Gebrochener Glanz. Klassische Tradition und Alltagswelt im Spiegel neuer und alter Grabepigramme des griechischen Ostens 9783110595529, 3110595524, 9783110597394, 311059739X

Ancient funerary poetry tried to portray the deceased in the context of everyday life while employing the expressive tec

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Polecaj historie

Gebrochener Glanz. Klassische Tradition und Alltagswelt im Spiegel neuer und alter Grabepigramme des griechischen Ostens
 9783110595529, 3110595524, 9783110597394, 311059739X

Table of contents :
Frontmatter......Page 1
Inhalt......Page 5
Vorwort......Page 9
Häufige Abkürzungen......Page 11
Einleitung......Page 13
Literarhistorische Grundlagen......Page 27
Alltagsweltliche Voraussetzungen......Page 44
Homer zur Sublimierung der Alltagswelt......Page 72
Nachhomerische literarische Tradition im Spiegel der Alltagsdichtung......Page 101
Epigraphische Muster: „pattern-books“ und Standardverse......Page 137
Gladiatorenmonumente......Page 162
Junge Mütter......Page 204
Töchter – Söhne – Hoffnungsträger......Page 233
Personen des öffentlichen Lebens: Ärzte – Politiker – Lehrer......Page 285
Appendix: Supplement zu SGO......Page 337
Literaturverzeichnis......Page 355
Abbildungsverzeichnis......Page 375
Stellenregister......Page 376
Themen und Namen......Page 410
Griechische Wörter und Wendungen......Page 417

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Gregor Staab Gebrochener Glanz

Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte

Herausgegeben von Marcus Deufert, Heinz-Günther Nesselrath und Peter Scholz

Band 130

Gregor Staab

Gebrochener Glanz

Klassische Tradition und Alltagswelt im Spiegel neuer und alter Grabepigramme des griechischen Ostens

ISBN 978-3-11-059552-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-059739-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-059430-0 ISSN 1862-1112 Library of Congress Control Number: 2018940990. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Vorwort | IX Häufige Abkürzungen | XI Verwendung einzelner Zeichen | XII Einleitung  1 Hintergründe und Zielsetzung | 1 2 Eigenart der Grabepigramme auf Stein | 5 3 Literaturtheoretische Implikationen | 8 4 Aufbau der Arbeit | 11

Erster Teil: Epigramm zwischen Literatur und Alltagswelt  I 1

2

II 1 2

3 III 1 2 3 4

Literarhistorische Grundlagen Die Entwicklung des Buchepigramms aus dem Steinepigramm | 16 a Ursprünge und Grundzüge des inschriftlichen Epigramms | 16 b Literarisierung inschriftlicher Epigramme in Sammlungen | 19 c Verselbständigung der literarischen Epigrammatik | 24 Die literarische Stellung der Steinepigramme | 27 a Steinepigramme in literarischer Überlieferung: Anthologia Graeca | 27 b Anonymität der Steinepigramme | 30 Alltagsweltliche Voraussetzungen Bildungshintergrund: Schule in Kleinasien | 33 Steinepigramme als Zeugnisse des Bildungswesens | 37 a Literaturlehrer in Kleinasien | 39 b Bildungskarrieren von Literaten und Politikern | 48 Bedeutung Homers in Kleinasien | 55 Homer zur Sublimierung der Alltagswelt Homerische Formeln und Ζitate | 61 Die Formel τὸ γὰρ γέρας ἐστὶ θανόντων | 68 Homer als Erfinder des Epigramms | 70 Mittelbare Iliasrezeption: Homers Grabinschrift in der sepulkralen Epigrammatik | 73

VI | Inhalt

5

Mythische Vergleichsfiguren und Motivfelder | 77 a Paradigmatische Heroengestalten von Hektor bis Leonidas | 77 b Penelope als Mustergattin | 81 c Das Achill-Paradigma | 84

IV

Nachhomerische literarische Tradition im Spiegel der Alltagsdichtung Methodische Überlegungen: Klassische Tradition und Steinepigramme | 90 Einzelfälle: Der Vergleich mit literarischen Gestalten | 95 Bezugnahmen auf die literarische Poesie | 98 a Hesiod | 98 b Pindar | 102 c Euripides | 103 d Menander | 107 e Kallimachos | 110 f Hellenistische Epigrammatik | 113 α Einzelne wörtliche Querverbindungen | 114 β Leonidas von Tarent | 117 γ Antipatros von Sidon | 120

1 2 3

V 1 2 3

Epigraphische Muster: „pattern-books“ und Standardverse Vorbemerkung | 126 Eingeschränkte Bedeutung schriftlicher Mustervorlagen | 128 Kommemorative Muster: Der „Spruch des Kerellaios“ | 138 Formelhafte Muster: Metrische Flüche aus Phrygien | 144 a Der nordphrygische iambische Grabfluch | 146 b Der ostphrygische daktylische Grabfluch | 147

Zweiter Teil: Kommentierte Editionen neuer Steinepigramme  I

Gladiatorenmonumente Gladiatorenepigramme als Sondergruppe | 153 *02/06/21 STRATONIKEIA Gladiator Droseros, vom früheren Pantomimen Achill überwältigt | 156 *02/06/22 STRATONIKEIA Vitalis, getötet von Polydeukes | 163 *02/06/23 STRATONIKEIA Eumelos, von Pherops getötet | 167 *02/16/01 KARIEN INLAND Ein kleiner, aber starker Gladiator | 170 *03/02/75 EPHESOS Achilleus aus Pergamon | 174

Inhalt | VII

*03/02/76 EPHESOS Secutor Pardos fällt und tötet im letzten Duell | 177 *17/11/03 TLOS „Ares“ Chrysomallos, nach dem Kampf gestorben | 186 II

Junge Mütter *04/14/02 SILANDOS Babis aus Saittai stirbt im Kindbett im Vaterhaus in Silandos | 195 *09/05/51 NIKAIA Tod einer betrogenen jungen Mutter | 212 *10/02/33 HADRIANOPOLIS (Chora) Tod der schwangeren Markiane im Alter von 20 Jahren | 220

III

Töchter – Söhne – Hoffnungsträger *03/01/07 PRIENE Hellenistisches Gedicht auf ein ertrunkenes Mädchen | 224 *03/02/77 EPHESOS Lehrer Menandros für den Sklaven Hyllos | 236 *16/32/16 KOTIAEION Der jung verstorbene Sohn von Gai(o)s und Alexandra | 253 *17/23/01 ARAXA Sklavenjunge Neophytos | 263

IV

Personen des öffentlichen Lebens: Ärzte – Politiker – Lehrer *04/02/14 SARDEIS Tib. Iulius Lepidus für den Augenarzt Stratonikos | 276 *06/02/37 PERGAMON Ratsherr Dion | 286 *09/08/08 PRUSIAS Großbauer Glykon, ein zweiter Alkinoos | 304 SGO 09/09/15 (vervollständigt) KLAUDIUPOLIS Die verschwägerten Ärzte Prokopios und Helladios | 313 *17/06/08 OINOANDA Lehrer und Rezitator Aristophanes | 322

Appendix: Supplement zu SGO | 328 Literaturverzeichnis | 346 Abbildungsverzeichnis | 366 Stellenregister | 367 1

Literarische Quellen | 367

2

Inschriften | 381

3

Ostraka und Papyri | 400

Themen und Namen | 401 Griechische Wörter und Wendungen  | 408

Vorwort Mit diesem Buch lege ich die überarbeitete Fassung meiner im WiSe 2016/17 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommenen Habilitationsschrift vor. Das Thema erwuchs aus der Beschäftigung mit griechischen Versinschriften, die in neuerer Zeit aus den Gebieten zwischen Hellespont und Rotem Meer bekannt wurden. Als „neue Epigramme“ treten sie zu dem fünfbändigen Corpus der „Steinepigramme aus dem griechischen Osten“ (SGO) hinzu, das von Reinhold Merkelbach unter Mitarbeit von Josef Stauber im Jahre 2004 abgeschlossen wurde.1 Im Zentrum der vorliegenden Studie steht die mit dem Beginn der Kaiserzeit stark hervortretende private Grabepigrammatik in Kleinasien, die in einem ersten Hauptteil systematisch und in einem zweiten Hauptteil anhand von 19 Einzelbeispielen in den Blick genommen wird.2 Andere Gedichtgattungen sowie Grabepigramme über den kleinasiatischen Bereich hinaus werden in die Interpretation einbezogen, wenn es die Fragestellung erfordert. Die entwickelten Erklärungsansätze und Interpretationslinien können freilich das komplexe Phänomen der antiken Sepulkraldichtung nur ausschnittweise und exemplarisch erschließen. Folgenden Personen danke ich dafür, daß sie mir freundlicherweise unveröffentlichte epigraphische Materialien und Erfassungsdaten zur Verfügung gestellt haben: Mustafa Adak (Antalya), Wolfgang Blümel (Köln), Eva Christof (Graz), Ergün Laflı (Izmir), Hans Lohmann (Bochum), Christian Marek (Zürich), Nalan Eda Akyürek Şahin (Antalya), Hans Taeuber (Wien), Cumhur Tanrıver (Izmir) und ganz besonders Hasan Malay (Izmir), der mir die Erstedition zweier Epigramme

|| 1 Die zu SGO hinzukommenden Steinepigramme sind im folgenden mit Stern * markiert. Alle hier behandelten oder zitierten zusätzlichen Gedichte sind in der Appendix: Supplement zu SGO (S. 328–345) zusammengestellt. 2 Es handelt sich um drei Ersteditionen: *17/11/03 (S. 186–194), *04/14/02 (S. 195–211), *16/32/16 (S. 253–262), um zehn stark überarbeitete bzw. nun ausführlich kommentierte Editionen von Epigrammen, die von anderen oder – in einem Fall – von mir erstpubliziert wurden: *02/06/22 (S. 163–166), *02/06/23 (S. 167–170), *02/16/01 (S. 170–173), *03/02/75 (S. 174–177), *03/02/76 (S. 177–185), *10/02/33 (S. 220–223), *03/02/77 (S. 236–253), *09/08/08 (S. 304–313), SGO 09/09/15 vervollständigt (S. 313–322) bzw. *17/06/08 (S. 322–327), sowie um sechs bereits von mir publizierte Steingedichte, die nun im Zusammenhang des hier vorgelegten Gesamtkonzeptes in aktualisierter Überarbeitung noch einmal präsentiert werden: *02/06/21 (S. 156–162), *09/05/51 (S. 212–220), *03/01/07 (S. 224–235), *17/23/01 (S. 263–275), *04/02/14 (zuvor gemeinsam mit G. Petzl; S. 276–285), *06/02/37 (S. 286–304). https://doi.org/9783110597394-001

X | Vorwort

anvertraute, sowie Oğuz Kocagil (Fethiye), der mir Inschriften aus seiner Sammlung zur Publikation überließ. Herzlicher Dank gebührt Georg Petzl, der seit 2006 vorbehaltlos meine Bemühungen im Bereich der griechischen Epigraphik förderlich begleitet hat. Dankbar bin ich Heidi Hein (Heidelberg) und Alfred Breitenbach, die mir in freundschaftlicher Verbundenheit in entscheidenden Phasen meines Projektes mit Gesprächen und durch Korrekturlesen geholfen haben. Von größtem Nutzen waren für mich ebenso die zahlreichen Hinweise und Korrekturen der allesamt sehr engagierten Gutachten: Ich danke René Nünlist und Walter Ameling, die auch im nachhinein für Rückfragen offen waren, sowie Stephan Schröder (Erlangen), der mir noch entscheidende Ratschläge zur Gesamtanlage gab. Große Dankbarkeit empfinde ich gegenüber Jürgen Hammerstaedt, der mit seiner erfahrungsreichen, erfrischend ehrlichen und zielgerichteten Art, Altertumskunde und besonders die Klassische Philologie zu betreiben, mich und meine wissenschaftliche Arbeit insgesamt in den letzten Jahren nicht nur inhaltlich, sondern auch menschlich stets verläßlich unterstützt hat. Den Herausgebern Heinz-Günther Nesselrath, der zum gesamten ursprünglichen Manuskript wichtige Verbesserungsvorschläge beisteuerte, Marcus Deufert, der mir kritische Beobachtungen zugute kommen ließ, sowie Peter Scholz sei für ihre wohlwollende Begutachtung gedankt. Rudolf Kassel hat mein Vorhaben von Anfang an mit Interesse begleitet sowie durch kritische Lektüre und Gespräche unterstützt. Ich bin dankbar, daß ich von seiner Sympathie und Erkenntnisfülle immer wieder profitieren durfte und darf. In dem von R. Kassel und J. Hammerstaedt geleiteten altertumskundlichen Forschungskolloquium konnte ich mehrfach meine Ideen und Zwischenergebnisse zur Diskussion stellen; für den großen Gewinn, den ich immer wieder davongetragen habe, danke ich den vielen ehemaligen und aktuellen Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Jenseits aller Altertumskunde sind mir in der ‚Alltagswelt‘, unter deren vielfältigen Bedingungen auch diese Arbeit entstand, meine Kinder und besonders meine Frau wichtigstes Korrektiv und unerläßlicher Halt. Dafür danke ich ihnen von Herzen!

Häufige Abkürzungen Die nachfolgenden Editionen werden nach der jeweiligen Numerierung der Texte zitiert oder, bei EG, FGE, GP und HE, nach der durchlaufenden Verszahl.

AP / APl XVI

Anthologia Palatina bzw. Ergänzungen aus der Anthologia Planudea (= „Buch XVI“) nach H. Beckby, Anthologia Graeca, griechisch-deutsch, Bände I–IV, München 21965.

CEG

P. A. Hansen, Carmina Epigraphica Graeca saeculorum VIII–IV, voll. I–II, Berlin – New York 1983–1989.

EG [Vers]

D. L. Page, Epigrammata Graeca, Oxford 1975.

FGE [Vers]

D. L. Page, Further Greek Epigrams. Epigrams before A.D. 50 from the Greek Anthology and other sources, not included in ‚Hellenistic Epigrams‘ or ‚The Garland of Philip‘, Cambridge 1981.

Geffcken

J. Geffcken, Griechische Epigramme, Heidelberg 1916.

GG

W. Peek, Griechische Grabgedichte, griechisch und deutsch, Darmstadt 1960.

GI

G. Pfohl, Griechische Inschriften als Zeugnisse des privaten und öffentlichen Lebens. Griechisch-deutsch, München 21980.

GP [Vers]

A. S. F. Gow, D. L. Page, The Greek Anthology. The Garland of Philip and some contemporary Epigrams, vol. I: Text, vol. II: Commentary, Cambridge 1968.

GVI

W. Peek, Griechische Vers-Inschriften, Band I Grabepigramme, Berlin 1955.

HE [Vers]

A. S. F. Gow, D. L. Page, The Greek Anthology. Hellenistic Epigrams, vol. I: Text, vol. II: Commentary, Cambridge 1965.

IEG

M. L. West, Iambi et Elegi Graeci ante Alexandrum cantati, voll. I–II, Oxford 21992.

IGUR

L. Moretti, Inscriptiones Graecae urbis Romae, voll. I–IV, Rom 1968–1990.

IMEG

É. Bernand, Inscriptions métriques de l’Égypte gréco-romaine. Recherches sur la poésie épigrammatique des Grecs en Égypte, Paris 1969.

JdE

R. Merkelbach, J. Stauber, Jenseits des Euphrat. Griechische Inschriften zusammengestellt, übersetzt und erklärt, Leipzig 2005.

Kaibel

G. Kaibel, Epigrammata Graeca ex lapidibus conlecta (Berlin 1878), Supplementum Epigr. Gr. ex l. c. (RhM 34, 1879, 181–213), Frankfurt 1879.

Mann

Chr. Mann, Grabdenkmäler von Gladiatoren im griechischen Osten: Katalog, in: Mann (2011) 182–272.

Parke/Wormell

H. W. Parke, D. E. W. Wormell, The Delphic Oracle, Volume II: The oracular responses, Oxford 1956.

Preger

Th. Preger, Inscriptiones Graecae metricae ex scriptoribus praeter Anthologiam collectae, Leipzig 1891.

https://doi.org/9783110597394-002

XII | Verwendung einzelner Zeichen

Raffeiner

H. Raffeiner, Sklaven und Freigelassene. Eine soziologische Studie auf der Grundlage des griechischen Grabepigramms (Philologie und Epigraphik 2), Innsbruck 1977.

Robert

L. Robert, Les gladiateurs dans l’Orient grec, Limoges 1940 (Nr. 1–302), danach: Hellenica III (1946) 112–150 (Nr. 303–313); Hellenica V (1948) 77-99 (Nr. 314–320); Hellenica VII (1949) 126–151 (Nr. 321–326); Hellenica VIII (1950) 39–72 (Nr. 327–341).

Samama

Évelyne Samama, Les médecins dans le monde grec. Sources épigraphiques sur la naissance d’un corps médical, Genf 2003.

SGO

R. Merkelbach, J. Stauber, Steinepigramme aus dem griechischen Osten, 4 Bände mit Registerband 5, München – Leipzig 1998–2004.

SH

H. Lloyd-Jones, P. J. Parsons, Supplementum Hellenisticum. Indices confecit H.-G. Nesselrath (Texte und Kommentare 11), Berlin – New York 1983.

Strubbe

J. Strubbe, ΑΡΑΙ ΕΠΙΤΥΜΒΙΟΙ. Imprecations against Desecrators of the Grave in the Greek Epitaphs of Asia Minor. A Catalogue (IK 52), Bonn 1997.

Vérilhac

Anne-Marie Vérilhac, ΠΑΙΔΕΣ ΑΩΡΟΙ. Poésie funeraire I: Textes, Athen 1978.

Verwendung einzelner Zeichen ~

Tilde bedeutet wörtliche Übereinstimmung.



Stern kennzeichnet einen einzelnen gegenüber dem Schriftträger geänderten Buchstaben.

|

Senkrechte zeigt den Zeilenwechsel auf dem Schriftträger an.

/

Diagonale markiert die Versgrenze.

Sonst gelten die in der Epigraphik gebräuchlichen editorischen Zeichen.

Einleitung 1 Hintergründe und Zielsetzung In der Antike hatten Steininschriften im öffentlichen Raum eine ungleich größere Bedeutung als heutzutage.1 Die letzte Würdigung eines Verstorbenen vollzog sich zwar nicht viel anders, als wir es kennen, durch einen Gedenkstein, doch bot dieser oft mehr als die kargen Personendaten des Dahingeschiedenen.2 Aus dem Altertum (vom 7. Jh. v. Chr. bis ca. 650 n. Chr.) sind bis heute innerhalb der unüberschaubaren Masse privater Grabmäler, die mit ihren Inschriften – angefangen bei einfachen Namensnennungen über die Offenlegung detaillierter Verwandtschafts- und Sozialstrukturen bis hin zum Bekenntnis religiöser Lebensanschauungen – einen unerschöpflichen Informationsspeicher für die Altertumskunde darstellen, schätzungsweise 5000 Steine mit griechischen Grabinschriften in Gedichtform erhalten.3 Diese Steinepigramme gehen in der Regel auf die Initiative von Privatpersonen zurück, die einem verstorbenen Familienangehörigen durch poetische Mittel gebührende letzte Aufmerksamkeit und ehrenvolles Gedenken verschaffen woll-

|| 1 Vgl. etwa Robert (1961) 69 [7]: „On se demande parfois où pouvaient loger toutes ces pierres inscrites. Il est certain qu’à l’époque la plus prospère de l’Empire, malgré les remplois d’anciennes pierres, les cités antiques en étaient encombrées et que sur les places ou les avenues d’Athènes, d’Éphèse, de Pergame ou de Smyrne, comme aussi de telle petite ville des montagnes de Lycie, de Pisidie ou de Cilicie, stèles et surtout bases de statues se pressaient en files ininterrompues, comme les sarcophages ou les autels funéraires en dehors de la ville, le long des routes. (…) Partout dans la ville les inscriptions, serrées les unes contre les autres, sollicitaient le regard (…).“ – Wichtige Einzelbeobachtungen von Louis Robert werden im folgenden nach ‚Hellenica‘ I–XII, ‚OMS‘ I–VII (= Opera minora selecta) und ‚BE‘ (Bulletin épigraphique [gemeinsam mit Jeanne Robert], in Revue des Études Grecques) teilweise ohne Bezug auf im Literaturverzeichnis eigens aufgeführte Werktitel zitiert. 2 Die Pauschalität dieser Aussage gründet auf der statistischen Seltenheit von inschriftlichen Kurzporträts und Grabgedichten auf modernen Friedhöfen; eindrucksvolle, oft auf antike Vorbilder zurückgehende Ausnahmen sind leicht bei Guthke (2006) zu finden, der die Grabmäler der Neuzeit zur Grundlage einer kulturgeschichtlichen Betrachtung macht. 3 Literatur zum Grabepigramm wird im folgenden themenbezogen angegeben; vgl. außerdem Kapitel I 1, S. 16ff.; für die editorische Erschließung die entsprechenden Sammlungen unter der abgekürzt zitierten Literatur; zum älteren allgemeinen Forschungsstand bezüglich der Sepulkraldichtung auf Stein Pfohl (1964) Bibliographie; Pfohl (1970) systematisch nach archäologischen, kultur- und literaturhistorischen Fragestellungen; Pfohl (1983) Doxographie vor allem zu mentalitätsgeschichtlichen Ansätzen. https://doi.org/9783110597394-003

2 | Einleitung

ten. Seit dem Aufkommen der Schrift waren Form und Inhalt der letzten Würdigung, abhängig von den politisch-kulturellen Rahmenbedingungen in den jeweiligen griechischsprachigen Gebieten der Antike, vielfältigen Entwicklungen unterworfen. Nachdem vor allem in Athen seit klassischer Zeit das Gestaltungsspektrum der privaten Grabepigramme erweitert worden war, scheint sich seit dem ausgehenden Hellenismus ihre Beliebtheit in allen anderen von griechischer Kultur geprägten Regionen der antiken Welt, wahrscheinlich auch im Zusammenhang nachlassender staatlicher Reglementierungen des Gräberwesens,4 bis in einfache Bevölkerungsschichten durchgesetzt zu haben. Der Titel „Gebrochener Glanz“, den vor einigen Jahren eine Bonner Ausstellung von römischen Großbronzen am Limes trug, mag im übertragenen Sinne auf das Grundprogramm der vorliegenden Studie verweisen, nämlich die häufige qualitative Unvollkommenheit dieser Texte zu akzeptieren und der Frage nachzuspüren, in welchen Brechungen die klassische Literatur in den Auftragsprodukten von ‚Steindichtern‘, deren poetischer Perfektionismus meist weit von dem namhafter Autoren literarischer Epigrammatik entfernt ist, widerstrahlt. All diese Texte sind geprägt von der Spannung zwischen dem Alltäglichen und dem Ringen ihrer Dichter, dem Unscheinbaren und Gewöhnlichen im Rückgriff auf die Formen und Ausdrucksweisen der klassischen Tradition bleibenden Glanz zu verleihen. Der im Untertitel gegenüber der „klassischen Tradition“5 verwendete Ausdruck der „Alltagswelt“ soll auf den je singulären, durch die individuellen Lebensverhältnisse vorgegebenen Rahmen hinweisen, innerhalb dessen die Steinepigramme entstanden sind und interpretiert werden müssen. Der in der modernen Philosophie im Zuge der Loslösung von Rationalismus und Metaphysik seit Edmund Husserl systematisch entwickelte Begriff der „Lebenswelt“6 wurde im 20. Jahrhundert von verschiedenen Wissenschaftsbereichen angewandt, um den unmittelbar alltäglichen, privaten, oft widerspruchsvollen und unbeherrschbaren Bereich des Menschen in seinem Verhältnis zu den idealisierenden Sphä-

|| 4 Vgl. Engels (1998) zu den vielfältigen staatlichen Interessen bzw. gesetzgeberischen Eingriffen im Bereich der privaten Bestattung von der Antike, besonders in Athen, bis in die Neuzeit. 5 Den Begriff „klassische Tradition“ benutze ich nicht im Sinne einer Epocheneingrenzung, sondern meine damit ganz allgemein die durch die literarische Überlieferung als mustergültig erscheinende Literatur der Antike von den homerischen Epen bis zur hellenistischen Dichtung. 6 Vgl. die Definition des Begriffs „Lebenswelt“ von E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Husserliana Bd. 6), Den Haag 1954, 130 als „‚bloß subjektiv-relative‘ Anschauung des vorwissenschaftlichen Weltlebens, die ein Reich ursprünglicher Evidenzen“ ist; zu Vorläufern und zur Weiterentwicklung Mühlmann (1980).

1 Hintergründe und Zielsetzung | 3

ren systematischer, wissenschaftlicher Theorie (in Psychologie, Soziologie, Ökonomie usw.) näher zu erfassen.7 Auf dem Gebiet der Altertumskunde kommt diese Betrachtungsweise in Form der antiken Alltagsgeschichte zur Geltung, in der grob gesagt „die Grundgegebenheiten des Lebens, die Alltag entscheidend prägen“8, im Zentrum stehen. Vor diesem Hintergrund bietet sich der Begriff der „Alltagswelt“ auch zur Beschreibung der literarischen Eigenart der Steinepigramme an,9 für deren Entstehung die alltägliche Lebenswelt aller beteiligten Personen – der Verstorbenen, der Auftraggeber, des Publikums und nicht zuletzt der Dichter – maßgeblich ist. In den privaten Grabgedichten auf Stein treffen die konkreten lebensweltlichen Bedingungen mit den Anforderungen, Formen und Denkmustern der klassischen Tradition zusammen. Für die in dieser Arbeit vorgelegte Analyse der Steingedichte ist also die eigenartige literarische Begegnung von Alltag und Tradition ein leitender Aspekt. Es gilt demnach, die speziellen Voraussetzungen, poetischen Techniken und Gestaltungsmerkmale der privaten Grabpoesie auf Stein in einem ersten Teil ins Bewußtsein zu bringen, um im zweiten Teil durch die Einzelbehandlung der Gedichte die für diese Art der Poesie typischen Unebenheiten und Brüche aufzudecken und zu verstehen. Die konsequente Einbeziehung der Lebenswelt in die literarische Analyse, das heißt das Verständnis für das Wechselspiel zwischen konkreten Entstehungsbedingungen und poetischer Ausführung, bietet dann zudem den Schlüssel, um umgekehrt einen unverstellten Blick auf die alltagshistorischen Gegebenheiten zu gewinnen, die hinter den Gedichten stehen. Insofern können die Steine ähnlich wie die Papyri Ägyptens Einblicke in die private

|| 7 Vgl. für die diversen Ausprägungen des Konzeptes das programmatische, begrifflich aber oft unscharf bleibende Werk des marxistischen Denkers H. Lefebvre (1901–1991) Critique de la vie quotidienne, Bd. I 1946, Bd. II 1961, [Bd. III 1981] = dt. Übersetzung: Kritik des Alltagslebens. Grundrisse einer Soziologie der Alltäglichkeit. Mit einem Vorwort zur deutschen Ausgabe, übersetzt von K. Held (Bd. I) und B. Kroeber (Bd. II in 2 Bdn.), München 1974/75 (Nachdrucke); z. B. Lefebvre I (1974) 30 „Das Alltagsleben ist von Widersprüchen bestimmt: Illusion und Wahrheit, Macht und Ohnmacht stehen sich gegenüber; Bereiche, die der Mensch beherrscht, stehen neben solchen, die sich seiner Macht entziehen.“ – Anwendung auf das digitale Zeitalter bei Poster (2002). 8 Eich/Faber (2013) 16; ebd. 9–16 Forschungsgeschichte und Reflexion des Begriffs. 9 Bei Lefebvre (1974) 31f. findet das Konzept des „Alltagslebens“ nur beiläufig für die Literaturtheorie Beachtung, bezüglich der Darstellung des unmittelbar Alltäglichen in Bertolt Brechts Theater als Verfremdungseffekt und hinsichtlich einer Veredelung der Alltagswelt beim Romanschreiber Roger Vailland (S. 31): „Er (sc. der Autor) kommt von außen und verleiht der grauen Alltäglichkeit eine Klarheit und Anerkennung, die sie selbst nicht enthält.“

4 | Einleitung

Lebenswirklichkeit der Menschen geben.10 Darüber hinaus sind und waren über alle Zeiten hinweg die familiären Erinnerungsmale Symbole gesellschaftlicher Selbstdarstellung und lassen Rückschlüsse auf den sozialen Status der Beteiligten zu.11 Um den Charakter der sepulkralen Steingedichte zu begreifen, müssen grundsätzliche Differenzen innerhalb der epigraphischen Überlieferung beachtet werden: So sind gegenüber der privaten Grabepigrammatik alle anderen auf Stein anzutreffenden Gedichte (öffentliche Gefallenenepigramme, Weihungen, Stifterinschriften u. a.) schon allein aufgrund ihres Standortes in anderem Licht zu betrachten. Während ein Sepulkralepigramm normalerweise in außerstädtischen Bestattungsbezirken unter einer Vielzahl ‚konkurrierender‘ Grabinschriften wahrgenommen werden wollte, waren die übrigen Gedicht-‚Gattungen‘ in der Regel an repräsentativen öffentlichen Orten beheimatet; allein dadurch hatten sie insgesamt strikteren, durch den religiösen oder politischen Kontext definierten Anforderungen Genüge zu leisten.12 Diese funktionsbedingte Unterscheidung von Versinschriften wird generell überlagert durch weitere zeitliche und lokale Kriterien: Denn die Epigramme der hellenistischen Zeit, die sich in Kleinasien im Bannkreis der traditionellen griechischen Kulturstädte konzentrierten,13 waren demgemäß tendenziell anspruchsvoller als die Massenprodukte seit der Kaiserzeit (vgl. unten aus Priene *03/01/07, S. 224ff.). Beginnend mit dem ersten Jahrhundert nach Christus

|| 10 Pfohl (1970) 78: „Vor allem sie [sc. die Grabinschriften auf Stein] enthüllen das wirklich Individuelle, Private und Familiäre.“ 11 Vgl. z. B. Marek (2010) 561–592, der viele Aufschlüsse im Kapitel zur „Gesellschaft“ in den kaiserzeitlichen Provinzen Kleinasiens aus den Grabinschriften gewinnt; Hoffmann-Salz (2014), besonders 295–298, 301f., zu Selbstpräsentation und Idealvorstellungen der kaiserzeitlichen Eliten des Hauran aufgrund der in SGO gesammelten Epigramme, die in dieser Region im 3./4. Jh. n. Chr. eine besondere Blüte erlebten (dazu Sartre-Fauriat [2001] 203). 12 Vgl. auch Fraser (1972) 612 hinsichtlich der Bestellung professioneller Poeten für solche repräsentativen Steinepigramme durch gesellschaftlich hochstehende Auftraggeber in ptolemäischer Zeit. 13 Einen Querschnitt durch die hellenistischen Grabgedichte des griechischen Mutterlandes bietet Cairon (2009); vgl. auch unten Anm. 269. – Lloyd-Jones und Parsons haben die hellenistischen Steinepigramme im Supplementum Hellenisticum p. IX ausdrücklich allein aufgrund der erdrückenden Masse (lapidea moles) ausgeschlossen, ohne ihre etwaigen literarisch-qualitativen Rangunterschiede zu gewichten (non quod pauca sint et indigna, sed quod tanta tamque dispersa); vgl. Fraser (1972) 617 zum Niveaugefälle der professionellen alexandrinischen Epigramme des Hellenismus gegenüber den auf Stein überlieferten.

1 Hintergründe und Zielsetzung | 5

scheint sich nämlich über lokale und gesellschaftliche Grenzen hinweg allgemein die Praxis durchgesetzt zu haben, Familienangehörigen mit einem Gedicht auf dem Grabstein die letzte Ehre zu erweisen.

2 Eigenart der Grabepigramme auf Stein Grabsteine sind unmittelbarer Ausdruck einer zwiespältigen existentiellen Konstitution des Menschen, der sich seiner körperlichen Vergänglichkeit zum Trotz eine über den Tod hinausreichende Bedeutung erhofft. Diese menschliche Grundhaltung tritt in jedem einzelnen sepulkralen Monument, das entweder bereits zu Lebzeiten im Hinblick auf den eigenen Tod initiiert wird oder für das die Hinterbliebenen, oft zum eigenen Trost, Sorge tragen, auf je andere Art hervor: sei es daß durch die Materialität des Gedenksteins selbst nur fortdauernde Aufmerksamkeit auf den Toten gelenkt werden soll, sei es daß man allen Nachgeborenen die Erinnerung an ihn und seine Lebensleistung abverlangen möchte, sei es daß die Erwartung gemeinsamen Weiterlebens in einem anderen Seinszustand geäußert wird. In besonderer Weise wird jene anthropologische Konstante in den Grabmälern sichtbar, in denen der Tod sprachlich und noch dazu mit poetischem Anspruch reflektiert wird. Die einfachsten Formen, um dem Bewußtsein über die Vergänglichkeit des Lebens in einem Grabmal Ausdruck zu verschaffen, sind Wendungen wie βλέπε, ταῦτα oder τοῦτο τὸ τέλος im Sinne von „Schau!“, „Das war’s“, „Das ist das Ende!“16 Das am häufigsten in Inschriften vorgebrachte, gleichsam lapidarste Argument, um sich über den Tod hinwegzutrösten, besteht darin, sich klar zu machen, daß „keiner unsterblich ist“ (οὐδεὶς ἀθάνατος).17 Die in diesen schlichten sprachlichen Äußerungen zutage tretenden beiden Elemente, Rückblick auf das Leben und Trost für die Gegenwart, bilden denn auch den prägenden gedanklichen Rahmen, der in gedichteten Sepulkralinschriften ganz individuell vielfältige Ausgestaltung erfährt. Während für die Re-

|| 16 Vgl. Robert (1937) 390; L. Robert OMS III 1420 Anm. 1 (1944); Hellenica II (1946) 104 Anm. 1; Hellenica XIII (1965) 272f.; Merkelbach/Stauber SGO 5 (2004) Index S. 339. 17 Vgl. Lattimore (1962) 250–256; Wankel (1983) 134–153; Pfohl (1983) 482f. und 501f. (christlich); Şahin (1991) 183–190, epigraphische Belege für die Formel οὐδεὶς ἀθάνατος, deren gehäuftes Vorkommen in der sonst inschriftlich armen Region Kommagene bemerkenswert ist, sowie Variationen des Motivs; Merkelbach/Stauber SGO 5 (2004) Index S. 338 „Das Ende ist für alle gleich“. – Zu den literarischen Abwandlungen Stobaios IV Kap. 51 ΠΕΡΙ ΘΑΝΑΤΟΥ ΚΑΙ

ΩΣ ΕΙΗ ΑΦΥΚΤΟΣ.

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flexion des zu Ende gegangenen Lebens die persönlichen Taten des Verstorbenen ausschlaggebend waren, standen für den Trost neben den Argumenten der Konsolationstopik vor allem die verschiedenen religiös-mythischen Vorstellungen eines Fortlebens der Seele zur Verfügung. Die sowohl in griechischen als auch in lateinischen Epitaphien wiederkehrenden inhaltlichen Gestaltungsmotive und die sich oft daraus ergebenden Schlußfolgerungen für Religion und Mentalität der Antike fanden in der Forschung immer wieder Beachtung. Schon Bruno Lier (1903/04) rückte, ausgehend von den lateinischen Grabepigrammen, die Gemeinplätze der Sepulkraldichtung insgesamt in den Blick, nicht ohne ihre Verbindungslinien zur antiken Literatur, besonders zu den konsolatorischen Schriften18 aufzudecken. Das gesamte Spektrum der für sepulkrale Steininschriften spezifischen Themen, Denkmuster und Motive hat Richmond Lattimore (1962) systematisch zu erfassen versucht, bisweilen mit Rückbezug auf poetische Literaturgattungen, deren Metaphorik innerhalb der Sepulkraldichtung eine eigene Dynamik entwickelte. In neueren Studien wurden die Grabepigramme als wichtige Indikatoren für die kulturell-religiösen Einstellungen der breiten Bevölkerungsschicht ausgewertet.19 Anne Le Bris (2001) verfolgte auf der Grundlage der in SGO 1 (1998) gesammelten Epigramme systematisch Konstanten und mentalitätsbedingte Entwicklungen der Jenseitskonzepte in kleinasiatischen Sepulkralinschriften. Das Verhältnis solcher Vorstellungen des Nachlebens zur christlichen Eschatologie betrachtete Imre Peres (2003) aus dem Blickwinkel eines modernen Theologen, um den Einfluß der hellenistischen Volksfrömmigkeit auf das Neue Testament zu begreifen. Matylda Obryk (2012) hat durch die Einzelinterpretation ausgewählter Grabepigramme gezeigt, daß im kollektiven Bewußtsein der Antike ein weites Spektrum an Vorstellungen über die menschliche Seele existierte und die Volksfrömmigkeit durch einen gänzlich undogmatischen Unsterblichkeitsglauben bestimmt war. Vor dem Hintergrund dieser Arbeiten nimmt die vorliegende Analyse gerade die Singularität der Epigramme in den Blick, indem die poetische Eigenheit herausgearbeitet werden soll, die aus ihrer mehrfachen Beziehung zur Alltagswelt

|| 18 Vgl. Kassel (1958); ebd. 44f. hinsichtlich der inschriftlichen Praxis zu den öffentlichen ψηφίσματα παραμυθητικά; 49–98 zur Consolatio ad Apollonium, die für die Topik der Grabinschriften heranzuziehen ist; Lattimore (1962) 215–217 denkt an eine wechselseitige Beeinflussung. 19 Hier wird nur eine Auswahl neuerer Monographien geboten, um die thematischen Grundlinien zu verdeutlichen; vgl. zuletzt Wypustek (2013) sehr speziell zu den auf vergöttlichte Verstorbene bezogenen Jenseitsdarstellungen unter dem Aspekt der „Schönheit“.

2 Eigenart der Epigramme auf Stein | 7

der beteiligten Personen resultiert. Die aufgrund ihres jeweiligen Bildungsweges verschieden geprägten Verfasser der privaten Gedichte versuchen den ganz unmittelbar aus dem einzelnen Trauerfall hervorgehenden Forderungen und Erwartungen ihrer Auftraggeber gerecht zu werden. Dabei ist es das oberste Ziel, einer mit Stärken und Schwächen behafteten Persönlichkeit im engeren gesellschaftlichen Umfeld letzte anerkennende Erinnerung zu verschaffen. Unter diesem Gesichtspunkt ist jede Form des stilisierenden Rückgriffs auf literarische Tradition und allgemeingültige Muster nur noch Mittel zum Zweck. Für das Bedürfnis, dem Leben angesichts des Todes mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln einen letztgültigen Glanz zuzusprechen, mag hier beispielhaft ein besonderes Steinmonument des 1. Jh. n. Chr. aus Tralleis (SGO 02/02/07 [Pöhlmann/West 23]) Pate stehen. Die Säule bietet als Haupttext ein mit Notenzeichen versehenes anakreontisches Lied, das in Anbetracht der Kürze des Lebens und des bevorstehenden Endes (V. 5 πρὸς ὀλί|γον ἐστὶ τὸ ζῆν |/ τὸ τέλος ὁ χρό|νος ἀπαιτεῖ) mit der Forderung anhebt (V. 3):

ὅσον ζῇς, φαίνου. „Solange du lebst, tritt in Erscheinung!“ Der Komponist Seikilos hat mit dieser musikalisch komponierten Lebensmaxime nicht nur schon zu Lebzeiten sein eigenes Grabmal geschmückt, sondern es zugleich als einen über seinen Tod hinauswirkenden Beweis der Verwirklichung dieses Ideals konzipiert. Denn die Steinsäule ist, wie er den Stein eingangs in Versen sagen läßt, ein Weihbild (εἰκών V. 1)20 des Komponisten, der das Monument als „fortdauerndes Zeichen seines unvergänglichen Ruhmes“ (V. 2 μνήμης ἀθανάτου | σῆμα πολυχρόνιον) verstanden wissen möchte. Das Grabmal mit

|| 20 Der Autor und Komponist Seikilos nennt sich am Ende in einer Signatur und stellt dort einen Zusammenhang zur Muse Euterpe her, indem er ihr wahrscheinlich die Säule weiht (Z. 12f. Σείκιλος Εὐτέρ|[πῃ]), woraus sich εἰκών gut im Sinne eines „Weihbildes“ verstehen läßt. Die Deutungen der Buchstabenfolge EΥΤΕΡ in der vorletzten Zeile als Abkürzung für einen Vatersnamen ΕΥΤΕΡ(ΠΟΥ) mit Nominativ Euterpes (in diesem Sinne Wilamowitz [1921] 131f., ebd. zum Metrum) oder für den Namen der Gattin (vgl. Crusius [1893] 191) sind nicht parallelisierbar und unwahrscheinlich. Die von Crusius (1893) 160 aufgrund einer Skizze und Abklatschen angefertigte Nachzeichnung der beiden letzten Zeilen des schon bei der Auffindung, später aber noch weiter am unteren Rand fragmentierten Steines lassen es gut möglich erscheinen (wenn die wirkliche Bruchkante nur um einige Millimeter höher war als die skizzierte), daß der Beginn der letzten Zeile in voller Höhe abgebrochen gewesen ist; so hätte dort ursprünglich noch die Weiterführung von EΥΤΕΡ gestanden und nicht nur am Zeilenende das erhaltene ZH (= „zu Lebzeiten“).

8 | Einleitung

seinem Lied wird somit zum sichtbaren und sogar für die Nachwelt nachvollziehbaren Zeichen eines den Musen gewidmeten Lebens, dessen Glanz sich noch nach dem Tod des Dichters im Gesang seines Liedes bewahrheitet und weiterstrahlt.

3 Literaturtheoretische Implikationen Wenn es als lohnend erachtet wird, den poetischen Eigenheiten der Steingedichte nachzugehen und im einzelnen darauf zu achten, auf welche Weise der jeweilige Steindichter entsprechend den lebensweltlichen Bedingungen einer alltäglichen Situation überzeitliche Bedeutung zuzuschreiben versucht, verbindet sich damit ein methodisches und ein literaturtheoretisches Bekenntnis. Hierbei wird nämlich den in der Regel mangelbehafteten Produkten größere Akzeptanz entgegengebracht, als es den konventionellen Mechanismen der klassischen Philologie entspricht, die, im Horizont sprachlich-logischer Ideale operierend, methodisch die Fehlerhaftigkeit von Texten nur im Hinblick auf den Überlieferungsprozeß reflektiert und deren Intensität von daher analog zum Gütegrad der behandelten Texte schwindet. Demgegenüber soll in dieser Arbeit der antiken Steindichtung in ihrer Eigenart intensiv mit philologischen Methoden nachgegangen werden. Die den Texten inhärenten metrischen21, sprachlichen und inhaltlichen Mängel können dabei als Indikatoren für die Entstehungssituation zur Geltung kommen.22 Vor dem Hintergrund einer tausendjährigen Entwicklungsgeschichte des Epigramms führt die Würdigung der privaten Steinepigrammatik als eigenständiges Phänomen automatisch auf die Frage nach ihrer literaturgeschichtlichen

|| 21 Vgl. zur Metrik der Inschriften Allen (1888), der zum ersten und bis heute einzigen Mal umfassend den Besonderheiten der Metrik in Versinschriften bis in hellenistische Zeit Beachtung schenkte. Der Ansatz von Gallavotti (1979), der in unauffälligen Prosa-Inschriften und in den mangelhaftesten Dichtungsversuchen noch gewollte Metren entdeckt (insgesamt 112), ist unbrauchbar (dazu P. A. Hansen, CR 34, 1984, 286–289). – Vgl. speziell zur oft fehlerhaften Metrik nicht nur der Inschriften, sondern auch der Orakel Todd (1939) 163–165; außerdem Hansen CEG I S. XI; Fantuzzi/Sens (2006); Tsagalis (2008) 285–299; Cairon (2009) 25–30; unten Anm. 255. 22 Davon sind freilich jene Fehler und Auslassungen der Steininschriften zu sondern, die auf dem überschaubaren ,epigraphischen Überlieferungsprozeß‘ beruhen, nämlich der Abschrift des Steinmetzen aus der meist auktorialen schriftlichen Vorlage, und die mit Rücksicht auf die epigraphischen Bedingungen gemäß der traditionellen Vorgehensweise der Philologie nach einer Emendation verlangen.

3 Literaturtheoretische Implikationen | 9

Einordnung im Verhältnis zur literarischen, hauptsächlich in der Anthologia Palatina überlieferten Epigrammdichtung. In den letzten Jahren wurden die inschriftlichen Gedichte bereits in gattungsgeschichtliche Untersuchungen zur Entstehung der literarischen Epigrammatik fruchtbar einbezogen. So hat etwa Doris Meyer (2005) in ihrer vielbeachteten Dissertation die Motivtechnik der Steinepigramme zum Verständnis der elegischen und iambischen Dichtung des Kallimachos herangezogen, um zu zeigen, daß der alexandrinische poeta doctus die bereits in ältesten Weihinschriften und Steinepigrammen anzutreffende Fiktion von Sprecherrollen (des Monumentes, des Weihgegenstandes, des Verstorbenen, des Betrachters etc.) adaptiert und neue dialogische Strukturen als literarischen Kunstgenuß für den mit epigrammatischen Formen vertrauten lector doctus in seinen Gedichten inszeniert hat.23 Diese Herangehensweise provozierte in der Folge die umgekehrte Frage nach dem Einfluß der literarischen Epigrammatik auf die Komposition der Steinepigramme. Im Anschluß an die Ergebnisse von Meyer und in kritischer Auseinandersetzung mit einem Aufsatz von Anja Bettenworth (2007), die die methodischen Schwierigkeiten bei der Offenlegung derartiger intertextueller Beziehungen betonte, legte Timo Christian (2015) in seiner Dissertation den Versuch vor, ausgehend von einer minutiösen Analyse der animistischen Stilisierung des Schriftträgers und deren poetischer Reflexion innerhalb der literarischen Epigrammkunst, in den Steinepigrammen einen kreativen Umgang mit der hellenistischen Poetologie systematisch nachzuweisen. Schon zuvor wollte Valentina Garulli (2012) die Unterscheidung zwischen literarischer und epigraphischer Epigrammatik unter dem programmatischen Titel ‚Byblos lainee‘24 („Buch aus Stein“) relativieren, indem sie insbesondere solche Gedichte edierte und kommentierte (davon 50 aus SGO), bei denen sich entweder aufgrund literarisch-epigraphischer Parallelüberlieferung oder enger intertextueller Beziehungen Unterschiede zwischen literarischem Buchepigramm und Steinepigrammen bisweilen aufzulösen scheinen. Die daraus abgeleitete, verallgemeinernde Schlußfolgerung, die epigraphischen Gedichte seien mit Rücksicht auf generell doppelte Verbreitungs- und Wirkungsmechanismen im Buch oder auf Stein sowie hinsichtlich ihrer die Epigrammatik überschreitenden literarischen Bezüge im wesentlichen den literarischen Gedichten ähnlich, wird der Sachlage allerdings nicht ganz gerecht.

|| 23 Generell hat auch Bruss (2005) den kreativen Umgang der hellenistischen Dichter mit den Grabgedichten auf Stein herausgestellt. 24 Zitat aus einem thessalischen Epigramm des 2./3. Jh. n. Chr. (IG IX 2 Nr. 1139; GVI 230, danach die Datierung).

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Die aufgezeigten neueren Forschungsbeiträge widmen sich den Steingedichten allesamt unter den gattungstheoretischen Vorzeichen der literarischen Epigrammatik. Somit vermag ihr hermeneutisches Instrumentarium nur bestimmte Ausschnitte und Facetten aus der weiten Bandbreite der Steinepigrammatik zur Geltung zu bringen. Eine Konzentration auf die Frage nach dem Einfluß speziell des Buchepigramms auf die Steindichtung ist von vornherein zu eng gefaßt. Zum Vergleich mit dem literarischen Buchepigramm können dann nur diejenigen epigraphischen Produkte herangezogen werden, die den poetisch erleseneren Anteil innerhalb der Gesamtmenge von Steinepigrammen repräsentieren. Der essentielle Unterschied zwischen den privaten Steingedichten aus dem kaiserzeitlichen Kleinasien gegenüber den literarisch größtenteils in der Anthologia Graeca kanonisierten Gedichten kann dabei unmerklich in den Hintergrund geraten. Zwar bezieht das literarische Kunstepigramm ursprünglich seine gattungsbildenden Kernelemente aus den pragmatisch-funktionalen Gestaltungsmustern der Steininschriften (dazu Kap. I 1), doch ist seine Komposition gekennzeichnet durch den feingeistigen innerliterarischen Diskurs. Ganz anders stehen in den Steinepigrammen poetologische Auseinandersetzung, literarische Tradition und poetischer Anspruch nurmehr im Dienst der pragmatischen alltagsweltlichen Situation. Dabei wirken zwar ebenso das literarische Erbe insgesamt sowie zeitlose, ‚klassische‘ Vorstellungen und Denkmuster der antiken Geisteswelt auf die Gedichte ein, ihre Αnverwandlung (χρῆσις) ist aber durch den kulturellen Kontext der in ihrer Umwelt verhafteten und auf den anwesenden Zeitgenossen ausgerichteten Epigramme bedingt. Maßgebend sind dafür das Bildungsniveau und der geistige Horizont des Epigrammdichters; dessen Wirken ist eng verknüpft mit der kulturellen Bildung seines Auftraggebers und des Publikums, für welche das Epigramm verständlich oder sogar anrührend sein muß. Insofern nun die Steingedichte jederzeit Rückschlüsse auf den Grad klassischer Bildung innerhalb ihres Wirkungskreises erlauben, sind sie denn auch wichtige (indirekte) Quellen für die antike Bildungsgeschichte.25 Vor diesem Hintergrund verdienen die Steingedichte eine ganz eigenständige Behandlung, die den Blick auf Mängel und Unschärfen nicht scheut. In dieser Hinsicht ist der innovative Ansatz von Peter Thonemann (2014) zu vermerken, der aufgrund sprachlicher Übereinstimmungen, bisweilen sogar von

|| 25 Dazu Kap. II 2, S. 37f. weitere methodische Überlegungen. Um die Interpretation spätantiker Steinepigrammatik als Spiegel des literarischen Bildungsstandes hat sich Agosti in Einzeluntersuchungen verdient gemacht; vgl. Agosti (2008a) (2008c) (2010), zuletzt programmatisch (2015).

3 Literaturtheoretische Implikationen | 11

Fehlern, in Grabgedichten, die aus dem ländlichen Gebiet Axylon in Zentralanatolien (zwischen Ostphrygien, Südgalatien, Nordlykaonien) stammen, vier unterschiedliche Dichter bzw. eine Vers-Koine dieser Region für das 4. Jh. n. Chr. erschlossen hat.26 Insofern die konkreten Lebensbedingungen – wie die qualitativen Voraussetzungen des jeweiligen (beauftragten) Dichters, die individuellen Leistungen der einzelnen Verstorbenen, die persönlichen Absichten und Ansprüche der Angehörigen, die materiell beschränkten Gestaltungs- und Wirkmöglichkeiten einer Inschrift und dergleichen – die poetische Kunst dominieren, kommt den Steinepigrammen ein „subliterarischer“27 Charakter zu. Diese Prägung der Gedichte beginnt in Athen bereits im 4. Jh. v. Chr. durch die Entwicklung der Grabepigrammatik von der staatlichen Gefallenenehrung hin zum privaten familiären Gedenken.28 Sicherlich konnten bei günstigen Ausgangsbedingungen Gedichte entstehen, deren poetische Qualität einer Übertragung in einen Papyrus und damit weiterer Verbreitung würdig gewesen wäre. Für die Masse der privaten Grabepigramme ergibt sich aber eine weite Skala, an deren unterem Ende Produkte stehen, die nur noch entfernt an Poesie anklingen oder notdürftig mit Standardversen operieren.

4 Aufbau der Arbeit Aus den hier entwickelten Ansätzen ergibt sich für den ersten Hauptteil der vorliegenden Studie die Notwendigkeit einer systematischen Grundlegung, die die Entstehungsbedingungen der in der antiken Alltagswelt verhafteten sepulkralen Steinepigramme in literarhistorischer (I), bildungshistorischer (II) und kompositorisch-technischer Hinsicht (III–V) zu erfassen versucht.

|| 26 Die Untersuchung bietet fünf gegenüber SGO neue Versepigramme, die Thonemann bis auf einen Fall zuvor schon in MAMA XI ediert hatte: *14/02/15 (Thonemann [2014] Nr. 8 bereits in MAMA I 362). *16 (Nr. 7). *17 (Nr. 5). *14/08/02 (Nr. 11). *03 (Nr. 10). – Vgl. Anm. 196. 27 Höschele (2010) 89 u. ö. spricht mit Blick auf den Überlieferungsträger, ohne damit ein Qualitätsurteil verbinden zu wollen, von „subliterar“; Pfohl (1970) 91: „Von eindeutig literarischen Schöpfungen lässt sich die Eigenart der monumentalen volkhaften Grabepigramme abheben.“ – Zur literarischen Stellung der Steinepigramme unten I 2, S. 27ff. 28 Vgl. die wichtige Studie zu den athenischen Grabepigrammen von Tsagalis (2008), der S. 317 in dieser Zeit von „progressive subliterariness of the epigrammatic tradition“ spricht.

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Zunächst werden im Anschluß an die Vertiefung der Frage nach dem Zusammenhang der in Stein gemeißelten Gedichte mit der Buchepigrammatik unter literaturhistorischem Aspekt (Kapitel I 1) sowie in Hinsicht auf ihre Literarizität (I 2) die relevanten alltagsweltlichen Bedingungen, denen die Dichter, Auftraggeber und Rezipienten der Epigramme unterworfen waren, ausgelotet (II). Zur Darstellung kommt hier der Bildungshintergrund: Nach einem Einblick in die Grundzüge der Schule im kaiserzeitlichen Kleinasien (II 1) sollen speziell Steinepigramme auf Lehrer als lebensnahe Zeugnisse des Bildungswesens ausgewertet werden (II 2). Diese sind nicht nur die wichtigsten historischen Quellen zum Personal der kleinasiatischen Schule, sondern sie vermitteln in ihrer eigenen poetischen Gestaltung auch eine Ahnung von dem literarischen Horizont, innerhalb dessen Grabgedichte auf Stein überhaupt interpretiert werden müssen. Die darin begegnenden Vertreter des Schulbetriebes (II 2 a) repräsentieren nämlich zugleich jene Bildungsschicht, aus welcher die meisten Auftragsdichter gestammt haben dürften. In Erweiterung dazu werden denn auch Epigramme in den Blick gerückt, in denen sich Bildungskarrieren einzelner Personen innerhalb des antiken ‚Bildungssystems‘ in besonderer Weise abzeichnen (II 2 b). Den Abschluß des Kapitels über die alltagsweltlichen Entstehungsbedingungen der Steinepigrammatik bildet die Fragestellung, in welchem Maße Homer nicht nur als Schulautor, sondern auch in der Alltagswelt die kulturelle Identität gerade Kleinasiens geprägt hat (II 3). Im Anschluß daran kann in drei Grundzügen erörtert werden, welche Techniken und Strategien die Steindichter zur Anwendung brachten, um die situationsbezogenen Anforderungen poetisch umzusetzen (III–V). Während die Individualität eines Grabgedichtes auf inhaltlicher Ebene ganz von der möglichst genauen Kenntnis der Alltagswelt der Dahingeschiedenen und ihrer Angehörigen abhing, so war zur möglichst unverwechselbaren poetischen Aufbereitung der Fakten auf stilistischer Ebene die sprachlich-poetische Ausdrucksfähigkeit der Dichter entscheidend. Entsprechend seiner Bedeutung in Schule und Alltagskultur war der Epiker Homer formal wie motivgeschichtlich das wichtigste Leitbild zur Produktion von Steinepigrammen (III). Seine Heldengesänge hielten in so grundlegender Weise die Dichtersprache überhaupt und prägnante Formulierungsmuster bereit (III 1/2), daß der Dichter von den antiken Kommentatoren zum Erfinder des Epigramms gemacht werden konnte (III 3) und so denn auch die angebliche Grabinschrift auf ihn selbst formbildend für die Sepulkralepigrammatik wurde (III 4). Die allseits bekannten mythischen Figuren und Situationen der homerischen

4 Aufbau der Arbeit | 13

Epen lieferten die Paradigmen, welche die Dichter der Steinepigramme am besten handhaben konnten und mit denen das Publikum am engsten vertraut war (III 5). Demgegenüber strebten wenige anspruchsvollere Steindichter eine poetische Ausführung an, bei der sie über Homer hinausgehend auf die klassische Tradition überhaupt zurückzugreifen bemüht waren (IV). Diesbezüglich bedarf es der generellen Überlegung, inwiefern für die Dichter ein direkter Rückgriff auf das literarische Erbe nahelag (IV 1), um danach an Einzelbeispielen die Einbeziehung kulturell hochrangiger Vergleichspersonen in die kleinasiatischen Grabepigramme vorzustellen (IV 2) und die Anwendung der poetischen Sprache angesehener Autoren von Hesiod bis zur hellenistischen Poesie zu überprüfen (IV 3 a–e). Für das Verständnis der oben angelegten und im weiteren zu vertiefenden Fragestellung nach der Wirkung der Buch- auf die Steinepigrammatik sowie nach der literarhistorischen Einordnung der letzteren ist besondere Aufmerksamkeit darauf zu richten, in welchem Maße sich die Steindichter Kleinasiens an literarischen Vorbildern gerade der Epigrammkunst orientierten (IV 3 f). Neben dem häufigen Bezug auf Homer und dem exquisiten Rekurs auf die nachhomerische literarische Tradition wandten die Verfasser der Epigramme weitere Techniken an. Es kursierten nämlich verschiedenste außerliterarische Modelle und Muster, um den Produkten einen poetischen Klang zu verpassen. Die These, es habe zur Produktion von Steingedichten in der Antike allgemeine Handbücher gegeben, bedarf in diesem Zusammenhang differenzierter Kritik (V 1). Hier läßt sich exemplifizieren, daß sehr verbreitete Formeln, deren Anwendung kaum noch etwas mit Poesie zu tun hat, entweder aus einer mündlichen bzw. innerepigraphischen Tradition erwuchsen (V 2) oder auf regionalen Konventionen beruhten (V 3). Im Bezug auf die im ersten Hauptteil systematisch entwickelten Grundlagen werden im zweiten Hauptteil Epigramme ediert und interpretiert. Dazu wurden Grabgedichte ausgewählt, die noch nicht in der Sammlung der Steinepigramme aus dem griechischen Osten (SGO) aufbereitet waren und die zugleich einen Querschnitt durch vier thematische Hauptklassen sepulkraler Epigrammatik mit ihren jeweiligen Gestaltungsmustern und Fragenkomplexen repräsentieren: Epigramme auf Gladiatoren (I), auf junge bzw. im Kindbett verstorbene Mütter (II), auf zu früh Verstorbene bzw. Kinder (III) und auf Männer des öffentlichen Lebens (IV). Durch die eingehende Interpretation soll deutlich werden, wie die Alltagswelt der Dahingeschiedenen in der je singulären literarischen Gestaltung ihrer Grabmäler in den verschiedensten Brechungen zu Tage tritt.

I

Literarhistorische Grundlagen

1

Die Entwicklung des Buchepigramms aus dem Steinepigramm

In den letzten Jahren erlebten Publikationen zum antiken Epigramm eine Hochblüte.29 Sie richteten sich auf alle Entwicklungsphasen und Erscheinungsweisen, angefangen von den religiös-sepulkralen Ausprägungen seit der Archaik, über die ersten Sammlungen in klassischer Zeit bis hin zur literarischen Ausdifferenzierung der Gattung im Hellenismus.30 Generell ist zu beachten, daß von Anfang an neben den epigraphischen Anwendungsformen von Gedichten auch die in frühester Zeit aus der Mündlichkeitskultur erwachsene Dichtungspraxis den Prozeß beeinflußte, der zur späteren Herausbildung einer literarisch faßbaren „Epigrammatik“ führte. Insofern ist die Dichtung auf Stein als eigenständiges literales Phänomen in ihrem oralen kulturellen Umfeld einerseits sowie in ihrem Verhältnis zur erst viel später aus ihr hervorgehenden Buchdichtung andererseits zu begreifen. Theoretisch gesprochen stehen die Inschriften als verschriftlichte Sprache in ihrer Literalität im Wirkungsfeld zwischen Oralität und Literarizität. Dieser Dreiklang soll im folgenden in seinen Wechselbeziehungen kurz dargestellt werden, um die Steindichtung als prägendes Substrat der literarischen Epigrammatik, das im Grunde seine Eigenständigkeit durch alle Zeiten gewahrt hat, ins rechte Licht zu rücken. a Ursprünge und Grundzüge des inschriftlichen Epigramms Der Gedanke an eine Gattung „Epigramm“ hat für die früheste Phase der Gedichte auf Stein zunächst keine Bedeutung. Ein ἐπίγραμμα ist von seinem Ursprung her im wörtlichen Sinne eine auf einem Gegenstand angebrachte „Aufschrift“.31 Diese

|| 29 Einen selektiven Überblick zur Epigrammatik bis in die Moderne gibt Hess (1989). 30 Vgl. etwa Sistakou/Rengakos (2016); die im September 2013 am University College London veranstaltete Konferrenz zum „Greek Literary Epigram“, Carey/Petrovic/Kanellou (forthcoming); Baumbach/Petrovic/Petrovic (2010): Sammelband zum archaischen und klassischen Epigramm; Bing/Bruss (2007): Sammelband zum hellenistischen Epigramm; Meyer (2014) 238-243 nennt Literatur zu modernen literaturtheoretischen Ansätzen. – Besonders einflußreich auf die neuere Forschung war Gutzwiller (1998) zum hellenistischen Epigramm; ebd. 1-14 Überblick zu vorausgehenden Forschungsansätzen. 31 Vgl. Suda ε 2270 ἐπίγραμμα: πάντα τὰ ἐπιγραφόμενά τισι, κἂν μὴ ἐν μέτροις εἰρημένα, ἐπιγράμματα λέγεται. Demgegenüber erscheint gleichwohl seit Herodot das Wort ἐπίγραμμα bei Einführung epigraphischer Zeugnisse, die metrisch sind, was allerdings auch damit zusammenhängt, daß Inschriften bestenfalls dann vollständig in literarischen Texten zitiert werden, https://doi.org/9783110597394-004

1 Die Entwicklung des Buchepigramms aus dem Steinepigramm | 17

Bezeichnung wird seit Herodot auf metrisch gebundene, meist in elegischen Distichen verfaßte Inschriften bezogen. ‚Epigramme‘ fügen gleichsam als SchriftMedium ihrem im Vordergrund stehenden materiellen Schriftträger, dem Erinnerungsmal für Tote (σῆμα/μνῆμα) oder dem Weihgegenstand (ἄγαλμα),32 eine andauernde Deutung hinzu, die nur dem schriftkundigen, laut lesenden,33 gegenwärtigen Betrachter zugänglich ist.34 In prosaischen wie gedichteten Weihinschriften gab seit frühester Zeit oft der dedizierte Gegenstand in der ersten Person eine Erklärung über sich selbst, den Dedikanten und manchmal auch dessen Beweggründe ab.35 Von daher konnte dann auch in Grabepigrammen der Stein in Ichform entweder als eigenständiger objektiver Vermittler für die Dahingeschiedenen oder als Sprachorgan der Verstorbenen selbst den am Monument vorbeiziehenden Passanten ansprechen, ihn über deren nähere Lebens- und Todesumstände in Kenntnis setzen oder ihn gar in einen fingierten Dialog verwickeln.36

|| wenn es sich um Gedichte handelt. – Vgl. Wilamowitz (1913) 204f. Anm. 1; Puelma (1997) zur gesamten Wortgeschichte bis hin zum poetischen Gattungsbegriff. 32 Schon Horaz gibt in seiner Theorie der elegischen Form die wohl als Inschrift verstandene Totenklage sowie die Weihung als deren Ursprünge an (ars poetica 75–78): versibus impariter iunctis querimonia primum, / post etiam inclusa est voti sententia compos; / quis tamen exiguos elegos emiserit auctor, / grammatici certant et adhuc sub iudice lis est. – Die aus moderner Sicht gebotene Differenzierung zwischen „Inschriften“ und ursprünglicher „Vortragsdichtung“ in elegischen Distichen scheint hier keine Rolle zu spielen oder bewußt ausgeklammert zu sein; zum Verständnis der vielbehandelten Stelle schon Reitzenstein (1907) 74–77, der darin die Herleitung der elegischen Vortragsdichtung aus dem inschriftlichen Distichon erkennen wollte. 33 Vgl. Busch (2002); Livingstone/Nisbet (2010) 26–30; Tsagalis (2008) 44–48 zu gnomischen Aussagen in Grabepigrammen als Realisierung mündlicher Weisheitssprüche; vgl. auch Christian (2015) 49–51 zu literarischen Belegen, welche nur die Schrift an sich als „stumm“ thematisieren. 34 Diesen schlichten Befund versucht neuerdings Day (2010) in der Weise zu vertiefen, daß er die frühesten Weihepigramme mit Hilfe pragmatischer Linguistik sowie kulturhistorischer und rezeptionsästhetischer Theorien als durch den betrachtenden und lesenden Passanten aktualisierte und fortwirkende Kulttexte deutet. – Bing (2009) 116–146, besonders 120 (nach Bing [2002]), relativiert überhaupt die Bedeutung der Lektüre von Inschriften. – Schmitz (2010) sieht eine enge Verwandtschaft zwischen dem Inschriften-Leser, der die Rolle des Adressaten und des Sprechers bisweilen fiktional übernimmt, und dem Hörer in der frühen Lyrik, um deren generellen oral-pragmatischen Charakter kritisch zu hinterfragen. 35 Lazzarini (1976) 251–254, 258–260. 36 Zur langen Tradition der Dialog-Gedichte zuerst Rasche (1910), der die Entstehung im 4. Jh. v. Chr. ansetzte. Sie ist sicher ins 5. Jh. v. Chr. vorzudatieren, gemäß CEG 429 (SGO 01/12/05; Halikarnass, ca. 475 v. Chr.) und wohl CEG 120 (Demetrias/Thessalien, ca. 450 v. Chr.; das Grab hütender Sphinx), so daß auch APl XVI 23 (FGE 808f.) in die Spätzeit des Simonides gehören kann; vgl. GVI 1881–1887, 2002–2004; Peek (1974) 22f.; Kassel (1983) 10–12 [151f.], der ebd. 1–10

18 | I Literarhistorische Grundlagen

Neben den beiden prominenten Hauptformen existierten auf Stein, wie im pseudoplatonischen Hipparchos (228 D – 229 B; vgl. Friedländer 149) deutlich wird, spätestens unter dem Tyrannen Hipparchos (528–514 v. Chr.) metrische Inschriften, die auf Hermen angebracht waren und dem Zweck dienten, die Passanten ähnlich wie die Sprüche der Sieben Weisen in Delphi (dazu auch Charm. 164 D – 165 A) mit moralischen Anweisungen zu belehren.37 Besonders in frühen auf Trinkgeräten eingeritzten Gedichten, welche die geistreiche, durch situativen Spott und Witz geprägte Gesprächskultur der Bankette abbilden,38 tritt der Prozeß zutage, dichterisch geäußerte Gedanken aus dem Bereich der Mündlichkeit durch literale ‚Dokumentation‘ zu verstetigen.39 Vor diesem Hintergrund wirkten freilich schon seit archaischer Zeit Epik und Lyrik auf die inschriftlichen Gedichte ein.40 In klassischer Zeit zeichnet sich dann in

|| [140–151] weitere Traditionslinien aufzeigt und frühe literarische Beispiele behandelt; Fantuzzi/Hunter (2004) 306–328; Tueller (2008) 12–56 bietet chronologische Statistiken zu den Sprecher- und Adressatenstilisierungen in vorhellenistischen Epigrammen; Tsagalis (2008) 252-261, 321 Table 1; Nobili (2016) 183–185. – Zur kunstvollen Ausgestaltung der traditionellen Dialogform in Grabinschriften durch Leonidas von Tarent (AP VII 163 [HE 2395–402]) und deren Nachwirken siehe unten S. 118–120. – Analysen der epigraphischen Sprecherrollen und Dialogmuster, auch in ihrem Verhältnis zu deren Modifizierung in der Poetologie hellenistischer Buchepigrammatik, bieten z. B. Meyer (2004) passim; Tueller (2008) 65-116. 141–154; Höschele (2010) 100–146; Christian (2015), vor allem 28–57, 162–228. 37 Vgl. zu einer derartigen Inschrift CEG 304 (Attika unter Hipparchos), wo allerdings der Weisheitsspruch im zweiten Hemiepes des Pentameters nicht erhalten ist. Spätere aus der ersten Hälfte des 5. Jh. v. Chr. stammende Beispiele von Hermen-Epigrammen, bei denen es sich nicht um belehrende Inschriften, sondern um Weihepigramme handelt, sind CEG 234, 247, 307, 312, 313, 316 (?). 38 Ausgerechnet zwei der ältesten Zeugnisse griechischer Inschriften (und damit der Schrift überhaupt) sind solche Glücksfälle, die einen Eindruck von der in gesellschaftlichen Kreisen vorgetragenen Dichtung vermitteln: Zur Dipylonvase (ca. 740–725 v. Chr.) vgl. CEG 432 mit umfangreicher Literatur. – Zum Nestorbecher (CEG 454, viell. 735–720 v. Chr.) etwa in letzter Zeit Gerhard (2011); aus der unendlichen Debatte um die Ergänzung von Zeile/Vers 1 soll hier das epigraphisch, metrisch (akephaler iambischer Trimeter) und gedanklich passende μ̣[έ]ν̣ von Guarducci (1967) 226 hervorgehoben werden, durch das in Anspielung auf die sonst auf archaischen Gefäßen nachgewiesene, hier aber bewußt ins Gegenteil gewendete εἰμί-Formel eine Pointe entsteht: „Nestors Becher war [zwar] von gutem Trank (sc. ‚wie alle aus der Ilias wissen‘; vgl. Λ 632–637). Wer aber aus diesem hier (…)“. 39 Vgl. z. B. Petrovic (2016) zur Dokumentation von ursprünglich bei offiziellen Gedenkfeiern für Kriegshelden im agonalen Zusammenhang vorgetragenen Gedichten bis hin zu versifizierten Namenskatalogen im 4. Jh. n. Chr. 40 Vgl. etwa Trümpy (2010) 175–179 zur Sprache der Chorlyrik; Tsagalis (2008) 261–278 zu den Einflüssen oral-literarischer Dichtung in den attischen Grabgedichten des 4. Jh. v. Chr.; Day (2016) sehr instruktiv zum Einfluß der Elegie (dazu auch unten S. 23).

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den Grabepigrammen Attikas eine Entwicklung ab, die modellhaft die weitere Tradition prägt. Das relativ nüchterne archaische Epigramm wird nun von neuen Einflüssen vor allem aus Sophistik, Philosophie und Drama durchdrungen und variiert.41 Zugleich kommen mit den bewußten künstlerischen Bestrebungen die ersten theoretischen Betrachtungen über das Epigramm auf. So fordert Platon, dem – wie ein Zitat eines Epigramms auf Midas zeigt (Phdr. 264 D; vgl. Anm. 163 und S. 56) – schon Grabgedichte in literarischer Form vorhanden gewesen sein müssen,42 in den Gesetzen (XII 958 E; siehe unten Anm. 518) als erster die Beschränkung auf vier heroische Verse. Damit legt er den Grund für die Debatten über die Länge eines Epigramms sowie für die Einbeziehung weiterer rhetorischer Kriterien (neben der Kürze vor allem Angemessenheit und Klarheit) in den Epigrammtheorien hellenistischer Zeit.43 b Literarisierung inschriftlicher Epigramme in Sammlungen Der entscheidende Schritt hin zur Herausbildung einer als Gattung zu bezeichnenden Erscheinungsweise des Epigramms erfolgte erst im Zusammenhang mit dem Wechsel des Mediums vom Stein, Weih- oder Gebrauchsgegenstand hin zur Buchrolle. Dieser Übergang konnte geschehen, als man die Inschriften zum ersten Mal als historisch-geographisch bedeutsam bzw. literarästhetisch mustergültig erkannte.44 So waren es anfänglich wahrscheinlich die öffentlichen Grabepigramme auf Gefallene, die man vom Stein abschrieb und – wie sich bei Herodot, Thukydides sowie den attischen Rednern erkennen läßt – in ein neues

|| 41 Vgl. Geffcken (1917) 94–102; Beckby (21965) 11–19 zeichnet die Entwicklung des Steinepigramms hin zum Kunstepigramm des Hellenismus nach den Stufen: Archaisches ionisches Epigramm (wobei Ionien nach den epigraphischen Belegen keine Sonderstellung einnimmt!) – Simonideisches Epigramm – Attisches Epigramm – Klassizistisches Epigramm – Neues symposiales Epigramm / Buchepigramm seit Philitas von Kos; Pfohl (1970) 101–106 Excurs I, Abriss über die innerepigrapische Entwicklung aufgrund der Anordnung in GVI. 42 Vgl. Livingstone/Nisbet (2010) 41–45. – Das Interesse Platons an der Sammlung von Gedichten belegt eine bei Proklos (in Plat. Tim. 28 C, I p. 90, 23 Diehl) überlieferte Notiz des Herakleides Pontikos (fr. 6 Wehrli), wonach er selbst von seinem Lehrer nach Ionien geschickt worden sei, um Werke des Antimachos von Kolophon zusammenzustellen (εἰς Κολοφῶνα ἐλθόντα τὰ ποιήματα συλλέξαι). – Zu den ‚platonischen‘ Epigrammen Anm. 53. 43 Vgl. Lausberg (1982) 29–31. 76f. 118–122. 497–511. Zu Ansätzen weiterer Epigrammtheorien ebd. 31–37; Belegstellen für die spätere Zeit unten Anm. 75. 44 Vgl. Wilamowitz (1913) 201–203 zu verschiedenen Aspekten des Abschreibvorgangs; Gutzwiller (1998) 47–114, wo auf den Seiten 227–322 die Entstehung von Anthologien gesondert betrachtet wird; Höschele (2010) 89–93 zur Genese des Buchepigramms und insgesamt zu den poetologischen Faktoren bei Epigrammsammlungen von ihren Ursprüngen bis zur Kaiserzeit.

