm Christian Gottfried von Mai bis Juni 1783. Auf dieser Reise besucht er Gleim in Halberstadt, Eschenburg und Jerusalem in Braunschweig, Claudius in Wandsbeck und Klopstock in Hamburg. Angesichts des äußeren Drucks beruflicher wie finanzieller Art kommt Herder die Einladung des Trierer Domherrn Johann Friedrich Hugo von Dalberg im April 1788 höchst willkommen, ihn auf einer Reise nach Italien zu begleiten; sie führt ihn u. a. über Gotha, Bamberg, Augsburg, Bozen, Bologna bis nach Rom. Dem 44-Jährigen erfüllt sich damit ein Jugendtraum. Allerdings entbehrt die Reisebegleitung nicht der Pikanterie: Der Freiherr von Dalberg nimmt seine adelige Geliebte, Sophia Friedericke Freifrau von Seckendorff, mit auf die Reise, weswegen sich Herder, nicht nur in seiner Funktion als protestantischer Generalsuperintendant, zurückgesetzt und düpiert fühlt; so bald wie möglich trennt er sich von den beiden und setzt die Reise allein fort. Gleichsam als Zwischenbericht der insgesamt elf Monate dauernden Reise schreibt Herder an seine Frau am 27. Dezember 1788: „[ ... ] um wie manches hat mich die Reise klüger gemacht, wie viel Seiten meines Wesens hat sie leise und unleise berührt, die ich sonst kaum kannte. Das weiß ich gewiß, sie hat mir die Augen über die Menschen tausendfach geöffnet, und mich recht gezwungen, den wahren Werth des Lebens zu finden [... ]" 16 Dabei hätte Herder in Weimar durchaus den geistigen Austausch finden können, den er sich seit seiner Kindheit immer gewünscht hat. Auf Anregung der Herzogin Anna Amalia arbeitet er in den Jahren 1781bis1784 zusammen mit deren Sohn Karl August, Wieland, Goethe, Karl Ludwig von Knebel, Luise von Göchhausen, Friedrich Hildebrand von Einsiedel, Merck und dem Prinzen August von Gotha am Journal von Tieffurth. Aber zu Goethe bleibt das Verhältnis angespannt bis zur Entfremdung; mit Wieland kommt es zwar zu einem Zweckbünd16

Herder: Briefe (Anm.

2),

Bd. 6,

102

f.

Einleitung

XV

nis gegen die Klassiker, nicht aber zur Freundschaft; auch zu Schiller findet Herder kein freundschaftliches Verhältnis. In Johann Gottfried Eichhorn, Professor für Theologie und orientalische Sprachen in Jena, Knebel, Kammerherr der Herzogin Luise, daneben Schriftsteller und Übersetzer, Jean Paul1 7 und Karl August Böttiger, Direktor des Weimarer Gymnasiums, hat Herder hingegen bleibende Freunde, in Sophie Friederike Eleonore von Schardt eine enge Freundin, der er am 26. April :q83 schreibt: „Ich weiß, u. ich prüfe mich im innersten, daß ich Dich wie einen Engel, wie meine Schwester, liebe [ ... ]" 18 - und ein paar Tage später: „Ich habe auf Sie gewartet, wie kein Liebhaber auf seine Geliebte warten kann." 19 Und doch überwiegt - vor allem in den letzten Lebensjahren - das Gefühl der Bitterkeit, Einsamkeit und Enttäuschung. Goethe schreibt über Herder fast 20 Jahre nach dessen Tod im Rückblick: „Herdern selbst [sc. im Unterschied zu seiner Frau, Karoline Herder] müsse man vieles wegen seiner steten Kränklichkeit zugute halten, leider habe er die Reizbarkeit und Bitterkeit im Urteil, die ihm von Jugend auf angeklebt, ins Alter hinübergetragen [ ... ]" .2° Damit benennt Goethe klarsichtig die Ursache für Herders Isolation in der Weimarer Zeit. Daß Herder sich sein Leben selbst anders gewünscht hätte, darauf deutet sein Wahlspruch hin, den er seiner Petschaft eingravieren ließ und der auch auf seiner Grabplatte steht: Licht, Liebe, Leben eben dies Ziele, nach denen er sich zeit seines Lebens gesehnt und gestrebt hat. Zum Verhältnis Jean Pauls zu Herder vgl. Ralf Goebel: Philosophische Dichtung - dichtende Philosophie. Eine Untersuchung zu Jean Pauls (Früh-)Werk unter Berücksichtigung der Schriften Johann Gottfried Herders und Friedrich Heinrich Jacobis, Frankfurt/M. u.a. 2002 (Europäische Hochschulschriften. Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur. 1847). 18 Herder: Briefe (Anm. 2), Bd. 4, 263. 19 Ebd., 268. 20 Goethe zu Kanzler von Müller, 8. Juni 1821; zitiert nach: Kanzler von Müller: Unterhaltungen mit Goethe. Kleine Ausgabe, hg. v. Ernst Grumach, Weimar 1959, 45 f. 17

XVI

Ulrike Zeuch

2. Leitgedanken von Herders Gesamtwerk

Herder hat sich selbst als „Ideenbildhauer" bezeichnet.21 Tätig war er auf dem Gebiet der Theologie und Religionsphilosophie,22 Erkenntnistheorie und Anthropologie,23 Geschichtsphilosophie24 und Literaturkritik, Philologie, Pädagogik, 25 Ethno21 Herder: Kritische Wälder. 1. Wäldchen, in: SWS (Anm. 6), Bd. 3, 103. Claudia Leuser: Theologie und Anthropologie. Die Erziehung des Menschengeschlechts bei Johann Gottfried Herder, Frankfurt/M. u. a. 1996 (Würzburger Studien zur Fundamentaltheologie. 19); Möller: Die ersten Freigelassenen (Anm. 13); Christoph Schulte (Hg.): Hebräische Poesie und jüdischer Volksgeist. Die Wirkungsgeschichte von Johann Gottfried Herder im Judentum Mittel- und Osteuropas, Hildesheim u.a. 2003 (Haskala. 28); Markus Buntfuß: Die Erscheinungsform des Christentums. Zur ästhetischen Neugestaltung der Religionstheologie bei Herder, Wackenroder und De Wette, Berlin u.a. 2004 (Arbeiten zur Kirchengeschichte. 89). 23 Christian Grawe: Herders Kulturanthropologie. Die Philosophie der Geschichte der Menschheit im Lichte der modernen Kulturanthropologie, Bonn 1967 (Abhandlungen zur Philosophie, Psychologie und Pädagogik. 35 ), vor allem 41 ff. u. 75 ff.; Marion Heinz: Sensualistischer Idealismus. Untersuchungen zur Erkenntnistheorie und Metaphysik des jungen Herder (1763-1778), Hamburg 1994 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert. 17); Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart u. a. 1994 (Germanistische Symposien-Berichtsbände. 15); Verf.: Umkehr der Sinneshierarchie. Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der frühen Neuzeit, Tübingen 2000 (Communicatio. 22); John H. Zammito: Kant, Herder, and the birth of anthropology, Chicago u.a. 2002. 24 Hans Adler: Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie, Ästhetik, Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1990 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert. 13); Ralph Häfner: Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre. Studien zu den Quellen und zur Methode seines Geschichtsdenkens, Hamburg 1995 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert. 19); Regine Otto: Vom Selbstdenken. Aufklärung und Aufklärungskritik in Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit", Heidelberg 2001. 25 Harro Müller-Michaels: Herders Ideen der Bildung und die Schulreformen um 1800, in: Regine Otto u. John H. Zammito (Hgg.): Vom 22

Einleitung

XVII

graphie, Völkerpsychologie, 26 Sprachphilosophie, 27 Hermeneutik und Ästhetik28 sowie der Literatur.29 Es soll an dieser Stelle kein vollständiger Überblick über Herders Gesamtwerk gegeben werden; vielmehr seien im Folgenden zwei Leitgedanken von Herder skizziert. a) Anthropologie Im 18. Jahrhundert wird die Wissenschaft vom Menschen neu begründet: als Anthropologie. Herder hat an der Neubegründung dieser Wissenschaft wesentlichen Anteil. Was der Mensch

Selbstdenken. Aufklärung und Aufklärungskritik in Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit", Heidelberg 2001, 177-186.

26 Vgl. Regine Otto (Hg.): Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders, Würzburg 1996. 27 Dazu im folgenden Kapitel. 28 Vgl. Joe K. Fugate: The Psychological Basis of Herder's Aesthetics, The Hague/Paris 1966; Friedhelm Solms: Disciplina aesthetica. Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder, Stuttgart 1990; Robert E. Norton: Herder's Aesthetics and the European Enlightenment, Ithaca/London 1991; Harald Schnur: Schleiermachers Hermeneutik und ihre Vorgeschichte im 18. Jahrhundert. Studien zur Bibelauslegung, zu Hamann, Herder und F. Schlegel, Stuttgart u.a. 1994; Ralf Simon: Das Gedächtnis der Interpretation. Gedächtnistheorie als Fundament für Hermeneutik, Ästhetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1998 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert. 23). 29 Birgit Nübel: Autobiographische Kommunikationsmedien um 1800. Studien zu Rousseau, Wieland, Herder und Moritz, Tübingen 1994 (Studien zur deutschen Literatur. 136); Klaus Hurlebusch: Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens. Ein philologischer Beitrag zur Charakterisierung der literarischen Moderne, Tübingen 2001 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 86); York-Gothart Mix: Das Ende des Rokoko und die Formierung eines autonomen Lyrikmarktes in Deutschland (J.G. Herder, J. W. L. Gleim, G.A. Bürger), in: Matthias Luserke u. a. (Hgg): Literatur und Kultur des Rokoko, Göttingen 2001, 211-222.

XVIII

Ulrike Zeuch

als Mensch ist, läßt sich nach Herder nur empirisch, über Erfahrung ermitteln. Eine Vorstellung seiner selbst, seines individuellen Menschseins bildet dabei den Anfang und ist ein erstes Element für eine Vorstellung von der Menschheit als dem Inbegriff des Menschen. Die Selbsterkenntnis ist also zentral für seine Anthropologie. Zwar geht es in der Seelenlehre seit der Antike um das Erkennen seiner selbst, seit dem 17. Jahrhundert mit Descartes speziell um die Reflexion, die bewußte Rückwendung des Subjektes auf seine ihm zunächst unbewußten Akte und um die Erkenntnis, daß das Bewußtsein alle diese Akte begleitet. Herder aber spricht von Selbsterkenntnis in einem spezifischen Sinne. Sich selbst erkennen heißt für Herder, sich in allen Akten seiner selbst als Einheit fühlend gewiß zu sein, wie er im Vierten Kritischen Wäldchen, aber auch in Zum Sinn des Gefühls oder in den verschiedenen Varianten Vom Erkennen und Empfinden von 1774, 1775 und 1778 ausführt. Herder nimmt dabei Descartes' cogito ergo sum [ich denke bzw. ich bin mir bewußt, also bin ich] auf und macht daraus ein sentio ergo sum [ich fühle, also bin ich]. Allerdings ist die durch die Selbstwahrnehmung allererst zu stiftende Einheit dem gegenüber, was da jeweils einheitlich zusammengefaßt wird, indifferent. Entscheidend ist, wie das wahrnehmende Subjekt sich in allen diesen Akten selbst fühlt. Das Selbstgefühl weiß nicht, ob etwas Rotes mit Hartem, dumpf Tönendem, etwas Blaues mit Weichem und hell Tönendem zusammentrifft. Ja mehr noch: Es weiß nicht einmal, was es sich vorstellt. Es ist sich nur dessen gewiß, daß es sich in allen Modifikationen als das alle Akte begleitende Selbstgefühl mit sich identisch fühlt. Herder sagt in seiner Schrift Vom Erkennen und Empfinden (1778) explizit, daß im Innern des Menschen alles zusammenfließe und eins werde. Die Seele, welche das Eine erfasse, vereinigt Herder zufolge neben den verschiedenen sinnlichen Vorstellungsweisen noch mehr; sie sei das Reich aller geistigen Kräfte des Menschen; der innere Mensch sei nur einer, mit allen seinen dunklen Kräften, Reizen und Trieben, Empfinden, Erkennen und Wollen.

Einleitung

XIX

Da diese Selbsterkenntnis nur möglich ist, insofern das Selbst den Sinnen offenbar wird, ist der Mensch darauf angewiesen, sich in seinen Selbstäußerungen zum Gegenstand der Wahrnehmung zu machen. Herder diskutiert drei Formen der Selbstäußerung: die Offenbarung der Seele im eigenen Körper, in autobiographischen Lebensbeschreibungen und durch die Darstellung der Schönheit des menschlichen Körpers in der antiken Plastik. Gemeinsam ist allen drei Formen, über Fremdbzw. Außenwahrnehmung etwas über sich selbst in Erfahrung zu bringen. Der Grund für die Notwendigkeit, auf der Suche nach sich selbst einen Umweg, eben über Fremd- bzw. Außenwahrnehmung, zu wählen, liegt in dem von Herder zugrundegelegten Reflexionsbegriff. Im Rückbezug auf seine eigenen Akte geht, so Herders Kritik an Descartes' cogito, dem reflektierenden Subjekt die Mannigfaltigkeit seelischer Regungen verloren; die Mannigfaltigkeit wird reduziert auf das in allen Akten identische Ich. Für vermeidbar hält Herder diese Reduktion in einer der Wahrnehmung immanenten Selbstbeobachtung, da das Abstrahieren von der Fülle unterbleibe. Herder setzt voraus, daß nur über die Empirie sämtliche seelischen Bewegtheiten, die Tätigkeiten der Seele in allen ihren Aspekten hinreichend zu erfassen sind und erst sie Kenntnis über die Beschaffenheit der Seele erlauben. So ist es notwendig, die Entfaltung der Seele in ihrer körperhaften Selbsterzeugung nachzuvollziehen und der einzelnen Momente ganz inne zu werden. Allerdings ist dies mit der Schwierigkeit verbunden, den Moment zu finden, da Innen und Außen tatsächlich miteinander korrespondieren. Die Selbstäußerungen im Körper und in der Autobiographie erweisen sich dabei als zwei Seiten ein und desselben Dilemmas: Bei der körperlichen Selbstäußerung sollen die allgemeinen Tätigkeiten der Seele wie Wahrnehmen, Denken, Fühlen zugleich die Einzelseele charakterisieren, bei der Autobiographie hingegen die besonderen, individuellen, ja intimsten seelischen Regungen zugleich allgemein-menschlich sein. Das Problem, wie Innen und Außen einander eindeutig entsprechen, wie Besonderes und Allgemeines übereinkommen

XX

Ulrike Zeuch

können, hält Herder im Fall der Schönheit der antiken Plastik, in der sich das Wesen der menschlichen Seele offenbare, für gelöst. In ihr werde wie beim Blinden, der seinen Leib fühle, oder bei den Lebensbeschreibungen Seele fühlbar, und zwar festgehalten in einem Zustand, in Stein verewigt. Um die Seele ganz zu erfassen, müßten, so könnte man annehmen, eigentlich sämtliche nur möglichen Zustände einer Seele, in Stein festgehalten, offenbar werden - vorausgesetzt, die Summe aller Teile sei das Ganze. Herder beschränkt die Forderung nach Vollständigkeit aber auf bestimmte Zustände, und zwar solche, in denen die regelmäßigsten Äußerungen ablesbar seien; diese vollkommensten, weil gleichförmigsten nennt Herder schön. In diesen regelmäßigsten und deshalb schönen Zuständen offenbare sich nicht jede einzelne Seele in jedem einzelnen Zustand und in jeder einzelnen Gestalt des Körpers, sondern vielmehr die ganze menschliche Seele in einem dauernden Zustand. Damit ist deutlich, daß die Beschränkung auf die schönen Zustände der Seele für die Erkenntnis eine Ausweitung bedeutet, da sie nicht nur Einsicht in die Seele eines Einzelnen, sondern in die der menschlichen Seele überhaupt geben soll. Allerdings handelt es sich nur auf den ersten Blick um einen Unterschied: Denn die Grenzen zwischen der Einzelseele, ertastet bis auf ihren allgemeinsten Grund, ihr Sich-Ausbreiten und SichZusammenziehen, und der Seele des Menschen überhaupt, ihr Sich-Ausbreiten und Sich-Zusammenziehen, sind fließend. Für schön hält Herder einen regelmäßigen Zustand der Seele, da weder der höchste Affekt noch das höchste Leiden vorherrschen, weder Zorn oder Wut, noch Jammer oder Schmerz; in der Seele sollen vielmehr zwei Affekte einander die Waage halten. Daß der Zwischenzustand, den Herder einen gemäßigten nennt, keine Bestimmtheit aufweist, läßt sich insofern schließen, als Herder ihn gleichsetzt mit dem der anbrechenden Leidenschaft. Bei der anbrechenden Leidenschaft sei das Gefühl noch nicht ausdifferenziert; es sei noch offen, was daraus einmal werde. Den Weder-noch-Zustand beschreibt Herder als eine Art gefühlsmäßiger Pattsituation, da Gefühle in ihrer Ge-

Einleitung

XXI

gensätzlichkeit sich gegenseitig aufheben zugunsten eines unbestimmten Gefühls, aus dem ebenfalls alles werden könne. Es sei ein Zustand der Ruhe in der Bewegung oder eher zwischen Ruhe und Bewegung. Das Vermögen, das Herder bei allen drei Varianten der Selbstwahrnehmung als tätig ansieht, ist - so paradox es klingen mag - ein äußerer Sinn, der zugleich innen fühlt, der Tastsinn als gleichsam nach außen gewendete Seele. Vorausgesetzt ist hierbei, daß die Unterschiede zwischen geistigem und sinnlichem Erkennen nur graduell sind. Herder meint, im schönen Körper die Selbstäußerung der Seele vollständig erfassen zu können. Allerdings ist von sich selbst, von der Selbstwahrnehmung lediglich mittels Analogie auf ein wie auch immer geartetes Äußeres zu schließen. Wenn aber nur über die Empirie sämtliche seelische Bewegtheiten, die Tätigkeiten der Seele in allen ihren Aspekten hinreichend zu erfassen sind und erst sie Kenntnis über die Beschaffenheit der Seele erlauben, dann dürfte es eigentlich weder ein verbindliches Menschenbild noch eine verbindliche Seelenkonzeption geben. Herder diskutiert auch durchaus die Möglichkeit, daß der Mensch nicht bloß fünf Sinne haben könne. Aber zugleich übernimmt er aus der Tradition der stoischen Seelenlehre seit der Frühen Neuzeit bestimmte_ Überzeugungen wie die Trennung der Seele in einen rezeptiven und einen spontanen, einen außengeleiteten, der Naturkausalität unterliegenden und einen freien, einen triebhaften und einen ethisch relevanten Teil. Und er stellt, trotz aller Empirie, nicht zur Disposition, daß das höchste Ziel des Menschen die Erfüllung seines Menschseins: seine Humanität sei. b) Humanität Herder bestimmt in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784/85) Humanität als Zweck der menschlichen Natur, von dem er sagt, er liege im Menschen selbst, und zwar im einzelnen Menschen. Analog zur Teleologie der äuße-

XXII

Ulrike Zeuch

ren, durch Kausalität determinierten, sich ständig wandelnden Phänomene der Natur soll es einen dem Menschen als geschichtlichem Wesen innewohnenden Endzweck geben, der an diesem in seiner Geschichtlichkeit auch ablesbar sein soll.3° Bei der Bestimmung dieses Zwecks führt Herder eine Prämisse an, die letztlich immer noch in der Tradition der Nikomachischen Ethik des Aristoteles steht, nämlich daß dieser Endzweck die Glückseligkeit sei. Auch hinsichtlich der Frage, wie Glückseligkeit zu erstreben sei, finden sich immer noch Anklänge an das wirkungsgeschichtliche Erbe der Nikomachischen Ethik, nämlich daß Vernunft hierbei leitend sei, um ein Maß, eine harmonische Proportion, ein Mittleres zwischen Extremen der Leidenschaften zu treffen. Weder bestreitet Herder, daß es einen solchen Zweck gibt, noch zieht er in Zweifel, daß dieser nicht kontingenter Natur, von Zeit und Zufall unabhängig sei. Gott hat, wie Herder sapientia Salomonis, 11, 20 in den Ideen zitiert, alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet, 31 Gott hat der Natur insgesamt wie der menschlichen Natur insbesondere Gesetze gegeben, denen sie zu folgen hat. Allerdings schließt Herders Konzeption der Seele und ihrer verschiedenen Akte die Möglichkeit einer ethisch relevanten Wahl bei Entscheidungen, die nicht bewußt gemacht werden, aus: Die Sinne werden affiziert, Handeln im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung und sinnlichen Lust ist fremdbestimmt, unterliegt dem geschlossenen Nexus von Ursache und Wirkung analog zur Naturkausalität.32 Aber auch die Vernunft ist unfähig, eigenständig Unterscheidungen zu treffen; sie bestätigt lediglich im Nachtrag, was als Einheit bereits sinnlich perzipiert, nur noch nicht bewußt geworden ist. In seinem Sinne konsequent vertritt Herder die Position, individuell erfahrbares Glück sei nicht einer aktiven, Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: ders.: Werke, Bd. 6, hg. v. Martin Bollacher, Frankfurt/M. 1989, 648. 30

31 Ebd. 32

Vgl. Verf.: Umkehr der Sinneshierarchie (Anm. 23), 144ff.

Einleitung

XXIII

jeweils zwischen möglichen Alternativen unterscheidenden Leistung des Menschen zu verdanken, sondern einem Gefühl. ,Glück' besteht in der Freude, da zu sein, zu existieren, und zwar unabhängig davon, wozu man da ist und wie man lebt. 33 Herder versteht Glückseligkeit als Zustand, nicht als Tätigkeit. Da zu sein oder zu existieren aber hat der Mensch mit allen anderen Lebenwesen gemeinsam. Herder bleibt auch nicht dabei, daß das Glück des Menschen im bloßen Dasein besteht, sondern unterscheidet verschiedene Daseinsweisen und Zwecke und wertet diese. Indem Herder die Wertung aber von einem Gefühl abhängig macht, fehlt die Reflexion auf die Frage, wie der Mensch überhaupt imstande ist, zwischen Zwecken zu unterscheiden und diese zu bewerten. Herder geht davon aus, daß die Glückseligkeit das für den Menschen höchste Gute sei, was diese sei, müsse man aber erst ermitteln, und zwar empirisch. Hierbei geht Herder folgendermaßen vor: Er wendet sich einzelnen Daseinsweisen oder Zuständen zu, von denen er meint, auf sie träfe das Merkmal ,glücklich sein' zu. Jeder Mensch erfahre ein anderes Glück, verschieden „nach Ort, Zeit und [seinem] innern Charakter". 34 Jeder einzelne wie jede Nation habe eine andere Weise, glücklich zu sein. Wenn aber dasjenige, was man sucht, nicht durch Reflexion darauf zu ermitteln ist, woran man sich bei der Unterscheidung orientiert, dann bleibt nur, sämtliche Erscheinungen menschlichen Daseins zu sammeln, um aus ihnen etwas allen Gemeinsames abzuleiten. Deshalb schreibt Herder eine Geschichte der Menschheit. 35 Vorausgesetzt ist hierbei, daß die im einzelnen vorfindbare individuelle Glückserfahrung eben dieselben Merkmale aufweist, die auch der Glückseligkeit im allgemeinen Sinne zukommen. 36 Vorausgesetzt ist ferner, daß der einzelne Mensch Menschlichkeit verwirklicht und als einzelner

33 34 35 36

Herder: Ideen (Anm. 30), 330 u. f. Ebd., 649. Ebd., 343· Ebd., 632.

XXIV

Ulrike Zeuch

das sein kann, was er ist, d. h. seinem Wesen nach ist, weshalb ,Glückseligkeit' in ,Humanität' aufgeht.3 7 Zwar sagt Herder, im Falle der Humanität liege der Zweck in ihr selbst; er fügt aber gleich hinzu, daß dieser Zweck dem Menschen von Gott angeschaffen sei. Zwar hält Herder den Menschen für den ersten Freigelassenen der Schöpfung, seine Freiheit könnte jedoch dazu führen, daß er ,verwildert'. 38 Um die ,Verwilderung' auszuschließen, legt Herder nahe, der Mensch solle seine Freiheit wieder preis- und sich dem der Natur immanenten Gesetz anheim geben. Da der Mensch dieses Gesetz der menschlichen Natur nicht kennt, muß er darauf vertrauen, daß das Gesetz, dem er sich anheim gibt, ihn führen wird, wo er hin will und soll: zur Humanität. Gleichwohl soll der Mensch nicht den Eindruck haben, fremdbestimmt zu sein. Wenn aber Freiheit zu selbstbestimmtem Handeln, die das spezifische Wesensmerkmal des Menschen sein soll, eine Täuschung, ein Wahn ist, wer oder was handelt dann? die Geschichte. Da das Gesetz, Humanität als Inbegriff menschlicher Zwecke, der menschlichen Natur immanent ist, diese aber in Entwicklung begriffen ist, muß es auch in der Geschichte sein. Es ist damit zugleich es selbst und nicht es selbst, oder, wie Herder sich ausdrückt: „Der Zweck des Menschengeschlechts auf der Erde [ist] durch seine Natur und Geschichte". 39 Und um diesen Zweck zu erreichen, ist neben Natur und Geschichte die Sprache in Herders Konzeption zentral.

Ebd., 342. 38 Ebd., 1.62. 39 Ebd., 632.

37

Einleitung

XXV

3. Herders sprachphilosophischer Ansatz Die Sprachphilosophie im I8. Jahrhundert steht im wesentlichen in der Nachfolge des englischen Empirismus: namentlich John Locke, George Berkeley und David Hume. Sie wird im allgemeinen als sensualistisch im Unterschied zur rationalistischen Sprachphilosophie vor Locke bezeichnet. Teilt sie mit der rationalistischen Sprachphilosophie auch die Annahme, daß Sprache Denken abbilde, so unterscheidet sie sich doch erstens durch ihren Denkbegriff, zweitens durch die Verlagerung der Aufmerksamkeit: von Sprache allgemein zu einzelnen Sprachen, und drittens durch die Methode aufgrund der allerdings beiden gemeinsamen Überzeugung, das Wesen der Sprache sei durch ihren Ursprung zu erklären. 40 Ab den vierziger Jahren des I8. Jahrhunderts widmen sich Giambattista Vico, Etienne Bonnot de Condillac, 41 Adam Smith, Jean-Jacques Rousseau, Johann Nicolaus Tetens u.a. der Frage nach dem Ursprung der Sprache(n). 42 Die ihren Erörterungen 40 Dabei wird nicht klar unterschieden zwischen causa finalis (Funktion der Sprache), causa efficiens (Frage nach dem Erfinder I Erzeuger der Sprache) und evolutionär-genetischem Ursprung. Zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert Cordula Neis: Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts. Die Berliner Preisfrage nach dem Ursprung der Sprache (1771), Berlin/New York 2003. 41 Zur französischen Sprachphilosophie der Aufklärung Irene Monreal-Wickert: Die Sprachforschung der Aufklärung im Spiegel der großen französischen Enzyklopädie, Tübingen 1977; Ulrich Ricken: Sprache, Anthropologie, Philosophie in der französischen Aufklärung. Ein Beitrag zur Geschichte des Verhältnisses von Sprachtheorie und Weltanschauung, Berlin 1984. 4 2 Zum ideengeschichtlichen Kontext von Herders Abhandlung vgl. Norton: Aesthetics (Anm. 28), 82-118; Ulrich Gaier: Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik, 15-33; Gaier unterteilt Herders ,Horizont' in Rationalismus, Empirismus, Logomystik und Sprachhumanismus; vgl. ferner Bernd Skibitzki: Herder - ein aufklärerischer Sprachphilosoph, in: Herders Idee der Humanität (Anm. 9), 247-259; Skibitzki zufolge hat Herder die Abhandlung vor allem „als Gegenentwurf zu Condillacs Schriften konzipiert" und auf neue Weise den Sensualismus mit dem aufklärerischen Rationalismus zu verknüpfen versucht (258).

XXVI

Ulrike Zeuch

dem Anspruch nach zugrundeliegende Methode ist empirisch und analytisch; ,analytisch' meint, daß sie ihren Befund, den bereits gegebenen Inhalt (das Wort, einen bestimmten synchronen bzw. diachronen Bestand an Wörtern einer Sprache), in seine Bestandteile zergliedert. Unbeschadet der dem Anspruch nach empirischen Methode bleiben normative bzw. ahistorische Prämissen bestehen - ein Widerspruch, der auch die Sprachphilosophie zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestimmt. 43 Bei der dem Anspruch nach empirischen Verfahrensweise ergeben sich im wesentlichen zwei Probleme: Zwar setzt die Annahme der Sprache als einer psychischen Realität voraus, daß die Bezeichnung der Dinge daran gebunden ist, etwas wesentlich zu ihnen Gehörendes erfaßt zu haben. Erkenntnis im 18. Jahrhundert soll aber nicht nur mit der Wahrnehmung beginnen, sondern in der Vorstellung als Ort der Vergegenwärtigung bereits gemachter Wahrnehmungen zu ihrem endgültigen Ergebnis kommen. Selbst für Kant gilt, daß ohne Sinnlichkeit keine Synthesis und ohne Synthesis keine Erkenntnis stattfindet. Demnach kommt man - theoretisch zumindest niemals in den Stand, jenseits der Dimension der Wahrnehmung, der Empfindung bzw. der Vorstellung Sachverhalte benennen zu können, die im Bereich der Wahrnehmung, Empfindung bzw. Vorstellung erst gar nicht auftreten, wie Liebe, Gerechtigkeit oder Gott. Hierzu Dorothea Jecht: Die Aporie Wilhelm von Humboldts. Sein Studien- und Sprachprojekt zwischen Empirie und Reflexion, Hildesheim u.a. 2003 (Germanistische Linguistik. Monographien. 10), vor allem 85 ff. und 166 ff.; sie legt das methodische Problem am Beispiel Humboldts präzise dar, sieht es als Ausdruck von „Ratlosigkeit", das in eine „Sackgasse" (169) führe, sie stellt das Problem in den zeitgenössischen Kontext, wobei sie eine „kombinierte Methodik" als Trend innerhalb vieler wissenschaftlicher Bemühungen Ende des 18. Jahrhunderts, vor allem auf dem Gebiet der Naturforschung, ausmacht (166 f.); aber bei ihrer Darlegung bleibt sie doxographisch und rechtfertigt die methodische Unentschiedenheit implizit, indem sie sie als „vielleicht eine der letzten Weigerungen, das Wissen über den Menschen getrennten Disziplinen zu überlassen" (167), interpretiert. 43

Einleitung

XXVII

Auch ist es unter dieser Voraussetzung nicht erklärbar, warum ein Kind, wie die Erfahrung lehrt, bereits zu Beginn des Spracherwerbs fähig ist, unabhängig von variablen wahrnehmbaren Erscheinungen einen Tisch als Tisch zu bezeichnen. Dazu muß es davon absehen können, daß ein Tisch einmal weiß, einmal schwarz, einmal aus Holz, einmal aus Metall, einmal rund, einmal eckig ist. Unter dieser Voraussetzung ist auch nicht erklärbar, wie ein Kind, das zu Beginn des Spracherwerbs erst alle Männer mit Bart als ,Papa' bezeichnet und alle vierbeinigen Wesen als ,Wau-Wau', bald zur sachlichen und sprachlichen Differenzierung imstande ist. Zwar setzt die Annahme der Seele als einer psychischen Realität eine aktive, eigenständige Erkenntnisleistung voraus; und es wird auch immer wieder die Freiheit gegenüber den Eindrükken von außen als wesentliches Unterscheidungsmerkmal der Sprachbefähigung des Menschen im Unterschied zu den Tieren betont. Dadurch aber, daß selbst bei Kant die Spontaneität der Erkenntnis nicht losgelöst ist von Anschauung, sondern auf Sinnlichkeit und damit auf allererst einmal Rezipiertem fußt, sind Sponaneität und Freiheit bestimmte Grenzen gesetzt. Das Freisein gegenüber Eindrücken von außen als wesentliches Unterscheidungsmerkmal der Sprachbefähigung des Menschen im Unterschied zu den Tieren hat auch seine Probleme. Wenn die Bezeichnung einer Sache ins Belieben jedes Einzelnen gestellt wäre, könnte eine für mehrere Menschen, eine Gruppe oder gar eine Nation verbindliche Bezeichnung nur über Konsens bzw. über die Preisgabe der Freiheit erfolgen. Oder man müßte annehmen, daß sie in der Natur der Dinge selbst begründet liegt; das würde aber einen noch erheblicheren Verlust an Freiheit mit sich bringen. Johann Peter Süßmilch setzt in seinem Versuch eines Beweises, dass die erste Sprache ihren Ursprung [... ]allein vom Schöpfer erhalten habe 44 an die Stelle der ErfinJohann Peter Süßmilch: Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe, Berlin 1766; zur Aktualität der Annahme eines 44

XXVIII

Ulrike Zeuch

dung der Sprache durch den Menschen das Gegebensein der Sprache durch Gott. Aber auch in diesem Fall kommt eine aktive Erkenntnis- und Unterscheidungsleistung des Menschen als Bedingung dafür, Sachverhalte benennen zu können, nicht in Betracht. Nicht erklären läßt sich mit dem Gegebensein einer Ur-Sprache die Vielfalt an Sprachen. Die Einführung der göttlichen Instanz verdeckt dabei lediglich die Erklärungsnot der Sprachphilosophie. 45 a) Herders sprachphilosophische Position in der „Abhandlung über den Ursprung der Sprache" Johann Gottfried Herder versucht in seinen sprachphilosophischen Schriften, beginnend mit seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache, die genannten Probleme zu lösen. Dabei bezieht er sich nicht von ungefähr auf den Kratylos von Platon, werden in diesem Dialog doch sprachtheoretische Fragen gestellt, die die Sprachphilosophie zu Herders Zeit intensiv beschäftigen. 46 In der Bezugnahme auf den Kratylos steht Herder folglich auch nicht allein. Johann Nicolaus Tetens nennt in den beiden Schriften Über die Grundsätze und den Nutzen der Etymologie (1765-1766) und Über den Ursprung der Sprachen und der Schrift (1772) mehrfach Platon und den Dialog Kratylos. 47 göttlichen bzw. mythischen Ursprungs der Sprachen vgl. Robert Peters: Mythische Sprachphilosophie. Eine Studie zum Verhältnis mythologischer Sprachtheorie und Wilhelm von Humboldts Sprachtheorie am Beispiel ausgewählter Positionen, Diss. Düsseldorf 1985. 45 Zur These vom göttlich-menschlichen Sprachursprung und Herders Ablehnung vgl. Gebhard Fürst: Sprache als metaphorischer Prozeß. Johann Gottfried Herders hermeneutische Theorie der Sprache, Mainz 1988 (Tübinger Theologische Studien. Bd. 31), 195 f., Anm. 44. 46 Zur Bedeutung von Platons Kratylos innerhalb der Sprachursprungsdiskussion des 18. Jahrhunderts vgl. Neis: Anthropologie (Anm. 40), 17ff. 47 Johann Nicolaus Tetens: Sprachphilosophische Versuche, mit einer Einleitung v. Erich Heintel hg. v. Heinrich Pfannkuch, Hamburg 1971, 20, 22, 63 f.