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argumentatives Umfeld stellte oder gar zu eigenständigen Sammlungen arrangierte.45 Sicherlich begünstigte der Verdacht einer berühmten Autorschaft, auf die man aufgrund der Kenntnis äußerer Entstehungsbedingungen oder der Abfassungszeit schließen zu können meinte, die Abschrift der anonymen Epigramme.46 Läßt man die oben erwähnten Weisheitssprüche, die Hipparchos unter seinem Namen auf Hermen ausstellte (μνῆμα τόδ᾿ Ἱππάρχου), beiseite, so finden sich Nennungen von Autoren auf den erhaltenen Steinen überhaupt erst seit dem 4. Jh. v. Chr., jedoch, außer in wenigen klar erkennbaren Sonderfällen ab der Kaiserzeit (vgl. S. 30f.), nie unter den Grabgedichten. Früheste in solchen Signaturen auftretende, aber sonst unbekannte Namen sind ein Seher Symmachos, Sohn des Eumedes, von Pellana in Lakonien, der zu Beginn des 4. Jh. v. Chr. eine große Ehreninschrift auf den lykischen Dynasten Arbinas als sein persönliches Geschenk an den Herrscher mit einem ganzen Distichon präsentiert (CEG 888 V. 18f.; SGO 17/10/03),47 sowie ein Ion aus Samos (CEG 819 V. 5. 13),48 der ein in einer Schrift der 2. Hälfte des 4. Jh. v. Chr. eingemeißeltes Gedicht auf einer zuvor

|| 45 Zur Verwendung von Epigrammen bei den attischen Rednern zuletzt Petrovic (2013) 198-206 in der Tradition Reitzensteins (1893) 116. 112f.; was von den fünf behandelten Textstellen jene zwei Epigramme angeht, die parallel nicht noch einmal literarisch (als ‚Simonideisch‘; siehe folgende Anm.) nachweisbar sind (Aischin. or. 3, 190 = FGE 1536–9 = CEG 431; Demosth. or. 18, 289 = FGE 1576–85), läßt sich über die Benutzung einer vorangehenden Sammlung nur spekulieren; vgl. auch Livingstone/Nisbet (2010) 30–41. – Daß einzelne Epigramm-Dichter selbst den von ihnen geschaffenen Steinepigrammen, wie Redner ihren gehaltenen Reden, ‚literarische‘ Verbreitungswege eröffnen wollten, ist nicht ausgeschlossen, überlieferungshistorisch aber erst bei den alexandrinischen Dichtern wahrscheinlich. 46 Zu alten authentischen Inschriften, die man unter dem Namen des Anakreon zusammenstellte, schon Reitzenstein (1893) 107; Wilamowitz (1913) 107 mit Anm. 1: „Endlich muß wie bei Simonides die Existenz von echten Epigrammen (die keine Aufschriften zu sein brauchten) den Anlaß zu der Zuteilung anonymer Gedichte auch bei Anakreon gegeben haben.“ Skeptisch sind Gow/Page HE I S. XII Anm. 2, die die Epigramme unter seinem Namen in FGE S. 133–146 bieten; vgl. ebd. S. 123–124; Gutzwiller (2014). Auch von Sappho existierte eine Epigrammsammlung; vgl. Suda σ 107 (fr. 235 V.) ἐπιγράμματα καὶ ἐλεγεῖα; P.Oxy. 1800 fr. 1 col. II 33f. (fr. 252) ἐλεγείω̣[ν] oder ἐλεγεια̣[κόν] laut ed. pr. Spätere ihr zugeschriebene Epigramme bei Page FGE S. 181–186; vgl. ebd. 128. 47 In einer weiteren Weihinschrift an Artemis für Arbinas ist vom Namen des Dichters neben seiner Funktionsbezeichnung παιδοτρίβας nur noch EΠ[ erhalten (CEG 889 V. 7; SGO 17/10/02). Vgl. zu den Inschriften aus Xanthos Petrovic (2009) 198–200. 48 Vgl. Page FGE S. 157 zur Abgrenzung von den fälschlich dem berühmteren Ion von Chios zugeschriebenen Epigrammen. – Petrovic (2009) 200f. sieht in einem Gedankenexperiment Ion als wandernden Auftragsdichter an; ebd. 202 nach CEG II S. 283 weitere Signaturen für thessalische Steinepigramme aus dem 3. Jh. v. Chr. aus Phalanna (Aphthonetos; Moretti, Iscr. storiche Ellenistiche II [1975] S. 74) und aus Larisa (Herakleides, Sohn des Trallianos; IG IX 2, 637).

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von Lysander gestifteten Statuengruppe in Delphi mit zweimaliger Nennung seines Namens innerhalb der Verse signiert hat.49 Trotz der weitgehenden Anonymität von Versinschriften auf Stein kannte die Antike höchstwahrscheinlich schon früh eine bis in hellenistische Zeit weitergeführte Sammlung von Epigrammen unter dem Namen ‚Simonides‘, die wohl von wenigen authentischen Steininschriften des auch durch andere Genres berühmten Lyrikers aus Keos ihren Ausgang nahm.50 Namentlich nachweisbar sind Inschriften-Sammler erst für die hellenistische Zeit, und sie waren ausschließlich von lokalhistorischen Interessen geleitet: Als erster ist am Übergang vom 4. zum 3. Jh. v. Chr. der Atthidograph Philochoros aus Athen mit seinen Ἐπιγράμματα Ἀττικά (FGrHist 328 T 1 Z. 11) bekannt. Zu Beginn des 2. Jh. v. Chr. schrieb der Perieget und wohl aufgrund seiner Vorliebe für die Auswertung von Inschriften στηλοκόπας (FHG III 137f. fr. 78) genannte Polemon von Ilion Περὶ τῶν κατὰ πόλεις ἐπιγραμμάτων (FHG III 138f. fr. 79f.). Und im 2. Jh. v. Chr. sammelte der wahrscheinlich mit dem Aristarchschüler und Grammatiker des 2. Jh. v. Chr. identische Aristodemos aus Theben Θηβαϊκὰ ἐπιγράμματα.51

|| 49 Eine weitere in Betracht zu ziehende Inschrift ist CEG 700 (Knidos, Anfang 4. Jh. v. Chr. [?]) V. 3, wo vielleicht ein Dichter Ἴαμβ[ος] genannt ist; vgl. auch Garulli (2012) 24f. mit Anm. 57. – In einem noch unveröffentlichten, in hinkenden trochäischen Tetrametern (vgl. nur noch SGO 05/01/48 [Smyrna, 3. Jh. v. Chr.]) verfaßten Gedicht aus Mylasa, das Chr. Marek zur Edition vorbereitet, nennt sich der Dichter am Ende (Z. 122f. Hyssaldomos, Sohn des Eirenaios; derselbe Name in einem auf Anfang des 2. Jh. v. Chr. zu datierenden Friedensvertrag zwischen Milet und Magnesia unter den Gesandten der [Mυλα|σ]έ̣ων, Milet I 3 Nr. 148 Z. 15). 50 Schon Reitzenstein (1893) 106–120 u. ö. setzte eine „Simonideische Sammlung“, ausgehend von wenigen echten Gedichten des Simonides als dem „Schöpfer der griechischen EpigrammDichtung“ (113) und noch im 2. Jh. erweitert (ebd. 167f.), für das 4. Jh. v. Chr. voraus; vgl. Wilamowitz (1913) 203–225, wo von einem Elegienbuch ausgegangen wird (ebd. 211), dem bis Ende des 4. Jh. v. Chr. Steinepigramme hinzutreten (ebd. 213f.); Wilamowitz (1924) I 127–130; Gow/Page HE S. 516f.; FGE S. 119–123; Gutzwiller (1998) 50f.; Sider (2007) zur Collectio Simonidea im 5. Jh. v. Chr. – Alle ‚Simonideischen‘ Epigramme sind vereinigt und kommentiert in FGE S. 186–302 (aus klassischer Zeit; ebd. S. 119–123 zur Problematik der Zuschreibung) sowie HE 3300–41 (aus deutlich hellenistischer Zeit); einen einführenden Kommentar zu einer Auswahl aus der Zeit des Simonides bietet Petrovic (2007). 51 Vgl. FGrHist 383 F 1–2, nach Jacoby mit F 3; vgl. Chr. Ganter und Angela Zgoll in Brill’s New Jacoby. – Bei dem Buch Περὶ τῶν ἐπιγραμμάτων des Neoptolemos von Parion (FGrHist 702 F 2; vgl. R. Nünlist in Brill’s New Jacoby), dem ins 3. Jh. v. Chr. zu datierenden und auch Philodem bekannten Gewährsmann des Horaz für die Ars poetica, handelt es sich um das einzige aus der Antike bekannte dichtungstheoretische Werk über Epigramme, nicht um eine Sammlung (anders Petrovic [2013] 209f.; Seidensticker/Stähli/Wessels [2015] 184 Anm. 5); vgl. auch Kassel (1960) 303f. [357]; zu dem einzigen aus dem Werk bekannten Epigramm FGE 1568f. – Zu den auf

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Ähnlich wie im Falle der ‚Simonideischen‘ Epigramme wurden andere frühe, vor allem aus literarischem Interesse entstandene Sammlungen, wie sie sich am ehesten noch aus der Anthologia Palatina, insbesondere dem Meleager-Kranz52 und dessen Vorgeschichte erschließen lassen, im Laufe der Zeit mit Gedichten angereichert, die man alle unter ein und denselben ‚ideellen‘ Autorennamen stellte.53 Es gilt zu betonen, daß im Zuge des Interesses an Kurzpoesie gleichermaßen solche Texte Beachtung fanden, die von mehr oder weniger bekannten Autoren für aristokratische Symposien bisweilen ad hoc und zu anderen offiziellen Gelegenheiten gedichtet bzw. aufgeführt wurden.54 Vielleicht formte man ohnehin schon seit frühester Zeit aus dem Fundus der Elegie (ἐλεγεῖαι [sc. ποιήσεις/ὠδαί])55 passende Kleingedichte aus einzelnen oder mehreren elegischen

|| Papyrus nachweisbaren Epigrammsammlungen Fraser (1972) 607–612; Gutzwiller (1998) 15–36, 45f.; Argentieri (1998), dessen allgemeine Schlußfolgerungen durch die Edition des PoseidippPapyrus (dazu Anm. 72) teilweise obsolet geworden sind; Katalog bei Höschele (2010) 308–322. 52 Vgl. Cameron (1993) 19–33 zur Rekonstruktion, 49–56 zur Datierung; Gutzwiller (1998) 276-322; Höschele (2010) 171–229 zur poetologischen Konzeption. 53 Die von Meleager übernommenen Epigramme des Platon und der vorhellenistischen Lyriker, des Archilochos, der Sappho, des Bakchylides, des Platon, des Anakreon und des Simonides, sind bis auf diejenigen der beiden letztgenannten allesamt Produkte aus späterer Zeit, wenn auch nicht erst hellenistisch; Gow/Page klammern sie deshalb, entgegen dem Grundkonzept, die Meleager-Sammlung zu bieten, in HE aus (Begründung ebd. HE I S. XXII), und Page bringt sie in FGE S. 147–149 (Archilochos), S. 149–152 (Bakchylides), S. 161–181 (Platon, aus einer Sammlung; vgl. ebd. 125–127); zu Sappho und Anakreon Anm. 46, zu Simonides Anm. 50. Weitere, in literarischer Überlieferung vereinzelt zitierte Epigramme, die vorhellenistischen Literaten zugeschrieben werden, aber fast alle aus dem Hellenismus stammen, in FGE S. 130–133 (Aischylos, Agathon, Alkibiades); S. 149–160 (Bakchylides, Empedokles, Epicharm, Erinna [ediert in HE 1781–1800], Euripides, Hippon, Ion von Chios, [Iophon], Phokylides, Pindar); S. 303–308 (Sophokles, Speusipp, Thukydides/Timotheos); von Gow/Page werden als authentische Epigramme vorhellenistischer Dichter nur diejenigen des Parrhasios (FGE S. 75–78) und des Zeuxis (FGE S. 103f.) behandelt; vgl. ebd. S. 130. – Die Datierung, die Intentionen solcher Epigrammsammlungen sowie die Verläßlichkeit der einzelnen Zuschreibungen werden seit Reitzenstein (1893) 87–192 vielfältig diskutiert; vgl. noch FGE S. 119–130. 54 Vgl. Bowie (1986) 15–21. 27–34; Aloni (2001) 88–92 zu verschiedenen Arten und möglichen Aufführungspraktiken von Elegien; Aloni (2009), allerdings mit einer meines Erachtens zu frühen Datierung des fiktiven Kunstepigramms im 6. Jh. v. Chr. (S. 182). 55 Vgl. Bowie (1986) 22–27 im Anschluß an vorausgehende Deutungen zur Bezeichnung ‚Elegie‘, deren Ursprung nicht, wie die antike Theorie meinte, in der Klage, sondern allgemein im Gesang zum Aulos (der mit der armenischen Wurzel ELEGN für „reed, cane pipe“ [ebd. 27] zusammengebracht wird) liege.

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Distichen zu inschriftlich verwendbaren Epigrammen um, wie unter anderem deren Benennung als ἐλεγεῖον/ἐλεγεῖα56 nahelegt. Ob bzw. inwiefern aus zunächst öffentlich aufgeführten oder threnodischen Elegien die ersten in elegischen Distichen verfaßten Steinepigramme auf Gefallene entstanden, wird unterschiedlich bewertet.57 Was die frühesten Sammlungen von Kleingedichten betrifft, so könnten darin sympotische Kurzelegien mit Steingedichten schon aufgrund der formalen Ähnlichkeit zusammengebracht worden sein.58 Eine Entwicklungslinie von den beim Gelage spielerisch gesungenen Skolia und Elegien (παίγνια) hin zu den literarischen erotischen, skoptischen und paränetischen ‚Kurzelegien‘, welche schließlich die Alexandriner im Verbund mit den nur noch namengebenden inschriftlichen Gedichten unter der gemeinsamen Benennung „Epigramme“ als eine Art Gattung fiktionaler Kleindichtung konstituiert hätten, versuchte Reitzenstein (1893) im ersten gattungstheoretischen Werk „Epigramm und Skolion“ zu verfolgen.59 Jene eindimensionale Genealogie ist, wie Reitzenstein (1907) selbst

|| 56 Der Audruck ἐλεγεῖον kann spätestens seit dem beginnenden 4. Jh. v. Chr. auch Gedichte in reinen daktylischen Hexametern bezeichnen; vgl. CEG 700 (knidisch; 4. Jh. v. Chr.) V. 3 mit Anm.; CEG 888 (Xanthos, Anf. 4. Jh. v. Chr.; SGO 17/10/03) V. 19 (auch auf reine Hexameter bezogen). Umgekehrt kann ἔπη sich auch auf Distichen beziehen; vgl. nur Solon fr. 1 V. 2 IEG West. 57 Friedländer (1948) 65–70 und im Anschluß Raubitschek (1968) 9 plädierten für die unmittelbare Herleitung aus der (sehr fraglichen) threnodischen Elegie bzw. dem Grabgesang; ablehnend Gentili (1968), der die Verbindung in der subjektiven Rede und auf sprachlicher Ebene sieht (ebd. 69–81 sprachliche Parallelen); vgl. auch Di Tillio (1969). – Die 1992 auf Papyrus bekannt gewordene Elegie des Simonides auf die bei Plataiai Gefallenen (P.Oxy. 3965, ed. Parsons; fr. 1–18 IEG II2 115–122) kann Anlaß für eine Revision der Entstehungstheorie des frühklassischen Heldenepigramms in seinem Verhältnis zur Elegie geben; vgl. Aloni (2009) 179–182. In seinem Kommentar zu den simonideischen Versinschriften erwähnt Petrovic (2007) innerhalb der Überlegungen zum „Einfluß der lokalen elegischen Dichter“ (S. 8) die Plataiai-Elegie des Simonides nicht (ebd. nur S. 43 Anm. 87). Ohne mögliche Verbindungslinien zur Elegie einzubeziehen, entwirft Petrovic (2009) die These früher öffentlicher Wettbewerbe zur Auswahl von Epigrammdichtern für staatliche Gräber. 58 Andererseits konnten, wie im Falle des Theognis, zu einem bestehenden Grundstock einer Elegien-Sammlung im Laufe der Zeit weitere elegische Stücke sowohl früherer als auch späterer Autoren hinzutreten; vgl. Wilamowitz (1913) 270; Reitzenstein (1893) 78 zu späteren Zusätzen mit sophistischem Einschlag; Condello (2009/10) 87 mit Anm. 45 für die daran anschließende neuere Literatur. 59 Vgl. Reitzenstein (1893) 103–105 u. ö.

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in seinem richtungsweisenden RE-Artikel zum Epigramm warnte,60 sicherlich nur ein Teilaspekt zum Verständnis der Entstehung des literarischen Epigramms. So muß denn auch nach Bowie (2007) etwa die erotisch-sympotische Ausrichtung hellenistischer Epigrammatik weniger als kontinuierliche Fortführung denn als bewußte Umformung älterer Symposien-Poesie begriffen werden.61 c Verselbständigung der literarischen Epigrammatik Durch die ‚Buch-Literarisierung‘ von Epigrammen trat der einst pragmatische Charakter der okkasionellen Gedichte zugunsten ihres künstlerisch-ästhetischen Wertes in den Hintergrund. Die mit Verschriftlichung auf Papyrus einhergehenden Rezeptionsbedingungen ließen Raum für wiederholbaren, ortsunabhängigen Kunstgenuß sowie interpretative Reflexion.62 Unter diesen Vorzeichen entdeckten professionelle Literaten ihr Interesse an der poetischen Kleinform. Die aus den pragmatischen Bezügen der ursprünglichen Epigramme erwachsenen Muster und Motive (oben S. 16-19) werden nun zur Gestaltungsgrundlage des literarischen ‚epideiktischen‘63 Buchepigramms, in dessen Zentrum die fiktionale Imaginierung eines lebensweltlichen Kontextes steht. In besonderem Maße griff man auf die gesamte literarische Tradition zurück, um die weiterhin fortbestehenden Grundmuster der ehemals situationsbezogenen Epigramme möglichst subtil auszugestalten. In hellenistischer Zeit wurde diese Kunst durch namhafte Vertreter, die sich auf einzelne Themenbereiche spezialisierten sowie hierin charakteristische Stile ausbildeten, zur Reife gebracht und professionalisiert. Neben der literarischen Fortführung des Weih- und Sepulkralepigramms wurden insbesondere neue Genres wie Erotik-, Spott- oder Rätselgedichte64 (in einer Art Gattungskreuzung mit der älteren elegischen Symposialdichtung) entwickelt.

|| 60 Vgl. Reitzenstein (1907) 72 „Die … Beziehung des literarischen E[pigramm]s auf das Gelage ist stark zu beschränken.“ Weitere Einschränkung früherer Aussagen hinsichtlich der Bedeutung der Epigrammatik für die Bukolik ebd. 85, 11–14. – Die Selbstkorrekturen wurden bisweilen übersehen. 61 Mit Bezug auf die erotischen Epigramme von Asklepiades, Hedylos, Poseidipp, Kallimachos; Bowie (2007) 95 trägt allerdings der selbstkritischen Differenzierung von Reitzenstein (1907) keine Rechnung. 62 Vgl. Bing (2009) 164f. 63 Der problematische Terminus (vgl. Lauxtermann [1998]) wird im griechischen Bereich in der Regel für „zur Schau gestellte“ Epigramme der ‚Buchpoesie‘ benutzt; vgl. etwa Page im Vorwort zu den Epigrammata Graeca; Gutzwiller (1998) 316; Bing (2009) 204. 64 Vgl. Protagonisten der einzelnen Untergattungen: Asklepiades von Samos (Erotik), dazu Reitzenstein (1907) 89f., Geffcken (1917) 105f.; Dioskorides, Theodoridas, Alkaios von Messene

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Den modernen Interpreten gab und gibt der Bezug dieser Gedichte zur Alltagswelt häufig Anlaß zum Dissens, ob ein bestimmtes Gedicht auf eine tatsächliche alltägliche Situation (Begräbnis, Symposion, Geschenk, Weihung, Beschreibung usw.) zurückgeht oder der Autor die seinem Gedicht zugrundeliegenden äußeren Bedingungen frei erfunden hat.65 Während beispielsweise noch Wilamowitz unter der Fragestellung „Aufschrift oder Nicht?“ tendenziell eher der pragmatischen Auffassung von literarischen Epigrammen bis in die hellenistische Zeit zuneigte,66 versuchen neuere Interpretationen mehr deren Fiktionalität als Kunstform schon im frühen Hellenismus aufzuspüren. Inwiefern sich in der ersten Phase literarischer Epigrammatik vom Ende des 4. bis zur zweiten Hälfte des 3. Jh. v. Chr. bestimmte Grundströmungen mit lokalspezifischen Prägungen zeigen, ist unentschieden: Man wollte jedenfalls von einer dem Steinepigramm verpflichteten „Peloponnesischen Schule“67 sprechen und mit der Benennung auf die Dichterin Anyte verweisen, die mit ihren aus der alltäglichen Umwelt aufgegriffenen Themen die epigrammatische Dichtkunst besonders beeinflußt habe.68 Diese Poesie ist bestimmt von einer gewissen Spannung zwischen inhaltlicher Ausgewogenheit und stilistischen Finessen. Die wortreiche Stilisierung tritt am sinnfälligsten bei dem in der gesamten griechischen wie lateinischen Epigrammatik bekannten, aus Magna Graecia stammenden Leonidas von Tarent69 hervor. Demgegenüber sah man die „ionisch-alexandrinische“70 Strömung mit namhaften Vertretern wie Asklepiades, Hedylos, Poseidipp und Kallimachos.71 || (Spott), dazu Geffcken (1917) 109; Leonidas von Alexandria (Isopsephie-Epigramme), dazu Reitzenstein (1907) 105f., Livingstone/Nisbet (2010) 119–121. 65 Vgl. z. B. Bing (2009) 203f. zur Problematik dieser Fragestellung. 66 Wilamowitz (1924) I 119–121 (gegen Reitzenstein [1907] 83f.); beispielhafte Analysen auch ebd. I 134–151, 171–180; und II 102–129; 222–224. 67 Reitzenstein (1907) 84–89; Überblick bei Beckby (21965) 20–25. – Vgl. etwa Fraser (1972) 561f., Gutzwiller (1998) 53, die beide unter Ablehnung der Bezeichnung der Einteilung folgen. 68 Zu Anyte und deren Vorbildfunktion für Mnasalkas, Moiro, Simias Reitzenstein (1907) 84-86; Geffcken (1917) 104f.; Gutzwiller (1998) 54–74, ebd. 74–88 zu Nossis. – Zu ungewissen Reflexen in der Steinepigrammatik unten S. 115f. 69 Vgl. Reitzenstein (1907) 86–88 zu Leonidas von Tarent; Geffcken (1917) 107–109 auf der Grundlage seiner Einzelstudie zu Leonidas von 1896; Wilamowitz (1924) I 109f.; Beckby (21965) I 24f. und Bd. III 812, Kommentar zu AP X 1 (HE 2490–7); Gutzwiller (1998) 88–114; siehe unten S. 117–120. 70 Als solche ist diese Strömung bei Beckby (21965) 25–33 charakterisiert; vgl. Fraser (1972) 556-560 und Gutzwiller (1998) 115–182, die beide nach Reitzenstein (1907) 88–90 die drei Autoren Asklepiades, Poseidipp und Hedylos als eine zusammengehörige Gruppe behandeln, welche in einer dem Meleager vorliegenden Sammlung vereinigt war. 71 Vgl. neben der zuvor zitierten einschlägigen Literatur Fraser (1972) 560–595 mit Einzelanalysen unter Einbeziehung der älteren Forschung; ebd. 595–607 zu Dioskorides; Gutzwiller (1998) 183–226 zu Kallimachos; Livingstone/Nisbet (2010) 68–88.

26 | I Literarhistorische Grundlagen

Diese gelehrten Poeten hätten, in Abkehr vom Idyllischen und geleitet von strikten Kunstprinzipien (hinsichtlich Beschränkung der Verszahl, Sprache und Themenwahl), vor allem symposiastische Skolienmotive bearbeitetet. In neuerer Zeit hat die Entdeckung des sogenannten Poseidipp-Papyrus (P.Mil. Vogl. VIII 309), in dem mit seinen über 112 Gedichten nun die älteste Epigrammsammlung überhaupt vorliegt, die Debatte zur hellenistischen Epigrammatik neu belebt.72 Dort tritt deutlich die Vertrautheit des ἐπιγραμματοποιός, wie Poseidipp in einer Ehreninschrift des aitolischen Heiligtums Thermon genannt wurde (IG ΙΧ 12, 1 Nr. 17 Z. 24), mit den verschiedenen Formen einzelner inschriftlicher Gattungen zutage, die er nicht nur adaptiert und literarisch perfektioniert, sondern teilweise auch als professioneller Auftragsdichter, offenbar auf den Spuren des Simonides wandelnd, für Steinmonumente geschaffen hatte.73 Die nachhellenistische Entwicklung literarischer Epigrammatik bedarf im Hinblick auf die Frage nach ihrem Verhältnis zum Steinepigramm keiner vorzüglichen Beachtung mehr.74 Denn die Poeten der privaten Denkmäler orientierten sich wie seit jeher an den allgemeinen Bildungsinhalten, ohne eine signifikant engere Zuwendung zur professionellen Epigrammkunst erkennen zu lassen.75 Ihr Einfluß auf die Steinepigramme ist, wie noch zu zeigen sein wird (S. 113ff.), nur in Einzelbeispielen erkennbar, und er scheint in diesen Fällen nicht über die hellenistischen Dichter Leonidas von Tarent und Antipatros von Sidon hinauszureichen.

|| 72 Vgl. ed. pr. Bastianini/Gallazzi (2001); Gutzwiller (2005); Höschele (2010) 148–170; letzte Edition mit Kommentar von Seidensticker/Stähli/Wessels (2015); ebd. 15 zur Gesamtzuschreibung an Poseidipp, die unter anderen von Schröder (2004) mit guten Gründen hinterfragt wurde. – Beachtung verdient neuestens die von Parsons/Maehler/Maltomini (2015) edierte Liste mit 226 incipits meist sympotisch-erotischer Gedichte, von denen bislang nur eines identifiziert werden konnte (col. I 18 ~ AP XII 46 [Asklepiades; HE 876–9] V. 1). 73 Vgl. Bing (2009) 182–189 zu Poseidipp als Verfasser von Steingedichten, von denen er später vielleicht einige veröffentlicht hat; Peek (1953) 438f. über möglicherweise Poseidipp zuzuschreibende Steinepigramme. 74 Daß den Dichtungen des Krinagoras von Mytilene (1. Jh. v. Chr.), dessen Epigramme die gelebten Erfahrungen der römischen Oberschichten widerspiegeln (vgl. Geffcken [1922] 1862f.; GP S. 212f., Gedichte ebd. 1774–2077), eine Theorie des βεβιωμένον zugrundeliegt, ist eine willkürliche Hypothese von Reitzenstein (1907) 97f. nach M. Rubensohn. 75 Das gilt genauso für formale Entwicklungen, die sich auf die literarische Epigrammkunst beziehen, wie beispielsweise die von Parmenion AP IX 342 (GP 2608–11) V. 1 abgelehnte πολυστιχίη; vgl. Leonidas von Alexandrien AP VI 327 (FGE 1884f.), bezogen auf isopsephische Gedichte; Kyrillos AP IX 369; Philipp von Thessalonike AP IV 2 (GP 2628–41) V. 6, wo ὀλιγοστιχίη wohl auf Epigramme im allgemeinen bezogen ist; Literatur oben Anm. 43.

1 Die Entwicklung des Buchepigramms aus dem Steinepigramm | 27

Die literarische Entwicklung führt in der Folge bis hin zu den in lateinischer Sprache dichtenden Elegikern und Epigrammatikern, die sich ihrerseits an den Buchepigrammen bzw. den Kurzelegien griechischer Tradition und deren herausragenden Vertretern orientierten.76 Insgesamt bedienten sich alle literarischen Epigrammdichter, ob paganer oder christlicher77 Provenienz, bis noch in iustinianische Zeit aus dem in mehr als einem halben Jahrtausend entstandenen Tableau an Gestaltungsmöglichkeiten.78 Im byzantinischen Mittelalter ist schließlich eine Loslösung von der antiken Epigrammatik mit ihrer traditionellmythologischen Sprache zu erkennen.79 Während die Buchepigrammatik innerliterarisch an poetischer Eigendynamik gewann, setzte die Steindichtung ihren an den pragmatischen Erfordernissen orientierten Weg fort.80 Die von philologischer Seite aufgeworfene Frage (S. 8-10), welcher literarische Rang der von der Buchepigrammatik im Grunde abgekoppelten epigraphischen Dichtung zuzusprechen sei, verdient noch eine etwas eingehendere Reflexion.

2

Die literarische Stellung der Steinepigramme

a Steinepigramme in literarischer Überlieferung: Anthologia Graeca Als Maß für die Literarizität von Steinepigrammen kann die Anthologia Graeca mit ihrem Panorama verschiedenster Gedichte aus der gesamten griechischen Literatur- und Kulturgeschichte in Anspruch genommen werden. Zieht man alle

|| 76 Insofern finden sich hier allerlei (indirekte) Reflexe der griechischen Epigrammatik; vgl. beispielsweise Reitzenstein (1907) 86–88. 91f. 98f. (Philodem v. Gadara); 99f. (Parthenios); 100–104 (Calvus, Catull); Geffcken (1917) 111f. (Einfluß des Krinagoras) 108–114 (zu den lateinischen Dichtern, besonders Catull und Martial); Livingstone/Nisbet (2010) 99–117; Bettenworth (2016) zur Resonanz von Inschriften in der lateinischen Elegie. 77 Über die Aneignung paganer Tradition in christlichen Inschriften sehr instruktiv Keydell (1962) 554–557; zu den (bis in konstantinische Zeit kaum sichtbaren) christlichen Indizien bzw. Umformungen ebd. 557–562. 78 Hinsichtlich einer Einordnung der großen in der Anthologie vertretenen Epigramm-Dichter in die Tradition Keydell (1962) 541–546 zu Gregor von Nazianz; ebd. 546f. zu Palladas, dessen Deutung aufgrund der ihm neuerdings fälschlich von Wilkinson (2012) zugeschriebenen früher zu datierenden Epigramme in P.CtYBR inv. 4000 nicht revidiert werden muß; Keydell (1962) 548–553 Agathias und sein Kreis. 79 Keydell (1962) 53f.; Kambylis (1995) 29–32. 80 Agosti (2008c), (2013) erkennt in einigen gehobenen Epigrammen der Spätantike bis zur Zeit des Kaisers Heraklios einen signifikanten, von den Epen des Nonnos beeinflußten „stile moderno“.

28 | I Literarhistorische Grundlagen

uns bekannten auf Stein überlieferten Gedichte in Betracht, die zugleich dort im Rang der Buchüberlieferung erscheinen, zeichnen sich drei Kategorien ab, nach denen epigraphische Gedichte gleichsam empirisch als „literarisch“ angesehen werden können: 1. Es zeigen sich aus der klassischen Epoche professionelle Weihepigramme und offizielle Epigramme, meist auf Kriegsgefallene. Diese bekamen aufgrund ihrer Qualität durch die Zuschreibung an berühmte Dichter wie Anakreon oder Simonides und durch ihre Aufnahme in die frühesten Sammlungen einen literarischen Status. Von dort gingen sie (über Zwischenstufen vermittelt) in die Anthologie ein.81 2. Davon unabhängig haben einige, sehr viel spätere, funktionale Inschriften der Spätantike als Einzelstücke aufgrund ihrer poetischen Qualität seit der byzantinischen Zeit Beachtung gefunden und sind wohl von daher in die literarische Überlieferung, wie sie in der Anthologie vorliegt, eingegangen.82

|| 81 Weihgedichte: AP VI 138 (‚Anakreon‘) ~ CEG 313 (Attika, 5. Jh. v. Chr.); AP VI 144 = VI post 213 (‚Anakreon‘ bzw. ‚Simonides‘; FGE 522–5) V. 1f. ~ CEG 312 (Attika, 480–475 v. Chr.; Nobili [2016] 77f.); AP VI 330 (‚Aischines Rhetor‘) ~ CEG 776 (Epidaurus, 4. Jh. v. Chr.) wohl mit dieser Dedikantenangabe; AP VI 343 (anonym) ~ CEG 179 (Athen, Reste der ursprünglichen Inschrift 507/06 v. Chr. und einer Wiederaufstellung 450 v. Chr.); AP XIII 13 (anonyme Weihinschrift eines Pyres für Athena) ~ CEG 280 (Akropolis Athen, ca. 440 v. Chr.); AP XIII 16 (Weihinschrift der Kyniska) ~ CEG 820 (Olympia, wohl 396 v. Chr.; Nobili [2016] 174–177). Öffentliche Grabgedichte bekannter Autoren: AP VII 245 (‚Gaitulikos‘ [nicht ursprünglich]; EG 5885–88; vgl. Garulli [2012] 39f. 54–56) ~ CEG 467 (Athen, 338 v. Chr.; auf die bei Chaironeia gefallenen Böoter); AP VII 254 (‚Simonides‘; vgl. Garulli [2012] 56–63) ~ CEG 4 (Athen, 458/57 oder 431 v. Chr.; Tentori Montalto [2017] 134f.). Von dem Orakel auf Lykurg AP XIV 69 in Delphi, wo in der Regel die als literarisch konzipiert anzusehenden Sprüche nicht gesondert epigraphisch dokumentiert wurden, hat Cyriacus von Ancona (Foucart [1881]) nur eine sehr viel spätere, vielleicht anhand der vielfältigen literarischen Überlieferung (vgl. Parke/Wormell 29, weitergebildet in 216) hergestellte Steinkopie entziffern und abschreiben können. Das Grabgedicht auf Diogenes aus Sinope AP VII 64 ~ CEG 653a (vgl. Hansen [1990]) dürfte im Zuge der Erhaltung des später in Venedig befindlichen Steines erst in byzantinischer Zeit in die Anthologie aufgenommen worden sein. 82 AP VII 553 (Philosoph Damaskios) ~ SGO 20/07/02 (vgl. Anm. 402; Hemesa, 537/38 n. Chr., wohl Wiederverwendung der berühmteren Inschrift); AP IX 682 (auf Obelisk in Konstantinopel unter Theodosios, 390 n. Chr.) ~ Kaibel 1061 (Hiller von Gaertringen [1926] Nr. 131); AP IX 704 ~ SGO 02/09/05 (Aphrodisias, um 480 n. Chr.) V. 5–8; AP XV 11 ~ IG XII 1, 783 (Akropolis von Lindos, 3./4. Jh. n. Chr.; vielleicht vom Stifter, dem Priester Aglaochartos, verfaßt), nach Cameron (1993) 303f. von Konstantinos von Rhodos nachträglich zur Sammlung des Kephalas hinzugefügt; APl XVI 43 (auf den Proconsul Damocharis) ~ SGO 5, 24/14 (Smyrna, nach dem Erdbeben von 551 n. Chr.).

2 Die literarische Stellung der Steinepigramme | 29

3.

Gegenüber diesen beiden Gruppen ist eine Kategorie von Inschriften seit dem Hellenismus abzugrenzen, die, aus ursprünglichen literarischen Sammlungen hervorgehend, erst sekundär in Stein gemeißelt wurden.83 Diese epigraphischen Erzeugnisse basieren ganz oder teilweise auf zeitlich deutlich vorausgehenden professionellen Gedichtbüchern namhafter Autoren meist hellenistischer Zeit, wie sie in der Anthologie vertreten sind.84 Sie sind also nicht qua Inschrift literarisch anerkannt worden, sondern repräsentieren bereits zuvor literarisch etablierte Gedichte.85

|| 83 Hellenistische Dichter: AP VI 13 (Meleager) vgl. Anm. 337; AP VII 15 (Antipatros von Sidon oder Thessalonike) vgl. Anm. 354; AP VII 6 (Antipatros von Sidon) vgl. Anm. 364; AP VII 153 (Homer oder Kleobulos von Lindos; vgl. Anm. 331) ~ SGO 16/31/05 (aus Parallelüberlieferung inspiriert; vgl. S. 114f.); AP VII 670 (‚Platon‘) vgl. Anm. 332 (Ende); AP IX 75 (Euenos von Askalon) und AP IX 99 (Leonidas von Tarent) V. 6 vgl. Anm. 337; AP IX 448 (aus Homeri et Hesiodi certamen) V. 2 ~ Kaibel 1105 (= GI 151 im Kommentar; unter einem Bild in Pompeji, dazu auch Squire [2009] 181–188); AP XI 8 (anonym, zwischen Nikandros [Pal.] bzw. Nikarchos [Plan.] und Leonidas) ~ IGUR 1245 (Obryk [2012] 148f. F1; 3./4. Jh. n. Chr.) V. 9–12 (mit einigen Abweichungen); AP XII 118 (Kallimachos) vgl. Anm. 318. Spätere Dichter: AP I 92 (Gregor von Nazianz) ~ SGO 13/06/04 (Sinasos/Kappadokien, entstellte mittelalterliche Kopie); AP IX 684 (FGE 1432–5, Preger 214; Insel Taphos) V. 3 ~ Kaibel 1071 (Naupaktos, vielleicht im 15. Jh. n. Chr.; vgl. BE 1970, 323; Del Barrio Vega [2008] 147f.) V. 1; AP X 58 (Palladas) ~ SGO 17/12/02 (Insel Megiste, byzantinisch; vgl. Garulli [2012] 102–107); AP X 87 (Palladas) ~ SGO 03/02/46 (Ephesos, spätantikes Graffito in einer Latrine; vgl. Agosti [2015] 21f.); AP X 111 (anonym) ~ IG IX 1, 601 (in CIG 1936, Kaibel 1116 antike Inschrift; Zakynthos, auf einem Epistyl, nach Klaffenbach im 17. Jh. aus AP abgeschrieben, vgl. Robert OMS VI 312f. [1978]); AP XI 193 (Sentenziöses über den Neid) vgl. Anm. 402; AP X 43 (auf einer Sonnenuhr) ~ GI Nr. 161 (Herculaneum, unsicher), vielleicht zu Kategorie 3 gehörend. 84 Außer den drei genannten Kategorien lassen sich aus der Anthologie Sonderfälle einer Art ‚doppelter Literarizität‘ erschließen, in denen ursprüngliche Steininschriften (bzw. Teile davon), die sekundär literarischen Rang bekommen hatten, in neue (funktionale) Epigramme eingearbeitet wurden, welche dann abermals durch Übernahme in eine Sammlung literarisiert wurden: Eines der wohl rein literarisch gebliebenen Grabgedichte auf Martinianos AP VIII 111 (Gregor von Nazianz; vgl. AP VIII 17 V. 5) entspricht in V. 1 CEG 579 (Peiraios, Mitte 4. Jh. v. Chr.) V. 1; AP VIII 108 (auf Martinianos) V. 2 und VIII 95 (auf Kaisarios) V. 2 entsprechen CEG 579 (Piraeus, Mitte 4. Jh. v. Chr.) V. 2. Ähnlich beruht das von Agathias auf seine Schwester Eugenia gedichtete Epigramm AP VII 593 zumindest in den beiden letzten Versen auf einem wahrscheinlich sehr viel früher zu datierenden Muster, das sich in Stein erhalten hat (GVI 2082; Nikopolis, vielleicht 1. Jh. n. Chr.); vgl. Garulli (2012) 134–136. Bei AP XI 269 (Spottinschrift auf Commodus; nicht epigraphisch erhalten, aber als Inschrift sicher belegt) V. 1 im Vergleich mit GI 142 (Pompeji, apotropäische Wandinschrift) V. 1 handelt es sich um eine unabhängige Wiedergabe eines älteren, ursprünglich inschriftlichen, apotropäischen Verses. 85 Einzelne Steinepigramme, die auf derartige literarische Vorbilder aus der AP wörtlich, in der Regel nur noch ausschnittweise zurückgreifen oder darauf anspielen, dadurch aber freilich nicht per se als mit der Buchepigrammatik gleichrangige poetische Produkte begriffen werden dürfen,

30 | I Literarhistorische Grundlagen

Mit Blick auf die Anthologie läßt sich vom Hellenismus bis zur Kaiserzeit bislang kein einziges Beispiel sicher nachweisen, in dem, wie in der ersten Kategorie, eine inschriftliche Überlieferung der Buchliterarisierung vorangegangen wäre bzw. noch zu Lebzeiten des Autors stattgefunden hätte. Gleichwohl ist vorstellbar, daß in dem einen oder anderen Fall der Anthologia Graeca eine Einmeißelung eines ursprünglich zu einem bestimmten Zweck gedichteten Auftragsepigramms seiner Verbreitung in Buchform voranging. Daß aber der jeweilige Poet im Grunde doch die Buchveröffentlichung als Ziel vor Augen hatte, um sich als professioneller Dichter zu verewigen, legt allein die mit den Autorennamen verbundene Überlieferung der Gedichte nahe. Diese kann nur mit der in der Buchtradition beheimateten Konvention der Urheberangabe erklärt werden, für die letztlich der Dichter selbst bei der Planung oder dem Arrangement seiner eigenen Gedichtsammlung Sorge tragen mußte. b Anonymität der Steinepigramme Die Personalisierung von Epigrammen durch Autorennamen, wie sie in der Anthologie zu finden sind, ist generell ein Indiz dafür, daß der Poet, über die etwaige Erfüllung eines Auftrages hinaus, persönliche Anerkennung und Nachruhm als Literat beanspruchte. Die Dichter der Steinepigramme erheben diesen Anspruch in der Regel insofern schon nicht, als sie hinter ihrem Auftrag zurücktreten und anonym bleiben. Abweichungen von dieser epigrammatischen Konvention86 finden sich nur in wenigen Ausnahmefällen, die sich zweifach erklären lassen: Selten tritt zum

|| werden im ersten Hauptteil dieser Arbeit behandelt: Vgl. zur Rezeption des anonymen Grabepigramms auf Homer AP VII 3 unten S. 73–77; zu Kallimachos und literarischer Epigrammatik S. 110–117; zu den Gedichten des Leonidas von Tarent und des Antipatros von Sidon S. 117–125; AP VII 440 (Leonidas von Tarent HE 2014–23) in Anm. 338; AP VII 446 (Hegesippos HE 1909–12) V. 2 in Anm. 332; AP VII 468 (‚Meleager‘) V. 9f. + AP VII 469 (Chairemon) V. 1f. (in AP falsch abgetrenntes Gedicht des Chairemon) ~ CEG 724 außer V. 2 (Amphipolis, um 300 v. Chr.; Abwandlung des älteren, in AP überlieferten Gedichtes) in Anm. 328; AP VII 516 (= in marg. AP VII 77 [Preger 255]; Simonides FGE 1026f.) ~ IG XII 4, 3 Nr. 1444 (Kos, 1. Jh. v. Chr.) und GVI 1362 (Pantikapaion, 1. Jh. v. Chr.) in Anm. 328; AP XII 34 (Automedon GP 1575–80) V. 2 in Anm. 266; APl XVI 134 (Meleager HE 4710–21) V. 4 in Anm. 346. Vgl. außerdem noch AP VII 253 (Simonides FGE 710–13, vgl. Garulli [2012] 161–167) V. 1 ~ CEG 595 (Kerameikos, um 335/4 v. Chr.; vgl. Hansens Anmerkung) V. 1 und AP VII 253 V. 4 ~ CEG 795 (Delphi, 337–332 v. Chr.) V. 24; AP VII 500 (Asklepiades HE 954–7; vgl. AP VII 710 [Erinna; HE 1781–8] V. 3) V. 1 ~ GVI 1345 (GG 179, vgl. Garulli [2012] 158–161; Syme, 2. oder 1. Jh. v. Chr.) V. 1; AP IX 610 (anonym) ~ GVI 1794 (GG 251, Vérilhac 38; Monte Casino, 1./2. Jh. n. Chr.). 86 Vgl. oben S. 20f.

2 Die literarische Stellung der Steinepigramme | 31

Beweis eines gebührenden Nachrufs auf einen Todesfall in einer hochgestellten Familie der nicht minder berühmte Auftragsdichter namentlich gleich mit in Erscheinung und wird inschriftlich dokumentiert.87 Etwas häufiger und von besonderer Art sind solche Versinschriften, in denen sich ein ohnehin zu nennender Eigentümer eines noch zu Lebzeiten errichteten Grabes oder ein enger Angehöriger eines Verstorbenen gleichzeitig noch als Dichter des entsprechenden Epigramms namentlich zu erkennen gibt.88 Genau dasselbe gilt auch für andere private Steinepigramm-Gattungen: Bei den beiden einzigen auf den kleinen Ort Makropedion (SGO 18/04/01 und 18/04/02) verweisenden Inschriften handelt es sich um Weihgedichte auf zwei sehr aufwendig reliefierten Altären, die ein Troilos gemeinsam mit seiner wahrscheinlich aus gutem Hause stammenden Gattin Tateis, „Tochter des großen Agathinos“ (18/04/01 V. 3), in den Jahren 124/125 bzw. 134/135 aufgestellt hat. Wenn der Stifter in einem der Epigramme betont, er habe den Altar beschrieben (18/04/02 V. 2 γράψας ὧδε ἀνέθηκε), möchte er damit zugleich als Verfasser der Gedichte in Erscheinung treten. Der seltene Fall einer solchen Autorenangabe

|| 87 So verfaßte der zu seiner Zeit berühmte Arzt und Dichter medizinischer Lehrepen Markellos von Side, der nach einer neuen Ehreninschrift aus seiner Heimatstadt fälschlich als Hofarzt (ἀρχιατρός) des Hadrian bezeichnet wurde (Adak/Akdoğu-Arca/Oktan [2015] 94–96 Nr. 3; dagegen Nollé [2015]), im Auftrag des Herodes Attikos im Jahre 161 n. Chr. ein Gedicht auf dessen Gattin Regilla; vgl. IGUR 1155; Ameling (1983) II 153–159 Nr. 153 (mit weiterführendem Kommentar); Santin (2009) 201–206 zu IGUR 1155a; zu den Fragmenten der beiden Lehrepen Heitsch II (1964) 16–22; AP VII 158 das Grabgedicht auf Markellos selbst. – Vgl. auch den alexandrinischen Dichter Herodes in hellenistischer Zeit bei Santin (2009) 171–186 (IMEG 5. 6. 35). 88 Die sonstigen von Santin (2009) gesammelten Zeugnisse weisen alle in diese Richtung; vgl. für den griechischen Osten SGO 04/06/01 (Santin [2009] Nr. 9; Attaleia, 1. Jh. n. Chr.) Artemidoros (Selbstepitaph für eigene Familie); 09/05/17 (Santin [2009] Nr. 21; Nikaia, 2./3. Jh. n. Chr.) Diliporis (Selbstepitaph); 13/02/01 (Santin [2009] Nr. 31; Wank, 2./3. Jh. n. Chr.) Aeimaries (Ehemann der Verstorbenen als ὁ γράψας); 16/03/01 (Santin [2009] Nr. 10; Akmonia, 1./2. Jh. n. Chr.) Pollianos (Selbstepitaph); 16/04/02 (Santin [2009] Nr. 29; Apameia Kibotos, 2./3. Jh. n. Chr.) Iulianos (wahrscheinlich der Ehemann der Verstorbenen); 16/06/01 (Santin [2009] Nr. 22; Eumeneia, 3. Jh. n. Chr.) Gaios (Selbstepitaph); 16/34/36 (Santin [2009] Nr. 8; Dorylaion, 1./2. Jh. n. Chr.) Leontis (unklar; außerhalb des Gedichts [– – –]O Λεόντις); 17/08/04 (Santin [2009] Nr. 24; Sidyma, 2. Jh. n. Chr.) Aristodemos (Selbstepitaph); 22/33/02 (Santin [2009] Nr. 18; Migdala/Hauran, 4. Jh. n. Chr.) Rhetor Gaudentios (Grabmal für seine Eltern und sich selbst); *12/02/02 (Santin [2009] Nr. 27; Kandahar, hellenistisch) Grabmal des reichen Kaufmanns Sophytos (kein expliziter Hinweis auf dessen Autorschaft); 19/17/02 (Santin [2010]; Anazarbos, 1./2. Jh. n. Chr.) Pferdearzt Hippokrates (Selbstepitaph). – In Santin (2009) Nr. 2 (IMEG 13; um die Zeitenwende) ist der Verfasser wahrscheinlich ein Kamerad, in Santin (2009) Nr. 4 (GVI 1064; Thessalien, 1./2. Jh. n. Chr.) jemand aus dem Schulzusammenhang des verstorbenen Knaben, in Santin (2009) Nr. 5 (GVI 1871; Paros, 2. Jh. n. Chr.) ist die Signatur eine neuzeitliche Fälschung.

32 | I Literarhistorische Grundlagen

dürfte unter anderem damit zu tun haben, daß auch der Steinmetz der beeindruckenden Skulpturen des Monumentes seine Signatur hinterlassen hatte (Ζ. 34f.): Σέλευκος Κιβυρά[της] | ἐποίησεν.89 Es ist also gänzlich unüblich, daß in privaten Epigrammen der Name des engagierten Dichters in einer vom Anlaß unabhängigen Autorenmarkierung erscheint.90 Die persönlichen Ambitionen der gewerbsmäßigen Steindichter sind bei der Grabpoesie von vornherein keineswegs darauf ausgerichtet, auf einer Stufe mit namhaften Poeten der Literatur wahrgenommen, geschweige denn im nachhinein durch ihr Erzeugnis auf Stein bekannt werden zu wollen. Zwar mochte der ein oder andere Dichter sein Epigramm innerhalb der funktionalen Grenzen zum Schaustück der eigenen Bildung machen; daß er dabei jedoch auf den Gedanken gekommen wäre, über das lokale Umfeld hinaus wirkende mustergültige Literatur zu erschaffen, ist gänzlich auszuschließen. Es dürfte deshalb methodisch in die Irre führen, das Alltagsgeschäft der privaten Grabepigrammatik mit den kanonisch gewordenen Epigrammen der Literatur undifferenziert zusammenzustellen. Steinepigramme entstanden unter gänzlich anderen Vorzeichen als literarische Epigramme. Während die Schöpfer der letzteren unter den Bedingungen der Buchverbreitung eine überregionale Bekanntheit als Poeten (mit)anstrebten, versuchten die landläufigen Dichter von Grabepigrammen entsprechend den Wünschen ihrer Auftraggeber den Verstorbenen die gebührende Anerkennung zu erweisen; Kern dieser Ehrerweisung war die möglichst individuelle Würdigung der Lebens- und Todesumstände einer dahingeschiedenen Person, der durch die Steininschrift Aufmerksamkeit innerhalb eines lokal und sozial begrenzten Wirkungsgefüges verschafft werden sollte. Im Hinblick auf die völlig unterschiedlichen Intentionen und Wirkungsmechanismen sind die massenhaft produzierten Texte der „epigraphischen Epigramme“ deutlich von den „literarischen Epigrammen“ als „subliterarisch“ zu unterscheiden.

|| 89 Vgl. Horsley (1997); Horsley (1999) 21–23. – Ob Troilos, der als einfacher Bürger einer kleinen Ortschaft ein beachtliches poetisches Talent zum Ausdruck seiner Frömmigkeit an den Tag legt, das Dichten auch in der Metropole Kibyra gelernt hatte, kann nur spekuliert werden. 90 Santin (2009) führt für Kleinasien unter Nr. 8 (SGO 16/34/36; Dorylaion, 1./2. Jh. n. Chr.) ein einziges, unsicheres Zeugnis an, bei welchem vielleicht ein Dichtername unabhängig von einer verwandtschaftlichen Beziehung zum Verstorbenen erscheint.

II Alltagsweltliche Voraussetzungen 1

Bildungshintergrund: Schule in Kleinasien

Anders als für das hellenisierte Ägypten, wo die Papyri direkte Einblicke in die Unterrichtstexte von Lehrern und in die ‚Übungshefte‘ von Schülern ermöglichen,91 gibt es aus der Schulpraxis der ländlichen Gebiete Kleinasiens keine unmittelbaren Zeugnisse.92 Analog zu den papyrologisch gewonnenen Erkenntnissen darf man für das innere Anatolien, gegenüber Ägypten zeitlich etwas versetzt, ab dem späten Hellenismus eine innerhalb der Familie stattfindende oder in größeren Gemeinden privat organisierte Primärausbildung beim γραμματιστής, διδάσκαλος oder γραμματοδιδάσκαλος in alltäglicher griechischer Leseund Schreibfähigkeit vermuten.93 Nach dem Einüben einzelner Buchstaben, Silben und Wörterlisten94 dürfte die erste Lektüre und das Abschreiben ausgewählter Homerpassagen95 zur Vertiefung des einfachen Unterrichts gedient haben. Die überragende Bedeutung Homers auf allen Stufen der Schulausbildung ließe sich an vielen Zeugnissen veranschaulichen. Ein neues Steinepigramm hellenistischer Zeit aus Aphrodisias (*02/09/36) etwa zählt unter den Lerngegenständen, die der im Schulalter verstorbene Knabe Epikrates zurückläßt, nach der

|| 91 Vgl. den Katalog von Cribiore (1996) 173–284, die alle mutmaßlich von Schülern stammenden Übungen aus Ägypten zusammengeführt hat. 92 Die epigraphischen Zeugnisse zur gymnischen, musischen und intellektuellen Ausbildung in den kleinasiatischen städtischen Gymnasien hellenistischer Zeit in Form von Stifter- und Ehreninschriften (SIG 578 [Teos, 2. Jh. n. Chr.]; SIG 577 [Milet, 200/199 v. Chr.]; IK 69 Priene Nr. 68–70 [Anfang 1. Jh. v. Chr.]) oder schulischen Wettkampflisten wurden behandelt u. a. von Ziebarth (1914); Nilsson (1955) 34–61; Buraselis (2002). 93 Vgl. Cribiore (2001) 45–73; 102–123 zur Rolle der Familie. Vgl. auch neuere Überblicke mit weiterführender Literatur zur frühkindlichen Erziehung und Bildung bei Laes (2010) 81–87 mit epigraphischem und Cribiore (2009) 326–328 mit papyrologischem Schwerpunkt. 94 Vgl. Cribiore (1996) 27–33. 129–133. 173–214 Nr. 1–174. 95 Vgl. Cribiore (1994). Belege nach Cribiore (1996), wo ein entsprechender Index fehlt: Nr. 180 (Ηomer Ζ 147–149, dazu Cribiore [1994] 1–3. 6–8); Nr. 183 (N 217); Nr. 191 (Erwähnung Homers); Nr. 193 (B 527. 536. 546. 581. 557. 591. 559. 569. 484); Nr. 199 (I 1–9); Nr. 201 (B 483. 494. 511. 517); Nr. 206 (Γ 1–5); Nr. 209 (Homerbezug); Nr. 212 (Γ 407); Nr. 216 (homerische Formeln); Nr. 224 (A 206); Nr. 225 (A 1f.); Nr. 226 (A 201); Nr. 227 (A 22); Nr. 234 (innerhalb einer „Anthologie“ σ 234); Nr. 237 (λ 311, φ 390f.); Nr. 248 (E 387–391); Nr. 250 (K 305f.); Nr. 251 (hymn. in Dion. 1–23); Nr. 254 (A 108–117. 119–131. 137–152. 154); Nr. 259 (B 299–312); Nr. 264 (β 127–140. 152–166); Nr. 273 (homerisches Thema); Nr. 274 (Prosaparaphrase von Y); Nr. 287 (θ 1f.); Nr. 289 (A 159–167); Nr. 291 (I 122–150); Νr. 292 (Γ 273–285); Νr. 294 (A 1–8); Nr. 296 (B 132–162); Nr. 299 (Β 1–3. 7–15. 21-40); Nr. 300 (I 1); Nr. 310 (Α 468–473); Nr. 313 (H 21–28, B 244); Nr. 315 (A 1–36. 49–52. 58– 60. 69–82. 89–127). https://doi.org/9783110597394-005

34 | II Alltagsweltliche Voraussetzungen

Leier an zweiter Stelle „die homerischen (sc. Buchrollen oder Gesänge)“ (V. 4 ταὶ Ὁμηρικαί [sc. βύβλοι/γραφαί/ᾠδαί]96) auf. Zwei in der Anthologie unter dem Lemma Λουκιανοῦ überlieferte Epigramme, die aus guten Gründen dem Epigrammatiker Lukillios zugeschrieben werden können,97 präsentieren einen γραμματικός mit centonenhaft in den Zusammenhang eingelegten Versatzstücken der Ilias vor allem als Vermittler der homerischen Epen. Der Literaturlehrer dankt dort der personifizierten Γραμματική als seiner Ernährerin für die Erfindung der Ilias als Heilmittel gegen seinen Hunger (AP XI 40098 V. 1f.) und macht in einem Spottepigramm auf einen Arzt deutlich, daß die Lektüre der Ilias am Anfang des Lehrplans stand (XI 401 V. 2–5). Anzahl und thematische Ausrichtung der kaiserzeitlichen Inschriften gerade aus dem ländlichen Kleinasien legen eine rudimentäre Alphabetisierung breiterer Bevölkerungsschichten in nachchristlicher Zeit nahe.99 Demgegenüber war eine weiterführende Qualifizierung, die zu tieferem Verständnis der klassischen Texte und zur aktiven literarischen Produktion zu führen vermochte, ungleich seltener. Sie dürfte nur ganz wenigen vornehmen Familien vorbehalten geblieben sein, für welche die Freistellung eines Heranwachsenden von Erwerbsarbeit

|| 96 Chaniotis (2010) 267 versteht σελίδες („Kolumnen auf Papyri“) im Sinne von βύβλοι und verweist zu Recht auf die Materialität der sonst im Text bezeichneten Gegenstände; vielleicht soll in dem Femininum neben den eigentlichen homerischen Gesängen im weitesten Sinne all das vorschweben, was mit Homer zu tun hat, auch γλῶσσαι, λέξεις, μελέται (anmerkende Aufzeichnungen, Wörterlisten, Übungen). 97 Vgl. Reitzenstein (1907) 106f., der darauf verweist, daß aufgrund der paläographischen Ähnlichkeit oftmals das auf den bekannteren Autor bezogene Lemma ΛΟΥΚΙΑΝΟΥ irrtümlich aus ΛΟΥΚΙΛΛΙΟΥ hervorgegangen sein dürfte; Geffcken (1927), bes. 1778f. Vgl. auch die Homerzitate Ρ 151 (u. ö.) und A 1 in AP XI 140 (Lukillios) V. 3f. sowie Ε 31 und E 455 in AP XI 191 (Lukillios) V. 1. – Zur Forschungsdebatte Floridi (2014) 80–82 im Anschluß an Baldwin (1975), der die beiden hier zitierten Epigramme (ebd. 326f. Nr. 22 = AP XI 400 und 333f. Nr. 52 = AP XI 401) meines Erachtens zu unkritisch Lukianos von Samosata zugeordnet hat. 98 Dort neben dem Bezug auf Homer A 1 in AP XI 400 V. 2 auch Rekurs auf Arat phaen. 2–4 in AP XI 400 V. 5f.; zu V. 6 δέκτρια vgl. Archilochos fr. 331 ed. West IEG. Die ersten beiden Verse des Epigramms wurden lateinisch nachgeahmt in ep. Bob. 46 und ep. Bob. 64 ed. Speyer. 99 Vgl. De Hoz (2006) bezogen auf die Beichtinschriften; Marek (2010) 580f. Im Vergleich zu dieser und der von Marrou (1977) auf das gesamte römische Reich bezogenen Ansicht einer recht weitgehenden Alphabetisierung sind folgende chronologisch und regional differenzierte Studien sowohl generell als auch, was das kaiserzeitliche Kleinasien angeht, skeptischer: Harris (1983) 101f.; ebd. 87–93 Forschungsgeschichte und kritisch zu betrachtende Methodologie; Horsley (1999) 13 für Pisidien; Harris (1989) 273–276. – Vgl. zur Hellenisierung allgemein neben den in folgenden Kapiteln gegebenen Hinweisen etwa Robert (1963) 490–499 für Kappadokien; Brandt (1992) 144–149 zur griechischen Kultur in Pamphylien und Pisidien; Marek (2010) 593-613 zum kulturellen Erbe und zur zweiten Sophistik in Kleinasien.

1 Bildungshintergrund: Schule in Kleinasien | 35

und seine gegebenenfalls mit einem Ortswechsel verbundene Ausbildung durch einen professionellen „Literaturlehrer“ (γραμματικός) finanziell tragbar war.100 Oftmals jedoch vermochte es wohl der beste Unterricht nicht, die durch heimatliche Sprachgewohnheiten bedingten Fehler auszutreiben. Das zeigen vielfach die Grabinschriften, etwa in ihrer prosodischen Ungenauigkeit bei der Unterscheidung von langen und kurzen Silben. Philostrat belegt, daß der kappadokische Akzent sich mit dem Wohlklang der griechischen Sprache nicht vertrug und es selbst ein Schüler des Herodes Attikos wie Pausanias aus Kaisareia in seinen Vorträgen nicht fertigbrachte, die Silbenquantitäten zu beachten.101 Anders als es die aus dem antiken Schulwesen abstrahierbare dreigliedrige Systematik mit Elementarunterricht, Literaturunterricht und (der im folgenden unberücksichtigten) Rhetorik nahelegt, waren nach den epigraphischen Zeugnissen102 je nach Qualität und Anspruch der Lehrer in der Unterrichtspraxis die Übergänge zwischen den einzelnen Stufen fließend (vgl. II 2 a, S. 39ff.).103 Entsprechend hat auch das Niveau des ‚höheren‘ Literaturunterrichtes sehr geschwankt. In den alten griechischen Kulturzentren Kleinasiens oder in einer schon früh hellenisierten Stadt mit alteingesessenen Bildungsschichten und dotierten Lehrern am Gymnasium war eine andere Qualität gewährleistet, als wenn ein besserer Schreiblehrer im Hinterland zum Lebensunterhalt auch weiterführenden Unterricht anbot. Bereits Vespasian führte 74 n. Chr. wie für Ärzte und || 100 Vgl. etwa Cribiore (2001) 185–219; zur gesellschaftlichen Rolle dieser Lehrer vom 3.–6. Jh. n. Chr. Kaster (1988), der die epigraphischen Quellen auf den S. 15-31 für den historischen Hintergrund heranzieht; ebd. 99-134 zum sozialen Status; 250-440, 463-478 Prosopographie und geographische Ausdehnung der Belege; 454 zum weiten Bedeutungsumfang von γραμματικός. 101 Vgl. Philostrat vit. Apoll. I 7, wo für den Protagonisten als Besonderheit betont wird, daß er in seiner Aussprache nicht aufgrund der Abstammung fehlgeleitet wurde (οὐδ᾿ ἀπήχθη τὴν φωνὴν ὑπὸ τοῦ ἔθνους); vit. soph. II 13 p. 594 (über Pausanias von Kaisareia) ἀπήγγελλε δὲ αὐτὰ (sc. freie Deklamationen nach Art des Herodes Attikos) παχείᾳ τῇ γλώττῃ καὶ ὡς Καππαδόκαις

ξύνηθες, ξυγκρούων μὲν τὰ σύμφωνα τῶν στοιχείων, συστέλλων δὲ τὰ μηκυνόμενα καὶ μηκύνων τὰ βραχέα. 102 Sammlung epigraphischer Zeugnisse bei Harris (1983) 97f. zu den Elementarlehrern, ebd. 99f. zu den Literaturlehrern; aus beiden Gruppen führt Laes (2007) 116f. wiederum 18 griechische Zeugnisse, die sich allein auf Elementarlehrer beziehen könnten, zusammen (ebd. 116–118 zu den lat. ludimagistri). Literarische Quellen zum Schreibunterricht bei Cribiore (1996) 139–144. 103 Das zeichnet sich allein schon in der unklaren Benennung der Lehrer ab, für welche die als abwertend empfundene Bezeichnung γραμματιστής (zugunsten von διδάσκαλος und γραμματοδιδάσκαλος) in der Kaiserzeit ganz verschwindet. Ihr Ausbleiben darf bei der ohnehin nur zufälligen epigraphischen Beweislage meines Erachtens nicht als Argument gegen die Alphabetisierung insgesamt ins Feld geführt werden. Vgl. Laes (2007) 120–123 zur Durchmischung der Aufgaben beider Stufen; Cribiore (1996) 13f. 161–170 für die Bezeichnungen von Lehrern in den Papyri, wo γραμματιστής nicht belegt ist.

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Rhetoren die reichsweite Steuerbefreiung für Grammatiker ein,104 und spätestens seit Antoninus Pius (138–161 n. Chr.) dürfte die Benennung γραμματικός zu einer Art ‚kontrollierten und geschützten Berufsbezeichnung‘ geworden sein.105 Die Reglementierung dieses Privilegs war in Hinsicht auf die grammatici vielleicht weniger eine restriktive Maßnahme als vielmehr ein Akt aktiver antoninischer Bildungspolitik, um den Beruf des Literaturlehrers einerseits an Qualitätsstandards zu koppeln und ihn andererseits finanziell attraktiver zu machen. Eine Stadt konnte nun je nach ihrer Größe per Ratsbeschluß den Status an drei bis fünf Kandidaten vergeben, wobei sie bei der offiziellen Approbation, wie spekuliert werden kann, sicherlich auf eine gewisse Qualifikation ihrer γραμματικοί achtete.106 Nach dem Preisedikt Diokletians kostete zu Beginn des 4. Jh. n. Chr. der Unterricht beim grammaticus graecus viermal soviel wie der in der Elementarschule beim magister institutor litterarum (de pretiis 7, 66 bzw. 70). Nur in dem über die Elementarstufe hinausgehenden Unterricht war die Fähigkeit zu erwerben, selbst zu dichten. Wenn es nun um eine intensivere Beschäftigung mit der Literatur und die Nachahmung vorbildhafter Texte ging, so stand auch hier, nicht anders als im Alphabetunterricht, Homer im Zentrum; je nach den Vorlieben der Lehrer werden weitere ‚Klassiker‘, wie Euripides oder Menander (siehe *17/06/08

|| 104 Vgl. das entsprechende Edikt aus Pergamon, ed. pr. Herzog (1935); Bowersock (1969) 30-42 mit Blick auf die Sophisten; MacMullen (1976) 49f. 234f. Anm. 3 und 5; Bringmann (1983) 69-73 zur Vorgeschichte der Privilegierung seit Cäsar; Petzl IK 24,1 Smyrna zu Nr. 602; unten S. 45 mit Anm. 130 zu Iulius Lucius Pilius Euarestos aus Oinoanda. 105 Vgl. Digesten 27, 1, 6, 1–4. 8–10; für die spätere Zeit cod. Iust. X 52, 2 (Gordian). 6–7 (321/363 n. Chr.). 11 (414 n. Chr.). 106 Anders als für die Sophisten liegt für die Lehrer die Annahme von Bowersock (1969) 34 weniger nahe, wonach durch Antoninus’ Festlegung einer jeweils zulässigen Anzahl von Berufsangehörigen ausgeschlossen werde sollte, daß den Städten die Steuern von allzu vielen Angehörigen der Finanzeliten entgingen.

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V. 2f. [S. 322]), hinzugekommen sein.107 Unter den Schulpapyri sind nach der Deutung von Cribiore auch einige Epigramme als Lernmaterial für den Unterricht bezeugt.108

2

Steinepigramme als Zeugnisse des Bildungswesens

Für die Betrachtung der dezentralen, nicht auf die herausragenden Bildungszentren beschränkten literarischen Erziehung werden Inschriften oft noch nicht hinreichend herangezogen. Schon einfache Personennamen wie Φιλόλογος109 sowie Benennungen nach mythischen Helden110 oder berühmten Schriftstellern verraten Affinitäten zur griechischen Literatur und Kultur in abgelegenen Gebieten. Es sind aber gerade die Gedichte auf Stein, deren Beitrag zum Forschungsbereich der antiken Bildungsgeschichte nicht genug herausgestellt werden kann. Auf der einen Seite zeichnet sich in den Epigrammen indirekt das Bildungsspektrum der alphabetisierten Bevölkerungsschichten ab: Zum einen sind sie in ihrer literarischen Ausgestaltung Indikatoren für den geistigen Horizont der lokalen Bildungseliten, seien dies Grammatiklehrer oder kulturell versierte Bürger, deren, oft vielleicht einzige, schriftstellerische Tätigkeit darin bestand, entweder

|| 107 Vgl. Cribiore (1996) Nr. 325–343, sog. scholia minora als Belege für eine erste Interpretation Homers. Schon unter den Schreibübungen (Cribiore [1996] Nr. 175–343) sind Menander (vor allem Sentenzen) und Euripides stark vertreten; siehe auch unten S. 108 Anm. 312. – Zum hohen Ansehen dieser Dichter vgl. z. B. die großen Gedichte IGUR 1526 (Menander test. 170) und 1532 wahrscheinlich des Sophisten Claudius Aelianus auf Menander bzw. Homer; vgl. Prioux (2008) 123–140; unten Anm. 364. 108 Vgl. Cribiore (1996) Nr. 178 (SH 974 mit Suppl.), 179 (SH 971 mit Suppl.), 198 (SH 972 zur Heimat Homers), 202 (De Marco, ZPE 169, 2009, 84–86), 243 (SH 976 mit Suppl.), 253 (SH 996, Technopaegnia), 278 (O.Claud. I 188 auf Nestor), 287 (AP IX 538, Alphabet im Vers). – Im ägyptischen Trimithis ermunterte Mitte des 4. Jh. n. Chr. ein Rhetoriklehrer seine Schüler mit Epigrammen auf einer Wand zur Bildung; vgl. Cribiore/Davoli/Ratzan (2008). 109 Vgl. LGPN V A: 3 Einträge für Ionien und Lydien; V B: 6 Einträge in Karien, Kilikien, Lykien; zu diesem Namen, neben Πάνμουσος und Φιλόμουσος, unter anderem als Indikator für die Hochschätzung hellenischer Kultur in Kleinasien sowie zur Bedeutung des Adjektivs L. Robert, Hellenica XIII (1965) 45–57; ebd. 47: „Il témoigne du goût de la ‘paideia’ comme les noms Φιλόμουσος ou Φιλομάθης, Φιλομαθία.“ Zur Hellenisierung in Kappadokien Robert (1963) 490-499; zur griechischen Kultur in Pamphylien und Pisidien Brandt (1992) 144–149. 110 Vgl. z. B. das Epigramm auf den ‚kleinen‘ Aias aus Laodikeia Katakekaumene SGO 14/06/06, das die Abgrenzung von dem ‚großen‘ Telamonier zum Thema macht; insgesamt Thonemann (2015a).