Einleitung

XXIX

Wolfgang Proß verweist in seinem Kommentar zu Herders Abhandlung nicht nur auf die platonische Tradition allgemein und besonders auf den Kratylos, sondern nimmt darüber hinaus einen begriffsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen Platons anathrein (d.i. genau betrachten, genau beachten; perspicere oder attente considerare 48 ) als Teil der Etymologie von anthropos und Herders Besonnenheit als Vermögen zur Erzeugung menschlicher Sprache an. 49 In jedem Fall gleichen die im Kratylos behandelten zentralen Fragen denen in Herders Abhandlung erstaunlich. Die Gleichheit bezieht sich auf die Frage nach dem Status des Bezeichneten, ob das sprachliche Zeichen zeitbedingt oder von überzeitlicher Gültigkeit, ob es subjektiv gesetzt oder objektiv gegeben ist, und die Frage, ob dem Akt der Benennung eine Denkleistung vorausgeht oder Sprache Denken allererst konstituiert. Nicht in bezug auf die Fragen, sondern in bezug auf die Antworten unterscheidet sich Herder von Platon. ,anathreo', in: Thesaurus graecae linguae, begr. v. Heinrich Stephan, hg. v. Karl Benedikt Hase u.a., Bd. 1, Teil 2, Paris 1831-1856, Sp. 372. 49 Wolfgang Proß (Hg.): Johann Gottfried Herder: Werke, 3 Bde., Bd. 2, München/Wien 1987, 913, 947 u. 955; zu Herders Begriff der Besonnenheit vgl. neben Wolfgang Proß auch Gerda Hassler: Sprachtheorien der Aufklärung. Zur Rolle der Sprache im Erkenntnisprozeß, in: Abhandlungen der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse, Bd. 68, Heft 1 (1984), 73: Hassler versteht Herders Besonnenheit als Reflexion, die allerdings noch nicht voll ausgebildet sei; sie setze in den Stand, ein Merkmal aus dem Strom der Empfindungen zu isolieren und zu benennen. Vgl. ferner Ulrich Ricken: Sprachtheorien in der deutschen Aufklärung, in: ders. u.a. (Hgg.): Sprachtheorie und Weltanschauung in der europäischen Aufklärung. Zur Geschichte der Sprachtheorien des 18. Jahrhunderts und ihrer europäischen Rezeption nach der Französischen Revolution, Berlin 1990 (Sprache und Gesellschaft. 21), 210-273, hier 2 51 f. Ricken zufolge ist Herders Besonnenheit „eine zwar apriorische, aber so elementare geistige Fähigkeit, daß sich erst im Verlauf der nachfolgenden Evolution von Sprache und Denken das eigentliche Wesen des Menschen entfaltet"; zur Besonnenheit bei Herder vgl. auch Neis: Anthropologie (Anm. 40), 578 ff.; ihr gilt Herders Besonnenheit als 48

XXX

Ulrike Zeuch

Auf den ersten Blick scheint das Vermögen, das die dem Menschen spezifische Sprache im Unterschied etwa zur tierischen eindeutig bestimmt: Es ist die Besonnenheit.so Herder nennt dieses Vermögen aber auch Verstand, 51 Vernunft, 52 Reflexion53 bzw. Aufmerksamkeit.5 4 Diese Vielzahl von Begriffen für ein und dasselbe Vermögen mag zunächst irritieren, läßt sich aber leicht erklären, nämlich mit der in der Forschung vielfältig dokumentierten, seit Descartes allgemein werdenden Nivellierung der Unterschiede innerhalb der Seelenvermögen und der Ablehnung der sogenannten Vermögenspsychologie zugunsten einer Konzeption der Seele, die im wesentlichen durch den Gegensatz kategorial verschiedener seelischer Modifikationen: rezeptiver und spontaner, sinnlicher und bewußter bestimmt ist. Zwar versucht Christian Wolff in seiner Psychologia Empirica noch, sachlich zu unterscheiden, was bei Herder nurmehr dem Begriff nach unterschieden ist, nämlich attentio 55 und rezwar „reichlich verschwommen und allzu paraphrasierend" (582), aber Neis problematisiert diese Vagheit nicht: Reflexion und Besonnenheit seien eigentlich „synonym" (ebd.), aber dann wiederum auch nicht, da Besonnenheit „letztlich die genetische Voraussetzung für Reflexion und nicht mit dieser identisch" (583) sei. Vgl. schließlich Fürst: Sprache als metaphorischer Prozeß (Anm. 45), 232 ff., dessen Ausführungen zur Besonnenheit zwar rein deskriptiv, dafür aber ausführlich und informativ sind. Hingegen bemängelt schon Wilhelm Sturm: Herders Sprachphilosophie in ihrem Entwicklungsgang und ihrer historischen Stellung, Breslau 1917, daß Herder einerseits „die Besonnenheit als etwas fertiges, als von vornherein in voller Wirksamkeit befindlich voraussetzte, ohne ihrer allmählichen Entwicklung Rechnung zu tragen" (30 f.), andererseits sich dann doch noch „mit der ,Besinnung' aus der Verlegenheit zu helfen" (31) gesucht habe. so Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in: ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 1, hg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt/M. 1985, 719. s1 Ebd., 708. s2 Ebd., 718. 53 Ebd., 722. 54 Ebd. ss Christian Wolff: Psychologia empirica, in: ders.: Gesammelte

Einleitung

XXXI

flexio.5 6 Allerdings zeichnet sich schon bei Wolff eine Tendenz ab, die Herder konsequent fortführt. Schon bei Wolff sind Aufmerksamkeit und Reflexion nicht durch das unterschieden, was sie erkennen, sondern lediglich durch den Grad der Bewußtheit bzw. durch die Quantität der bewußt gemachten einzelnen Momente. Herder ebnet auch diesen graduellen Unterschied noch ein. Besonnenheit ist - wie schon bei Condillac 57 - beides: Aufmerksamkeit und Reflexion. Was aber bewirkt die Besonnenheit? Auch in dieser Hinsicht bestätigt sich dieselbe Tendenz zur Einebnung der Unterschiede zwischen den einzelnen Vermögen der Seele. Denn Herder äußert sich ausschließlich dazu, wie die Besonnenheit erkennt, nicht dazu, was sie erkennt. Besonnenheit soll frei wirken, indem sie nicht dem Mechanismus der Naturkausalität unterliegt.58 Sie macht bewußt, indem sie aufmerken läßt auf das, was man unbewußt, aber ungeschieden bereits erfaßt hat. Durch den Akt der Bewußtwerdung löst die Besonnenheit ein Merkmal eines beliebigen Gegenstandes aus dem Strom vielfältiger Sinneseindrücke heraus und erkennt es für sich als für diesen Gegenstand spezifisches Merkmal an. Wenn die Anerkennung wiederholt wird, bestätigt sie die bereits vollzogene Erfahrung und das isolierte Merkmal als signifikant und benennt es. 59 Daß das isolierte Merkmal tatsächlich für den zu bezeichnenden Gegenstand signifikant ist, begründet Herder nicht mit einer aktiven Erkenntnisleistung des Subjekts, sondern mit der Weise, wie es sich als spezifisch zu erkennen gibt: durch eine im Unterschied zu den übrigen Merkmalen größere Intensität. Als Werke, II. Abt.: Lateinische Schriften, Bd. 5, hg. v. Jean Ecole, Hildesheim 1968 (ND der Ausgabe Frankfurt u. Leipzig 1738), 168: „Facultas efficiendi, ut in perceptione composita partialis una majorem claritatem ceteris habeat". 56 Ebd., 187: „attentionis successiva directio ad ea, quae in re percepta insunt". 57 Neis: Anthropologie (Anm. 40), 583 und Anm. 209. 58 Herder: Abhandlung (Anm. 50), 719 u. 722. 59 Ebd., 722.

XXXII

Ulrike Zeuch

ambivalent erweist sich demnach die Leistung der Besonnenheit. Einerseits soll sie den Menschen dazu instand setzen, frei auszuwählen, welches Merkmal als signifikant aufzufassen sei, andererseits drängt sich eben dieses ihr auf. Die Willkürlichkeit der Benennung wird zurückgenommen zugunsten von Rezeptivität. Folglich ist Besonnenheit kein geistiges Vermögen, denn üblicherweise gilt die Sinnlichkeit gegenüber der Spontaneität des Denkens als rezeptiv. 60 Allerdings soll dieser Sinn von besonderer Beschaffenheit, nämlich kein einzelner, sondern ein sensorium commune und als solches identisch mit der einen Kraft der menschlichen Seele sein, in der Entgegensetzungen wie Sinnlichkeit und Instinkt, Phantasie und Kraft aufgehoben sind. 61 Erklären läßt sich Herders Rücknahme der Willkürlichkeit damit, daß er beweisen will, daß Sprache nicht durch Konvention gestiftet ist; 62 die Benennung soll notwendig sein. Weshalb Rezeptivität dabei zentral ist, liegt nahe. Wenn der Mensch im Akt des Benennens über keine Kriterien verfügt, ob das für spezifisch Erkannte auch tatsächlich der Sache selbst zukommt, kann Herder im wahrsten Sinne des Wortes nur blind darauf vertrauen, daß die Intensität des Eindrucks es ihm schon sagen werde. Die Favorisierung des Blinden seit dem durch Gottfried Wilhelm Leibniz u. a. erörterten Fall des Molyneux hat hierin ihren Grund. 63 Gesucht wird nach einem Sinn, in dem vorbeJürgen Trabant: Artikulationen. Historische Anthropologie der Sprache, Frankfurt/Main 1998, bezeichnet Herders Besonnenheit der Sache nach zutreffend als „Hörigkeit gegenüber der lebendigen Welt" (114), ohne allerdings Herders eigentliche Intention, Besonnenheit als Akt der Bewußtwerdung zu verstehen, überhaupt noch zu erwähnen. 61 Herder: Abhandlung (Anm. 50), 719; vgl. Verf.: Umkehr der Sinneshierarchie (Anm. 23), 142 ff.; vgl. Ulrich Gaier: „Nous sommes un sensorium commune pensant": l'aspect anthropologique de la langue chez Herder, in: Pierre Penisson u. Norbert Waszek (Hgg.): Herder et !es Lumieres. L'Europe de la pluralite culturelle et linguistique, Paris 2003 (Revue Germanique Internationale 2012003), 29-45. 62 Herder: Abhandlung (Anm. 50 ), 724 f. 63 Vgl. Michael J. Morgan: Molyneux's question. Vision, tauch and 60

Einleitung

XXXIII

grifflich und ungeschieden tatsächlich alle bestimmenden Momente eines Gegenstandes zusammen sind, von denen sich einer im nachfolgenden Akt der Besinnung isolieren läßt. 64 Wenn aber der Akt der Bezeichnung nurmehr darin besteht, aus dem Strom ungeschiedener Momente eines zu isolieren und für sich anzuerkennen, kann Besonnenheit weder die Verbindung von Assoziationen erfassen, die dem ersten Urteil der Seele, wie Herder es nennt, d. i. der bewußten Anerkennung eines Merkmals als für den Gegenstand x spezifischen, vorausliegen, noch kann sie beurteilen, ob die Verbindung der Assoziationen dem Gegenstand x überhaupt entspricht. überdies bleibt der Sprechende stets der Dimension der Wahrnehmung bzw. der ihr entsprechenden Vorstellungen verhaftet. Er ist darauf angewiesen, daß sich wahrnehmungs- bzw. empfindungsimmanent alle für einen Sachverhalt bestimmenden Momente eines Gegenstandes vorfinden. Das gilt jedoch weder für wahrnehmbare Gegenstände noch viel weniger für der Wahrnehmung überhaupt nicht zugängliche. Wahrnehmbar ist zudem immer nur einzelnes: eine bestimmte Farbe, eine bestimmte Form, ein bestimmter Ton. Folglich ist die sich ausschließlich auf Wahrnehmbares beziehende Bezeichnung punktuell und beschränkt, sie ist relativ, ja widersprüchlich wie das zu bezeichnende Wahrnehmbare selbst; denn im nächsten Moment hat dieses möglicherweise seine Farbe, seine Form, seinen Ton verändert. Da Herder das Problem selbst sieht, bestreitet er, daß die Namen nur einzelnes benennen würden. Statt dessen behauptet er, mit der Benennung· sei etwas Allgemeines erfaßt. Deshalb spricht er von der Idee oder dem inneren Wort. Allerdings bleibt dies unbewiesen und muß es aufgrund der empirischen Methode auch bleiben. Zwar versucht Herder, seine These mit dem Hinweis auf die inhaltliche Unschärfe der in der Sprachgethe philosophy of perfection, Cambridge u.a. 1977; Marjolein Degenaar: Molyneux's problem. Three centuries of discussion on the perception of forms, übers. aus dem Dänischen von Michael J. Collins, Dordrecht u.a. 1996 (Archives internationales d'histoire des idees. 147). 64 Herder: Abhandlung (Anm. 50), 743 f.

XXXIV

Ulrike Zeuch

nese ersten Worte zu belegen; sie drückten nichts Bestimmtes, sondern etwas in Bewegung Befindliches aus. Um der inhaltlichen Unbestimmtheit oder Offenheit willen votiert Herder für die mündliche statt der schriftlichen Sprache, für die Wortgattung der Verben statt der Substantive, für die poetische statt der prosaischen Sprache, für die Sprache der rohen Naturmenschen,65 des Kindes, der Griechen, 66 statt der kultivierten Sprache. Wenn aber die ersten inneren, noch unausgesprochenen Worte inhaltlich nichts Bestimmtes meinen und alle nachfolgende Reflexion sich auf eben diese ersten inneren Worte zu beziehen hat, dann ist man weder imstande zu wissen, was man im Sprechen mitteilt, noch das Gesagte im Hinblick auf das Gemeinte zu korrigieren oder zu präzisieren, noch zu erkennen, ob das gewählte Wort etwas bedeutet und ob das Gemeinte mit den gewählten Worten angemessen ausgedrückt ist. Herder hingegen ist überzeugt, die Idee sei subjektimmanent vorfindbar. Er nennt seinen Ideenbegriff zwar platonisch, 67 dieser ist aber maßgeblich vermittelt durch die Platon-Deutung seit der frühen Neuzeit. Herder zufolge sind die Ideen allgemeine Wahrheiten und als solche dem Menschen eingeboren, 68 man könne sich ihrer „platonisch erinnern" ;69 was in dem „platonischen Spiegel der Wiedererinnerung" 70 erkennbar werde, sei „der Begriff der Sache". 71 Die Notwendigkeit, trotz des PriEbd., 777· 66 Johann Gottfried Herder: Über die Bildung einer Sprache, in: ders.: Werke, Bd. 1, hg. v. Wolfgang Proß, München/Wien 1984, 145210, hier 172 ff. 67 Johann Gottfried Herder: Viertes Kritisches Wäldchen, in: d~rs.: Werke, Bd. 2 (Anm. 49), 57-240, hier 133, und Spinoza-Gespräche, in: ebd., 733-843, hier 843. 68 Herder: Viertes kritisches Wäldchen (Anm. 49), 141. 69 Johann Gottfried Herder: Zum Sinn des Gefühls, in: ders.: Werke, Bd. 2 (Anm. 49), 241-250, hier 244. 10 Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden (1775), in: ders.: Werke, Bd. 2 (Anm. 49), 654. 71 Johann Gottfried Herder: Plastik (1778), in: ders.: Werke, Bd. 2 (Anm. 49), 465-542, 469. 6s

Einleitung

XXXV

mats der Empirie eingeborene Ideen anzunehmen und Lockes tabula rasa mit Leibniz' eingeborenen Allgemeinbegriffen als virtueller Anlage zu vereinbaren/2 erklärt sich aus Herders Zugeständnis, daß es „mit dem unendlichen Auffluge ihrer positiven Kraft (sc. der Seele) in allmächtiger Selbstheit" 73 nichts sei. Die Seele setzt sich ihre Inhalte nicht selbst, indem sie sie erzeugt, sondern sie sind ihr gegeben. Was ihr gegeben ist, weist dabei keine inhaltliche Bestimmtheit auf, sondern ist in steter Bewegung begriffen. Deshalb spricht Herder vom „Strom des Plato". 74 b) Herders sprachphilosophische Position in der »Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft« Zwischen dem Erscheinen von Herders Abhandlung von 1772 und den beiden Teilen Eine[r] Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, Verstand und Erfahrung sowie Vernunft und Sprache, von 1799 liegen 27 Jahre. Selbst wenn zutrifft, was Herder am 5. April 1799 an Gleim schreibt, daß die Metakritik „seit bald 20 Jahren" 75 gedacht gewesen sei, ist doch die Frage naheliegend, ob sich in der Zwischenzeit in Herders sprachphilosophischer Konzeption etwas Grundsätzliches geändert hat. Immerhin sind in dieser Zwischenzeit für die Sprachphilosophie der Sache nach zumindest mittelbar folgenreiche erkenntnistheoretische Entwürfe entstanden; dazu gehören neben Kants Kritik der reinen Vernunft von 1781 Fichtes Über den Begriff der Wissenschaftslehre von 1794, das Älteste Systemprogramm Vgl. Ulrich Ricken: Leibniz, Wolff und einige sprachtheoretische Entwicklungen in der deutschen Aufklärung, in: Sitzungsberichte der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologischhistorische Klasse, Bd. 129, Heft 3 (1989), 16 ff. 73 Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden (1778), in: ders.: Werke, Bd. 2 (Anm. 49), 664-723, hier 688. 74 Herder: Spinoza-Gespräche, in: ders.: Werke, Bd. 2 (Anm. 49), 733-843, hier 838. 75 Herder: Briefe (Anm. 2), Bd. 8, 46. 72

XXXVI

Ulrike Zeuch

des deutschen Idealismus 76 sowie die Schriften der Frühromantiker und Hölderlins.77 Der Sache nach folgenreich sind insbesondere die genannten idealistischen Entwürfe für die Sprachphilosophie insofern, als sie - dem Anspruch nach - Erkenntnis radikal subjektivieren, Welt aus dem Subjekt konstituieren und den objektiven Weltbezug durch Sprache in Frage stellen, um den es Herder geht. Gegen diese Art ,Selbstdenker' richtet sich Herder in der Metakritik explizit; er nennt sie „Despoten" wider Willen, da sie, „was sie dachten, mit Macht auf[drängen]" 78 würden. Die Tatsache, daß die genannten Entwürfe trotz dieses Anspruchs gleichwohl von einem Gegebenen in der Anschauung ausgehen, allein läßt aber schon vermuten, daß die Hervorhebung der Unterschiede zwischen vorkritischer und kritischer Philosophie durch das Bedürfnis nach Abgrenzung wesentlich mit bestimmt ist und das Bewußtsein, eine kopernikanische Wende vollzogen zu haben, durchaus blinde Flecken aufweisen kann.79 Vgl. dazu Frank-Peter Hansen: „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus". Rezeptionsgeschichte und Interpretation, Berlin u.a.1989 (Quellen und Studien zur Philosophie. Bd. 23); Günter Arnold: Herder und die Philosophie des deutschen Idealismus nach den biographischen Quellen, in: Marion Heinz (Hg.): J.G. Herder und die Philosophie des deutschen Idealismus, Amsterdam u.a. 1997 (FichteStudien-Supplementa. 8), 189-202. 77 Zu Herders Ablehnung des transzendentalen Idealismus vgl. Karl Menges: Erkenntnis und Sprache. Herder und die Krise der Philosophie im späten achtzehnten Jahrhundert, in: Wulf Koepke (Hg.): Johann Gottfried Herder. Language, History, and the Enlightenment, Columbia (SC) 1990 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture. Bd. 52), 47-70. 78 Johann Gottfried Herder: Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, in: ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 8, hg. v. Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt/M. 1998, 305. 79 Eine kopernikanische Wende vollzogen zu haben - davon spricht Kant in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft 1956, B XVI. Mit ihr erhebt er zugleich den Anspruch, als einziger und auf dem einzigen 76

Einleitung

XXXVII

Herder ist sowohl in der Abhandlung wie der Metakritik 80 davon überzeugt, daß jede menschliche Erkenntnis durch Sprache (das äußere, gesprochene Wort wie das innere Merk-Wort) vermittelt und nur über die empirisch nachvollzogene Genese der Begriffsbildung das Prinzip menschlicher Erkenntnis zu ermitteln sei. Als Urteil gilt Herder in der Abhandlung81 wie der Metakritik 82 der Akt der Prädikation, d.h. der Synthesis oder Zusammensetzung von Subjekt und Prädikat durch das ist, der eine Auflösung, Trennung, Unterscheidung oder Analysis derselben vorausgeht.8 3 Und zwar soll sich der Sinn des Subjekts ,Schaf', worunter Herder „irgend ein Merkmal, ein Verhältnis, eine Beschaffenheit" 84 versteht, durch den bloßen Akt der Prädikation ,offenbaren'. Dabei gibt Herder selbst in der Metakritik zu bedenken, daß die „merklichste Eigenschaft nicht immer die wesentlichste" sei und „keine menschliche Charakteristik [ ... J wesentlich und vollständig" bezeichne. 85 Es scheint, als nehme er diese Art der Fehlurteile als unvermeidbar hin; jedenfalls macht er keinen Vorschlag, wie sie vermieden bzw. Weg, der übrig, denkbar und sinnvoll ist (A XII), das, was Scheinwissen war, zu einem Zeitpunkt, da die Urteilskraft gereift ist, auf eine gesicherte Grundlage zu stellen (A XI). Interessanterweise läßt Herder den Jüngling angesichts der ,,Fata Morgana. Zerbrochene Säulen, umgekehrte Häuser, Paläste und Schiffe, zerrissene, schwebende Brücken [ ... ]", die für die „älteren philosophischen Systeme" stehen, „voll widernden Schauers" zurückschrecken (Herder: Metakritik [Anm. 78], 308). so Herder: Metakritik (Anm. 78), 320. BI Herder: Abhandlung (Anm. 50 ), 72 3 f. 82 Herder: Metakritik (Anm. 78), 397. 83 Zu den Begriffen ,Analysis' und ,Synthesis' in der Metakritik vgl. Herder (Anm. 78), 335 ff. und 413; zum Kontext der Methodenfrage vgl. Hans-Jürgen Engfer: Philosophie als Analysis. Studien zur Entwicklung philosophischer Analysiskonzeptionen unter dem Einfluß mathematischer Methodenmodelle im 17. und frühen 18. Jahrhundert, Stuttgart-Bad Cannstatt 1982; Norton: Herder's Aesthetics (Anm. 28), 11

ff. 84 Herder: Metakritik (Anm. 78), 336. ss Ebd„ 404.

XXXVIII

Ulrike Zeuch

korrigiert werden könnten, 86 und kann es auch nicht, da er die Auffassung vertritt, es entziehe sich der menschlichen Erkenntnis, wie der sinnlich wahrnehmbare Gegenstand geistiger Typus, wie er Gedanke werde.87 Im Unterschied zur Abhandlung nimmt Herder in der Metakritik den Aspekt, daß Besonnenheit ein „ Vorzug der Freiheit" 88 sei, zurück, um sich von Kants „Spontaneität des Verstandes"8 9 deutlich abzusetzen, und er verstärkt den Akzent, daß der Besonnenheit (dem Verstand, der Vernunft) alles gegeben sei, sowohl die Inhalte (sinnliche Data) wie die Art der Verknüpfung dieser Data. 90 Gleichwohl sollen gerade die Prädikationen der Besonnenheit „Kenntnisse erweitern", indem „das Prädikat etwas saget, das nicht sogleich im Subjekt erscheinet". 91 Das Problem, wie der menschliche Verstand zu neuen Erkenntnissen kommt, wenn ihm alle Inhalte durch die Erfahrung immer schon gegeben sind, die er lediglich in einzelne Bestandteile zerlegt, um sie wieder zusammenzusetzen, erörtert Herder in der Abhandlung nicht eigens. Geschärft hat sich sein Blick für dieses Problem durch den Idealismus, der sich vehement gegen den - so etwa Friedrich Schlegel - Mechanismus des Denkens wendet. Unter ,Mechanismus' versteht Schlegel die Zuordnung von Vorstellungen zu Begriffen, von Begriffen zu Begriffen und die aus diesen Zuordnungen sich ergebenden Verknüpfungen von Begriffen in einzelnen Sätzen, Urteilen und Schlußverfahren. Wenn Herder „nicht ewig Identitäten, d. i. Ein und DasDe facto erkennt schon ein Kleinkind, das zunächst zu allen Männern mit Bart ,Papa' sagt, wenn sein eigener Vater einen Bart hat, irgendwann, daß das innere Merkwort (einen Bart haben) für den Begriff , Vater', der als ,Papa' bezeichnet wird, zu unspezifisch ist. Es erkennt also, daß es, indem es ,Papa' mit ,Bart haben' verknüpft hat, den Sinn von Vater noch nicht hinreichend verstanden hat. 87 Herder nennt diese Umwandlung ,Metaschematisieren' oder „Metastasis", Metakritik (Anm. 78), 418. 88 Herder: Abhandlung (Anm. 50), 716. 89 Herder: Metakritik (Anm. 78), 422. 90 Ebd., 400 ff. 91 Ebd., 336. 86

Einleitung

XXXIX

selbe A = A herbeten oder 4 in 2 + 2 auflösen" 92 will, dann teilt er mit Schlegel die Überzeugung, daß der Widerspruchssatz bloß Tautologien feststellen könne. 93 Zwar will Herder, anders als Schlegel, den Bezug zur empirischen Gegenstandswelt neu etablieren, nicht auflösen, und meint, auf diese Weise sowohl den abstrakt-logischen, seiner Meinung nach inhaltsleeren Mechanismus des Denkens 94 vermeiden wie die Erkenntnis von Neuem begründen zu können. Wenn aber der Besonnenheit der sinnlich wahrnehmbare Gegenstand, etwa das Schaf, und nur dieser gegeben ist und sie über diesen hinaus über keine eigenen Inhalte und Kriterien der Beurteilung verfügt, kann die Besonnenheit nurmehr unter ein Merkmal diejenigen Vorstellungen subsumieren, die ihr bereits allesamt vorliegen. Weder erfaßt sie etwas Neues, noch kommt sie über eine tautologische Bestätigung dessen, was ist, hinaus. Auch hinsichtlich der Erkenntnisweise kann von einem Unterschied zwischen Abhandlung und Metakritik nur bedingt gesprochen werden, denn die entscheidende Voraussetzung, erfahrungsimmanent etwas Wesenhaftes erfassen zu wollen, bleibt uneingeschränkt gültig. Sprache hat für Herder nicht die Funktion, Unterschiede zu artikulieren, die zuvor erkannt worden sind. 95 Zwar spricht Ebd. 93 Vgl. Verf.: Das Unendliche - Höchste Fülle oder Nichts? Zur Problematik von Friedrich Schlegels Geist-Begriff und dessen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen, Würzburg 1991 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft. 69 ), 66 ff. 94 Vgl. auch Herders Polemik in der Abhandlung (Anm. 50) gegen „kalte, vernunftlangsame, sorgsam abstrahierende Experimente, wie sie der müßige, einsame Philosoph macht" (777). 95 Laut Jürgen Trabant: Artikulationen. Historische Anthropologie der Sprache, Frankfurt/M. 1998 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft. Bd. 1386), 29, überwindet Herder damit eine längst fällige Trennung: „Weder sind Signifikate und Signifikanten, noch Kognition und Kommunikation getrennt, noch das Universelle vom Historischen. [ ... ] Kognition ohne Kommunikation ist steril, wenn nicht vielleicht sogar unmöglich, da sie nur durch die Kommunikation in die Existenz tritt". 92

XL

Ulrike Zeuch

er von ,unterscheiden', ,trennen', ,vergleichen', ,ordnen' und ,verknüpfen' usf. als wesentlich zur Begriffsbildung gehörenden Akten sowohl in der Abhandlung96 als auch in der Metakritik.97 Aber um einen bestimmten Unterschied artikulieren zu können, greift der Mensch auf etwas bereits Unterschiedenes, etwa beim Schaf auf das Blöken, zurück, das sich ihm als Merkmal aufdrängt bzw. das er dann als inneres Merkwort in sich wiederfindet. Und dieser Unterschied oder dieses Merkmal ist zugleich Artikulation. Warum Herder, obwohl das Blöken der „Name des Schafs" sein soll und die Seele „in ihrem Inwendigen geblöckt" und „wiedergeblöckt" 98 hat, das Schaf dann doch ,Schaf' nennt und nicht das Blökende oder eher: ,Mäh', ist nicht ersichtlich. 99 In jedem Fall geht der Artikulation keine Erkenntnis voraus, sondern sie ist mit ihr identisch. „Lasset - so Herder in der Abhandlung - ihm (sc. dem Menschen) den freien Gebrauch seiner Sinne: da der Mittelpunkt dieses Gebrauchs in Gesicht und Gehör fällt, wo jenes ihm Merkmal und dieses Ton zum Merkmale gibt: so wird mit jedem leichtern, gebildetem Gebrauch dieser Sinne, ihm Sprache fortgebildet" .1°0 Dasselbe gilt 96 Herder: Abhandlung (Anm. 50), 776. 97 Herder: Metakritik (Anm. 78), 320. 98 Herder: Abhandlung (Anm. 50), 724. 9 9 Andreas Leopold Hofbauer: Ökonomien der Sprache. Erörterungen zirkulär-genetischer, eschatologischer und disseminatorischer Ökonomien der Sprachphilosophie, Wien 1995, erklärt dies durch die Arbitrarität zwischen Begriff und Wort: „Das Wort ist nicht einfach der Ausdruck des Begriffs, sondern er ist völlig unabhängig von diesem" (52); eben diesen inneren Begriff (das Blökende) nennt Herder in der Abhandlung aber „Wort" (Herder [Anm. 50], 724). So eindeutig ist die von Hofbauer angenommene Unabhängigkeit m. E. nicht. Hofbauer selbst hebt dann auch hervor, daß das Verhältnis zwischen Begriff und Wort zwar arbiträr sei, sich die Trennung aber wieder aufhebe, da sich ein Begriff „doch nur durch eine lautliche Bezeichnung verfestigen" (ebd., 53) könne. 100 Herder: Abhandlung (Anm. 50), 775. Die hier festgelegte Zuordnung von Auge und Ohr zu Merkmal und Ton stimmt mit der im

Einleitung

XLI

Herder zufolge für den Spracherwerb des Kindes durch die Eltern. Verstehen im Sinne von ,unterscheiden' hat auch in diesem Falle nicht statt, sondern das Kind stammelt nach, was ihm vorgesagt worden ist. Wie beim Blöken des Schafes etwas Wesenhaftes soll auch mit dem Wort der Eltern ihre „ganze Seele, die ganze Denkungsart" 101 mitgeteilt werden. Kaum läßt sich dies mit Herders Äußerung an früherer Stelle der Abhandlung vereinbaren, daß Eltern ihre Kinder nie Sprache lehren würden, „ohne daß diese nicht immer selbst mit erfänden" .102 Wenn aber Sprache nicht die Funktion hat, Unterschiede zu artikulieren, die zuvor erkannt worden sind, sondern lediglich etwas bereits Unterschiedenes sprachlich repräsentiert, das man reproduziert, dann dient Sprache nicht der Mitteilung, 103 kurz: der Entfaltung menschlicher Denkvielfalt in der kritischen, produktiven, auch kontroversen Auseinandersetzung über Sachverhalte.104 Dies aber müßte man angesichts Herders Überzeugung vom Fortgang des menschlichen Denkens in der Geschichte der Menschheit und seiner Rede, daß Eltern ihre Kinder „auf Unterschiede der Sachen, mittelst gewisser Wortzeichen",105 aufmerksam machten, eigentlich annehmen. Statt dessen soll Sprache eine generelle Empathie oder Sympathie erzeugen und das egoistische Monadendasein, von dem Herder am Anfang der Abhandlung106 spricht, auf der Gefühlsebene Schaf-Beispiel nicht überein, denn bei diesem ,gibt' das Gehör das Merkmal, und der Ton oder das gesprochene Wort ,Schaf' hat mit dem Blöken nichts gemein. 101 Ebd., 786. 102 Ebd., 727. 103 Ebd., 746. 104 Selbst wenn, wie Hofbauer: Ökonomien der Sprache (Anm. 99), 27, meint, der Dialog und das Gespräch, primär das mit sich selbst geführte, bei den zu Beginn des Spracherwerbs synonymisch gebrauchten Termini wie Wort und Vernunft, Begriff und Wert, Sprache und Ursache zu einer Klärung, d.h. einer Unterscheidung führt, heißt das noch nicht, über Sachverhalte diskutieren zu können. 1os Herder: Abhandlung (Anm. 50 ), 727. 106 Ebd., 697.