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für einen Auftraggeber oder aus persönlicher Betroffenheit für eigene Familienmitglieder Epigramme zu dichten. Zum anderen mußten die Kompositionen daraufhin angelegt sein, von den Angehörigen der Verstorbenen, in der Regel aber von jedem mittelmäßig gebildeten Leser, wenn auch nicht in allen Anspielungen auf literarische Vorbilder, so doch in ihrem Grundduktus verstanden zu werden. Vor diesem Hintergrund konnten Grabgedichte auch als distinktive Statussymbole der mit dem Verstorbenen zusammengehörigen Gruppe konzipiert werden. Daß private Epitaphien dem sozialen Umfeld einer dahingeschiedenen Person wohl auch zur Selbstvergewisserung des eigenen Bildungsranges dienen sollten, zeigen ganz allgemein solche Inschriften, die dem Passanten angesichts seiner Lesefähigkeit einen Wissensvorteil in Aussicht stellen.111 So ist, um Beispiele zu nennen, über einem kaiserzeitlichen Epigramm aus der Gegend von Amaseia eigens in einem Kranz das Versprechen vorausgestellt (SGO 11/08/01 V. 1):

γράμματ᾿ ἐπιστά|μενος γνώσῃ, | τίνος οὗτος | ὁ τύμβος. In der gleichen Zeit fordert im phrygischen Appia ein Grabmal den Passanten, „der Bildung mitbekommen hat“, zur Lektüre des metrisch unsicheren Gedichtes auf (SGO 16/31/17 [Obryk (2012) 24f. A6] V. 1):

παιδείας μέτοχος κὲ ἀνάγνοθι τοῦτο [τ]ὸ σῆμα. Derartige Versinschriften, die allein durch die Thematisierung der Lesefähigkeit zum Identitätsmerkmal für die Zugehörigkeit zu einer gewissen Bildungsklasse avancieren, sind jedoch relativ selten. Auf der anderen Seite enthalten nicht wenige der Grabinschriften unmittelbare Informationen über die kulturelle Betätigung einzelner Personen: In dieser Hinsicht sind solche Texte interessant, die aus dem Milieu der in jeder Stadt vorauszusetzenden, öffentlich tätigen Bildungsschicht stammen und deren Vertretern gewidmet sind, wie Anwälten112, Ärzten und Politikern (siehe im zweiten Haupt-

|| 111 Zu Epigrammen, die den Lesevorgang aufgreifen, Christian (2015) 85–87. 112 Ein christlicher Bürger der phrygischen Stadt Eumeneia namens Gaios präsentiert sich in den auf drei Seiten seines Grabaltars eingeschriebenen und zu Lebzeiten selbst verfaßten Grabgedichten (SGO 16/06/01; Santin [2009] Nr. 22) als ein „in Musen geübter Anwalt“ (V. 3 Μούσαις ἀσκηθεὶς | Γάιος πραγματικός, Robert [1937] 310 Anm. 7), der aufgrund seiner literarischen Ausbildung seinen Freunden ohne Rücksicht auf Vergütung half, wie er nur konnte (V. 10 ἐξ ὧν τοῖσι φίλοισιν ἐπήρκεον ὡς δύναμις μοι). Wenn er seine Qualifizierung für diese Hilfestellung mit dem leidlich (durch die unklassische Form ἐκπονέσας ohne Dehnung des Stammvokals) hergestellten Pentameter beschreibt (V. 9 γράμμασι δ᾿ ἠσκήθην ἐκπονέσας μετρίοις [„Mit Mü-

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teil IV, S. 276ff.). Von ganz herausragender Bedeutung für die Betrachtung schulischer Bildung sind dabei freilich jene Gedichte, die sich auf einzelne Lehrer beziehen (im folgenden a) oder individuelle Bildungskarrieren hervortreten lassen (b, S. 48ff.).113 a Literaturlehrer in Kleinasien Zwar kann die poetische Überzeichnung eines Gedichtes auf einen einfachen Lehrer, der im wahren Leben in der Regel keine besondere gesellschaftliche Reputation genoß,114 dessen tristen Schulalltag verbrämen. Dennoch lassen die an die Öffentlichkeit gerichteten Grabinschriften für Lehrer Rückschlüsse auf deren Stellung in sozialer wie intellektueller Hinsicht zu. Die Zusammenschau dieser individuellen epigraphischen Kurzporträts gewährt einen Einblick in die Nuancen der kleinasiatischen Bildungslandschaft, deren Repräsentanten, fernab des aus den literarischen Quellen erhobenen dreistufigen antiken Schulmodells, auf je eigene Weise als Hüter der griechischen παιδεία erscheinen. Gemeinsam ist all diesen Inschriften, daß sie stets den Anspruch jener Lehrer zum Ausdruck bringen, jenseits einer Vermittlung einfacher Lese- und Schreibfähigkeit Förderer literarischer Bildung zu sein. Somit lassen sich gerade durch die exemplarische Betrachtung von Inschriften dieser Personengruppe die kulturideologischen Voraussetzungen, welche insgesamt für die Anverwandlung der klassischen Tradition in der Grabpoesie des griechischen Ostens leitend sind, erfassen.115

|| he habe ich mich in bescheidenen Schriftstücken geübt“]), dürfte er damit in christlichem Bescheidenheitsgestus die Abfassung einfacher Texte (z. B. Briefe), wie es zu seiner Funktion als Mittelsmann für andere (πραγματικός) paßt, gemeint haben. Merkelbach weist zu Recht die nicht belegte Deutung von μέτριος als „metrisch“ von Mitchell („I worked and practised the skill of writing in verse“) zurück, übersetzt aber selbst etwas umständlich: „Aber im Schriftlichen war ich ziemlich gut ausgebildet und habe mich darin mit einiger Mühe geübt.“ In christlichen Papyri begegnet für vorliegende Briefe die Bezeichnung μέτριον γράμμα, was in einem Fall vom Editor Papathomas (1998) 198 (vgl. ebd. 204) im Sinne eines Bescheidenheitstopos mit „bescheidener Brief“ übersetzt wird. 113 Merkelbach/Stauber bieten im Index, SGO 5 (2004) kein Lemma zu den Lehrern; vgl. SGO 5 (2004) 331–333 zu Epigrammen von Dichtern (mit Kennzeichen ***) und mit dem Namen eines Dichters im Epigramm (**). 114 Laes (2007) 118–123. 115 Vgl. andere vereinzelte epigraphische Hinweise auf ländliche Lehrer (vgl. auch Thonemann [2014] 193): Studia Pontica III 276 (Amaseia) Πόπλιος Τάττιος Ῥοῦφος | Ταρσεὺς γραμματικός; Sterrett WE (1888) Nr. 297 (Amblada/Lykaonien) Γά̣ιος Αἴλι|ος Ῥηγεῖνος | Ζμυρναῖος | [π]αιδοτρίβη[ς] (wahrscheinlich „Gymnastiklehrer“) | ἀνέστησα Σωκρ̣[ά]|τῃ ὑῷ; Laminger-Pascher (1992) Nr. 47 Συμμάχιν ἐκόσ|μησεν ὁ πα|τὴρ αὐτοῦ Ε|ὐγράφιος διδά|σκαλος. – Literarische Zeugnisse für die ‚einfache‘ Schule (d. h. nicht-rhetorische) in Kleinasien existieren kaum; vgl.

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Auf einen mit der Berufsbezeichnung γραμματικός vorgestellten Nereus bezieht sich ein Versepigramm beim mysischen Hadrianeia in der Nähe eines Zeus-Pandemos-Heiligtums (SGO 08/07/07; 3. Jh. n. Chr.). Die Gattin und die nach dem Vater benannte Tochter Νηρηΐς bezeichnen das verstorbene Familienoberhaupt in großer Trauer (V. 3 πολλὰ ὀλοφυρόμεναι), doch voller Stolz als „den besten in den Musen“ (τὸν ἐν Μουσαῖ|[σ]ιν ἄριστον). Wenn nach zwei gelungenen daktylischen Hexametern, in denen sogar die Namen metrisch eingebaut sind, durch einen abschließenden, nicht ganz lupenreinen Pentameter116 eigens hinzugefügt wird, daß die beiden Frauen Νereus in seiner Heimat (ἐνὶ πάτρῃ) bestattet haben, so hebt diese Herausstellung darauf ab, daß sich ein γραμματικός zur Ausübung seines Berufs oft auf einen Ortswechsel einlassen mußte und es ihm nicht immer vergönnt war, in seiner Heimatstadt seine letzte Ruhe zu finden.117 Da in der Inschrift keine weiteren Andeutungen auf eine überregionale Karriere des Verstorbenen gemacht werden, scheint es sich bei Nereus um einen einfachen Lehrer zu handeln, der aus dem Ort stammte und dort sein Leben lang diesen Beruf aus-

|| aus späterer Zeit Georgius Syceota (7. Jh.) vita Sancti Theodori Syceota 5 Ὀκταετῆ δὲ γενόμενον αὐτὸν (sc. Theodoros aus dem galatischen Dorf Sykeon) δέδωκε διδασκάλῳ μαθεῖν γράμματα·

καὶ διὰ τῆς τοῦ θεοῦ χάριτος ὑπὲρ πάντας τοὺς παῖδας εὐμαθὴς γενόμενος προέκοπτεν ἐν τῇ τῶν γραμμάτων σοφίᾳ. 116 Die von Schwertheim angefertigte (IK 33 Nr. 173) und in SGO übernommene Edition kann im dritten Vers anhand der Abb. auf Tafel 27 korrigiert werden, so daß dieser einem Pentameter immerhin näherkommt: θάψαν ἐνὶ πάτρῃ πολλ(ὰ) ὀλοφυρόμεναι. – Damit paßt nur die letzte kurze Silbe von ἐνί nicht in den Vers. Was Schwertheim als Ε von ἔθαψαν wiedergibt, ist gemäß den sonstigen Raumverhältnissen und Buchstabenformen das dreistrichige Schlußsigma des davorstehenden Wortes σύνευνος, welches auf dem Abklatsch in der Tat wie ein vierstrichiges Epsilon wirkt. 117 Wie z. B. der durch ein neues Epigramm von De Vos Raaijmakers/Pepe (2015) bekannt gemachte, im (lateinischsprachigen) Thugga in der Provinz Africa proconsularis tätige griechische Grammatiklehrer mit dem passenden Namen Hermes, der wahrscheinlich aus dem syrischen Laodikeia ad mare stammte (V. 2 Λαοδικεὺς μὲν ἔφυν, Θουγγῇ δ᾿ ἐνὶ γράμματ᾿ ἔδειξα); vgl. ebd. S. 77f. zur bilingualen Bildung in Africa. – Vgl. auch den in Labraunda (I.Labr. 66; dazu D. M. Lewis, CR 25, 1975, 326f. und Robert BE 1973, 414) im 2. Jh. n. Chr. aufgrund seiner Verdienste um die Erziehung der Jugend und um das historische Ansehen seiner Heimatstadt (wahrscheinlich Mylasa) geehrten γραμματικός Tiberius Claudius Anteros, einen Griechen mit römischem Bürgerrecht, der auch in Athen tätig war, wo er eine Ehrung erfuhr; vgl. Kommentar von Crampa zu I.Labraunda 66 für weitere Ehreninschriften auf γραμματικοί im griechischen Bereich.

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übte. Aufgrund seines der Mythologie entnommenen und allein damit einen gewissen Bildungsanspruch proklamierenden Namens118 läßt sich vermuten, daß bereits sein Vater die griechische Literatur schätzte und wohl in Hadrianeia unterrichtete. Nereus dürfte der Abkömmling einer Lehrerfamilie gewesen sein, deren angestammte Berufstätigkeit, falls sie nicht von der einzigen Tochter Νηρηΐς weitergeführt wurde, mit seinem Tod zu Ende ging. Einen διδάσκαλος mit demselben mythischen Namen, der die Affinität zur griechischen Tradition verrät, nennt wahrscheinlich auch eine Grabinschrift aus dem karischen Alabanda (SGO 02/04/01 V. 1 [N]ηρῆος). Dort ist, wie die fragmentarischen Überreste nahelegen, von einem einfachen Schreiblehrer die Rede, der „den Kindern die Buchstaben“ beibrachte (V. 1f. ὅ[ς] ῥα τε [πα]ισίν / γραμμάτων [– – –]). Ein Lehrer Sarapion aus Tyana (SGO 13/07/05; 2. Jh. n. Chr.) verzichtet gleich ganz auf die üblichen Berufsbezeichnungen und präsentiert sich in einem leidlichen Einzeldistichon, bei dem nur die Einfügung des Eigennamens die Metrik stört, mit homerischer Terminologie als παιδευτῶν | ὄχ᾿ ἄριστος,119 „der die gebildeten Tyaneer durch (oder für) die Musen erzogen hat“ (V. 2):

παιδεύσας Μούσαις τοὺς Τυαν|ῶν λογίους. Wenn im pontischen Sebastopolis (SGO 11/13/01) ein Maximos als „kenntnisreich in der grammatischen Kunst“ (V. 1 γραμ|ματικῆς ἐπιίστορα τέχν|ης) gewürdigt wird, so spricht diese Stilisierung in gewählter Sprache (vgl. Ηom. φ 26 μεγάλων ἐπιίστορα ἔργων, auf Herakles bezogen) für einen γραμματικός. Die auf einen Schüler oder gar ihn selbst zurückgehende Grundidee des Epigramms, den Grabstein in drei Versen mit einer vielleicht eigens erfundenen (jedenfalls bislang singulären) Wortprägung (V. 3 σμιλιγλύ|φοις) als Sprecher zu personifizieren,120 steht im Mißverhältnis zur metrischen Ausführung, bei der neben anderen unregulierten Zäsuren der dritte Vers in der Mitte auseinanderbricht, der Name des Verstorbenen ohne Not unpassend in V. 4 eingebaut und ein metrisches Versatzstück außerhalb der Syntax am Ende angefügt wird. Der abschließende

|| 118 Sicher spielen konkret die positiven Eigenschaften des mythischen Nereus, wie sie ihm etwa bei Hesiod theog. 233 zugelegt werden (ἀψευδής, ἀληθής), eine Rolle für die Namensvergabe. 119 Vgl. Hom. H 221 σκυτοτόμων ὄχ᾿ ἄριστος (sc. Tychios); Thonemann (2014) 194 mit Anm. 13 zu weiteren Imitationen der Iliasstelle: SGO 22/38/01 (Bosana/Syrien) V. 2 οἰκοδόμων ὄχ᾿ ἄριστος; 04/05/03 (Thyateira, 2./3. Jh. n. Chr.) V. 1 σκυτοτόμων ὄχ᾿ ἄριστος, wie bei Homer. Thonemann übersetzt Μούσαις „in the works of Muses“. 120 Vgl. Christian (2015) 95–98, der das Epigramm in Anknüpfung an hellenistische Schrifträtsel zu interpretieren versucht.

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Paroemiacus Ζ. 12 γνῶντος δὴ τέρμα β[ίοιο] („Er wußte um das Ende des Lebens.“ [Merkelbach]) ist morphologisch auffällig (γνῶντος statt γνόντος) und wirkt wie ein Nachtrag. Vielleicht sollte durch die Hinzufügung angedeutet werden, daß der Grammatiker selbst das Epigramm noch kurz vor seinem Tod dichtete („Nachdem er [bzw. Von ihm, der] sein Lebensende erkannt hatte“, sc. hat er das geschrieben).121 Aus den genannten Indizien läßt sich jedenfalls ein zwar geistreicher, aber eher theoretischer Grammatikunterricht (γραμ|ματικῆς … τέχν|ης) des Lehrers Maximos erahnen, bei dem offenbar Dichtungsübungen keinen großen Raum im Lehrplan eingenommen haben können. Dasselbe literarische Spiel mit dem althergebrachten Gestaltungsmuster des sprechenden Grabmals findet sich auch in Amaseia (SGO 11/08/05 [Pontos]). Dort kann nur spekuliert werden, daß der mit Poesie vertraute, als πολύμητις charakterisierte Severus, den alle Menschen zu Lebzeiten lobten (V. 3 ζωὸν μὲν | ζωοί με μέγ’ ᾔναιον [lies ᾔνεον]), als Lehrer tätig war. Das Grabepigramm läßt sich so lesen, als habe der Dahingeschiedene selbst die fehlerlosen Distichen auf sich verfaßt, wenn der Erkenntniswert des Steins hervorgehoben wird, der Zeuge (V. 4 μάρτυς) für die Ehrwürdigkeit des Verstorbenen sei und der dessen ureigene Stimme konserviere (V. 5f.):

ὃς [sc. λίθος] καὶ | τεθνειῶτος ἐ[μ]ὴν ὄπα τήνδε φυ|λάξων | ἀθάνατον ζωοῖς ἀντ’ ἐ|μέθεν προχέει. In Mysien wurde ein städtischer Lehrer auf seinem Grabstein (SGO 08/05/08; Miletopolis (?), 2. Jh. n. Chr.) als außerordentlicher, selbst über die Grenzen seiner Heimat bekannter (V. 4 θαῦμα μέγα ξείνων), weiser Musenspezialist stilisiert, „der sich exzellent mit Gedichten Homers befaßt hat“ (V. 2 ἔξοχα Ὁμηρείων ἁψάμενον σελίδων). Der „kluge Stein“ (V. 3 σοφὴ λίθος) gibt hier in einer durchlaufenden Ich-Rede in makellosen Distichen Auskunft über die äußeren Umstände der Grabsetzung. Er bezeichnet sich als „großes Kennzeichen für die fromme Treue“ (V. 5 εὐσεβίης μέγα τέκμαρ) seiner Stifterin Ionis, „die“ – wie der Grabstein über sich sagt – „mich auf das Grab ihres Gatten zusammen mit dem Knaben Metrobios aufgestellt hat“ (V. 5f. ἥ μ᾿ ἐφ᾿ ὁμεύνου |/ σήματι σὺν κούρῳ θήκατο Μετροβίῳ.).122 Mit gedanklichem Bezug auf den an der Steinsetzung beteiligten Heranwachsenden (κούρῳ – γεραίου), mit dem nur der Sohn des || 121 Der Genitiv müßte über den auf den Verstorbenen bezogenen Akkusativ in V. 4f. hinweg wieder an θανόντος in V. 3 anschließen; vgl. die Ausdrucksweise γνοὺς τὸ τέλος | καμάτου auch am Ende eines kaiserzeitlichen Gedichtes aus Klaudiupolis (SGO 09/09/13 [vgl. L. Robert OMS VI 97–99 (1968)] V. 7). 122 Nach der Stilisierung kann der Stein ohne Probleme über den bestatteten Lehrer Magnus in dritter Person als ὁμεύνoυ der Ionis sprechen. Das Epigramm wurde in SGO mißverstanden. Hier

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Verstorbenen und der Ionis gemeint sein kann, werden am Ende die als φίλοι angesprochenen Passanten ermahnt, sie mögen sich, auch wenn er im Totenreich ist, bewußt machen, daß Magnus „als erster“ (πρῶτος) ihre Söhne Bildung (λόγων) habe kosten lassen (V. 7f.):

ἀλλά, φίλοι, | μνήσασθε | καὶ ἐν φθιμέ|ν[οι]σι γεραιοῦ, | πρῶτος ὃς ὑμε|τέρους υἷας | ‹ἐ›γεῦσε123 λόγων. Bemerkenswert ist, daß Mutter und Sohn den verstorbenen Familienangehörigen ganz in seiner Funktion als Repräsentanten der Bildung darstellen und persönliche Trauer oder familiäre Bindungen kaum eine Rolle spielen. Die Stilisierung, wonach der Stein als dem Verstorbenen gleichsam ebenbürtiger Sprecher der Würdigung inszeniert wird, schafft zusätzlich den Effekt einer Objektivierung der Lebensleistung des Magnus. Wahrscheinlich waren die Ehegattin und vor allem der namentlich als Beteiligter erwähnte Sohn, welcher wohl in die Fußstapfen seines Vaters treten sollte und sicherlich bereits von dessen Unterricht profitiert hatte, die Dichter des Epigramms, das in formelhaftem Auftakt124 durch ein Spiel mit dem Eigennamen Magnus anhebt (V. 1 τὸν μέγαν ἐν Μούσαισι, vgl. V. 4 θαῦμα μέγα … θαῦμα μέγα; vgl. Hom. Ν 99 u. ö.

|| wird V. 5f. unter Außerachtlassung der Ich-Rede des Steines und des griechischen Textes übersetzt: „die ihn [!] in dem Grabmal ihres Gatten beigesetzt [!] hat mit dem jungen Metrobios.“ So hätte Ionis nach dem Verständnis von Merkelbach/Stauber ebd. 92 „in dem Grabmal, welches sie für sich und ihren Gatten hat aufstellen lassen, auch den Schulmeister Magnus bestatten lassen“. Und weiter irrtümlich heißt es: „Ob Metrobios Sohn der Ionis und ihres Gatten oder des Magnus war, ist nicht klar ersichtlich.“ Das ergibt keinen Sinn; denn demnach hätte Ionis ihren eigenen Gatten in der Grabinschrift nur mit einer beiläufigen Erwähnung bedacht und noch nicht einmal dessen Namen genannt; statt dessen hätte sie sich ausschließlich dem Verdienst des Lehrers Magnus gewidmet, zu dem sie damit ein innigeres Verhältnis als zu ihrem früher verstorbenen Mann bekunden würde. Das in SGO fehlinterpretierte fragmentarische Paar-Relief zeigt den Gatten standesgemäß mit Buchrolle; vgl. zur richtigen Gesamtdeutung schon Pfuhl/Möbius II (1979) Nr. 1310. 123 So nach Peek GVI 1182 (GG 358). Hier ist sicherlich nur dem Steinmetz in dem sonst metrisch einwandfreien Gedicht ein Fehler unterlaufen. 124 Vgl. für den auf Ehreninschriften zurückgehenden Gedichtbeginn τὸν μέγαν ἐν Kaibel praef. 856a (IG IX 2, 59; Hypata, hellenistisch); SGO 05/01/11 (APl XVI 42; Smyrna, vielleicht 6. Jh. n. Chr.); SGO 23/15 = 16/34/39 (Dorylaion, wohl 3. Jh. n. Chr.); 19/13/04 (Tarsos, 4. Jh. n. Chr.); das prominente, wahrscheinlich im Hellenismus entstandene Epigramm, das seiner Fiktion nach eine Peisistratos-Statue in Athen zierte, AP XI 442 (FGE 1182–7; vgl. Skiadas [1965] 164–172) V. 3 τὸν μέγαν ἐν βουλῇ.

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μέγα θαῦμα) und der Begeisterung für Homer Rechnung trägt. Wie die im „klugen Stein“ (V. 3 σοφὴ λίθος)125 repräsentierte Stimme der beiden Angehörigen belegen soll, war also der Unterricht des Homerspezialisten sichtbar erfolgreich gewesen. Von daher erscheint die Hervorhebung, Magnus habe „als erster“ (πρῶτος) die Söhne der Stadt mit „Worten“ vertraut gemacht, nicht als reine Übertreibung, sondern kann unterstreichen, daß er als Lehrer über den normalen Schreibunterricht hinaus mit seiner hervorragenden Homerkenntnis das Ausbildungsniveau in Miletopolis auf eine neue, bislang ungekannte Stufe gehoben hatte. Die Nennung des Sohnes als Mitinitiator des Grabes und die ungewöhnliche Stilisierung des Gedichtes mögen das Monument als verdeckte, vielleicht erst mittelfristig wirksame Werbemaßnahme im Hinblick auf das Talent des Metrobios als Nachfolger seines Vaters verstehen lassen. Auf einem in Phrygien gefundenen großen Grabstein mit vier über mehrere Jahrzehnte fortlaufenden daktylisch metrisierten Inschriften zeichnet sich eine etwas anders geartete Familiengeschichte ab, die vom Grab eines Aur. Trophimos ihren Ausgang nimmt (SGO 16/31/93). Das Familienoberhaupt war Anfang des 4. Jh. n. Chr. im ländlichen Gebiet um Appia und Soa wohl als ein „offizieller Lehrer“ tätig, wie sich V. 1 διδάσκαλ̣[ον] | ἔν(ν)ομον126 verstehen ließe. Gleichwohl dürfte sein Renommée als „Lehrer der Weisheit“ (A V. 3 τὸν σοφίης … διδάσκαλ̣[ον]; vgl. V. 16) auf Spezialkenntnisse in rationaler Astronomie, die astrologische Seelentheorien ablehnte, zurückgegangen sein, wie das ihm gewidmete erste Epigramm mit seinen kosmischen Betrachtungen vermuten läßt (vgl. V. 6-9). Schon eine Generation später ist für die bildungsbeflissene Familie eine Hinwendung zum novatianischen Christentum festzustellen, wenn der Zieh- und Schwiegersohn des Trophimos seine Tochter Ammia, die Enkelin des Lehrers, kurz vor ihrem viel zu frühen Tod taufen ließ und als heilige Jungfrau Christi betrauert (Gedicht D V. 15–22). Ein ländlicher Schulmeister (*17/06/08 V. 1 γραμματικῶν | ἐπέων ὁ διδάσκαλος) mit dem vielversprechenden Namen Aristophanes, dessen literarische

|| 125 Christian (2015) 298f. deutet den Ausdruck in Anknüpfung an das literarische Motiv der Übereinstimmung von Bildnis und Dargestelltem als Entsprechung zum verstorbenen Magnus. 126 Die von Brixhe im BE 2002, 342 vorgeschlagene und von Merkelbach SGO 5 (2004) 11f. übernommene Lesung von Z. 4/5 διδάσκαλ[ον | κ]ὲ νόμον (= νόμων) ist aufgrund der Abbildung in JRS 17, 1927, pl. V c epigraphisch nicht möglich; Epsilon steht am Zeilenanfang. In der ersten Version übersetzte Merkelbach σοφίης (…) διδάσκαλ̣[ον] | ἔνομον „den Lehrer der Weisheit, den gesetzestreuen (?)“.

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Fähigkeiten sich bis auf die Aufführung Menanders und tragischer Partien erstreckten, begegnet in einem neuen Epigramm (unten S. 322ff.), an dessen angeblicher Herkunft aus Oinoanda man zu zweifeln geneigt ist. Das in den nordlykischen Bergen gelegene Oinoanda stellt aufgrund mehrerer außergewöhnlicher Stiftungen, vor allem der einzigartigen Monumentalinschrift des Epikureers Diogenes,127 ein hervorragendes Beispiel für die Wechselwirkungen von Reichtum und Bildung in einer politisch relativ unbedeutenden griechischen Landstadt der Kaiserzeit dar. Dort hatte auch ein griechischer Mäzen mit römischem Bürgerrecht, Iulius Lucius Pilius Euarestos, Kapital für einen alle vier Jahre stattfindenden zunächst sportlichen, später zusätzlich musischen Agon zur Verfügung gestellt.128 Das Bemerkenswerte daran ist nicht nur, daß dieser reiche Bürger nach Aussage einer ihm zu Ehren gesetzten Inschrift (Hall/Milner [1994] Nr. 10) als erster seiner Stadt einen mit Statuen, Geldpreisen, Festgeldverteilungen dotierten Agon für ganz Lykien gestiftet hat,129 sondern auch, daß er unter der Berufsbezeichnung γραμματικός (ἀλειτούργητος)130 in Erscheinung tritt. Der Zyklos des nach ihm benannten Festes der Euaresteia erfuhr nach den epigraphischen Zeugnissen einen doppelten Einschnitt, als diese zum fünften Mal stattfanden (238 n. Chr.). Denn wie zwei Ehreninschriften für Euarestos zeigen, die – dem Anspruch des Literaten gemäß – mit Versinschriften versehen sind, wollte Pilius Euarestos, der „Festspielleiter auf Lebenszeit“, in jenem Jahr seine Spiele um einen musischen Agon ergänzen. Ob jemals der geplante thymelische Wettkampf stattfand, ist zweifelhaft, denn der Stifter muß bald nach der Neuordnung der Spiele, vielleicht noch vor der Beendigung der fünften Panegyris, gestorben sein.131 Vier Jahre später ist bereits ein Lucius Crepereius

|| 127 Vgl. zum aktuellen Stand der Forschung Hammerstaedt/Smith (2014). 128 Vgl. Hall/Milner (1994) 8–30. Weitere unveröffentlichte Zeugnisse zu L. Pilius Euarestos sind YÇ 1206 aus Oinoanda (vgl. Anm. 130 und 131) und ein nach den ungewissen Fundbüchern der Sammlung Kocagil (Fethiye) aus Arsada stammender Weihaltar für Zeus Soter, der sich in besagter Kollektion befindet (Ω 154): Διῒ Σωτῆρι | καὶ Ποσει-| Βlatt δῶνι Blatt | Λούκιoς Πε[ί]|λιος

Εὐάρεσ|τος. 129 Hall/Milner Nr. 10, 6–13 πρῶτον τῶν ἐν | τῇ πατρίδι συνστησάμενον | ἀγῶνα κοινὸν Λυκίων θέμι|δος πενταετηρικῆς ἔκ τε ἀν|δριάντων καὶ θεμάτων, ποιη|σάμενον δὲ καὶ ἐπιδόσεις | χρημάτων εἴς τε νομὰς καὶ | τέρψεις πανηγυρικάς. 130 Vgl. Hall/Milner Νr. 10, 2f. γραμματικὸν ἀλει|[τ]ούργητον; 14, 4 γραμματικοῦ ἀλιτουργήτου; 15, 3f. γραμ[μα|τικοῦ ἀλειτο]υργήτ[ο]υ; 18 (a), 2f. γραμματικὸν ἀ|λιτούργητον; und YÇ 1206 (unveröffentlicht), 3f. [γραμμα]|τι[κ]οῦ ἀλειτουργήvτο[υ]. Zur Befreiung der γραμματικοί von Liturgien vgl. Hall/Milner (1994) 26; Pleket in SEG 44, 1174; oben S. 36 mit Anm. 104f. 131 Eine unveröffentlichte Inschrift auf einer für die Euaresteia vorgesehenen Ehrenbasis (YÇ 1206), die in der Nähe der Agora gefunden wurde, bricht mitten in dem auf Euarestos ausge-

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Fronto Agonothet in der sechsten Panegyris (242 n. Chr.) der von Euarestos ins Leben gerufenen Spiele (Hall/Milner Nr. 8f.), deren musischer Teil auch für dieses Jahr anhand der Siegerinschriften nicht nachweisbar ist.132 Dennoch ist es interessant zu sehen, wie Euarestos im Jahre 238 die Einführung des musischen Agons in einem langen Epigramm, welches er wahrscheinlich allein oder in Verbindung mit seinem Schwager Fronto (einem Pankrationsieger desselben Jahres oder seinem gerade erwähnten Nachfolger133) verfaßt hatte, mit Blick auf seine Tätigkeit als γραμματικός begründet und publik machte. Das ungewöhnliche Gedicht von 22 Versen ist angebracht unterhalb des von Euarestos selbst initiierten Ehrendekretes auf einer Basis, die ursprünglich seine Statue trug und für jedermann sichtbar am Südost-Eingang zur Agora stand, wo sich der Stein heute noch in situ befindet (Ηall/Milner Nr. 18; 18 (b) = SGO 17/06/02). Die zusätzliche Stiftung des musischen Agons wird dort stilisiert als eine aufgrund des eigenen Lebens im Dienste der Musen gebotene Verpflichtung, die vom Musengott selbst aufgetragen worden sei, um dem Kampffest des Herakles Glanz zu verleihen (V. 3–8):

[ἀ]λλὰ τὸν ἐγ Μουσῶν σφέτερον βίον ἀθρύσα͙ντ[α] [ἐ]χρῆν καὶ Μούσαις δῶρα πορεῖν ἰδίαις· τοὔνεκα δὴ πέμπτην τηνδεὶ θέμιν αὐτὸς ἀνύσας καὶ θυμέλαις ἀέθλους μουσοχαρεῖς ἐθέμην,

(Stein: O)

|| stellten Präskript in der Nennung der Panegyris ab, was zu dem Gedanken verführt, daß Euarestos starb, bevor alle Sieger der fünften Panegyris ermittelt waren bzw. deren Ehrung (finanziell) geregelt war. 132 Vgl. die fragmentarische Ehrung Hall/Milner Nr. 8, die (ähnlich der zuvor genannten unveröffentlichten Inschrift) innerhalb des auf Lucius Crepereius Fronto für den sechsten gymnischen Wettkampf ausgestellten Präskriptes bei der Nennung der thymelischen Zählung nicht mehr weiter ausgeführt wurde (Z. 5f. πανηγύρεως γυμνι|κῆς Ϝ⸍ ΘΥΜ vac.), weil es dazu wohl keine Veranlassung mehr gab. 133 Für den ersteren namens Publius Sthenius Fronto spricht, daß dessen Denkmal (Hall/Milner Nr. 1) anläßlich des Sieges in der fünften Panegyris direkt neben dem programmatischen Epigramm stand (so Hall/Milner). Für den Nachfolger Lucius Crepereius Fronto (vgl. Nr. 8f.) kann geltend gemacht werden, daß er durch die Beteiligung an dem Epigramm sein Interesse an dem von ihm in Zukunft durchzuführenden musischen Agon dokumentiert und begründet hätte, was logischer erscheint. Die Anbringung des Epigramms mit seiner Legitimation (V. 7 Apollonorakel) und Aufforderung zur Einrichtung (V. 9f. εὔχομαι … τάσδε τελεῖν συνόδους) der musischen Agone auf der Ehrenbasis könnte sogar erst einige Zeit nach der durchgeführten fünften Panegyris (V. 5 ἀνύσας) beim Ableben des Euarestos erfolgt sein. Damit wäre dann das Epigramm die dichterische Umformung des von Euarestos in erster Person vorgetragenen Testamentes durch dessen Nachfolger in der Agonothesie.

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Λητοΐδου Φοίβου δὲ ταγαῖς ἱεραῖσι πιθήσας Ἀλκεΐδῃ σθεναρῷ Μοῦσαν ἐπηγλάϊσα. In seiner elegisch gedichteten Rede möchte Pilius Euarestos dem Publikum im weiteren suggerieren, er sei der einzige Mensch, der nicht erst nach seinem Tode, sondern während er noch lebte, Wettkampfpreise gestiftet habe (V. 17–19). Um dies als Übertreibung zu entlarven, mußte man in Oinoanda nur an die Festspiele denken, die ein reicher Bürger namens Demosthenes zu Lebzeiten 124 n. Chr. durch eine Stiftung eingerichtet hatte (vgl. ed. Wörrle [1988] 6 Z. 21f. zu den Wettkampfpreisen)134 und die noch über die Zeit der Euaresteia (222 n. Chr. – 242 n. Chr.) hinweg bis 260 n. Chr. durchgeführt wurden. Genauso darf man denn wohl auch die Formulierung, wonach Euarestos „seinen Lebensunterhalt aufgrund der Musen zusammengebracht hat“ (siehe oben V. 3),135 als überzogene Idealisierung auffassen. Denn es ist nicht vorstellbar, daß er allein aufgrund seiner Tätigkeit in Oinoanda als γραμματικός, wie auch immer man den Begriff fassen möchte, ein so großes Kapital hätte anhäufen können, um panlykische Festspiele besagten Formates zu unterhalten. Vielmehr wird seine Stiftung aus ererbtem Vermögen hervorgegangen sein. Insofern bleibt überhaupt äußerst rätselhaft, was den Mann in die Existenz eines γραμματικός trieb oder warum er sich über diesen Beruf identifizierte. Festzuhalten ist, daß Euarestos’ Selbstdarstellung in dem erwähnten Gedicht einen elitären Anspruch bezeugt, der die literarische Bildung über alles stellt. Seiner Meinung nach adelt erst das Bemühen um die Musen sein finanzielles Engagement zugunsten der πόλις. Mit dieser Haltung verweist Pilius Euarestos denn auch – in singulärer Weise – selbstbewußt immer wieder auf seinen Beruf als γραμματικός. Die zweite, wahrscheinlich postume öffentliche Ehrung des Festspielstifters schließt mit einem ausgefeilten Distichon, das dem Geehrten wahrlich gerecht wird. Hier ist das epische κλέος ἄφθιτον-Motiv durch eine feinsinnige Verzahnung berühmter Stellen aus Ilias und des Theognis ausgestaltet (SGO 17/06/04 [Hall/Milner Nr. 10 Z. 15–18]):

|| 134 Iulius Euarestos hätte, wenigstens im Umfeld von Oinoanda, immerhin behaupten können, daß er als erster zu Lebzeiten bronzene Statuen als Kampfpreise, die er in dem Gedicht auch besonders hervorhebt, gestiftet habe; das läßt sich aber dem Text nicht eindeutig entnehmen. 135 So nach der Edition. Die Wiener Scheden (hier 119) führen zur Lesung ἀθρυσθ̣έ̣ντ[α], wodurch der Satz gedeutet werden müßte: „Es sollte aber das eigene Leben, welches aus den Musen Bereicherung erfahren hat, auch den eigenen Musen Geschenke bringen.“

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Ὣς σὺ μὲν οὐδὲ θανὼν136 ἀπο|λεῖς κλέος, ἀλλὰ μέγ᾿ οἴσεις ἄ|φθιτον ἀνθρώποις αἰὲν ἔχων | vac. ὄνομα137 vac. In diese literarische Stimmung Oinoandas paßt ein 2008 entdecktes Stiftungsepigramm (*17/06/06), in welchem ein Αchtzigjähriger als Dank für ein zugleich unbescholtenes (V. 4 [ἀ]μ̣ωμ̣ήτῳ (…) | ἐν ἠρεμίῃ) und zu jeder Stunde von Lebensfreuden wie Festmahl und Gymnasienbesuch (V. 5 δαίτης καὶ | λιπαρῶν (…) | γυμνασίων) geprägtes Leben eine Nemesisfigur mit einer Sonnenuhr geweiht hat. Der beschriftete, altarförmige Block, der wahrscheinlich ursprünglich die beiden genannten Objekte trug, wurde östlich der Esplanade, der hellenistischfrührömischen Agora, gefunden; dort hatte man schon zuvor den Ort des Gymnasiums, in welchem die außergewöhnliche sportlich-kulturelle Bildung Oinoandas unter anderem durch Grammatiker wie Euarestos ihr Zentrum gehabt haben dürfte, vermutet.138 b Bildungskarrieren von Literaten und Politikern Am Beispiel des Iulius Euarestos aus Oinoanda zeigt sich, daß politischer Erfolg und gesellschaftliches Ansehen in Analogie zum Grad an literarischer Qualifikation standen. Für ein öffentliches Wirken bzw. für die Bekleidung eines Amtes in der eigenen Heimatstadt oder darüber hinaus war eine solide Ausbildung, oft außerhalb der eigenen Herkunftsgrenzen, condicio sine qua non. Je höher man die Ziele für sich oder seine Kinder steckte, desto bereitwilliger mußte man sich auf den Ortswechsel in die Bildungsmetropolen einstellen. Derartige Karrieren werden in den Grabgedichten mit Vorliebe berichtet, wenn der Verstorbene sich zu Bildungszwecken an einen berühmteren Ort begeben hatte. In den iambischen Trimetern eines neuen Gedichtes aus Nikomedeia (*09/06/22) erfährt man beispielsweise vom frühen Tod eines 20jährigen Basilikos, der gemeinsam mit seinem leiblichen Bruder Theodotos in Athen zu Studienzwecken weilte (V. 3–4 καὶ συνπαρῆν γάρ, ὢν ἀδελφὸς γνήσιος, |/ παιδεύμασιν σοφοῖσιν Ἀττικῆς γύης), die Heimaterde aber nicht lebend wiedersah.139

|| 136 Vgl. Agamemnon zu Achill in der zweiten Nekyia (ω 93f.): ὣς σὺ μὲν οὐδὲ θανὼν ὄνομ’ ὤλεσας, ἀλλά τοι αἰεὶ / πάντας ἐπ’ ἀνθρώπους κλέος ἔσσεται ἐσθλόν, Ἀχιλλεῦ. 137 Vgl. Theognis an seinen Kyrnos (V. 245f.): οὐδέποτ’ οὐδὲ θανὼν ἀπολεῖς κλέος, ἀλλὰ μελήσεις / ἄφθιτον ἀνθρώποισ’ αἰὲν ἔχων ὄνομα. Der Dichter aus Oinoanda erfindet also nur μέγ᾿ οἴσεις selbst und ruiniert dadurch die ursprüngliche Formulierung. 138 Vgl. Hall/Milner (1994) 44; archäologisch ist noch kein Gymnasium nachgewiesen. 139 Ob der laut einem neuen Gedicht aus Attaleia (*04/06/04) „in der Fremde“ (V. 4 ἐπὶ ξενίης) verstorbene 13jährige Attikos, dessen Leichnam von älteren Gefährten (V. 5 ἄνδρες ἑταῖροι) in

b Bildungskarrieren von Literaten und Politikern | 49

Aus anderem Blickwinkel lernt man in einer athenischen Inschrift (GVI 1630; 2./3. Jh. n. Chr.) den 18jährigen Jüngling Hermogenes aus Prusa in Bithynien kennen, der wahrscheinlich während seines Studiums in der Bildungsmetropole ums Leben kam. Ein in Nikaia gebürtiger Basileus verließ in jungen Jahren seine Heimat und lehrte im 2./3. Jh. n. Chr. in Rom, wo er dann verstarb, Rechnen und Geometrie (IGUR 1176 V. 3 Ῥώμῃ δ᾿ ἐν ζαθέῃ ψήφο[υς] | καὶ μέτρα διδάξα[ς]).140 Nach einem Grabmal in Ephesos (SGO 03/02/61) war im 3. Jh. n. Chr. ein am Rhein geborener Lucius Calpurnius Calpurnianus, dessen Vater aus Prusias am Hypios stammte, nach fünfjähriger Lernzeit und vielleicht schon erster Lehrtätigkeit (V. 3f. ἔτη δ᾿ ἐπὶ πέντε λόγοισιν |/ (ε)ἰν Ἐφέσωι σχολάσας) in Ephesos auf dem besten Weg, eine Bildungskarriere zu starten, als er dort im Alter von 20 Jahren starb. Weiter gebracht hatte es nach einem Epigramm aus Byzanz (Kaibel 534; GVI 1479; GG 342; IK 58 Byzantion Nr. 120; Santin [2009] Nr. 14) ein 36jährig verstorbener Theodoros, der aus Bithynion stammte (V. 3 πάτρη σοι γένεος Βιθύνιον; südöstlich von Herakleia am Pontos). Die mit seinem Bildungsweg verknüpften Lebensstationen waren Athen, wo er sich einen großen Namen in der Grammatik erwarb (V. 4 γραμματικῆς τέχνης οὔνομ᾿ ἔδεξο μέγα), sowie Byzanz, wo er Ruhm errang (V. 5 κλέος ἤραο) und nach einem von den Musen gezierten Leben (V. 1 μούσῃσιν ἐνιπρέψας) von einem Freund namens Lucullus, der das Dichten offenbar beherrschte, eine letzte Würdigung erfährt. Rätselhaft ist das Schicksal eines Priesters des klarischen Apollonorakels namens Gorgos, der aus dem nahegelegenen Notion kam, aber laut seinem dortigen Kenotaph (SGO 03/05/02; FGrHist 17 T 1, Paola Ceccarelli in Brill’s New Jacoby; 1. Jh. v. Chr.) in Athen (V. 5 Κεκροπίς … κόνις) verstarb. Möglicherweise war er dorthin offiziell von der Heimatstadt entsandt worden, weil er zu deren Vorteil in politischen Auseinandersetzungen aufgrund seiner bis in mythologische Dichtung reichenden Studien historische Argumente vorzubringen wußte,141 wie der Anfang des Epigramms andeutet (V. 1f.):

τὸν πάσης πολύβυβλον ἀφ’ ἱστορίης μελεδωνὸν | πρέσβυν ἀοιδοπόλων δρεψάμενον σελίδα.

|| die Heimat überführt wurde, zu Schulzwecken außer Haus weilte (so P. Hamon, BE 2011, Nr. 518), ist fraglich. 140 Vgl. auch in IGUR 1274 (2. Jh. n. Chr.) den aus Asien stammenden (V. 5 ἐξ Ἀσίας ἐλθών), als Unterhaltungskünstler offenbar in Rom ‚hängengebliebenen‘ Menophilos, der dort infolge seines ausschweifenden Lebens (V. 1f. εὐφρανθεὶς συνεχῶς, γελάσας παίξας τε τρυφήσας, |/ καὶ ψυχὴν ἱλαρῶς πάντων τέρψας ἐν ἀοιδαῖς) in jungen Jahren stirbt. 141 Vgl. Marek (2010) 585–589 zur Bedeutung der Lokalhistorie in der antiken Diplomatie.

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Seiner Heimat kehrte auch ein junger Mann namens Konon aus der Landgemeinde Kolybrassos (SGO 18/18/01; 3./4. Jh. n. Chr.) im östlichen Pamphylien/Isaurien den Rücken, um in der berühmten Bildungsmetropole Berytos römisches Recht, freilich im Zusammenhang mit der lateinischen Sprache, zu studieren (V. 2 Ῥωμαϊκῆς μούσης εἵνεκα καὶ νομίμων)142 und bis zu seinem frühen Tod nach einigen Zwischenstationen im ägyptischen Theben als Assessor beim Präses der Thebais Κarriere zu machen. Trotz aller Trauer verkündet der Vater Troilos auf dem Grabstein für den in die Vaterstadt zurückgeholten Leichnam stolz den Bildungsweg seines Sohnes, der ein in lateinischer Literatur bewanderter Musenfreund gewesen sei (V. 20 Mούσηισι μεμηλώς). Als einer der berühmtesten, wenngleich für die späteste Zeit belegbaren Fälle einer solchen Aufstiegskarriere in Kleinasien darf der Historiker und Epigrammdichter Agathias (ca. 536–581 n. Chr.) gelten. Der Sohn eines Rhetors aus der kleinen Stadt Myrina in der Aiolis ging zum Studium nach Alexandria und Konstantinopel und brachte es dort zum anerkannten juristischen Gelehrten (σχολαστικός). In einem in der Anthologia Planudea (XVI 316 = SGO 05/04/01) unter dem Namen des Grammatikers Michaelios überlieferten Gedicht zeigt sich der Stolz seiner Vaterstadt, die ihren berühmtesten Sohn als „Redner und Versesänger für den geordneten Wohlklang seiner doppelten Versiertheit in Literatur“ (V. 1f. τὸν ῥήτορα, τὸν στιχαοιδόν, / δίζυγος εὐεπίης ῥυθμὸν ἀγασσομένη) ehrte. Die Vers-Inschriften, die über solche Bildungswege Auskunft geben, lassen sich ergänzen durch Zeugnisse über bereits arrivierte Persönlichkeiten, deren literarische Bildung eng mit ihrem Erfolg in einer öffentlichen Tätigkeit etwa als Politiker in Verbindung steht. In Prusa ad Olympum (SGO 09/04/08) ist in das Schriftfeld einer sehr aufwendig verzierten Giebelstele aus Marmor vielleicht nachträglich in relativ schmuckloser Schrift des 3./4. Jh. eine Danksagung in zwei iambischen Trimetern an einen Cornutus eingefügt, dessen Beschreibung den Eindruck erweckt, er sei überregional bekannt gewesen.143 Der Dedikant Firmus nennt ihn „Heger der

|| 142 Wie es auch der ungleich berühmtere Gregorios Thaumaturgus im 3. Jh. n. Chr. getan hat; Greg. Thaumat. in Orig. or. paneg. 5 (239 n. Chr.). Vgl. Eck (2000) und Marek (2010) 582f. zur Bedeutung des Lateinischen im Osten für römische Ämter; Nesselrath (2013) bes. 302–306 zum Lateinischen in der griechischen Bildung, doch ohne Berücksichtigung der Inschriften. – Z. B. SGO 04/05/08 (CLE 432; Thyateira), lateinisches Gedicht für einen „römischen Lehrer“ (Z. 5f. γραμματικῷ | Ῥωμαϊκῷ) Valerius. 143 Vgl. S. 53 mit Anm. 155 zum gleichnamigen Beamten, der für die Ehrung des Nestor in Kyzikos (SGO 08/01/07) verantwortlich zeichnet.

b Bildungskarrieren von Literaten und Politikern | 51

Musen und Schmücker der Reden“ (V. 1 θρεπτῆρα | Μουσῶν | καὶ λόγων | κοσμήτορα144), was auf einen Dichter und Rhetor schließen läßt, während die römischen Namen an einen Lehrer lateinischer Sprache denken lassen. Ob die Hervorhebung der rhetorischen Fähigkeit auf politisches Wirken hinweist, bleibt unsicher. Die Verbindung zwischen literarischer Gelehrsamkeit und öffentlichem Engagement kommt in einem neuen Grabepigramm aus Nikomedeia aufs Klarste zum Ausdruck (*09/06/23). Innerhalb der Stilisierung der Inschrift durch verschiedene Sprecherrollen stellen gleich zu Anfang die Kinder Kyron und Meadis ihren verstorbenen Vater, den „großen Heros Kyrion“ (μέγας ἥ͜ρως Κυρίων), wie er am Ende genannt wird, in aller Ausführlichkeit mit seinen literarischen Interessen vor (V. 3–5 [Versuch eines Distichons]):

Ἡσιόδου ζηλωτὰ κὲ Ἀρχιλόχου ὀρεκτά, τῆς τε Μενανδρίου πλήσιον | ⸌εὐ⸍επίης κὲ Ξενοφοντίου. Neben dem Eifer für Hesiod, Menander und Xenophon erscheint Kyrions Begeisterung für Archilochos etwas höchst Exquisites. Die Würdigung nennt aber nicht nur die großen Namen, sondern die Nähe Kyrions zur Literatur wird auch glaubwürdig untermauert durch ein Zitat aus einem Epigramm, das als angebliches Grabgedicht für Hesiod bekannt ist (vgl. Kassel [2014]; Aristot. fr. 565 Rose; FGE 582–3; dazu unten S. 97). Der geübte Umgang mit gewählten Texten ist dadurch für Kyrion indirekt bezeugt. Der hohe Literat wird dem Leser zum Abschluß als langjähriger Ratsherr seiner Heimatstadt vor Augen gestellt (*09/06/23 Z. 9f.): βουλεύσας τε μη|τ͙ροπόλ(ε)ι Νικομηδ‹εί›ᾳ ἔτη σεράκοντα. Es paßte gut ins Bild, wenn dieser Kyrion, ähnlich wie Iulius Euarestos in Oinoanda ungefähr ein bis zwei Jahrhunderte früher, einer Lehrtätigkeit in seiner Stadt nachgegangen wäre, doch die Inschrift schweigt darüber. Welchen Grad das Bildungsniveau in einer abgelegenen Kleinstadt durch individuelle Leistungen erreichen konnte, macht auch eine Ehreninschrift aus dem 2. Jh. n. Chr. auf einen Angehörigen der Oberschicht namens Chrysippos aus dem pisidischen Kremna deutlich (SGO 18/07/01).145 Das auf einer altarförmigen Basis eingeschriebene Gedicht stellt bislang die einzige metrische Inschrift dieser Ortschaft dar, sieht man von einem der in dieser Region typischen Würfelorakel

|| 144 Vgl. auch im Epigramm auf Homer AP VII 3 (unten S. 73) V. 2 ἀνδρῶν ἡρώων κοσμήτορα, θεῖον Ὅμηρον. 145 Vgl. Horsley (1999) 20f.

52 | II Alltagsweltliche Voraussetzungen

ab.146 Ohne den glücklichen Zufallsfund bliebe uns die kulturell-literarische Prägung dieser ländlichen Kleinstadt gänzlich verschlossen. Die fehlerlosen Distichen waren einer vergoldeten Bronzestatue beigegeben, die der Geehrte laut der Prosaeinleitung auf Antrag seines Klienten von der Stadt für seine überragenden Leistungen zugunsten der Allgemeinheit zugesprochen bekommen hatte. Ganz offenbar gehörte Chrysippos, der sich in einer seiner Statue in den Mund gelegten Rede vorstellt, zur wohlhabenden Führungsschicht von Kremna, wenn er nicht nur einen Artemistempel gespendet hatte (V. 3f.), sondern auch in seiner freien Zeit wie der Sänger Phemios in der Odyssee als „Autodidakt“ von der Muse inspiriert wurde (V. 5f. ὃν Πιερὶς αὐτοδίδακτον |/ θῆκ(ε); vgl. χ 347 αὐτοδίδακτος δ᾿ εἰμί147). Sogar von Apollon selbst wurde er – wahrscheinlich durch einen privat eingeholten Orakelspruch – als Dichter bestätigt. Auch in diesem Fall darf man der Stilisierung nicht blind vertrauen; sicher war der angebliche Autodidakt in seiner Jugend von seiner Familie, die ihm schon bei der Geburt als Omen den Namen des berühmten Stoikers zugelegt hatte, in eine Metropole wie z. B. Kibyra zum anspruchsvollen Literaturunterricht geschickt worden. Seinem stoischen Namenspatron machte Chrysippos, was seine literarische Produktivität angeht, alle Ehre, denn er schrieb Moralphilosophisches (V. 7f.), dichtete Hymnen auf Artemis wie zuvor kein anderer (V. 9) und ließ in Büchern seiner Heimatstadt unermeßlichen Ruhm angedeihen (V. 10).148 Es liegt auf der Hand, daß Chrysippos dieses Gedicht für die eigene städtische Ehrung nach seinem Willen (V. 2 Xρυσίππου … ἕκατι) verfertigt hatte.149 Der Gelehrte aus Kremna hat es ebensowenig wie der epikureische Philosoph Diogenes und der Literaturliebhaber Iulius Euarestos aus Oinoanda zu einer überregionalen Bedeutung gebracht. Daß wir diese, das kulturelle Leben ihrer Heimatstädte prägenden, Persönlichkeiten überhaupt kennen, ist allein den glücklichen epigraphischen Fundumständen zu verdanken.

|| 146 Vgl. Nollé (2007) 68–77. 147 Auch der siegreiche Dichter Ortyx aus Parion spricht in seinem kaiserzeitlichen Ehrenepigramm von sich als σοφὸς αὐτο|δίδακτος (SGO 07/08/01 V. 1); vgl. auch Garulli (2012) 315–319. – Zum richtigen Verständnis des Wortes („ohne eigenes Zutun inspiriert“) an der homerischen Vorbildstelle vgl. Rösler (2014). 148 Es bleibt unklar, ob mit den erwähnten Büchern die zuvor in einer Partizipialkonstruktion (ἀείσας) genannten Hymnen auf Artemis gemeint sind (so Horsley, anders Merkelbach). Auch der Konnektorgebrauch in V. 9 (Ἄρτεμιν ἀείσας θ᾿ – wahrscheinlich als Anbindung des Satzes gedacht [so Horsley]) zeigt ein dichterisches Unvermögen. 149 Horsley (1999) 20f. hält das Monument für eine Ehrung, die der Klient postum nach den Anweisungen seines Patrons ausgeführt habe.

b Bildungskarrieren von Literaten und Politikern | 53

Dafür, daß eine aus literarischen Quellen bekannte berühmtere Dichterpersönlichkeit durch epigraphische Zeugnisse schärfere Konturen gewinnen kann, ist Lucius Septimius Nestor aus Laranda, einer kleinen, aber offenbar bildungsbeflissenen Stadt in Lykaonien, ein Musterbeispiel. Wie später sein Sohn Peisandros150 aus demselben Ort, brachte es dieser Poet vor allem wohl durch seine manierierte Kunstform der Lipo-Poetik (Auslassung einzelner Buchstaben) zu einiger Berühmtheit, wie ein Suda-Artikel über ihn, seine Erwähnung bei späteren Autoren (Menander Rhetor, Stephanos von Byzanz, Geoponika) und vier ihm zugeschriebene Gedichte aus der Anthologia Graeca, bei denen es sich wahrscheinlich um Abschnitte aus größeren Werken handelt, zeigen.151 Auf Steinen begegnet Nestor, der als Mann des Wortes seinem mythischen Namenspatron aus der Ilias nachstrebte,152 in weiter geographischer Streuung in Ephesos als Geehrter, in zwei privaten Ehrungen aus Paphos,153 in Ostia als Empfänger von Orakeln und in Rom als Autor (Ma [2007] 96f. Νέστορος … νέ[ου] „neuer Nestor“154). In Kyzikos erhielt Nestor anläßlich einer städtischen Ehrung auf Initiative des Oberbeamten Cornutus155 ein Standbild (SGO 08/01/07 ἴκονα) im Heiligtum der Kore. Das beigegebene Epigramm rühmt ihn als ἀοιδός für seine Sangeskunst und Lebensführung (V. 2 μολπῆς εἵνεκα καὶ βιότου) und sieht in poetischer Ausführung der Hortativformel eines Ehrendekretes den Sinn der Ehrung im erzieherischen Anreiz der Stadtjugend zu Gastfreundschaft und Weisheitsstreben (V. 5f.):

ὄφρα καὶ ὀψίγονο͙ί περ ἐν ἄστεϊ παῖδες ἔχοιεν (Stein: Ω) σῆμα φιλοξενίας καὶ δέλεαρ σοφίης. Der Fall des Nestor zeigt, wie ein aus einer kleinen Gemeinde in Lykaonien stammender Literat seine Zeitgenossen durch genealogische Dichtung, die bis in die

|| 150 Vgl. zu diesem Heitsch I (1961) 44–47 S 6. 151 Vgl. ausführlich Ma (2007) mit sämtlichen Testimonien. – Zusätzlich zu den vielleicht aus den Metamorphosen stammenden Abschnitten AP IX 128 (ohne Zuschreibung), 129, 364, 536, 537 hat Stadtmüller in den Notizen zu AP IX 536 noch die Gedichte AP IX 529, 531, 534 Nestor zuschreiben wollen. 152 Zur Verbreitung des Namens Nestor in Kleinasien Ma (2007) 103 mit einer unnötigen Hypothese zur Ηerleitung aus dem epichorischen Namen Νένις. 153 Vgl. Hussein/Raffa (2016). 154 Vgl. auch in Anlehnung an die Ratgeber-Eigenschaft Nestors bei Homer (Η 325; Ι 94; ω 52 Νέστωρ, οὗ καὶ πρόσθεν ἀρίστη φαίνετο βουλή) im Orakel aus Ostia, Ma (2007) 94 Z. 6f. ἐρατ[ό]|φρονι βουλῆι und ebd. 96 Z. 3. 155 Für eine Identifizierung mit dem in SGO 09/04/08 (vgl. S. 50f.) geehrten Dichter und Rhetoriklehrer Cornutus spricht nur der Name; vgl. Ma (2007) 89–91.

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Lokalgeschichten reichte, beeindruckte und wie er schließlich mit seiner exklusiven Kunstfertigkeit als römischer Bürger (L. Septimius Nestor) reichsweit zu einer herausragenden Figur wurde,156 die die jüngere Generation zur Nachfolge anspornen konnte. Daß dem griechischen Osten eine prägende Rolle innerhalb der literarischen Bildungsgeschichte der Kaiserzeit zukam, läßt sich gerade an den epigraphischen Beispielen zeigen, in welchen Literaten aus Gegenden jenseits des griechischen Mutterlandes unter dem Ehrentitel „Neuer Homer“ als weit über ihre Heimat hinaus wirkende, mustergültige Repräsentanten griechischer Kultur faßbar sind. Schon in augusteischer Zeit wird in Athen ein aus Syrien stammender Wohltäter C. Iulius Nikanor mehrfach als „Neuer Homer“ und „Neuer Thukydides“ geehrt.157 Zu seiner Zeit berühmt war auch der aus verschiedenen Inschriften bekannte Publius Aelius Pompeianus Paion, der epische und hymnische Hofdichter und Festprediger (θεολόγος) des Kaisers Hadrian, welcher in einer Ehrung seiner Heimatstadt Side mit dem Titel „Neuer Homer“ bedacht wurde.158 Es ist nicht unwahrscheinlich, daß sich ein fragmentarisches Ehrenepigramm aus Ephesos auf ihn bezieht (so Merkelbach zu SGO 03/02/42; Zeugnisse); demnach hätte er neben Liedern noch Dramen gedichtet (V. 2 μέλεσ̣[ιν] καὶ δράμ[ασιν]). Ebenso war zu seiner Zeit der Arzt und Asklepiospriester Heraklitos aus Rhodiapolis weithin bekannt. Sein finanzielles Engagement bewies er als kostenlos behandelnder Mediziner und Stifter eines Tempels (vgl. TAM II Nr. 906) sowie von Statuen und Spielen zu Ehren des Asklepios und der Hygieia in seiner Heimatstadt. Darüber hinaus verschafften ihm seine medizinischen und philosophischen Schriften in Prosa und Poesie, die er verschiedenen Städten schenkte, das rhodische Bürgerrecht sowie öffentliche Ehrungen in Alexandria und Athen, wo er zudem von der epikureischen Gemeinschaft und der dionysischen Künstlervereinigung, wohl als eine Art Ehrenmitglied, unter dem Namen „Homer in medizinischen Schriften“ geführt wurde (TAM II Nr. 910; Samama 290, Z. 15f. ὃν ἀνέγραψαν ἰατρικῶν ποιημάτων | Ὅμηρον εἶναι).

|| 156 Ma (2007) 107–109 zum dichterischen Profil Nestors, in dem hellenistische Muster zu erkennen seien. – Ein weiterer, sonst nicht näher bekannter „Nestor“ wird auf einem kunstvoll ausgestatteten Sarkophag seines gleichnamigen Sohnes in Dorylaion als „gottgleich“ bezeichnet; SGO 16/34/22 A V. 1 παῖς Νέστορος ἀντιθέοιο. 157 Vgl. IG II2 1069; 1723 Z. 4; 3786–3789; Horsley (1999) 25. 158 Vgl. J. Nollé, IK 43 Side I (1993) 220–222 (als Antragsteller in Nysa) mit Hinweisen zur Literatur; ebd. 245–247 (die einzigen ihm zuschreibbaren Inschriften, auf dem Memnonkoloss [= Bernand, Colosse de Memnon Nr. 11 und 12]); IK 44 Side Nr. 70 (Erinnerungstafel für seinen Sohn); Stephanis (1988) Nr. 1979.

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Der Rückbezug auf den Begründer der Literatur in Form der unüberbietbaren literarischen Auszeichnung „Neuer Homer“ verdeutlicht einmal mehr die grundlegende Bedeutung, die der Epiker (neben seinem Rang in der Schulausbildung) für jeden noch so kleinen Dichterling der Kaiserzeit haben mußte.

3

Bedeutung Homers in Kleinasien

Die Tatsache, daß aus Kleinasien stammende poetae laureati der Kaiserzeit als Nachfolger Homers Ansehen genossen, zeigt, wie der Dichter als Idealbild im Bewußtsein des griechischen Ostens verankert war. Über Homers Funktion in antikem Schulunterricht und in literarischer Tätigkeit hinaus berührten seine Epen bis in die Spätantike noch in weiteren Aspekten die antike Lebenswelt der Menschen Kleinasiens.159 Ilias und Odyssee waren dabei keineswegs nur die Bildungsgüter einer Elite. Gerade die Epigraphik zeigt, daß die homerische Sprache und Mythologie offenbar für breitere Bevölkerungsschichten allgemeinverständliche Formen und Muster zur Verfügung stellte, um Alltagsgeschehnisse wirkungsvoll aufzuwerten. Dieser Mechanismus der Sublimierung konnte nur funktionieren, weil das Werk Homers keinen hermetischen Block aus alter Zeit darstellte, sondern die Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt ungeachtet ihres Bildungsstandes mit dem Dichter und seinen Heroen auf verschiedenen Ebenen ‚hautnah‘ in Kontakt kamen.160 Schon die langanhaltende Debatte über die Herkunft Homers zwischen den Städten Smyrna, Kolophon, Kyme in der Aiolis, der Troas und der Insel Chios161 dürfte das Bewußtsein geschärft haben, daß Homer irgendwie nach Kleinasien gehörte und man eine besondere Verbindung zu ihm hatte. Unter den vielen literarisch überlieferten Epigrammen, die sich auf Homer bzw. den Streit um

|| 159 Vgl. Chaniotis (2010) zur epigraphischen Beleglage insgesamt. Zu Pisidien Horsley (1999); zur dörflichen Region Axylon Thonemann (2014). 160 Vgl. die Hinweise bei Martin (2012) 254 Anm. 24 zu den hier nicht näher behandelten Darstellungen Homers auf Münzen. 161 Übersicht über alle an dem Streit beteiligten Städte bei Hillgruber (1999) 84–86; vor dem Hintergrund der Epigramme Skiadas (1965) 19–32. Vgl. besonders Ailian VH XIII 22 (vgl. SH 979 mit Suppl., Bezug unsicher; APl XVI 294), nach dem Ptolemaios Philopator angeblich einen Tempel Homers mit dessen von den Figuren der streitenden Städte umgebenen Standbild gegründet hätte. Zeugnisse zum Homer-Kult auch bei Clay (2004) 136–143. – Zur Münzpropaganda in Amastris, wonach Homer aus dem eingemeindeten Kromna stammte, vgl. Robert (1980) 414–419 anläßlich Lukian Alex. 53; ebd. weitere Hinweise, vgl. auch VH II 20.

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seine Heimat beziehen (AP VII 1–7; IX 97; APl XVI 292–304), rühmt ein ursprüngliches Statuengedicht aus Kolophon (SGO 03/05/03; Ps.-Plut. vit. Hom. I 4, 5 [Z. 78–83 ed. Allen]; APl XVI 292) den Dichter, der ganz Griechenland Ruhm eingebracht habe (V. 1 κλέος Ἕλλαδι πάσῃ), besonders aber seiner „Heimatstadt Kolophon“ (V. 2 καὶ Κολοφῶνι πάτρῃ). Mit demselben Lokalpatriotismus erscheint Homer ganz fraglos als Bürger Smyrnas (SGO 05/01/24162; AP ΙΧ 672 V. 5 ἐν ἄστεϊ … Ὁμήρου) in einem von dort stammenden Gedicht. Und aus einer noch erhaltenen Inschrift auf den Arzt Hermogenes (SGO 05/01/26) geht hervor, daß man sich in der Stadt intensiver mit Homer auseinandersetzte. Der Gelehrte hatte im 1. Jh. n. Chr. in eigenen Schriften seine Gedanken über die Weisheit und über die Heimat Homers, letztere sicherlich mit dem Beweisziel Smyrna, niedergeschrieben. In Kyme konnte man darauf verweisen, daß die aus der Stadt hervorgegangenen Schwiegereltern des Midas bei dem zeitweise dort wohnenden Homer jenes berühmte Epigramm auf den phrygischen König,163 welches schon Platon zitiert (Phdr. 264 D; oben S. 19), in Auftrag gegeben hatten (vit. Herod. Hom. 11, Z. 131–3 ed. Allen). Des ‚Landsmanns‘ Homer gedachte man in nicht wenigen Städten des griechischen Ostens öffentlich mit Statuen. Das läßt sich nur noch aus zufälligen Resten rückschließen, wie etwa einer großen späthellenistischen Inschrift aus Pergamon (SGO 06/02/18), die sich heute in Berlin befindet. Das ursprünglich unter einer Homerstatue angebrachte dreiteilige Gedicht legt die Vermutung nahe, daß in dieser Bildungsmetropole der Streit um die Herkunft des Dichters in Form eines diesbezüglichen Dichtungswettstreits aufgearbeitet worden war, dessen drei Siegerepigramme auf der erhaltenen Basis präsentiert sind. In Kyzikos ist aus der Kaiserzeit ein stilsicheres Distichon auf eine Figur des gottgleichen Homer (SGO 08/01/04 V. 2 ὁ θεοῖς ἶσος) erhalten. Ebendort erneuerte der Proconsul von Asia ein Denkmal für die Priamostochter Laodike und versah es mit einem manierierten Epigramm, das sich in der Anthologia Graeca (SGO 08/01/06; AP VII 564) erhalten hat.

|| 162 Zu ergänzen ist die bei Allen zu vit. Hom. (IV) Z. 25 zitierte Parallelüberlieferung. 163 Vgl. unten S. 114f. zur Übernahme des vielfach tradierten Epigramms in einem spätkaiserzeitlichen Grabgedicht aus Phrygien SGO 16/31/05 (Appia, 2./3. Jh. n. Chr.; in den Versen 2, 4, 5). – Zur Debatte, ob Homer oder Kleobulos von Lindos der Autor war, Diog. Laert. I 89f., nach welchem schon Simonides (fr. 581 PMG) auf das Epigramm, das er dann Kleobulos zugeschrieben hätte, reagierte; zuletzt dazu Fearn (2013) 233–235.

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Auch sonst war im öffentlichen Raum die Präsenz der homerischen Gesänge in Form von Denkmälern gleichsam als ein epos pauperum sichtbar.164 Im kaiserzeitlichen Ilion wurde das Andenken an die Ilias-Heroen (vielleicht nur der trojanischen Seite) in Form einer ganzen Serie von Statuen zelebriert. Die jeweiligen Inschriften gingen in ihrer literarischen Durchgestaltung und ihrem Anspielungsreichtum weit über entsprechende Heldenepigramme des ps.-aristotelischen Peplos165 hinaus (SGO 07/06/01 unbekannter Held; 07/06/02166 Hektor; 07/06/03 Priamos). Daß man die Heroen nicht nur als antiquarische Schaustücke aufgefaßt hat, sondern so frei war, die eigene Person in ihrem Licht zu reflektieren, wie es auch sonst in den Grabepigrammen üblich ist (III 5, S. 77ff.), zeigt symbolisch ein von Eunap erwähntes Gedicht auf den in Ilion um 368 n. Chr. beigesetzten Vicarius Asiae Musonios (SGO 07/06/04). Darin wird eine deutliche Verbindung zur homerischen Heldenverehrung der Stadt gezogen. Die Inschrift vereinigt Musonios’ Leichnam mit den Gräbern der Trojahelden Aias, Achilleus und Patroklos, indem zu Anfang des Gedichtes die Worte, die Nestor in der Odyssee (γ 109f.) auf die besagten Heroen sprach, zitiert werden, um danach in zwei weiteren Versen den ἥρως Musonios mit ihnen in eine Reihe zu stellen. Neben den mit Inschriften versehenen Bildwerken waren in der Kaiserzeit im Rahmen der allgemeinen Beliebtheit öffentlicher Schauspiele167 sicherlich die Aufführungen homerischer Szenen das populärste Medium, um die Sagenstoffe kennenzulernen oder präsent zu halten.168 In Pompeiopolis wird auf einem Grabmal ein Darsteller solcher Schauspiele namens Kyros präsentiert, „der vielfach

|| 164 Zu Bilddarstellungen im allgemeinen Chaniotis (2010) 268–272. – Zur Weihinschrift für eine Figurengruppe in Aphrodisias bestehend aus Achill, einem Pferd und Troilos vgl. L. Robert, Hellenica XIII (1965) 126f. (ebd. Anm. 5 weitere solcher Weihungen); die Reste dieser Figurengruppe wurden 1970 gefunden; vgl. Smith/Hallett (2015), ebd. 149–154 zur Inschrift. – Man denke auch an die äußerst subtil gestalteteten tabulae Iliacae, von denen bisher 23 bekannt sind und die in der Antike vielleicht in den Kreisen der höheren Bildungselite umliefen; vgl. Squire (2012) 16, Literatur ebd. S. 2 Anm. 13; Squire (2009) 134–139. 165 Vgl. Cameron (1993) 399–393, wonach das aus einem größeren antiquarischen Werk stammende Exzerpt der nicht in der Anthologie repräsentierten Epigramme erst im 2. Jh. v. Chr. entstanden sein könnte; Gutzwiller (2010) erkennt als ursprünglichen Autor einen frühen Peripatetiker des späten 4. Jh. v. Chr. 166 Vgl. für V. 2 Hom. N 153f.; V. 4 Hom. M 466; V. 5 Hom. Π 74f. Θ 111. Θ 355. I 238. 167 Vgl. den Überblick bei Marek (2010) 614–626. 168 Vgl. Chaniotis (2010) 259–262 für rhapsodische und mimische Wettbewerbe im griechischen Kulturkreis seit klassischer Zeit; Hillgruber (2000); Merkelbach/Stauber SGO 2 (2001) 323 zu 10/05/04 (Pompeiopolis, 2./3. Jh. n. Chr.) für literarische Zeugnisse dramatischer Aufführungen und Bd. 5 (2004) 324 Index „Schauspieler (…)“; Stephanis (1988) Nr. 2216 Homerist Aurelius Sarapas; Iason FGrHist 632 F 1 (= Athen. XIV 12 p. 620 d; St. Burstein in Brill’s New Jacoby) für

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auf der Bühne den göttlichen Homer schön zur Aufführung gebracht hat“ (SGO 10/05/04 V. 8 πολλὰ169 κοσμήσας θυμέ|λαις τὸν θεῖον Ὅμηρον). Wenn das Grab von einem „Aresfreund“ (V. 10 ἀρηΐφιλος) gestiftet wurde, handelt es sich bei ihm wohl um einen Kollegen, der vielleicht wie Kyros ein Homeristes (Z. 16 Ὁμη[ριστής]) war und dem auf der Bühne die Rolle des Ares oder anderer kämpfender Figuren zukam.170 In dem Attribut ἀρηΐφιλος, welches in der Ilias den heroischen Kämpfern zugelegt ist, zeichnet sich zugleich eine Nähe solcher die Mythologie imitierender Aufführungen zu den gladiatorischen Schauspielen ab. Im selben Sinne werden die Gladiatoren im Anbetracht ihrer ungleich brutaleren Schaukämpfe als AresAnhänger bezeichnet (unten S. 188). Noch vor den Homer rezitierenden Aufführungen der Homeristen, den komödiantisch-lebensnahen Possen der Mimen171 und den pantomimischen Darbietungen mythologischer Szenen durch sogenannte „Tänzer“ (ὀρχησταί; dazu unten S. 161 mit Anm. 465) dürften Gladiatorenkämpfe das für die Massen unterhaltsamste und zugleich gröbste Format gewesen sein, um mit homerischen Heroennamen und Schlüsselszenen aus den Kampfschilderungen fernab literarischer Ansprüche in Berührung zu kommen. Denn wie sich allein aus den Namen, aber auch aus der Stilisierung der Epigramme für Gladiatoren vermuten läßt, gerierten sie sich in ihren Kampfdarbietungen

|| Homer-Aufführungen eines Hermophantos (= Stephanis [1988] Nr. 908, Rhapsode) schon in hellenistischer Zeit in Aphrodisias. – Zur Pantomime unten S. 159ff. zu *02/06/21 auf den Gladiator Achill, einen früheren pantomimischen Tänzer. – Vgl. im allgemeinen Merkelbach zu SGO 09/09/07, Liste von Schauspielerepigrammen aus Kleinasien; zusätzlich *17/06/08 (unten S. 322ff.) V. 2f. mit Kommentar; Tedeschi (2002) 129–142 Quellen der mimischen Praxis; Cribiore (2001) 241f. poetische Agone in Ägypten. 169 Der metrische Fehler könnte auf den Steinmetz zurückgehen, der die Vorlage, in der πολλά τε/γε/δέ oder, am wahrscheinlichsten, πολλάκι (vgl. A 396 und Γ 232) stand, falsch wiedergab. 170 Bei einem Steingedicht aus Kition auf Zypern, in welchem im 2. Jh. n. Chr. eines mit 40 Jahren verstorbenen Kilikas gedacht wird, der – wie Hektor durch seine Lanze unter den Troern (Π 834f. ἔγχεϊ … Τρωσί … μεταπρέπω) – durch seine Homerkenntnis hervorragte, indem er die Tapferkeit der Helden aufzeigte (GVI 1305 V. 3f. Ὁμηρείαισι μετέπρεπον | ἐν σελίδεσσιν / δεικνὺς ἡρώων | ἠνορέην προτέρων), handelt es sich eher um einen Schauspieler als um einen Lehrer, wenn ausdrücklich der Kreis der Gefährten erwähnt wird, aus dem ihn Moira entriß (V. 6 Mοῖρά μ᾿ … νόσφισεν … ἑτάρων). Für einen Rhapsoden plädieren Stephanis (1988) Nr. 1405; Chaniotis (2010) 261f. 268 Anm. 41. 171 Vgl. beispielsweise die kaiserzeitlichen Grabepigramme: auf den Possenreißer Eucharistos aus Patara SGO 17/09/01, der „auf der Bühne die biologischen (das Alltagsleben darstellenden) Stücke vortrug“ (V. 4 ἐν θυμέλαισι λέ|γων βιότου τὰ γραφέντα; Übers. Merkelbach), und 09/11/03 (Herakleia Pontike), ebd. weitere Hinweise; L. Robert, OMS I 671–690 (1936).

3 Bedeutung Homers in Kleinasien | 59

als die Nachfolger homerischer Kriegerheroen und schlüpften wohl bisweilen in der Arena in deren Rollen (vgl. Zweiter Teil, Kap. I S. 153ff.). Demgegenüber steht freilich auf der höchsten Ebene die geistige Beschäftigung mit dem Dichter, wie sie oben bereits im Zusammenhang der Lehrer und der Bildungselite hervortrat. Vor allem dem Zufall der papyrologischen Überlieferung ist es zu verdanken, daß die Stadt Nysa in Karien, deren kulturelles Profil sich inschriftlich kaum erschließen läßt, als ein Bildungszentrum für Homerphilologie Konturen gewinnt. Aus einem Papyrus (Kestoi F 10, 51 = P.Oxy. 412 col. II 19) erfahren wir nämlich, daß der christliche Gelehrte Iulius Africanus einen um magische Riten erweiterten Odyssee-Text in der dortigen Bibliothek, die in den letzten Jahren archäologisch erforscht wurde,172 hinterlegt hatte.173 Diese Mitteilung unterfüttert Strabons Bericht (XIV 1, 48 p. 650, 24–32), der sich selbst schon zwei Jahrhunderte früher zu Studienzwecken in der karischen Stadt aufhielt und sie als Hort einer bis auf den Aristarchschüler Aristodemos zurückgehenden Gelehrsamkeit ins Licht rückt. Die Vertrautheit mit Homer reichte bis in die hintersten Gegenden Anatoliens. Auf einem Grabmal der späten Kaiserzeit im phrygischen Hochland (SGO 16/41/09; modernes Yapıldağ) erscheint ein Zosimos als Verfasser geisterfüllter Schriften (V. 3 πνευματικαὶ γραφαί), die mit dem von ihm praktizierten TheosHypsistos-Kult zusammenhingen sowie moralische Anweisungen und verschlüsselte mystische Weissagungen enthielten. Das Epigramm wurde von dem höchstwahrscheinlich jüdisch-stämmigen174 Dichterpropheten noch zu Lebzeiten geschrieben. Wie sehr er der homerischen Sprache verpflichtet war, zeigt sich darin, daß er über den Stil seiner Dichtungen sagt, er habe diese in „homerischen Versen“ (V. 3 Ὁμηρίοις ἐπέεσσιν)175 verfaßt, und im weiteren ein passendes IliasZitat einfügt, um die Form seiner Prophezeiungen kundzutun. Diese habe er auf „gefalteter Tafel“ (V. 5 ἐν πίνακι πτυκτῷ; vgl. auch V. 4 γράψας ἐν πίνακι)176 niedergeschrieben. Mit dem Ausdruck ist bei Homer die hölzerne Klapptafel mit der

|| 172 Vgl. Strocka (2012). 173 Vgl. Robert, Hellenica I (1940) 144–148; Hammerstaedt (2009) Neuedition des Papyrus. 174 Dafür spricht vor allem die Abstammungsangabe V. 2 ἐκ λαοῦ ῾Yψίστοιο; der Name der Mutter, Δόμνα, könnte hier, wenn auch nicht generell, von seinem semitischen Ursprung (arab. Dumayna) her aufgefaßt werden. 175 Chaniotis (2010) 258 sieht „a collection of Homeric verses used as oracular responses“. 176 Ob mit der homerischen Wendung ein Bezug zu Würfelorakeln angedeutet wird, weil auch Pausanias (VII 25,10) hinsichtlich des Würfelorakels in Bura von einem πίναξ mit Orakelsprüchen spricht, halte ich anders als Nollé (2007) 25 für äußerst fraglich.

60 | II Alltagsweltliche Voraussetzungen

geheimen Botschaft des Proitos an seinen Schwiegervater bezeichnet, die das Todesurteil für den Überbringer Bellerophontes enthält (Ζ 169 γράψας ἐν πίνακι πτυκτῷ θυμοφθόρα πολλά).

III

Homer zur Sublimierung der Alltagswelt

Homer bietet wegen seiner überragenden Bedeutung in Bildung und Kultur so grundlegend auch für die antiken Grabdichter seit frühester Zeit177 den Fundus für sprachlichen Ausdruck und literarische Motive, daß seine Wirkung hier nicht erschöpfend behandelt werden kann. Oft prägt die Vorstellungswelt der homerischen Epen – ihre Metaphern, Bilder und Ideale – die Atmosphäre der Grabgedichte, ohne daß wörtliche Zitate identifizierbar sind. Zunächst wird exemplarisch herausgestellt, wie die Steinepigramme durch die Übernahme von Einzelgedanken und Junkturen durch die Kunstsprache Homers gekennzeichnet sind (III 1). Besondere Beachtung verdient eine homerische Wendung, die zu einer Formel in der antiken Grabepigrammatik wurde (III 2). Die Homeradaption war dort von solcher Bedeutung, daß die Scholiasten den Dichter mit Verweis auf bestimmte Formulierungsmuster seiner Epen sogar zum Erfinder des Grabepigramms erklärten (III 3). So wurde denn auch speziell das Gedicht, welches nach Auffassung der Antike auf Homers Grab stand und seinerseits aus Formeln der Ilias komponiert war, zum Paradigma für die sepulkrale Poesie (III 4). Abschließend soll verdeutlicht werden, daß die Dichter der Steinepigramme die Verstorbenen innerhalb ihrer Alltagswelt manchmal mit einer besonders feierlichen Aura umgaben, indem sie auf die vor allem durch Homer, dann aber auch durch andere Schriftsteller im antiken Bewußtsein präsenten Heroengestalten und deren Mythos rekurrierten (III 5).

1

Homerische Formeln und Ζitate

Die Omnipräsenz Homers in der literarischen Schulausbildung hatte zur Folge, daß selbst die einfachsten Gedichte oder Dichtungsversuche auf Stein in ihrer Diktion noch homerisches Kolorit aufweisen konnten. Bisweilen bildet die Sprache der Epen neben den lokalen sepulkralen Ausdruckskonventionen (dazu S. 126ff.) das einzige Substrat, auf dessen Grundlage die Autoren der Epigramme

|| 177 Vgl. für die früheste Epigrammatik Friedländer (1948) 7 passim; Raubitschek (1968) 25f. mit Gegenstimmen; folgende Anm. 178. – Vgl. Harder (2007), besonders 425–427 zum Umgang der hellenistischen Buchepigrammatiker mit der Epik und Homer. https://doi.org/9783110597394-006

62 | III Homer zur Sublimierung der Alltagswelt

ihren Auftrag und ihre Gestaltungsideen auszuführen versuchten.178 Die Wirkung Homers reichte dabei über alle Epochen hinweg von kaum merklichen Berührungen in Wortformen und Metaphern bis hin zur Verwendung ganzer Versatzstücke. Das bunte Spektrum der homerischen Reflexe kann hier nur an wenigen, möglichst verschiedenartigen Beispielen veranschaulicht werden. Es deutete sich oben bereits einige Male an, daß homerische Formulierungsmuster aufgrund ihres thematischen Bezugs innerhalb der epischen Handlung in die Grabepigrammatik eingingen. Wenige Verse nach dem auf das Begräbnis des Patroklos bezogenen Spruch ὃ γὰρ γέρας ἐστὶ θανόντων, der zu einem Standardsatz der Sepulkralsprache avancierte (unten S. 68–70), ruft zu Beginn des 23. Gesangs der Ilias Achill seinen toten Freund an (Ψ 19; vgl. X 52):

χαῖρέ μοι, ὦ Πάτροκλε, καὶ εἰν Ἀΐδαο δόμοισι. Diese Formulierung findet sich variiert oder nur in ihren Einzelelementen als Gruß des Wanderers an das Grab.179 Ιn Smyrna erscheint sie auf einem Grabmal, das im 3. Jh. v. Chr. Kinder ihrem in glücklichem Alter verstorbenen Vater Kriton errichteten, in verändertem syntaktischen Zusammenhang (SGO 05/01/46 V. 1f.):

Χαῖρε, Κρίτων, σοὶ μέν γε καὶ εἰν Ἀΐδαο δό[μοισι] ὄντι τεῆς ἀρετῆς οὐχὶ λέλοιπε180 κλέος. In Attaleia wurde gleich noch der gesamte in der Ilias folgende Vers übernommen, um das ganze Grabgedicht zu konstituieren, wobei die unmetrische Einfügung des Namens nicht gestört zu haben scheint (SGO 04/06/03; nach GVI 1396 [2. Jh. n. Chr.]):

χαῖρέ μοι, | ὦ Μητρόδωρα, | καὶ εἰν Ἀΐδαο | δόμοισι· | πάντα γὰρ ἤδη | τοι τελέω, τὰ πά|ροιθεν ὑπέστην.

|| 178 Vgl. di Tillio (1969), Konkordanz der archaischen Inschriften im Vergleich mit dem Epos; Pfohl (1970) 93 Anm. 39 zu Homerreminiszenzen in frühen Inschriften; Ecker (1990), etwas sperrige Abhandlung über vor allem allgemeine Anklänge (z. B. σῆμα, στήλη, ὁδός) in archaischen Grabgedichten; Tsagalis (2008) 262–268 für die attischen des 4. Jh. v. Chr.; Merkelbach/Stauber SGO 5 (2004) 334f. Index: „Homer: Zitate, Variationen, Anspielungen“ für einen (unvollständigen) Eindruck der Wirkung Homers in Kleinasien; Sartre-Fauriat (1998) 217–219, (2001) 201f. zu Homer in den Gedichten des Hauran; Thonemann (2014), der für die ländliche Grabdichtung in der Region Axylon die homerische Prägung herausgestellt hat. 179 Vgl. etwa für Belege aus Kleinasien SGO 04/22/02 (Maionia, 8/9 n. Chr.; der ‚Dichter‘ konnte insgesamt kaum Griechisch) V. 6 καὶ εἰν Ἀΐδᾳ; 18/09/04 (Adada, 2./3. Jh. n. Chr.) V. 2 εἰν Ἄϊδος περ ἐών, χαῖρε Λεοντιανέ; 19/04/01 (Kelenderis, 3. Jh. n. Chr.) V. 6 (am Ende) χαίροιτε καὶ εἰν Ἀΐδαο δόμοισιν. 180 λέλοιπε hier nach LSJ s. v. λείπω ΙΙ. 2. intransitiv: σοί … / οὐχὶ λέλοιπε, „Dir … fehlt nicht“.

1 Homerische Formeln und Ζitate | 63

Zum Referenzpunkt der sepulkralen Epigrammatik wurde noch eine weitere berühmte Stelle aus dem 23. Gesang der Ilias, an der Patroklos’ Seele den Wunsch äußert, er möge auch im Tode so, wie er im Leben mit Achill zusammen war, gemeinsam mit ihm das Grab teilen (Hom. Ψ 84f. 91):

μὴ ἐμὰ σῶν ἀπάνευθε τιθήμεναι ὀστέ’ Ἀχιλλεῦ, ἀλλ’ ὁμοῦ ὡς ἐτράφημεν ἐν ὑμετέροισι δόμοισιν, (…) ὣς δὲ καὶ ὀστέα νῶϊν ὁμὴ σορὸς ἀμφικαλύπτοι Dieser Abschnitt ist für die seit frühester Zeit belegte Praxis von Doppelgräbern eng vertrauter Personen, meist Ehepartner,181 und das in diesem Zusammenhang zum Ausdruck gebrachte Ideal familiärer Verbundenheit in den Inschriften von großer Bedeutung. Dort konnte Patroklos’ Gedanke bis in den Wortlaut aufgegriffen werden.182 In der folgenden Homerzitation und einigen anderen gleichgearteten Fällen183 läßt sich sogar nachweisen, daß sich die Dichter der Steinepigramme nicht nur aus dem Gedächtnis eines homerischen Versatzstückes bedienten, sondern daß sie den Text selbst vor Augen hatten, wenn sie zugleich die ihnen aus der täglichen Homerlektüre bekannte Schreibpraxis anwandten. In einem neugefundenen, daktylisch metrisierten Epitaph aus Hadrianuthera spricht der im Alter von 21 Jahren verstorbene Nikomachos (*08/06/13) nicht nur homerisch (Z. 15-17):

τοὔνεκα πένθος ἄ|λ̣ειπτον ἐνὶμ μεγάροισι[ν] | ἔλειψα, „deshalb (sc. wegen meines frühen Todes ohne Nachkommenschaft) habe ich unüberwindliche Trauer in den Gemächern hinterlassen“, indem er auf sein eheliches Schlafgemach zu Lebzeiten mit der Junktur ἐνὶ μεγάροισι (vgl. A 396 u. ö.) verweist. Sogar die Schreibung verrät, daß der Dichter

|| 181 Vgl. auch Staab (2014) 82 Anm. 2. 182 Vgl. SGO 16/34/13 (Dorylaion, wahrscheinlich Kaiserzeit [ed. pr. enthält keine Hinweise]) V. 6 ὁμὸς τάφος ἀμφικαλύπτοι; GVI 1998 (Kaibel 174, dort V. 21, IG II2 13375; 3./4. Jh. n. Chr.) V. 17 ὁμὴ σορὸς ἀμφικαλύπτο[ι]; GVI 735 (Kaibel 590, GG 400, IGUR 1316; 3./4. Jh. n. Chr.) V. 10 ὁμὴ σορὸς ἀμφικ[αλύψει]. 183 Vgl. GVI 2074 (Samos, 3. Jh. v. Chr.) V. 4 μητρὶ δ᾿ ἄλαστον πένθο[ς] | ἐνὶμ μεγάροισι λιπόντας; SGO 24/17 = 12/03/99 (Susa, hellenistisch) Z. 9 [– – –]ΟΣ ἐνὶμ μεγάροισι τεο[ῖσι]; IMEG 86 (2. Jh. n. Chr.) V. 5 πατρὸς ἐνὶ̣μ̣ με|γάροισι; GVI 860 (Athen, 3. Jh. n. Chr.) V. 1 ἐνὶ̣μ̣ μεγάροις Διόκληα, V. 7 ἐνὶ̣μ̣ μεγάροισι γυναῖκα; GVI 695 (Santin [2009] Nr. 16; Philippopolis, 3. Jh. n. Chr.) V. 7 ᾧ καὶ παῖδας ἔλειπον ἐνὶ|μ μεγάροισι θύγατρας; I.Patras Nr. 37 (spätrömisch) V. 9–11 ἠδ᾽ ἄρα φ̣ῶτας | εἰλαπίναις χρυσῷ τε καὶ εἵμ̣α̣σι δηθὰ γεραίρων | δέχνυ‹τ᾽› ἐνὶμ

μεγάροισι̣.

64 | III Homer zur Sublimierung der Alltagswelt

ganz real Bezug auf den Homertext nimmt. Denn die das Anfangs-μ von μεγάροισι geminierende und damit eine geschlossene, lange Silbe anzeigende Schreibweise der Präposition ἐνί, durch welche die von Homer in die Dichtung eingeführte Lang-Messung des Iota in der Junktur ἐνὶ μεγάρoισι(ν)/-ῳ rationalistisch verschriftlicht wurde, ist tatsächlich so in den Homerpapyri seit dem 3. Jh. v. Chr. nachweisbar.184 Selbst für mittelmäßige Epigrammdichter sollte es kein Problem dargestellt haben, einfache homerische Sprachelemente, die entweder als Formel aus der Homerlektüre vorschwebten oder die sie sich speziell aus dem Zusammenhang der heroischen Bestattungen merkten (siehe auch unten III 3 ab S. 70), für ihre Zwecke in die eigenen Produkte einzubauen.185 Auf einem kaiserzeitlichen Grab aus Sinope sind trotz des fragmentarischen Zustandes beide Aspekte zu erkennen (SGO 10/06/14): Die bereits vollständige Information, der Verstorbene habe 50 Lebensjahre vollendet, wird dort ergänzt mit der Formel περιπλομένων ἐνιαυτῶν (V. 3 „im Verlaufe der Jahre“), welche in der Antike jeder Schüler jenseits des Schreibunterrichts im Auftakt der Odyssee innerhalb des göttlichen Rückkehrplans für Odysseus (α 16) gelesen haben dürfte.186 Und die Ausführung der Grabzeremonien (κτέρεα κτέρισαν V. 2) begegnet schon in jenen Worten, die Apollon vor den anderen Göttern am Ende der Ilias als Unterstützer der Trojaner spricht, um diesen wenigstens die Bestattung ihres Helden zu ermöglichen (Ω 37f.):

λαοῖσί τε, τοί κέ μιν ὦκα ἐν πυρὶ κήαιεν καὶ ἐπὶ κτέρεα κτερίσαιεν. Die homerische Hexameterkadenz wird im Epigramm nur durch die Umformung in den Indikativ für den Pentameterschluß passend gemacht. Die Qualitäten des als Junggeselle verstorbenen Arztes Epaphroditos aus Stratonikeia werden im 2. Jh. n. Chr. von dessen Ziehvater durch die Worte (SGO 02/06/13 [Samama 266] V. 7) ἀμ|φότερον τέχνην τ’ ἀγαθὸς καὶ ἤθεα | κεδνός herausgestellt, und damit in einer Diktion, die sich eng an Helenas Vorstellung von Agamemnon anlehnt (Γ 179):

ἀμφότερον βασιλεύς τ’ ἀγαθὸς κρατερός τ’ αἰχμητής.

|| 184 Vgl. Lundon (2001) 16f. zu Hom. α 295. 185 Vgl. z. B. zu SGO 10/02/05 Garulli (2012) 312–314, die sonst ihre Analysen an den außerhomerischen literarischen Parallelen ausrichtet. 186 Νoch im 6. Jh. n. Chr. beginnt ein Ehrenepigramm auf einen reichen Gönner der Stadt Epiphaneia am Orontes namens Elias (SGO 20/06/01): ἄνδρα μοι ἔννεπε, κοῦρε, τίς | ἔπλετο οὗτος

ἄριστος.

1 Homerische Formeln und Ζitate | 65

Ob die Orientierung an der Mauerschau durch die in den Scholien repräsentierte Meinung, daß die Verse auf Agamemnon „epigrammatisch“ seien (vgl. unten S. 72 und S. 112 Anm. 321), veranlaßt wurde, läßt sich freilich nicht entscheiden. Der kreative Umgang mit homerischen Wendungen zeichnet sich nun gerade in Epigrammen auf Personen der Bildungsgesellschaft, wie etwa auf Ärzte, ab. Wenn über den spätkaiserzeitlichen Mediziner Hedys aus Nikaia gesagt wird (SGO 09/05/12 [Samama 206]), er habe „viel Land gesehen“ (V. 2 πολλὴν | γαῖαν κατιδόντος), und über seinen Kollegen Modius Asiaticus aus Smyrna (SGO 05/01/51 [Samama 195; Anf. 2. Jh. n. Chr.]), er habe „viel Gutes erlebt im Sinn, aber auch viel Schlechtes“ (V. 2 πολλὰ μὲν ἐσθλὰ παθὼν | φρεσί, πολλὰ δὲ λυγρά), steht Odysseus Pate, der „vieler Menschen Städte gesehen und auf dem Meer viele Schmerzen in seinem Mut erlitten hat“ (α 3f.).187 Überhaupt erscheint das Motiv der Weltgewandtheit orientiert an Odysseus mit Vorliebe in Grabgedichten auf Ärzte, die in der Regel allein aufgrund ihrer Ausbildung, oft auch aufgrund eines Wanderlebens, wie der ewige Heimkehrer auf ein erfahrungsreiches Leben zurückschauen konnten.188 Dem Augenarzt Stratonikos aus Sardeis wird in einem neuen Epigramm (*04/02/14, unten S. 276ff.), angelehnt an die Worte, die Kirke zu Odysseus und seinen Gefährten nach dessen Rückkunft aus der Unterwelt spricht (ebd. V. 3 δισθανέες δ᾿ ἄλλοι; vgl. μ 22), ein Weiterleben seines Ruhmes und seiner Verdienste nach dem Tod attestiert. Ähnlich kunstvoll werden in Pergamon zur Bestätigung, daß der verstorbene Arzt Philadelphos im Jenseits weiterlebt, Stücke aus der Ilias, unter anderem ein berühmter Signalvers aus zwei Schlüsselszenen, kombiniert, wenn dort die Seele des verstorbenen Arztes genauso entschwindet wie die des Patroklos und des Hektor, dann aber ins Reich der Götter gelangt (SGO 06/02/32 [Samama 187, Obryk (2012) 17f. A2; Kaiserzeit] V. 5f.):

ψυχὴ | δ’ ἐκ ῥεθέων πταμένη μ[ε]|τὰ δαίμονας ἄλλους |189 ἤλ[υ]|θε σή, ναίεις δ’ ἐν μακάρω[ν] | δαπέδῳ.

|| 187 Vgl. schon CEG 755 (Athen, 400–350 v. Chr.) V. 3 δ[ει]νὰ παθὼν καὶ πολλὰ | [ἰ]δὼν σωθεὶς ἀνέθηκεν, in einer Asklepios(!)-Weihung; IMEG 164 (221–204 v. Chr.) V. 2 πολλὰ παθόντα πόνοις. Ζu beiden Bing (2009) 159–162. 188 Vgl. auch L. Robert, Hellenica II (1946) 103–105. So auch der Bezug zur Odyssee auf einen weitgereisten Kaufmann aus Herakleia an der Salbake SGO 02/13/03 (172 n. Chr.) V. 1, 5, 7; dazu Kommentar von Robert, L./J. (1954) 189f. 189 Vgl. Hom. Π 856. X 362 ψυχὴ δ’ ἐκ ῥεθέων πταμένη Ἄϊδος δὲ βεβήκει; Α 222 μετὰ δαίμονας ἄλλους. SGO 03/07/14 (Erythrai, 3. Jh. v. Chr.) V. 2 ψυχὴ δ̣ὲ̣ | ἐγ μελέων ἐξεπτα|μένη πεπότηται; 03/06/03 (Teos, 1. Jh. v. Chr.) ψυχᾶς ἐς μακάρων νᾶσον ἀποπταμένας; IGUR 1163 (Arztepigramm; Samama 481, Obryk [2012] 139f. E10) V. 9 ἐκ ῥεθέων δ’ ἅμα στείχων σε|μνὸν ἔβη

66 | III Homer zur Sublimierung der Alltagswelt

Ein ganz feinsinniger Umgang mit dem Homertext ist vermutlich in der einzigen bekannten metrischen Inschrift aus dem pamphylischen Selge (SGO 18/10/01 [3. Jh. n. Chr.]) zu diagnostizieren. Ein Ehepaar umschreibt auf dem schon zu Lebzeiten errichteten Gemeinschaftsgrab seinen Beruf der Goldschmiedekunst mit der Formulierung χρυσείης τέχνης ἴδριες (V. 5).190 Hier schwebte offenbar die Umschreibung dieses Berufsstandes innerhalb eines Gleichnisses der Odyssee vor, aus dem die signifikanten Wörter herausgegriffen wurden.191 Auch bei Christen ist wie im Literarischen so auch in den Epigrammen keine Abneigung gegenüber der klassischen mythischen Bildersprache zu verspüren.192 Beispielsweise heißt es schon gleich zum Auftakt eines durchgehend in homerischer Sprache verfaßten Grabgedichtes aus Ikonion (SGO 14/07/09193 V. 1; vgl. 14/04/03 [Kissia] V. 4):

ἐνθάδ’ ἀνὴρ κρατερὸς κεῖτ’ ἐν χθον|ὶ πουλυβοτείρῃ. Die Kunstform des Homercento christlicher Prägung, wie sie von Kaiserin Eudokia literarisch praktiziert wurde, spiegelt sich in einem Grabgedicht aus Kleinasien wider (SGO 19/21/02).194 Außerhalb der Grabdichtung begegnet das ganz bewußte Spiel mit Homer dort, wo sich Personen gegenüber ihren Zeitgenossen als Repräsentanten klassischer Werte und Traditionen in Szene setzen (lassen). So wird der im 1. Jh. v. Chr. berühmte Kitharode Anaxenor (vgl. Plut. Ant. 24, 2) durch ein auf epigraphischem (SGO 02/01/04) und literarischem Wege (Strabon XIV 1, 41 p. 648, 21f.) überliefertes öffentliches Ehrenepigramm mit den Lobesworten auf Demodokos aus dem Mund des Odysseus (ι 3f.) in eine Reihe mit dem göttlichen Epen-Sänger der Phaiaken gestellt. Und zweieinhalb Jahrhunderte später in der Severerzeit errichtete ein Konsul Attalos in Pergamon offenbar in archaisierender Manier Hermen, von denen eine, orientiert an den ursprünglich moralischen Anweisungen solcher Monumente (S. 18), zum kulinarischen Genuß aufruft und zugleich

||

Διὸς οἶκον; AP XV 40 V. 8 (über Lazarus). – Zur kunstvollen Verarbeitung epischer Formulierungen in SGO 05/01/64 (Obryk [2012] 42f. B2; Smyrna, 1./2. Jh. n. Chr.; dort in V. 4 ψυχὴ δ᾿ ἐ‹κ› κραδίης δρ̣άμ᾿ ἐς αἴθερον) vgl. Garulli (2012) 232–237. 190 Zu ἴδρις mit Genitiv als Umschreibung handwerklicher Fähigkeiten in Epigrammen vgl. Herrmann (1993). 191 Vgl. Hom. ζ 232–234 ὡς δ’ ὅτε τις χρυσὸν περιχεύεται ἀργύρῳ ἀνὴρ / ἴδρις, ὃν Ἥφαιστος

δέδαεν καὶ Παλλὰς Ἀθήνη / τέχνην παντοίην. 192 Vgl. Lattimore (1962) 301–340 „Pagan Elements in Christian Epitaphs“. 193 Vgl. Thonemann (2014) 202f. Nr. 3. 194 Dazu zuletzt ausführlich Prieto Domínguez (2009) und Stein (2010).

1 Homerische Formeln und Ζitate | 67

von gelehrten Homerreminiszenzen gespickt ist (SGO 06/02/23; vgl. κ 460; μ 26; λ 603).195 Den Gegenpol zum exquisiten Umgang mit Homer bilden jene Fälle, bei denen die (rudimentäre) Kenntnis der Epen die einzige Voraussetzung zur Fabrikation eines Gedichtes darzustellen scheint. So hat zuletzt Thonemann (2014) für die ländliche phrygisch-lykaonisch-galatische Grenzregion Axylon mindestens vier Gruppen von spät zu datierenden Grabgedichten (4./5. Jh. n. Chr.) herausgearbeitet, die sich nach der je spezifischen Verwendung bestimmter Homerstellen als alleinigem Herstellungsprinzip unterscheiden lassen.196 Oft vermag der aus der Not geborene oder unbewußte Reflex auf die epische Sprache den mühevoll gezimmerten Versen nurmehr pseudopoetischen Anstrich zu verleihen. Das kann soweit gehen, daß homerische Formen und Junkturen offenbar, ohne überhaupt noch genau verstanden zu werden, gleichsam aus rein klanglichen Gründen, in die Gedichte gegen die grammatisch-sachliche Logik eingefügt wurden.197 Diese Fälle sind besonders in den ländlichen Regionen Kleinasiens bei solchen Epigrammen zu finden, deren Verfasser auch sonst nicht mehr bis in die Einzelheiten mit der Grammatik des Griechischen vertraut waren. Geradezu wie magische Formeln verwenden sie homerische Versatzstücke, um ihren Produkten einen feierlichen Ton zu geben. Ein Paradebeispiel dafür ist ein Epigramm des 4./5. Jh. n. Chr. aus der erwähnten Region Axylon, das bis auf einen Vers (V. 10) mit homerischen Reminiszenzen gespickt ist, dessen Sinn man aber an einigen Stellen nur noch erahnen kann (SGO 14/03/01; Thonemann [2014] 215f. Nr. 12). Wie aus den angeführten Beispielen schon klar wurde, sind die Übergänge zwischen den beiden Extremen, der professionell poetischen Aneignung Homers

|| 195 Vgl. SGO 17/01/05 (AP IX 625: Makedonios; Lykien, um 550 n. Chr.) Gedicht auf ein Bad, das in erster Person spricht, mit Homerzitat (Y 131) in V. 5 und gelehrter Anspielung (ἴδοι … οὐκ ἐθέλων) auf Kallimachos in lavacr. Pallad. V. 78 (Teiresias) οὐκ ἐθέλων δ᾿ εἶδε τὰ μὴ θεμιτά; vgl. Merkelbach/Stauber zur Stelle. 196 Thonemann (2014) Nr. 1–4 „Zıvarık poet“; 5–9 „Çeşmelisebil Poet“; 10–11 „Koçaş poet“; 12 „Zengen poet“ (keine eigentliche Gruppe); 13–15 „Axylon verse Koine“ (vgl. auch Anm. 201). Von den 15 behandelten metrischen Grabinschriften sind vier neu und eine in SGO unberücksichtigt; siehe oben Anm. 26. 197 Vgl. auch unten S. 76; Thonemann (2014) 197 zu Mißverständnissen; zur grammatischen Inkongruenz vgl. z. B. SGO 14/06/03 (Laodikeia Katakekaumene) V. 3, wo die homerische Partizipialverbindung ποιμαίνοντ᾿ ἐπ᾿ ὄεσσι (Λ 106) in den Nominativ hätte umgeformt werden müssen.

68 | III Homer zur Sublimierung der Alltagswelt

und dem unreflektierten, baukastenartigen Umgang mit dem Homertext, fließend.198 Dennoch können selbst in einfachen Gedichten aus ländlichen Regionen oft Gedanken und Formulierungen aufblitzen, die vor dem Hintergrund einer durchschnittlichen literarischen Ausbildung einen gewissen poetischen Anspruch, wenn nicht gar eine Begabung der Epigrammdichter ausweisen.

2

Die Formel τὸ γὰρ γέρας ἐστὶ θανόντων

Schon im 6. Jh. v. Chr. findet man in Sunion den auf das Grabmal (σῆμα) bezogenen Halbvers (CEG 40 V. 2):

τὸ γὰρ γέρας ἐστὶ θανόντο[ς]. „Dies ist nämlich die Ehrengabe eines Verstorbenen.“ Es handelt sich um den frühesten Nachweis für die Homer-Reminiszenz, die in der gesamten Grabepigrammatik am häufigsten vorkommt. Vielleicht hat in diesem Beispiel der Steinmetz das Vorbild versehentlich am Versende, das nach Hansen (zu CEG 40) aus Platzgründen sicher so herzustellen ist, in den Singular abgewandelt. An der ersten homerischen Belegstelle spricht Hera diesen Satz mit Blick auf das zukünftige Grab des Zeus-Sohnes Sarpedon aus. Diesem solle nach seinem unvermeidlichen Tod vor Troja vom Vater Zeus wenigstens beschieden sein, in der Heimat Lykien von den Verwandten begraben zu werden, wie es denn später auch geschieht (Π 456f. ~ 674f.):

ἔνθά ἑ ταρχύσουσι κασίγνητοί τε ἔται τε τύμβῳ τε στήλῃ τε· τὸ γὰρ γέρας ἐστὶ θανόντων. Noch prominenter begegnet die Wendung (mit ὅ statt τό) hinsichtlich der dem gefallenen Patroklos zustehenden Wehklage (Πάτροκλον κλαίωμεν) aus dem Munde Achills zu Beginn des 23. Gesangs (Ψ 9). In diesem Sinne kehrt auch im 24. Gesang der Odyssee der Satz zweimal wieder, einmal bezogen auf die Totenwaschung und Klage, welche für die niedergemetzelten, aber noch nicht geborgenen Freier aussteht (ω 190), und zuletzt in der Rede des Laertes, der fälschlicherweise befürchtet, seinem in der Ferne verstorbenen Sohn Odysseus könnte die letzte Ehre in Form der familiären Totenklage und des Verschließens der Augen durch die Gattin versagt bleiben (ω 296f.): || 198 Vgl. auch Bing (2009) 147–174 zur unterschiedlichen, auf den jeweiligen Adressatenkreis ausgerichteten Verarbeitung Homers in Epigrammen einerseits und gelehrter Dichtung andererseits am Beispiel der Odyssee.

2 Die Formel τὸ γὰρ γέρας ἐστὶ θανόντων | 69

κώκυσ’ ἐν λεχέεσσιν ἑὸν πόσιν, ὡς ἐπεῴκει, ὀφθαλμοὺς καθελοῦσα· τὸ γὰρ γέρας ἐστὶ θανόντων.199 Trotz der eingangs zitierten archaischen Belegstelle ist nach den vorliegenden Zeugnissen die Formel erst in der Steinepigrammatik ländlicher Regionen Kleinasiens beliebt, und zwar scheinbar besonders dort,200 wo sie ausschließlich zum Abschluß von sonst äußerst dürftigen späten Grabinschriften angewendet wird: SGO 14/04/02 (Thonemann [2014] 221f. Nr. 15; Kissia/Axylon, christlich) V. 1 (am Ende nach τίτλον ἔδιμεν); 14/02/04201 (Gdanmaua; christlich) V. 10 (letzter Vers bezogen auf τίτλῳ οὔνομ᾿ ἔθη|κε). In einem christlichen Epigramm aus Tyana SGO 13/07/02 V. 5 ist am Ende gleich der gesamte Vers aus der ersten homerischen Belegstelle zitiert. Und SGO 09/05/28 (Nikaia Ostgebiet, 2. Jh. n. Chr. [?]) V. 9 ist das formelhafte Versatzstück bezogen auf einen Grabaltar vielleicht mit einer Figur (V. 8 σή[μα]|τι καὶ βωμῷ). In Phrygien 16/35/99 (Nakoleia[?], Kaiserzeit) und im Landbezirk um Ankara (SGO 15/02/98 V. 3) erscheint der Halbvers am Ende von sonst fragmentarischen Grabgedichten der Kaiserzeit. Eine in SGO nicht berücksichtigte Inschrift aus der zuletzt genannten Gegend ist metrisch stümperhaft, schließt aber immerhin mit dem Homerzitat ab (*15/02/17). In gleicher Weise bietet eine weitere Inschrift auf einem Türstein aus dem phrygischen Orkistos den gesamten Vers in leichter Variation *16/42/03 (Anfang 3. Jh. n. Chr.) Z. 4–7 τύν|βον καὶ στήλην, ὅπε‹ρ› | γέρας ἐστὶ θανόν|των; vgl. außerdem SGO 24/22 = 14/07/11 (Ikonion, 3./4. Jh. n. Chr.) V. 10, ergänzt; 24/23 = 14/07/12 (Ikonion) Z. 10f. Im phrygischen Midaion ist die Formel im Hinblick auf das σῆμα am Schluß einer sonst prosaischen Grabinschrift als Versuch eines Hexameters202 zu lesen, SGO 16/36/02 (nach 212 n. Chr.) Z. 6–9 (prosaisch:) ἀνέστησαν | τὸ σῆμα | (metrischer Versuch:) ἐν νεκύεσσι χάριν· | τοῦτο γάρ ἐστι γέρας θανόντων. Manchmal spiegelt sich nurmehr der Gedanke an den bekannten Homervers wider, wenn es zum Auftakt heißt (SGO

|| 199 Vgl. Ecker (1990) 30–34, 217–219, Besprechung der Homerstellen im Hinblick auf die archaische Grabepigrammatik und CEG 40. 200 Vgl. die wenigen außerkleinasiatischen Belege: für Thessalien Anm. 202; für Tanagra/Böotien (5. Jh. n. Chr., christlich) ed. W. M. Calder, CR 62, 1948, 9 V. 17 (mitten im Gedicht, zum Abschluß des ersten Teils der Instruktionen); für Theben GVI 2035 (Santin [2009] Nr. 12; 3./4. Jh. n. Chr.) V. 1 ἐπεὶ γέρας ἐστὶ θανοῦσι, und V. 16 Zώσιμος υἱὸς ἔγραψε, τὸ γὰρ γέ[ρας ἐστὶ

θανοῦσ]ι̣ν̣. 201 Mit diesem Epigramm ist wiederum ganz eng SGO 14/02/07 (Gdanmaua, 3./4. Jh. n. Chr.) verwandt, welches Thonemann (2014) 219f. unter Nr. 13 wie SGO 14/04/02 = Thonemann (2014) 222f. Nr. 15 der Vers-Koine von Axylon zuordnet. 202 Ähnlich in Thessalien Arch. Ephem. (1923) 138f. Nr. 370 Z. 4–6 τ̣ύνβῳ κ̣αὶ στ̣ήλῃ· | τοῦτο γέρας ἐστὶ θα̣νόν|των.

70 | III Homer zur Sublimierung der Alltagswelt

09/05/23, wohl 2. Jh. n. Chr.) V. 1: τοῦτο γέρας φθιμένοις, oder zum Abschluß in *16/34/42 (Dorylaion) V. 8 ὡς γέρας ἐστί[ν]. Vgl. auch SGO 04/19/04 (Iaza, 232/3 n. Chr.) V. 6 τοῦτο γέρας θνητοῖς; 16/41/03 (Phrygisches Hochland) V. 5 τ̣[όδ]ε σῆμα βροτοῖς γ[έρ]α̣ς ἐστὶ | θ[ανοῦσ]ιν.203 Wie all die Beispiele vor Augen führen, scheint für ganz unbeholfene „GrabDichter“ die Benutzung dieses Homer-Zitates der letzte Notanker gewesen zu sein, um auf denkbar schlichteste Weise der Ehrbekundung gegenüber dem Verstorbenen gerade noch ein dem Gewöhnlichen enthobenes Flair zu verleihen. Die Anwendung des Zitates allein, das gleichsam sprichwörtlich noch in der einfachsten Grabepigraphik umlief, kann freilich nicht als Indiz für die Lektüre Homers in den jeweiligen Regionen dienen. Eine allgemeine Homerkenntnis darf man in solchen Fällen vermuten, in denen durchdacht auf die Passage angespielt (vgl. unten *10/02/33 zu V. 5, S. 223) oder auch der Zusammenhang der Verse Π 456f. ~ 674f. zitiert wird. Dieser ist beispielsweise auf einem bithynischen Grab, das sich offenbar ein Lehrer selbst zu Lebzeiten hergestellt hat, mit bescheidener Kunstfertigkeit variiert, wenn es dort am Anfang eines nur aus drei Versen bestehenden Gedichtes auf einen Lehrer heißt (SGO 09/10/04; KreteiaFlaviopolis, 3. Jh. n. Chr.) V. 1f.:

ὦ σοφίης πανάριστε διδάσκαλε, ἐνθάδε ἔτευξας | τύνβον καὶ στήλην· τὸ γὰρ τέλος ἐστὶ θανόντων.

3

Homer als Erfinder des Epigramms

Daß die homerischen Epen in der Antike der Referenzpunkt für die kulturelle Erziehung sowie für jede Form eigener literarischer Tätigkeit waren, ist unbestreitbar. Doch die Bedeutung Homers für die Epigrammatik geht über die allgemeine Prägung des literarischen Bewußtseins sogar noch ein Stück hinaus; denn nach antiker Auffassung galt Homer geradezu als der Erfinder des Epigramms selbst. Wie die Exegeten des Altertums in Homer den Begründer aller möglichen kulturellen Errungenschaften entdecken konnten, so erkannten sie in ihm denjenigen, der die auf Weihgegenständen und Gräbern angebrachten Aufschriften als πρῶτος εὑρετής in der Literatur etablierte (vgl. Ps.-Plut. de Homero 215204).

|| 203 Ob allein das Vorkommen von γέρας hinreicht, um den Homervers in Anspruch zu nehmen, sei dahingestellt; so Merkelbach/Stauber in ihrer (unvollständigen) Parallelenliste SGO 5 (2004) 37 in Hinblick auf das Ehrenepigramm SGO 02/09/17 (Aphrodisias, 3./4. Jh. n. Chr.) V. 6. 204 Auswertung der Stelle für die antike Epigrammtheorie bei Reitzenstein (1907) 77; Lausberg (1982) 35f.; Hinweis darauf bei W. Schmid, Geschichte der griechischen Literatur I 1 (1929) 384

3 Homer als Erfinder des Epigramms | 71

Im 7. Gesang der Ilias stellt sich Hektor vor, daß das Andenken an ihn gewahrt wird, wenn das Grabmal eines von ihm getöteten Gegners einen späteren Passanten dazu veranlaßt, sich dessen Todesumstände in einer Art Monolog noch einmal klarzumachen. Die dem zukünftigen Betrachter des erhofften Grabes vom homerischen Hektor in den Mund gelegte Ausdrucksweise diagnostizierten antike Kommentatoren wohl aufgrund ihrer Parallelen zur epigraphischen Praxis als Inschrift (Schol. in Il. 7, 89a II 243 Erbse ἐπιγράφει τῷ τάφῳ, in Il. 86b ἐγκολάπτει ἐπιγραφήν; Η 89f.):

ἀνδρὸς μὲν τόδε σῆμα πάλαι κατατεθνηῶτος, ὅν ποτ’ ἀριστεύοντα κατέκτανε φαίδιμος Ἕκτωρ. Mit dem Versbeginn scheint der Ependichter auf eine bereits in ältester Zeit übliche Form der Grabinschrift zurückzugreifen, bei welcher der Name im Genitiv der Junktur τόδε σῆμα vorausgeht.205 Jedenfalls hat das homerische Verspaar auf die nachfolgende Epigrammatik gewirkt, in der sich auch einzelne Spuren des zweiten homerischen Verses, sowohl hinsichtlich der Wortwahl als auch der syntaktischen Struktur, zeigen.206 Einen ἐπιγραμματικὸς τύπος (in Il. 6, 460b II 209) entdeckten die antiken Interpreten des weiteren in einer Formulierung, mit der Hektor beim Abschied von Andromache imaginiert, was jemand, der seine Gattin dereinst als Sklavin in Argos sähe, über sie sagen könnte (Z 460f.):

|| Anm. 6. – Vgl. Nünlist (2009) 219 im Zusammenhang der von den Scholiasten vorgenommenen Unterscheidung gattungs- und autorspezifischer Stile. – Vgl. Markwald (1986) zu den in späterer Zeit Homer zugeschriebenen Epigrammen. 205 Vgl. CEG 16 (Attika, ca. 550 v. Chr.); CEG 73 (Attika, ca. 500–480 v. Chr.); CEG 123 (Thessalien, 450–425 v. Chr.); CEG 130 (Aigina, 5. Jh. v. Chr.); unter anderem zu CEG 145 (Korkyra, ca. 600 v. Chr.) V. 1 Σᾶμα τόδε Ἀρνιάδα Skiadas (1967) 75–79, Pfohl (1969) 11–13 und Tentori Montalto (2017) 28 ohne Hinweise auf die Homerscholien. – Νoch der Epiker Nonnos Dionys. II 629 γηγενέος τόδε σῆμα Τυφωέος, ὅν ποτε imitiert, wohl orientiert an Homer, diese Form des Epigramms; vgl. Collart (1913) 136 ohne Hinweis auf Homer. 206 Vgl. Raubitschek (1968) 5f.; Thomas (1998) 205–207; Hillgruber (1999) 434f. Auch ein Epigramm des 5. Jh. v. Chr. aus Lampsakos (SGO 07/07/01 nach Thuk. VI 59 [FGE 786–9]), das mit ἀνδρὸς ἀριστεύσαντος (V. 1) anhebt und nach Aristoteles rhet. I 9, 31, 1367 b 19f. in die Simonideische Sammlung gehört, scheint von den Homerversen inspiriert zu sein. Im fragmentarischen Gedicht CEG 497 (Athen) wird nach Wests Ergänzung V. 3 ὅμ ποτε ἀ[ριστεύοντα] vielleicht H 90 zitiert; vgl. CEG 112 (Böotien, um 500 v. Chr.) V. 2 [hό]ς ποτ᾿ ἀρισστεύο̄ν; Anklänge in CEG 519 (Attika) V. 4; vgl. auch Anm. 207. – Für die noch viel häufiger anzutreffende grammatische Struktur beispielsweise unten S. 168, *02/06/23 zu V. 1. – Im ps.-aristotelischen Peplos (Anthol. Lyr. Diehl II2 fasc. 6) sind für Hektor selbst zwei fast gleichlautende Epigramme 46 (in Troia) und 46A (in Theben) überliefert, die mit der homerischen Formulierung keine Übereinstimmungen haben.

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Ἕκτορος ἥδε γυνή, ὃς ἀριστεύεσκε μάχεσθαι Τρώων ἱπποδάμων, ὅτε Ἴλιον ἀμφεμάχοντο. Ganz besonders wiesen nach den Scholiasten bisweilen die Kurzbeschreibungen der Helden in der Mauerschau die Formen des Epigramms auf. Die Vorstellung des Odysseus durch Helena (Γ 200–202):

οὗτος δ’ αὖ Λαερτιάδης πολύμητις Ὀδυσσεύς, ὃς τράφη ἐν δήμῳ Ἰθάκης κραναῆς περ ἐούσης εἰδὼς παντοίους τε δόλους καὶ μήδεα πυκνά, ist nach den Kommentatoren ein Epigramm, das „in Kürze alles enthält“ (in Il. 3, 200–2 I 396 ἐν βραχεῖ τὸ ἐπίγραμμα πάντα ἔχει). In der Tat ist die Einführung des Verstorbenen mit οὗτος, an welches sich im folgenden ein Relativsatz bzw. Partizipien anhängen, ein Muster für Grabgedichte.207 So erkannten die Scholiasten der Ilias den Stil eines Epigramms (in Il. 3, 178 I 391 ἐπιγραμματικῶς, in Il. 1, 29d I 17 τὸ περὶ αὐτοῦ ἐπίγραμμα) ebenso in Agamemnons Vorstellung durch Helena (Γ 178f.):

οὗτός γ’ Ἀτρεΐδης εὐρὺ κρείων Ἀγαμέμνων, ἀμφότερον βασιλεύς τ’ ἀγαθὸς κρατερός τ’ αἰχμητής.208 In den Versen über Helena selbst sah man den Beweis für Homer als ersten Verfasser eines τρίγωνον ἐπίγραμμα (in Il. 3, 156–8b I 387), bei dem es gleichgültig ist, welchen Vers man an den Anfang setzt (Γ 156–158):209

οὐ νέμεσις Τρῶας καὶ ἐϋκνήμιδας Ἀχαιοὺς τοιῇδ’ ἀμφὶ γυναικὶ πολὺν χρόνον ἄλγεα πάσχειν· αἰνῶς ἀθανάτῃσι θεῇς εἰς ὦπα ἔοικεν.

|| 207 Vgl. etwa CEG 105 (Athen, um 400 v. Chr.) V. 1 οὗτος, ὅς ἐνθάδε κεῖται; AP VII 77 (Simonideisch; FGE 1028f.). 208 Vgl. zur Struktur CEG 519 (Attika, 375–350 v. Chr.; vgl. auch Anm. 206) V. 3 ἀμφότερον μάντιν τε ἀγαθὸν καὶ δορὶ μά̣[χεσθαι]; IG II2 4211 (Puech [2002] Nr. 149; hadrianisch) V. 1

ἀμφότερον ῥητῆρα δικῶν μελέτῃσί τε ἄρι|στον. 209 Vgl. auch Hermeias in Phaedr. 264 C/D p. 243, 2–6 ed. Lucarini/Moreschini. Das Schema bedeutet nicht die volle Variabilität der Versabfolge, sondern bezieht sich allein auf das Voranstellen eines der folgenden Verse, ohne sonst die vorgegebene Reihenfolge zu ändern, denn die Abfolge der Homerverse Γ 157/158/156 ist ausgeschlossen. Vox (1975) sieht dieses dreigliedrige Schema auch bei den beiden vorangehend zitierten Homerstellen als Eigenart der „Homerischen Epigramme“ an.

3 Homer als Erfinder des Epigramms | 73

Aus den Scholien zur Odyssee geht noch hervor, daß die Selbstvorstellung des Mentes (α 180 Μέντης Ἀγχιάλοιο δαΐφρονος εὔχομαι εἶναι) unter Homerphilologen als Epigramm galt (Schol. in Od. 1, 180a I 100 Pontani ἐπίγραμμα τοῦτο λέγεται).

4

Mittelbare Iliasrezeption: Homers Grabinschrift in der sepulkralen Epigrammatik

Da alles, was einen Bezug zu Homer hatte, für die Steinpoesie von Bedeutung war, wurde auch eines der bekanntesten und literarisch mehrfach überlieferten Gedichte auf den Dichter in der späteren Steinepigrammatik oft zitiert oder imitiert. Die angeblich einst an dessen Grab auf der Insel Ios angebrachten Verse lauten:210

Ἐνθάδε τὴν ἱερὴν κεφαλὴν κατὰ γαῖα καλύπτει ἀνδρῶν ἡρώων κοσμήτορα, θεῖον Ὅμηρον. Das Epitaphion ist nun seinerseits aus Elementen der Ilias konstituiert: Die Umschreibung mit ἱερὴ κεφαλή, die ab der Spätantike als weitverbreitete ehrenvolle Titulierung begegnet, hat ihren Ursprung in einer Anrede Heras an Zeus (Ο 39). Im Anschluß daran greift V. 1 den Wunsch Hektors für sein eigenes Grab auf (Z 464; vgl. Ξ 114 [Diomedes in Bezug auf seinen Vater Tydeus]):

ἀλλά με τεθνηῶτα χυτὴ κατὰ γαῖα καλύπτοι. Im zweiten Vers wird Homer im Anklang an seine Wortprägung für die Heerführer, κοσμήτορε λαῶν (A 16 u. ö.), als „Ordner der Helden(taten)“ (ἀνδρῶν ἡρώων κοσμήτορα) bezeichnet (vgl. auch den Reflex bei Ps.-Luk. Charidemus 11). Den unmittelbaren Ausschlag für die Formulierung könnte die vielleicht auf den Lyriker Pindar zurückgehende Apostrophierung Homers als „Ordner der phrygischen Schlacht“ (Pind. fr. dub. 347 Φρυγίας κοσμήτορα μάχας) gegeben haben. Wann die beiden Hexameter, für die nicht zuletzt aufgrund der genannten Ilias-Ingredienzen in zwei Quellen Homer selbst als Autor genannt wird (cert. Hom. 333; vit. Hom. [V] 48f.), tatsächlich entstanden sind, läßt sich nicht sicher

|| 210 AP VII 3; vit. Hom. (IV) 24f. ed. Allen; (V) 51f. ; (VI) 63f. ; vit. Herod. Hom. 515f. ed. Allen; cert. Hom. et Hes. 337f. ed. Allen; Ps.-Plut. vit. Hom. 73f.; Suda ο 251 p. 526,12f. 531,2f. Adler = 54f. 220f. ed. Allen; Preger 29; GVI 487. – Skiadas (1965) behandelt in seiner Monographie alle Homer betreffenden Gedichte (AP VII 1–7; IX 24. 192. 522; APl XVI 292–304), zum vorliegenden ebd. 7-10; Garulli (2012) 206–212.

74 | III Homer zur Sublimierung der Alltagswelt

klären;211 sie sind aber sehr viel älter, als es die späten literarischen Belegstellen vermuten lassen, wenn sich ein ganz ähnliches Muster in zwei attischen Grabepigrammen bereits aus dem 4. Jh. v. Chr. findet, eines davon auf eine Frau Archestrate, deren Name unmetrisch anstelle des ersten Hemiepes gesetzt ist (CEG 539):

ἐνθάδε τὴν ἀγαθὴν καὶ σώφρονα γαῖ᾿ ἐκάλυψεν |/ Ἀρχεστράτην, ein anderes Gedicht für eine junge Frau Melitta (CEG 571):

ἐνθάδε τὴν χρηστὴν τ̣ί[̣ τθ]ην κατὰ γαῖα καλύπτ|ει. In späteren Epigrammen ist die Wirkung des Grabgedichtes für Homer im gesamten griechischsprachigen Bereich zu spüren,212 und wo es im Hintergrund steht, wird indirekt immer auch auf den Homertext selbst mitrekurriert. Ein Epigramm des 2. Jh. n. Chr. aus Neapel, das eine Freigelassene Aurelia Atalante ihrem Patron gewidmet hat, zitiert das gesamte Gedicht und bietet in zerstörter Metrik nur den anderen Namen am Ende, Ἀλκιβιάδην (GVI 511, Raffeiner 54). Ebenso wird die ganze Inschrift im kaiserzeitlichen Prusias mit einer leichten Veränderung in V. 2, nämlich [ἡ]ρώων προγόνων statt ἀνδρῶν ἡρώων, vielleicht auf einen Paulinos umgemünzt (SGO 09/08/06 in der Wiederherstellung durch Kaibel 354213). Andere Grabgedichte greifen zum Auftakt auf den ersten Vers der berühmten Vorlage zurück. Das herausragendste Beispiel dafür bietet ein Philippos von Thessalonike (1. Jh. n. Chr.) zugeschriebenes Fragment, in dem der Anfang des ersten Verses übernommen ist, um des Rhetors Aetios zu gedenken (AP VII 362 [GP 3147]). Weitere Beispiele sind kaiserzeitliche Inschriften aus Olbia (GVI 510 V. 1 mit der Variante σεμνὴν κεφαλήν), der Insel Syros (GVI 2030 V. 13; 2./3. Jh. n. Chr.), aus Alexandria (IMEG 50; 2./3. Jh. n. Chr.), aus Thespiai (GVI 1767 [GG 252, Obryk (2012) 47f. B5; 2. Jh. n. Chr.]), aus Tibur (Kaibel 660, IG XIV 2043) und Rom, wo der wahrscheinlich unbewußte Bezug auf das Homerepigramm erst im zweiten Vers durch ἐκάλυψε deutlich wird (IGUR 1299):

|| 211 Preger 29, S. 24 „IV. fere saec.“; Crönert (1911) 142 setzt die Verse in voralexandrinische Zeit; Peek GVI S. 120 „V./IV. Jh. ?“. 212 Vgl. auch Habicht (1999) 97f., der allerdings seinerseits trotz der harschen Kritik an Merkelbach unvollständig und undifferenziert ist. 213 Nach der Tafel VII in Hommaire de Hell, Voyage en Turquie et en Perse IV, 1860 besteht zur Übernahme von Peeks Ergänzungsvorschlag, der V. 2 gegen die Logik der Abschrift (dort ist die fragliche Z. 4 nur um einen Buchstaben zu ergänzen, entsprechend den auf gleicher Linie am Zeilenbeginn stehenden Zeilen 2 und 6) um 7 Buchstaben nach vorne verlängert und damit den Namen aus dem Vers ausklammert, keine Veranlassung. In Übernahme der Edition Peeks ist V. 2 des Epigramms in IK 27 Prusias Nr. 76 und bei Habicht (1999) falsch wiedergegeben.

4 Mittelbare Iliasrezeption: Homers Grabinschrift in der sepulkralen Epigrammatik | 75

Πανκάρπου ἱερὴν κεφαλὴν | φίλος ἐνθάδ’ Ἅμιλλος | [ἐ]ν̣ μνείοις ἐκάλυψε, χαρι|[ζόμενος] τόδ’ ἑταίρῳ. In Thrakien wurde der Vers durch unmetrische Umformung gleich auf fünf Verstorbene übertragen (IG Bulg. II 741 [Novae, römische Zeit] Z. 4f. V. 2):

πέντε τὰς ἱερὰς κεφαλὰς | κατὰ γαῖα κάλυψε.214 Eine bemerkenswerte christliche Übernahme findet sich in Rom (Inscr. Christ. Urb. Rom. IV 12406):

ἔνθα τὴν εἱερὴν κεφαλὴν ‹κ›ατὰ γέα καλύπτι / Χρίστως. Außer dem oben angeführten Beispiel aus Prusias ist für den griechischen Osten auf die sehr späten Nachwirkungen in Aphrodisias (SGO 02/09/29 [iustinianisch] V. 1 ἐνθάδε τὴν ἱερὰν κεφαλὴν ‹κατὰ› γαῖα καλύπτει) und im Hauran (SGO 22/49/02 [5./6. Jh. n. Chr.] V. 1 ἐνθάδε τὴν ἱερὴν | κεφαλὴν κατέθαψ|αν ἅπαντες) zu verweisen. Analytisch zu unterscheiden sind Epigramme, die auf die konstitutiven Einzelelemente des Homerepigramms und damit auf den Homertext direkt zurückgreifen: So braucht man zur Erklärung von Gedichtanfängen in Savatra auf einen in Tarsos verstorbenen Studenten (SGO 24/24 = 14/09/02) σὴν ἱερὴν κεφα[λήν – – –] und in Sardeis, wo der einheimische Literat Polybios eine Büste Ciceros mit den Worten weiht (SGO 04/02/05, um 150 n. Chr.) σὴν ἱερὴν κεφαλήν, Κικέρων, εὑρὼν ἀνέθηκα, nicht an das Homergrab zu denken (wie Habicht215 und Merkelbach). Hier genügt es, die oben zitierte Homerstelle in Anspruch zu nehmen, an der Hera ihren Gatten mit den Worten anspricht (O 39): σή θ᾿ ἱερὴ κεφαλή.216 Die erwähnten Epigramme schließen, wie es auch sonst üblich ist, direkt an den Homertext an. Genauso hat sich das auf Hektors Rede (Z 464; vgl. Ξ 114) zurückgehende Versende, χυτὴ κατὰ γαῖα καλύπτοι, in der Grabepigrammatik seit frühester Zeit völlig unabhängig von dem Homerepigramm, als dessen Baustein es seinerseits diente, verselbständigt. Früheste Belege dafür sind CEG 69 (Athen, um 500 v. Chr.) V. 1 χ[υτὲ κ]|ατὰ γαῖ᾿ ἐκάλυφσεν und CEG 76217 (Eretria, 500–480) V. 1;

|| 214 Eine parodistische Umgestaltung auf einen Eunuchen stammt aus dem 10. Jh. (Anecdota Graeca Parisina IV 293; Johannes Geometres epigr. 72 ed. van Opstall): Ἐνθάδε τὴν μιαρὰν

κεφαλὴν κατὰ γαῖα καλύπτει, / ἄρρενα καὶ θῆλυν, εἰς τέλος οὐδέτερον. 215 Habicht (1999) 97; dasselbe gilt für den von ihm S. 98 unter Nr. 5 angeführten Beleg aus Rom (vgl. folgende Anmerkung). 216 Vgl. auch GVI 1582 (IGUR 1266; 2./3. Jh. n. Chr.) V. 1. 217 Vgl. Skiadas (1965) 8 Anm. 4, ohne Unterscheidung der einzelnen Homervorlagen.

76 | III Homer zur Sublimierung der Alltagswelt

CEG 739 (Halbinsel Taman; 4./3. Jh. v. Chr.) V. 1, bereits in Abwandlung: χυτὴ κατὰ γαῖα κέκευθεν; SEG 38, 440 (Thessalien, 4. Jh. v. Chr.) V. 1 Σωσικράτους τόδε μνῆ|μα χυτὴ κατὰ γαῖα | καλύπτει. Am engsten an den gesamten Homervers (ἀλλά με τεθνηῶτα χυτὴ κατὰ γαῖα καλύπτοι) angelehnt ist der Anfang eines Epigramms des 2. Jh. n. Chr. aus Rom auf ein Kind (IGUR 1201 [Vérilhac 122, GVI 781]):

παῖδά με τεθνειῶτα [χ]υ̣τ̣ὴ̣ κατὰ | γαῖα καλύπτει. Die zweite Vershälfte findet bis in die späte Kaiserzeit in einfachen Grabgedichten Kleinasiens in mehr oder weniger abgewandelter Form Verwendung:218 SGO 03/02/74 (bei Ephesos, wohl Kaiserzeit) V. 1 τὸν Βρομίου πρόπολόν [με] | χυτὴ κατὰ γ̣α[ῖα] κάλυψεν; SGO 04/18/01 (Lyendos, ca. 2./3. Jh. n. Chr.) χυτὴ κατὰ γαῖα καλύπτω; 16/61/08 (Antiochia in Pisidien, 2./3. Jh. n. Chr.) V. 3 oὕτως δὴ καὶ παῖ|δα χυτὴ κατὰ γαῖα κα|λύπτει; SGO 18/01/19 (Termessos, 2./3. Jh. n. Chr.) V. 1 τῆλε θανόντα πάτρης με | χυτὴ κατὰ γαῖα κάλύψεν. Es konnte sogar die Entwicklung eintreten, daß homerische Versatzstücke ungeachtet des grammatischen Zusammenhangs der Vorlage angewendet wurden.219 Aus den hier behandelten, in der Grabepigrammatik etablierten homerischen Formulierungsmustern werden wiederum einzelne Wörter herausgelöst, und diese verselbständigen sich zu einer Terminologie sepulkraler Dichtung. Das gilt etwa für die Verwendung der Junkturen γαῖα χυτή sowie γαῖα καλύπτει220 in ihren Abwandlungen oder für das Einzelwort καλύπτω, mit welchem die „Umhüllung“ durch das Grab bereits bei Homer und fortan in der gesamten Literatur mit der Vorstellung der ewigen dunklen Nacht und der finsteren Unterwelt in Beziehung gesetzt wird.221

|| 218 Vgl. auch die beiden S. 129f. besprochenen außerkleinasiatischen Beispiele. 219 Vielleicht dachte der Autor eines Gedichtes aus Nisibis im 2./3. Jh. n. Chr. an die homerische Stelle, als er mit der Präposition κατά mit einem in den Akkusativ gesetzten γαῖαν die Bedeutung „unter der Erde“ auszudrücken meinte (eigtl. „über die Erde hin“), SGO 20/27/01 V. 4 καὶ κατὰ γαῖαν θ[άρ]|σει. („Sei guten Mutes auch unter der Erde.“); vgl. auch GVI 398 (Peek [1972] 19f.; Cyrenaica) ἐνθάδε Λ̣Ο̣[ – – – κεῖται Λιβύης] | κατὰ γαῖαν. 220 Einige Belegstellen bei Garulli (2012) 206f. Anm. 397; SGO 01/15/04 (Mylasa; Kaiserzeit) V. 1 γαῖα κ̣[α]λ̣ύ̣π̣τ̣ει; *14/11/03 V. 2 [γαῖα χ]υτή. 221 Dazu Skiadas (1965) 9; Lier (1903) 595 mit Anm. 46 zum Tod als umhüllende Nacht; ohne Bezug darauf Garulli (2012) 296–305.

4 Mittelbare Iliasrezeption: Homers Grabinschrift in der sepulkralen Epigrammatik | 77

Betrachtet man die am Beispiel des Homerepigramms analysierte Wirkung der Ilias auf bestimmte, regional und chronologisch weit gestreute Epigrammformen, wird einer der Gründe deutlich, warum die antiken Interpreten Homer selbst zum Erfinder des Grabepigramms machen konnten.

5

Mythische Vergleichsfiguren und Motivfelder

a Paradigmatische Heroengestalten von Hektor bis Leonidas Die durch Bilddarstellungen (vgl. S. 57), Schauspiele und die Schule fest im kulturellen Bewußtsein verankerten Hauptfiguren der homerischen Epen boten sich in besonderer Weise als Vergleichsfolien an, um Verstorbene mit den für sie typischen privaten Lebensleistungen ihren Zeitgenossen gegenüber in ein helleres Licht zu rücken. Oben (S. 73ff.) wurde bereits gezeigt, welche Wirkung Hektors Worte über seine Begräbnisstätte (Z 464):

ἀλλά με τεθνηῶτα χυτὴ κατὰ γαῖα καλύπτοι, in der Steinepigrammatik, nicht zuletzt durch Homers Grabgedicht vermittelt, entfalteten. Wenn ein Gedicht aus Nikomedeia im 1. Jh. n. Chr. anhob (SGO 09/06/94):

Ἑκτόρεον τύμβον, ‹τ›ὸν ἐθαύμασε θεῖος Ὅμηρος, wurde damit vielleicht ein Privatgrab in eine heroische Aura gehüllt. Der Passant konnte an „Hektors Grab“ denken, welches Homer am Ende der Ilias (Ω 799–801. 804) würdigte.222 Darüber hinaus aber mochte ein erfahrener antiker Leser in dem Gedichtanfang einen deutlichen Hinweis auf das Grabepigramm sehen, welches nach antiker Vorstellung Homer auf sich selbst verfaßt hatte . Wenn sich nämlich der Ependichter für die angebliche Komposition seines Epitaphs Hektors eigene Grabbeschreibung aus der Ilias gleichsam in einer Selbstimitation zum Vorbild genommen hatte, lag es auch von daher nahe, in Homer einen Bewunderer von „Hektors Grab“ zu sehen. Zur Charakterisierung von Kampferfolg gab Hektor als Opfer des Achill (vgl. SGO 02/14/11; S. 88) freilich kein gutes Beispiel ab. Da er aber als Symbol von aufopfernder Vaterlandstreue und Heldenmut dienen konnte, wird in diesem

|| 222 Darauf weisen Merkelbach und Stauber zu der Stelle hin.

78 | III Homer zur Sublimierung der Alltagswelt

Sinne auf ihn in privaten Grabepigrammen, besonders auf Gefallene, einige Male rekurriert.223 Die elterliche Trauer über Hektors schmachvollen Tod224 und sein im letzten Gesang der Ilias geschildertes Begräbnis (Ω 695ff.) waren seit früher Zeit für die Grabdichtung von großer Bedeutung.225 Wenn Gestalten des Mythos in den Inschriften erscheinen, so versuchen die Dichter, in ihnen über die einfache Namensnennung hinaus Eigenschaften und Lebensumstände des Verstorbenen treffend einzufangen. Sehr gewählt, wenn auch am Ende unzulänglich ausgeführt, ist etwa der Vergleich eines von Räubern erschlagenen jungen Mannes Asklas aus Miletopolis oder Kyzikos (SGO 08/05/02) mit dem Helden Nireus,226 welcher nach Homer nur hinter Achill an Schönheit zurückstand (B 672–674). Dessen Name wird mit mißverständlichem Wechsel des Liquidlautes mit Νείλεα (für Νίρεα) wiedergegeben. Der Heros Nestor, der seit dem frühen Epos aufgrund seines hohen Lebensalters als weiser Berater in privaten wie gemeinschaftlichen Angelegenheiten par excellence galt (Hom. Α 247–284 u. ö.), bot sich als mythischer Vorgänger an, wenn sich eine Person im politischen Bereich hervortat, wie etwa im Gebiet Olba/Diokaisareia ein mit einer Statue Geehrter (SGO 19/07/02 [mit Ergänzungen von A. Wilhelm]; 1. Jh. v. Chr.), der seiner Vaterstadt aus einer militärischen

|| 223 Vgl. SGO 10/02/28 (S. 88; Hadrianopolis, 2. Jh. n. Chr.) V. 5; 09/06/93 (vgl. Anm. 443; Nikomedeia, 3. Jh. n. Chr.); außerdem GVI 1521 (Pantikapaion, 1. Jh. n. Chr.) V. 7f. 224 Vgl. das Grabgedicht auf Anatolios aus Kappadokien (SGO 13/08/01), in welchem die metrische Gestaltung hinter dem Bemühen um fast schon centohafte Zitation Homers zurücktritt und die Klage der Eltern aus den entsprechenden Homerversen in Gesang Χ 405f. ἡ δέ νυ μήτηρ / τίλλε κόμην und Χ 408 ᾤμωξεν δ᾿ ἐλεεινὰ πατὴρ φίλος sowie aus Σ 89 (aus Achilleus’ Klage vor Thetis) παιδὸς ἀποφθιμένοιο zusammengesetzt wird zu (ebd. V. 3f.; nach Penthemimeres Metrik durch Einfügung der Namen zerstört): ἔλι|να δ᾿ ἐν θαλάμοι[ς] | πατὴρ φίλος Ἐλπί|διος ἠδέ νυ{Ν} μή|τηρ᾿ Ἀντιπάτρα / ᾤ|μοξαν ἐρατοῦ πε|δὸς ἀποφθιμένου. – Gegen Thonemann (2014) 194f. halte ich die Lesung ἠδέ („und“) mit Merkelbach, der allerdings auf das homerische Vorbild nicht hinwies, aufgrund der syntaktischen Notwendigkeit für die richtige. Eine Verschiebung eines homerischen Wort- oder gar Klangbildes (hier ἡ δέ) hin zu einer anderen Wortauffassung (hier das erforderliche ἠδὲ) ist auch sonst in dieser Art Dichtung bezeugt; so wird in denselben Versen das homerische ἐλεεινὰ zu ἔλινα (= αἴλινα) verschoben. 225 Gleichwohl scheint mir etwas übertrieben Hunter (2010) 280 (ausgehend von AP VII 226 [FGE 484–7; Anakreon]): „The influence of the mourning for and burial of Hector in Iliad 24 upon Greek funerary epigram would require a long study itself.“ 226 Zu dessen sprichwörtlicher Schönheit Wagner (1908) 424. Vgl. auch Ps.-Aristot. Peplos (Anthol. Lyr. Diehl II2 fasc. 6) epigr. 17.

5 Mythische Vergleichsfiguren und Motivfelder | 79

Notlage geholfen hatte, oder in Pergamon der in hohem Alter verstorbene Dion, der eine einflußreiche Position im dortigen Stadtrat besaß (unten S. 289ff. *06/02/37 V. 10). Der junge Narkissos aus Sinope, vielleicht ein Schauspieler (SGO 10/06/09; 2. Hälfte 2. Jh. n. Chr.), könnte, wenn er „die Redegabe des Nestor aus Pylos“ (V. 4 τὴν Πυλίου Νέστορος | εὐεπίην) besaß, einfach nur eine wohltönende, „honigsüße“ Stimme wie der epische Held (A 247f.) gehabt haben.227 Als Vergleichsfigur für eine Mutter, die den Tod des eigenen Kindes in einsamer Trauer beklagen muß, konnte die aus Gram versteinerte Niobe herangezogen werden (zuerst Ω 613–617); auf sie nahm ein Dichter aus Smyrna, der den legendären Ort des Felsbildes am Sipylos sicher aus eigener Anschauung kannte, in auffälliger dichterischer Ausschmückung („felsene Träne“) Bezug, um das Leid einer Mutter über ihr verstorbenes Kind Paula zum Ausdruck zu bringen (SGO 05/01/55 [1./2. Jh. n. Chr.] V. 5f.):228

ἀεὶ δ᾿ ὡς Νιόβη πέτρινον δάκρυ πᾶσιν ὁρῶμαι | ἀνθρώποις ἀχέ͙ων πένθος ἔχουσα μόνη. (Stein: Η) „Immer ist allen Menschen sichtbar, daß ich, wie Niobe mit Tränen aus Fels, ich mit der Trauer über mein Leid allein(gelassen bin).“ In einem feinen Gedicht des 2./1. Jh. v. Chr. aus Kos (GVI 1729; GG 207; Raffeiner 11; IG XII 4, 3 Nr. 2947)229 greift der Grabspender und Dichter Philiskos auf die Figur von Odysseus’ Sauhirten Eumaios zurück, um seinen verstorbenen Sklaven Inachos zu preisen. Das Andenken an dessen verständigen Sinn (V. 3 σαόφρονα μῆτιν) bleibe durch den „Grabstein, welcher die stetes Andenken bewahrende

|| 227 Zu letzterem Epigramm Garulli (2012) 319–321. – In SGO 10/06/12 (EA 33, 2001, 71–73; Sinope, Kaiserzeit) Z. 3f. wird wahrscheinlich auf den mythischen Nestor als einen Gründer der Stadt Sinope Bezug genommen; vgl. auch in einem späten Lobgedicht des Dioskuros auf Domninus (6. Jh. n. Chr.) Nr. 7 V. 16 Nέστωρ οὐ λάθεν Heitsch I (1961) 137. 228 Vgl. Christian (2015) 152–154, durch dessen Verweis auf Euphorion fr. 68 Lightfoot ὡς καὶ μέχρι νῦν ἐν Σιπύλῳ τῆς Φρυγίας ὁρᾶται παρὰ πάντων πηγὰς δακρύων προιεμένη deutlich wird, daß auch der Dichter des vorliegenden Epigramms auf das in der Antike als Niobe gedeutete Felsbild am Sipylos anspielt; ebd. 130–151 Kap. „Weinende Steine: Das Niobe-Schema“ insgesamt. 229 Vgl. Reitzenstein (1893) 218–223 zu möglichen literarischen Vorbildern, wobei die dortige, leider oft wiederholte Zuschreibung an den Tragiker Philiskos (TrGF I 89) aufgrund der Datierung unmöglich ist; Männlein-Robert (2007) 162f.; Bing (2009) 157f.; Ηöschele (2010) 116: V. 3 μῆτιν ἀείσει im Anklang an μῆνιν ἄειδε (Hom. A 1); in dem nicht fernliegenden Ausdruck V. 3 καὶ ἐν Ἀίδαο (vgl. die Textbeispiele S. 62) mit Christian (2015) 64 Anm. 136, vermittelt über einen direkten Bezug zu Poseidipp ep. 118, eine „window-reference“ auf Sappho zu sehen, überstrapaziert das Gedicht.