XLII

Ulrike Zeuch

überwinden. Unter dieser Voraussetzung kann man aber niemals ein Urteil über die Richtigkeit der von den Eltern bzw. generell von anderen vorgenommenen Unterscheidung treffen. Sprache dient dann lediglich der Wiedergabe von bereits Artikuliertem; darauf beschränkt sich dann Kommunikation. Das Reproduzierte bleibt dabei in der Dimension der Wahrnehmung bzw. Vorstellung. Miteinander sprechen können im Prinzip nur die, welche derselben Sprachgemeinschaft angehören.10 7 Über Sachverhalte, die keine Gegenständlichkeit oder eine solche nicht mehr aufweisen, da sie als Gegenstände jetzt inexistent sind, auf die man also auch nicht zeigen kann, ist eine Verständigung nicht möglich. In der Metakritik wird diese Position verstärkt, nicht revidiert. So gelten Herder die Worte „Dasein, Gegenstand" als übereinstimmend mit „ Wahr, Wissen und Wesen" dadurch, daß sie allesamt etwas „Daseiendes, Gewisses, Festes" bezeichneten.108 Andreas Leopold Hofbauer nennt diese Position „Präsenz- und Wesensmetaphysik". 109 Insofern Sein, Dasein usf. die Grundvoraussetzungen von Erfahrung sein sollen, trifft diese Bezeichnung zu. Nur betrifft beispielsweise Herders Begriff von ,Sein' als Basis oder Urkategorie der ersten, nach dem Schema eines Quartenars aufgebauten „realontologischen" 110 Ursprungsformel, d. i. der Zahlenkreuzformel oder Tetraktys, m in der Metakritik 112 die Materie, d. h. die materielle Voraussetzung Hofbauer: Ökonomien der Sprache (Anm. 99), 31, weist auf Herders Argument der Universal-Grammatik hin, die dann doch eine Verständigung innerhalb verschiedener Sprachgemeinschaften erlaube; allerdings gelingt es Herder nicht, wie Hofbauer zu Recht betont (ebd„ Anm. 55), plausibel zu machen, wieso es überhaupt verschiedene Sprachen gibt, wenn doch die Vernunft überall dieselbe sein soll. 108 Herder: Metakritik (Anm. 78), 364. 109 Hofbauer: Ökonomien der Sprache (Anm. 99), 53. 110 Vgl. Florian Mayr: Herders metakritische Hermetik. Eine Untersuchung zum Diskurs über die „Heilige Tetraktys" im Deutschland des 18. Jahrhunderts, Diss. München 2003, 45. 111 Ebd„ 3 2 ff. 112 Herder: Metakritik (Anm. 78), 365 u. 401. 10 7

Einleitung

XLIII

für die Entwicklung der gegenständlichen Welt; ,Sein' meint nicht - wie etwa in der platonisch-aristotelischen Philosophie - bestimmtes Sein. Sonst würde Herder in der Metakritik nicht immer wieder betonen, daß Erkenntnis vom Allgemeinen 113 im Sinne von Unbestimmtsein - „eine unbestimmt-hingeworfene Zahl" 114 der „das unbestimmte Allgemeine" 115 - zum Besonderen im Sinne von Partikularisieren fortschreite. 116 Analoges gilt für die drei weiteren Grundelemente der Erfahrung, die Herder in der Metakritik „Grundbegriff[e] der Vernunft" bzw. Kategorien 117 nennt: Dasein (im Raum), Dauer (in der Zeit) und Kraft; 118 denn sie betreffen die materiellen Bedingungen, unter denen Gegenstände erscheinen, die bei Herder, der hierin Kant folgt, implizit zu Ordnungsweisen des Subjekts, zu (subjektiven) Konstruktionen 119 des „Neben-, Nach- und Durcheinander"120 von Gegenständen werden. In jedem Fall dienen aber auch sie nicht der Erkenntnis dessen, was ist, sondern sie sind die materiellen Voraussetzungen. Hofbauer meint, daß im Vergleich mit der Abhandlung, die noch von der Arbitrarität von Vorstellung und Lautbild, Begriff und Wort, Signifikat und Signifikant ausgehe, in der Metakritik Ebd., 508. 114 Ebd., 509. 115 Ebd., 510. 116 Ebd., 513. Zu Recht hebt Mayr: Herders metakritische Hermetik (Anm. 110), hervor, daß Herder, indem er „die Zahlenformel seines ,Vernunftgesetzes' von der ,Sinnenempfängnis' her ,zählt', das Dimensionsmodell der Antike genau umkehrt, „in welcher der Nus als der ,Punkt' ursprünglicher Potentialität definiert war [ ... ]" (46). 117 Herder: Metakritik (Anm. 78), 364. 118 Ebd.,J65. 119 So spricht Herder beispielsweise in Bezug auf die Mathematik, die sich mit den drei Begriffen Raum, Zeit und Kraft beschäftige, davon, „daß sie Kräfte als Verhältnisse zu einander im Raum und in der Zeit setzet, und solche als ihre eigne Ideen nach Zahl und Maß konstruieret" (ebd., 366); eben diese Begriffe sollen aber „die Natur in unsern Bau konstruieret" (ebd.) haben. 120 Ebd., 366. 113

XLIV

Ulrike Zeuch

eine kritische Ebene entfalle, „welche Richtung der Entscheidung und Überprüfbarkeit ergeben könnte" .121 In gewisser Weise trifft das zu, wenn Herd er sagt, daß das „ Sein [ ... ] der Grundbegriff der Vernunft und ihres Abdrucks, der menschlichen Sprache" 122 sei. Aber die Tendenz zur Nivellierung der Unterschiede läßt sich schon in der Abhandlung feststellen, und Herder hält auch in der Metakritik am Unterschied zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem fest. Die von Herder als „Urbegriffe unsres Verstandes" 123 bezeichneten Begriffe wie Sein, Dasein, Dauer und Kraft beziehen sich ausschließlich auf Dinge im Sinne von „wirklichen Gegenständen". 124 Ohne die „innere Natur" zu kennen, bekommen diese Dinge einen Namen,125 indem ein Merkmal als ,diesem Ding da' zugehörig anerkannt wird. Über diese Anerkennung hinaus gibt es eigentlich keine weitere, differenziertere Erkenntnis. Und doch geht Herder davon aus, indem er behauptet, daß die Sprache zwar nur sinnliche Begriffe kenne, aber zugleich „die feinsten Begriffe des Verstandes" bezeichnen würde, „so daß nicht welches Wort, sondern in welchem Sinn das Wort dort und hier gebraucht werde, den Ort des Begriffs entscheidet" .126 Offen bleibt, wie man zu einem anderen (nicht sinnlichen) Sinn gelangen kann, wenn sich Erkenntnisfortschritt nur sprachimmanent entwickelt, und wie unterschiedliche Bedeutungen ein und desselben Worts unterschieden werden können. Tatsächlich ändert sich an der Erkenntnis des primär sinnlich wahrgenommenen und durch ein Merkmal ,identifizierten' Gegenstandes, seiner sinnlichen Bedeutung, die eigentlich, das sieht Herder durchaus, zu den „Partikular-Eindrücken" 127 zählt, auch im weiteren Fortgang nichts; seine ,Bedeutung', sein ,Sinn' wird 121

122 123 124 12s 12& 127

Hofbauer: Ökonomien der Sprache (Anm. 99), 55. Herder: Metakritik (Anm. 78), 364. Ebd., 401. Ebd., 479· Ebd., 403. Ebd., 482. Ebd., 552.

Einleitung

XLV

lediglich unterschiedlichen Kategorien subsumiert, nicht differenziert oder gar eine möglicherweise falsche Generalisierung, wozu die Kinder, so Herd er, neigen, 12 8 korrigiert.

4. Zu dieser Ausgabe Erich Heintel hat in der Erstausgabe ausgewählter Schriften von Herder zur Sprachphilosophie von I960 als Kriterium angegeben, Schriften auszuwählen, welche „die Sprache in den Mittelpunkt" stellen, 129 gleich aber als Einschränkung hinzugefügt, daß er dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebe. Es gebe „nicht einen Band der großen und maßgebenden Ausgabe von Suphan [ ... ], aus dem nicht entweder direkte oder durch den Zusammenhang bedeutsame - indirekte Äußerungen Herders zu unserem Thema in mehr oder minder umfänglicher Partien zu zitieren wären"; aus diesem Grund hält Hein tel eine „ volle Geschlossenheit in der Wiedergabe des sprachphilosophischen Denkens" für nicht erreichbar. 130 In der zweiten Auflage von I964 hat er die Auswahl durch Auszüge aus der Ältesten Urkunde, den Erläuterungen zum neuen Testament und Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele ergänzt. Heintels Prinzip der Exemplarität halte ich für begründet und folge ihm auch in der jetzigen Neuauflage. Seine Ansicht, daß durch die Auswahl für den Leser ein geschlossenes Bild seiner Sprachphilosophie nicht möglich sei, teile ich hingegen nicht. Die von Heintel getroffene Auswahl erlaubt einen repräsentativen Einblick in Herders sprachphilosophischen Ansatz sowohl systematisch wie in seiner historischen Entwicklung, weshalb ich die erweiterte zweite Auflage nicht um weitere Ebd., 55i. 129 Johann Gottfried Herder: Sprachphilosophische Schriften, aus dem Gesamtwerk ausgewählt, mit einer Einleitung, Anmerkungen und Registern versehen von Erich Heintel, Hamburg 1960 (Philosophische Bibliothek. 248), X. 130 Ebd. 128

XLVI

Ulrike Zeuch

Texte ergänze, auch wenn seit 1960 neue Texte aus dem Nachlaß von Herder zugänglich gemacht worden sind, wie beispielsweise die Skizze Zum Sinn des Gefühls. Sie fügt aber keinen substantiell neuen Aspekt hinzu. Herders These, daß die Begriffe des Blinden, der ganz seinem Gefühl, seinem Tastsinn vertraue, „stark fühlbar, sinnlich", „unmittelbar in uns" gegenwärtig seien, 131 findet sich beispielsweise auch im Vierten kritischen Wäldchen oder in der Abhandlung, um nur diese zu nennen. Den Grundsätzen der Philosophischen Bibliothek entsprechend hat Heintel die der Suphan-Ausgabe entnommenen Ausschnitte aus Herders Schriften sprachlich wie grammatikalisch an den Stellen modernisiert, wo durch Herders Rechtschreibung, Zeichensetzung und durch seine Hervorhebungen der Text seiner Meinung nach schwerer lesbar bzw. weniger verständlich ist. Im Falle der Abhandlung iiber den Ursprung der Sprache hat Heintel die Erstausgabe von 1772 zugrunde gelegt, um der Lesbarkeit und Verständlichkeit willen jedoch manche Formulierungen aus der zweiten Ausgabe von 1789 und aus den erhaltenen Handschriften übernommen, ohne allerdings diese übernahmen zu markieren. Die Editionsprinzipien von Heintel entsprechen nicht mehr heutigen Vorstellungen, sind jedoch zu rechtfertigen, da er als Herausgeber keine den Sinn entstellenden Eingriffe vorgenommen hat. Wir hatten mit dem Verlag gemeinsam überlegt, ob wir die Abhandlung iiber den Ursprung der Sprache aus einer heutigen Standards entsprechenden Ausgabe in die vorliegende Ausgabe übernehmen sollten. Das wäre im Rahmen der gesamten Ausgabe aber Flickwerk und so haben wir von dieser Überlegung Abstand genommen. Neu gesetzt sind das Inhaltsverzeichnis, die Einleitung, die Anmerkungen und die Register. Heintel hat Auslassungen im Text jeweils durch drei Punkte an der betreffenden Stelle gekennzeichnet, Einschübe von ihm stehen in eckigen Klammern. Dies gilt ebenso für die Zahlenanrn Herder: Zum Sinn des Gefühls (Anm. 69), 243.

Einleitung

XLVII

gaben und Überschriften der einzelnen Kapitel, auch wenn ihr Text zum Teil Herder selbst entnommen ist. Die Anmerkungen in der Einleitung und in den vier Hauptteilen der ausgewählten Texte wurden jeweils getrennt durchgezählt. Im Anmerkungsteil zu den Textausschnitten sind die von Heintel der Ausgabe von Suphan hinzugefügten Anmerkungen durch ein nachgestelltes (H.) markiert. Originalanmerkungen Herders sind mit einem Sternchen ('') versehen und als Fußnote dem Text angefügt. Zuletzt sei kurz etwas über den Kontext der einzelnen Texte gesagt: Abhandlung über den Ursprung der Sprache SWS, Bd. 5, 1ff. Unmittelbar veranlaßt worden ist Herders Abhandlung durch eine Preisfrage, welche die Königliche Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1769 ausgeschrieben hatte. Es galt, endlich eine befriedigende Antwort auf die Fragen zu finden, welche seit den 174oern die gelehrte Welt beschäftigten, nämlich die Fragen, wie der Mensch zur Sprache gekommen sei, ob aus eigenem Vermögen, oder ob sie ihm durch eine göttliche Instanz eingegeben worden sei, ob die Sprachbildung physiologisch oder psychologisch, d. h. durch einen eigenständigen Akt der Benennung zu erklären sei, auf welche Weise der sinnliche Eindruck eines Gegenstandes im Akt der Benennung mit einem Lautzeichen verknüpft werde, ob durch Konvention und damit willkürlich oder durch eine notwendige Korrespondenz, und wie schließlich sich fortan die einzelnen Sprachen ausgebildet und entwickelt hätten. Unter den 31 Konkurrenten ist Herder von der Akademie der Preis zuerkannt worden.

Aus den Fragmenten SWS, Bd. 1, 131 ff., Bd. 2, Iff. Themen der Fragmente sind u. a. die Entdeckung der nichtrationalen, zur damaligen Zeit sogenannten unteren Seelenkräfte als Grundlage einer neuen Ästhetik, die Analyse der Gefühle und

XLVIII

Ulrike Zeuch

ihre Anwendung auf die Poetik und Kritik, der Versuch einer historischen Kunstgeschichte und die Selbstkonstituierung einer deutschen Literatur im Vergleich mit den übrigen europäischen Literaturen. Die ersten beiden Teile der Erstfassung der Fragmente erschienen 1766, der dritte 1767. Vorbild des ehrgeizigen Unternehmens waren die 1759 bis 1765 von Friedrich Nicolai, Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn herausgegebenen Briefe die neueste Literatur betreffend. Da für Herder die Sprache, in welcher Literatur geschrieben ist, für die Qualität oder, wie er sagt, Vollkommenheit der Literatur zentral ist, finden sich in den Fragmenten zahlreiche Passagen zur Genese einzelner Sprachen wie der Sprache allgemein sowie zum Verhältnis von Sprache und unbewußtem Gefühl bzw. bewußtem Denken. Aus den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit SWS, Bd. 13, 1 ff. In den Ideen, deren Entstehungsgeschichte bis in Herders Studienzeit in Königsberg zurückreicht, versucht Herder nachzuweisen, daß sich die durch die Zeit bewirkten Veränderungen im Leben der einzelnen Menschen wie der Völker nach bestimmten konstanten Gesetzen vollziehen, die analog zu denen der Natur seien. Das wichtigste ist das der ewigen Verwandlung und Wiedergeburt der Formen und Gestalten; die Verwandlung schreite nicht linear fort, hin auf ein außerzeitliches Telos, sondern jede Nation, jeder Mensch trage -wie jede Kugel ihren Schwerpunkt - den Mittelpunkt individueller Vollendung in sich. Die Fähigkeit zu sprechen zeichne den Menschen innerhalb der Natur auf besondere Weise aus; der Sprache seien die Fähigkeit zur Reflexion, zum Mitgefühl und zur Mitteilung, die Freiheit der Entscheidung, die Selbstbestimmung - dies alles Momente, die Herder unter den Begriff ,Humanität' faßt - zu verdanken. Heintel hat aus den Ideen Stellen ausgewählt, welche die bevorzugte Stellung des Menschen innerhalb der Schöpfung dank seiner Sprachfähigkeit thematisieren.

Einleitung

XLIX

Aus Verstand und Erfahrung SWS, Bd. 21, 1 ff. Den ersten Teil seiner Metakritik hat Herder mit Verstand und Erfahrung überschrieben. Bestimmt ist diese Schrift, die 1799 erschien, durch die Auseinandersetzung mit dem nachkritischen Kant. Da Herder davon überzeugt ist, daß jede menschliche Erkenntnis durch Sprache (das äußere, gesprochene Wort wie das innere Merk-Wort) vermittelt und nur über die empirisch nachvollzogene Genese der Begriffsbildung das Prinzip menschlicher Erkenntnis zu ermitteln sei, muß er sich gegen jede Art von Apriorität wenden. Wenn für Herder der empfindende und erkennende Mensch immer schon unmittelbar bei den Dingen ist, kann für ihn Kants Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis nur heißen, aus der schon bestehenden Offenbarkeit des Seins herauszufallen und den in der Schöpfung angelegten Bezug zwischen Subjekt und Objekt, der ein Benennen überhaupt erst möglich macht, zu zerstören. Aus der ältesten Urkunde [ ... J SWS, Bd. 7, 30 f. Bei der ältesten Urkunde des menschlichen Geschlechts handelt es sich um eine theologische Abhandlung, deren erster bis dritter Teil 1774, der vierte Teil 1776 erschienen ist. Herder wertet in dieser Schrift das erste Kapitel des Buches Mose im Unterschied zur rationalen Bibelauslegung als poetisches Zeugnis der Offenbarung Gottes und als historischen Bericht von den Anfängen der Menschheit, in welchem in nuce die gesamte menschliche wie religiöse Entwicklung begriffen werden könne. Indem Herder die Menschlichkeit der Bibel betont, nicht, wie die lutherische Orthodoxie, ihr bis in die Einzelheiten hinein inspiriertes göttliches und insofern unfehlbar richtiges Wort, strebt er eine schöpferische Erneuerung des biblischen Textes an. Es gelte zu erkennen, wie Menschen ehedem Gott und die Göttlichkeit der Natur fühlten, empfanden und sprachlich ausdrückten. So gewinne man zugleich eine neue Achtsamkeit auf das göttliche Wort ins uns; denn daß der Mensch allein aus sich

L

Ulrike Zeuch

selbst die Sprache habe entwickeln können, bleibt für Herder letztlich unbeweisbare Hypothese. Die Notwendigkeit, trotz des Primats der Empirie darauf angewiesen zu sein, daß der Finger Gottes" dem Menschen Erkenntnis zuwinket", erklärt sich aus Herders Zugeständnis, daß es mit dem unendlichen Auffluge ihrer positiven Kraft [sc. der Seele] in allmächtiger Selbstheit" nichts sei. 132 11

11

11

Aus Erläuterungen zum neuen Testament SWS, Bd. 7, 355-357. In der Vorbemerkung zu seiner Schrift Vom Erlöser der Menschen. Nach unsern drei ersten Evangelien schreibt Herder, er sei bei seiner Interpretation von einer rein christlichen Absicht geleitet gewesen und habe deshalb allen Dogmatismus, Mystizismus, jeden unnötigen Auslauf in Philologie, Kirchengeschichte u.f. vermieden". 133 Analoges gilt für seine Erläuterungen. Gott habe durch Menschen zu Menschen gesprochen, in ihren Bildern, nicht den seinigen, in ihren Gleichnissen, nicht den seinigen. Die Bibel vermittle Geschichte und Lehre, die ein Kind versteht, und ein Plan in ihr entwickelt, der für niemanden zu kalt, zu hoch, zu schwer, und doch Aufschluß der Menschlichen Natur ist" (SWS, Bd. 7 37of.). Aufschluß der menschlichen Natur kann das Wort Gottes nach Herder deshalb sein, weil es dem Menschen seine eigene Seele anschaubar macht. 11

11

1

Aus Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778) SWS, Bd. 8, 196 f. Von der Schrift Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele existieren drei Fassungen (1774, 1775 und 1778). Zitiert hat Heintel aus der letzten Fassung. Auch hier ist, wie Herder: Vom Erkennen und Empfinden (1778) (Anm. 73), 688. 133 Johann Gottfried Herder: Theologische Schriften, in: ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 9, 1, hg. v. Christoph Buhmann und Thomas Zippert, 611. 132

Einleitung

LI

bei der Abhandlung, der unmittelbare Anlaß eine Preisfrage der Akademie im Jahr 1773 zur Frage nach dem Verhältnis der beiden heterogenen Grundkräfte des Menschen: Fühlen bzw. Empfinden und Denken bzw. Erkennen. Herder bestreitet die Prämisse der Frage der Akademie, daß diese beiden Grundkräfte heterogen seien, und legt statt dessen dar, daß Selbstgefühl und geistiges Bewußtsein im Grunde genommen einerlei, d. h. eigentlich identisch seien; in beiden Fällen sei die Sprache das Medium, mithilfe dessen die menschliche Seele sich selbst als die immer selbe, eine, einfache begreife.