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Inschrift ausspreche“ (V. 4 ἀείμνηστον γράμμα λαλεῦσα πέτρη), ebenso unvergänglich wie „der seinem Herrn ergebene Charakter“ (V. 1 φιλοδέσποτον ἦθος) jenes heroischen Dieners, den „einst der Griffel Homers auf goldenen Seiten“ (V. 1f. πρίν … Ὁμήρειοι γραφίδες … χρυσέαις … ἐν σελίσιν) verherrlicht hat. Als Musterbeispiel für Gastfreundschaft war Alkinoos, der berühmte Gastgeber des Odysseus, jedem bekannt (vgl. S. 305ff. *09/08/08 V. 5f.).230 Eine genauere Kenntnis der Alkinoosepisode, speziell der Beschreibung des Phaiaken-Palastes (η 84–97), steht im Hintergrund, wenn ein Grabbau eines Maximos in Zorava als Anlage bezeichnet wird, die vorzüglicher ist als die des Königs der Phäaken, SGO 22/14/01 V. 3 Ἀλκινόου προφερέστερα δώματα πάντα. Ein kreativer Umgang mit der Phaiakenepisode ist vorauszusetzen, wenn eine Markia durch ihre Bezeichnung als „berühmte Herrin eines reichen Tisches ganz wie die Gattin des Alkinoos“ (SGO 16/34/28 [Dorylaion, 3. Jh. n. Chr.] V. 2 λανπροτρά|πεζε κλυτὴ ὡς Ἀλκινόοιο συ|νευνίς) mit Arete, der Gemahlin von Odysseus’ Gastgeber, identifiziert wird, die aus der Odyssee als in allen Belangen vollkommene Hausherrin bekannt ist (η 53–55; 65–77; vgl. ζ 305–307). Damit wurde das gewöhnlichere Penelope-Paradigma (siehe S. 81–84) umgangen. Die Steindichter wählten ihre Vergleichsfiguren nicht nur aus den homerischen Epen,231 sondern griffen auch auf die sonstige Mythologie zurück. Dem Einfallsreichtum waren hierbei nur insofern Grenzen gesetzt, als der Adressatenkreis der Epigramme die berühmten Gestalten kennen mußte und die inhaltlichen Verbindungslinien gut nachzuvollziehen waren. Um einen hübschen, von den Mädchen umworbenen jungen Mann namens Zenobios aus Nea Isaura noch in seinem Grabmal ins rechte Licht zu rücken, greift dessen für das Grab verantwortliche Mutter auf den von den Nymphen aus Liebesbegierde ertränkten Hylas zurück, „den vorzüglichsten von allen Helden, der – von den Unsterblichen bewundert – in einer Quelle starb“ (SGO 14/13/05 [GG 360; 3./4. Jh. n. Chr.] V. 1f. ἡρώων πάντων Ὕλας προφερέστατος ἦεν̣, |/ ὃς

|| 230 In GVI 922 (wahrscheinlich aus Kerkyra, vor 227 v. Chr. [nach Kaibel 184]) wird die Herkunft eines verstorbenen Flottensoldaten aus Kerkyra durch dessen Benennung als „derjenige aus dem Land des Alkinoos“ (V. 7 τὸν ἐκ χθονὸς Ἀλκινόοιο) angegeben. 231 Vgl. auch das frühe Epigramm SGO 17/17/01 (Choma, 1. Jh. v. Chr.), in welchem die Taten zweier verstorbener Krieger mit denen des Telamoniers Aias verglichen werden (V. 5 προστασίηι τε Αἴαντι ὁμοίοις Τελαμῶνος); SGO 06/02/30 (Pergamon, wohl späthellenistisch), wo nach der sehr ungewissen Herstellung durch Peek darauf verwiesen gewesen wäre, daß selbst alle trojanischen Helden (V. 7 καὶ γὰρ̣ τούς [π]οτ̣᾿ ἰ̣όντας ἐπ᾿ [Ἴ]λ̣[ιον – – – ]) letztlich dem Hades anheimgefallen sind; GVI 1811 (Telos, 2. Jh. v. Chr.), wonach sich der verstorbene Krieger nicht mehr als Aias und Achill gemüht hat (V. 1 [ο]ὐκ ἐπόνησα Αἰάντος ἐγὼ πλεῖον οὐδὲ Ἀχιλεῖο[ς]).

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θάνεν [ἐν] πηγῇ θέσκελος ἀθανάτοις). Ob durch die Wahl dieser Figur über den Vergleich der Schönheit hinaus angedeutet werden sollte, daß der Sohn durch Ertrinken zu Tode kam, läßt sich nicht entscheiden, es wäre aber gut möglich. Denn wenn ein junger Mensch ertrinkt, wird das in Grabmälern in der Regel verschlüsselt ausgedrückt als eine Entführung durch die Nymphen (vgl. unten S. 228 zu *03/01/07 V. 1). Ganz unbescheiden ist in der griechischen Anthologie (AP VII 159 [Nikarchos HE 2747–50]) die Leistung eines Flötenspielers Telephanes auf eine Ebene mit der Musik des Orpheus, der Rhetorik des Nestor und der Kompositionskunst des kenntnisreichen, göttlichen Homer (V. 3 τεκτοσύνηι δ᾿ ἐπέων πολυΐστωρ θεῖος Ὅμηρος) gehoben. Die Gelegenheit zu einem Vergleich wurde auch genutzt, wenn sich der Name des Verstorbenen oder eines Angehörigen an den Mythos anschließen ließ. Ein Ehemann namens Pan wünscht sich in Gerasa, daß seine dahingeschiedene Gattin noch im Tode wie Echo, die Geliebte des mythischen Pan, ihre Stimme behalte, um mit ihm weiterhin zu sprechen (SGO 21/23/02 V. 7): Ἠχοῖ δ᾿ εἴση λαλέοις μοι. Daß sogar eine historische Gestalt zu einer quasi heroischen Vergleichsfigur werden konnte, zeigt sich, wenn in Athen ein Kriegsheld für Taten gepriesen wird, die angeblich größer waren als diejenigen des todesmutigen Anführers der spartanischen Truppen bei den Thermopylen, Leonidas (GVI 1731 [vgl. L. Robert OMS III 1653 (1959); 2. Jh. n. Chr.] V. 1f.): ἀρήϊον ἔργον ἀνύσσας |/ [– – –] μέζο̣ν τοῦτο Λεωνίδεω. Letzterer genoß bei den Griechen ein Ansehen, das hinter dem der epischen Heroen nicht zurückstand. Sein Denkmal, welches sicherlich in Anspielung auf den Namen nach Herodot VII 225, 2 mit einer Löwenskulptur versehen war, wurde denn auch zum Paradigma für Gräber von jungen Männern, vor allem wohl Soldaten (dazu S. 122f.). b Penelope als Mustergattin Auf Grabmälern für verstorbene Frauen findet sich häufig der Vergleich mit weiblichen Gestalten aus dem Mythos.232 Die angeblich als Ersatz für ihren Mann in den Tod gegangene Ehefrau Atilia Pomptilla aus Karales (Sardinien) wird in

|| 232 Außer den im folgenden erwähnten vgl. zu Ariadne das Fragment SGO 04/21/04 (Kula, Datum unbestimmt); zu Alkestis GVI 2088a (Odessos, 2. Jh. n. Chr.) auf eine nach 20 gemeinsamen Ehejahren (Z. 14–17 εἰκοστὸν | ζήσασα ἔτος βιότοιο | ἐν χερσὶ φίλαις Ὑακίν|θου) anstelle ihres Ehemannes gestorbene Frau, Z. 11–14 νῦν δ’ ἀν|τ’ ἐμοῦ θνῄσκει καὶ ἔ|χει / φήμην καὶ ἔπαινον | ὡς Ἄλκηστις; AP VII 961 (GVI 1738) auf eine als Ἄλκηστις νέη (V. 1) bezeichnete Kallikrateia, die für ihren Mann gestorben sein soll (V. 1f. θάνον δ᾿ ὑπὲρ ἀνέρος ἐσθλοῦ / Ζήνωνος).

82 | III Homer zur Sublimierung der Alltagswelt

einem langen griechischen Gedicht, das neben zwei weiteren griechischen und sieben lateinischen Epigrammen an ihrer Grabkammer angebracht war, im 1./2. Jh. n. Chr. in der Form gepriesen, daß sie gleich alle Heroinen der Vorzeit übertroffen habe.233 Ausdrücklich sind Penelope, unter deren Epitheton περίφρων234 (V. 71) die nach 21 Ehejahren Verstorbene firmiert, außerdem Euadne, Laodameia und besonders passend Alkestis erwähnt (V. 22–26).235 Abgesehen von der sehr speziellen Gestalt der Euadne, die sich, wie der Dichter wohl aus der Euripides-Lektüre (suppl. 1019–1071) oder aus Mythensammlungen (vgl. Ps.-Apollod. 3, 79) wußte, in den brennenden Scheiterhaufen ihres vor Theben gefallenen Mannes Kapaneus stürzte, begegnen die übrigen mythischen Frauen auch sonst in Grabgedichten. Nicht viel anders als Pomptilla übertrumpfte nach der Aufschrift eines Grabaltares für ein Heroon eine Römerin Olympias, für welche gemeinsam mit dem verstorbenen Mann Eitheos von ihrem Bruder Aineas ein als „Insel der Seligen“ bezeichneter heiliger Bezirk eingerichtet wurde236 (V. 9 τοῦτ’ ἐτύμως νῆσοι μακάρων πέδον), alle ihre mythischen Vorgängerinnen in treuer Mannesliebe; unter ihnen werden Alkestis und, was ungewöhnlich ist, Leda, die Mutter Helenas, hervorgehoben. Als mythologische Vergleichsfolie wird nun besonders gern die treue Gattin des Odysseus herangezogen, deren Vorkommen in den kleinasiatischen Epigrammen Beachtung verdient.237 Doch sei zunächst auf ein hellenistisches Grabgedicht aus dem argolischen Kleonai verwiesen, das in seiner Gesamtgestaltung

|| 233 GVI 2005 (GG 463, vgl. Obryk [2012] 73f. B19; Karales/Sardinien, 1./2. Jh. n. Chr.) V. 28–30

τὰς πολυθρυλ[ήτο]υς ἡρ[ωίδα]ς, ἃς ὁ π[αλαιὸς | α]ἰὼ[ν] ἀθανά[τοι]ς ἐν[κατέ]γραψε χρόνοις, | νικᾶι ἐν ὀ[ψ]ιγόν[οι]σι[ν Ἀ]τιλία. 234 Vgl. auch Angiò (2016) 312–314 in Bezug auf SGO 18/14/01 (Sillyon, 2. Jh. n. Chr.) B V. 4 zum Epitheton θυμαρής/θυμήρης für Penelope (nach Hom. ψ 232). 235 Vgl. Grandinetti (2002) 1757–1762 mit Hinweisen zu literarischen Parallelen, ebd. 1763-1769 Appendix mit 16 diesbezüglichen Epigrammen. 236 Vgl. GVI 2061 (GG 393, IGUR 1226, Kaibel 648; 3./4. Jh. n. Chr.) V. 7f. ἣ πάσας παράμ[ι]ψ[ε]

φιλάνδρους ἡρωίνας, |/ Ἄλκηστιν πινυτῇ, μορφῇ δ’ ἐρατώπιδα Λήδην. 237 Vgl. neben den hier behandelten Beispielen für Rom GVI 1736 (GG 359, IGUR 1349, Samama 457; 2. Jh. n. Chr.) V. 1f. σεμνὴν Πηνελόπην ὁ πάλαι βίος, ἔσχε δὲ καὶ νῦν / σεμνὴν Φηλικίταν οὐ τάχα μ(ε)ιοτέρην; für Sparta IG V 1, 540 (2. Jh. n. Chr) V. 1f. (eine Statuenstifterin:) κούρα |/ Σπάρτας ἁ πρώτα, Πηνελόπεια νέα; IG V 1, 599 (Kaibel 874; 2./3. Jh. n. Chr.) V. 1–4 (als öffentliche postume Ehrung der gebildeten [Ζ. 3 φιλοσοφωτάτη] Priestertochter und Artemispriesterin [?] Herakleia auf Kosten ihres Mannes:) ἄλλην Πηνελό|πειαν ἐγείνατο κυδαλίμη | χθὼν /

Σπάρτη, Τισαμενοῦ | θεσπεσίου θύγατρα· / τοίη | μῆτιν ἔην ἠδ’ ἤθεα καὶ νόο(ν) | ἐσθλὸν / ἔργα τ’ Ἀθηναίης | ἠδὲ σαοφροσύνην; für Naxos GVI 693 (3. Jh. n. Chr.) V. 3 (Grabgedicht für die 22jährige Elpis, mit metrischem Fehler:) σωφροσύνης | δ᾿ ἀρετῇ παρισουμένην Πη|νελοπείῃ; GVI 2031 (2./3. Jh. n. Chr.) V. 9f. (Grabmal für die 19jährige Hegeso) ἥτις ἐν ἀνθρώποις |

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am ausführlichsten an die paradigmatische Gestalt der Penelope anknüpft (GVI 1737, Kaibel 471).238 Hier konstatiert der Ehemann in den beiden Eingangsversen, daß Homer zwar (μέν) das Kind des Ikarios auf „seinen Schreibtafeln“ (V. 2 ἐν δέλτοις) außerordentlich gerühmt habe, um im Anschluß daran zu verlauten, daß aber (δέ) ein angemessener Lobgesang auf die ἀρετή und den alles übersteigenden Ruhm (V. 3 κῦδος ὑπέρτατον) seiner Gemahlin Nomoniane keinem Menschen möglich sei. Ähnlich ausführlich wie in Kleonai wird noch im 3. Jh. n. Chr. in Rhosos in Kilikien (SGO 19/19/02; Cilicia secunda) der 22jährig verstorbenen Berus gedacht, welche Penelope, die „Frau des Odysseus in den Mythen Homers“ (V. 1 Ὀδυσσεῖος γαμετὰ μύθοισιν Ὁμήρου), durch ihre Tugend (ἀρετά) sogar noch übertroffen habe, weil sie „in der Tat, nicht nur in Mythen eine Penelope war“ (V. 4 ἔργοις, οὐ μύθοις Πηνελόπα γέγονεν). Wie in anderen Epigrammen bleibt der Vergleich nicht einfach leer, sondern er erfährt eine sprachlich-inhaltliche Bekräftigung. Hier wird die Verstorbene wie die homerische Penelope als umsichtig (περίφρων) beschrieben (V. 5f.):

σώφρων ἐν γαμότητι, | περίφρων δ’ ἐν νειότητι, οἰκουρὸς δ’ ἀγαθὴ καὶ βίου ἡνίοχος. Aus viel früherer, späthellenistischer Zeit stammt das didymäische Grabgedicht (SGO 01/19/43) auf eine „durch Tat und Verstand untadelige“ Ehefrau Gorgo, welche bei voller Gesundheit unerwartet (nach Peeks zweifelhafter Lesung in den Armen ihres Mannes) verstarb und von ihrem Gemahl zur „in Milet ansässigen Penelope der Ionierinnen“ stilisiert wurde (V. 4f.):

Γο̣ργώ̣, τὰ̣ν καὶ χερσὶ [κ]αὶ ἐν πραπίδεσσι‹ν› ἄμω[μον] | τ̣ὰ[̣ ν] ἐνὶ Μιλήτωι Πανελόπαν Ἰάδων. In einem aus Nikaia stammenden Grabgedicht der Anthologie (AP XV 8, SGO 09/05/08; ca. 130 n. Chr.) wurde einer Severa, der Gattin des auch in den Epigrammen seines Grab-Obelisken präsentierten Priesters Sacerdos (AP XV 4–7), für die Zeit nach ihrem Tod prophezeit, daß sie aufgrund ihrer edlen Familienangehörigen, ihres Charakter und ihrer Schönheit mehr besungen würde als zuvor Penelope (V. 5f.):

||

κλέος ἤρατο Πηνελοπείης / σω|φροσύνῃ; für Amorgos GVI 1115 (Kaibel 277: serae aetatis; vielleicht auch Alkestis erwähnt) V. 4 [Ἄλκησ]τιν καὶ Πηνελόπε[ιαν]; für Pantikapaion GVI 848 (Kaibel 250; 1. Jh. v. Chr.) V. 2 (auf eine Kleopatra, Bürgerin von Amisos in Bithynien) ἀρετᾶς ἵνεκα Πανελόπα[ν]; aus AP VII 557 (GVI 885 [Dichter Kyros des 6. Jh. n. Chr.]) V. 4 (auf eine 33jährige Maia) πάντ᾿ ἀπομαξαμένην ἔργα τὰ Πηνελόπης. 238 Vgl. für dieses und das folgende Epigramm auch Bing (2009) 163f.

84 | III Homer zur Sublimierung der Alltagswelt

αὐτὰρ ἐμὲ Σευουήραν ἀνήρ, τέκος, ἤθεα, κάλλος | τῆς πρὶν Πηνελόπης θήσει ἀοιδοτέρην. Auch der oben bereits erwähnte Gelehrte Kyrion spricht in dem neuen Epigramm *09/06/23 aus Nikomedeia wohl nicht ohne Bezug auf die zuvor genannte σωφροσύνη (Z. 4 οὔποτε ἐπιλήσ͙ομε σωφροσύνης „Niemals werde ich deine Besonnenheit vergessen.“) seine Gattin, mit der er 40 Jahre zusammenlebte, mit den pseudometrischen Worten an (V. 7):

τῆς σῆς οὐδ᾿ ἐρατῆς εὐνῆς, ὁμώνυμε Πηνελόπειας. „Und nicht (sc. werde ich die Erinnerung aufgeben) an deine liebliche Bettgemeinschaft – die du mit Penelope gleichbedeutend bist!“ Durch die Formulierung legt der Ehemann seiner Gemahlin geradewegs den Beinamen „Penelope“ zu. Mit hochwertigen Versen trauert in römischer Zeit ein Ehemann aus dem syrischen Apameia (SGO 20/05/08; GG 381) um seine dahingeschiedene Gattin Iulitta; sie habe nicht die Frauen ihrer Zeit, sondern vielmehr mythische Figuren wie Penelope an Taten und Laodameia an Schönheit übertroffen (V. 3f.):

ἣ παλαιὰς ὑπερῆρε | καὶ οὐ τὰς νῦν, ὑπερέσχεν | Πηνελόπην ἔργοισ‹ι› καὶ εἰκόνι | Λαοδάμειαν. Ein verstorbenes Mädchen aus dem Negev (SGO 22/76/01; 4.–7. Jh. n. Chr.) kann sich noch in der Spätantike an Laodameia und Penelope messen lassen. Schließlich hält der dahingeschiedene Menandros auf einem christlichen Grabstein im phrygischen Hochland, dessen Aufstellung den acht hinterbliebenen Kindern zugesprochen wird, in holprigen metrischen Versuchen seiner Frau Demetriane (Z. 12f.) zugute, ihn als ihren Gatten genauso wie Penelope (sc. ihren Odysseus) geliebt zu haben (SGO 16/31/83 [Appia/Soa] Α Z. 15f. φίλαισέν με πό|σιν ἴσα Παινελόπης).239 Dieses Beispiel zeigt deutlich, daß die Penelope-Figur zum konventionellen Paradigma für treue Liebe wurde, welches, losgelöst von der paganen Kultur, in einen neuen weltanschaulichen Kontext übernommen werden konnte. c Das Achill-Paradigma Als tragische Hauptfigur der Ilias zog Achill allein schon in den Unterrichtsübungen größte Aufmerksamkeit auf sich. Es bot sich an, sein heroisches Schicksal und die mythologischen Konstellationen, die sich um seine Person ranken, als

|| 239 Irrig Tybouts Deutung in SEG 52, 942 Anm. 4.

5 Mythische Vergleichsfiguren und Motivfelder | 85

Folie zur Präsentation verstorbener Zeitgenossen und ihrer Leistungen zu wählen. Das generelle epische Grundprogramm des unvergänglichen Ruhms, κλέος ἄφθιτον,240 konnte gerade durch den Verweis auf Achill, den der antike Mensch bestens aus der Schullektüre kannte, der ihm aber beispielsweise auch durch Schauspiele von Homeristen und Pantomimen vertraut war,241 am wirksamsten auf den Verstorbenen appliziert werden. Der Glanz der paradigmatischen Heldengestalt sollte möglichst hell auf die Alltagswelt des Verstorbenen abstrahlen und ihm und seinen Taten die ihm gebührende Anerkennung (τιμή) sowie das Gedenken (μνήμη) der Nachwelt verschaffen. In diesem Sinne wird das Achill-Paradigma bereits seit frühester Zeit in der Literatur zur Ehrung von Toten herangezogen; man denke nur an die PlataiaiElegie des Simonides (fr. 11 IEG West), in welcher die in der Entscheidungsschlacht gegen die Perser gefallenen Griechen, nach einem Hymnos an Achill, in eine Reihe mit dem Heldengeschlecht der ὠκύμοροι und offenbar insbesondere mit Achill selbst, dem „am schnellsten von allen sterbenden“, ὠκυμορώτατος ἄλλων (A 505), gestellt werden.242 Die Ausdrucksweise entspricht dem für die Ilias-Handlung prägenden mythologischen Axiom, wonach Achill als Ausgleich für sein kurzes Leben von den Göttern höchste Ehre beschieden wird. Diese

|| 240 Vgl. die klassische Stelle, an der Achill seinen Ruhm mit dem frühen Heldentod in Verbindung setzt (Hom. I 410–416): μήτηρ γάρ τέ μέ φησι θεὰ Θέτις ἀργυρόπεζα / διχθαδίας κῆρας

φερέμεν θανάτοιο τέλος δέ. / εἰ μέν κ᾽ αὖθι μένων Τρώων πόλιν ἀμφιμάχωμαι, / ὤλετο μέν μοι νόστος, ἀτὰρ κλέος ἄφθιτον ἔσται· / εἰ δέ κεν οἴκαδ᾽ ἵκωμι φίλην ἐς πατρίδα γαῖαν, / ὤλετό μοι κλέος ἐσθλόν, ἐπὶ δηρὸν δέ μοι αἰὼν / ἔσσεται, οὐδέ κέ μ᾽ ὦκα τέλος θανάτοιο κιχείη. – Zum κλέος ἄφθιτον z. B. Volk (2002). Vgl. die frühen Epigramme, die den Kriegsruhm von Gefallenen mit Verweis auf die ἀρετή beschwören: CEG 2 (Athen, 5. Jh. v. Chr.) V. 1 ἀρετῆ[ς ca. 14 Β. κλέο]ς̣ αἰεί (so nach Matthaiou [2003] 197 mit Anm. 24, wo jedoch der Hinweis auf Kirchners Abbildung Zweifel an der Lesung eines Sigma in der Bruchkante aufkommen läßt; Hansen nach einer Kopie des 4. Jh. n. Chr.: [κλέ]˻ος ἄφθι˼[τον] αἰεί (vgl. auch Tentori Montalto [2017] 102f. bzw. 157); CEG 4 (AP VII 254; Athen, 458/7 v. Chr. oder 431 v. Chr.) V. 1 ἀριστ῰ες πολέμο μέγα κῦδος ἔχοντες; CEG 344 (Phokis, ca. 600–550 v. Chr.) κλέϜος ἄπθιτον αἰϜεί; CEG 637 = 118A (Thessalien, 5. Jh. v. Chr.) V. 1/3; für die frühen Belege Trümpy (2010) 173f.; Ecker (1990) 34–40 allgemein hinsichtlich Homer. – Αuch ohne Bezugnahme auf Achill in SGO 16/06/02 (Eumeneia, 2./3. Jh. n. Chr.) V. 5 [κλέος] | ἄφθιτον ἕξεις (über eine verstorbene Frau, aufgrund der Liebe zu ihrem Gatten). 241 Siehe oben S. 57f. und unten S. 159–162 zu *02/06/21 auf den Gladiator Achill, einen früheren pantomimischen Schauspieler. 242 V. 17f. ἐπώνυμον ὁπ̣[λοτέρ]οισιν / [ποιήσ᾿ ἡμ]ιθέων ὠκύμορον γενεή̣[ν]: „Er (sc. Homer) machte für die Jüngeren ‚schnellsterbendes Geschlecht von Halbgöttern‘ zum Beinamen.“

86 | III Homer zur Sublimierung der Alltagswelt

Schicksalsbestimmung dient nach Achills tränenreicher Klage243 seiner Mutter Thetis als Druckmittel, um Zeus – ähnlich wie später auch Hephaistos bezüglich neuer Waffen (Σ 458) – mit der Forderung auf den Plan zu rufen, ihrem Sohn angesichts der Wahl eines kurzen Lebens im Gegenzug Ehre zu verschaffen (A 505):

τίμησόν μοι υἱὸν, ὃς ὠκυμορώτατος ἄλλων. In den Vers-Epitaphien begegnet der Bezug auf den epischen Haupthelden auf vielfältige Weise implizit und explizit. Kaum merklich setzt sich in ihnen für die Bezeichnung eines jung verstorbenen Menschen das Attribut ὠκύμορος durch, welches als unterschwelliger Reflex auf die Vergleichsgestalt Achill aufgefaßt werden mag und das Grundmotiv eines verfrühten Todes anzeigt.244 Vielleicht konnte der homerkundige (antike) Leser bisweilen mit dem epischen Wort den tröstlichen Gedanken verbinden, daß, wie bei dem Helden Achill, der frühe Tod dem Ruhm bzw. Verdienst des Verstorbenen keinerlei Abbruch tun kann. Eine solche Auffassung dürfte besonders dann intendiert gewesen sein, wenn das Epigramm direkt mit dem markanten Wort einsetzt, wie es sechsmal im griechischen Osten der Fall ist.245 Verwiesen sei hier auf ein neues Beispiel aus Nikaia (*09/05/50; 2. Jh. – 212 n. Chr.). Das Grabgedicht, welches die zwei Geschwister Heras und Polyneike ihrem Bruder Skylax widmen, beginnt mit den Worten (V. 1f):

Ὠκυμόρου μνημεῖον ἀ|θρεῖς, ξένε, τοῦ πολυκλαύστ̣[ου] | ὡρίου ἠδὲ γάμων ἁρπαγίμου Σκ̣[ύ]|λακος. „Eines zu früh Verstorbenen Grabmal siehst du, Wanderer, des viel beweinten, in bestem Alter stehenden und der Hochzeit beraubten Skylax.“ Des weiteren bemerkenswert ist wegen der ähnlichen Fortführung SGO 09/08/01 (Prusias am Hypios, 2./3. Jh. n. Chr.) V. 1:

Ὠκυμόρου τά|φον ἀνδρὸς ὁρᾶς, ξένε, καί με δάκρυσον.

|| 243 Hom. A 352–412; 352f. μῆτερ ἐπεί μ’ ἔτεκές γε μινυνθάδιόν περ ἐόντα, / τιμήν πέρ μοι ὄφελλεν Ὀλύμπιος ἐγγυαλίξαι / Ζεὺς ὑψιβρεμέτης, A 417 (Thetis) νῦν δ᾽ ἅμα τ᾽ ὠκύμορος καὶ ὀϊζυρὸς περὶ πάντων / ἔπλεο. Vgl. Σ 95. 244 Vgl. Vérilhac II (1982) 154f. § 75f. 245 Über die hier zitierten Stellen hinaus: SGO 16/34/28 (Dorylaion, 3. Jh. n. Chr.) bezogen auf die Frau Markia; 09/09/16 (Klaudiupolis, 3. Jh. n. Chr.) auf den bacchischen Tänzer Saturninus; 14/16/03 (Vasada, 2./3. Jh. n. Chr.) auf einen Arzt Dionysios. Vgl. auch GVI 107 (Beroia, 2./3. Jh. n. Chr.).

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Dort ist der früh Verstorbene schon Vater dreier Söhne (V. 6 νέοι), die das Grabmal spenden. Das unten S. 253ff. zum ersten Mal edierte Epigramm aus Kotiaeion *16/32/16 (171/2 n. Chr.) auf einen auch im weiteren Verlauf des Gedichtes mit Achill verglichenen jungen Mann beginnt mit demselben Signalwort (V. 1): Ὠκυμόρῳ τόδε σῆμα πατὴρ | ἐποιήσατο. In Hermupolis Magna (IMEG 98; Κaiserzeit) steht der Auftakt mit ὠκύμορος wahrscheinlich nicht zufällig in Verbindung mit dem gewählten Wort μινυνθάδιος, das sich an der oben zitierten Homerstelle (A 352) im gleichen Sinne wie ὠκύμορος auf Achill bezieht. Der letzte Gruß in Form des Grabgedichtes auf einen fünfjährigen Isidoros wird dort melancholisch mit μινυνθαδίη μόλπη („kurzes Lied“) bezeichnet, wohl auch im Hinblick darauf, daß die Zeit der Kinderlieder im Elternhaus jäh beendet wurde. Äußerst subtil ist der Faden der homerischen Situation wiederaufgenommen, wenn in Antiochia in Pisidien (SGO 16/61/04; 4. Jh. n. Chr.) eine Mutter, die über den im Alter von 20 Jahren verstorbenen Sohn Kollega, einen Arzt, trauert, mit dem Siegel δυσαρι[σ|τ]οτόκεια (V. 4) versehen wird, welches sich Thetis im Vorausblick auf den über ihren Sohn verhängten Tod gibt (Σ 54):

ὤ μοι ἐγὼ δειλή, ὤ μοι δυσαριστοτόκεια. Überhaupt wird auf das Verhältnis zwischen Thetis und Achill in den sepulkralen Versinschriften rekurriert. Das ist schon auf literarischer Ebene erkennbar, wenn in dem Alkaios von Messene zugeschriebenen Gedicht auf Homers Grabstätte in Ios unter Bezug auf Thetis und ihren Sohn die Ilias zitiert wird mit den Worten (AP VII 1246 [HE 62–9] V. 5; vgl. N 350):

ὅττι Θέτιν κύδηνε καὶ υἱέα καὶ μόθον ἄλλων, und der Epigrammdichter für die Schilderung der Bestattung des Epikers die Andeutung der Odyssee ausführt, wonach die Nereiden gemeinsam mit Thetis zur Versorgung von Achills Leichnam hinzustießen (V. 3; vgl. ω 47f.):

νέκταρι δ᾿ εἰνάλιαι Νηρηΐδες ἐχρίσαντο. Ιn besonderer Weise bot sich aus dem Bericht Agamemnons in der zweiten Nekyia Thetis’ gemeinsam mit ihren Schwestern und den Musen erhobene Klage über das Schicksal ihres Sohnes247 als Muster zur Schilderung von Trauer in den Steinepigrammen an. So nennt das bereits erwähnte neue Gedicht aus Kotiaeion

|| 246 Vgl. Skiadas (1965) 57–59 zur Vorbildhaftigkeit für literarische Dichterepigramme. 247 Hom. ω 58–61 ἀμφὶ δέ σ’ ἔστησαν κοῦραι ἁλίοιο γέροντος / οἴκτρ’ ὀλοφυρόμεναι, περὶ δ’ ἄμβροτα εἵματα ἕσσαν. / Μοῦσαι δ’ ἐννέα πᾶσαι ἀμειβόμεναι ὀπὶ καλῇ / θρήνεον. Vgl. die Klagen gemeinsam mit Achill anläßlich des Todes von Patroklos Σ 35ff.

88 | III Homer zur Sublimierung der Alltagswelt

*16/32/16 (unten S. 253ff.) den Verstorbenen im ersten Wort nicht nur ὠκύμορος, sondern führt in den letzten beiden Versen auch aus, daß die Mutter Alexandra ihren Sohn so beweint, wie einst Thetis am Meer den Peliden (V. 7; dazu S. 261):

ὥς ποτε Πηλεΐδην παρ᾿ εἴναλ̣α | κόψατο μήτηρ.248 Insgesamt dominiert im Verhältnis zu allen anderen Paradigmen das in Achill typologisierte Heldenideal in der kleinasiatischen Epigrammatik. Schon in einem der frühesten Steingedichte Kleinasiens, dem auf den lykischen Dynasten Arbinas aus Xanthos bezogenen, nach persischer Tradition autobiographischen Tatenbericht (SGO 17/10/03), der an weiteren Stellen homerisches Sprachkolorit aufweist, wird im Zusammenhang der Kampferfolge unter bekannten Figuren der klassischen Mythologie wie etwa Herakles auch auf Achill verwiesen (B 45. 48). Jahrhunderte später ist nicht anders in Kaisareia-Hadrianopolis der in jungen Jahren geleistete Militär-Dienst des späteren Großbauern Priskos, welcher unter Traian zum Träger der kaiserlichen Standarte befördert wurde, mit der er gleichsam als heroischer „Schirmer des Heeres“ (SGO 10/02/28249 [Garulli (2012) 368–373] V. 10 λαὸν δ᾿ ἐφύλασσεν ἅπαντα) allen anderen Feldzeichen voranging (V. 11 σημείαις προάγειν), in eine Reihe mit den Heldentaten der Vorkämpfer Achill und Hektor gestellt (V. 4f.):

ἆθλά τε πάντ’ ἐποίησ(ε) ὅσ’ ἀεί ποτ(ε) ἔποισεν Ἀχιλλεὺς | ἤθ’ [υἱὸς] Πριάμοι(ο)· ἶσον καὶ Πρεῖ‹σ›κος ἔποισεν. Ein weitergehender Vergleich mit der Achillgestalt findet sich in einem noch mit anderen gelehrten Anspielungen versehenen Epigramm aus Laodikeia am Lykos (SGO 02/14/11), das nach der Schrift um die Zeitenwende entstanden sein dürfte. In Widerspruch zu dem sprichwörtlichen πάνθ᾿ ὁ μέγας χρόνος μαραίνει (Soph. Aias 714) wird dort der ἀρετή des verstorbenen Epigonos ewiges Andenken zugesprochen (V. 2f.):

οὗ τὰν ἀρετὰν οὐδ᾿ ὁ χρόνος μαρανε[ῖ], | Ἐπιγόνου. An den ἀρετή-Gedanken knüpft der Vergleich mit dem Hektor tötenden Achill an (V. 5 ὁ κτίνας Πριάμου παῖδ’ Ἕκτορ’ Ἀχιλλεύ[ς]), den Epigonos genauso wie den Hippolytos (V. 6 ὁ τὰ λέκτρα φυγὼν τοῦ πατρὸς Ἱππόλυτος) auch an Besonnenheit und Schönheit noch übertroffen habe. Für das Trost-Argument am Ende

|| 248 Längung nach Penthemimeres gemäß spätantiker Konvention (vgl. Anm. 255). 249 Marek (2008) hat die Interpretation des aufgrund der poetisch hyperbolischen Formulierungen mißverstandenen Gedichtes wieder zurechtgerückt.

5 Mythische Vergleichsfiguren und Motivfelder | 89

wird wiederum auf den mit der Mutter Thetis in Beziehung gesetzten Achill verwiesen, der seiner Bestimmung (Μοῖρα) genauso wenig wie der junge Epigonos entfliehen konnte (V. 10):

οὐδ’ Ἀχιλλεὺς δ’ ἔφυ̣γ̣εν̣ μ̣οῖρ[αν] ἀ̣(ε)ὶ Θέτιδος.

IV

Nachhomerische literarische Tradition im Spiegel der Alltagsdichtung

1

Methodische Überlegungen: Klassische Tradition und Steinepigramme

In den Grabinschriften Kleinasiens wurden allenthalben, einerseits auf sehr niedrigem Niveau allgemein verbreitete Formeln der Sepulkraldichtung (dazu auch Kap. V), andererseits in fortgeschrittener Weise die aus der Schule in Auszügen bekannten oder durch intensiveres Studium erschlossenen homerischen Epen sprachlich und motivisch auf einen individuellen Sterbefall angewendet. Die literarische Qualität der Anverwandlung Homers, angefangen von der mechanischen Übernahme manchmal sogar unverstandener Wendungen bis hin zu feinsinnig auf den Sachverhalt angepaßten Applikationen, hing vom Bildungsstand und den dichterischen Ambitionen der jeweiligen Verfasser ab. Der kreative Umgang der Sepulkraldichter mit der klassischen Tradition erweist sich freilich nicht nur am Verhältnis zum homerischen Epos, sondern wird insgesamt durch den Rückgriff auf andere Literaturgattungen sichtbar. Der moderne Betrachter hat sich der methodischen Schwierigkeit bewußt zu sein, daß er für die Offenlegung dieser Beziehungen zwischen Literatur und Steingedichten von den Zufälligkeiten der Überlieferung auf beiden Seiten abhängig ist. Zunächst zeigt sich auf der formal-gestalterischen Ebene ein breites Spektrum an Formen, mit denen alle Beteiligten – Auftraggeber, Steinmetzen, Dichter – nach ihren Möglichkeiten dem Verstorbenen ein gebührendes Andenken zu verschaffen bemüht waren. Dafür konnte, abgesehen von der materiellen Ausführung des Grabaltars, der Stele oder einer Steintafel,250 allein schon die Länge einer Versinschrift sym-

|| 250 Vgl. Clairmont (1970) zur bildlichen Gestaltung der mit Gedichten beschriebenen Grabmonumente in archaischer und klassischer Zeit; Fraser (1977) zu den Monumentformen auf Rhodos im Hinblick auf sozial- und religionshistorische Fragen; Pfuhl/Möbius Ι/ΙΙ (1977/1979) epochenübergreifend zu den ostgriechischen Grabreliefs insgesamt. – Man denke hier auch an Grabmonumente sowie Sarkophage, denen separate figürliche Darstellungen oder wie in Sillyon eine Sonnenuhr beigegeben waren (SGO 18/14/01, dazu zuletzt Angiò [2016]; 2. Jh. n. Chr.), um die Aufmerksamkeit der Passanten zu gewinnen. Manchmal werden abgebildete Symbole oder Rätsel im Gedicht erklärt, z. B. SGO 04/02/11 (Sardeis, Ende 2. Jh. v. Chr.), dazu auch Squire (2009) 160–165; vgl. zur literarischen Tradition AP VII 421–429, besonders AP VII 428 (HE 4660–79) Meleager auf Antipatros von Sidon. https://doi.org/9783110597394-007

1 Methodische Überlegungen: Klassische Tradition und Steinepigramme | 91

bolische Bedeutung haben. Die reine Quantität, oft in Form der Hintereinanderreihung selbständiger ‚Strophen‘ oder mehrerer separater Gedichte,251 mochte gar als Distinktionsmerkmal für den sozialen Status einer Person fungieren.252 Auch poetische Spielereien wie die Einarbeitung einer Akrostichis,253 von Isopsephien oder anderer Rätsel konnten eine besondere Anerkennung darstellen, die zugleich beim Betrachter Aufmerksamkeit erregen sollte.254 In allen Fällen bietet die Qualität der metrischen Ausführung, die von lyrischen Maßen in exquisiten Einzelfällen über polymetrische Formen bis hin zu einer gerade noch rhythmisierten Sprache reichen kann, einen Indikator dafür, welchen Wert man der klassischen Dichtkunst zur Würdigung verstorbener Zeitgenossen beimaß.255 Am deutlichsten erweist sich der Grad poetischer Professionalität daran, wie die Dichter mit den Ausdrucksformen und Motiven der literarischen Überlieferung insgesamt umzugehen wußten. Durch den Rückgriff auf Sprache und Gedankenwelt namhafter Vorbilder setzten die Epigrammdichter ihren Produkten besondere Glanzlichter auf. Somit markiert neben dem vielfältigen Bezug auf die homerischen Epen der Umgang mit der als klassisch empfundenen, literarischen Tradition einen weiteren Eckpunkt zum Verständnis der ‚Poetik‘ des epigraphischen Epigramms in Kleinasien.

|| 251 Früheste Beispiele aus klassischer Zeit sind CEG 548 (Attika, um 350 v. Chr.) und CEG 593 (Kerameikos, 345–338 v. Chr.). Zu Reihengedichten oder Parallelgedichten GVI 1873, 1888–2015, 2038–2040; L. Robert, Hellenica 4 (1948) 81f.; Pfohl GI zu Nr. 31; Fantuzzi (2008) zu den mit ἄλλο markierten Epigrammserien. – Vgl. auch unten S. 264 Anm. 517 zu *17/23/01. 252 Vgl. Garulli (2008); Agosti (2008b), Epigramme des 4.–7. Jh. n. Chr. von mehr als acht Versen. 253 Vgl. Garulli (2013); unten S. 313f. zu SGO 09/09/15 auf den Arzt Prokop, wo die Akrostichis auf Kosten der Metrik umgesetzt wurde. 254 Vgl. etwa das Zahlenrätsel in dem zu Lebzeiten hergestellten Grabmal des Diliporis aus Nikaia (SGO 09/05/17, Santin [2009] Nr. 21; 2./3. Jh. n. Chr.), welches mit den Versen 4–7, wie parallele literarische Überlieferungen zeigen, aus der zeitgenössischen Orakeltradion geschöpft sein dürfte. 255 Einen groben Überblick über die metrischen Formen gewinnt man aus Kaibels Index, S. 701–703 „VIII. Metrorum tabula“; Merkelbach/Stauber SGO 5 (2004) S. 319 „Metrik: Besondere Versmaße.“ – Es entwickeln sich in den Steininschriften ab dem 3. Jh. n. Chr. prosodische Sonderbehandlungen: kurze Silben nach der Penthemimeres, die wie in den Sibyllinischen Orakeln anstelle von Längen eintreten (vgl. Geffcken [1902] 45. 49. 54; danach Wilhelm [1932] 804. 826; Thonemann [2014] 197); die Lizenz der Längung kurzer Silben in der Hebung oder durch Wortakzent (vgl. Geffcken [1902]).

92 | IV Nachhomerische literarische Tradition im Spiegel der Alltagsdichtung

Übernahmen aus ‚hoher‘ Literatur konnten sich schnell als fester Formelund Motivschatz der okkasionellen Dichtung etablieren und verselbständigen. Schon früh knüpften die Dichter von Steinepigrammen an die Ausdrucksformen und die Motivtechnik ihnen vertrauter Werke an:256 sei es, daß sie das Jenseits von der Tragödie inspiriert als „Gemach der Persephone“ (Φερσεφόνης θάλαμος; vgl. Eur. suppl. 1022257) oder „Reich des Hades“ (βασίλεια Ἀίδαο258) imaginierten, sei es, daß sie die Leistungen eines Dahingeschiedenen in der Vorstellungswelt des Epos formulierten (vgl. III 5, S. 77ff.). Selbst die in lateinischen Sepukralinschriften gleichsam zur Grabmarkierung gewordene Formel sit tibi terra levis hat allem Anschein nach ihre Ursprünge in der griechischen Tragödiensprache.259 Das erstmals bei Euripides (Eur. Alc. [438 v. Chr.] 462f. κούφα σοι / χθὼν ἐπάνωθε πέσοι, γύναι) nachweisbare Motiv260 tritt zunächst bei hellenistischen Epigrammatikern in kunstvollen Variationen hervor,261 um dann in der griechischen Steinpoesie ab dem Hellenismus in mannigfaltiger Bearbeitung zu

|| 256 Vgl. oben S. 18 mit Anm. 40. 257 Vgl. AP VII 508 (Ps.-Empedokles/Ps.-Simonides, 4./3. Jh. v. Chr.; FGE 550–3) V. 4; VII 489 (Ps.-Sappho, 3. Jh. v. Chr.; FGE 678–81, vgl. ebd. zur Stelle) V. 2, Diog. Laert. überliefert Φερσεφόνας ἀδύτων. – Zu diesem Bildmotiv in der attischen Grabdichtung des 4. Jh. v. Chr. mit allen Implikationen Tsagalis (2008) 86–134, 311–314; ebd. 268–273 zur Tragödiensprache. 258 Vgl. CEG 597 (Rhamnus, 4. Jh. v. Chr.); weitere Hades-Stilisierungen Geffcken (1917) 114 Anm. 6; insgesamt Geffcken (1917) 99f.; Tsagalis (2008) 91. 259 Ausführlich behandelt bei Lattimore (1962) 65–74; Garulli (2012) 242–244 ohne Betrachtung der Gesamtentwicklung; ebd. 244–247, 287–290, 328–333 weitere Beispiele zur Verbindung der Tragödien- mit der Sepulkralsprache. 260 Von Lattimore (1962) nicht berücksichtigt ist Eur. Hel. (412 v. Chr.) 851–854 εἰ γάρ εἰσιν οἱ

θεοὶ σοφοί, / εὔψυχον ἄνδρα πολεμίων θανόνθ’ ὕπο / κούφηι καταμπίσχουσιν ἐν τύμβωι χθονί, / κακοὺς δ’ ἐφ’ ἕρμα στερεὸν ἐκβάλλουσι γῆς. 261 Um die literarische Bearbeitung des Motivs noch deutlicher zu machen, nenne ich im folgenden die von Lattimore (1962) gerade für die frühe Zeit nicht berücksichtigten Belege: Kallimachos AP VII 460 (epigr. 26, HE 1251–4) V. 3f.; Theokrit AP VII 658 (epigr. 15, HE 3402–5) V. 4; Dioskorides AP VII 708 (ΗΕ 1617–22; auf Machon [PCG test. 3]) V. 1; Meleager AP VII 470 (HE 4730–7) V. 7 (Wunsch zum Abschluß des Dialoggedichtes:) λάβοι νύ σε βῶλος ἐλαφρή; Meleager AP VII 461 (ΗΕ 4688f.); Diodoros AP VII 632 (GP 2136–41) V. 5f.; Krinagoras AP VII 628 (GP 1859–66) V. 7f.; Ammianos AP XI 226 V. 1. – Vgl. auch or. Sibyll. 14, 41 οὔτοι τεθνηῶτι κόνις περικείσετ’ ἐλαφρή; comp. Menandr. et Philist. 2 V. 168 (= Menander fr. 538 Kock) κούφη κόνις, über den Staub der Toten; Suda κ 2198 Κούφη γῆ τοῦτον καλύπτοι, wo eine metaphorische Deutung des Spruches im Hintergrund zu stehen scheint.

1 Methodische Überlegungen: Klassische Tradition und Steinepigramme | 93

begegnen262 und von dort in der lateinischen Sepulkralsprache seine fortan bis in die Neuzeit gültige Prägung zu erhalten.263 Insofern als sich, oft vor dem Hintergrund allgemeiner Konsolationsmotivik, eine gehobene Sepulkralsprache eigens etablierte, läßt sich für viele Formulierungen häufig nicht nur eine einzige bestimmte ‚Quelle‘ namhaft machen. So bedarf es etwa keineswegs direkter Kenntnis von Euripides oder Aristophanes, wenn in Knidos (SGO 01/01/11 [ebd. zu V. 4]; 1./2. Jh. n. Chr.) mit der Wendung φίλοις πᾶ|σι ποθεινὸς ἐ[ών] ausgedrückt werden soll, daß Primeros, dessen Lebensfreude (V. 4) ausgelöscht ist, nun nach seinem Tod von seinen Freunden schmerzlich „vermißt“ (ποθεινός) wird.264 Ebenso kann eine religiöse Diktion, wie die personifizierende Anrede der Erde, die den Verstorbenen umhüllt, mit Γῆ [μ]|ήτηρ in Sebastopolis (SGO 11/13/01 [ca. 3. Jh. n. Chr.; vgl. oben S. 41] V. 5; vgl. 11/05/05 [Nea Klaudiupolis, spätantik] V. 7) so selbstverständlich der traditionellen religiösen Vorstellungswelt entspringen, daß der Dichter dafür keiner besonderen Textlektüre bedurfte.265

|| 262 Der früheste Beleg gehört nach einer allerdings unsicheren Datierung vielleicht schon ins 3. Jh. v. Chr., GVI 1389 (Rhodos) V. 2 χαῖρε καὶ εἰν Ἀΐδαι· κούφη δέ τε γαῖα καλύπτοι (statt τε dürfte σε gemeint gewesen sein). – Ich gebe im folgenden einen Querschnitt durch die kleinasiatischen Epigramme: SGO 04/02/11 (Sardeis, Ende 2. Jh. v. Chr.) V. 9 κούφα τοι κόνις ἀμφὶ πέλοι τοιῇδε θανούσῃ; 01/20/25 (Milet, nach Peek etwa 2. Jh. v. Chr.) V. 11f. κούφη γαῖα χυθεῖσ’ ὁσίως κρύπτοις σὺ τὸν ἄν[δρα] |/ βαίνοντ’ εὐσε[βέ]ων τοὺς ἱεροὺς θαλάμου[ς.]; 03/06/06 (Teos, späthellenistisch; iambisch) V. 7 Wunsch zum Abschluß des Dialoggedichtes: κούφα κόνις τοι; 05/01/54 (Smyrna, frühestens 1. Jh. n. Chr.) V. 1; 16/04/02 (Santin [2009] Nr. 29; Apameia Kibotos, 2./3. Jh. n. Chr.) V. 2; 16/31/93 (Appia/Soa, 4. Jh. n. Chr.) B V. 10; außerdem das bislang unbeachtete *19/14/03 (Adana, Kaiserzeit), wo prosaisch κοῦφον ἔ|χε τὴν γῆν zu einem iambischen Trimeter hinzugesetzt wurde. 263 Zu den lateinischen Variationen Hartke (1901). – Zum ‚Sardanapal-Motiv‘, das sich bis zur lat. Formel balnea vina venus entwickelt, unten S. 133f. 264 Vgl. die Wendung ποθεινὸς φίλοις in Eur. Phoen. 320; Aristoph. ran. 84. Wie die Parallelstellen nahelegen und die Verwendung von ποθεινός in einer Vielzahl von Grabepigrammen zeigt (vgl. Pircher [1979] 72f.), kommt hier allein die Ergänzung ἐ[ών] infrage; Newtons ἔ[φυν] bei Merkelbach/Stauber, womit der Verstorbene als ποθεινός („beliebt“) zu Lebzeiten beschrieben würde, geht in die Irre. Die hier zugrundeliegende Verwendung von ποθεινός ist schon seit den Grabepigrammen des 6. und 5. Jh. v. Chr. üblich, CEG 128 (Lokris) bzw. 175 (Pantikapaion), so daß die einfache Junktur mit φίλοις ganz unabhängig von den literarischen Parallelen (die ihrerseits von zeitgenössischer Sepulkralsprache beeinflußt sein können) zu betrachten ist. 265 In dem Gedicht wird mit dieser Umschreibung etwas gekünstelt das Anfangsmotiv des Grabsteins als ein Erzeugnis der Γαῖα (V. 1) weitergeführt. Merkelbachs Suche nach wörtlichen literarischen Belegstellen gibt meines Erachtens der Deutung eine falsche Richtung. Dort fehlt unter anderem Hesiod op. 563 γῆ πάντων μήτηρ mit den Parallelen, die von West (1978) im Kommentar (wo in der beigegebenen Edition die Stelle nicht wie in ed. Solmsen [1983] athetiert ist)

94 | IV Nachhomerische literarische Tradition im Spiegel der Alltagsdichtung

Oft ist es ein markanter Einsatz erlesener Einzelwörter,266 der eine gewisse Vertrautheit mit der Sprache professioneller Literaten verrät. Ein gewählter Ausdruck kann dann den einfachsten Gedichten Glanz verleihen. In einem kaiserzeitlichen Epigramm aus Hadrianupolis (SGO 10/02/05, Garulli [2012] 310–314) läßt der Dichter, der sonst auch die homerische Sprache kunstvoll anzuwenden weiß, den vierjährig verstorbenen Knaben Alexandros mit Worten aus einer weit verbreiteten Passage der Katharmoi des Empedokles sprechen (DK 31 B 115 V. 8, wohl nach O 410f.; vgl. Mosch. Europ. 135f.),267 wenn jener sich durch Moira „auf schlimmen Wegen“ (V. 3 ἐπ᾿ ἀργαλεαῖσι κελεύθοις) davoneilen sieht.268 In Klaneos (SGO 16/45/07) wird noch im 4. Jh. n. Chr. die christliche Gattin eines reichen Schafbesitzers in fehlerhaften Hexametern und zudem in falscher Schreibweise (V. 2 καλήπεπλος) mit dem exquisiten Epitheton καλλίπεπλος belegt, das literarisch aus Pindar (Pyth. 3, 25) und Euripides (Troad. 338) bekannt ist. Dieses Adjektiv schöpfte der Inschriftenverfasser sicher nicht direkt aus der Lektüre solcher Texte. In diesem Fall merkte er es sich wohl eher aus anderen Inschriften als markante Formulierung, mit der er nun genauso seinem Gedicht einen besonderen Reiz verschaffen wollte. So begegnet das Wort auch in einem Epigramm auf einen fleißigen Weber aus Nikaia, der als „Vorsteher eines Webstuhls für schöne Gewänder“ (SGO 09/05/11 V. 2 [ἱ]στῶνος προστάτα καλλιπέπλου) vorgestellt wird. Naturgemäß sind lexikalische Glanzstücke häufiger in den Grabepigrammen des Hellenismus anzutreffen als in späteren Zeiten; denn die privaten Grabgedichte jener Zeit waren, wie die erhaltenen Beispiele deutlich zeigen, darauf angelegt, höheren Qualitätsanforderungen gerecht zu werden.269 Aus der Überliefe-

|| angeführt werden. Gespielt wird mit dem Motiv in einem kaiserzeitlichen römischen Grabepigramm auf einen Schauspieler IGUR 1164 (Raffeiner 44) V. 4 γῆς ὢν πρόσθε γό|νος μητέρα γαῖαν ἔχω; vgl. außerdem Lier (1903) 586f. 266 Oder die metrische Einpassung auffälliger Wortformen wie z. B. AP XII 34 (GP 1575–70; Automedon) V. 2 in IMEG 16 (Kaibel 430; 3./4. Jh. n. Chr.) V. 4 μακαριστότατον bzw. -τάτου am Ende des Pentameters. 267 In Kaisareia in Mauretanien GVI 977 (GG 309, Vérilhac 171; 2./3. Jh. n. Chr.) V. 8 ἔγνωτε σφαλερᾶς τεκνοτρόφοιο τύχας, scheint Demokrit mit dem Spruch τεκνοτροφίη σφαλερόν (DK 68 B 275) eine Rolle zu spielen; vgl. Garulli (2012) 278f. und unten zu *03/02/77 V. 15f. S. 252. 268 Merkelbach zieht den Präpositionalausdruck nicht zu φέρεσθαι, sondern zu dem von Wilhelm (1932) nach AP VII 602 (Agathias) V. 5 ergänzten [ψαύ]οντα. 269 Vgl. etwa Geffcken 119–158, 169–226; Geffcken (1917) 112f.; Cairon (2009), Zusammenstellung hellenistischer Grabgedichte des griechischen Mutterlandes. Unter den neuen Epigrammen Kleinasiens stechen etwa aus hellenistischer Zeit *02/09/36 (Aphrodisias), *02/12/14

1 Methodische Überlegungen: Klassische Tradition und Steinepigramme | 95

rungssituation in Kleinasien geht hervor, daß sich die Produktion der Grabepigramme im Hellenismus um die größeren Bildungszentren konzentriert. Die Steindichtung wurde in dieser Phase nicht nur von geschulteren Literaten betrieben, sondern war auch auf ein anspruchsvolleres Publikum ausgerichtet als in späterer Zeit, als die Mode, Grabgedichte zu verfassen, regional und über das soziale Gefüge hin weiter um sich griff. Bei den meisten der in den folgenden Kapiteln behandelten Beispiele der Steinepigrammatik nachchristlicher Jahrhunderte ist Vorsicht geboten, die feststellbaren Einflüsse der literarischen Tradition als Indizien für den unmittelbaren Kontakt der einzelnen Dichter mit den jeweiligen ‚Klassikern‘ und ihren bewußten Rückbezug auf diese zu werten. Dennoch mag die Analyse (IV 3) erkennen lassen, daß Auszüge aus Hesiod, Sentenzen Menanders und ausgewählte Stücke hellenistischer Epigrammatiker einzelnen Grabdichtern aus dem griechischen Osten wortwörtlich bekannt waren bzw. vorgelegen haben müssen.

2

Einzelfälle: Der Vergleich mit literarischen Gestalten

Genauso wie es sich anbot, Verstorbene mit epischen Figuren in Verbindung zu bringen (vgl. S. 77ff.), lag es nahe, sie zu Gestalten der hellenischen Kultur- oder Literaturgeschichte wie Politikern, Philosophen und Schriftstellern in Beziehung zu setzen. Gleichwohl treten derartige Gestaltungsmuster hinter den mythischen Paradigmen in den Grabinschriften Kleinasiens merklich zurück. Vielleicht setzte die Überhöhung eines Menschen durch den Bezug auf allgemein anerkannte Vorfahren und Personen der Zeitgeschichte die letzte Ehrung der Gefahr aus, als anmaßend wahrgenommen werden.270 Es ist bereits ein Sonderfall, daß in einem

|| (Hierapolis), *12/02/02 (Kandahar) und das unten S. 224ff. behandelte *03/01/07 (Priene) hervor. – Der Einfluß literarischer Gedichte auf die Produktion meist offizieller Ehren- und Weihepigramme vor allem des Hellenismus steht im folgenden nicht zur Behandlung; vgl. Meyer (2014) 239 und unten S. 124f. 270 Wenn der Verstorbene mit Geburts- oder Spitznamen nach einer berühmten Person benannt war, bot sich freilich, falls das Metier dasselbe war, eine Bezugnahme, wenn auch nicht unbedingt ein Vergleich, an: SGO 19/17/02 (Anazarbos, etwa 200 n. Chr.) V. 1 Ἱπ(π)οκράτης οὐ κε[ῖ]|νος ὁ Κώϊος, über den Pferdearzt Memmius Hippokrates; SGO 04/24/02 (Philadelpheia, 1. Jh. n. Chr; vgl. auch Staab [2002] 27–30 mit Anm. 49) V. 1f. οὐ γενόμαν Σάμιος [κ]εῖνος ὁ Πυθαγόρας | ἀλλ᾿ ἐφύην σοφίῃ τἀτὸ λαχὼν ὄνο[μα] (lies ταὐτό), auf einen philosophisch interessierten Menschen gleichen Namens; *17/06/08 (S. 322ff.; Oinoanda [?], 2./3. Jh. n. Chr.)

96 | IV Nachhomerische literarische Tradition im Spiegel der Alltagsdichtung

neu edierten Epigramm (*06/02/37 V. 8, unten S. 289ff.) der Ratsherr Dion aus Pergamon postum von seinen beiden Kindern auf eine Stufe mit den nach Solons Definition271 glücklichsten Menschen gestellt272 und noch dazu seine überzeitliche Bedeutung gemäß den Gepflogenheiten offizieller Heroisierung durch ein wohl fingiertes Orakel des delphischen Apollon bestätigt wurde. Als weniger überzogen und als ein Beweis ehrlicher Wertschätzung dürfte goutiert worden sein, wenn ein Schüler seinen Lehrer in höchsten Tönen pries, so wie im kaiserzeitlichen Pergamon der Arzt Glykon. Dieser stellt in dem von ihm verfaßten Grabepigramm seinen verstorbenen Lehrmeister Philadelphos (SGO 06/02/32 [Samama 187, Obryk (2012) 17f. A2]) auf eine Stufe mit dem unsterblichen Hippokrates,273 wenn er den Dahingeschiedenen sprechen läßt (V. 17f.):

εὖ θάνεν Ἱπποκράτης· ἀλλ᾿ [ο]ὐ θά[νεν]· | οὐδ᾿ ἄρ᾿ ἔγωγε, τοῦ πάλαι Ἱππο[κρά]|τους οὐδὲν ἀσημότερος. Ein Extremfall für solche Bezugnahmen auf Berühmtheiten ist die bereits oben (S. 51 und 84) erwähnte metrisierte Grabinschrift aus Nikomedeia. Dort wird dem Ratsherrn Kyrion (*09/06/23) eine Nähe gleich zu vier literarischen Größen auf einmal angedichtet: zu Hesiod, Archilochos, Menander und Xenophon. Als Nachahmer Hesiods (Ἡσιόδου ζηλωτά) wird er sogar in wörtlichem Sinne präsentiert. Seine Kinder haben dem Grabgedicht zu Ehren des siebzigjährigen Vaters nämlich Verse vorangestellt, die sich, wie Aristoteles fr. 565 und die Suda

|| V. 4 οὔνομα δ᾿ Ἀριστο|φάνης, κύριον εὐ|λογίης über einen Lehrer, auf den die εὐλογίη des Namenspatrons abstrahlt (dazu unten S. 326f.). 271 Die von Herodot dem Athener Staatsmann in den Mund gelegte, ausführliche Glücksdefinition war auch in einem umlaufenden Dictum des Weisen Solon angedeutet; vgl. AP IX 366 V. 1 „Τέρμα δ’ ὁρᾶν βιότοιο“ Σόλων ἱεραῖς ἐν Ἀθήναις; der nicht bei Stobaios (III 1, 193 p. 125-128) überlieferte Spruch erscheint außerdem auf einem von acht, durch einen Schatzfund aus Lampsakos erhaltenen Silberlöffeln des 6. Jh. n. Chr., die neben lateinischen Zitaten Sprüche der Sieben Weisen in daktylischen Hexametern (AP IX 366) mit zusätzlichen spöttischen Kommentaren enthielten (SGO 07/07/03). Für die Prominenz der Sieben Weisen in frühbyzantinischer Zeit in Syrien vgl. auch das Mosaik bei Heliopolis/Baalbek im Haus eines Platonikers Patrikios SGO 20/13/03 (5. Jh. n. Chr.). 272 Für den Vergleich mit Solon selbst siehe die Statuenehrung in Ephesos für den Proconsul Andreas im 4. Jh. n. Chr., der „wie Minos, Lykurgos oder Solon“ (SGO 03/02/07 V. 2 ὁποῖα Μίνως ἢ Λυκοῦργος | ἢ Σόλων) wohl ein besonders gerechter Politiker war. 273 Vgl. auch den durch Plutarch bekannten Wanderphilosophen Ofellius Laetus, der mit einem fast identischen Distichon in Ehreninschriften aus Athen (Kaibel 882 [dort geht noch ein Distichon voraus] V. 4 ἔν σοι, Λαῖτε, Πλάτων ζῇ πάλι φαινόμενος) und Ephesos (SGO 03/02/29 V. 2 ἔν σοι, Λαῖτε, Πλάτων ζῇ πάλι σωζόμενος) als Wiedergeburt Platons gefeiert wurde.

2 Einzelfälle: Der Vergleich mit literarischen Gestalten | 97

(τ 732) bescheinigen, dereinst auf das hohe Lebensalter und die zweimalige Bestattung (dazu FGE 582–3 mit Kommentar) des Lehrdichters bezogen und auf dessen Grab als Epigramm, angeblich aus der Feder Pindars, zu lesen gewesen sein sollen (V. 1f.):

χ῰ρε, δὶς ἡβήσας καὶ δὶς τάφου ἀντιβολήσας | ἐν σοφίῃ μέτρον.274 Mit dem sehr gewählten Zitat, das von den Kindern aus einer Sammlung literarischer Epigramme geschöpft bzw. ihnen aus dem Munde ihres gebildeten Vaters bekannt gewesen sein muß, wird dem Verstorbenen Kyrion das sprichwörtlich gewordene „Hesiodeische Alter“ bescheinigt. Indem die Anrede nun auf ihn umgemünzt wurde, schlüpft er gleichsam in die Rolle des frühen Epikers. Während die Nennung des Menander (dazu S. 107ff.) und des Hesiod (dazu S. 98ff.) deren sonst bezeugter pädagogischer Bedeutung in der Kaiserzeit entspricht, ist der Verweis auf Xenophon und mehr noch der auf den archaischen Dichter Archilochos auffällig. In den papyrologischen Zeugnissen zur literarischen Schulpraxis sind der Sokratesschüler275 und der archaische Lyriker276 kaum repräsentiert, und bislang traten sie in dieser Hinsicht auch in der epigraphischen Überlieferung nicht hervor.277 Wie Quintilian und Dion von Prusa (or. 18, 14–17) erkennen lassen, darf Xenophons Rang in der politisch-rhetorischen Ausbildung nicht übersehen werden.278 Das paßt gut zu Kyrions Karriere als Lokalpolitiker.

|| 274 Kassel (2014) wies auf die Parallele hin. Im Grabgedicht auf Hesiod bildet der zweite Vers den Pentameter Ἥσιοδ᾿, ἀνθρώποις μέτρον ἔχων σοφίης. 275 Vgl. die auswertenden Tabellen bei Morgan (1998) tab. 13–17; Schreibübung P.Yale II 135 = Cribiore (1996) Nr. 287, vielleicht mit Xen. symp. 1, 9 am Ende (οὐδεὶς οὐκ ἐ..[), was bei Cribiore nicht vermerkt wird. 276 Vgl. das bei Cribiore (1996) Nr. 130 verzeichnete Ostrakon, das neben Euripides (Phoen. 3) vielleicht etwas aus einer Epode des Archilochos enthält. 277 Die Parabel des Prodikos von Herakles am Scheideweg, die Xenophon in den Memorabilien II 1, 21–34 wiedergibt, steht im Hintergrund in SGO 04/24/02 (Philadelpheia, frühes 1. Jh. n. Chr.). 278 Die Kyrupädie wurde laut Sueton (Caesar 87) von Caesar gelesen und der Agesilaos galt im Unterricht der späten Kaiserzeit nachweislich als mustergültige Lobrede; vgl. dazu Staab (2002) 443–447; Mueller-Goldingen (2007) 110–119 zur Wirkung vor allem seines politischen Denkens. Was die allgemeine Papyrus-Überlieferung angeht, bietet die „Leuven Database of Ancient Books“ weitere 52 Einträge zu Papyri mit Werken Xenophons. – Freilich war Xenophon auch literarisch ein wichtiger Musterautor; man denke an Arrian, der sich als „neuer Xenophon“ stilisierte (vgl. FGrHist 156 T 1f.).

98 | IV Nachhomerische literarische Tradition im Spiegel der Alltagsdichtung

Weniger eindeutig ist der Bezug zu Archilochos, wenn über Kyrion gesagt wird, er sei dessen ὀρεκτής gewesen, „strebe ihm nach“. Vielleicht sollte damit nach der Erwähnung des „Hesiodeischen Alters“ darauf angespielt werden, daß dem Ratsherrn Kyrion, der am Ende seines Epitaphions in den Rang eines Heros erhoben wird, ewiges Gedenken zuteil werden möge, genauso wie Archilochos durch sein im 4. Jh. v. Chr. gegründetes Heroon auf Paros gleichsam Unsterblichkeit beschieden war.279 Zugleich könnte man daran denken, daß Kyrion wie Archilochos (vgl. fr. 1 und fr. 109 West) in politischen Streitigkeiten vor den Mitbürgern seine Ideale unbeirrt vertreten hatte und er von daher als dessen ὀρεκτής bezeichnet werden konnte. Obgleich Archilochos ausweislich der Papyrusfragmente in Ägypten bis ins 3. Jh. n. Chr. noch im Original gelesen wurde,280 zeichnet sich ein Einfluß seiner uns nur noch fragmentarisch erhaltenen Werke auf die Grabepigrammatik in Kleinasien nirgends deutlich ab.

3

Bezugnahmen auf die literarische Poesie

a Hesiod Die besondere Wirkung des Lehrepikers deutete sich soeben bereits im Grabepigramm auf Kyrion an. Bis zum Ende der Antike sind entsprechend seiner Bedeutung im schulischen Bildungskanon,281 die hinter Homer freilich zurücksteht, in den Grabmälern bisweilen deutliche Reflexe einer Hesiodlektüre festzustellen.282 Diese hat wohl bis ins 3. Jh. n. Chr. den uns noch aus Papyrusfragmenten rekonstruierbaren Frauenkatalog eingeschlossen. Denn wenn in Eumeneia (SGO || 279 Vgl. Clay (2004) 99–118; Ornaghi (2009) 3–63 zu den Testimonien und zur epigraphischen Überlieferung; zu ergänzen mit einem neuen Testimonium aus der Diogenesinschrift in Oinoanda NF 143 II (ed. Smith/Hammerstaedt [2014] 39, Kommentar ebd. 42), zur Begünstigung des Archilochos durch den delphischen Apollon. 280 Die „Leuven Database of Ancient Books“ bietet 26 Einträge. 281 Vgl. Cribiore (2001) 197f. und 141 zu P.Oxy. 2355 (2. Jh. n. Chr.; fr. 195 catalog. + scutum 1-5) als Schultext. 282 Vgl. neben den im folgenden ausgewerteten Gedichten SGO 05/01/64 (Smyrna, 3. Jh. n. Chr.) V. 5 ἠέρι πολλῶι ~ Hesiod theog. 9, unter anderem dazu Garulli (2012) 234f.; zu 08/06/09 (Hadrianuthera, 3. Jh. n. Chr.; ebd. V. 8 auch Menander fr. 111 Kö., zukünftig Dis exap. fr. 4 Kassel/Schröder) V. 3f. λιπεῖν / παῖδ’ ἕτερο|ν vgl. op. 378; 20/15/02 (Tyros, 3./4. Jh. n. Chr.) V. 2 Μουσάων θεράπων ~ u. a. theog. 100 (vgl. schon GVI 1074 [Demetrias, 3. Jh. v. Chr.] V. 3 μουσῶν θεράπων); zu 01/10/02 (Keramos, Stifterinschrift um 516 n. Chr.) V. 3 ὅτε χείματος ἵσταται ὥρη vgl. op. 450; das von einem Literaten angefertigte Lobgedicht auf den lykischen Dynasten Gergis SGO 17/10/01 (CEG 177, Obryk [2012] 82f. C2; um 400 v. Chr.; S. 136f.) V. 9 ὧν χάριν ἀθάνατοί

a Hesiod | 99

16/06/02; Garulli [2012] 322–325; 2./3. Jh. n. Chr.) die verstorbene Gellia aufgrund ihrer Schönheit (καλλοσύνᾳ) aus den „berühmten Scharen der Frauen“ (V. 3 ἐϋκλέ|α φῦλ{λ}α γυναικῶν) herausgehoben wird, kann dafür wohl nur die Erinnerung an die hesiodeischen Ehoien den Ausschlag gegeben haben, genauso wie auch in der Qualifizierung von θεός als οὐράνῳ ἐνβα[σιλεύων] (V. 4) Hesiods Ausdrucksweise vorliegt (vgl. Hesiod theog. 71; op. 111).283 Jene begannen mit den Versen (vgl. fr. 1, 1f. = theog. 1021f. athetiert):

νῦν δὲ γυναικῶν φῦλον ἀείσατε, ἡδυέπειαι Μοῦσαι Ὀλυμπιάδες, κοῦραι Διὸς αἰγιόχοιο. Insgesamt aber zeigen die Epigramme Kleinasiens den Vorrang von Hesiods Lehrgedicht über den Landbau.284 Bereits in hellenistischer Zeit wird im fernen Armavir in Armenien, wie die fragmentarischen Verse auf der Grablege eines unbekannten Königs Mithras noch erkennen lassen, ausführlich dessen Wirken mit Hesiods Hilfe für seinen Bruder Perses in den Werken und Tagen verglichen (SGO 12/05/02). In einigen Grabgedichten wird so getan, als zöge man das alte Epos des böotischen Dichters wie ein praktisches Handbuch für die eigene Landwirtschaft zu Rate. Ein ehemaliger, von Kaiser Traian selbst ernannter Standartenträger aus Kaisareia Hadrianopolis gab laut seinem Epitaph (vgl. S. 88) als Veteran mit Großgrundbesitz den von ihm abhängigen Bauern die Anweisung, all das Gehörige zu tun, „was Hesiod … ausführlich gelehrt hatte“ (SGO 10/02/28 [Garulli (2012) 368–373] V. 16f.; hier 15f.):

θρεππτοῖς ἐπέτελλε γεωργοῖς |/ ἄρμενα πάντα ποιεῖν.

||

οἱ ἀπεμν‹ή›σαντο δικαίαν ~ theog. 503; in dem Klarosorakel 18/19/01 (Syedra) V. 9 εὐόχθειαν Neubildung aus op. 477 εὐοχθέω. – Der laut Hesiod op. 289–292 nur mit Schweiß zu bewältigende schwierige Weg zur Tugend steht im Hintergrund in der aus Kaisareia/Kappadokien stammenden Bildbeschreibung AP I 93 (SGO 13/06/05; spätantik). 283 Vgl. zu dem Gedicht oben S. 85 Anm. 240 (Ende). Kenntnis von Hesiods Frauenkatalog ist auch in SGO 01/12/02 (Halikarnass, hellenistisch) V. 30 λέκτους ἐκ γαίης (vgl. Hesiod fr. 234) festzustellen; bei dem Gedicht, einer Elegie zum Ruhm von Halikarnass, handelt es sich aber um ein hellenistisches, in erster Linie literarisches Produkt, welches auf Stein gelangt ist (dazu S. 124f.). 284 Vgl. für außerkleinasiatische Gedichte auch den Index zu Hesiod bei Kaibel S. 700. – Die Theogonie V. 301 κάτω κοίλῃ ὑπὸ πέτρῃ dürfte im Selbstepitaph des Chartularius Hermianos aus Smyrna im Hintergrund gestanden haben, wenn er (wie Hesiod) mit einer Doppelung von Adverb und Präposition den Aufenthaltsort seines Leichnams durch ἔσω κοίλης κατὰ πέτρης (SGO 05/01/41 V. 2) wiedergibt; damit wäre die von Peek (GVI 477 nach Klaffenbachs Vorschlag) und Petzl (IK 23 Smyrna Nr. 542) vorgenommene Korrektur ἔχ͙ω (was wegen ἔχω in V. 1 unnötig ist) statt ἔσω hinfällig.

100 | IV Nachhomerische literarische Tradition im Spiegel der Alltagsdichtung

Daß bei dem Gedicht nicht nur in archaisch-idealisierender Weise pauschal an die Erga Hesiods erinnert wird, sondern man sich der Anweisungen des Werkes, das als Leitlinie für den zeitgenössischen Landbau erscheinen sollte, bewußt war, macht die an Hesiod angelehnte Formulierung ἄρμενα πάντα ποιεῖν (vgl. op. 407 χρήματα δ’ εἰν οἴκῳ πάντ’ ἄρμενα ποιήσασθαι) klar. Ebenfalls soll sich noch im 3. Jh. n. Chr. der Lokalpolitiker, Richter und wahrscheinlich Großbauer285 Epikrates in Klaudiupolis laut seinem von den beiden Söhnen gesetzten Grabmal mit dem Landbau abgemüht haben, „wie ihn Hesiod aufzeigte“ (SGO 09/09/11 [Garulli (2012) 376–378] V. 5 τὴν δὲ γεωπονίην ὡς Ἡσίοδος κατέδειξεν). Ein Bauer, dessen Erfolg man an den fruchtbringenden Ländereien um sein Grab sehen konnte, war auch der aus Prusias stammende Glykon, dem in einem neuen Epigramm ausdrücklich die Kenntnis „der Schriften der Pierischen Musen“ bestätigt wird, und darüber hinaus noch die Erfindung individueller Fertigkeiten (*09/08/08 [unten S. 304ff.] V. 3f.):

ὃς καὶ Πειερίδων ἐδάη σοφὰ γράμματα Μουσῶν. καὶ πάσης ἀρετῆς εὗρε τέχνην ἰδίην· Andere subtile Anspielungen auf Hesiod in den Grabgedichten weisen vor allem die Bekanntheit von dessen Erga aus. In hellenistischer Zeit verrät ein geschickter Grabdichter seine Hesiodlektüre, wenn er das erst zweijährige Kind gegenüber seinen Eltern „einschmeichelnd plaudern“ (SGO 05/01/52 [2. Jh. v. Chr.] V. 1 αἱμύλα κωτίλλουσα) läßt und damit die von Hesiod (op. 373) in negativem Sinne verwendete Junktur ins Positive kehrt.286 Im 3. Jh. n. Chr. wird kaum merklich das vollendete Lebenswerk eines Bauern aus Klaneos mit dem vielsagenden Spitznamen Polyathlios in Anspielung auf diesen Namen mit wohl unbewußter hesiodeischer Diktion umschrieben, wenn es heißt, er habe „die vielen Mühen beendet“ (SGO 16/45/09 V. 3 πολλῶν καμάτων πεπαυμένος). Damit hatte der Verstorbene die gemäß der Weltalterlehre des archaischen Lehrdichters für das eiserne Geschlecht nicht enden wollende Mühe (op. 175f. οὐδέ (…) / παύσονται καμάτου) überstanden.

|| 285 Vgl. L. Robert (1957/1958) in OMS I 384–389 zu weiteren Bauernepigrammen; außerdem SGO 09/05/19 (Nikaia, 3. Jh. n. Chr.) auf einen Priester und Bauern mit dem hesiodeischen Grundsatz V. 6 πᾶν ἔργον κατὰ καιρὸν ἐν ὥρῃ; SGO 16/41/03 (Phrygisches Hochland); 16/41/10 auf Zotikos, angeblich ein Bauer und Dichter. – Das im folgenden zitierte κατέδειξεν könnte auch rein auf schriftstellerische Tätigkeit bezogen sein. 286 Vgl. Kassel (1979) 2 [75] mit Hinweis auf GVI 840 (Demetrias, 3./2. Jh. v. Chr.; GG 147) V. 2 auf eine Dreijährige; Garulli (2012) 225–230.

a Hesiod | 101

Die Überlegungen Hesiods zum günstigsten Hochzeitsalter, welches für den Mann bei um die 30 Jahre und bei der Frau im fünften Jahr ihrer Geschlechtsreife liegen sollte (op. 698 ἡ δὲ γυνὴ […] πέμπτῳ δὲ γαμοῖτο), standen vielleicht Pate, um in Side in einem nur noch fragmentarisch erhaltenen Gedicht den frühen Tod einer kaiserzeitlichen Artemispriesterin namens Nane zu umschreiben. Dies kann allerdings nur noch hinter der namentlichen Bezugnahme auf Hesiod vermutet werden (SGO 18/15/14 [Garulli (2012) 373–376] V. 4 ἄρτι τὸν Ἡσιόδου . [– – –] . . HN). Auf einem Grabmal in Amisos beweist ein Dichter scharfsinniges poetisches Talent. Er imaginiert in anrührenden Worten das kurze Glück des Bräutigams mit seiner jung verstorbenen Vermählten Epiphania aus dem Blickwinkel der Schwalbe, die „in der Morgendämmerung klagend“ (ὀρθρογόη) als erste den Bräutigam in Epiphanias Armen und bei ihrer Rückkehr als deren Witwer gesehen habe (SGO 11/02/02 [3. Jh. n. Chr.] V. 1f.):

πρώτη νυμφίον ‹ε›ἶδεν ἐν | ἀγκαλίδησι γυναικὸς287 | ὀρθρογόη καὶ χῆρον | ὑποστρέψασα χελειδών· Die Beschreibung der Schwalbe als ὀρθρογόη verweist auf Hesiod op. 568, wo die literarische Überlieferung zwar ὀρθογόη bietet, die Erklärung des Scholions zu dem Vers (586a p. 185,12 ἡ ὑπὸ τὸν ὄρθρον θρηνοῦσα ed. Pertusi) hingegen die Lesart belegt, die auch dem kundigen Epigrammdichter aus Amisos vorschwebte.288 Die meist späteren Grabmäler, welche die Unsterblichkeit des Dahingeschiedenen vor dem Hintergrund des in den Erga289 für den Heroen-Status angelegten, dann aber gemeinplätzig gewordenen Motivs der Inseln der Seligen beschreiben, setzen keine bewußte Kenntnis und Bezugnahme auf Hesiod voraus.290

|| 287 Vgl. nach Martin (2003) 499 Homer Χ 503 ἐν ἀγκαλίδεσσι τιθήνης; zu V. 3 ἐφ᾿ ὅσον χρόνος ἐστὶν ἐμεῖο, Apoll. Rhod. III 716 ὅσσον σθένος ἐστὶν ἐμεῖο; zu V. 4 ὑπ᾿ ὀφρύσι δάκρυα λείβειν, Homer N 88 / θ 86 ὑπ᾿ ὀφρύσι δάκρυα λεῖβον bzw. λείβων. 288 Vgl. Wests Kommentar zur Stelle, wo zur Textkonstitution unter anderem auf das vorliegende Epigramm hingewiesen wird; Garulli (2012) 230–232. 289 Hes. op. 170–173 καὶ τοὶ μὲν ναίουσιν ἀκηδέα θυμὸν ἔχοντες / ἐν μακάρων νήσοισι παρ’

Ὠκεανὸν βαθυδίνην, / ὄλβιοι ἥρωες, τοῖσιν μελιηδέα καρπὸν / τρὶς ἔτεος θάλλοντα φέρει ζείδωρος ἄρουρα. – Damit gekoppelt auch Hom. δ 563 Ἠλύσιον πεδίον καὶ πείρατα γαίης (Menelaos in Aussicht gestellt) und die anschließende Beschreibung V. 565–568. 290 Vgl. z. B. SGO 16/32/03 (Kotiaeion, in christlicher Zeit) V. 6 in Bezug auf die Getauften.

102 | 3 Bezugnahmen auf die literarische Poesie

b Pindar Ähnlich wie im Falle des Iambendichters Archilochos (S. 98) stellt sich die Situation hinsichtlich des dorisch schreibenden Lyrikers Pindar dar.291 Sein Name begegnet in Kleinasien nur einmal in einem neuen frühbyzantinischen Stiftungsepigramm aus Stratonikeia (*02/06/25). Mit seiner Grundidee knüpft dieses Gedicht auf den Erbauer einer Wasserleitung an den Beginn der Ersten olympischen Ode, ἄριστον μὲν ὕδωρ an. Zumindest der Auftaktvers der pindarischen Odensammlung dürfte demnach in gebildeten Kreisen bis in die Spätantike sprichwörtlich bekannt gewesen sein.292 Bei diesem singulären byzantinischen Beleg für rudimentäre Textkenntnisse einer pindarischen Ode handelt es sich freilich um ein exquisites Epigramm im Stile des Literaten Agathias. Eine direkte Leseerfahrung mit dem Lyriker Pindar läßt sich daraus nicht herleiten. Unmittelbare Bezüge auf Pindarisches sind auch sonst nicht zweifelsfrei festzustellen. Das literarische Grabgedicht auf Pindar (AP VII 35 [HE 2567f.]),293 welches laut der Anthologie von Platon oder Leonidas stammt, stand einmal Pate für die Formulierung eines nicht mehr genau lokalisierbaren privaten Epitaphions in Bithynien oder Paphlagonien.294 Dort erscheint ein Herondas aus Herakleia durch die ursprünglich auf den Lyriker gemünzten Worte (AP VII 35 [HE 2567f.] V. 1) als Menschenfreund in strahlendstem Licht (SGO 09/14/04; 3./2. Jh. v. Chr.):

ἄρμενος ἦν ξείνοισιν ἀνὴρ ὅδε καὶ φίλο[ς ἀστοῖς]. „Freundlich war dieser Mann zu den Fremden und ein Freund [den Mitbürgern].“ Nur indirekt ist ein neues augusteisches Grabgedicht aus Ephesos durch die Sprache Pindars inspiriert.295 Ein wahrscheinlich als freigelassener Literaturlehrer in Diensten einer römischen Familie stehender Menandros bedauert darin || 291 Vgl. insgesamt Ucciardello (2012), ebd. besonders 106 Anm. 4. 292 Vgl. zur Anspielung in *02/06/25 auf Ol. 1, 1 und zur Verwandtschaft des Epigramms mit der literarischen Tradition Staab (2009) 39f.; das byzantinische Gedicht Rhoby (2014) TR 95 (IK 9 Nikaia Nr. 515, vgl. SGO 09/05/97; Nikaia, 1211 n. Chr.) V. 1 mit der Anspielung auf Pyth. 8, 95f. σκιᾶς ὄναρ ἄνθρωπος. 293 Vgl. den häufigen Bezug auf Homers Grabgedicht Kap. III 4 S. 73–77 und den oben S. 96f. erwähnten auf das des Hesiod. 294 Vgl. Garulli (2012) 204–206. 295 Vgl. außerdem für IMEG 102 (Geffcken 223; späthellenistisch, auf eine heilige Uräusschlange) V. 3 ὄπα προχέων (als Aufforderung an den Passanten) und Kaibel 97a (hellenistisch; über den Hierophanten in Eleusis) V. 4 Εὐμόλπου προχέων ἱμερόεσσαν ὄπα: Pindar Pyth. 10, 55f. Ἐφυραίων / ὄπ’ (…) γλυκεῖαν προχεόντων ἐμάν (sc. Pindars). – Für Kaibel 787 (GP 2442f.: Honestus X, ebd. Bd. II S. 301 „during the reign of Tiberius“; P. Roesch, Inscriptions de

b Pindar | 103

den Verlust des als Mitstreiter vorgesehenen Sklaven Hyllos, der bereits „die Blüten der literarischen Leistung gepflückt hatte“ (*03/02/77 [vgl. S. 236ff.] V. 6):

γραμματικῆς τε ἀρετῆς ἄνθεα δρεψάμενον. Schon der Tyrann Hieron von Syrakus „pflückte“ laut Pindars Erster Olympie „die Spitzen von allen Fertigkeiten“ (V. 12 δρέπων μὲν κορυφὰς ἀρετᾶν ἀπὸ πασᾶν296) und glänzte „im Feinsten der Musenkunst” (V. 14f. ἀγλαΐζεται δὲ καὶ / μουσικᾶς ἐν ἀώτῳ). Die wohl ganz ursprünglich aus Pindars Gedanken entwickelte Ausdrucksweise des Pflückens297 in Kombination mit einem ideellen Begriff ist in epigrammatischer Sprache spätestens seit Leonidas von Tarent (AP VII 13 [HE 2563-6] V. 2 Μουσέων ἄνθεα δρεπτομένην298 [sc. Erinna]) beheimatet. Das pindarische Wort ἄωτον ist in der berühmten Prägung ἄκρον ἄωτον auch in einem Epigramm aus Bostra zu lesen (siehe unten S. 112). Der Dichter braucht die Formulierungen aber hier wie dort nicht aus Pindar gekannt zu haben. c Euripides Sicherer als die wörtliche Zitation aus den Werken des attischen Tragikers ist der generelle Einfluß euripideischer Sagenstoffe auf die in Steinepigrammen entworfenen Mythenbilder. Freilich können in allen Fällen die Erzählungen der Vorzeit über andere Überlieferungswege ins kulturelle Bewußtsein Kleinasiens eingegangen sein. Wahrscheinlich haben sich jedoch besonders die Eindrücke aus

|| Thespies 289; Gedicht unter der ersten von neun Musenweihungen durch die Thespier) V. 1 τόνδε … νέκταρος [ἀ]τμὸν | πέμπω (Muse Polymnia) vgl. Pind. Ol. 7, 7f. καὶ ἐγὼ νέκταρ χυτὸν, Μοισᾶν δόσιν, (…) / (…) πέμπων (sc. Pindar). 296 Vgl. auch das christliche Epigramm Kaibel 543 (Pieria) V. 1 κορυφὴν ἀρετάων; eine ähnliche Formulierung liegt zugrunde bei Pindar Paian 12, fr. 52m, 4f. ἀμφέπο[ισ᾿ ἄν]θεα τοια[ύτας | .] ὑμνήσιος δρέπῃ. 297 Zur alten Metapher ‚Blumen pflücken‘ als Ausdruck der Tätigkeit des Dichters vgl. Nünlist (1998) 212–215. 298 Vgl. das anonyme Preisgedicht auf Menander AP IX 187 (FGE 1238–43; Men. test. 169) V. 2 ποικίλα Μουσάων ἄνθεα δρεψάμεναι (sc. μέλισσαι); AP VII 219 (GP 3961–6; Pompeius) V. 1 ἡ μούνη Χαρίτων λείρια δρεψαμένη (sc. Λαΐς). – Zur Umbildung der Junktur SGO 11/05/05 (Nea Klaudiupolis, spätantik) V. 4 κυδαλίμης | ἀρετῆς ἄνθεα στε|ψαμένην; 11/06/01 (Laodikeia/Phazimonitis; späte Kaiserzeit) V. 3 πά|σης τε ἀρετῆς ἄνθε|α σ̣τεψ̣άμενον. – Metaphorische Verwendung nur von δρέπτω in IG II2 3783 (Kaibel 853, Samama 8; Athen, 303/2 v. Chr.) V. 3f. τὸ περισσὸν |/ ἐκ βύβλων ψυχῆς ὄμματι δρεψάμενον.

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den bis in die Kaiserzeit nachweisbaren Aufführungen der Dramen299 des Euripides mehr noch als seine Bekanntheit durch die höhere literarische Ausbildung (oft in Form von Einzelpassagen, Florilegien, Merkversen)300 auf die Paradigmenwahl einiger Epigrammdichter niedergeschlagen. So wurde, um ein Beispiel zu nennen, in einem 182/83 n. Chr. verfaßten Gedicht das Schicksal des fünfjährigen Knaben Glaukon aus Saittai (SGO 04/12/06) neben die mythischen Todesfälle des troianischen Astyanax (vgl. Ω 734f.) und des unter anderem aus der Hypsipyle (Eur. fr. 752–769) bekannten Archemoros301 gestellt (V. 3). Genaue Textbezüge auf die Dramen zeigen die Gedichte Kleinasiens selten: Ein Unicum wörtlicher Euripides-Rezeption auf Stein ist eine von drei im Zusammenhang einer königlichen Grabanlage stehenden metrischen Felsinschriften aus Armavir in iambischen Trimetern, wo innerhalb einer Ich-Rede (nach Merkelbach vielleicht eines verstorbenen Herrschers) Verse aus drei verschiedenen Euripides-Tragödien centonenhaft wiederkehren (SGO 12/05/01; um 200 v. Chr.).302 Die Eingangsverse der im Unterricht prominent behandelten Phoenissen sind umgestaltet zu einem isopsephischen Helioshymnos in Pergamon durch Aelius

|| 299 Vgl. Funke (1966) 243f., freilich auch in Form der Solorezitation von Einzelpassagen und durch Pantomime; Kommentar zu *17/06/08 (unten S. 324ff.) V. 2f. mit Hinweis auf Dion Chrysostomos or. 18, 6f. (Men. test. 102 K./A.), der zur rhetorischen Ausbildung neben Menander das Anhören geübter Euripides-Rezitatoren empfahl. – Lukian de salt. 47–60 zu pantomimischen Aufführungen verschiedener in euripideischen Stücken behandelter Sagenstoffe (z. B. Hippolytos, Bellerophon, Stheneboia, Andromache, Pasiphae). 300 Vgl. Funke (1966) 244f. 247–250. 254–279; Wyß (1983) 846–849 zur Euripideskenntnis des Gregor von Nazianz. Stobaios zitiert den Tragiker über 500mal. Zu den Schulpapyri Cribiore (2001) 198f. bezüglich der dort vorrangig repräsentierten Phoenissen. 301 Zur pantomimischen Aufführung dieses Stoffes Lukian de. salt. 44. Der Mythos auch in den Reliefs des Tempels von Kyzikos AP III 10 (SGO 08/01/20 [mit SGO 5 (2004) 7]); dort auch andere euripideische Sagenstoffe AP III 1 (SGO 08/01/11 V. 4 vgl. Bacch. 245); III 2 (SGO 08/01/12 vgl. fr. 264–281 Auge); III 3 (SGO 08/01/13 vgl. fr. 803a–818 Phoenix); III 5 (SGO 08/01/15 vgl. fr. 448a-459 Cresphontes); III 6 (SGO 08/01/16 V. 4 vgl. Phoen. 232f. mit Kommentar in SGO); III 7 (SGO 08/01/17 vgl. fr. 179–227 Antiope); III 11 (SGO 08/01/21 vgl. fr. 316–330a. 330b–348 Danae bzw. Dictys); III 12 (SGO 08/01/22 vgl. fr. 424–427 Ixion); III 13 (SGO 08/01/23 vgl. vielleicht Rhadamanthys [59]); III 15 (SGO 08/01/25 vgl. fr. 285–311 Bellerophontes); III 16 (SGO 08/01/26 vgl. fr. 489-514 Melanippe desm.). – Vgl. auch das Phaidra-Mosaik in Sheikh Zuweid/Südpalästina (vielleicht antikes Bitylion) aus dem 3. Jh. n. Chr. unter SGO 22/77/01. 302 V. 7 ~ Hippol. 616; V. 8 ~ fr. 1034, 3; V. 12 ~ Orest. 2. – Die Herstellung des Gedichtes ist schwierig; vgl. auch Kannicht (1998), von daher Corrigendum in TrGF 5, 2 S. 1122f. zu tragica adesp. fr. 279g.

c Euripides | 105

Nikon, wohl der Vater des Arztes Galen (SGO 06/02/27 V. 2–4). Sprachliche Reflexe aus den euripideischen Bakchen erscheinen nach Merkelbach in einem milesischen Grabgedicht hellenistischer Zeit auf die Dionysospriesterin Alkmeonis (SGO 01/20/21 [Obryk (2012) 133f. E7]), welches vielleicht inspiriert durch die Anrufung der Ὁσία bei Euripides (Bacch. 370–372) mit dem Gruß τὴν ὁσίην χαίρειν einsetzt und nach dem Vorbild der einprägsamen Formel des attischen Tragikers (Bacch. 116 εἰς ὄρος εἰς ὄρος) an die Funktion der Verstorbenen als Führerin ins Gebirge erinnert (V. 3): ὑμᾶς κεἰς ὄρος ἦγε. Im Rückgriff auf das in den Bakchen vorgeprägte religiöse Vokabular wird im Jahr 155 n. Chr. auch die Tätigkeit eines Satyrtänzers und Dionysosmysten aus Amastris beschrieben, der alle zwei Jahre „den Festzug für den mit Jauchzen geehrten Gott“ (SGO 10/03/02 V. 4 κῶμον εὐΐῳ θεῷ vgl. Bacch. 1167 δέχεσθε κῶμον εὐΐου θεοῦ) anführte. Weniger deutlich zeigt sich ein Textbezug zu Euripides in einem Aufruf zum Lebensgenuß eines termessischen Grabmals des 3. Jh. n. Chr. in iambischen Trimetern (SGO 18/01/14 V. 4f.):

ὅσας ἂν σεαυτὸν εὐφράνῃς303 ἡμέρας, ταύτας βίον νόμιζε, τὰς δ᾿ ἄλλας χρόνον. Die Verse könnten aus den Worten entwickelt sein, die Herakles zur Dienerin in der Alcestis spricht (V. 788f.; vgl. auch S. 134 mit Anm. 395):

εὔφραινε σαυτόν, πῖνε, τὸν καθ’ ἡμέραν βίον λογίζου σόν, τὰ δ’ ἄλλα τῆς τύχης. Eine weitere Allgemeinaussage zur Hinfälligkeit allen irdischen Lebens in einem mit Kreuzen gekennzeichneten Epigramm aus Bostra (SGO 22/42/06 V. 1), πάντα χθὼν φύει καὶ ἔμπαλιν ἀμφικαλύπτει,304 steht durch ihre Diktion in engem Zusammenhang mit einem als Sentenz im Florilegium des Orion überlieferten Vers der Antiope des Euripides (fr. 195):

ἅπαντα τίκτει χθὼν πάλιν τε λαμβάνει. Vielfach steht die Tragödiensprache euripideischer Prägung im Hintergrund, was in jedem Einzelfall herauszuarbeiten ist. So klagt etwa in einem neuen, kaiserzeitlichen Epigramm aus Daldis der ermordete Lukios (*04/08/05 V. 1f.):

|| 303 Die auffällige Junktur, die neben dem Grundgedanken wörtlich mit Euripides’ Text übereinstimmt, stand nach der Bemerkung von A. Wilhelm in der Vorlage aus metrischen Gründen sicherlich in der Reihenfolge εὐφράνῃς σεαυτόν. 304 Vgl. die in SGO angegebenen Verweise zu verschiedenen sprachlichen Erscheinungsweisen dieses, dem Christentum nicht fremden Motivs, insbesondere Epicharm fr. 213 K./A. und Eur. suppl. 531–536. Siehe auch S. 109 mit Anm. 317.

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κεῖ|μαι λυγρὰ παθὼν τλή|μων Λεύκιος ὠκύμορος.305 Ähnlich bemitleidet sich in einem metrisierten Epitaph aus Hadrianuthera der 21jährige Nikomachos selbst (*08/06/13 [311/2 n. Chr.] Z. 11f.):

τοὔνεκα [ὁ | τ]λήμων ἐποδύρομαι.306 Ob die Junktur des Adjektivs ἑπτάπορος mit πληϊάς in einem Gedicht aus Milet (SGO 01/20/26 V. 4; unten S. 111) durch die Lektüre von Euripides oder eines anderen großen Dichters angeregt wurde, läßt sich kaum entscheiden.307 Ebenso wenig ist in einem kaiserzeitlichen Gedicht auf drei kurz hintereinander verstorbene Geschwister aus Galatien klar (SGO 15/01/01; Vérilhac 27 mit Vérilhac [1982] 127; Garulli [2012] 328–335), ob der ambitionierte Dichter an ein bestimmtes Tragiker-Vorbild dachte, als er mit dem Oxymoron ἄχαρις χάρις (V. 13 „danklose Gunstbezeugung“) das Grab umschrieb, das die unglücklichen Eltern ihren Kindern notgedrungen zuteil werden lassen mußten.308

|| 305 Vgl. z. B. Euripides Androm. 1168 τλήμων ὁ παθών, τλήμων δέ, γέρον, / καὶ σύ u. ö.; auch Aischylos Pers. 912 τί πάθω τλήμων. 306 Vgl. z. B. Eur. Or. 1028 und Iph. Taur. 548 τέθνηχ’ ὁ τλήμων; eine enge Parallele für die Formulierung findet sich inschriftlich in ΙΜΕG 35 (hellenistisch) V. 15 τοῦ χάριν ἡ τλήμων κατοδύρομαι εἰν Ἀίδαο. – Das Kompositum ἐποδύρομαι ist sehr selten und in literarischen Gedichten vor der byzantinischen Zeit nur in AP VII 10 (FGE 1166–73; V. 7f. ἐπωδύραντο δὲ πέτραι / καὶ δρύες) und in Nonnos (Dionys. XI 249; XL 213) nachweisbar. Für Inschriften vgl. Kaibel 504 (Limnaion/Thessalien, 2. Jh. v. Chr.); SGO 10/04/01 (Abonuteichos/Ionopolis, etwa 3. Jh. n. Chr.) V. 4. 307 Vgl. Anm. 320. – Ebenso unklar ist die eindeutige Zuweisung an eine Vorbildstelle in einem auf Stein fragmentarisch erhaltenen Festgedicht aus Herakleia am Latmos eines literarisch versierten Dichters (SGO 01/23/01), das in V. 17 ein Zitat aus Euripides Bacch. 386 (von Aristoph. ran. 838 aufgegriffen) aufweist, von wo aus es als sprichwörtliche Redensart umgelaufen sein könnte: ἀπὸ στομάτων ἀχαλίνων; vgl. den auf Wilamowitz zurückgehenden Kommentar bei Merkelbach/Stauber. – Eine sprichwörtliche Redensart aus Euripides Troad. 636 τὸ μὴ γενέσθαι τῷ θανεῖν ἴσον λέγω, ist auch in einem hellenistischen Grabgedicht von Thera IG XII 3 Nr. 1656 V. 2 verarbeitet. 308 Vgl. Aisch. Ag. 1554 bezogen auf die „vergiftete Gunst“, die Klytaimestra Agamemnon durch dessen Beisetzung bezeugen würde; Eur. Iph. Taur. 566 ἄχαριν enallagetisch bezogen auf das adverbial-präpositionale χάριν hinsichtlich der Opferung Iphigenies „um der undankbaren Helena willen“; weitere Formulierungen des Oxymorons bei den genannten Tragikern in den angegebenen kommentierten Editionen. – Übersehen wurde AP IX 322 (HE 2113–22; Leonidas von Tarent) V. 2 ἄχαριν χάριτα für eine Beute-Weihung an Ares, die sich aufgrund ihrer Unversehrtheit als unechter Dank verrät.

d Menander | 107

d Menander Zusätzlich zu dem bereits oben erwähnten neuen Zeugnis aus Nikomedeia (S. 51 zu *09/06/23) bestätigt ein anderes noch nicht in SGO aufgenommenes Epigramm aus Lykien die Bekanntheit Menanders in Kleinasien. Dort wird für einen verstorbenen Lehrer (siehe auch oben S. 44f.) mit dem verheißungsvollen Namen Aristophanes als ‚Zweitberuf‘ die Aufführung lyrischer Dichter und Menanders angegeben (*17/06/08 [S. 322ff.] V. 2):

Μενανδρείων | ἐπέων ἴδρις ἐν θυ|μέλαισι. Laut einem weiteren Grabepigramm aus der Gegend von Saittai aus dem Jahre 236/237 n. Chr. hatte ein verstorbener hochrangiger Soldat P. Claudius Thrasybulos selbst gedichtet und „den klugen Menander“ auf die Bühne gebracht (SGO 23/08 = 04/12/10 V. 4),

ὑποκρινάμε|νον σοφὸν ἄνδρα Μέναν|δρον.309 In den epigraphischen Belegen Kleinasiens zeichnet sich das hohe Ansehen Menanders wohl von Anfang an ab, wenn ihm vielleicht gemeinsam mit Dionysos im literarisch anspruchsvollen, hellenistischen Pergamon genauso wie Homer eine Statuenehrung zuteil wurde (SGO 06/02/19310). Die angeführten Inschriften können zunächst nur belegen, daß Menanderkomödien, wie im gesamten griechischen Kulturkreis üblich, so auch im Osten bis in die Spätantike auf die Bühne (vgl. ἐν θυ|μέλαισι; ὑποκρινάμε|νον) gebracht wurden.311 Nicht minder bedeutsam war wohl der Dichter im literarischen

|| 309 Vgl. Austin (2004) 79–81; außerdem 23/05 = 04/02/13 (Sardeis, Kaiserzeit) auf einen Komödienschauspieler Prokleianus aus Antiochia (V. 4): κωμῳδῶν πάντων τῶν ἐπὶ γῆς στέφανε. 310 Die genaue Deutung der Inschrift (vgl. I.v.Pergamon 184) bei Merkelbach/Stauber ist äußerst ungewiß. Bei dem Stifter könnte es sich genauso gut um einen Mann namens Dionysos handeln, wenn er gleichnamig mit dem zuletzt angesprochenen παῖ Σεμέλης gewesen wäre. Ob das Hapax legomenon ὑμνοφίλοισι „Freunde der Poesie“ oder die Musen bezeichnet, denen der Komiker Menander lieb war (im Sinne einer Ergänzung von V. 1 ὑμνοφίλοισι φί[λον Μούσαις ἀνέ]θηκε Μένανδρ[ον]), ist völlig offen; vgl. auch I.v.Pergamon II S. 509, wo nach Kaibel für zwei Disticha plädiert wird. – Für die Bilddarstellungen Menanders vgl. PCG VI 2 Menander test. 25-40, worunter die Inschrift aus Pergamon nicht aufgenommen wurde. – Vgl. auch oben Anm. 107. 311 Zur kaiserzeitlichen und spätantiken Aufführung von Komödien, insbesondere derjenigen Menanders, aus denen im Laufe der Zeit immer mehr nur noch Paradestücke zitiert wurden, vgl. PCG VI 2 Menander test. 47–55 (certamina), 56–61 (histriones); Nesselrath (2006) 337f. 343f.; Dunsch (2011) 686. – Zu der Aufführung Homers und weiteren mimischen Vorführungen oben S. 57f. mit Anm. 168.

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Unterricht des Altertums.312 Spätestens seit Plutarch (Men. test. 103f. K./A.) und dann bei den Rhetoriklehrern der Kaiserzeit galt er als Musterbeispiel der griechischen Komödie (test. 98–102. 108. 114. 116. 126), nicht zuletzt, weil sein figuren- und situationsspezifischer Stil für die Sprachausbildung förderlich war. Im 4. Jh. n. Chr. stellt ihn Ausonius in seinem Lektürekanon für die Schule neben Homer (test. 128).313 Die durch die literarischen Texte belegte Bedeutung Menanders als Schulautor schlug allerdings nicht in dem Maße auf die Sprache der Steinepigramme durch, wie man es erwarten könnte. Zitate aus den Komödien sind verständlicherweise echte Ausnahmen: Wenn im 3. Jh. n. Chr. (SGO 08/06/09 [Obryk (2012) 54f. B9]) über einen jungen Steinmetz (V. 6 λαοξό|ος) Meidias aus Hadrianuthera gedichtet wird, er sei unter die Seligen aufgestiegen, mit der Begründung (V. 8):

ὅσσους γὰρ φιλέουσι, | νέοι θνήσκουσιν ἅπαν|τες, so wurde damit Menanders aus dem Δὶς ἐξαπατῶν berühmter Spruch, der seinerseits auf der zum ersten Mal in der Odyssee (ο 245f.) bezeugten Anschauung beruht, in einen Hexameter gebracht (fr. 111 Körte = fr. 4 Sandbach, zukünftig dis exap. fr. 4 Kassel/Schröder):

ὃν οἱ θεοὶ φιλοῦσιν ἀποθνῄσκει νέος. Auch auf einer Blei-Ostothek aus Philadelpheia in Palaestina (*21/24/05) und in einer aus Philadelpheia in Lydien stammenden Grabinschrift (*04/24/21) wird der Vers, beide Male mit einem verunstaltenden οὗτος als Einleitung des Hauptsatzes, zitiert. Daß der verbreitete Gedanke, der spätestens durch Pseudo-Plutarchs Consolatio ad Apollonium (119 E) Eingang in die Konsolationsrhetorik gefunden hatte, in Grabepigrammen als Trostmittel für den Tod eines jungen Menschen nicht sonderlich häufig zur Anwendung kam314 und demgegenüber die Klage über die Ungerechtigkeit eines frühen Todes dominierte, ist bemerkenswert.315 Im allgemeinen hielt wahrscheinlich schon allein das Versmaß davon ab,

|| 312 Vgl. oben S. 37 Anm. 107; neben den Schultexten im Katalog von Cribiore (1996) 173–284 Cribiore (2001) 198–201 zu Euripides und Menander in Papyri; vgl. auch die Kommentierung zu *17/06/08 V. 2f. unten S. 324–326. 313 Vgl. auch Nesselrath (1999) 1218f.; ders. (2006) 344f.; Dunsch (2011) 686–688. 692f. 314 Vgl. Lier (1904) 599; Lattimore (1962) 259f.; Verilhac (1982) 225–227; außerdem noch GVI 130 (Tegea, 2./3. Jh. n. Chr.) V. 3f.; GVI 1029 (Kaibel 153; Vérilhac 190; Garulli [2012] 365f.; Athen, 2. Jh. n. Chr.) V. 13f.; GVI 2003 (Vérilhac 62; Gytheion, 1. Jh. v. Chr.) V. 5f. 9f.; IGUR 1382 (Rom, 2./3. Jh. n. Chr.) V. 2; vgl. CIL VI 3, 2 Nr. 19716 (Rom) Z. 1–3. 315 Der ironische Zusammenhang, in dem der Spruch, wie aus Plautus’ Übersetzung (Bacch. 816f.) hervorgeht, in der Komödie vorkam, dürfte ein Hinderungsgrund für seine Verwendung in der Grabkonsolatorik gewesen sein (Hinweis von R. Nünlist).

d Menander | 109

für die Ausformulierung daktylischer Grabdichtung iambische Sprechverse der Komödie oder auch der Tragödie als sprachliche Modelle in Betracht zu ziehen. Ein iambischer Segensspruch aus frühbyzantinischer Zeit (6. Jh. n. Chr.) hat noch unmittelbar eine von Menander an mehreren Stellen verwendete Formel des Brautrituals, mit welcher in klassischer Zeit ein Vater seine Tochter dem Bräutigam anvertraute, übernommen. So heißt es in Apameia am Orontes zur Bestätigung einer rechtmäßigen Ehe, sie sei παίδων ἐπ᾿ ἀρότῳ γνησίων (SGO 20/05/07 V. 11) geschlossen (vgl. Menander dysc. 842, Sam. 727, peric. 435f., fr. 453 K./A., ebd. Testimonienapparat). Die Komödien sind hier schließlich nur Fundgrube für eine altattische Realie, die der archaischen Stilisierung dient. Außer diesen Einzelfällen ist in späterer Zeit noch die Beliebtheit der unter Menanders Namen umlaufenden Sentenzen festzustellen. Das geht aus einer christlichen Grabinschrift auf einem Familiengrab im phrygischen Eumeneia hervor, das gleich zwei solcher Sprüche aufgreift (SGO 16/06/03 V. 1f.):

καλὸν | τὸ γηρᾶν, καὶ τὸ μὴ γη|ρ̣ᾶν τρὶς χείρω κακόν. κα|λὸν τὸ θνήσκειν οἷς τὸ | ζῆν ὕβριν φέρει. Im ersten Vers wurde das Sprichwort (sent. 396):

Καλὸν τὸ γηρᾶν καὶ τὸ μὴ γηρᾶν πάλιν, „Altern ist schön und andererseits Nicht-Altern“, in seinem zweiten Teil bewußt umgedeutet. Was in der Sentenz mit „Nicht-Altern“ auf „Jungbleiben“ bezogen war, wird im Epigramm für den Tod in jungen Jahren, der das Altern unmöglich macht, gesagt. Dieses „Nicht-Altern“ ist nach der Vorstellung des Autors ein dreimal so schlimmes Übel (κακόν) wie das Altern ein Gut (καλόν) ist.316 Der zweite Vers wiederholt die Sentenz 410 (= comp. I 250; οἷς ὕβριν τὸ ζῆν φέρει ed. Pernigotti) in einer durch die handschriftliche Überlieferung bezeugten, veränderten Wortstellung. In einem Gedicht auf eine Theodosia ist in Tyros ein Menandersprichwort zur Vergänglichkeit allen Lebens317 zugleich in Anspielung auf den Namen der Verstorbenen ins Christliche gewendet (SGO 20/15/04):

ὁ γὰρ τὸ φῶς δοὺς κὲ πάλιν κομίζετε.

|| 316 Der Gedanke, das Maß eines καλόν mit dem dreimal schlimmeren Maß eines κακόν ins Verhältnis zu setzen, wirkt wie auch die grammatisch falsche Form χείρω etwas hilflos, macht aber eine Textänderung (κακόν statt καλόν), wie von Kaibel 426 vorgeschlagen, meines Erachtens nicht notwendig. 317 Sent. 145 γῆ πάντα τίκτει καὶ πάλιν κομίζεται. Vgl. comp. I 113; sent. 312. Zu dem allgemeinen Motiv weitere Stellen bei Merkelbach/Stauber ad loc. und Lier (1903) 586–589.

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Der Spruch stand schon im Späthellenismus Pate zur Formulierung eines Grabgedichtes für einen Gymnasiarchen (SGO 05/03/09 [Kyme oder Phokaia] V. 8):

[φύει δὲ] γῆ τοὺς καὶ πάλιν κομίζ̣[ε]τ̣αι. e Kallimachos Anhand des epigraphischen Befundes läßt sich kein unwiderlegbarer Nachweis dafür erbringen, daß die Grabdichter des griechischen Ostens Kallimachos gelesen und verwendet hätten.318 Wie sonst mag auch im Falle des alexandrinischen Dichters die gedankengleiche Ausgestaltung bestehender Grabtopik allein noch nicht dazu führen, in literarischen Epigrammen des Hellenismus direkte Vorlagen für Grabgedichte zu sehen, sondern vielmehr ins Bewußtsein rufen, daß in einzelnen Steinepigrammen fortgeschrittenere Dichter am Werke gewesen sein können.319 Ein solcher Poet hat im 3./2. Jh. v. Chr. die Verzweiflung eines Vaters über den Tod des fünfjährigen Sohnes in dem iambischen Trimeter zusammengefaßt (SGO 09/01/03 V. 6):

τὴν πᾶσαν εἰς γῆν ἐλπίδων κρύψας χαράν. „Seine ganze Freude an (der Erfüllung seiner) Erwartungen hat er in der Erde vergraben.“

|| 318 Vgl. dagegen in Rom IGUR 1310 (GVI 647, Obryk [2012] 89f. C7; 1./2. Jh. n. Chr.) V. 7f. καὶ

λέγε Πομπιλίην εὕδειν, ἄνερ· οὐ θεμιτὸν γὰρ |/ θνῄσκειν τοὺς ἀγαθούς, ἀλλ᾿ ὕπνον ἡδὺν ἔχειν, und in Ostia GVI 376 (2./3. Jh. n. Chr.) V. 2 θνή[σ]κι̣ν̣ μὴ [λ]έγε τοὺς ἀγαθούς, was beides sicher zurückgreift auf Kallimachos AP VII 451 (epigr. 9 Pf., HE 1231f.) τῇδε Σάων ὁ Δίκωνος Ἀκάνθιος ἱερὸν ὕπνον / κοιμᾶται· θνῄσκειν μὴ λέγε τοὺς ἀγαθούς; außerdem IGUR 1336 C (Garulli [2012] 352–356; 94 n. Chr.) V. 9f. mit Kallim. AP VII 80 (epigr. 2, HE 1203–8) V. 5f. und ebd. V. 11 mit AP VII 84 (D. L. I 39; SH 510, vielleicht Lobon von Argos auf Thales; zur Ablehnung der Zuschreibung Garulli [2012] 357) V. 1. Vgl. auch das Graffito von AP XII 118 (Kallim. epigr. 42, HE 1075–80) im Haus eines Kallimachosliebhabers auf dem Esquilin (Kaibel 1111; 1. Jh. n. Chr.). – Die Idee des Epigramms von Kallimachos’ Freund Herakleitos AP VII 465 (D. L. IX 17; HE 1935-42) steht im Hintergrund in Bordeaux GVI 377 (Kaibel 675, GG 373; 2. Jh. n. Chr.?). – Zur Bedeutung des Kallimachos bei Literaten in Rom und außerhalb Gutzwiller (1998) 183f.; die Behauptung des Kynulkus bei Athenaios, er habe schon als Knabe die Epigramme des Kallimachos gelesen, läßt sich sicherlich nicht auf den allgemeinen Schulunterricht übertragen (Athen. XV 8 p. 669 c ἐν παισὶ τὰ Καλλιμάχου ἀναγινώσκων ἐπιγράμματα). 319 Äußerst fraglich ist, ob gemäß Merkelbach/Stauber in SGO 11/13/02 (Sebastopolis, 2. Jh. n. Chr.) V. 1f., wonach die Moiren den Glücklichen bei seiner Geburt mit „unstürmischen [Augen] anschauen“ (V. 1 ἀθρήσωσι γαληναίῃσι[ν ὀπωπαῖς]), eine variierende Reminiszenz an Kallimachos’ Aitienprolog (fr. 1, 37f. Pf.) vorliegt.

e Kallimachos | 111

Darin bemühte er sich, das gängige Motiv der ‚enttäuschten Hoffnung‘ bildlich mit dem Vorgang der Bestattung zu verknüpfen, wohl veranlaßt durch die elegante Formulierung des Kallimachos, bei dem „der Vater sein Kind, die große Hoffnung, beigesetzt hat“ (AP VII 453 [epigr. 19 Pf., HE 1249f.] V. 1f.):

τὸν παῖδα πατὴρ ἀπέθηκε … / … τὴν πολλὴν ἐλπίδα. Ebenso kann eine Ausdrucksweise, von der immer nur einzelne Einsprengsel eine Nähe zur ihrerseits fragmentarisch bekannten hellenistischen Dichtersprache verraten, keine Sicherheit über die Benutzung einer bestimmten Vorlage, etwa des Kallimachos, geben. In einem wahrscheinlich um die Zeitenwende verfaßten Gedicht aus Milet (SGO 01/20/26 [Obryk (2012) 96f. D1]) wird für den Tod des Gymnasiarchen Gorgias in hohem Alter nicht nur auf das Adjektiv εὐγήρως zurückgegriffen, das in der Dichtung des Kallimachos (AP VII 728 [epigr. 40 Pf., HE 1255–60] V. 6) auf eine Demeterpriesterin bezogen war. Das Epigramm weist noch weitere Wörter auf, die den geschickten Umgang des Steindichters mit der traditionellen poetischen Sprache erkennen lassen, wie die Adjektive ἑπτάπορος320 (V. 4; Ηom. in Mart. 7), θεόκτιτος (V. 5; Sol. fr. 36 V. 8), ἁμέριος (V. 11; für ἄνθρωπος). Ein anderes, vermutlich vom selben Dichter angefertigtes Grabepigramm auf einen achtjährigen Hermaios, der als verstirnter Gott zum künftigen Patron für die Knaben der Ringschule stilisiert werden soll, scheint von Detailkenntnissen der Astrologie Arats geprägt zu sein, ohne daß dieser wörtlich ausgeschrieben worden wäre (SGO 01/20/29). Wenn in einem neuen hellenistischen Gedicht auf ein ertrunkenes Mädchen aus Priene die Verstorbene in ihrer Ich-Rede berichtet (*03/01/07 V. 1):

[ἐς τέμεν]oς νυμφῶν Mοῖραί μ(ε) ἠνάγκασαν ἐλθε[ῖν], „die Moiren zwangen mich ins Heiligtum der Nymphen zu gehen“, so ist höchst ungewiß, ob der Dichter für die Formulierung μ(ε) ἠνάγκασαν an Epigramm AP XII 118 (epigr. 42 Pf., HE 1075–80; ~ Kaibel 1111 [vgl. Anm. 318; Rom, 1. Jh. n. Chr.]) des Kallimachos dachte. Dort spricht ein Liebhaber mit derselben Wendung (V. 3 μ᾿ ἠνάγκασαν) aus, daß er von „Wein und Eros“ zu seiner Liebesbekundung gezwungen worden sei.321 Die auffällige Wortwahl von μύω im

|| 320 Hier vielleicht in Junktur mit Πληϊάς wie Euripid. Or. 1005, Iph. Aul. 7f., Rhes. 529f., Antipatros von Sidon VII 748 (HE 410–7, SGO 09/11/01; Herakleia Pontike) V. 4, Arat Phaen. 257; vgl. auch Garulli (2012) 262–265. Da höchstwahrscheinlich derselbe Autor wie der Astrologieexperte des folgenden SGO 01/20/29 (vgl. Garulli [2012] 306–310; Obryk [2012] 98f. D2) am Werk war, dürfte die Wortverbindung aus Arat geschöpft sein. 321 Weder in dem staatlichen Ehrenepigramm auf den Milesier Lichas (SGO 01/20/33; 3. Jh. v. Chr.) noch in einem pergamenischen Gedicht auf eine Homerstatue (06/02/18; hellenistisch)

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Sinne von „sterben“ in einem neuen Epigramm aus Sardeis auf einen Augenarzt Stratonikos (*04/02/14 [unten S. 276] V. 2) wird man eher als findigen Rückgriff auf hellenistische Dichtersprache kallimacheischer Prägung diagnostizieren denn als bewußte Verarbeitung von Kallimachos AP VII 728 (epigr. 40 Pf., HE 1255–60) V. 5 κἠπέμυσ᾿ (= καὶ ἐπέμυσ(α)). Allerdings scheint die Diktion dieses Kallimacheischen Epigramms, das oben schon für εὐγήρως heranzuziehen war, auf die gehobene Sepulkraldichtung eingewirkt und so denn in dementsprechende Steinepigramme eingegangen zu sein.322 Ob der im 2./3. Jh. n. Chr. verstorbene Bassos aus Bostra, wenn er sich in seinem Grabgedicht als Βόστρης | ἐρικυδέος ἄκρον ἄωτον (SGO 22/42/07 V. 1) benennt, an Pindars Isthmische Ode 7 V. 18 gedacht hat oder an den von diesem abhängigen Kallimachos (in Apoll. 112, danach Merkelbach; vgl. Sartre-Fauriat [1998] 219) oder er aber unabhängig von den beiden literarischen Vorbildstellen den gewählten Ausdruck als gleichsam sprichwörtlich präsent hatte, kann nicht entschieden werden.323 In christlicher Zeit wirkte, wohl auch vermittels Gregors von Nazianz (AP III 188 V. 1), das durch Kallimachos’ berühmtes Selbstepitaph (AP VII 525 [epigr. 21 Pf., HE 1179–84]) bekannte Motiv nach, wonach die konventionelle Anrede des Passanten mit folgenden Worten umschrieben wird:

ὅστις ἐμὸν παρὰ σῆμα φέρεις πόδα. In einem von Merkelbach/Stauber nicht berücksichtigten christlichen Epigramm aus Elaiussa Sebaste, das insgesamt, trotz seiner fehlerhaften epigraphisch-technischen Ausführung, poetisches Geschick erkennen läßt, wird der Betrachter

|| braucht, wie von Merkelbach vertreten, Kallimachos (ait. fr. 1, 37; in Dian. 64) in Anspruch genommen zu werden für die Verwendung der Formulierung οὐ νέμεσις (V. 9 bzw. V. 13), denn die Ausdrucksweise („Keine Empörung!“) begegnet schon seit Homer (Γ 156 „Nicht zu verargen ist’s“ Übers. Latacz), übrigens innerhalb der von den Scholiasten als τρίγωνον ἐπίγραμμα verstandenen Passage (oben S. 72). Das sprichwörtliche εἷς παλὸς πάντων („Wir sind alle aus einem Lehm geformt“) in dem bemerkenswerten stoischen Gedicht aus Adada über die Freiheit (SGO 18/09/03 ; 2./3. Jh. n. Chr.) reflektiert in V. 10 nur denselben Gedanken wie Kallimachos fr. 493 (vgl. Pfeiffers ausführlichen Testimonienapparat zum Traditionshintergrund). 322 Ebenso wenig reicht allein die Verwendung der in späterer Dichtung belegten Wörter ἀστυφέλικτος (Kall. in Del. 26) und ἐδέθλιον (in Apoll. 62 u. ö.) in SGO 13/04/01 (Sobagena, kaiserzeitlich [nach Busch (1999) 557, wahrscheinlich wegen kursivem Omega]; V. 4 bzw. 5) hin, Kallimachos-Lektüre vorauszusetzen; vgl. Thonemann (2014) 194 Anm. 12. 323 Garulli (2012) 237–240 plädiert für Kallimachos als Modell. – Für andere Formulierungen mit ἄκρος bzw. ἄκρον ἔχων siehe unten *04/02/14 V. 8 mit Kommentar S. 284f.

e Kallimachos | 113

aufgefordert, zu Ehren einer im Kindbett jung verstorbenen Mutter innezuhalten (*19/09/04):324

Ὅστις͙ ἐμὸν παρὰ σῆμα τεὸν | ποδὸς ἴχνος ἐρείδεις (Stein: E) ἔνθα μι|νυνθαδίην Ἀντολί{ι}ην με βλέ|πις. f Hellenistische Epigrammatik Die literarische Grabepigrammatik, wie sie sich für uns vor allem in der Anthologia Graeca, besonders in Buch VII, darstellt, bietet eine Vielzahl an Beispielen für die kunstvolle Ausgestaltung von Sepulkralepigrammen im Hinblick auf die verschiedensten Todesarten. Wer in der Antike ein individuelles, in Stein zu verewigendes Gedicht, das dem persönlichen Lebensweg und den Todesumständen eines Menschen Rechnung trug, anfertigen wollte, hätte wohl seit hellenistischer Zeit in literarischen Epigrammsammlungen auf einen breiten Fundus an Mustern und Gestaltungsideen in elegischen Distichen zurückgreifen können.325 Um so bemerkenswerter ist es, daß ein signifikant über die allgemeine Verarbeitung der Schulliteratur hinausgehender Einfluß literarischer Epigrammsammlungen auf die Praxis der Steindichtung in der epigraphischen Überlieferung kaum feststellbar ist. Ein praktischer Grund liegt wahrscheinlich darin, daß die gewöhnlichen Steindichter der Kaiserzeit, unabhängig vom Bildungsstand und den eigenen poetischen Ambitionen, allein aufgrund ihres sozialen Status gar nicht leicht mit literarischen Sammlungen dieser Art in Berührung kommen konnten. Die Beschäftigung mit Literatur, die nicht zum allgemeinen Bildungskanon gehörte, dürfte vorwiegend Liebhabern aus der gelehrten Oberschicht vorbehalten gewesen sein, denen allein Mittel und Beschaffungswege zur Verfügung standen, um sich die exklusiven Texte zuzulegen. Der normale Auftragsdichter versuchte in der Regel, mit den ihm zu Gebote stehendenden Möglichkeiten ein individuelles Produkt zu schaffen. Gemäß dem jeweils zeitlich und regional bedingten326 poetischen Anspruch treten in Steinepigrammen, nicht anders als in Bezug auf Epos und Drama, bisweilen auch diffuse

|| 324 Eine ähnliche Formulierung zeigt ein spätantikes Epigramm aus Edessa GVI 2036 (Kaibel 514; 3./4. Jh.) V. 4 ὃς τὸν ἐμὸν παρὰ τύμβον ἄγεις. 325 Man denke an Buchrollen im Stil des hellenistischen ‚Poseidipp‘-Papyrus (dazu oben S. 26 mit Anm. 72) mit seiner Abteilung von 20 ἐπιτύμβια. 326 Zur qualitativen Sonderstellung hellenistischer Grabepigramme auf Stein vgl. oben S. 94f. mit Anm. 269.

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Verbindungen zu formalen und inhaltlichen Gestaltungsmustern der Buchepigramme hervor.327 Im folgenden werden wenige Sonderfälle behandelt. In den Blick rücken neben einzelnen literarischen Gedichten, deren Bekanntheit im griechischen Osten aufgrund wörtlicher Querverbindungen zu Steinepigrammen wahrscheinlich ist (α), speziell die Epigrammatiker Leonidas von Tarent (β) und Antipater von Sidon (γ), die nachweislich formal und gedanklich auf kleinasiatische Steindichter gewirkt haben. α Einzelne wörtliche Querverbindungen In den Produkten der Steindichter sind Wortverbindungen aus der literarischen Epigrammdichtung, wie sie in der Anthologia Graeca repräsentiert ist, ungleich seltener anzutreffen als homerische Versatzstücke.328 Zu den in anderen Zusammenhängen behandelten Beispielen329 ist hier als Ausnahmefall zunächst ein Grabepigramm aus dem phrygischen Appia (SGO

|| 327 Die Verbindung zwischen Kaibel 271 (Aigina; späte Kaiserzeit) und AP VII 535 (HE 4700–5; Meleager) besteht im gleichen Motiv des Rückzugs aus ländlicher Idylle zur Beschreibung einer Panstatue; vgl. L. Robert, Hellenica IV (1948) 5–34 zu solchen Epigrammen ausführlich; Rossi (2001) 58f.; Christian (2015) 314–319; Bettenworth (2007) 89, wobei sich die Frage, ob das Steinepigramm Meleager vorausgeht, freilich nicht stellt. – In SGO 5, 24/15 (Kalchedon, 3. Jh. v. Chr.; nach Hinweisen von R. Kassel) V. 5f. ist das bei Erinna SH 402 belegte Motiv des einsamen Echos der Trauerklage übertragen auf den ohne Nachkommenschaft hinterbliebenen Partner. – In GVI 1018 (Lipara/Sizilien, 2. Jh. n. Chr.) V. 4 lag die Deutung des Namens Γλάφυρος ähnlich wie in Antipatros von Thessalonike AP IX 517 (GP 93‑8) V. 3 nahe. 328 Zu den außerkleinasiatischen Sonderfällen sind zu rechnen: CEG 724 (kurz vor 300 v. Chr.; Amphipolis), wo ein älteres nur in der Anthologia Palatina überliefertes, dort allerdings (wie sich durch die Steinüberlieferung zeigt) falsch abgetrenntes und auf den damit ins 4. Jh. v. Chr. zu datierenden Chairemon zurückgehendes Gedicht (AP VII 468 [‚Meleager‘ HE 4690–9 (ohne Kenntnis des Steinepigramms)] V. 9f. + AP VII 469 [Chairemon HE 1363f.] V. 1f.) bis auf die Abwandlung des zweiten Verses wörtlich übernommen wird; vgl. Del Barrio Vega (2008) 145-147; Garulli (2012) 81–92. Das Gedicht des Chairemon dürfte ursprünglich entweder auf einen bekannten aufstrebenden Politiker Eubulos, Sohn des Athenagoras, im Auftrag gedichtet worden sein, oder es ist ein frühes epideiktisches Epigramm, wie die symbolische Namenswahl zum Thema ‚Nachwirken eines begnadeten politischen Redners‘ nahelegen kann (V. 3 Εὔ-βουλος / Ἀθην-άγορας; vgl. V. 4 κρέσσονα δ᾿ εὐλογίᾳ). – Weiter zu berücksichtigen sind IG XII 4, 3 Nr. 1444 (Kos, 1. Jh. v. Chr.) und GVI 1362 (Pantikapaion, 1. Jh. v. Chr.), die beide wörtlich an das Simonides zugeschriebene Distichon AP VII 516 (= in marg. AP VII 77 [Preger 255, FGE 1026f.]) anschließen. 329 Vgl. zum Hesiod-Epigramm in *09/06/23 (Nikomedeia) S. 97; indirekte Reflexionen auf Kallimachos-Epigramme S. 110–113; zu Ps.-Simonides in einem Herrscherepigramm aus Xanthos (SGO 17/10/01; CEG 177) unten S. 136–138.

f Hellenistische Epigrammatik | 115

16/31/05) aus der 2. Hälfte des 3. Jh. n. Chr. zu beachten. Darin ist in vier Versen (V. 2–5) das schon bei Platon aus literarischer Vorlage teilweise zitierte Epigramm auf König Midas (vgl. S. 19, 56) mit wenigen Fehlern wortwörtlich eingebaut. Anstelle der Nennung des „Midas“ tritt der Name des in einem Fluß ertrunkenen Πρόκλος.330 Das als Muster dienende, Kleobulos von Lindos (Simonides PMG 581) oder Homer zugeschriebene, von einigen Quellen im äolischen Kyme lokalisierte Midas-Epigramm (vgl. Übernahme als SGO 05/03/01 [Kyme]) war in der Antike durch vielfache literarische Erwähnungen in verschiedenen Varianten allgemein bekannt.331 Wie der Text aus Appia zeigt, kannte der dortige Dichter das Midas-Epigramm in der Fassung, die in der antiken ‚Sekundärliteratur‘ zu Homer, nämlich dem Certamen Homeri et Hesiodi 15 und der Vita Herodotea Homeri 11 (von daher Diogenes Laertios I 89, mit Verweis auf das SimonidesZeugnis zur Autorschaft), verbreitet war. Ohne die Hintergründe der Überlieferung der abweichenden Variante des Midas-Epigramms in der Anthologia Graeca (VII 153) durchleuchten zu müssen, steht fest, daß der Steindichter aus Phrygien jedenfalls keine spezielle Sammlung literarischer Epigramme heranzog, um sein Epigramm auf den ertrunkenen Proklos zu dichten. Die Beispiele aus Hellenismus und Kaiserzeit, in denen wörtliche Querverbindungen zwischen epigraphischen Gedichten und literarischen Epigrammen wahrgenommen werden können, sind verhältnismäßig selten:332 Ein in der litera-

|| 330 Anders Garulli (2012) 183–204, die minutiös die verschiedenen Überlieferungslinien wiedergibt, aber vor dem Hintergrund ihrer These einer „doppia trasmissione“ das grundsätzliche Abhängigkeitsverhältnis außer Betracht läßt; ob SGO 11/13/02 (Sebastopolis/Pontos, 2. Jh. n. Chr.) V. 20f. vom Midas-Epigramm inspiriert wurde, ist fraglich. – Vgl. Del Barrio Vega (2008) 143–145. 331 Vgl. Preger 233; GVI 1171 mit Apparat; Raubitschek (1968) 13f. zum ursprünglichen Monument; Pfohl (1969) 22f.; von Page weder in FGE noch EG berücksichtigt; vgl. auch S. 56 Anm. 163. 332 Die Querverbindungen bewegen sich auf dem Niveau kurzer wörtlicher Übereinstimmungen im Rahmen der Grabmotivik, wie AP VII 446 (HE 1909–12; Hegesippos) V. 2 im Verhältnis zu SGO 06/02/32 (Ephesos, Kaiserzeit) V. 33 γαῖαν ἐφε[σ]|σάμενος; vgl. auch GVI 1248 (GG 171, Vérilhac 92, Garulli [2012] 336–340; Rhodos, 3./2. Jh. v. Chr., dort Tod durch Steinschlag) V. 4; zu dem Motiv Gow/Page zu HE 1620; Garulli (2012) 305f. – SGO 01/01/01 (Knidos, 1. Jh. v. Chr.) V. 3 ἄκριτε δαῖμον (auf den Tod) im Verhältnis zu Maecius (oder Maccius) APl XVI 198 (GP 2536-43) V. 1. – SGO 01/20/22 (Milet, 1. Jh. v. Chr. auf einem innerstädtischen Staatsgrab) V. 1/3 Anapher οὗτος ὁ, die auch in der literarischen Epigrammatik häufig begegnet, dazu Merkelbachs Anmerkung. – Vgl. außerdem beispielsweise für Rom IGUR 1256 (GVI 585; 2./3. Jh. n. Chr.) V. 4 νῦν δύνει δ᾿ ὑπὸ γῆν ἕσπερος ἐν φθιμένοις mit ‚Platon‘ AP VII 670 (FGE 586f.) V. 2 νῦν δὲ θανὼν λάμπεις ἕσπερος ἐν φθιμένοις; dazu Garulli (2012) 136–142. Das Platon-Epigramm war zusammen mit einer lateinischen Inschrift und einem vorausgehenden griechischen Distichon

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rischen Überlieferung repräsentiertes Epigramm der frühhellenistischen arkadischen Dichterin Anyte auf einen jungen Krieger hat in konsequenter Weiterführung der schon in frühesten Steinzeugnissen bezeugten Ausdrucksform des sprechenden Steines, vielleicht als erstes, den Grabstein „singen“ lassen (πέτρος ἀείδει; AP VII 724 [HE 676–9] V. 3), wohl um den Verstorbenen im Anklang an das Epos zu preisen.333 Dieselbe Formulierung verwendet später Meleager von Gadara, der das Gedicht der Anyte in seine Sammlung aufgenommen hatte, selbst in einem epideiktischen Grabgedicht auf einen anderen berühmten Epigrammdichter, seinen etwas älteren Zeitgenossen Antipatros von Sidon334 (AP VII 428 [HE 4660–79] V. 19 τὸ δ᾿ οὔνομα πέτρος ἀείδει). Ob nun ein frühhellenistischer Dichter eines Steinepigramms aus Smyrna die besagte literarische Wendung von Anyte kennen mußte, um schreiben zu können, daß der „glatte Fels den Toten verkündet“ (SGO 05/01/42 V. 4 ξεστὰ δὲ πέτρα καθύπερθε ἀγορεύει), ist zwar fraglich. Wenn derselbe dorisierende Poet allerdings hinzusetzt, daß der Fels „mit stummem Mund sprechend“ (V. 4 ἀφθόγγωι φθεγγομένα στόματι)335 den Toten verkündet, steht fest, daß er unter dem Eindruck literarischer Dichtung seiner Epoche stand und sich an Formulierungen wie der des um 300 v. Chr. wirkenden Erfinders der Figurengedichte Simias von Rhodos (AP VII 193 [HE 3272–5] V. 4 δι᾿ ἀγλώσσου φθεγγομένα στόματος, auf eine Heuschrecke bezogen) inspirierte. Bei Letzterem handelt es sich um einen Dichter, den der Epigrammsammler Meleager genauso wie Anyte als wertvoll erachtete. Daß der smyrnäische Steinpoet aus hellenistischer Zeit eine literarische Epigrammkollektion kannte und benutzte, ist kaum von der Hand zu weisen. Ebenso zeigt sich in einem anrührenden Grabepigramm aus der Kaiserzeit auf einen dreijährigen Jungen aus Notion, der bei einem Brunnensturz ertrank, daß sich der Dichter zur Abrundung seines langen, zuvor in reinen Hexametern

|| auf einer Wand in den römischen Katakomben von S. Alessandro an der Via Nomentana eingeschrieben; vgl. Ferrua (1962) 111 fig. 1 b, 112f. 333 Vgl. Männlein-Robert (2007) 160–162; Christian (2015) 62–66 zu den singenden Steinen. – Vgl. auch das kunstvolle SGO 08/01/53 (Kyzikos, 2. Jh. v. Chr.) V. 5 πέτρος ὅδε ξείνοισι βοάσεται, ebd. V. 2 τὰν ζωοῖς οἶμον ὀφειλομέναν im Verhältnis zu Euphorion fr. 94 Powell. 334 Vgl. Gutzwiller (1998) 273–275; unten Anm. 532 zu der Hypothese von Theiler (1972), wonach Meleager sich bei der Komposition seines Kranzes auf Kos in seinen eigenen literarischen Gedichten von den dortigen sepulkralen Steinepigrammen inspirieren ließ. 335 Vgl. Männlein-Robert (2007) 158f.; Christian (2015) 83 und 100 mit Anm. 263 mit Verweis für das Motiv u. a. auf SGO 09/11/02 (Herakleia Pontike, 2./3. Jh. n. Chr.) V. 10 ἀλάλοισι λαλήσατε γράμμασι, eine besonders passende Formulierung für den Grabstein eines Pantomimen.

f Hellenistische Epigrammatik | 117

formulierten Grabgedichtes eines Distichons aus einem dem Meleagerkranz zuzurechnenden Epigramm unsicherer Zuschreibung, in welchem dieselbe Todesart beschrieben war, bediente (SGO 03/05/04, V. 14f.):336

κεὐθὺς δὴ νάννη με διάβροχον ἥρπασε θᾶσ‹σ›ον, σκεπτομένη ζω|ῆς ἤ τιν᾿ ἔχω μερίδα. „Und sofort nun erfaßte die Amme mich Durchnäßten ganz schnell und beobachtete, ob ich noch Anteil am Leben hätte.“ β Leonidas von Tarent Daß Gedichte des von griechischen Epigrammatikern nachgeahmten, später auch von römischen Literaten hoch angesehenen337 und auf die lateinische Epigrammatik wirkenden frühhellenistischen Dichters Leonidas aus Tarent von einzelnen Verfertigern griechischer Steinepigramme als literarische Exempel herangezogen wurden, kann in den kleinasiatischen Epigrammen an einem prominenten Vorbildgedicht herausgestellt werden.338

|| 336 Vgl. Poseidipp AP VII 170 (HE 3174–9, ep. 131 Austin/Bastianini; Gow/Page skeptisch gegenüber Zuschreibung an Poseidipp oder Kallimachos) V. 3f. ἐκ δ᾿ ὕδατος τὸν παῖδα διάβροχον ἥρπασε μάτερ, / σκεπτομένα ζωᾶς εἴ τινα μοῖραν ἔχει; vgl. Garulli (2012) 179–183. 337 Vgl. AP VI 13 (HE 2249–54), das mit seinem incipit noch auf einem Ostrakon in Theben (Cribiore [1996] Nr. 248; vgl. SH 976 zu Z. 8) überliefert ist, in der Casa degli Epigrammi in Pompeji; dazu Kaibel 1104, Bing (1998) 33, Gutzwiller (1998) 241f., Prioux (2008) 36f., Squire (2009) 182f. – Vgl. außerdem das außer in der Casa degli Epigrammi auch bei Suet. Dom. 14 überlieferte Distichon AP IX 75 (unter Euenos GP 2308f.; Gow/Page sehen davon bereits Leonidas abhängig), dessen V. 2 Leonidas AP IX 99 (HE 2161–6) V. 6 entspricht; dazu Kaibel 1106, Prioux (2008) 38-40 (ebd. 49–63 zur Bedeutung des Leonidas), Squire (2009) 182f. 338 Was wörtliche Parallelität angeht, ist darauf zu verweisen, daß Leonidas von Tarent AP VII 440 (HE 2014–23) V. 9f. ᾔδει καὶ ξείνοισι καὶ ἐνδήμοισι προσηνέα / ἔρδειν, vielleicht in Verbindung mit Kallimachos epigr. 5 (HE 1109–20) V. 11f. οἶδε γὰρ ἐσθλά / ῥέζειν, im Hintergrund steht von SGO 03/02/62 (Ephesos, späthellenistisch) V. 5f. [ἀστ]οῖς καὶ ξείνοισι προσήνεας, ἐσθλὰ μὲν εἰπεῖν |/ [ἐσθ]λὰ δὲ καὶ ῥέξαι πάντας ἐπισταμένους; vgl. auch GVI 843 (Pantikapaion, 1. Jh. v. Chr.) V. 1f. und Garulli (2012) 258–262; neben dem in der AP vorausgehenden AP VII 739 (HE 2921–26; Phaidimos) V. 3 δεξαμένη σποδίην τε καὶ ὀστέα (zur häufigen Junktur der letzten beiden Worte vgl. Garulli [2012] 266–270; an der möglichen Parallele SGO 02/03/01 [Amyzon, 2. Jh. v. Chr.] V. 5 δέξαντ’ εἰς κόλπους ὀστέα καὶ σποδίην vielleicht besser λ͙έξαντ(ο) zu lesen nach Ψ 239 u. ö.) ist dasselbe Epigramm AP VII 740 (HE 2435–40) jedenfalls mit V. 2 ἐγχθόνιος [Überlieferung: ἐν χθονίοις] σποδιά prägend gewesen für SGO 03/06/04 (Garulli [2012] 266–270, Obryk [2012] 150f. F2; Teos, 1./2. Jh. n. Chr.) V. 14 σποδιὴ κειμένη ἐνχθόνιος, was seit Kaibel (ad 298) zur Korrektur der literarischen Überlieferung dient. – Ebenso zeigt die Diktion des aus Nikomedeia stammenden ursprünglichen Stein-Epigramms eines Diodoros aus der Anthologie (AP VII 627 = SGO 09/06/09), daß für die gewählten Worte V. 5f.

118 | IV Nachhomerische literarische Tradition im Spiegel der Alltagsdichtung

Die von ihm vor dem Hintergrund der alten epigraphischen Tradition des durch die Inschrift sprechenden Weihgegenstandes339 wohl rein epideiktisch perfektionierte Form eines Dialoggedichtes AP VII 163 (HE 2395–402) hinterließ mitsamt ihren späteren literarischen Nachahmungen wörtliche Reflexe in der epigraphischen Epigrammüberlieferung.340 Das Epigramm des Leonidas fingiert ein teilweise in Antilabe gestaltetes Gespräch zwischen einem fragenden Passanten und der antwortenden Verstorbenen, die sich als die im Alter von 22 Jahren bei einer Geburt ums Leben gekommene Samierin Prexo präsentiert. Es beginnt mit den Worten:

Τίς τίνος εὖσα, γύναι, Παρίην ὑπὸ κίονα κεῖσαι;341 In der Anthologie folgen zwei Nachahmungen des Dialoggedichtes. Die erste des Antipatros von Sidon AP VII 164 (HE 302–11) setzt mit dem Vers ein:

Φράζε, γύναι, γενεήν, ὄνομα, χθόνα. – Καλλιτέλης μέν Die zweite Imitation AP VII 165 (GP 3659–65; vgl. auch HE II S. 50 [Archias]; Lemma von Hs. c: Ἀντιπάτρου Σιδωνίου, οἱ δὲ Ἀρχίου), die höchstwahrscheinlich auf den Dichter Archias zurückgeht, beginnt:

Eἰπέ, γύναι, τίς ἔφυς. – Πρηξώ. – Τίνος ἔπλεο πατρός; Eine dritte Nachahmung ist durch den Oxyrhynchos-Papyrus 662342 überliefert und stammt wohl von einem sonst unbekannten Amyntas, der gleich im ersten Vers Leonidas mit Antipatros zu kombinieren scheint (FGE 13–20 [ebd. Vergleich der Epigramme]; SH 43 V. 1):

||

εἴκοσι ποίας / (…) πλήσαο καὶ πίσυρας („24 Sommergrasblüten hast du erlebt.“), vielleicht Leonidas von Tarent zu Rate gezogen wurde (AP VII 731 [HE 2459–64] V. 4 πίσυρας ποίας); vgl. auch die Anapher von ὁ πρίν in SGO 01/12/22 (Halikarnass, frühe Kaiserzeit) V. 1 mit AP VII 740 (HE 2435–40; vgl. AP IX 19 [GP 3700–9; Archias] und IX 20 [FGE 1320–5]) V. 3–5, wobei einmaliges ὁ πρίν in Grabepigrammen ganz gewöhnlich ist. 339 Siehe oben Anm. 36. 340 Vgl. Garulli (2012) 116–134. 341 Für die Ausdrucksweise Παρίην ὑπὸ κίονα κεῖσαι vgl. SGO 15/03/03 (Pessinus, 2. Jh. n. Chr.) V. 1 κεκλιμένος κεῖμαι Παρίην ὑπὸ κείο|να τόνδε. 342 Die dortige Imitation (= SH 43; FGE 13–20) erscheint in col. II zwischen zwei dem Amyntas zugeschriebenen Epigrammen (SH 42 [FGE S. 6] und SH 44 mit Suppl. [FGE 21–8]). Voran gehen in col. I die Vorlage des Leonidas und die Nachahmung des Antipatros; somit ist die Abfolge dieser beiden Gedichte dieselbe wie in der Anthologia Graeca, wobei freilich die zweite Imitation AP VII 165 (GP 3659–65; wahrscheinlich Archias) durch die dem Amyntas zuzuschreibende ersetzt wird. Der sonst unbekannte Dichter dürfte ein Zeitgenosse des Antipatros gewesen sein und ins 2./1. Jh. v. Chr. gehören.