5. Sekundärliteratur zu Herders Sprachphilosophie (Auswahl) Borsche, Tilman: Natur-Sprache. Herder - Humboldt - Nietzsche, in: ders. (Hg.): „Centauren-Geburten". Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, Berlin u. a. 1994 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung. 27), 112-130. Forskningsrad, Norges: Herder & Humboldt. spräk og kultur, Kristiansand u.a. 2000 (Kulturstudier. 16) Fürst, Gebhard: Sprache als metaphorischer Prozeß. Johann Gottfried Herders hermeneutische Theorie der Sprache, Mainz 1988 (Tübinger Theologische Studien. 31). Gaier, Ulrich: Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1988 (problemata. 118). Gesche, Astrid: Johann Gottfried Herd er. Sprache und die Natur des Menschen, Würzburg 1993 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft. 97). Heinz, Marion (Hg.): Herder und die Philosophie des deutsche Idealismus, Amsterdam u. a. 1997 (Fichte-Studien-Supplementa. 8). Hofbauer, Andreas Leopold: Ökonomien der Sprache. Erörterungen zirkulär-genetischer, eschatologischer und disseminatorischer Ökonomien der Sprachphilosophie, Wien 1995. Jecht, Dorothea: Die Aporie Wilhelm von Humboldts. Sein Studienund Sprachprojekt zwischen Empirie und Reflexion, Hildesheim u.a. 2003 (Germanistische Linguistik. Monographien. 10).

Lil

Ulrike Zeuch

Kirn, Dae Kweon: Sprachtheorie im 18. Jahrhundert. Herder, Condillac und Süßmilch, Sankt Ingbert 2002 (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft. 73). Koepke, Wulf (Hg.): Johann Gottfried Herder. Language, History, and the Enlightenment, Columbia (SC) 1990 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture. 52). Neis, Cordula: Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts. Die Berliner Preisfrage nach dem Ursprung der Sprache (1771), Berlin/New York 2003. Pohlmeyer-Jöckel, Markus: Poesie und Geschichte. Formen der Erkenntnis beim frühen J. G. Herder, Münster 2001 (Pontes. 7). Salmon, Paul: Herder's Abhandlung über den Urspung der Sprache: Reception and Reputation, in: John L. Flood u.a. (ed.): ,Das unsichtbare Band der Sprache'. Studies in German Language and Linguistic History in Memory of Leslie Seiffert, Stuttgart 1993 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik. Bd. 280), 253-277. Schiewer, Gesine Lenore: Cognitio symbolica. Lamberts semiotische Wissenschaft und ihre Diskussion bei Herder, Jean Paul und Novalis, Tübingen 1996 (Frühe Neuzeit. Bd. 22). Simon, Ralf: Das Gedächtnis der Interpretation. Gedächtnistheorie als Fundament für Hermeneutik, Ästhetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1998 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert. Bd. 23). Trabant, Jürgen: Artikulationen. Historische Anthropologie der Sprache, Frankfurt/M. 1998 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft. Bd. 1386). Zeuch, Ulrike: Umkehr der Sinneshierarchie. Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der frühen Neuzeit, Tübingen 2000 (Communicatio. 22).

1.

Abhandlung über den Ursprung der Sprache 1

I. TEIL

Haben die Menschen, ihren Naturfähigkeiten überlassen, sich selbst Sprache erfinden können? ERSTER ABSCHNITT

Smon als Tier hat der Mensm Sprame. Alle heftigen, und die heftigsten unter den heftigen, die schmerzhaften Empfindungen seines Körpers, alle starken Leidenschaften seiner Seele äußern sich unmittelbar in Geschrei, in Tönen, in wilden, unartikulierten Lauten. Ein leidendes Tier sowohl als der Held Philoktet, wenn es der Schmerz anfällt, wird wimmern, wird ächzen! Und wäre es gleich verlassen, auf einer wüsten Insel, ohne Anblick, Spur und Hoffnung eines hilfreichen Nebengeschöpfes. Es ist, als ob's freier atmete, indem es dem brennenden, geängstigten Hauche Luft gibt: es ist, als ob's einen Teil seines Schmerzes verseufzte und aus dem leeren Luftraum wenigstens neue Kräfte zum Verschmerzen in sich zöge, indem es die tauben Winde mit Ächzen füllt. So wenig hat uns die Natur als abgesonderte Steinfelsen, als egoistische Monaden geschaffen! Selbst die feinsten Saiten des tierischen Gefühls (ich muß mich dieses Gleichnisses bedienen, weil ich für die Mechanik fühlender Körper kein besseres weiß!), selbst die Saiten, deren Klang und Anstrengung gar nicht von Willkür und langsamen Bedacht herrühren, ja deren Natur noch von aller forschenden Vernunft nicht hat erforscht werden können, selbst die sind in ihrem ganzep Spiele, auch ohne das Bewußtsein fremder Sympathie, zu einer Äußerung auf andre Geschöpfe gerichtet. Die geschlagene Saite tut ihre Naturpflicht: sie klingt! Sie ruft einer gleichfühlenden Echo, selbst wenn keine da ist, selbst wenn sie nicht hofft und wartet, daß ihr eine antworte.

4

I. Abhandlung über den Ursprung der Sprache

Sollte die Physiologie je so weit kommen, daß sie die Seelenlehre demonstrierte, woran ich aber sehr zweifle, so würde sie dieser Erscheinung manchen Lichtstrahl aus der Zergliederung des Nervenbaues zuführen, sie vielleicht aber auch in einzelne, zu kleine und stumpfe Bande verteilen. Laßt sie uns jetzt im ganzen, als ein helles Naturgesetz annehmen: Hier ist ein empfindsames Wesen, das keine seiner lebhaften Empfindungen in sich einschließen kann, das im ersten überraschenden Augenblick selbst ohne Willkür und Absicht jede laut äußern muß. Das war gleichsam der letzte, mütterliche Druck der bildenden Hand der Natur, daß sie allen das Gesetz auf die Welt mitgab: „Empfinde nicht für dich allein, sondern dein Gefühl töne!" Und da dieser letzte schaffende Druck auf alle von einer Gattung einartig war, so wurde dies Gesetz Segen: „Deine Empfindung töne deinem Geschlecht einartig und werde also von Allen, wie von Einern, mitfühlend vernommen!" Nun rühre man es nicht an, dies schwache, empfindsame Wesen; so allein und einzeln und jedem feindlichen Sturme des Weltalls es ausgesetzt scheint, so ist's nicht allein, es steht mit der ganzen Natur im Bunde! Zartbesaitet; aber die Natur hat in diesen Saiten Töne verborgen, die, gereizt und ermuntert, wieder andre gleichzart gebaute Geschöpfe wecken, und wie durch eine unsichtbare Kette einem entfernten Herzen Funken mitteilen können, für dies ungesehene Geschöpf zu fühlen. - Diese Seufzer, diese Töne sind Sprache: es gibt also eine Sprache der Empfindung, die unmittelbares Naturgesetz ist. Daß der Mensch sie ursprünglich mit den Tieren gemein habe, bezeugen jetzt freilich mehr gewisse Reste, als volle Ausbrüche; allein auch diese Reste sind unwiedersprechlich. Unsre künstliche Sprache mag die Sprache der Natur so verdrängt, unsre bürgerliche Lebensart und gesellschaftliche Artigkeit mag die Flut und das Meer der Leidenschaften so gedämmt, ausgetrocknet und abgeleitet haben als man will; der heftigste Augenblick der Empfindung, wö und wie selten er sich findet, nimmt noch immer sein Recht wieder und tönt in seiner mütterlichen Sprache unmittelbar durch Akzente. Der auffahrende Sturm

1. Haben die Menschen sich selbst Sprache erfinden können?

5

einer Leidenschaft, der plötzliche Überfall von Freude oder Frohheit, Schmerz und Jammer, wenn sie tiefe Furchen in die Seele graben, ein übermannendes Gefühl von Rache, Verzweiflung, Wut, Schrecken, Grausen usw., alle kündigen sich an, und jede nach ihrer Art verschieden an. So viel Gattungen von Fühlbarkeit in unsrer Natur schlummern, so viel auch Tonarten. - Ich merke also an, daß, je weniger die menschliche Natur mit einer Tierart verwandt, je ungleichartiger sie mit ihr am Nervenbaum ist, desto weniger ist ihre Natursprache uns verständlich. Wir verstehen, als Erdentier, das Erdentier besser als das Wassergeschöpf, und auf der Erde das Herdentier besser als das Waldgeschöpf, und unter den Herdentieren die am meisten, die uns am nächsten kommen. Nur daß freilich auch bei diesen Umgang und Gewohnheit mehr oder weniger tut. Es ist natürlich, daß der Araber, der mit seinem Pferde nur ein Stück ausmacht, es mehr versteht als der, der zum ersten Mal ein Pferd beschreitet; er spricht mit ihm fast so gut, als Rektor in der Iliade mit den Seinigen sprechen konnte. Der Araber in der Wüste, der nichts Lebendiges um sich hat als sein Kamel, und etwa den Flug umirrender Vögel, kann leichter jenes Natur verstehen und das Geschrei dieser zu verstehen glauben als wir in unsern Behausungen. Der Sohn des Waldes, der Jäger, versteht die Stimme des Hirsches, und der Lappländer seines Renntiers. - Doch Alles das folgt oder ist Ausnahme. Eigentlich ist diese Sprache der Natur eine Völkersprache für jede Gattung unter sich, und so hat auch der Mensch die seinige. Nun sind freilich diese Töne sehr einfach; und wenn sie artikuliert und als Interjektionen aufs Papier hinbuchstabiert werden, so haben die entgegengesetztesten Empfindungen fast einen Ausdruck. Das matte Ach! ist sowohl Laut der zerschmelzenden Liebe als der sinkenden Verzweiflung; das feurige O! sowohl Ausbruch der plötzlichen Freude als der auffahrenden Wut, der steigenden Bewunderung als des zuwallenden Bejammerns; allein sind denn diese Laute da, um als Interjektionen aufs Papier gemalt zu werden? Die Träne, die in diesem trüben, erlosch-

5

1. Abhandlung über den Ursprung der Sprache

neo, nach Trost schmachtenden Auge schwimmt - wie rührend ist sie im ganzen Gemälde des Antlitzes der Wehmut; nehmt sie allein und sie ist ein kalter 'Wassertropfen, bringt sie unters Mikroskop und - ich will nicht wissen, was sie da sein mag. Dieser ermattende Hauch, der halbe Seufzer, der auf der vom Schmerz verzogenen Lippe so rührend stirbt - sondert ihn ab von allen seinen lebendigen Gehülfen und er ist ein leerer Luftstoß. Kanns mit den Tönen der Empfindung anders sein? In ihrem lebendigen Zusammenhange, im ganzen Bilde der wirkenden Natur, begleitet von so vielen andern Erscheinungen sind sie rührend und genügsam, aber von allen getrennt, herausgerissen, ihres Lebens beraubt, freilich nichb als Ziffern. Die Stimme der Natur ist gemalter, verwillkürter BuChstabe. - Wenig sind dieser Sprachtöne freilich; allein die empfindsame Natur, sofern sie bloß mechanisch leidet. hat auch weniger Hauptarten der Empfindung, als unsre Psychologien der Seele als Lei.denschaften anzählen oder andichten. Nur jedes Gefühl ist in solchem Zustande, je weniger in Fäden zerteilt, ein um so mächtiger anziehendes Band: die Töne reden nicht viel, aber stark. Ob der Klageton über Wunden der Seele oder des Körpers wimmere, ob dieses Geschrei von Furcht oder Schmerz ausgepreßt werde, ob dies weiche Ach sich mit einem Kuß oder einer Träne an den Busen der Geliebten drücke, - alle solche Unterschiede zu bestimmen, war diese Sprache nicht da. Sie sollte zum Gemälde hinrufen; dies Gemälde wird schon für sich selbst reden! Sie sollte tönen, nicht aber schildern! - überhaupt grenzen nach jener Fabel des Sokrates2 Schmerz und Wollust aneinander: die Natur hat in der Empfindung ihre Enden zusammengeknüpft, und was kann also die Sprache der Empfindung anders, als solche Berührungspunkte zeigen? - Jetzt darf ich anwenden. In allen Sprachen des Ursprungs tönen noch Reste dieser Naturtöne; nur freilich sind sie nicht die Hauptfäden der menschlichen Sprache. Sie sind nicht die eigentlichen Wurzeln, aber die Säfte, die die Wurzeln der Sprache beleben. In einer feinen, späterfundnen metaphysischen Sprache, die von der ursprünglichen wilden Mutter des mensch-

1. Haben die Menschen sich selbst Sprache erfinden können?

7

liehen Geschlechts eine Abart vielleicht im vierten Gliede und nach langen Jahrtausenden der Abartung selbst wieder Jahrhunderte ihres Lebens hindurch verfeinert, zivilisiert und humanisiert worden: eine solche Sprache, das Kind der Vernunft und Gesellschaft, kann wenig oder nichts mehr von der Kindheit ihrer ersten Mutter wissen; allein die alten, die wilden Sprachen, je näher zum Ursprunge, enthalten davon desto mehr. Ich kann hier noch nicht von der geringsten menschlichen Bildung der Sprache reden, sondern nur rohe Materialien betrachten. Noch existiert für mich kein Wort, sondern nur Töne zum Wort einer Empfindung; aber seht, in den genannten Sprachen, in ihren Interjektionen, in den Wurzeln ihrer Nominum und Verborum wie viel aufgefangene Reste dieser Töne! Die ältesten morgenländischen Sprachen sind voll von Ausrufen, für die wir spätergebildeten Völker oft nichts als Lücken oder stumpfen, tauben Mißverstand haben. In ihren Elegien tönen, wie bei den Wilden auf ihren Gräbern, jene Heul- und Klagetöne, eine fortgehende Interjektion der Natursprache; in ihren Lobpsalmen das Freudengeschrei und die wiederkommenden Hallelujas, die Shaw3 aus dem Munde der Klageweiber erklärt und die bei uns so oft feierlicher Unsinn sind. Im Gang, im Schwunge ihrer Gedichte und der Gesänge andrer alter Völker tönt der Ton, der noch die Kriegs- und Religionstänze, die Trauer- und Freudengesänge aller Wilden belebt, sie mögen am Fuße der Cordileras oder im Schnee der Irokesen, in Brasilien oder auf den Karaiben wohnen. Die Wurzeln ihrer einfachsten, wirksamsten frühesten Verben endlich sind jene ersten Ausrufe der Natur, die erst später gemodelt wurden, und die Sprachen aller alten und wilden Völker sind dahe1 in diesem innem lebendigen Tone für Fremde ewig unaussprechlich. Ich kann die meisten dieser Phänomene im Zusammenhange erst später erklären; hier stehe nur eines. Einer der Verteidiger des göttlichen Ursprungs der Sprache 0 4 findet 0

Süßmilchs Beweis, daß der Ursprung der mensdtlichen Sprache göttlich sei. Berlin 1766. S. 21.