β Leonidas von Tarent | 119

Φράζε, γύναι, τίς ἐοῦσα κ[α]ὶ̣ ἐκ τίνος, εἰπέ τε πάτρην. In Ephesos stand im 1./2. Jh. n. Chr.343 deutlich der Anfang von Leonidas’ Musterepigramm vor Augen,344 welches dort auf das Ziehkind einer Polla namens Χρυσίον umgedichtet wurde (SGO 03/02/19). Das Metrum ging dabei schon gleich am Anfang in die Brüche:

Τίς τίνος οὖσα, τάλαι|να, ὑπὸ δαίμονα κεῖσαι. Ein weiteres kaiserzeitliches dialogisches Grabgedicht aus Amastris auf eine an einer Seuche 27jährig verstorbene Ehefrau namens Paulina, macht den Eindruck, als habe der Steinpoet gleichzeitig an die Gedichtanfänge des Leonidas und des Antipatros gedacht, als er seinen ersten Vers komponierte (SGO 10/03/04 V. 1):

Τίς τίνος ἀμφὶ πέτρῃ κέκλισαι [τ]ῇδ᾿; οὔνομα φράζε. Eine gekonnte Umgestaltung erfährt das Dialoggedicht des Leonidas in Hadrianoi am Olympos im letzten Ehrerweis für den 13jährigen Knaben Klados (SGO 08/08/10; Datierung unsicher, Merkelbach/Stauber: „späthellenistisch / frühe Kaiserzeit [wegen der Eleganz der Verse]?“; Kaibel 247 „I vel II p. Chr. n. saeculi“).345 Das vom Ziehvater Menophilos initiierte Grabepigramm bietet in den ersten drei Versen eine bewußte Transformation des Frage-Antwortspiels, indem aus der Erzählperspektive des Verstorbenen dem Passanten die Fragen in den Mund gelegt werden (V. 1f.):

„τίς τίνος;“ ἢν εἴρῃ, Κλάδος οὔνο|μα, καὶ „τίς ὁ θρέψας;“ Μηνόφιλος. | θνήσκω δ’ ἐκ τίνος; ἐκ πυρε|τοῦ. Wenn du fragst: „Wer, wessen (Kind)?“, – Klados ist mein Name, und (wenn du fragst:) „Wer hat dich großgezogen?“, – Menophilos. Woran ich gestorben bin? – an Fieber. Es läßt sich nicht nur feststellen, daß der Dichter aus Hadrianoi sich intensiv mit der Form des Dialoggedichtes auseinandergesetzt hat, sondern es ist auch unübersehbar, daß ihm der Text des Leonidas vorlag; diesen greift er signalhaft in den beiden Anfangsworten auf und in der von ihm indirekt formulierten Frage

|| 343 Datierung nach der Abbildung in IK 17,1 Ephesos Nr. 3234. 344 So auch IG X 2, 2 Nr. 396 Z. 1–3 (Lychnidos, 3. Jh. n. Chr.): τίς τίνος οὖσε γυ|νὴ σὺ βαρῆ

ὑβὸ κίονα̣ | κῖσε; 345 Vgl. Kaibel 247 „Poeta ante oculos habuit Leonidae (…) epigramma“; Bettenworth (2007) 86–89, die den Qualitätsunterschied gegenüber dem literarischen Epigramm des Leonidas, dessen Literarizität sie problematisiert, betont und mit Verweis auf die literarischen Leonidas-Imitationen, jedoch ohne Berücksichtigung der anderen Steinimitationen, die Beeinflussung des Epigramms SGO 08/08/10 durch Leonidas in Zweifel zieht.

120 | IV Nachhomerische literarische Tradition im Spiegel der Alltagsdichtung

nach der Todesursache, θνῄσκω δ᾿ ἐκ τίνος („[Du fragst,] woran ich gestorben bin.“), repliziert er bis in die Versstellung auf Leonidas V. 4 θνῄσκεις ἐκ τίνος.346 γ Antipatros von Sidon Das soeben mit seinem Anfangsvers zitierte Dialoggedicht des Antipater von Sidon (ca. 130–70 v. Chr.) AP VII 164 (HE 302–11)347 wurde wortwörtlich zur Komposition eines aus 16 Versen bestehenden Epigramms auf einem Grab in Philomelion verwendet (SGO 16/55/03), welches ein Ehemann Aïthalos für seine aus Thyateira stammende, an einer Krankheit verstorbene Ehefrau Elate anfertigen ließ. Das Gedicht setzt gleich mit Antipatros’ Worten ein (V. 1):

Φράζε, γύναι, γενεήν, ὄνομα, χθόνα, um in der Kadenz mit πῶς δὲ θανοῦσα eigenständig fortzufahren. Der Dichter übernimmt im Weiteren mindestens vier Verse seiner literarischen Vorlage mit nur leichten Veränderungen.348 Implizit und wahrscheinlich in bewußter Spielerei349 setzt er sogar beim Leser die Kenntnis der literarischen Vorlage voraus, wenn an entsprechender Stelle ausdrücklich klargestellt wird, daß Elate nicht, wie die Samierin Prexo des Antipatros, während der Geburt verstarb (V. 9):

ὤλεσε δ᾿ οὐ τοκετός350 με λυγρός.

|| 346 Vgl. auch die Dialoggedichte GVI 1860 (GG 428; Paros [!], 1. Jh. n. Chr.); 1871 (Santin [2009] 209–222, Obryk [2012] 68f. B17; Paros? [nach Boeckh CIG 2415 aufgrund V. 3], 2. Jh. n. Chr.) mit wohl neuzeitlich gefälschter Signatur Διονύσιος Μάγνης ποιητὴς ἔγραψεν, wo in V. 12 ἀρσενόπαιδα γονάν Einfluß von Meleager APl XVI 134 (HE 4710–21) V. 4 ἀρσενόπαιδα γόνον zu vermuten ist. 347 Vgl. Gutzwiller (1998) 236–276, u. a. zu seiner Variationskunst. 348 Vgl. die Gegenüberstellung im Kommentar zu SGO 16/55/03; Merkelbach gibt mit der älteren Lesung von Anderson (1898) 112 den Anfang von V. 7 mit σῆμα δὲ [τίς] τό[δ᾿ ἔχωσ]εν wieder, was dann konsequenterweise als wörtliche Übereinstimmung in AP VII 164 V. 3 markiert werden müßte. Seit Calder (1932) 455 las man hier σῆμα δέ μ̣[ο]ι τ̣ό̣[δ᾿ ἔν]η[σ]ε̣ν̣. – Vgl. auch unten S. 241 zur Wirkung auf IMEG 68 V. 16. 349 Gegenüber der Vorlage wurde auch die Erzählperspektive der ersten vier Verse dahingehend verändert, daß nicht der Wanderer selbst, sondern eine dritte Person (bzw. der Stein) im Sinne der Wanderer die Verstorbene zur Beantwortung von Fragen auffordert, damit der Passant sie nachlesen könne (V. 3 ὅππως οἱ παράγοντες ἀναγνώωσιν ὁδεῖται). Ab V. 7 geht das Gedicht in die direkte Dialogform der Vorlage über. 350 Dieses Wort benutzten auch Leonidas V. 4 und der Amyntas der Papyrusüberlieferung V. 4.

γ Antipatros von Sidon | 121

Demnach hat die im literarischen Bereich seit Leonidas entwickelte Form der Dialogdichtung unmittelbar auf die Steinepigrammatik bis nach Kleinasien ausgestrahlt. Freilich wurde in der Folge das Muster, ohne daß die exemplarischen Gedichte des Hellenismus noch bekannt sein mußten, freier verwendet.351 Ein weiteres Beispiel für eine literarische Vorlage, die Dichter in Kleinasien herangezogen haben, um ihrem Auftrag in würdiger Weise gerecht zu werden, ist ein mustergültiges, wiederum aus der Feder des Antipatros von Sidon stammendes Epigramm (AP VII 426 [HE 390–5]):352

Εἰπέ, λέον, φθιμένοιο τίνος τάφον ἀμφιβέβηκας, βουφάγε;353 τίς τᾶς σᾶς ἄξιος ἦν ἀρετᾶς; — Υἱὸς Θευδώροιο Τελευτίας, ὃς μέγα πάντων φέρτερος ἦν, θηρῶν ὅσσον ἐγὼ κέκριμαι.354

|| 351 Vgl. das kunstvolle iambische Epigramm SGO 03/06/06 (Teos, späthellenistisch) mit bis zu dreifachem Sprecherwechsel pro Vers, etwa V. 2 πατρός; – Φιλώτεω. – Τίς δὲ τεῦ πάτρα; – Τέως; 08/01/95 (IK 18 Kyzikos Nr. 491 nach Peeks unsicherer Ergänzung) V. 1 εἰπέ, τίνος πόλ[εως]; *08/06/12 (Hadrianuthera, späte Kaiserzeit); *09/06/22 (Nikomedeia) ab V. 6; SGO 14/07/02 (Ikonion, Kaiserzeit) Anrede des sprechenden Sargs (λάρναξ αὐδήεσσα); Dialog mit einer Statue SGO 16/08/01 (Temenuthyrai) V. 1 εἰπέ μοι εἰρομένῳ, | τίνος εἰκών; – Λουκίου εἰμί. – Inspiriert von o 263f. (Theoklymenos zu Telemachos) εἰπέ μοι εἰρομένῳ νημερτέα μηδ’ ἐπικεύσῃς· / τίς πόθεν εἰς ἀνδρῶν; πόθι τοι πόλις ἠδὲ τοκῆες; – Das Muster ist nur noch schwach erkennbar in SGO 05/01/19 (AP IX 670; Smyrna, spätantik) auf Venetios, den ‚dritten Gründer‘ der Stadt. – Im literarischen Bereich benutzt auch Meleager das Schema, indem er bezogen auf eine neue Situation (Selbstmord) die ihm bekannten Vorbilder frei nachahmte; vgl. AP VII 470 (HE 4730–7) V. 1 εἶπον ἀνειρομένῳ, τίς καὶ τίνος ἐσσί. – „Φίλαυλος / Eὐκρατίδεω.“ 352 Vgl. auch Garulli (2012) 142–144. 353 Wahrscheinlich beeinflußt vom Weihepigramm der Pseudo-Simonideischen Sammlung (vgl. auch Anm. 356) AP VI 217 (FGE 918–27) V. 4 βούφαγος (…) λέων. 354 Vgl. für ähnliche Korrelativausdrücke Antipatros von Sidon AP VII 161 (HE 296–301) V. 3f. ὅσσον ἄριστος / οἰωνῶν γενόμαν, τόσσον ὅδ᾿ ἠιθέων; auch AP VII 15 (GP 481f.; Antipatros von Thessalonike [!], Zuschreibung von Gow/Page an diesen aufgrund der auch in AP VII 692 [GP 675–80] gegebenen Beziehung zu Pergamon; Skiadas [1965] 128–130 und zuletzt Garulli [2012] 107–110 halten A. v. Sidon für wahrscheinlicher; ebd. auch zur Steinüberlieferung nach CIG 3555 [I.v.Pergamon Nr. 198 im Kommentar, alte Abschrift des Cyriacus], in Pergamon verschollen) V. 1f. (Sappho:) τόσσον δ᾿ ὑπερέσχον ἀοιδὰν / θηλειῶν, ἀνδρῶν ὅσσον ὁ Μαιονίδας; APl XVI 305 (GP 487–92; A. v. Thessalonike) V. 1f. Νεβρείων ὁπόσον σάλπιγξ ὑπερίαχεν αὐλῶν / τόσσον ὑπὲρ πάσας ἔκραγε σεῖο (sc. Pindar) χέλυς; AP VII 413 (HE 648–55; A. v. Sidon) V. 7f. φαμὶ δὲ Μαιναλίας κάρρων εἴμειν Ἀταλάντας / τόσσον, ὅσον σοφία κρέσσον ὀρειδρομίας. – Vielleicht war dem Arzt-Dichter Glykon die Korrelation eher aus Antipatros von Sidon bekannt; vgl. die Formulierung in SGO 06/02/32 (Pergamon, Kaiserzeit) V. 3f. ὅσσον γὰρ σὺ

κράτιστος ἰη|τρῶν ἔπλεο πάντων, |/ τόσσον τῶν ἄλλων ἔξο|χός ἐστι Γλύκων.

122 | IV Nachhomerische literarische Tradition im Spiegel der Alltagsdichtung

οὐχὶ μάταν ἕστακα, φέρω δέ τι σύμβολον ἀλκᾶς ἀνέρος· ἦν γὰρ δὴ δυσμενέεσσι λέων. Dieses Dialoggedicht greift noch weiter als die zuvor behandelten auf die Ursprünge der epigraphischen Dichtungspraxis355 zurück, indem ein dargestellter Gegenstand, hier eine Löwenskulptur am Grab, als beseelter Gesprächspartner stilisiert wird. In der Pseudo-Simonideischen Sammlung hatte Antipatros ein Epigramm vorgefunden, in welchem ein Grablöwe noch monologisch sprach und das er nun mit seinem Dialoggedicht überbot (AP VII 344 [FGE 1022f.]):

Θηρῶν μὲν κάρτιστος ἐγώ, θνατῶν δ’, ὃν ἐγὼ νῦν φρουρῶ τῷδε τάφῳ λαΐνῳ ἐμβεβαώς.356 Hierbei könnte es sich um ein späteres Kunstepigramm auf die von Herodot erwähnte Löwenskulptur für Leonidas bei den Thermopylen (Hdt. VII 225) handeln (vgl. FGE S. 298f.),357 deren Aufstellung sicherlich nicht ohne Bezug auf den Namen des spartanischen Kriegshelden, seinerseits ein Sohn des Leon (vgl. Hdt. VII 204), erfolgt war.358 Die Praxis, den Bestattungsort mit Löwendarstellungen als Grabbeigabe zu adeln, ist zwar zu allen Zeiten und besonders in Kleinasien archäologisch nachweisbar,359 doch in Anlehnung an die berühmte Ehrung des Heros Leonidas und befördert durch die literarischen Vorbilder des Hellenismus gewann die Totenehrung in der Form, daß in einem Epigramm auf den am Grab dargestellten Löwen oder überhaupt die Qualitäten eines Löwen Bezug genommen wird, insbesondere für Gräber auf junge Soldaten an Geltung.360 Noch auf einem Grab aus

|| 355 Siehe oben Anm. 36. 356 Nach der Anthologia Planudea und Palatina sind die beiden Verse ‚Simonides‘ zugeordnet; in der Planudea folgt ein weiteres demselben Autor zugeschriebenes Distichon gleichen Themas, welches allerdings in der Palatina separat an späterer Stelle dem Kallimachos zugeschrieben wird (VII 344 b = FGE 1024f.): Ἀλλ’ εἰ μὴ θυμόν γε Λέων ἐμὸν οὔνομά τ’ εἶχεν, / οὐκ ἂν ἐγὼ τύμβῳ τῷδ’ ἐπέθηκα πόδας. – Vgl. Garulli (2012) 145f. 357 Entsprechend dem kaiserzeitlichen Gedicht des Lollios Bassos AP VII 243 (GP 1591‑6) V. 5f.

ἣν δ’ ἐσορῇς ἐπ’ ἐμεῖ’ εὐβόστρυχον εἰκόνα θηρός, / ἔννεπε τοῦ ταγοῦ μνᾶμα Λεωνίδεω. 358 Vgl. Keesling (2010) 122f. mit Anm. 65; die Löwen spielen als Bild für die gegnerischen Perser auch im Orakel an Sparta eine Rolle: Hdt. VII 220 (AP XIV 96 [Parke/Wormell 100] V. 5). – Vor dem Hintergrund der literarisch-epigraphischen Tradition hat Wilhelm (1948) 78f. in einem Epigramm aus Lindos (GVI 1075; 3. Jh. v. Chr.) aufgrund des überlieferten Namens Λέων (V. 3) einen Löwenvergleich ergänzt. 359 Vgl. zum Grablöwen mit und ohne beigefügte Inschriften Robert (1937) 394–8; Kubinska (1968) 61–63; siehe auch unten S. 258f. Kommentar zu *16/32/16 V. 3 σῆμα λέοντος. 360 Daß diese Stilisierung inschriftlich ganz allgemein, unabhängig von Antipatros, existierte, zeigt auch GVI 34 (Mytilene, 2./1. Jh. v. Chr.; Polyandrion mit Löwen) V. 6 οἱ μὲν γὰρ θηρῶν

γ Antipatros von Sidon | 123

Sakkara in Ägypten aus dem 1./2. Jh. n. Chr. (IMEG 68, GG 427) klärt die ursprüngliche Steinskulptur eines Löwen den Passanten über die Identität des früh verstorbenen (V. 11 ὠκύμορος; vgl. auch zum Achill-Paradigma S. 84-89) Heras auf, der von den Kameraden (ἑταῖροι) bestattet wurde. Ein neues Gedicht aus Kotiaeion (*16/32/16, unten S. 253ff.) auf einen jungen Mann (V. 1 ὠκυμόρῳ), der noch niemandem etwas zu Leide getan hatte (V. 6 μηδένα λυπήσας) und dessen Ausstrahlung mit dem im Steinrelief abgebildeten Löwen gleichgesetzt wird, scheint mit dieser Tradition zu spielen. Ein weiteres, wahrscheinlich aus dem phrygischen Hierapolis stammendes neues Epigramm imaginiert nun poetisch die Ehrung durch den Grablöwen genau nach dem Vorbild des Antipatros (*02/16/01 [S. 171ff.] V. 1f.):

Ὅσσον ἐγὼ θηρῶν vv, | προφερέστερος vv, | ὦ παροδεῖτα vv, | τόσσον ὅ γ᾿ ἀντι‖πάλων ἔσκε κρα|ταιότατος· vvvv | In der Erstedition des Textes wurde verkannt, daß der sprechende Löwe sehr passend die Überlegenheit eines verstorbenen Gladiators, dessen Name nicht mehr überliefert ist, mit seiner eigenen Stärke gegenüber allen anderen Bestien durch die Korrelativverbindung ὅσσον – τόσσον in Beziehung setzt; ganz deutlich ist die freie Anlehnung an das hellenistische Epigramm des Antipatros (vgl. dort V. 3f. πάντων φέρτερος361 – ὅσσον θηρῶν [sc. φέρτερος]). Die Bezugnahme dieses neuen epigraphischen Zeugnisses aus Phrygien auf die literarische Fassung des Löwenepigramms macht es nun um so wahrscheinlicher, daß auch einem Dichter aus dem kilikischen Kanytelis in nachchristlicher Zeit die literarische Tradition des Löwengedichtes vorschweben konnte (SGO 19/10/01).362 Dort gibt sich auf einer beschriebenen Säule eine nicht mehr erhaltene Löwenskulptur dem fragenden Passanten in iambischen Trimetern als Landhüter zu erkennen, wobei der sprechende Löwe in seiner Antwort den Besitzer Sandaios analog zu der ihm zuteil gewordenen Apostrophe (V. 1 θηρῶν κράτιστε) als ἀνδρῶν ἄριστος vorstellt.363 Wenn der Dichter vielleicht nicht direkt Antipatros kannte, so dürfte er doch zumindest an ein Vorbild wie AP VII 344

||

φέρτατοι, οἱ δὲ βρο[τῶν]. – Zu Löwenvergleichen in Kriegergräbern auch Stecher (1981) 42f., dort AP VII 227 (HE 1725–8; Diotimos), GVI 1918 (Itanos/Kreta, 2./1. Jh. v. Chr.). 361 Bei der Wortwahl dachte Antipatros vielleicht an die homerische Anrede an Achill μέγα φέρτατε (Π 21; T 216; λ 478). 362 Vgl. Bettenworth (2007) 90f.; Garulli (2012) 142–150; Christian (2015) 21f. 363 Vgl. auch das bei Rhoby (2014) nicht berücksichtigte byzantinische Epigramm *15/03/07, in welchem mit dem Motiv der wachenden Löwenskulptur gespielt wird.

124 | IV Nachhomerische literarische Tradition im Spiegel der Alltagsdichtung

(in Anm. 356) gedacht haben, dessen Auftakt und Gedankenstruktur ganz parallel sind. Unübersehbar genoß demnach neben Leonidas von Tarent auch Antipatros von Sidon bei einigen anspruchsvolleren Steindichtern Wertschätzung.364 Antipatros als Lobdichter in Kleinasien? Wie aus Ciceros im Jahre 91 v. Chr. spielenden Dialog Über den Redner (III 194) zu entnehmen ist, war Antipatros von Sidon schon zu Lebzeiten als Naturtalent für situationsbezogene Stegreif-Dichtung berühmt.365 In Delos wurde er von dem Schatzmeister Philostratos aus Askalon mit einem inschriftlich noch erhaltenen Weihgedicht beauftragt (I.Delos 2549; HE 446–57).366 In Herakleia Pontike erhielt der reisende Poet, wie man aus einem entsprechenden Gedicht der Anthologie (AP VII 748; HE 410–7367, SGO 09/11/01) schließen darf, den Auftrag, das Wahrzeichen der Stadt, den ebenso durch spätere städtische Münzen propagierten368 Leuchtturm, epigrammatisch zu preisen. Das literarisch überlieferte Gedicht bietet einen zweiten Vers (λάϊνον Ἀσσυρίης χῶμα Σεμιράμιος), der seinerseits wiederum in Halikarnass auf Stein innerhalb eines fragmentarischen Preisepigramms auf literarische Größen der Stadt

|| 364 Vgl. auch die ersten drei Verse des von Antipatros von Sidon stammenden Grabepigramms auf Homer AP VII 6 (HE 224–7, EG 3386–9), welche mit kleinen Veränderungen am Anfang einer mit Sprecherwechseln zur Ehrung Homers umgestalteten Inschrift auf einer Herme in Rom (Kaibel 1084, IGUR 1532 V. 1–3; vgl. Garulli [2012] 92–99) wiederkehren (oben Anm. 107); wahrscheinlich hat der Autor Aelian (vgl. V. 6), auf den dann auch das Epigramm für Menander (IGUR 1526; Men. test. 170) auf einem am gleichen Ort gefundenen Hermenstumpf zurückgehen könnte, die Passage in Reverenz gegenüber dem hellenistischen Epigrammatiker in seine eigene Dichtung integriert. 365 Vgl. Gutzwiller (1998) 238; Hammerstaedt (1996) 1250. 366 Mit Unterschrift Ἀντιπάτρου Σιδωνίου, zusammen mit einem Gedicht eines Antisthenes von Paphos (vgl. zu Letzterem auch Inscr. de Délos 1533, dazu S. 309 mit Anm. 541). – Ob ein weiteres in der Anthologia Graeca AP VII 232 (HE 746–9) überliefertes Epigramm auf einen im Krieg gefallenen Amyntor, Sohn des Philippos, der dem Namen nach wahrscheinlich aus Makedonien stammte und dessen Grabmal gemäß dem Text am Ort seiner Niederlage in Lydien stand (weshalb es hier erwähnt sei), der hellenistischen Dichterin Anyte (so Planudes) oder Antipatros von Sidon (so die Anthologia Graeca) gehört, ist umstritten (Gow/Page plädieren für Anyte vor allem aufgrund der inhaltlich-chronologischen Konvergenz). Wenn es tatsächlich von einem Stein aus Lydien stammt, ist die Zuschreibung an Antipatros wahrscheinlicher. Möglicherweise wurde es aber als epideiktisches Epigramm erst im nachhinein aufgrund wörtlicher Übereinstimmung zu beiden in Erwägung gezogenen Dichtern (dazu Gow/Page) mit einer Zuschreibung versehen. 367 Ohne Beachtung von Wilhelm (1947) 232–241 [86–95], der den Bezug auf den Leuchtturm erkannte. 368 Vgl. Robert (1937) 251–253.

γ Antipatros von Sidon | 125

(wie Herodot, Panyassis und Andron) zitiert wurde369 oder mindestens im Hintergrund stand (IG XII 1 Nr. 145, SGO 01/12/01; späthellenistisch?). Daraus folgerte Merkelbach nach Hiller von Gaertringen, daß wahrscheinlich Antipatros auch das kleine Gedicht auf die Literaten von Halikarnass geschrieben hatte,370 was zugleich einschlösse, daß die 1998 erstedierte Elegie auf den literarischen Rang der karischen Stadt, die um 100 v. Chr. entstandene, sogenannte Salmakis-Inschrift (SGO 01/12/02),371 da sie nach Merkelbachs ursprünglicher Meinung „vielleicht vom selben Dichter“ (ebd.) stammte,372 auf Antipatros von Sidon zurückgehen könnte.373 Sicher läßt sich für beide Lobgedichte aus Halikarnass nur sagen, daß sie in außergewöhnlicher Weise auf literarische Vorbilder zurückgreifen und, wie Merkelbach richtig bemerkte, „schwerlich gleich zur Aufzeichnung auf Stein geschrieben worden“ (SGO 1 [1998] 45) sind. Kulturhistorischer Hintergrund für ihre Entstehung könnten, wie vielleicht auch im Falle des sicher Antipatros zuzuschreibenden Gedichtes auf den Leuchtturm von Herakleia Pontike, hellenistische Wettbewerbe im poetischen Städtelob gewesen sein, deren erstplazierte Erzeugnisse unter anderem durch die Verewigung in Stein prämiert wurden (vgl. oben S. 56 zu SGO 06/02/18). Bei den drei genannten Inschriften handelt es sich um Sonderfälle von literarisch, wahrscheinlich für eine einmalige Aufführung konzipierten Texten, die sekundär auf Stein gelangten. Sie spielen insofern für die Frage nach dem Einwirken der literarischen Dichtungstradition auf die primär für das Steinmonument komponierte Alltagspoesie keine Rolle.

|| 369 So Merkelbach zur Stelle, dem die kritische Untersuchung von Wilhelm (1947) 219–232 [73-86] nicht bekannt gewesen zu sein scheint; vgl. auch Epic. Graec. Frag. Panyassis T 6. 370 Merkelbach/Stauber zu 09/11/01: „Wahrscheinlich ist auch das Epigramm aus Halikarnass, hier 01/12/01, von ihm [sc. Antipatros von Sidon], s. zu Vers 2.“ (meine Hinzufügung) Vgl. Merkelbach in SGO 5 (2004) 3 zu 01/12/01. 371 Vgl. Isager (1998); Lloyd-Jones (1998a); außerdem Isager/Pedersen (2004). 372 So auch Isager (1998) 22 und Lloyd-Jones (1999a) 12. Ob Merkelbach dementgegen gerade diese Ansicht in SGO 5 (2004) 3 zu 01/12/02 revidiert, wird mir nicht ganz deutlich. 373 Die noch in SGO 1 (1998) 45 geäußerte Vermutung, der Autor könnte der bei Strabon (XIV 2, 16 p. 656, 22) ποιητής genannte, bei Diogenes Laertios IX 17 passenderweise als ἐλεγείας ποιητής bezeichnete, in AP VII 465 (D. L. IX 17; HE 1935–42) einmal repräsentierte und von Kallimachos AP VII 80 (epigr. 2, HE 1203–8) gepriesene Freund Herakleitos aus Halikarnass gewesen sein, hatte Merkelbach nach Mitteilung von Lloyd-Jones (1999b) 65 (vgl. SGO 5 [2004] 3 zu 01/12/02) aufgrund der Schriftdatierung zuvor zurückgezogen. – Nach Isager (1998) 22 und Lloyd-Jones (1999a) 13f. ist eine Zuschreibung wie auch im Falle von SGO 01/12/01 an einen hochrangigen Dichter wie Antipatros von Sidon ausgeschlossen; zuversichtlicher Garulli (2012) 158–178, die allerdings Merkelbachs Richtigstellung übersieht.

V Epigraphische Muster: „pattern-books“ und Standardverse Vorbemerkung Die vorangegangenen Kapitel haben gezeigt, daß der Einfluß der literarischen Epigrammatiker hellenistischer Zeit (S. 113ff.) auf die sepulkralen Steingedichte deutlich geringer war als die Wirkung, die das homerische Epos entfaltete. Neben den Formen des Rückgriffs auf die literarische Tradition, wie sie oben skizziert wurden, treten in der Steinepigrammatik andersartige übereinstimmende sprachliche Muster hervor, die nicht ohne Weiteres als Übernahmen aus der Literatur erklärbar sind. Für derartige Parallelen verweist die aktuelle Forschung auf schriftliche Standard-Vorlagen, die ausschließlich innerhalb der epigraphischen Praxis kursiert und herangezogen worden seien. Im folgenden richtet sich das Augenmerk auf jene Kompositionstechnik, bei der die Grabdichter offenbar auf nichtliterarische Muster zurückgriffen. In diesem Zusammenanhang muß die These der manuels professionnels, pattern-books oder Musterbücher kritisch hinterfragt werden. Die zuerst von Cagnat (1889) im Zusammenhang der lateinischen sepulkralen Steinepigramme entwickelte Erklärung, daß es in der Antike spezielle Handbücher gegeben habe, aus denen die Steinmetze oder Grabdichter ihre Verse hätten zusammenbauen bzw. ganze Gedichte nach Modifizierung mit den Sachinformationen (Personennamen, Herkunft, Berufe usw.) leicht reproduzieren können,374 wurde in der Folge ohne eingehende Überprüfung der antiken Zeugnisse regelmäßig auf den griechischen Bereich übertragen.375 Zuletzt spekulierte man

|| 374 Dagegen Lier Ι (1903) 447f. mit Hinweisen auf griechische Vorbilder; Armstrong (1910) 239-242 bestätigt Cagnat mit der Einschränkung: „a supply of these common forms …, not necessarily in books“; Galletier (1922) 199. 225–235 Widerlegung der Handbuchthese; Lattimore (1962) 17–20. 216 („consulting a manual“) vertritt sie, ohne auf Letzteren einzugehen; Häusle (1980) 15–19, mit ausführlichem Forschungsüberblick, scheint nicht zwischen den von ihm vermuteten Formelsammlungen für Steinmetzen und literarischen Anthologien zu unterscheiden; Courtney (1995) 15 sieht in den von ihm gesammelten Parallelstellen keine Anhaltspunkte für die Benutzung solcher Handbücher, möchte aber dennoch deren Existenz in Anbetracht von AE 1931, 112 (wo der Steinmetz aus Hippo Regius statt des individuellen Namens den Platzhalter pueri nominandi eingemeißelt hat) nicht in Abrede stellen, wobei er zugleich die bedenkliche Feststellung äußert: „If such pattern-books really did exist, we must take into account a possible accumulation of errors in them also.“ 375 Vgl. Guarducci (1952) 343 ausgehend von ihrer eigenen Interpretation eines lateinischen Epigramms (Guarducci [1951] 13); Griessmair (1966) 27; Drew-Bear (1979) 344; Lougovaya (2011) 314f., alle vier mit der Begründung des Kerellaios-Spruches (unten S. 138–144); Obryk (2012) 2 https://doi.org/9783110597394-008

Vorbemerkung | 127

sogar, daß bereits die ersten Epigrammsammlungen aus dem Anliegen heraus entstanden sein könnten, solche Muster-Handbücher für die epigraphische Praxis herzustellen.376 Die Vorstellung, es habe zu allen Zeiten überregional umlaufende Musterbücher gegeben, aus denen heraus die Epigrammautoren ihre Inschriften konstruierten, schränkt in ihrer Allgemeinheit die Interpretation des einzelnen Grabgedichtes ein. Sie veranlaßt nämlich dazu, pauschal bei einfachen Epigrammen an eine Vorlage zu denken und dabei die mögliche individuelle, mehr oder weniger erfolgreiche, poetische Technik der Autoren aus dem Blick zu verlieren. Dabei geraten dann allzu leicht auch die unterschiedlichen Entstehungsbedingungen der dichterischen Produkte außer acht. Vor dem Hintergrund der kleinasiatischen Grabdichtung bedarf es hinsichtlich der Hypothese von Musterbüchern einer reflektierten Detailbetrachtung. Die überwältigende Masse dieser Epigramme zeigt geradezu die gegenteilige Tendenz, insofern als sich die Dichter im Rahmen ihrer Fähigkeiten um selbständig kreierte Produkte bemühten. In der Regel waren ja die Hinterbliebenen entweder selbst um eine möglichst persönlich gehaltene Würdigung ihres verstorbenen Angehörigen bemüht, oder sie wollten als Auftraggeber ihre individuellen Wünsche umgesetzt sehen. Die bei einem geringeren Teil des Gesamtfundus der Steingedichte festzustellenden wörtlichen Parallelen zwischen einzelnen Gedichten lassen sich, wie

|| mit Anm. 5 (referierend); Pfohl (1970) 92 spricht von „vielleicht … Steinmetzformelsammlungen“; Luck (1958) 610 behauptet, ohne sich der Probleme bewußt zu sein, daß die fragwürdige Anordung der 2138 Grabgedichte nach struktureller „Form“ und motivisch-inhaltlichen „Typen“ bei Peek GVI, „wenn auch in gröberen Zügen, sicher auch den sogenannten Musterbüchern der Steinmetzen zugrunde“ gelegen hat; Tsagalis (2008) 53f. 58 ohne Herleitung aus direkter Textevidenz der Epigramme; in Anlehnung daran und mit Bezug auf Clairmont (1970) ohne Seitenzahl Garulli (2012) 217: „L’esistenza di pattern-books … viene generalmente considerata come un dato assodato.“ – Clairmont (1970) 51: „They [sc. classical epigrams] derive from ›copybook‹ texts.“ Dies versucht er danach (S. 52–55) mit Verweisen auf einzelne wiederkehrende Wertbegriffe und übereinstimmende Sepulkralmotive („idioms“) zu belegen. Garulli (2016) möchte hapax legomena in Grabepigrammen als Indizien für copybooks werten. – In Bezug auf zwei frühe Grabgedichte (CEG 13 [Athen, 6. Jh. v. Chr.] V. 2 und 117 [Pharsalos, 480–450 v. Chr.] V. 4) sprach Larfeld (1907) 266 von der „Verwertung allgemeiner Formulare“. 376 Bing/Bruss (2007) 6f. mit Anm. 26, nach einer e-mail (!) von Julia Lougovaya; Tsagalis (2008) 53f. Weder die nachweisbaren, historisch-geographisch ausgerichteten Epigrammsammlungen des Hellenismus (vgl. oben S. 21) noch die schon früh zu vermutenden belletristischen Sammlungen (z. B. die Simonideische) können zur Begründung der These von pattern-books für unbeholfene Steinmetzen und Auftragspoeten taugen.

128 | V Epigraphische Muster: „pattern-books“ und Standardverse

im folgenden gezeigt werden soll, gut ohne pattern-books von allgemeiner Bekanntheit erklären. Die Hintergründe für die übereinstimmenden Formulierungen sind nämlich weitaus vielfältiger. So können beispielsweise dieselben poetischen Gestaltungsmerkmale verschiedener Gräber eines Gebietes auf individuelle ‚Dichter-Steinmetzen‘, und somit bestenfalls auf deren private Notizbücher, zurückgehen.377 Jedenfalls läßt sich eine Benutzung vorgefertigter Muster nur in einem sehr eingeschränkten Sinne feststellen. In den meisten der in Betracht zu ziehenden Fälle resultieren die Parallelen zwischen Gedichten aus schriftlichen Modellen, die nur in einem eng definierbaren Bereich ihre Geltung hatten (siehe V 1). Die Mehrzahl der wörtlichen Übereinstimmungen in Steinepigrammen läßt sich dadurch erklären, daß entweder allgemein kursierende Standardformulierungen und sprichwörtliche Wendungen von größerem Umfang leicht aus der Erinnerung geschöpft werden konnten oder, und dies jeweils auf enge Regionen und gewisse Zeitspannen beschränkt, daß konventionelle, oft traditionelle Formeln wiederkehren. Die erste Kategorie wird unten am Beispiel des sogenannten „Spruchs des Kerellaios“, der in Variationen überregional verbreitet war und der von daher als angeblicher Beweis besagter Musterbücher ins Feld geführt wurde, genauer betrachtet (V 2, S. 138ff.). Zur Verdeutlichung regionaler Eigenarten dienen dann zwei in Phrygien verbreitete metrische Fluchformeln (V 3, S. 144ff.).

1

Eingeschränkte Bedeutung schriftlicher Mustervorlagen

In mehrfacher Hinsicht lassen sich Fälle erkennen, bei denen den antiken Epigrammdichtern schriftliche Vorlagen oder Notizen zur Verfügung gestanden und sie diese benutzt haben können. Letztlich reichen aber alle Indizien bei weitem nicht hin, in der Verwendung musterhafter Beispieltexte eine allgemeine Praxis antiker Steinepigrammatik zu sehen. Wie aus den vorangegangenen Darlegungen deutlich geworden ist, dürfen im weitesten Sinne die homerischen Epen, die jeder Schüler in der Antike bereits im Anfangsunterricht in schriftlicher Form kennenlernte, als Gestaltungsmodelle für Grabgedichte aufgefaßt werden. Oben (S. 68-70) wurde gezeigt, daß der

|| 377 Zu solchen Gedichtgruppen im Gebiet von Axylon Thonemann (2014), der hinter den bisweilen sehr fehlerhaften und unverständlichen Gedichten Dorflehrer vermutet. Vgl. auch in Ägypten die Grabgedichte des professionellen Poeten Herodes, der drei seiner Gedichte signiert hat (IMEG 5. 6. 35) und dem drei weitere aufgrund des Stils vielleicht zugeschrieben werden können (IMEG 7. 8. 38); zuletzt Santin (2009) 171–197.

1 Eingeschränkte Bedeutung schriftlicher Mustervorlagen | 129

gnomische Vers τὸ γὰρ γέρας ἐστὶ θανόντων leicht aus dem Gedächtnis ganz konventionell Grabinschriften hinzugesetzt wurde. Andere homerische Wendungen flossen aus der Lektüre zwanglos in die Dichtung ein oder waren bereits fest in der sepulkralen Sprache etabliert. Die häufige Zitation des homerischen Grabepigramms (S. 73-77) dürfte damit zu tun haben, daß man in ihm als dem ureigenen Produkt des Dichters selbst, welches wohl auch im Zusammenhang der Epen tradiert wurde (vgl. Anm. 210) und im Unterricht zur Sprache kam, ein Musterstück für jede Sepulkraldichtung sah. Um vor Augen zu stellen, welche Art der Text-Parallelität zur Vermutung von regional und chronologisch übergreifenden Musterbüchern Anlaß geben kann, sei ein bislang in der Forschung unberücksichtigter, außerkleinasiatischer Einzelfall vorgeführt. Während die Mehrzahl der Ausdrucksparallelen leicht auf die überall praktizierte Homerlektüre bzw. die von dort oder aus anderen Autoren herrührende Standardisierung sepulkralen Stils zurückzuführen war, sind die Übereinstimmungen der beiden folgenden Epigramme, von denen eines aus Thessalonike stammt und das andere als griechischsprachiges Gedicht einen Ausnahmefall im römischen Leptis Magna darstellt, nur durch ein an zwei unterschiedlichen Orten vorliegendes, gleiches schriftliches Muster erklärbar.378 GVI 578 (I.Tripolitania 719379; Leptis Magna, 2./3. Jh. n. Chr.)

τὸν͜ σεμ͜ν͜ῶς ζή͜σαν|τα καὶ ἤθεσι δοξα̣σ⸌θ⸍‹έν›|τα, – τ̣ειμαῖς τ͜ειμ͜ηθέν|τα v, τ͜έχν͜ῃ δέ τ̣οι μοῦ|νον͜ ἐόν͜τα, – πάν͜σοφον | ἐν πολλοῖς ἔργεσιν | ‹–⏑⏑×› | Λούκιον͜ ἔνθα μ͜έλ̣αιν̣‹α› | Λιβύη͜ς κατὰ γαῖα κα|λύπτι. vv IG X 2, 1, 758 (Thessalonike, 2./3. Jh. n. Chr.; über einer früheren Inschrift)

τὸν σεμνῶς ζήσαν|τα καὶ ἤθεσι δοξαv|vvσθέvvvνταvv | ἀρχαῖς τειμηθέν|τ̣α,̣ τέχναισί τε μοῦv|νον ἐόντα, | πάνσο|φον ἐν πολλοῖς ἄν|θεσιν καλλιβάφον, vv || Ζώσιμον ἔνθα μέ|λαινα χυτὴ κατὰ γαῖα | vvvv καλύ‹πτ›ει.

|| 378 Auch die Übereinstimmung im (freilich weitverbreiteten) Formular der nichtmetrischen Teile ist vor dem Hintergrund des oben Gezeigten kein bloßer Zufall; unter dem Epigramm GVI 578 (I.Tripolitania 719, Zeile 9–15) Σώ͜στρατος | Λουκίῳ͜ τ͜ῷ ἰδίῳ θρε|πτῷ ζήσαντι ἔτ͜η | κα⸍ v μνήμης vv | vv χ̣άριν. vvvv | [χ]αίρ‹ε›τ͜ε, παροδεῖ| vvvvται. vvvv – Ich habe die Details der gesamten Inschrift, weil auch hier Parallelen sichtbar sind, nach der Abbildung 77 bei Romanelli (1925) ediert. Vordere Seite des Steines IG X 2, 1, 758, Z. 1–5 Ἰουλία Φιλωτέρα | τῷ ἰδίῳ ἀνδρὶ |

Ζωσίμῳ | μνίας χάρειν | ζήσαντι ἔτη ν⸍. 379 Das Epigramm erscheint nicht in der Zusammenstellung der griechischen Grabepigramme aus den afrikanischen Provinzen bei Coltelloni-Trannoy (2007) 226–232, neben den für Leptis Magna erwähnten Nr. 9 (I.Tripolitania 690) und Nr. 8 (I.Tripolitania 764, auf einen Kreter).

130 | V Epigraphische Muster: „pattern-books“ und Standardverse

Hier wird nun nicht nur auf die bekannte Formulierung Homers zurückgegriffen (jeweils V. 4; dazu oben S. 75), sondern beide Gedichte stimmen auch sonst wörtlich frappierend überein. Man kann nicht umhin vorauszusetzen, daß beiden Dichtern oder vielleicht nur den Steinmetzen ein und dasselbe Mustergedicht vorlag. Aufgrund der Singularität dieses Beispiels mag man nicht ausschließen, daß die beiden Grabepigramme durch eine reale historische Verbindung der beteiligten Personen zustande kamen und die schriftliche Vorlage innerhalb einer aus Thessalonike stammenden Steinmetzgilde oder -familie kursierte. Daß der in Leptis Magna bestattete Lucius ein Einwanderer war, macht bereits die Verwendung der griechischen Sprache deutlich; das parallele Epigramm aus dem griechischen Mutterland gäbe dann zur Spekulation Anlaß, daß er aus Makedonien kam, von wo auch das Muster seines Grabgedichtes herstammt. Wenn Roberts Vermutung (BE 1953 S. 202) richtig ist, daß Lucius wie der Grabspender Sostratos von Beruf „architecte ou sculpteur“ war, kann das zusätzlich zu der hypothetischen Überlegung veranlassen, daß Sostratos selbst den Grabstein angefertigt hat und dabei auf eine Vorlage zurückgriff, die er aus (der Steinmetztradition) seiner Heimat bereits kannte. Dieser glückliche Überlieferungszufall reicht dann allerdings nicht hin, um Cagnats These in ihrer regionalen und chronologischen Allgemeinheit zu stützen. Genauso wie hier ist es bei anderen Beispielen wörtlicher Übereinstimmungen in den Steinepigrammen unbedingt erforderlich, sich die Einzelheiten jeweils genau anzusehen. Weiterhin sind nun für die Frage nach Musterbüchern in Kleinasien folgende Fälle beachtenswert: Zum Auftakt eines Grabepigramms auf ein dreijähriges Mädchen aus Kotiaeion (SGO 16/32/06, Kaibel 371), das aufgrund des Reliefs von Pfuhl/Möbius I (1977) 489 (Taf. 77) als „vorbyzantinisch“ eingeordnet ist, heißt es (V. 1):

ἄρτι με γευομένην ζωῆς βρέφος ἥρ|πασε δαίμων. Dieser Eingangsvers begegnet zweimal in Rom wieder. Und eines der dortigen Grabgedichte, dem sämtliche individualisierenden Angaben zum Tod des fünfjährigen Menekrates in einem prosaischen Einleitungstext beigegeben sind, dürfte seinerseits auf einem Musterepigramm oder einer Kombination von Musterversen, die der Grabinitiatorin bzw. dem von ihr beauftragten Steinmetz schriftlich vorlagen, beruhen. Denn nicht nur der erste Vers, sondern alle weiteren Versstücke dieses Gedichtes lassen sich jeweils mit anderen epigraphischen Überlieferungen parallelisieren (GVI 975 [2. Jh. n. Chr. (?)], IGUR 1272; Vérilhac 149; vgl. Adnotationen bei Kaibel 371):

1 Eingeschränkte Bedeutung schriftlicher Mustervorlagen | 131

ἄρτι με γευόμενον ζωᾶς βρέφος | ἥρπασε δαίμων | 380 οὐκ οἶδ’ εἴτε ἀγαθῶν αἴτιον εἴτε κακῶν. | 381 ἀπλήρωτ’ Ἀΐ‹δ›α, τί με νήπιον ἥρπασας ἐκχθρό{ι}ς | τί σπεύδεις; οὐ σοὶ πάντες ὀφειλόμεθα;382 In dem aus Rom stammenden Epigramm gewinnt man einen Eindruck von einer vor allem im italischen Bereich verbreiteten musterhaften Vorlage, die in Teilen mindestens auf drei Epigramme Kleinasiens gewirkt hat. Das dort in den ersten beiden Versen repräsentierte Muster bezieht sich auf den Tod von Kindern. Die Beispiele zeigen, daß für die würdige Behandlung solcher besonders trauriger Schicksalsschläge bewährte Formulierungen vereinzelt zur Verfügung standen, von denen ausgehend ein Epigrammdichter seine Inschrift in der Regel dann noch weiter ausgestaltete. Derartige auf bestimmte Situationen bezogene Einzelfälle verschwinden freilich vor der Vielzahl frei gestalteter Epigramme. Daß die ihnen zugrunde liegenden speziellen Ausformungen innerhalb umfangreicherer Sammlungen mustergültiger Vorbildepigramme in Buchform zu finden waren, läßt sich nicht erkennen. Aufs Ganze gesehen kann von „Musterbüchern“ nur in einem sehr begrenzten Sinne gesprochen werden. In wenigen Fällen scheint es auf der Hand zu liegen, daß fertige Versatzstücke im nachhinein den jeweiligen Bedürfnissen angepaßt wurden. Eine solche Vermutung ist gerechtfertigt, wenn der Vers durch die Einfügung individueller Personennamen zerstört wurde. Bei einem in einem

|| 380 Vgl. IGUR 1216 (Kaibel 576a) V. 1; ein weiteres Mal am Anfang eines Gedichtes aus Philippopolis verarbeitet (GVI 976; 2./3. Jh. n. Chr.): ἄρτι με γευομέναν γλυ|κεροῦ βιότου κατὰ δῶμα. – Daß es sich bei IGUR 1272 um die Grundform handelt, macht auch die zu βρέφος kongruente Form γευόμενον deutlich, die sonst wider die Grammatik dem Genus des verstorbenen Kindes angepaßt wird. 381 Ähnlich sprichwörtlich schon Plat. apol. 37 B ὅ φημι οὐκ εἰδέναι οὔτ᾿ εἰ ἀγαθὸν οὔτ᾿ εἰ

κακόν ἐστι. 382 Vgl. für V. 3f. IGUR 1248 (GVI 1589, GG 268; 2./3. Jh. n. Chr.) V. 1f.; GVI 1038 (Vérilhac 150; Albaner Berge, vielleicht 3. Jh. n. Chr.) V. 5f. (Pentameter hypermetrisch umgestaltet); die starke Umgestaltung GVI 1590 (GG 401; Athen, 2. Jh. n. Chr.) V. 1, ähnlich wie SGO 11/07/10 (Amaseia, Kaiserzeit) V. 1; für V. 3 die Abwandlung AP VII 671 (anonym oder Bianor; GP 1667f.) ~ SGO 13/07/04 (Tyana, christlich) V. 1; für die zweite Vershälfte von V. 4 Ps.-Simonides AP X 105 (FGE 1016f. „It may well be inscriptional“, „ἄδηλον in Planudes is likely to be the true tradition“) V. 2 θανάτῳ πάντες ὀφειλόμεθα. – Das letztgenannte Motiv (dazu Lattimore [1962] 250f.) ist spätestens seit Euripides angelegt; vgl. Alc. 419. 782; TrGF adesp. 327a, Bd. II Snell/Kannicht.

132 | V Epigraphische Muster: „pattern-books“ und Standardverse

fragmentarischen Vers mit der formelhaften Junktur γράμμασιν ἀενάοις383 anhebenden Epigramm aus Lystra *14/11/03, das im 3. Jh. n. Chr. ein Aurelius Victor für seine Mutter Nonna hat einmeißeln lassen (Z. 5 γράμματα ταῦτ’ ἐχάραξεν), ist die Metrik des zweiten Verses nur durch die Einfügung des Konnektors γάρ und des Namens der Verstorbenen zerstört (V. 2 [Heraushebungen von mir]):

[γαῖα | χ]υτὴ͜ γὰρ κατέχι Αὐρ. Νό[ν]ν̣αν Νέστο[ρ]ο̣ς̣ σ̣[αοφρο]σ̣ύ̣νης | [με]τέχουσαν. Daraus läßt sich folgern, daß einzelne Steinmetzen vorgefertigte Vorlagen besaßen, die sie um die vom Auftraggeber geforderten Daten ergänzten, ohne sich um die Metrik zu kümmern oder auch nur über sie im Bilde gewesen zu sein. Den Initiatoren eines derartigen Grabes war offenbar die Unzulänglichkeit der poetischen Ausführung unerkennbar bzw. gleichgültig; sie waren damit zufrieden, überhaupt einen Steinmetzen zu haben, der zu einem erschwinglichen Preis für eine besondere Würdigung des Angehörigen die Anfertigung einer poetisch anmutenden Inschrift im Angebot hatte. Doch ist die Anzahl solcher Zeugnisse vor der Masse von Grabepigrammen verschwindend gering.384 Diesen Gedichten lagen wahrscheinlich persönliche Aufzeichnungen der jeweiligen ‚Anbieter‘ zugrunde, deren Fixierung in externen, allgemein verbreiteten Schriftquellen bislang nicht nachweisbar ist. Die besondere Ausprägung individuell verwendeter Muster hat Thonemann (2014) minutiös für einzelne Dichter in Axylon herausgestellt, die er aufgrund der Verwendung immer wieder gleicher homerischer Junkturen voneinander sondern konnte (siehe oben S. 67f.).385 Auch andernorts weisen, regional und zeitlich begrenzt, in verschiedenen Epigrammen wiederkehrende Formulierungsmuster auf die ‚Handschrift‘ ortsansässiger Dichter hin.386

|| 383 Vgl. SGO 14/02/10 (Gdanmaua, spätantik); 16/45/11 (Klaneos, nach 212 n. Chr.). Zur bereits bei Simonides angelegten topischen Bedeutung des Wortes ἀέναος im Zusammenhang immerwährender Erinnerung vgl. Fearn (2013) 234 mit Anm. 13. 384 Beispiele in neuen Epigrammen, bei denen der Name in ein bestehendes Metrum eingefügt scheint: *02/12/12 (Hierapolis, Gladiatorenepigramm) V. 1f.; *14/11/03 (Lystra, Mitte 3. Jh. n. Chr.) V. 2; *16/34/41 (Dorylaion, Kaiserzeit; Altarweihung) V. 1. 385 Siehe auch die wörtliche Verwandtschaft der beiden christlichen Epigramme SGO 14/02/09 (Gdanmaua, 4./5. Jh. n. Chr.) V. 1–3 und SGO 14/04/03 (Kissia, 4./5. Jh. n. Chr.) V. 1–3, für deren Anfangswendung ἐξ ἀγαθῆς ῥίζης ἔρνος auch jüdisch-christliche Metaphorik eine Rolle spielt; vgl. Merkelbach zu SGO 14/02/09 V. 1, besonders LXX Jesaja 11, 1 Καὶ ἐξελεύσεται ῥάβδος ἐκ τῆς ῥίζης Ιεσσαι, καὶ ἄνθος ἐκ τῆς ῥίζης ἀναβήσεται; Garulli (2012) 270–277 mit Betonung des paganen Bildes der ῥίζη. 386 Vgl. z. B. SGO 11/05/05 (Nea Klaudiupolis/Phazimonitis, spätantik) V. 4 ἀρετῆς ἄνθεα στεψαμένην ~ SGO 11/06/01 (Laodikeia/Phazimonitis, späte Kaiserzeit) V. 3.

1 Eingeschränkte Bedeutung schriftlicher Mustervorlagen | 133

Ähnliche Fälle epigraphischer Praxis liegen vor, wenn in weniger anspruchsvollen Grabepigrammen, als deren Verfasser man sich oft nur schulisch vorgebildete Familienangehörige zu denken braucht, bestimmte häufige Formeln anzutreffen sind. Dafür bedurfte es keiner schriftlichen Buchvorlage, sondern es ist gut vorstellbar, daß sich die schreibkundigen, aber poetisch inspirationslosen Autoren an der in ihrer Lebenswelt wahrnehmbaren Koine sepulkraler Diktion bedienten.387 Wenn in Beziehung auf solche kommemorativen Muster überhaupt von schriftlichen Vorlagen gesprochen werden kann, so sind dies andere Steinepigramme, die man im eigenen Umfeld bewußt wahrnahm und sich merkte, vielleicht manchmal kopierte. Derartige Gedichte beginnen mit: ἐνθάδε γῆ κατέχει388; ἐνθάδε κεῖται ἀνήρ389; λαΐνεον τόδε σῆμα390; οὗτος ὁ τύμβος ἔχει391; τὸν κλύτον/μέγαν ἐν392. Auf einer weiteren Stufe kommen parallele Versteile ins Spiel, die aus sprichwortartigen Wendungen hervorgehen. Der Zitation lagen sicherlich keine schriftlichen Notizen zugrunde, wenn derselbe Gedanke in variierter Diktion begegnet. So kehrt etwa in regional verstreuten Epigrammen die Aufforderung, das Leben angesichts des unweigerlich drohenden Todes zu genießen, zu allen Zeiten wieder, z. B. in Kotiaeion auf einen Tänzer (SGO 16/32/05 V. 5; iambisch):

παῖσον, τρύφησον, ζῆσον· ἀποθανεῖν σε δεῖ. Das Motiv soll angeblich schon in der Grabinschrift des legendären Assyrerkönigs Sardanapalos, die spätestens Aristoteles als Verherrlichung des ἀπολαυστικὸς βίος anführte393 und über die die Alexanderhistoriker genauer zu berichten

|| 387 Schon seit klassischer Zeit kehren die einmal in der Grabepigrammatik etablierten Formen wieder; vgl. etwa Geffcken (1917) 99 Anm. 5; oben S. 92–94. 388 Ιn dieser Abfolge in literarischen Quellen am Anfang des Verses nur als γῆ κατέχει, oft im Peplos des Ps.-Aristoteles (Anthol. Lyr. Diehl II2 fasc. 6), am Anfang des ersten Hemiepes: epigr. 10; als zweites Hemiepes mit zwischengestellter Ortsangabe: epigr. 8 (γῆ Σαλαμὶς κατέχει). 19. 24; am Anfang des zweiten Hemiepes: epigr. 26; einmal für Lobon von Argos, 3. Jh. v. Chr. SH 507. – Siehe für diese und die folgende in Steinepigrammen typische Auftaktformel den Index der Gedichtanfänge in Merkelbach/Stauber SGO 5 (2004) 158. 389 Vgl. AP VII 60 (ΗΕ 3292–5; Simias [unsicher], Epigramm auf Platon) V. 2 (!); κεῖται ἀνήρ bei Homer Ε 467; Π 558. 390 Vgl. Index SGO 5 (2004) 171; ΙOSPE3 III 600 (Neapolis Scythica, hellenistisch). 391 Vgl. Index SGO 5 (2004) 182. 392 Vgl. Index SGO 5 (2004) 194f. 393 Vgl. Aristot. fr. 90 Rose; außerdem EE I 5, 10, 1216 a 16 und EN I 5, 3, 1095 b 22; pol. V 8, 14, 1312 a 1–3 Zweifel an der Glaubwürdigkeit der diesbezüglichen μυθολογοῦντες.

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wußten,394 in assyrischen Schriftzeichen etwa in dem Sinne ἔσθιε, πῖνε, παῖζε zu lesen gewesen sein. Diese Inschrift wurde von Choirilos, entweder dem Begleiter Alexanders des Großen aus Iasos oder bereits von dem älteren Epiker aus Samos (vgl. Radt zu Strabon XIV p. 672, 6–9 [Bd. 8, 119f.]), poetisch bearbeitet und in der Literatur immer wieder aufgegriffen.395 Innerhalb der Grabepigrammatik florierte der carpe-diem-Aufruf variantenreich396 bis hin zur stehenden Wendung balnea vina venus der lateinischen Sepulkralinschriften.397 Die besonders gut in die Welt der Gladiatoren passende fatalistische Maxime ist denn auch in zwei an verschiedenen Orten ausgeführten Gladiatorenepigrammen in fast identischen Worten als Aufforderung an den Passanten zu lesen, im bithynischen Nikomedeia in der Form (SGO 09/06/05 [Robert 308, Mann 163]) V. 7 zum Abschluß):

παῖζε, γέλα, | παροδεῖτα, εἰδώς, ὅτι καὶ | σὲ θανεῖν δεῖ. Und im lykischen Xanthos heißt es (SGO 17/10/05 [Robert 106, Mann 189] V. 5 zum Abschluß):

παῖζε, γέ|λα, παροδεῖτα, | βλέπων ὅτι | καὶ σὲ θανεῖν | δεῖ.

|| 394 Vgl. Hellanikos von Lesbos FGrHist 4 F 63 b und FGrHist 687 a F 2 b; Apollodoros von Athen FGrHist 244 F 303; die Alexanderhistoriker Kallisthenes von Olynth FGrHist 124 F 34; Aristobulos FGrHist 139 F 9; Radts Kommentar zu Strabon XIV 5, 9 p. 672, 5f. (= F 9b, nach dieser Variante das obige Zitat); Burkert (2009), mit ausführlichen Überlegungen zur Tradition und ihren historischen Anhaltspunkten. 395 Vgl. Preger 232 und SH 335 (dazu auch Anm. 406) zu den breitgestreuten Testimonien; außerdem Amphis fr. 8 K./A. und Alexis fr. 25, 11f. – In abgeschwächter Weise erscheint das Motiv schon bei Euripides Alc. 788f. (oben S. 105). 396 Vgl. für die griechischen Belege Ameling (1985) ausgehend von Vers Jesaja 22, 13, den Paulus im ersten Korintherbrief 15, 32 zitiert: φάγωμεν καὶ πίωμεν, αὔριον γὰρ ἀποθνῄσκομεν. – Vgl. auch Lier (1904) 56–63 mit ausführlicher Erörterung der Traditionsgeschichte; L. Robert, Hellenica 13 (1965) 184–189 anläßlich SGO 02/09/32 (Aphrodisias, Kaiserzeit); MAMA IX P300 p. 189 (Aizanoi); Beispiele in SGO: 17/19/03 (Olympos, 340–320 v. Chr. [frühester Beleg]) V. 2f. ἡδὺν βίον εἶχον ἀεὶ ζῶν |/ ἐσθίων καὶ πίνων καὶ παίζων; 09/08/04 (Prusias am Hypios, 3. Jh. n. Chr.) V. 9 παῖξον καὶ γέλασον, ἐφ᾿ ὅσον ζῇς (auf einen Festspielleiter); 08/08/12 (Hadrianoi, 4./5. Jh. n. Chr.) V. 3 γνῶθι τέλος βιότου· διὸ παῖζε τρυφῶν ἐπὶ κόσμῳ (Grabepigramm auf drei verstorbene Kinder); weitere Belege bei Merkelbach/Stauber SGO 2 (2001) 205; SGO 3 (2001) 168; vgl. auch das oben in Anm. 140 zitierte Epigramm aus Rom IGUR 1274; außerdem GVI 1978 (Kaibel 261b, Obryk [2012] 28f. A8; Korkyra, 2. Jh. n. Chr.) V. 18f. mit wörtlichem Bezug zum Grab eines Bakchidas (Athen. VIII 14 p. 336 d = Preger 45, GVI 1368). – Sogar in einem christlichen Epigramm SGO 16/06/01 (Eumeneia) V. 18f. 397 Vgl. Busch (1999) 517–532; Lattimore (1962) 260–263.

1 Eingeschränkte Bedeutung schriftlicher Mustervorlagen | 135

Überdies stimmen die beiden Gedichte jeweils in der Vorstellung des Verstorbenen bis auf die durch die Namensveränderungen bedingten Modifizierungen miteinander überein.398 Hier lag sicher ein und dieselbe schriftliche Vorlage zugrunde. Das vorauszusetzende Musterformular kam aber im überschaubaren Milieu des Gladiatoren- bzw. Schauspielwesens zur Anwendung;399 vielleicht wurde es sogar ausschließlich von ein und demselben Epigrammdichter benutzt. Es existiert sogar der Fall, daß es eine zu einer bestimmten Zeit regional verbreitete Grabsentenz bis in die literarische Überlieferung geschafft hat. Ein in der Anthologia Graeca unter Soldatengräbern angeführtes anonymes Epigramm bezieht sich auf den in der Praxis häufig vorkommenden Bau eines Grabes zu Lebzeiten (AP VII 228 [HE 3846–9]; übersetzt von Ausonius epitaph. 34). In diesem Zusammenhang wird der naheliegende Wunsch zum Ausdruck gebracht, die Stätte möge möglichst lange leer bleiben und die Älteren sollten vor den Jüngeren sterben (V. 2–4):

οὔπω δ’ οὐδενός εἰμι τάφος. οὕτω καὶ μείναιμι πολὺν χρόνον· εἰ δ’ ἄρα καὶ δεῖ, δεξαίμην ἐν ἐμοὶ τοὺς προτέρους προτέρους. Derselbe Gedanke kehrt in ähnlicher Wortwahl in mindestens fünf Epitaphien aus dem Hauran wieder, die frühestens im 2. Jh., spätestens im 4. Jh. n. Chr. entstanden sind.400 Robert folgerte zu Recht daraus, auch das Gedicht der Anthologie müsse aus diesem geographischen Bereich stammen.401 Denn daß es aus einem (Muster-)Buch kommt, welches zwar in die literarische Überlieferung der Anthologia Graeca eingegangen wäre, dessen Wirksamkeit sich aber ausschließlich in

|| 398 SGO 09/06/05 V. 3f. οὗ πατρὶς Ἀπά|[μει]α, νῦν δὲ Νικομηδείας με | [γ]αῖα / πρὸς δάπεδον κατέχει με | μίτος καὶ νήματα Μοιρῶν. – SGO 17/10/05 V. 3f. οὗ πατρὶς ἦν | Λιβύη· νῦν δὲ | Ξάνθοιό με | γαία / Αὐξάνι|ον δάπεδον | κατέχ̣ει σὺν | δόγματι Μοι|ρο̑ν (Peek GVI 621 vermutet αὖ ξέ͙νι|ον). 399 Vgl. auch den Beginn für Gladiatorenepigramme τὸν θρασὺν ἐν σταδίοις nach dem Index in SGO 5 (2004) 194. 400 In enger Verwandtschaft stehen: SGO 22/23/01 (auch dort V. 4 ἐσθλῆς ἐκ στρατιῆς Hinweis auf ein Soldatenepigramm, wodurch die diesbezüglichen Zweifel von Gow/Page für AP VII 228 ausgeräumt werden können) V. 4–6 νῦν οὐδενός εἰμι τάφος· |/ οὕτω καὶ μείνεμι πολὺν χρόνον. ἰδ᾿ ἄρα κὲ δῖ |/ δεξαίμην γηράσκοντας, εὐδαίμονας τεκνώσαντας; SGO 22/44/01; 22/44/02; 22/10/99; außerdem SGO 22/13/01 (vgl. V. 6). – Mit einem weiteren Epigramm des 2./3. Jh. n. Chr. aus dem Hauran auf einen Offizier Aineias (SGO 22/14/02) stimmen die Eingangswort αὐτῷ καὶ τεκέεσσι überein. 401 L. Robert, Hellenica XI (1960) 320–327, hier 323f. Anm. 7; danach Sartre-Fauriat (1998) 219, (2001) 202f., Garulli (2012) 150–158. Christian (2015) 69–72 sieht in dem epideiktischen Epigramm AP XI 312 (Lukillios; vgl. Höschele [2010] 86–88) eine Anspielung auf dieses Muster.

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den benachbarten Epigrammen des Hauran abzeichnete, ist unwahrscheinlich.402 Die enge Verwandtschaft zu den Epigrammen aus Syrien weist außerdem auf eine spätere Datierung als diejenige, die Gow/Page, welche das Epigramm der Meleagersammlung zuschlagen, vermutet hatten. Jedenfalls gibt es keine plausiblere Möglichkeit, als das literarisch überlieferte Gedicht zu der epigraphisch belegten Gruppe zu stellen, deren übereinstimmendes Kompositionsschema sich aus der Dichtungspraxis eines eng begrenzten Gebietes erklären läßt.403 Ein Zeugnis aus Kleinasien, für welches in der Tat die Bekanntheit mit einem Epigrammbuch die Komposition beeinflußt haben muß, nimmt schon aufgrund seiner Entstehungsbedingungen eine Sonderstellung ein. Der auf einem dekorierten Grabmonument in Xanthos angebrachte Nachruf auf den lykischen Dynasten Gergis ist eines der frühesten Epigramme Kleinasiens überhaupt aus dem Ende des 5. Jh. v. Chr. Es dürfte bei einem zwar professionellen, aber nur mittelmäßig begabten, vielleicht aus Athen stammenden Dichter in Auftrag gegeben

|| 402 Bei einer weiteren epigraphisch-literarischen Doppelüberlieferung eines syrischen Epigramms handelt es sich um ein Distichon auf einem Grabmal aus dem syrischen Emesa (SGO 20/07/02; 537/8 n. Chr.), das wahrscheinlich ein berühmteres Epigramm des Philosophen Damaskios auf eine gleichnamige Verstorbene kopiert (so Del Barrio Vega [2008] 148), wie es in der Anthologia Graeca VII 553 unter dem Namen des Neuplatonikers, vielleicht über Agathias vermittelt, überliefert ist; zuletzt Garulli (2012) 100–102; Aliquot (2013), wobei allerdings eine direkte Übernahme der syrischen Steinüberlieferung in die Anthologie unwahrscheinlich ist. – Ein anders gearteter doppelter Überlieferungsfall, wenn auch nicht von Sepulkraldichtung, liegt vor in einer distichischen Sentenz über den Neid, der Auge und Herz des Neiders zerstört. Diese ist zum einen in AP XI 193 anonym zwischen Epigrammen des Lukillios überliefert, zum anderen erscheinen dieselben Verse in einem frühbyzantinischen Mosaik aus Berytos (SGO 20/11/02), außerdem mit leichter Variation auf einem zu Lebzeiten gesetzten privaten Grabmal in Lyon als Zusatz zu einer lateinischen Prosainschrift (Kaibel 1115) und in stärker abgewandelter Form auf einer Säule im phrygischen Dokimeion (SGO 16/53/06); vgl. zu den zwei letztgenannten L. Robert OMS VI 312 (1978). Das Distichon wurde von Hieronymus in seinem Kommentar zum Galaterbrief III 5 (auch Anth. Lat. 485b Bd. I 2 p. 28) in lateinischer Übersetzung eines Neoterikers (quidam de neotericis; vgl. Friedrich [2002] 371f.) wiedergegeben; vgl. zum Gedanken Isokrates Euagoras 6 (Kaibel nach Jacobs); Merkelbachs Kommentar zu SGO 16/53/06. Das Sprichwort in Form des elegischen Distichons kann inhaltlich nicht unter eine Mustersammlung von Grabinschriften gehören. Es dürfte eher durch eine Sentenzensammlung als durch eine autorisierte literarische Epigrammsammlung in Umlauf gekommen sein. 403 Vgl. z. B. das in Mysien am See von Daskyleion und in Kyzikos nachweisbare jeweils fehlerhaft ausgeführte Vers-Konstrukt SGO 08/04/05. 99; 08/01/44; 08/04/06 V. 1f. καὶ σύ γε, ὦ

παροδεῖτα, χάροις, ὅτι τοῦτο | τὸ κοινὸν / εἶπας ἐμοὶ “χαίρειν”, εἵνεκεν | εὐσεβίης.

1 Eingeschränkte Bedeutung schriftlicher Mustervorlagen | 137

worden sein.404 Der Anfang lautet (SGO 17/10/01; CEG 177, Obryk [2012] 82f. C2; vgl. Meiggs/Lewis [1988] Nr. 93):

[ἐ]ξ οὗ τ’ Εὐρώπην [Ἀ]σίας δίχα πόν[τ]ος ἔνε‹ι›μ[ε]ν Von der auch sonst im Gedicht feststellbaren Fehlerhaftigkeit der epigraphischen Abschrift abgesehen, stimmt dieser Auftakt wörtlich mit dem Beginn eines in der griechischen Literatur häufiger zitierten und in die Anthologie unter dem Namen des Simonides übernommenen Epigramms überein (AP VII 296 [Diod. XI 62, 3 u. ö.; FGE 870–7, dort als ursprünglich echtes Steinepigramm datiert auf 450/449 v. Chr.] V. 1):

ἐξ οὗ γ’ Εὐρώπην Ἀσίας δίχα πόντος ἔνειμε Schon Reitzenstein (1893) 114–116, der in sehr komplizierter Argumentation das Ps.-Simonideische Epigramm als rein epideiktisch einschätzte und es nach Keil als Nachahmung eines älteren Originals betrachtete, kam hier zu dem nächstliegenden Schluß, daß dem Dichter des Gergis-Epigramms eine schriftliche Fassung des Simonideischen Gedichtes bekannt gewesen sein dürfte. Er stützte dadurch und aufgrund einer fraglichen Anspielung auf den Anfang des Simonideischen Epigramms bei Isokrates (paneg. 178f.) seine These, daß gegen Ende des 5. Jh. v. Chr. bereits eine Sammlung vorgelegen hat, in welcher Steinepigramme unter dem Namen des berühmten Dichters aus Keos gesammelt wurden. Das Simonides-Zitat ist demnach keinesfalls ein Indiz der Benutzung allgemeiner Vorlagenbücher für Grabepigramme im privaten Bereich, sondern hier hat der beauftragte Poet in dichterischer Freiheit auf ein in die literarische Überlieferung eingegangenes ‚klassisches Epigramm‘ zurückgegriffen, um für den geschulten Leser signalhaft das Wirken des Dynasten als ‚welthistorische Tat‘ zu stilisieren. Damit gehört dieses Beispiel in den Zusammenhang der Anverwandlung der literarischen Tradition insgesamt (Kap. IV). Es kann nicht dafür geltend gemacht werden, daß sich Epigrammdichter im allgemeinen an anlaßbezogenen literarischen Sammlungen orientierten, geschweige denn daß sie schematisch Versatzstücke aus eigens dafür eingerichteten Vorlagenbüchern übernahmen. Das Dynastengedicht aus Xanthos zeigt vielmehr, daß den Auftragsdichtern, gemäß ihrem Bildungsstand und Spezialisierungsgrad, in Buchform verbreitete

|| 404 Außer dem im folgenden erwähnten Bezug gibt es in V. 5f. ἀριστεύσας τὰ ἅπαντα / [χε]ρσί eine Anlehnung an Sophokles Trach. 488 πάντ᾿ ἀριστεύων χεροῖν; vgl. zu V. 9 Anm. 282. Die Beeinflussung durch das athenische Epigramm von 376/5 v. Chr. CEG 890 ist nicht nur aus chronologischen Gründen zweifelhaft. Die Abfolge von Hexameter und Pentameter ist unregelmäßig; es ist nicht ausgeschlossen, daß ein unkundiger Steinmetz, der auf den anderen Seiten lykische Texte einzumeißeln hatte, seine Vorlage umgestellt und gekürzt hat.

138 | V Epigraphische Muster: „pattern-books“ und Standardverse

literarische Epigrammkollektionen neben anderen, als mustergültig angesehenen Werken dazu dienen konnten, die eigene situationsbezogene Poesie in Orientierung an namhaften und anerkannten Größen der literarischen Epigrammatik zu professionalisieren (zum Rückgriff auf die hellenistische Epigrammatik oben S. 113ff.). In Bezug auf solche fast nur noch in der Anthologie repräsentierte Gedichtsammlungen darf genauso wie für Homer, der ungleich stärkere Wirkung auf die Steinepigrammatik hatte, ausschließlich in einem generellen Sinne von literarischen Mustervorlagen gesprochen werden, wenn sich gattungsspezifische Wendungen aus vorbildhaften Literaten in der praktischen Steindichtung durchsetzten oder sich bisweilen als eine Koine sepulkraler Diktion verselbständigten (dazu auch unten S. 143 mit Anm. 420).