8

1. Abhandlung über den Ursprung der Sprache

darin göttliche Ordnung zu bewundern, daß sich die Laute aller uns bekannten Sprachen auf etliche zwanzig Buch· staben bringen lassen. Allein das Faktum ist falsch und der Schluß noch unrichtiger. Keine einzige lebendigtönende Sprache läßt sich vollständig in Buchstaben bringen und noch weniger in zwanzig Buchstaben: dies zeugen alle Sprachen sämtlich und sonders. Die Artikulationen unsre1 Sprachwerkzeuge sind so viele, ein jeder Laut wird auf so mannigfaltige Weise ausgesprochen, daß z.B. Hen Lambert 5 im zweiten Teil seines Organon mit Recht hat zeigen können, wie weit weniger wir Buchstaben als Laute haben und wie unbestimmt also diese von jenen ausgedrüdct werden können. Und das ist doch nur aus der deutschen Sprache gezeigt, die die Vieltönigkeit und den Unterschied ihrer Dialekte noch nicht einmal in eine Schriftsprache aufgenommen hat: viel weniger, wo die ganze Sprache nichts als solch ein lebendiger Dialekt ist. Woher rühren alle Eigenheiten und Sonderbarkeiten der Orthographie als wegen der Unbehilflichkeit, zu schreiben wie man spricht? Welche lebendige Sprache läßt sich ihren Tönen nach aus Bücherbuchstaben lernen und welche tote Sprache daher aufwedcen? Je lebendiger nun eine Sprache ist, je weniger man daran gedacht hat, sie in Buchstaben zu fassen, je ursprünglicher sie zum vollen, unausgesonderten Laute der Natur hinaufsteigt, desto minder ist sie auch schreibbar, desto minder mit zwanzig Buchstaben schreibbar, ja oft für Fremdlinge ganz unaussprechlich ... Das Faktum ist also falsch und der Schluß noch falscher: er kommt nicht auf einen göttlichen, sondern gerade umgekehrt, auf einen tierischen Ursprung. Nehmt die sogenannte göttliche, erste Sprache, die hebräische, von der der größte Teil der Welt die Buchstaben geerbt: daß sie in ihrem Anfange so lebendigtönend, so unschreibbar gewesen, daß sie nur sehr unvollkommen geschrieben werden konnte, dies zeigt offenbar der ganze Bau ihrer Grammatik, ihre so vielfachen Verwechslungen ähnlicher Buchstaben, ja am allermeisten der völlige Mangel ihrer Vokale. Woher kommt die Sonderbarkeit, daß ihre Buchstaben nur Mitlauter sind und daß eben die Elemente der \Vorte, auf

1. Haben die Menschen sich selbst Sprache erfinden können?

9

die alles ankommt, die Selbstlauter, ursprünglich gar nicht geschrieben wurden? Diese Schreibart ist dem Lauf der gesunden Vernunft so entgegen: das Unwesentliche zu schreiben und das Wesentliche auszulassen, daß sie den Grammatikern unbegreiflich sein müßte, wenn Grammatiker zu begreifen gewohnt wären. Bei uns sind die Vokale das Erste und Lebendigste und die Türangeln der Sprache; bei jenen werden sie nicht geschrieben - warum? - weil sie nicht geschrieben werden konnten. Ihre Aussprache war so lebendig und fein organisiert, ihr Hauch war so geistig und ätherisch, daß er verduftete und sich nicht in Buchstaben fassen ließ. Nur erst bei den Griechen wurden diese lebendigen Aspirationen in förmliche Vokale aufgefädelt, denen doch noch Spiritus usw. zu Hilfe kommen mußten; da bei den Morgenländern die Rede gleichsam ganz Spiritus, fortgehender Hauch und Geist des Mundes war, wie sie sie auch so oft in ihren malenden Gedichten benennen. Es war Odem Gottes, wehende Luft, die das Ohr aufhaschte, und die toten Buchstaben, die sie hinmalten, waren nur der Leichnam, der lesend mit Lebensgeist beseelt werden mußte. Was das für einen gewaltigen Einfluß auf das Verständnis ihrer Sprache hat, ist hier nicht der Ort zu sagen; daß dies Wehende aber den Ursprung ihrer Sprache verrate ist offenbar. Was ist unschreibbarer als die unartikulierten Töne der Natur? Und wenn die Sprache je näher ihrem Ursprunge desto unartikulierter ist - was folgt, als daß sie wohl nicht von einem höhern Wesen für die vierundzwanzig Buchstaben und diese Buchstaben gleich mit der Sprache erfunden, daß diese ein weit späterer nur unvollkommener Versuch gewesen, sich einige Merkstäbe der Erinnerung zu setzen und daß jene nicht aus Buchstaben der Grammatik Gottes, sondern aus wilden Tönen freier Organe entstanden sei . . . Sonst wäre es sonderbar, daß eben die Buchstaben, aus denen und für die Gott die Sprache erfunden, mit Hilfe derer er den ersten Menschen die Sprache beigebracht hätte, eben die allerunvollkommensten in der Welt wären, die gar nichts vom Geist

10

1. Abhandlung über den Ursprung der Sprache

der Sprache sagten und in ihrer ganzen Bauart offenbar bekennen, daß sie nichts davon sagen wollen. Es verdiente diese Buchstabenhypothese freilich ihrer Würde nach nur einen Wink; aber ihrer Allgemeinheit und mannigfaltigen Beschönigung wegen mußte ich ihren Urgrund entblößen und eine Sonderbarkeit dabei erklären, von welcher mir wenigstens keine Erklärung bekannt ist. Zurück auf unsre Bahn: Da unsre Töne der Natur zum Ausdrucke der Leidenschaft bestimmt sind, so ist's natürlich, daß sie auch die Elemente aller Rührung werden! Wer ist's, dem bei einem zuckenden, wimmernden Gequälten, bei einem ächzenden Sterbenden, auch selbst bei einem stöhnenden Vieh, wenn seine ganze Maschine leidet, dies Ach nicht zu Herzen dringe? Wer ist der fühllose Barbar? Je harmonischer das empfindsame Saitenspiel selbst bei Tieren mit andern Tieren gewebt ist, desto mehr fühlen selbst diese miteinander; ihre Nerven kommen in eine gleichmäßige Spannung, ihre Seele in einen gleichmäßigen Ton, sie leiden wirklich mechanfsch mit. Und welche Stählung seiner Fibern, welche Macht, alle Öffnungen seiner Empfindsamkeit zu verstopfen, gehört dazu, daß ein Mensch hiegegen taub und hart werde! - Diderot 0 meint, daß ein Blindgeborner gegen die Klagen eines leidenden Tieres unempfindlicher sein müßte als ein Sehender; allein ich glaube unter gewissen Fällen das Gegenteil. Freilich ist ihm das ganze rührende Schauspiel dieses elenden, zuckenden Geschöpfes verhüllt; allein alle Beispiele sagen, daß eben durch diese Verhüllung das Gehör weniger zerstreut, horchender und eindringender werde. Da lauscht er also im Finstern, in der Stille seiner ewigen Nacht, und jeder Klageton geht ihm um so inniger und schiüfer, wie ein Pfeil, zum Herzen! Nun nehme er noch das tastende, langsamumspannende Gefühl zu Hilfe, taste die Zuckungen, erfühle den Bruch der leidenden Maschine sich ganz Grausen und Schmerz fährt durch seine Glieder, sein innerer Nervenbau fühlt Bruch und Zerstömng mit: der 0

Lettre sur !es aveugles 1\ l'usage de ceux qui voyent etc.

1. Haben die Menschen sich selbst Sprache erfinden können? 11

Todeston tönt. Das ist das Band dieser Natursprache. überall sind die Europäer, trotz ihrer Bildung und Mißbildung, von den rohen Klagetönen der Wilden heftig gerührt worden . . . Und auch selbst bei uns, wo freilich die Vernunft oft die Empfindung und die künstliche Sprache der Gesellschaft die Töne der Natur aus ihrem Amt setzt, kommen nicht noch oft die höchsten Donner der Beredsamkeit, die mächtigsten Schläge der Dichtkunst und die Zaubermomente der Aktion, dieser Sprache der Natur, durch Nachahmung nahe? Was ist's, was dort im versammelten Volke Wunder tut, Herzen durchbohrt und Seelen umwälzt? Geistige Rede und Metaphysik? Gleichnisse und Figuren? Kunst und kalte Überzeugung? Sofern der Taumel nicht blind sein soll, muß Vieles durch sie geschehen, aber Alles? Und eben dies höchste Moment des blinden Taumels, wodurch wurde das? - Durch ganz eine andre Kraft! Diese Töne, diese Gebärden, jene einfachen Gänge der Melodie, diese plötzliche Wendung, diese bewegende Stimme - was weiß ich mehr? Bei Kindern und dem Volk der Sinne, bei Weibern, bei Leuten von zartem Gefühl, bei Kranken, Einsamen, Betrübten wirken sie tausendmal mehr als die Wahrheit selbst wirken würde, wenn ihre leise, feine Stimme vom Himmel tönte ... Das Wort ist weg und der Ton der Empfindung tönt. Dunkles Gefühl übermannt uns, der Leichtsinnige graust und zittert - nicht über Gedanken, sondern über Silben, über Töne der Kindheit, und es war Zauberkraft des Redners, des Dichters, uns wieder zum Kinde zu machen. Kein Bedacht, keine Überlegung, das bloße Naturgesetz lag zum Grunde: Ton der Empfindung soll das sympathetische Geschöpf in denselben Ton versetzen! Wollen wir also diese unmittelbaren Laute der Empfindung Sprache nennen, so finde ich ihren Ursprung allerdings sehr natürlich. Er ist nicht bloß nicht übermenschlid1, sondern offenbar tierisch: das Naturgesetz einer empfindsamen Maschine. Aber ich kann nicht meine Verwunderung verbergen, daß Philosophen, das ist: Leute, die deutliche Begriffe suchen, je haben auf den Gedanken kommen können, au.w

12

1. Abhandlung über den Ursprung der Sprache

diesem Gesdirei der Empfindungen den Ursprung mensdilidier Sprache zu erklären: denn ist diese nicht offenbar ganz etwas anderes? Alle Tiere bis auf den stummen Fisch tönen ihre Empfindung; deswegen aber hat doch kein Tier, selbst nicht das vollkommenste, den geringsten, eigentlichen Anfang zu einer menschlichen Sprache. Man bilde und verfeinere und organisiere dies Geschrei wie man wolle: wenn kein Verstand dazu kommt, diesen Ton mit Absicht zu brauchen, so sehe ich nicht, wie nach dem vorigen Naturgesetze je menschliche, willkürliche Sprache werde? Kinder sprechen Schälle der Empfindung, wie die Tiere; ist aber die Sprache, die sie von Menschen lernen, nicht ganz eine andre Sprache? Der Abt Condillac 0 ist in dieser Anzahl. Entweder er hat das ganze Ding Sprache schon vor der ersten Seite seines Buchs erfunden vorausgesetzt, oder ich finde auf jeder Seite Dinge, die sich gar nicht in der Ordnung einer bildenden Sprache zutragen konnten. Er setzt zum Grunde seiner Hypothese „zwei Kinder in eine Wüste, ehe sie den Gebrauch irgendeines Zeichens kennen". Warum er nun dies alles setze: „zwei Kinder", die also umkommen oder Tiere werden müssen: „in eine Wüste", wo sich die Schwierigkeit ihres Unterhalts und ihrer Erfindung noch vermehrt: „vor dem Gebrauch jedes natürlichen Zeichens, und gar vor aller Kenntnis desselben", ohne welche doch kein Säugling nach wenigen Wochen seiner Geburt ist warum, sage ich, in eine Hypothese, die dem Naturgange menschlicher Kenntnisse nachspüren soll, solche unnatürliche, sich widersprechende Data zum Grunde gelegt werden müssen, mag ihr Verfasser wissen; daß aber auf sie keine Erklärung des Ursprungs der Sprache gebaut sei, getraue ich mich zu erweisen. Seine beiden Kinder kommen ohne Kenntnis jedes Zeichens zusammen, und - siehe da! - im ersten Augenblick sind sie schon im gegenseitigen Kommerz. Und doch bloß durch diesen gegenseitigen Kommerz lernen sie erst, „mit dem Geschrei der Empfindungen die Gedanken zu verbinden, deren natürliche 0

Essai sur l'origine des connoissances humaines, Vol. II.

l. Haben die Menschen sich selbst Sprache erfinden können? 13

Zeichen jene sind." Natürliche Zeichen der Empfindung durch den Kommerz lernen? Lernen, was für Gedanken damit zu verbinden sind, und doch gleich im ersten Augenblicke der Zusammenkunft, noch vor der Kenntnis dessen, was das dümmste Tier kennt, Kommerz haben, lernen können, was mit gewissen Zeichen für Gedanken zu verknüpfen sind? - davon begreife ich nichts. „Durch das Wiederkommen ähnlicher Umstände gewöhnen sie sich, mit den Schällen der Empfindungen und den verschiedenen Zeichen des Körpers Gedanken zu verbinden. Schon bekommt ihr Gedächtnis Übung. Schon können sie über ihre Einbildung walten und schon - sind sie so weit, das mit Reflexion zu tun, was sie vorher bloß durch Instinkt taten" (und doch, wie wir eben gesehen, vor ihrem Kommerz nicht zu tun wußten) - davon begreife ich nichts. „Der Gebrauch dieser Zeichen erweitert die Wirkungen der Seele und diese vervollkommen die Zeichen: Geschrei der Empfindungen wars also, was die Seelenkräfte entwickelt hat. Geschrei der Empfindungen, das ihnen die Gewohnheit gegeben, Ideen mit willkürlichen Zeichen zu verbinden: Geschrei der Empfindungen, das ihnen zum Muster diente, sich eine neue Sprache zu machen, neue Schälle zu artikulieren, sich zu gewöhnen, die Sache mit Namen zu bezeichnen" - ich wiederhole alle diese Wiederholungen und begreife von ihnen nichts. Endlich, nachdem der Verfasser auf diesen kindischen Ursprung der Sprache die Prosodie, Deklamation, Musik, Tanz und Poesie der alten Sprachen gebaut und mitunter gute Anmerkungen vorgetragen, die aber zu unserm Zweck nichts tun, so faßt er den Faden wieder an: „um zu begreifen, wie die Menschen unter sich über den Sinn der ersten Worte einsgeworden, die sie brauchen wollten, ist genug, wenn man bemerkt, daß sie sie in Umständen aussprachen, wo jeder verbunden war, sie mit den nämlichen Ideen zu verbinden usw." Kurz es entstanden Worte, weil Worte da waren, ehe sie da waren - mich dünkt, es lohnt nicht, den Faden unsres Erklärers weiter zu verfolgen, da er doch -- an nichts geknüpft ist. Condillac, weiß man, gab durch seine hohle Erklärung

14

1. Abhandlung über den Ursprung der Sprache

von Entstehung der Sprache Gelegenheit, daß Rousseau" in unserm Jahrhundert die Frage nach seiner Art in Schwung brachte, das ist bezweifelte6 • Gegen Condillacs Erklärung Zweifel zu finden, war eben kein Rousseau nötig; nur aber deswegen sogleich alle menschliche Möglichkeit der Spracherfindung zu leugnen - dazu gehörte freilich etwas Rousseauscher Schwung oder Sprung, wie man's nennen will. Weil Condillac die Sache schlecht erklärt hatte, ob sie also auch gar nicht erklärt werden könne? Weil aus Schällen der Empfindung nimmermehr eine menschliche Sprache wird, folgt daraus, daß sie nirgend anders-woher hat werden können? Daß es nur wirklich dieser verdeckte Trugschluß sei, der Rousseau verführt, zeigt offenbar sein eigener Plan: „Wie, wenn doch allenfalls Sprache hätte menschlich entstehen sollen, wie sie hätte entstehen müssen?" Er fängt, wie sein Vorgänger, mit dem Geschrei der Natur an, aus dem die menschliche Sprache werde. Ich sehe nie, wie sie daraus geworden wäre, und wundre mich, daß der Scharfsinn eines Rousseau sie einen Augenblick daraus habe können werden lassen? Maupertuis' kleine Schrift7 ist mir nicht bei Händen; wenn ich aber dem Auszuge eines Mannes• trauen darf, dessen nicht kleinstes Verdienst Treue und Genauigkeit war, so hat auch er den Ursprung der Sprache nicht genug von diesen tierischen Lauten abgesondert, und geht also mit den Vorigen auf einer Straße. Diodor endlich und Vitruv8 , die zudem den Menschenursprung der Sprache mehr geglaubt als hergeleitet, haben die Sache am offenbarsten verdorben, da sie die Menschen erst zeitenlang als Tiere mit Geschrei in Wäldern schweifen und sich nachher - weiß Gott, woher, und weiß Gott, wozu - Sprache erfinden lassen. Da nun die meisten Verfechter der menschlichen Sprachwerdung aus einem so unsichem Ort stritten, den andre, z.B. Süßmilch, mit so vielem Grunde bekämpften: so hat • Sur l'inegalite parrni les hommes etc. Part. 1. • Süßmilchs Beweis für die Göttlichkeit etc., Anhang 3. S. llft.

1. Haben die Menschen sich selbst Sprache erfinden können? 15 die Akademie diese Frage, die also noch ganz unbeantwortet ist und über die sich selbst einige ihrer vormaligen Mitglieder in Meinungen geteilt haben, einmal außer Streit wollen gesetzt sehen. Und da dies große Thema so viel Aussichten in die Psychologie und Naturordnung des menschlichen Geschlechts, in die Philosophie der Sprachen und aller Kenntnisse, die mit Sprache erfunden werden, verspricht - wer wollte sich nicht daran versuchen? Und da die Menschen für uns die einzigen Sprachgeschöpfe sind, die wir kennen, und sich eben durch Sprache von allen Tieren unterscheiden: wo finge der Weg der Untersuchung sichrer an, als bei Erfahrungen über den Unterschied der Tiere und der Menschen? - Condillac und Rousseau mußten über den Sprachursprung irren, weil sie sich über diesen Unterschied so bekannt und verschieden irrten: daß jener die Tiere zu Menschen und dieser die Menschen zu Tieren machte. Ich muß also etwas weit ausholen. Daß der Mensih den Tieren an Stärke und Sidierheit des Instinktes weit nadistehe, ja daß er das, was wir bei so vielen Tiergattun~en angeborne Kunstfähigkeiten und Kunsttriebe nennen, gar nidit habe, ist gesichert; nur so wie die Erklärung dieser Kunsttriebe bisher den meisten und noch zuletzt einem gründlichen Philosophen° 9 Deutschlands mißglüdct ist, so hat auch die wahre Ursache von der Entbehrung dieser Kunsttriebe in der menschlichen Natur noch nicht ins Licht gesetzt werden können. Mich dünkt, man hat einen Hauptgesichtspunkt verfehlt, aus dem man, wo nicht vollständige Erklärungen, so wenigstens Bemerkungen in der Natur der Tiere machen kann, die . . . die menschliche Seelenlehre sehr aufklären können. Dieser Gesichtspunkt ist die Sphäre der Tiere. Jedes Tier hat seinen Kreis, in den es von der Geburt an gehört, gleich eintritt, in dem es lebenslang bleibt und stirbt; nun ist es aber sonderbar, daß je schärfer die Sinne • Reimarus über die Kunsttriebe der Tiere: S. Betramtungen drüber in den Briefen, die neueste Literatur betreffend etc.

16

1. Abhandlung über den Ursprung der Sprache

der Tiere und je wunderbarer ihre Kunstwerke sind, desto kleiner ist ihr Kreis: desto einartiger ist ihr Kunstwerk. Ich habe diesem Verhältnisse nachgespürt und ich finde überall eine wunderbar beobachtete umgekehrte Proportion zwischen der mindern Extension ihrer Bewegungen, Elemente, Nahrung, Erhaltung, Paarung, Erziehung, Gesellschaft und ihren Trieben und Künsten. Die Biene in ihrem Korbe bauet mit der Weisheit, die Egeria ihren Numa nicht lehren konnte; aber außer diesen Zellen und außer ihrem Bestimmungsgeschäft in diesen Zellen ist sie auch nichts. Die Spinne webt mit der Kunst der Minerve; aber alle ihre Kunst ist auch in diesen engen Spinnraum verwebt; das ist ihre Welt! Wie wundersam ist das Insekt und wie enge der Kreis seiner Wirkung! Gegenteils. Je vielfacher die Verrichtungen und Bestimmung der Tiere, je zerstreuter ihre Aufmerksamkeit auf mehrere Gegenstände, je unsteter ihre Lebensart, kurz je größer und vielfältiger ihre Sphäre ist: desto mehr sehen wir ihre Sinnlichkeit sich verteilen und schwächen. Ich kann es mir hier nicht in den Sinn nehmen, dies große Verhältnis, das die Kette der lebendigen Wesen durchläuft, mit Beispielen zu sichern; ich überlasse jedem die Probe oder verweise auf eine andre Gelegenheit und schließe fort: Nach aller Wahrscheinlichkeit und Analogie lassen sich also alle Kunsttriebe und Kunstfähigkeiten aus den Vorstellungskräften der Tiere erklären, ohne daß man außer ihnen noch blinde Determinationen annehmen darf, die alle Philosophie verwüsten. Wenn unendlich feine Sinne in einem kleinen Kreis auf ein Einerlei eingeschlossen werden und die ganze andre Welt für sie nichts ist: wie müssen sie durchdringen! Wenn Vorstellungskräfte in einen kleinen Kreis eingeschlossen und mit einer analogen Sinnliclikeit begabt sind: was müssen sie wirken! Und wenn endlich Sinne und Vorstellungen auf einen Punkt gerichtet sind, was kann andres als Instinkt daraus werden? Aus ihnen also erklärt sich die Empfindsamkeit, die Fähigkeiten und Triebe der Tiere nach ihren Arten und Stufen. Und ich darf also den Satz annehmen: die Empfindsam-

1. Haben die Menschen sich selbst Sprache erfinden können? 17

keit, die Fähigkeiten und Kunsttriebe der Tiere nehmen an Stärke und Intensität zu im umgekehrten Verhältnisse der Größe und Mannigfaltigkeit ihres Wirkungskreises. Nun aber Der Mensch hat keine so einförmige und enge Sphäre, wo nur eine Arbeit auf ihn wartet: eine Welt von Geschäften und Bestimmungen liegt um ihn. Seine Sinne und Organisation sind nicht auf Eins geschärft: er hat Sinne für alles und natürlich also für jedes einzelne schwächere und stumpfere Sinne. Seine Seelenkräfte sind über die Welt verbreitet; keine Richtung seiner Vorstellungen auf ein Eins: mithin kein Kunsttrieb, keine Kunstfertigkeit- und, das Eine gehört hier näher her, keine Tiersprache. Was ist doch das, was wir außer der vorher angeführten Lautbarkeit der empfindenden Maschine, bei einigen Gattungen Tiersprache nennen, anders, als ein Resultat der Anmerkungen, die ich zusammengereiht habe? Ein dunkles sinnliches Einverständnis einer Tiergattung untereinander über ihre Bestimmung im Kreise ihrer Wirkung? Je kleiner also die Sphäre der Tiere ist: desto weniger haben sie Sprache nötig. Je schärfer ihre Sinne, je mehr ihre Vorstellungen auf Eins gerichtet, je ziehender ihre Triebe sind: desto zusammengezogner ist das Einverständnis ihrer etwaigen Schälle, Zeichen, Äußerungen. Es ist lebendiger Mechanismus, herrschender Instinkt, der da spricht und vernimmt. Wie wenig darf er sprechen, daß er vernommen werde! Tiere von dem engsten Bezirke sind also sogar gehörlos; sie sind für ihre Welt ganz Gefühl oder Geruch und Gesicht; ganz einförmiges Bild, einförmiger Zug, einförmiges Geschäft; sie haben also wenig oder keine Sprache. Je größer aber der Kreis der Tiere, je unterschiedner ihre Sinne - doch was soll ich wiederholen? Mit dem Menschen ändert sich die Szene ganz. Was soll für seinen Wirkungskreis auch selbst im dürftigsten Zustande die Sprache des redendsten, am vielfachsten tönenden Tieres? Was soll für seine verstreuten Begierden, für seine geteilte Aufmerksamkeit, für seine stumpferwittemden Sinne auch

18

1. Abhandlung über den Ursprung der Sprache

selbst die dunkle Sprache aller Tiere? Sie ist für ihn weder reich, noch deutlich: weder hinreichend an Gegenständen, noch für seine Organe - also durchaus nicht seine Sprache: denn was heißt, wenn wir nicht mit Worten spielen wollen, die .eigentümliche Sprache eines Geschöpfs, als die seiner Sphäre von Bedürfnissen und Arbeiten, der Organisation seiner Sinne, der Richtung seiner Vorstellungen und der Stärke seiner Begierden angemessen ist - und welche Tiersprache ist so für den Menschen? Jedoch es bedarf auch dieser Frage nicht. Welche Sprache (außer der vorigen mechanischen) hat der Mensch so instinktmäßig als jede Tiergattung die ihrige in und nach ihrer Sphäre? - Die Antwort ist kurz: keine! Und eben diese kurze Antwort entscheidet. Bei jedem Tier ist, wie wir gesehen haben, seine Sprache eine Äußerung so starker sinnlicher Vorstellungen, daß diese zu Trieben werden: mithin ist Sprache, sowie Sinne, und Vorstellungen und Triebe angeboren und dem Tiere unmittelbar natürlich. Die Biene summt wie sie saugt, der Vogel singt wie er nistet - aber wie spricht der Mensch von Natur? Gar nicht, so wie er wenig oder nichts durch völligen Instinkt, als Tier tut. Ich nehme bei einem neugebornen Kinde das Geschrei seiner empfindsamen Maschine aus; sonst ist's stumm; es äußert weder Vorstellungen noch Triebe durch Töne, wie doch jedes Tier in seiner Art; bloß, unter Tiere gestellt, ist's also das verwaisteste Kind der Natur. Nackt und bloß, schwach und dürftig, schüchtern und unbewaffnet: und was die Summe seines Elends ausmacht, aller Leiterinnen des Lebens beraubt. Mit einer so zerstreuten, geschwächten Sinnlichkeit, mit so unbestimmten, schlafenden Fähigkeiten, mit so geteilten und ermatteten Trieben geboren, offenbar auf tausend Bedürfnisse verwiesen, zu einem großen Kreise bestimmt - und doch so verwaist und verlassen, daß es selbst nicht mit einer Sprache begabt ist, seine Mängel zu äußern. Nein! ein solcher Widerspruch ist nicht die Haushaltung der Natur. Es müßten statt der Instinkte andre verborgne Kräfte in ihm schlafen! Stumm geboren; aber -

1. Haben die Menschen sich selbst Sprache erfinden können? 19 ZWEITER ABSCHNIIT

Doch ich tue keinen Sprung. Ich gebe dem Menschen nicht gleich plötzlich neue Kräfte, keine sprachschaffende Fähigkeit wie eine willkürliche qualitas occulta. Ich suche nur in den vorher bemerkten Lüclcen und Mängeln weiter Lüclcen und Mängel können doch nicht der Charakter seiner Gattung sein, oder die Natur war gegen ihn die härteste Stiefmutter, da sie gegen jedes Insekt die liebreichste Mutter war. Jedem Insekt gab sie, was und wieviel es brauchte: Sinne zu Vorstellungen und Vorstellungen in Triebe gediegen; Organe zur Sprache, so viel es bedurfte, und Organe, diese Sprache zu verstehen. Bei dem Menschen ist alles in dem größten Mißverhältnis - Sinne und Bedürfnisse, seine Kräfte und der Kreis der Wirksamkeit, der auf ihn wartet, seine Organe und seine Sprache. Es muß uns also ein gewisses Mittelglied fehlen, die so abstehenden Glieder der Verhältnisse zu berechnen. Fänden wir 's: so wäre nach aller Analogie der Natur diese Schadloshaltung seine Eigenheit, der Charakter seines Geschlechts, und alle Vernunft und Billigkeit forderte, diesen Fund für das gelten zu lassen, was er ist, für Naturgabe, ihm so wesentlich als den Tieren der Instinkt. Ja fänden wir eben in diesem Charakter die Ursache jener Mängel und eben in der Mitte dieser Mängel, in der Höhle jener großen Entbehrung von Kunsttrieben den Keim zum Ersatze, so wäre diese Einstimmung ein genetischer Beweis, daß hier die wahre Richtung der Menschheit liege und daß die Menschengattung über den Tieren nicht an Stufen des Mehr oder Weniger stehe, sondern an Art. Und fänden wir in diesem neugefundenen Charaktel' der Menschheit sogar den notwendigen genetischen Grund zur Entstehung einer Sprache für diese neue Art Geschöpfe, wie wir in den Instinkten der Tiere den unmittelbaren Grund zur Sprache für jede Gattung fanden, so sind wir ganz am Ziele. In dem Falle würde die Sprache dem l\Ienschen so wesentlich. als - er ein Mensch ist. :Man sieht. ich entwiclcele aus keinen willkürlichen oder gesellschaft:

20

I. Abhandlung über den Ursprung der Sprache

liehen Kräften, sondern aus der allgemeinen tierischen Ökonomie. Und nun folgt, daß wenn der Mensch Sinne hat, die für einen kleinen Fled< der Erde, für die Arbeit und den Genuß einer Weltspanne den Sinnen des Tiers, das in dieser Spanne lebt, nachstehen an Schärfe: so bekommen sie eben dadurch Vorzug der Freiheit, eben weil sie nicht für einen Punkt sind, so sind sie allgemeinere Sinne der Welt. Wenn der Mensch Vorstellungskräfte hat, die nicht auf den Bau einer Honigzelle und eines Spinngewebes bezirkt sind und also auch den Kunstfähigkeiten der Tiere in diesem Kreise nachstehen, so bekommen sie eben damit weitere Aussicht. Er hat kein einziges Werk, bei dem er also auch unverbesserlich handle; aber er hat freien Raum, sich an Vielem zu üben, mithin sich immer zu verbessern. Jeder Gedanke ist nicht ein unmittelbares Werk der Natur; aber eben damit kann's sein eigen Werk werden. Wenn also hiermit der Instinkt wegfallen muß, der bloß aus der Organisation der Sinne und dem Bezirk der Vorstellungen folgte und keine blinde Determination war, so bekommt eben hiermit der Mensch mehrere Helle. Da er auf keinen Punkt blind fällt und blind liegen bleibt, so wird er freistehen, kann sich eine Sphäre der Bespiegelung suchen, kann sich in sich bespiegeln. Nicht mehr eine unfehlbare Maschine in den Händen der Natur wird er sich selbst Zwed< und Ziel der Bearbeitung. Man nenne diese ganze Disposition seiner Kräfte wie man wolle, Verstand, Vernunft, Besinnung, Reflexion usw. Wenn man diese Namen nicht für abgesonderte Kräfte und für bloße Stufenerhöhungen der Tierkräfte annimmt, so gilt's mir gleich. Es ist die ganze Einrichtung aller menschlichen Kräfte, die ganze Haushaltung seiner sinnlichen und erkennenden, seiner erkennenden und wollenden Natur; oder vielmehr - es ist die einzige positive Kraft des Denkens, die mit einer gewissen Organisation des Körpers verbunden bei den Menschen so Vernunft heißt, wie sie bei den Tieren Kunstfähigkeit wird, die bei ihm Freiheit heißt und bei den Tieren Instinkt wird.

1. Haben die Menschen sich selbst Sprache erfinden können? 21

Der Unterschied ist nicht in Stufen oder Zugabe von Kräften, sondern in einer ganz verschiedenartigen Richtung und Auswicklung aller Kräfte . . . Alle die dagegen Schwierigkeit gemacht, sind durch falsche Vorstellungen und unaufgeräumte Begriffe hinter· gangen. Man hat sich die Vernunft des Menschen als eine neue, ganz abgetrennte Kraft, in die Seele hineingedacht, die dem Menschen als eine Zugabe vor allen Tieren zu eigen geworden und die also auch, wie die vierte Stufe einer Leiter nach den drei untersten, allein betrachtet werden müsse; und das ist freilich, es mögen es so große Philosophen sagen, als da wollen, philosophischer Unsinn. Alle Kräfte unsrer und der Tierseelen sind nichts als metaphysische Abstraktionen, Wirkungen! Sie werden abgeteilt, weil sie von unserm schwachen Geiste nicht auf einmal betrachtet werden konnten: sie stehen in Kapiteln, nicht, weil sie so kapitelweise in der Natur wirkten, son· dem weil ein Lehrling sie sich vielleicht so am besten entwickelt. Daß wir gewisse ihrer Verrichtungen unter gewisse Hauptnamen gebracht haben, z. B. Witz, Scharfsinn, Phantasie, Vernunft, ist nicht, als wenn je eine einzige Handlung des Geistes möglich wäre, wo der Witz oder die Ver· nunft allein wirkt, sondern nur, weil wir in dieser Handlung am meisten von der Abstraktion entdecken, die wir Witz oder Vernunft nennen, z.B. Vergleichung oder Deutlichmachung der Ideen: überall aber wirkt die ganze unabgeteilte Seele. Konnte ein Mensch je eine einzige Handlung tun, bei der er völlig wie ein Tier dachte, so ist er auch durchaus kein Mensch mehr, gar keiner menschlichen Handlung mehr fähig. War er einen einzigen Augenblick ohne Vernunft, so sähe ich nicht, wie er je in seinem Leben mit Vernunft denken könne, oder seine ganze Seele, die ganze Haushaltung seiner Natur ward geändert. Nach richtigem Begriffen ist die Vernunftmäßigkeit des Menschen, der Charakter seiner Gattung etwas anders, nämlich die gänzliche Bestimmung seiner denkenden Kraft im Verhältnis seiner Sinnlichkeit und Triebe. Und da konnte es, alle vorigen Analogien zu Hilfe genommen, nicht anders sein, als daß -

22

I. Abhandlung über den Ursprung der Sprache

wenn der Mensch Triebe der Tiere hätte, er das nicht haben könnte, was wir jetzt Vernunft in ihm nennen; denn eben diese Triebe rissen ja seine Kräfte so dunkel auf einen Punkt hin, daß ihm kein freier Besinnungskreis ward. Es mußte sein, daß wenn der Mensch Sinne der Tiere, er keine Vernunft hätte; denn eben die starke Reizbarkeit seiner Sinne, eben die durch sie mächtig andringenden Vorstellungen müßten alle kalte Besonnenheit ersticken. Aber umgekehrt müßte es auch nach eben diesen Verbindungsgesetzen der haushaltenden Natur sein, daß wenn tierische Sinnlichkeit und Eingeschlossenheit auf einen Punkt wegfiele: so wurde ein ander Geschöpf, dessen positive Kraft sich in größerm Raume, nach feinerer Organisation, heller äußerte; das abgetrennt und frei nicht bloß erkennt, will und wirkt, sondern auch weiß, daß es erkenne, wolle und wirke. Dies Geschöpf ist der Mensch und diese ganze Disposition seiner Natur wollen wir um den Verwirrungen mit eignen Vernunftkräften usw. zu entkommen, Besonnenheit nennen. Es folgte eben nach diesen Verbindungsregeln, da alle die Wörter Sinnlichkeit und Instinkt, Phantasie und Vernunft doch nur Bestimmungen einer einzigen Kraft sind, wo Entgegensetzungen einander aufheben, daß wenn der Mensch kein instinktmäßiges Tier sein sollte, er vermöge der freiwirkenden positiven Kraft seiner Seele ein besonnenes Geschöpf sein mußte. - Wenn ich die Kette dieser Schlüsse noch einige Schritte weiter ziehe, so bekomme ich damit vor künftigen Einwendungen einen den Weg sehr kürzenden Vorsprung. Ist nämlich die Vernunft keine abgeteilte, einzelwirkende Kraft, sondern eine seiner Gattung eigne Richtung aller Kräfte: so muß der Mensdi sie im ersten Zustand haben, da er Mensch ist. Im ersten Gedanken des Kindes muß sich diese Besonnenheit zeigen, wie bei dem Insekt daß es Insekt war. - Das hat nun mehr als ein Schriftsteller nicht begreifen können und daher ist die Materie, über die ich schreibe, mit den rohesten. ekelhaftesten Einwürfen angefüllt - aber sie konnten es nicht begreifen,

1. Haben die Menschen sich selbst Sprache erfinden können? 23

weil sie es mißverstanden. Heißt denn vernünftig denken, mit ausgebildeter Vernunft denken? Heißt's der Säugling denke mit Besonnenheit, er raisonniere wie ein Sophist auf seinem Katheder oder der Staatsmann in seinem Kabinett? Glücl