2

Kommemorative Muster: Der „Spruch des Kerellaios“

Ein Sonderfall eines auf Grabmälern überregional und über längere Zeitphasen hinweg anzutreffenden Doppelverses stellt der sogenannte „Spruch des Kerellaios“ dar. Aufgrund seiner weitgestreuten Überlieferung haben Guarducci (1952), Griessmair (1966) und mit einer Liste von Belegstellen Drew-Bear (1979) sowie daran anschließend zuletzt Lougovaya (2011)405 dieses Dictum als Indiz für eine über Jahrhunderte hinweg benutzte schriftliche Mustervorlage angesehen. In dem in Frage stehenden Distichon wird der Umstand, daß ein junger Mensch vor seinen Eltern stirbt, als besonderer Trauerfall von der allgemeinen Sterblichkeit des Menschen abgehoben. Der hier als Überschrift gewählte Name des Ausspruchs geht auf einen Grabstein im lykischen Bubon für einen Aurelios Eutychides (überliefert: Εὐτυχί[δῃ]) zurück. Dort erscheint im 3. Jh. n. Chr. ein

|| 405 Vgl. Guarducci (1952) 343; Griessmair (1966) 27; Drew-Bear (1979) nicht ohne Vorsicht S. 316: „This phenomenon [sc. die zeitliche und geographische Streuung] invites consideration of the question of ‚models‘ for funerary epigrams which are assumed to have circulated (in the form of books written for this purpose) (…). It may be suggested that groups of this sort of moral topoi could well have been widely diffused in collections of popular verses not necessarily limited strictly to subjects suitable for funerary epigrams; on the other hand, one must not forget the importance of learning by memory and oral instruction in antiquity (…).“ – Lougovaya (2011) 314f., die die Belege nach einem Vorschlag von M. B. Wallace drei geographischen Gruppen zuordnet, ohne daraus Erkenntnisse zur Überlieferungs- oder Entwicklungsgeschichte des Motivs gewinnen zu können (vgl. ebd. 299); ebd. 299 Anm. 7: „I am tempted to imagine a Hellenistic stone-cutter or a poet (or a single person serving as both) compiling or composing a book of epigrams that offered both variants.“

2 Kommemorative Muster: Der „Spruch des Kerellaios“ | 139

Hinweis auf den angeblichen Urheber des populären Ausspruchs, wenn einleitend gesagt ist (SGO 17/02/01):406

Κερελλαῖος | μαντιάρχης ταῦτα λέγει. Dennoch kann im Anschluß an diese Überschrift keineswegs eine Originalfassung des Distichons zu lesen sein, wenn es heißt (V. 1f.):

oὐ κακόν ἐστι τὸ θανεῖν, ἐπεὶ | τό γε Μοῖρ᾿ ἐπέκλωσεν, [ἀλ]λὰ πρὶν ἡλικί|[ας καὶ γονέων πρ]ότερος. Die Verse weisen offensichtliche Fehler auf. Statt oὐ κακόν ἐστι τὸ θανεῖν (V. 1) müßte allein aus metrischen Gründen die Satzstellung in einer mustergültigen Version gelautet haben: oὐ τὸ θανεῖν κακόν ἐστι(ν).407 Darüber hinaus läßt der Vergleich mit anderen Varianten des Spruchs klar werden, daß der für die Inschrift Verantwortliche aus Bubon sich nur rudimentär an den Wortlaut des in seiner etwaigen Urform metrisch und grammatisch wohl unanstößigen Distichons erinnern konnte, er andererseits das Erinnerungsdefizit nicht durch eigene sprachliche und prosodische Kenntnisse des Griechischen auszubügeln wußte. Er bietet in der ersten Vershälfte von V. 1 nicht den mehrheitlich überlieferten Wortlaut (siehe das Folgende) und hat am Ende statt des adverbialen πρότερον, in der Absicht, damit den personalen Bezug auf den männlichen Verstorbenen anzuzeigen, ein grammatisch fehlerhaftes [πρ]ότερος (V. 2) gesetzt. Der Ausspruch dürfte in dieser mißglückten Variante wohl kaum unter dem Namen eines Dichters schriftlich umgelaufen sein. Der Verfasser der Inschrift war vielleicht über den angeblichen Autor ebensowenig im Bilde wie über den Wortlaut selbst. Und so könnte denn auf den ersten Blick mit dem Κερελλαῖος μαντιάρχης, der die Worte „ausspricht“ (ταῦτα λέγει), genauso gut ein Bekannter aus dem Umfeld oder ein Angehöriger des Verstorbenen, vielleicht dessen Vater, gemeint sein.408 Man braucht es angesichts einer ursprünglichen Zielsetzung, der Inschrift aus Bubon mit allen Mitteln einen seriösen Glanz zu verleihen, nicht

|| 406 Kokkinia (2008) Νr. 38. Die Einleitung erinnert, wie schon Heberdey/Kalinka (1897) 40f. zu Nr. 58 bemerkt haben, an die Formulierung einer sehr fragmentarischen Grabinschrift aus Kibyra, wo in ähnlicher Weise ein Ausspruch, der auf das fiktive Grabepigramm des Choirilos von Iasos (SH 335 [oder Choirilos von Samos, vgl. Radt zu Strabon XIV p. 672, 6f.] V. 4 ταῦτ᾿ ἔχω, ὅσσ᾿ ἔφαγον) für den legendär lebensfreudigen Perserkönig Sardanapalos zurückgreift (vgl. S. 133f. mit Anm. 395), vielleicht dem Mimendichter Philistion zugeschrieben wird; vgl. IK 60 Kibyra Nr. 362, 4f. ἃ ἔφαγον ἔχω, ἃ κατέλιπον ἀπώλεσα· ἀληθῶς εἶπε | Φιλιστίων. – Vgl. auch den mit Bezug auf Philistion zitierten Ausspruch eines Mimendarstellers im Sinne der Sardanapal-Inschrift SGO 17/09/01 (Patara, Kaiserzeit) V. 8 τ̣έ̣[λος] ἔ̣χ̣ε̣ι τὸ παίγνιον. 407 Das wurde von Griessmair (1966) 24 nicht gesehen und falsch zitiert. 408 Vgl. Pasquali (1950) 352.

140 | V Epigraphische Muster: „pattern-books“ und Standardverse

einmal für ausgeschlossen zu halten, daß die Urheberangabe frei erfunden wurde, um die allgemein bekannte und nicht sonderlich einfallsreiche Sentenz möglichst feierlich einzuleiten. Nicht nur die sonst unbelegte griechische Namensform Κερελλαῖος läßt dies vermuten, sondern auch der den Weisheitsanspruch betonende Zusatz, wonach diese Person μαντιάρχης409 gewesen sei. Wenn überhaupt ein gängiger Name in Betracht gezogen werden kann, dann dürfte hinter dem KΕΡΕΛΛΑΙΟΣ am ehesten der in der Kaiserzeit, unter anderem für einen Asiarchen (Campanile [1994] Nr. 175) und einen Epigrammdichter (vgl. AP XI 129. 144 [inc. οὐ τὸ λέγειν]), belegte Namen ΚΕΡΕΑΛΙΟΣ stehen.410 Letzterer könnte aus Unsicherheit bei der Lesung der ursprünglichen Buchstabenfolge ΑΛ durch Vertauschung verbunden mit Dittographie in Form von ΛΛΑ auf dem Stein zu ΚΕΡΕΛΛΑΙΟΣ geworden sein. Daß es sich bei dem auf die römische Zeit verweisenden Namen schwerlich um den Erfinder des Distichons handeln kann, ergibt sich aus dem ältesten Beleg für den Ausspruch (GVI 1663; Geffcken 157):

[οὐ τὸ θανεῖν ἀλγ]εινόν, ὅπερ καὶ π͙ᾶσ[ι411 πρό]κειται, [ἀλλὰ πρὶν ἡλικία]ς καὶ γονέων πρότερον. Dieses aus Rhodos stammende Zeugnis, welches in der zweiten Hälfte des ersten Verses gegenüber dem Epigramm aus Bubon stark differiert, muß aufgrund seines Schriftduktus, der nur in einer einzigen Abzeichnung bezeugt ist, in das 4./3. Jh. v. Chr. datiert werden. Margherita Guarducci (1952) wollte deshalb in dem in Bubon als „Autor“ (λέγει) genannten μαντιάρχης entsprechend den Belegstellen für diesen Titel (vgl. Anm. 409) einen hellenistischen Orakelpriester der Aphrodite von Paphos zum Erfinder des Spruches machen.412 Andererseits deutete sie dessen Name Kερελ-

|| 409 Vgl. Guarducci (1952) 344f. gegen die in der ed. pr. von Heberdey/Kalinka (1897) 40 Nr. 58 eingeführte Deutung als Eigenname. Vgl. Hupfloher (2009) 288–290 mit Anm. 119 zur kaum ersichtlichen Funktion der in Kleinasien außerdem nur noch in Ephesos (IK 14 Nr. 1044, 20) belegten Titelträger; auf Zypern ist die Bezeichnung μαντίαρχος/-άρχης ab dem 3. Jh. v. Chr. für mantische Spezialisten bezeugt. 410 Vgl. auch Kokkinia (2008) zur Stelle. 411 Die Abschrift bietet Β statt Π. 412 Vgl. Guarducci (1949) und (1952) 343f. in Reaktion auf die zu Recht ablehnende Haltung von Pasquali (1950).

2 Kommemorative Muster: Der „Spruch des Kerellaios“ | 141

λαῖος als singuläre Form der Wiedergabe des aus dem Εtruskischen stammenden nomen (gentile) Caerellius (oder lat. Cerellius);413 demzufolge war sie gezwungen, die rhodische Inschrift mit Verweis auf die mögliche Unzuverlässigkeit der Abschrift in die Zeit des 2. Jh. v. Chr. zu datieren, in der sie frühestens das Vorkommen eines Mannes italischer Abstammung als Priester auf Zypern für möglich hielt. Man wird aber nicht umhin können, den im lykischen Bubon erwähnten Sprecher des Distichons mit römischem bzw. nur in der Kaiserzeit belegten Namen als Urheber auszuschließen.414 Auch textlich unterscheidet sich die auf Rhodos repräsentierte früheste Version der metrischen Sentenz von der späten Überlieferung in Bubon erheblich. Und anders als diese kann das rhodische Distichon metrisch korrekt wiederhergestellt werden. Dennoch scheint es so zu sein, daß die in ihrer Textgestalt singuläre Version aus Rhodos,415 obgleich älter, von einer Art Vulgata-Version stärker abweicht als das Epigramm aus Nordlykien. In Richtung der dortigen Formulierung weisen nämlich die allermeisten anderen Varianten des Spruchs, besonders ein vorchristliches Beispiel von Kreta, das sich auf ein verstorbenes Mädchen namens Βούλα bezieht (I.Cret. I, XVI Nr. 50: Lato, 1. Jh. v. Chr):

οὐ τὸ θαν(ε)ῖν ἀλ|γεινόν, ἐπεὶ | τό γε Μοῖρ(α) ἐπέ|κλωσε, | ἀλλὰ πρὶν ἡλικίας | καὶ γονέων προ|τέραν. Einem etwaigen ‚Archetypos‘ dürfte dieses relativ frühe Zeugnis bis auf die Abweichung in V. 2 προτέραν (statt πρότερον), die aus der Anpassung an die weibliche Verstorbene resultiert, sehr nahe kommen. Daß die Urform im ersten Vers die Formulierung ἐπεὶ τό γε Μοῖρ᾿ ἐπέκλωσεν enthielt, läßt die Häufigkeit dieser

|| 413 Nach Pasquali (1950) 351 mit Bezug auf Schulze (1904) 271. 441, dort Anm. 4 mit Verweis auf I.v.Pergamon Nr. 395 (kaiserzeitlich) Z. 10, wo der lateinische Name mit Καιρέλλιος wiedergegeben ist. Es sei noch auf eine der gens Cerellia zugehörige Priesterin ἱέρεια Κερελλία (ΙΚ 21 Νr. 287, 2) aus dem Zeusheiligtum von Panamara verwiesen; SEG 58, 709 Φλ(αούιος) Κερέλ(λ)ιος Σκέλ̣[ης]. – Irreführend ist Pasqualis Hinweis auf Schulze (1904) 387, um die in der Bubon-Inschrift vorliegende Endung ‑αιος als Wiedergabe von lat. ‑ius plausibel zu machen, denn dort geht es um die Umgestaltung der ursprünglichen etruskischen Form ‑aius zu ‑eius (daraus ‑ius) im Lateinischen; nach dieser Logik hätte sich in der griechischen Namensform der späten Kaiserzeit eine etruskische Endung erhalten. Wie oben gezeigt, scheint die Inschrift eher auf die gut belegte griechische Namensform Κερεάλιος (Cerealius) zu führen. 414 Ablehnend auch Drew-Bear (1979) 311f.; Kokkinia (2008) zur Stelle. 415 Nur eine späte, christliche Grabinschrift aus Appia greift die Formulierung des ersten Verses auf; vgl. SGO 16/31/83 Z. 8–10 μαὶ (= μὴ) γὰρ τὸ θα|νῖν ἀλγινόν, τοῦτο πᾶσι | πρόκιται.

142 | V Epigraphische Muster: „pattern-books“ und Standardverse

Grundvariante, die im einzelnen weitere Umgestaltungen erfahren kann, vermuten.416 Eine wohl sekundäre, kleinere Überlieferungs-Gruppe von mindestens drei sicheren Zeugnissen bietet in der zweiten Hälfte des ersten Verses den Kausalsatz: ἐπεὶ τόδε πᾶσι πέπρωται.417 Eine Vielzahl weiterer Inschriften zeigt den freieren Umgang mit dem Sprichwort bzw. mehr das Wirken seines Grundgedankens, als daß der Versuch unternommen würde, es in einem Doppelvers wiederzugeben.418 Mit einem gewissen poetischen Anspruch ist der Spruch in einem neuen Zeugnis aus Araxa kreativ umgestaltet, wenn es zum Abschluß des langen Gedichtes heißt (*17/23/01 [unten S. 264ff.] V. 11f. mit Anmerkungen):

|| 416 Vgl. neben den beiden angeführten Epigrammen weitere zehn: SGO 03/07/20 (Erythrai; in V. 2 τὸ πρίν statt πρίν); 05/01/60 (Smyrna; V. 1 λυπηρόν statt ἀλγεινόν und τάδε statt τό γε); 08/01/52 (Kyzikos; späthellenistisch oder frühe Kaiserzeit [nach Pfuhl/Möbius II (1979) Nr. 1301, Taf. 192]); 09/04/07 (Prusa am Olympos); 09/04/10 (Prusa am Olympos; durch Variationen metrisch verunstaltet); 09/05/39 (Nikaia; nicht bei Drew-Bear [1979]; V. 1 ὅ γε statt τό γε und V. 2 παρ᾿ ἡλικίῃ καί statt παρ᾿ ἡλικίην καί [falls nicht Ligatur H͜N͜K] und πρότερος γονέων); 16/34/35 (Dorylaion; λύπη|σε‹ν› statt ἀλγεινόν, V. 2 ἀλλὰ πρὶν ἡλ̣ι̣|[κί]ης καὶ ἥβης μέτρον ἱκέσ|[θαι]); Peek (1981) 289f. Nr. 1 (Karystos, „frührömisch“; ἐπείπερ statt ἐπεὶ τό γε, V. 2 [μ]ητρὸς ἐμῆς statt καὶ γονέων); GVI 1667 (Mytilene IG XII 2, Nr. 467, „infimae aetatis“; [λυ]πηρόν statt ἀλγεινόν und ἐπὶ Μοί|[ρη τόδ’ ἔκλωσεν]); Vaxevanis/Antoniadis (2009) 492f. (Böotien/Lukisia, Kirche Hagios Georgios [ant. Messapion], nicht datiert; Edition EΠΕΙΤΑ ΔΕ statt ἐπεὶ τό γε). 417 Vgl. SGO 04/19/03 (Iaza; [ἐ]π̣ὶ τόδε πᾶσιν [πέπρωτ]ε); 16/22/02 (Tiberiopolis; [ἐπεὶ] τό[δ]ε πᾶσι πέπρωται); 16/31/76 (Appia/Soa; nicht bei Drew-Bear [1979]; ἐ̣π̣ὶ τό[δ]ε π[ᾶσι πέπρωται], theoretisch auch [πρόκειται] möglich; im folgenden stark abgewandelt); 04/12/02 (Saittai; ἐπειδὴ πᾶσι πέπρωται). 418 Vgl. SGO 16/25/01 (Kadoi; variiert zu ἐπ(ε)ὶ ἦ τόδε πᾶσι μετρε͙ῖ͙ται [Ed. pr. Drew-Bear (1979) liest H; ich meine aber, auf dessen Tafel VII das richtige EI in kleinen hochgestellten Buchstaben zu sehen.]); 05/01/90 (Smyrna; unvollständig, ohne Kausalsatz); 16/32/96 (Kotiaeion; fragmentarisch, Kausalsatz unklar); 08/04/98 (Daskyleion/Mysien; nicht bei Drew-Bear [1979]; fragmentarisch, Kausalsatz unklar); *16/64/01 (Alia/Phrygien; fragmentarisch, stark umgestaltet) Z. 1-3; SEG 47, 857 (Apollonia/Illyrien; nicht bei Drew-Bear [1979]; ohne den üblichen Kausalsatz im ersten Vers) Ἐπεὶ τὸ θανεῖν οὐκ ἦν ἐλεεινόν, | ἀλλὰ πρὶν ἡλικίης καὶ γονέων πρoτέρα· | Σαλβία, ἐτῶν ζ⸍, χαῖρε. – In weiteren, nicht bei Drew-Bear (1979) aufgeführten Inschriften sind Reflexe des bekannten Gedankens mehr oder weniger stark zu spüren; vgl. SGO 10/02/94 (Kaisareia-Hadrianopolis; 223 n. Chr.) Z. 3 ὅτις παρ’ ἡλικίην θάνε καὶ πρότερος γονέων; Varinlioğlu (1991) 94 Nr. 4 (Lydien, 244/45 n. Chr.) Z. 2–4 Τατιανὸς Τατιανῆς λυποῦ|με, ὅτι πρὶν τῶν γονέων ἔ|θανον; *09/04/13 (Prusa ad Olympum) Z. 5–7 τί μ᾿ ἀναγινώσκις δακρ̣ύων, ξ̣ένε; | οὐ λυποῦ· λυποῦμε θάνατον ἄω[ρον] πρὶν γονέων. | v χ῰ρε; *09/04/14 (Prusa ad Olympum) Z. 2–4 οὐ λυπ‹η›ρὸν μὲν | τὸ θανεῖν, πλὴν ὅτι π|ρὶν γονέων; *08/07/98 (Hadrianeia) Z. 2–3 ἀλλὰ πονεῖ μοι, ὅτι π[ρότερον] | γ̣ο[ν]έων ἔθανον καὶ [– – –]; *16/31/68 (Appia) Z. 3–5.

2 Kommemorative Muster: Der „Spruch des Kerellaios“ | 143

ἄλγος δ᾿ οὐ τὸ θανεῖν, ὅτι μόρσιμόν̣ [ἐστιν ἑκάστῳ,] ἀλλ᾿ ὅτι πρὶν τοκέων ἡλικίης τ̣[ε πάρος.] Allein die Tatsache, daß dort die Sentenz im Verbund mit anderen Versen erscheint, ist schon eine Ausnahme.419 In zwei anderen Fällen folgt auf das variierte Distichon zunächst ein weiterer ‚Standardvers‘, der seinerseits wiederum aus regional verschiedenen Grabepigrammen auf vor der Ehe Verstorbene bekannt ist420 (SGO 16/22/02 [Tiberiopolis] V. 3; entspricht 16/25/01 [Kadoi, 150–250 n. Chr.] V. 3):

οὐ γάμον οὐχ ὑ|μέναιον ἰδών, | οὐ νύμφια λέ|κτρα.

|| 419 Vgl. Peek (1981) 289f. Nr. 1 (Karystos), im Anschluß an zwei Distichen auch am Ende, auf dem Stein klar abgesetzt; SGO 16/31/76 (Appia/Soa), die Verse eingebettet und stark abgewandelt; 16/34/35 (Dorylaion) drei metrisierenden Versen vorangestellt; 08/04/98 (Daskyleion), vielleicht mit einem Einschub abgewandelt; zu ΙΜΕG 22 II V. 1–2 vgl. S. 274. 420 Vgl. GVI 1853 (Raffeiner 21; Carnuntum/Pannonien, 1. Jh. n. Chr.) V. 1 [οὐ γάμον ο]ὐ̣δ̣᾿ ὑμέναιον ἰδ|[ὼν οὐ νύ]νφια λέκτρα; SGO 15/03/06 (Pessinus, 3. Jh. n. Chr. [?]) οὐ γάμο|ν οὐκ ὑ|μέναια οὐ νύν|φια λέκτρα, dort metrisch verunstaltet; GVI 811 (Kurion, 1. Jh. n. Chr.) V. 5 [οὐ γάμον οὐχ] ὑμέναιον ἰδὼν γλύκυν, ἀλλὰ | [– – –], wahrscheinlich erste Vershälfte; GVI 1821 (Athen, 2. Jh. v. Chr.) V. 1 οὐ γάμος οὐδ᾿ ὑμέναιος ἔμεινέ με | τλήμονι μοίραι, Anfang umgestaltet; GVI 1826 (Gonnoi/Thessalien, 2./3. Jh. n. Chr.) V. 1f. οὐ γά[μον] οὐδ᾿ ὑ|μέναιον ἐσέδρακον, | ἀλλά με Μοῖρα / ἤγα|γε; GVI 2038 (= GG 471; Thasos, um 100 v. Chr.) V. 19 οὐ γάμον οὐχ ὑμέναιον ἐμοὶ φ̣ί̣[λα – – –], nur der Anfang aufgegriffen (ebd. V. 25 ἁ πάρος εὔπαις ein deutlicher Bezug zu Antipatros von Sidon APl XVI 131 [GP 547–56 Antipatros von Thessalonike, in EG 3836–45 berichtigt; aufgrund der Datierung der Inschrift ist nur A. von Sidon möglich, da die wörtliche Übereinstimmung kein Zufall sein kann.] V. 5); SGO 09/06/09 (AP VII 627; Diodoros) V. 1 νυμφικὰ λέκτρα, nur der Einfluß spürbar; 16/46/02 (Vetissos, wohl kaiserzeitlich) V. 1 ο̣ὐ̣ γάμον οὐ θάλαμον γαμβ|ροῦ ἴδον οὔθ᾿ ὑμέναιον, stark umgeformt. Bemerkenswert ist die wörtliche Übereinstimmung des Verses in dem wahrscheinlich korrekt ergänzten Gedicht aus Carnuntum und den beiden etwas jüngeren Zeugnissen aus Phrygien. Für diesen wohlgestalteten ‚Formelvers‘ möchte man eine literarische Vorlage vermuten, da er für sich genommen keine geschlossene Syntax bietet und daher nicht als eigenständiges memorierbares Sprichwort umgelaufen sein dürfte; das wird auch dadurch nahegelegt, daß Kallimachos den Gedanken literarisch gestaltet zu haben scheint (fr. 63, 11 Pf.): [πρὶν] πόσιν ἐλθέμεναι, πρὶν νύμφια λέκτρα τελέσσαι (dies vielleicht in SGO 04/07/05 V. 3 im Hintergrund) und Meleager VII 182 (HE 4680–7; Tod in der Hochzeitsnacht) V. 1 mit dem markanten οὐ γάμον einleitet. – Die Verunstaltung des Verses in Pessinus wiederum führt zu dem Schluß, daß er dort dem Autor der Grabinschrift nur in der Erinnerung vorschwebte. – Der Hexameter stammt vielleicht aus einem nicht mehr greifbaren literarischen Gedicht und ist von daher in die sepulkrale Sprache eingegangen. Der Erfinder des Originalverses hatte möglicherweise Antigones Worte über ihren verfrühten Tod im Sinn (Soph. Ant. 916–918): καὶ νῦν ἄγει [sc. Kreon] με διὰ χερῶν οὕτω λαβὼν /

ἄλεκτρον, ἀνυμέναιον, οὔτε του γάμου / μέρος λαχοῦσαν οὔτε παιδείου τροφῆς.

144 | V Epigraphische Muster: „pattern-books“ und Standardverse

Diese Koppelung reicht dennoch nicht hin, um die beiden Gedichte für die These eines Musterbuchs geltend zu machen. Hier hat wohl ein und derselbe Dichter die gängigen Formulierungen zusammengebracht, oder die besser gestaltete Inschrift aus Tiberiopolis hat auf die Formulierung in Kadoi eingewirkt, denn die infrage kommenden Steine wurden anders, als es die städtische Zuordnung in SGO erahnen läßt, an Orten gefunden, die weniger als 10 km beieinanderliegen (SGO 16/22/02 bei Yenice, 16/25/01 Hasanlar). Abgesehen von diesen wenigen Ausnahmen wurde der sprichwörtliche Gedanke in der Regel auf Gräbern verwendet, die sonst kein Anzeichen von poetischer Gestaltung zeigen. Wie insgesamt zu sehen war, wechselt die Formulierung des Spruches, oft bis zur metrischen Unkorrektheit, so stark, daß es innerhalb der gesamten epigraphischen Überlieferung keine zwei völlig identische Versionen gibt. All diese Anzeichen weisen nicht in Richtung schriftlicher Mustervorlagen, die über die Zeiten hin kursierten, sondern lassen es plausibel erscheinen, daß den epigraphischen Belegen ein auf Frühverstorbene allgemein umlaufender Ausspruch zugrunde liegt, welchen gerade sprachlich-poetisch unerfahrene Familienangehörige oder gar die von ihnen beauftragten Steinmetzen leicht aus dem Gedächtnis schöpfen konnten. Die Sentenz wurde dann, gerade wie sie vorschwebte, recht unbedarft auf vorzeitige Todesfälle, die nach einer besonderen Würdigung verlangten, übertragen. Die Art und Weise, dem jung Verstorbenen, soweit nur irgend möglich, ein über das Normale hinausgehendes Gedenken in Form einfachster ‚poetischer Sprache‘ zu verschaffen, entspricht der stupiden Anfügung der Homerfloskel τὸ γὰρ γέρας ἐστὶ θανόντων in Grabinschriften (oben S. 68-70).

3

Formelhafte Muster: Metrische Flüche aus Phrygien

Die Konvention, in sepulkralen Inschriften eine Verwünschung auszusprechen für den Fall, daß ein Fremder die Grablege antasten oder gar weiternutzen würde, war im antiken Anatolien weit verbreitet. Strubbe (1997) hat die epigraphischen Zeugnisse, deren frühestes aus Kyaneai vielleicht um 380 v. Chr. zu datieren ist (Strubbe 376), die aber in ihrer Masse in die Kaiserzeit, vor allem ins 3. Jh. n. Chr. gehören, mustergültig dokumentiert.421

|| 421 Grundlegend außerdem Strubbe (1991); vgl. auch Robert (1978) 241–269.

3 Fluchformeln aus Phrygien | 145

Neben prosaischen Formen solcher aus Interdiktion („Wer das Grab anrührt …“) und Fluch („Dem soll beschieden sein …“) bestehenden Warnungen läßt sich über Kleinasien verteilt eine ganze Reihe singulärer, individuell gedichteter Grabflüche finden.422 Die poetische Gestaltung der Warnung und Abschreckung vor Grabschändung in christlicher Ummantelung hat später Gregor von Nazianz geradezu zur epigrammatischen Kleingattung erhoben, wie eine Vielzahl der unter seinem Namen überlieferten Gedichte erkennen läßt (vgl. AP VIII 170-254).423 Im Hinblick auf die Frage nach übereinstimmenden poetischen Mustern ist bemerkenswert, daß sich in den ländlich geprägten Gebieten Phrygiens, welche überhaupt die meisten Zeugnisse solcher Verwünschungen hervorgebracht haben, neben prosaischen Formularen auch zwei feste metrische Formen des Grabfluchs etablierten.424

|| 422 *10/06/15 (Strubbe 151; Sinope) zwei Hexameter mit Anspielung auf Homer Ξ 831f.; *16/35/05 (Strubbe 208; Nakoleia) iambischer Grabfluch; *16/52/06 (Kaystrostal; nicht bei Strubbe) V. 3f. das letzte von zwei Disticha; *16/53/10 V. 8–10 (Strubbe 253; Dokimeion) Hexameter und elegisches Distichon am Ende eines Gedichtes; SGO 01/16/01 V. 5f. (Strubbe 88; Kasossos) Distichon innerhalb eines Grabgedichtes; 23/06 = 04/02/98 (Strubbe 38; Sardeis) Hexameter; 04/09/02 (Strubbe 47; Charakipolis Umgebung) Distichon; 05/05/01 (Strubbe 26; Aigai) Hexameter; 08/05/04 Z. 14–16 (Strubbe 14; Kyzikos) metrisierend; 08/06/06 (Strubbe 19; Makestos-Tal) Z. 9f. Fragment; 09/05/27 V. 4 (Strubbe 146; Nikaia) fragmentarischer Hexameter am Ende eines Gedichtes; 16/31/09 V. 2–5 (Strubbe 174; Appia/Soa) zwei Distichen am Ende eines Gedichtes, wovon das letzte bis auf eine Variante identisch ist mit 16/32/12 V. 9f. (Strubbe 185; Appia/Soa [von Merkelbach fälschlich mit „Kotiaion ?“ lokalisiert]), was für eine enge Verwandtschaft der Gedichte spricht, dazu Garulli (2012) 247f.; 16/32/07 V. 9f. (Strubbe 172; Appia/Soa) innerhalb eines langen Gedichtes; 16/41/10 Teil c (Strubbe 205; Metropolis) zwei iambische Trimeter am Ende eines Gedichtes; 16/53/08 Z. 4f. (Strubbe 255; Dokimeion) zwei daktylische Hexameter; 16/55/03 V. 15f. (Strubbe 294; Philomelion) elegisches Distichon am Ende eines auf Antipatros von Sidon (AP VII 164 [HE 302–11]) zurückgreifenden Gedichtes; 24/29 = 16/61/14 (Antiochia in Pisidien; um 300 n. Chr.) V. 4–6 Hexameter und zwei iambische Verse am Ende, dazu Garulli (2012) 253f.; 18/01/12 V. 3–6 (Strubbe 332; Termessos) Hexameter innerhalb des Gedichtes; Strubbe 401 (= I.Epidamnos 58 Z. 7–10 [Epidamnos-Dyrrhachion; nicht in GVI], für einen Phryger) Distichon am Ende eines Gedichtes. 423 Vgl. Petzl (1987) 117 Anm. 2 weitere Epigramme dieser Art; Anm. 1 Hinweise zum gesetzlichen und religiösen Hintergrund. Petzl untersucht den Bezug einiger Epigramme auf die Hierothesien des kommagenischen Königs Antiochos I. 424 In der Sammlung von Merkelbach/Stauber sind die entsprechenden Grabinschriften nur sporadisch erfaßt.

146 | V Epigraphische Muster: „pattern-books“ und Standardverse

a Der nordphrygische iambische Grabfluch Für das erste Grundmuster aus zwei iambischen Versen sei folgendes Beispiel angeführt, welches aus dem phrygischen Appia stammt und den am häufigsten belegten Wortlaut repräsentiert (*16/31/64 [Strubbe 180; Appia, 200–210 n. Chr.]):

ὃς ἂν προσοί|σ(ε)ι χεῖρα τὴ|ν βαρύφθο|νον, οὕτως | ἀώροις | περιπέ|σοιτο συ|νφορ|αῖς. „Wer immer seine neidvolle Hand an [sc. das Grab] legt, möge so in frühzeitiges Unglück hineingeraten.“ Diese Formel ist von Strubbe (1997) in Nordphrygien 57mal in verschiedensten Variationen nachgewiesen.425 Ungeachtet der zahlreichen orthographischen Abweichungen kann, um die häufigsten Varianten zu nennen, für das Relativum ὅς auch ein relativisches τίς426 gesetzt werden, statt προσοίσει das Futur προσάξει427 eintreten und anstelle des οὕτως entweder ein τέκνων (neben einem veränderten ἀώρων) als Genitivattribut zu συμφοραῖς (bisweilen auch singularisch συμφορᾷ)428 oder ein auf συμφοραῖς/συμφορᾷ bezogenes Attribut (πολλαῖς/-ῃ, ἰδίαις/-ᾳ, τοιαύταις/-ῃ429) erscheinen, wodurch die Metrik gestört werden kann. In weiteren sechs Fällen ist der zweite Fluchvers mit einer anschaulicheren, ebenfalls iambischen Verwünschung ausgetauscht (z. B. *16/31/67 [Strubbe 182; Appia, 212–220 n. Chr.]):

Ἑκά̣τ̣[η]ς μελαίνης περιπέσοιτο | [δαίμοσ]ι „(…) möge durch die Ungeister der schwarzen Hekate zu Fall kommen.“430

|| 425 Vgl. Strubbe (1997) Appendix 2, S. 285–288. Ausgenommen sind Umwandlungen in Prosa wie z. B. Strubbe 54 (südl. von Saittai, 276/7 n. Chr.). 426 Vgl. zur relativischen Bedeutung von τίς Wackernagel (1912) 28f. [995f.]; Blass/Debrunner/Rehkopf (182001) § 298,4; Βrixhe (1984) 84. 427 προσάξει SGO 16/25/02 (Strubbe 23; wahrscheinlich Kadoi [heute im Römisch-Germanischen Museum Mainz], 165/6 n. Chr.); 16/25/03 (Strubbe 24; wahrscheinlich Kadoi, gleiche Werkstatt wie das vorangehende Grabmal). 428 Strubbe (1997) 287: „The formula τέκνων ἀώρων περιπέσοιτο συνφορᾷ was typical of Akmonia.“ Hierfür 6 Beispiele. 429 In SGO 16/25/03 (Strubbe 24; wahrscheinlich Kadoi, um 165 n. Chr.) Verschreibung τοιούτῃ für τοιαύτῃ. 430 Vgl. nach Strubbe (1997) 288 weitere unter SGO aufzunehmende Inschriften: *16/31/58 (Strubbe 181; Appia/Soa); *16/31/71 (Strubbe 190; Appia/Soa); *16/31/59 (Strubbe 204; Appia/Soa); SGO 16/41/11 (Strubbe 207; Metropolis); *16/71/04 (Strubbe 222; Phrygien).

3 Fluchformeln aus Phrygien | 147

Außerdem existieren Varianten durch Umformulierungen und durch Umstellungen der Abfolge,431 aus denen klar wird, daß man sich über die iambische Metrik der Ausgangsverse nicht mehr im Klaren war. In der Regel wird das iambische Verspaar zu einer schlichten prosaischen Grabinschrift einfach nur hinzugesetzt. Daß man sich darüber hinaus die Mühe machte, auch den Rest der Inschrift metrisch zu gestalten, wird an nur wenigen Beispielen deutlich. So geht in SGO 16/31/03 (Strubbe 188; Appia, 3. Jh. n. Chr.) mit dem iambischen Grabfluch (mit fehlendem ἄν) eine leidlich hexametrische Inschrift einher. In SGO 16/23/05 (Strubbe 157; Aizanoi) folgt der Fluch mit einem gänzlich veränderten iambischen Interdiktionsvers (V. 7 ὅστις νεκρὰ|ν (in Enallage) πρόσοψιν | ἀφανίσει τέκ|νου „Wer den Anblick des toten Kindes vernichten sollte …“ [Übers. Merkelbach]) auf ein Grabgedicht. Weitere Beispiele machen den Eindruck, als habe man unter dem Einfluß der Formel auch die Sachinformationen über die Verstorbenen metrisieren wollen: *16/31/73 (Strubbe 183; Appia); SGO 16/06/04 (Strubbe 289; Eumeneia); 16/41/11 (Strubbe 207; Metropolis); 16/31/99 (Strubbe 187; Appia). Herausgestellt sei für den hiesigen Zusammenhang noch eine Inschrift aus Kotiaeion, bei der die Verfluchung in exakten Iamben und besonders anschaulich variiert ist (SGO 16/23/09 [Strubbe 163] V. 1f.):

ὑ̣δρωπικὸς | γένοιτο κ͜ὲ κλίνης βάρος. „Wassersüchtig möge er werden und (so) zu einer Last für sein Bett!“ Eine weitere, bislang in SGO unbeachtete Inschrift aus Phrygien droht mit einem Doppelfluch noch für den Fall, daß jemand den Eingang des Grabes „wegnimmt“ (*16/71/04 [Strubbe 222] V. 3). b Der ostphrygische daktylische Grabfluch Die zweite Fluchformel aus Ostphrygien zeigt nahezu einen daktylischen Hexameter, wenn es in insgesamt 39 Fällen nach einer relativ variablen unmetrischen Interdiktionsformel der Art τίς ἂν τούτῳ τῷ μνημείῳ κακὴν χεῖρα προσοίσει zum Abschluß im Fluchvers heißt432 (hier in der vulgaten Version aus dem phrygisch-galatischen Grenzland SGO 14/02/14 [Strubbe 283; Gdanmaua] V. 2):

|| 431 So in *16/31/72 (Strubbe 178; Appia). 432 Vgl. Strubbe (1997) Appendix 2, S. 289–292.

148 | V Epigraphische Muster: „pattern-books“ und Standardverse

ὀρφανὰ τέ|κνα λίποιτο χῆ|ρον βίον οἶκον | ἔρημον. „Seine Kinder möge er als Waisen zurücklassen, (seiner Frau) ein Witwenleben,433 sein Haus leer (sc. ohne Hausherrn).“ Dieser Satz stellt keinen klassischen Hexameter dar. Der unbedarfte Zeitgenosse mag ihn dennoch als Vers aufgefaßt haben, wenn er die erste Länge des Wortes χῆρον ignorierte bzw. die letzte Silbe von λίποιτο verschluckte und wie bei einer Elision λίποιτ’ las. Warum sich in den Dokumenten durchgängig λίποιτο zeigt, obwohl mit λίποι grammatisch und metrisch ein unanstößiger Vers möglich wäre, ist merkwürdig. Es läßt sich vermuten, daß sich die unmetrische Variante gegen ein vielleicht ursprüngliches λίποι („zurücklassen“) durchsetzen konnte, weil in der Sprechpraxis nur noch der mediale Optativ λίποιτ(o) übrig geblieben war oder man die fehlerhafte erste Silbe von χῆρον (iotazistisch „khiron“) als kurzen i-Laut empfand und sich daran nicht störte. Daß der Fluch jedenfalls als Vers galt, machen verschiedene Kombinationen deutlich, bei denen auch die Interdiktionsformel daktylisch umgeformt oder ein weiterer Fluch in Hexametern angehängt wurde. Für den ersten Fall sei über die in SGO aufgenommenen Beispiele hinaus (16/52/04 [Strubbe 249; Prymnessos]; 14/01/01 [Strubbe 279; Pillitu Kome]; 16/57/98 [Strubbe 295; Hadrianopolis]) ein bislang nicht unter den Versinschriften verbuchtes Zeugnis aus Synnada angeführt, bei welchem die Interdiktionsformel unter Zuhilfenahme einer in hoher Dichtung anzutreffenden Tmesis (Αisch. choe. 395; Kallim. AP VII 80 [epigr. 2 Pf., HE 1203–8] V. 6 ἐπὶ χεῖρα βαλεῖ) im zweiten Teil daktylischen Rhythmus erhielt und der Fluch ab der metrisch problematischen Stelle gekürzt wurde (*16/51/09 [Strubbe 252]):

τίς | τῷδ̣ε τάφῳ βλαβερὰν ἐπὶ χεῖρα βάληται, ὀρφανὰ τέκνα λίποιτο. In fünf Fällen findet sich der Doppelfluch mit dem zusätzlichen hexametrischen Abschlußvers:

ἐν πυρὶ πάντα δράμοιτο κακῶν ὑπὸ χεῖρας ὄλοιτο.434

|| 433 Ζum Verständnis führt am besten Strubbe 338 (SGO 14/06/17; Laodikeia Katakekaumene, als Verse 11–12 deklariert) Z. 15–17, wo die knappe Formel am Ende einer längeren daktylisch metrisierten Grabinschrift erklärend ausformuliert wird: λίψῃ οἶκον ἔρημον | καὶ ὀρφανὰ καὶ χήραν γυναῖκαν ἀλι|τρεύουσαν κατὰ οἶκον. – Eine andere, unzutreffende Interpretation vertritt Strubbe (1997) 292. 434 Vgl. SGO 14/06/97 (Strubbe 264; Holmoi); *16/61/15 (Strubbe 298; Antiocheia/Pisidien); SGO 14/07/06 (Strubbe 349 [V. 12–14]; Ikonion); I.Perinthos-Herakleia 180 (Strubbe 399

3 Fluchformeln aus Phrygien | 149

Bei keinem Erklärungsversuch für diese Formel wird in Erwägung gezogen, daß der Erfinder zur Herstellung dieses metrisch fehlerlosen, aber nur in wenigen Fällen nachgeahmten Verses einen Chiasmus von δράμοιτο und ὄλοιτο gewagt haben dürfte. Sprachlich kann allein δράμοιτο κακῶν ὑπὸ χεῖρας („Möge er in die Hände von Übeltätern geraten!“) einerseits und ἐν πυρὶ πάντα … ὄλοιτο („Möge alles im Feuer zugrunde gehen!“) andererseits zusammengehören. Bisweilen folgt auf die formelhafte (unmetrische) Interdiktion der Versuch eines neuen metrischen Verses.435 Eine gesuchte metrische Kombination darf man vermuten, wenn in zwei auch orthographisch ähnlichen Fällen aus Kotiaeion der iambische Interdiktionsvers mit dem daktylischen Schlußvers kombiniert ist (*16/32/17 [Strubbe 162]; SGO 16/32/13 [Strubbe 164]).436 Die vorgestellten metrischen Fluchformeln hatten in eng umgrenzten Gebieten Phrygiens im Repertoire zur Gestaltung von Sepulkralinschriften einen festen Platz. Daß sie auf ältere in phrygischer Sprache formulierte Sprüche zurückgehen, ist wahrscheinlich.437 Ihre besondere, in Verse gegossene Form mag der Sanktionierung von Grabschändung einen um so nachdrücklicheren, quasi magischen Anstrich verliehen haben.438 Bisweilen versuchen die Inschriften-Verfasser, diese Wirkung durch weitere inhaltliche Ausformulierungen zu verstärken, oder bemühen sich, die Formeln je nach ihrem eigenen poetischen Anspruch in ein metrisches Schema einzupassen. Alle Varianten zeigen, daß in den phrygischen Fluchformeln eine lokaltypische epigraphische Tradition zugrunde liegt, auf die sich der einheimische Zeitgenosse ohne Rekurs auf literarische Vorlagen mühelos beziehen konnte.

|| [Z. 12-16]); *16/42/99 (Strubbe 210; Orkistos), hier nur die zweite Vershälfte; Strubbe (1997) 182f. zu den Verständnisschwierigkeiten. 435 SGO 16/43/05 (Strubbe 269 [Z. 15–19, in SGO nicht als metrisch erfaßt]; Amorion); 16/45/10 (Strubbe 275; Klaneos); *16/66/01 (Strubbe 271; Selmea). 436 Der erwähnten metrischen Ungereimtheit wird in diesen beiden Texten begegnet, indem im Fluchvers die Wörter umgestellt sind zu λίποιτο οἶκον χῆρον βίον ἔρημον, so daß durch die Elision vor Vokal von λίποιτ’ und konsonantischer Lesung des Iota in βίον („bjon“; ein auch sonst anzutreffendes Phänomen) ein daktylischer Hexameter leichter wahrnehmbar wird. 437 Strubbe (1991) 38 spricht von „oriental tradition“. 438 Strubbe (1991) 41–45.

I

Gladiatorenmonumente

Gladiatorenepigramme als Sondergruppe Die im letzten Jahrzehnt neu zu Tage getretenen Gladiatorenepigramme erweitern in wichtigen Details das Panorama, das Louis Robert grundlegend in „Les Gladiateurs dans l’Orient Grec“ (1940)439 entworfen hat und das in der Folge durch kontinuierliche Neufunde immer schärfere Konturen gewann.440 Die neuesten Zeugnisse geben etwa Auskunft über zuvor unbekannte organisatorische Details, so daß zur Anzahl der „Gladiatoren-Klassen“ (πᾶλοι), die seither nur mit Zahlen von 1 bis 4 belegt waren, nun noch vier weitere Nummern bis H (= 8) zumindest in Karien hinzukommen.441 Abgesehen von solchen historischen Fragen lenkt besonders die Motivik der neueren Gladiatorengedichte unweigerlich den Blick auf ein Phänomen, welches eines der beiden wichtigsten Kompositionsprinzipien dieses speziellen, nur in griechischer Sprache belegten Genre442 darzustellen scheint: Die Gladiatoren werden nämlich in der ihnen persönlich zugedachten letzten Ehrung häufig vor der Folie des homerischen Epos gleichsam als Nachfolger der mythischen Helden gewürdigt.443 Dieses Prinzip der heroischen Überhöhung bildet das Komplement zu einem weiteren Gestaltungsgrundsatz: der Verwendung der aus dem Bereich des sportlichen Wettkampfes stammenden Terminologie.444 Beide poetische Strategien

|| 439 Anschließend L. Robert, Hellenica III (1946) 112–150 (Nr. 303–313); V (1948) 77–99 (Nr. 314-320); VII (1949) 126–151 (Nr. 321–326); VIII (1950) 39–72 (Nr. 327–341); vgl. auch OMS V 801–829 (1982); OMS VII 520–530 (1982). 440 Vgl. neben der Monographie von Mann (2011) mit einem Katalog von 198 Inschriften S. 182-272 die in der dortigen Bibliographie aufgeführten Forschungen von Carter, zuletzt Carter (2015); Flecker (2015) ausgehend von den italischen Gladiatorenreliefs, ebd. 27f. allgemeiner Forschungsüberblick. 441 Vgl. Staab (2007) 37f. mit Anm. 16. 442 Die Anzahl der in lateinischer Sprache überlieferten Grabgedichte auf Gladiatoren reicht nicht hin, um hier von einer eigenen ‚Sub-Gattung‘ zu sprechen; vgl. versähnliche Gebilde wie in Anm. 483. Die Grabinschriften auf Gladiatoren im Westen sind regelmäßig in schlichter Form gehalten, wahrscheinlich in Anlehnung an Soldatengräber; vgl. Mann (2011) 139f. 38f. 443 Vgl. Mann (2011) 150–155. Anders als von Merkelbach/Stauber ausgewiesen, handelt es sich bei einem fragmentarischen Epigramm aus Nikomedeia SGO 09/06/93 (GVI 689; vgl. Skiadas [1959] 92 Anm. 3), in welchem Homer wohl als Schöpfer des auf den Verstorbenen bezogenen Heldenideals Hektors genannt ist (V. 1 τὸν Φρυγίη[ς πρόμαχον (?) – – –] θεῖος Ὅμηρος), nicht um ein Gladiatorenepigramm. 444 Robert (1940) 16–23; Stecher (1981) 50–57 behandelt die Wertprädikationen von Gladiatoreninschriften unterschiedslos unter den Athleteninschriften; Mann (2011) 156–174. https://doi.org/9783110597394-009

154 | I Gladiatorenmonumente

verschleiern die brutale, oft aller moralischer Konventionen entkleidete Gladiatorentätigkeit, und sie konnten dazu eingesetzt werden, dem entbehrungsreichen und jäh endenden Leben eines Gladiators einen letzten Sinn zuzuschreiben. Die in den Gladiatorenepigrammen repräsentierten Denkmuster, nämlich die mythische Heroisierung und die agonale Ehrung, haben ihren Anhaltspunkt in der Erfahrungswelt der Antike: dem gesellschaftlich prägenden Festspielwesen der Götterkulte mit seinen sowohl musischen als auch gymnischen Wettkämpfen. Das traditionell von mythischen Stoffen erfüllte Theaterwesen und der alte Wettbewerb um physische Vollkommenheit konnten somit als ehrwürdige Kulisse für die auf tieferer funktionaler Ebene, im Rahmen der römischen Herrscherverehrung, angesiedelten Gladiatorenschauspiele dienen. In gewisser Weise dürften die poetischen Schilderungen des Kampfgeschehens in den Grabepigrammen auf reale Begebenheiten in der Arena zurückgehen, wo die Gladiatoren, die ja vielfach Namen mythologischer Gestalten trugen, Szenen aus dem Mythos in einfachster Form imitierten (siehe S. 57).445 In Anlehnung an die oft am gleichen Ort446, mit gleicher Wertschätzung447 und mit gleichem Begleitprogramm448 stattfindenden Aufführungen von rezitierenden Homeristen und pantomimischen Tänzern boten sich die mythologischen Stoffe auch für gladiatorische Schauspiele (einschließlich der Tierhatzen) als Gestaltungsrahmen an, um den Unterhaltungswert der Kämpfe zu steigern.

|| 445 Vgl. zur mythischen Inszenierung von Exekutionen in der Arena Coleman (1990); Müller (2002) 31–34; Flecker (2015) 65–72 zur Deutung der Gladiatoren aufgrund der Reliefs als Kämpfer zwischen verachtetem Feindbild und verehrtem Heros. 446 Der Gladiatorenkampf fand ursprünglich am selben Ort wie die szenischen Darbietungen statt; vgl. Jory (1986) 537–539. Mancherorts, zumal im kleinasiatischen Bereich, wo Amphitheater von der Form des Colosseums nur in Kyzikos und Pergamon nachgewiesen sind (vgl. Rumscheid [2001] 131f. 136; Friedländer II [101922] 107; Drexel bei Friedländer IV [101921] 232–237), dürfte das in Ermangelung einer Kampfarena so geblieben sein. Zur Doppelnutzung der Theater Robert (1940) 33–36; Ville (1981) 384–386; Rumscheid (2001) 132 A. 62; für Ephesos Robert, Hellenica III 124f. zu Nr. 312; für Milet Günther (1985) 123f.; für Aphrodisias Welch (1998) 559–561. 447 Vgl. Robert 166 (IK 21 Stratonikeia Nr. 199), wo ein ungenanntes Priesterpaar für die Bestellung eines Pantomimen mit Musikbegleitung (μισθωσάμενοι καὶ τὸν ἐπιδημήσαντα ὀρχηστὴν καὶ τἄλλα ἀκροάματα πάντα) und für die Aufnahme von Fremden während der Tierhatz (ἐν τοῖς γενομένοις κυνηγίοις) geehrt wird. Dazu Robert (1930) 116 mit Verweis auf Dion Chrys. or. 49, 8 (v. Arnim), wo von den verschiedenen Veranstaltungen zur Unterhaltung der Menge die Rede ist. – Vgl. auch das Engagement eines Pantomimen in Lagina (IK 22,1 Stratonikeia Nr. 691) mit den Ergänzungen von Strasser (2004) 189f. – Rechtlich erfuhren Gladiatorenwesen und Schauspielkunst dieselbe Behandlung; vgl. Wiedemann (2001) 43 mit Bezug auf ILS 6085, 123. 448 Zur Musikbegleitung Staab (2007) 43 Anm. 54.

Gladiatorenepigramme als Sondergruppe | 155

Die sublimierende Umdeutung des bisweilen brutalen Kampfgeschehens, wie sie in den griechischen Gladiatorenepigrammen vorgenommen wird, ist nur in den hellenischen oder hellenisierten Gebieten des Ostens anzutreffen. Die Gedichte scheinen Ausdruck des Bemühens zu sein, sich dort mit dem erst durch die „Romanisierung“449 eingedrungenen und mancherorts wohl als aufgepfropft empfundenen Gladiatorenwesen zu arrangieren. Der griechischen Kultur war die Inszenierung des Todes auf offener Bühne traditionell fremd. Gerade die durch diese römische Sitte ausgelöste Befremdung dürfte den Impuls dazu gegeben haben, das blutrünstige Kampfgeschehen der Arena im Rahmen der althergebrachten feierlichen musischen und sportlichen Agone zu deuten.450 Insofern mögen die im folgenden mit Blick auf die aufgezeigte Doppelmotivik (mythische Imitation und Sportwettkampf) angelegten Analysen neuer Gladiatorenepigramme einen Beitrag zu der Frage leisten, wie die römische Gladiatur unter den kulturell-sozialen Bedingungen des griechischen Ostens im 2./3. Jh. n. Chr.451 überhaupt legitimiert werden und Akzeptanz finden konnte.

|| 449 Zur Problematik und Einordnung des Begriffs im Zusammenhang der Ausbreitung des Gladiatorenwesens im Osten Mann (2011) 13–29. 450 Andererseits blieb im römischen Bereich die epigrammatische Selbstdarstellung der Gladiatoren weitgehend aus, vielleicht auch weil dort Auftritte bei öffentlichen Spielen an sich schon als etwas Entehrendes bewertet wurden; so Mann (2011) 131. 451 Die Gladiatorenepigramme des Ostens stammen fast alle aus dieser Zeit, weshalb im folgenden Datierungen nur in begründeten Einzelfällen angegeben werden.

156 | I Gladiatorenmonumente

*02/06/21 STRATONIKEIA Gladiator Droseros, vom früheren Pantomimen Achill überwältigt Vorbemerkung Die im folgenden behandelten drei Gladiatorenepigramme wurden zusammen mit drei weiteren Steinreliefs, die jeweils nur den Namen und die Rangstufe (πᾶλος) des Gladiators enthalten (Ἀμαραῖος | πά(λου) γ⸍; Χρυσὸς | πά(λου) η⸍; Χρυσόπτερος | πά(λου) ε⸍),452 in der einstigen Nekropole des antiken Stratonikeia im Jahre 2002 gefunden. Nach schon zuvor bekannten Inschriften florierte das Gladiatorenwesen in dieser karischen Stadt, wo die munera wie im benachbarten Mylasa wahrscheinlich im Theater stattfanden.453 Ed. pr. Aydaş (2006) 105f.; Staab (2007) 39–44; Jones (2007) 46f.; IK 68 Stratonikeia Nr. 1494; Mann 95

Abb. 1: Reliefstele des Typs „schwer gerüsteter Gladiator in Angriffsstellung.“454 Maße: Höhe 0,98 m – Breite 0,64 – Tiefe 0,19; Buchstabenhöhe 2,5 cm. Ein mit Schild, Helm und geradem Dolch bewaffneter Gladiator (Secutor) wendet sich in Kampfpose, vom Betrachter aus gesehen, nach rechts. Auf dem Rahmen und im Feld befinden sich insgesamt 17 Siegeskränze.455

|| 452 Dazu Staab (2007) 35–38. 453 Vgl. Rumscheid (2001) 132 Anm. 132; Staab (2007) 35 Anm. 4 zu weiteren Zeugnissen und zur Organisation der Gladiatorenspiele. 454 Vgl. weitere Beispiele bei Staab (2007) 36 Anm. 7. – Derselbe Relieftyp bei den anderen drei neueren Monumenten aus Stratonikeia, die nur die Namen bieten. 455 Vgl. Staab (2007) 35f. Anm. 5 zur Deutung der Kränze, ebd. 36 Anm. 6 zum Secutor/Contraretiarius; dazu auch Flecker (2015) 60f.

*02/06/21 Droseros, vom Pantomimen Achill überwältigt | 157

Abb. 2: Detailaufnahme des Sockels mit dem Epigramm *02/06/21.

Edition (auf dem oberen Rahmen:) Δρόσερος | πά(λου)456 γ⸍ (auf dem Sockel:) Z. 1 V. 1 Ἔκτανέ με Δρόσερον καινοῖς ὀρχήμασι Mοίρης | 2–3 ὁ πρὶν ἐνὶ σκηναῖς, νῦν δ᾿ ἐν σταδίοισ[ιν] | vac. Ἀχιλλ͙εύς.vac. V. 2 Δ lapis

Übersetzung „Droseros, 3. Rang Es tötete mich, Droseros, durch neuartige Tänze der Moira der früher auf der Bühne, jetzt in der Arena (tätige) Achill.“

Kommentar Vers 1 Δρόσερον: Der seltene, für einen Gladiator bislang unbelegte Name (vgl. IG II2 4844 [Kaiserzeit]; unter Dedikanten aus Amaseia) dürfte in Anlehnung an die auf Personen bezogene Verwendung des Adjektivs in der Literatur (vgl. AP V 241 [Paulus Silentiarius] V. 6 δροσερῶν ἡδὺ μέλι στομάτων) auf die durch das zarte Aussehen bewirkte erotische Anziehungskraft anspielen, ähnlich wie sich andere Gladiatorennamen auf die junge Schönheit allgemein oder auf schöne Jünglinge aus der Mythologie beziehen; vgl. Robert (1940) 301; Jones (2007) 46. Solin (22003) 746 verbucht den zweimal in Rom belegten Namen unter „zart, mit zarter Haut“. Zu dem synonymen Gladiatorennamen Δροσῖνος vgl. Robert 188 (Kos); Mann 113 (Milet VI 2 Nr. 544).

|| 456 Vgl. S. 153 mit Anm. 441 zu den πᾶλοι.

158 | I Gladiatorenmonumente

καινοῖς ὀρχήμασι Mοίρης: Der instrumentale Dativ bringt zum Ausdruck, mit welchem Mittel der Tod des Droseros erfolgte; dabei tritt nicht Mοῖρα selbst als die Vollstreckerin auf, wie es in vielen Gladiatorenepigrammen üblich ist,457 sondern der Gegner Achill führt durch sein Kampfverhalten „neue, ungekannte“ (καινοῖς) Mittel aus, als deren ‚Urspung‘ Mοῖρα angegeben wird. Auf der sachlichen Ebene bedeutet dies zunächst, daß Droseros durch die technische Überlegenheit des Achill zu Tode gekommen ist. Jones (2007) 46 f. sieht in der Wendung keinen Hinweis auf eine besondere Kampftechnik, die der frühere „Tänzer“ Achill (vgl. zu V. 2) in der Arena anzuwenden wußte (vgl. die Zusatzbemerkung S. 161f.), sondern betrachtet die Junktur als reine Spöttelei („sneer“) über den ehemaligen Beruf des siegreichen Gegners. Mit der auffälligen Ausdrucksweise dürfte es dem Dichter allerdings sehr wohl darum gegangen sein, den Tod des Droseros mit der unerwarteten Kampfweise seines Kontrahenten zu erklären, mit der dieser gleichsam den Auftrag der Moira erfüllte. Die Niederlage wird damit doppelt, nämlich aufgrund schicksalhafter Vorherbestimmung in Verbindung mit unausweichlichen Angriffen, als unabwendbarer Schicksalsschlag erklärt, ohne damit in irgendeiner Weise den Unterlegenen oder den Sieger zu diskreditieren. Daß dem Letzteren und seinen Leistungen dadurch sehr viel mehr Aufmerksamkeit zuteil wird, als dem im Grabmal geehrten Gefallenen, ist wie in den folgenden beiden Epigrammen aus Stratonikeia höchst auffällig. Eine solche Gewichtung könnte aber keinesfalls durch spöttische oder verächtliche Anklänge, die dem heroischen Grundton der Gattung völlig fremd sind, kompensiert werden. Die Formulierung, daß der Tod „durch die Tänze der Μοῖρα“458 bewirkt wurde, erweckt die Vorstellung, als handele der Sieger mit seinen neuartigen Finten im Auftrag der Todesgöttin; seine todbringenden Handlungen treten hinter dem Walten der Mοῖρα zurück, die allein für den Ausgang die Verantwortung trägt. Dies entspricht einerseits ganz der Stilisierung homerischen Kampfgeschehens, in welchem die Heroen den Ratschlüssen der Götter ausgeliefert sind, zum anderen paßt es zu der Auffassung, die sich auch sonst in den Gladiatoreninschriften erkennen läßt: Sieger wie Getöteter unterstehen letztlich der Herrschaft ihres unabwendbar vorherbestimmten Schicksals, der Μοῖρα. || 457 Vgl. die Belege bei Staab (2007) 44 Anm. 57. – Moira als Herrin über Leben und Tod ist freilich allgemein in Grabinschriften verbreitet. 458 Vgl. Nonnos Dionys. XXVIII 94 ἅλματι Μοίρης, XXXIX 337. Man wird hier nicht so weit gehen wollen, καινὰ ὀρχήματα Μοίρης zu verstehen als „Rolle der Moira“, die Achill nun in der Arena spielt; ähnlich Weinreich (1948) 108 nach Dübner bezüglich APl XVI 287 (Leontios [6. Jh. n. Chr.] auf die Pantomimin Helladia) V. 3 παρ᾿ ὀρχηθμοῖσιν Ἐνυοῦς („Tanz der neuen Bellona“ im Sinne von „zweite Bellona“).

*02/06/21 Droseros, vom Pantomimen Achill überwältigt | 159

Der gebildete Leser konnte in der auffälligen Formulierung eine Anspielung auf eine Kampfszene aus Homer sehen. Aineias droht in der Ilias seinem Gegner Meriones den Tod mit der Lanze an, „wenn er auch ein Tänzer sei“ (Π 617f.):

Μηριόνη τάχα κέν σε καὶ ὀρχηστήν περ ἐόντα ἔγχος ἐμὸν κατέπαυσε διαμπερές, εἴ σ᾿ ἔβαλόν περ. Die dort in der Tat verächtlich wirkende Benennung ist aus dem Zusammenhang verständlich; Meriones hatte zuvor durch ungewöhnliche Ausweichbewegungen den Angriff des Gegners vereitelt (Π 609–611 ὑπασπίδια προβιβάντος. | ἀλλ᾿ ὃ μὲν ἄντα ἰδὼν ἠλεύατο χάλκεον ἔγχος, | πρόσσω γὰρ κατέκυψε κτλ.). Das markante homerische Duell zwischen Aineias und Meriones, bei welchem schnelle, außergewöhnliche Kampftechnik im Zentrum stand, war offenbar überhaupt von Bedeutung für die Inszenierung der Gladiatoren. Genauso wie etwa die mythischen μονομάχοι par excellence, die Duellanten Eteokles und Polyneikes, oder das Kampfpaar Kastor und Polydeukes nachweislich auf die Namensgebung der Gladiatoren inspirierend gewirkt haben, ist auch der Name „Meriones“ für einen Gladiator belegt (Robert 57).459 Zugleich hat Lukian den homerischen Meriones mit seinem Kampfbewegungen in der Schrift über die Pantomimik zum berühmtesten Repräsentanten des Waffentanzes und damit zum Ahnherrn der Pantomime gemacht (de salt. 8). Ob nun dem kaiserzeitlichen Passanten, falls er sich mit dem Epigramm befaßte, diese Homerstelle vorschwebte oder nicht, er war jedenfalls mit Gladiatorenkampf und den als „Tanz“ bezeichneten pantomimischen Aufführungen (vgl. zu V. 2) vertraut, um bei den „neuartigen Tänzen“ des Epigramms leicht daran denken zu können, daß Achill in Stratonikeia seine frühere „Tanzkunst“ (wie Meriones) erfolgreich in den Dienst des Kampfes gestellt hatte. Eine ungewöhnliche Kampftechnik, deren Bewegungen aus der einstigen Karriere des Achilleus als Pantomime hervorgegangen wären, entspräche ganz dem Anliegen der Spielgeber, die Gladiatorenkämpfe durch theatralische Elemente460 und kampftechnische Variationen461 möglichst unterhaltsam zu gestalten. Dieses Bemühen scheint unabhängig davon gewesen zu sein, ob es sich um die sehr viel häufige-

|| 459 Zur Benennung nach großen mythologischen Vorbildern Robert (1940) 298 und F. Drexel bei Friedländer IV (101921) 201. 460 Vgl. Friedländer II (101922) 91f.; Müller (2002) 23–34. 43–46. 461 Vgl. zur Technik Quint. V 13, 54; II 17, 33; Sen. ep. 7,4 zu den mittäglichen Schlachtszenen in der Arena, die gegenüber den regulären ohne Kunst (artes) waren. – Vgl. die Hinweise bei Staab (2007) 40f. mit Anm. 36, wo Beispiele für die Namensgebung genannt sind, in der sich die Hochschätzung von Geschicklichkeit und Schnelligkeit abzeichnet.

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ren Schaukämpfe handelte oder, wie in den vorliegenden Beispielen aus Stratonikeia, um die selteneren Duelle mit tödlichem Ausgang; dazu S. 183f. zu *03/02/76 V. 10 περὶ ψυχῆς. V. 2 ὁ πρὶν ἐνὶ σκηναῖς, νῦν δ᾿ ἐν σταδίοισ[ιν] | Ἀχιλλ͙εύς: Wird sonst gewöhnlich mit ὁ πρίν der zivile Name neben dem Kampfnamen (auch ὁ καί) des Gladiators genannt (Belege unten S. 189f.), so ist hier mit derselben Wendung zwischen der früheren und der vor dem Tod ausgeübten Tätigkeit des Gladiators gleichen Namens differenziert. Achilleus war vor seinen Auftritten im Amphitheater auf der Bühne (ἐνὶ σκηναῖς) tätig, und dort scheint er sich nicht anders als in der Arena wie der berühmte mythische Namenspatron geriert bzw. dessen Rolle gespielt zu haben. Der gängige Name462 war bei Bühnenakteuren wie auch bei Gladiatoren beliebt. In den meisten Fällen dürfte es sich um einen Künstlernamen handeln, der den ursprünglichen Geburtsnamen ablöste, was im einzelnen aber nicht mehr festgestellt werden kann. Neben dem in *03/02/75 (Pergamon; S. 174ff.) V. 1 genannten Gladiator vgl. SGO 09/04/04 (Robert 84, Mann 166; Prusa ad Olympum) V. 1; 17/10/06 (Robert 107, Mann 190; Xanthos); Robert 246 (Mann 122; Smyrna); 06/02/28 (Robert 260, Mann 157; Pergamon); Robert 320 (Hell. V, pl. XI 1; Provenienz unklar); SGO 09/09/02 (Klaudiupolis) V. 16; EAOR I 108 (Rom); Mann 21 (Amphipolis); vgl. EAOR I 27 (Rom; ducenarius). Für andere Agonisten ist der Name Achilleus laut Stephanis (1988) viermal belegt, für einen Kitharoden Aul. Clodius Achilleus aus Korinth (Nr. 499; IG VII 1773), einen Tragoden von Kos (Nr. 500; GVI 1806), einen Choraules C. Iulius Achilleus mit Bürgerrecht in Magnesia am Sipylos, Kyzikos, Smyrna, Ephesos und Pergamon sowie in vielen anderen nicht genannten Städten (Nr. 501; AM 7, 1882, 255 Nr. 26) und für einen Herold Achilleus mit Zweitnamen Didymos (Nr. 502; P.Oxy. 2338, 12f.). Weiterhin ist aus Mylasa ein junger Mann namens Achilleus bekannt, der den Zweitnamen Κυθροκύων hatte und sich in seinem Grabmal als „Sieger in Eurythmie“ (SGO 5, 24/03 = 01/15/05 [Kaiserzeit] V. 4f. εὐρυθμίῃ463 δὲ | νεικῶν) vorstellte. ἐνὶ σκηναῖς: In dem Hinweis auf Achilleus’ Tätigkeit „auf der Bühne“ wollte Chaniotis (EBGR 2006 [2009] Nr. 7) dessen frühere Tätigkeit als „an actor or a mime (Homeristes)“ erkennen, wohl ohne einen Zusammenhang zu καινοῖς

|| 462 Vgl. nur die 86 bei Solin (22003) 504–506 aufgeführten Belege für Rom. 463 Vgl. Dickie (1993) 111–115. 118–129 zur εὐρυθμία im Zusammenhang mit den Bewegungen beim Tanz und Ballsport, sowie für allgemeine sportliche Exzellenz im (athenischen) Gymnasium.

*02/06/21 Droseros, vom Pantomimen Achill überwältigt | 161

ὀρχήμασι (V. 1) herzustellen.464 Genau diese Formulierung führt unweigerlich dazu, Achilleus als vormaligen Repräsentanten der seit Augustus beliebten Pantomime anzusehen, deren Grundmerkmal der stumme „Tanz“ war. Athenaios (I 37 p. 20 d) spricht von der Pantomime unter der Bezeichnung „tragischer Tanz“ (ὄρχησις ἡ τραγικὴ καλουμένη), Lukian erfaßt sie in der Schrift de saltatione mit ὄρχησις, und so heißt denn auch der Pantomime meistens einfach ὀρχηστής („Tänzer“). Der ὀρχηστής Ulpius Augustianus wurde wegen seiner „tragischen rhythmischen Bewegung“ (διὰ τραγικῆς ἐνρύθμου κεινήσεως), wie denn wohl der terminus technicus für die Pantomime lautet, von der Stadt Thyateira im 2. Jh. n. Chr. geehrt.465 Sein Künstlername bezog sich wie bei Achilleus auf einen IliasProtagonisten, nämlich Πάρις (τὸν καὶ Πάριν). ἐν σταδίοισ[ιν]: Die Ausdrucksweise ἐν σταδίοις anstelle der Verwendung des Wortes ἀμφιθέατρον, welches nicht in den Hexameter paßt, ist eines der sprachlichen Signale für Epigramme auf Gladiatoren; vgl. Robert (1940) 21. 35f.; Staab (2007) 45 Anm. 64; sowie im folgenden *02/06/22 V. 2; *02/16/01 V. 4; *17/11/03 V. 1; *03/02/66 V. 3.

Zusatzbemerkung: Pantomimik im Dienste der Kampftechnik Daß der „Tänzer“ Achilleus aufgrund seiner Berufserfahrung als Pantomime für den Gladiatorenkampf nützliche Bewegungsmuster beherrschte, wird deutlich, wenn man sich den Inhalt der tragischen Pantomimik vor Augen führt: Hier wurden dieselben mythologischen Stoffe wie in der Tragödie in Gebärden, passend zur Begleitmusik, durch Einzeltänzer aufgeführt.466

|| 464 Unter Homeristen versteht man gemeinhin Bühnenakteure, die durch Rezitation homerische Szenen aufführten, wobei der (pantomimische) Tanz als Kunst der Gestik, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle spielte; vgl. Achilleus Tatios III 20, 7 τις (…) τῶν τὰ Ὁμήρου τῷ στόματι δεικνύντων ἐν τοῖς θεάτροις; Petron cen. Trim. 59 cum Homeristae Graecis versibus colloquerentur. – Zu Mimus/Homeristen oben S. 57f. mit Anm. 168; Sittl (1890) 244–252 zur Pantomime als späterer Abart des Mimus. 465 Vgl. TAM V 2 Nr. 1016, 12f.; Robert (1930) 108–111; Weinreich (1948) 35f.; Chaniotis (1988) 351 E 74 Pantomime Lucius Furius Celsus μύθων ὀρχη[στής] im 1./2. Jh. n. Chr. in Gortyn; Strasser (2004) zu Pantomimen in Inschriften; zu Vers-Inschriften auf Schauspieler und Pantomimen die Übersicht zu SGO 09/09/07; Tedeschi (2002) 115–129 Überblick mit literarischen und papyrologischen Quellen; zu weiteren Bühnenakteuren, die als ὀρχησταί bezeichnet werden L. Robert OMS I 223f. (1927) anläßlich der kaiserzeitlichen delphischen Ehrung (FD III 1 Nr. 469) eines „Tänzers“, der akrobatische Kunststücke aufgeführt hat. 466 Vgl. Lukian de salt. 29. 61–65 u. ö.; Friedländer II (101922) 125–134. 136–138; Weinreich (1948) 14f., 19–22; 73–77 zu Kaibel 608 (IG XIV 2124, GVI 742, GG 382; Rom, 2./3. Jh. n. Chr.); Weinreich (1948) 118–120 zu Anth. Lat. 111 R. (100 Sh. B.); Weinreich (1948) 123–148; 140–145 zur

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Lukian bietet in der Schrift de saltatione, die er vielleicht während seines Antiochienaufenthaltes (162–165 n. Chr.) zur Rechtfertigung des sich gleicherorts aufhaltenden Pantomimenliebhabers Lucius Verus verfaßte,467 einen umfangreichen Katalog aller Sagenstoffe „vom Chaos bis zur ägyptischen Kleopatra“, die der Pantomime beherrschen müsse (de salt. 37–60). Was den Trojamythos betrifft, läge für die Pantomimik über jeden einzelnen Gefallenen ein eigenes Drama vor (46; vgl. ebd. zur Achill-Rolle; 76 zur Hektor-Rolle; zur Paris-Rolle auch Apul. met. X 30-34). Speziell beeindrucke der pantomimische Tanz mit „konzentrierter Bewegung, Wendungen, Umdrehungen, Sprüngen und Rückwärtsbiegungen“ (σύντο-

νον κίνησιν … καὶ στροφὰς αὐτῆς καὶ περιαγωγὰς καὶ πηδήματα καὶ ὑπτιασμούς) den Zuschauer mehr als die blutigen Duelle des Boxens und Ringens (de salt. 71). Die wahre Tanzkunst nämlich stehe hinter den gezielten Handbewegungen der Wettkampfsportarten nicht zurück (78 οὐκ ἀπήλλακται ὄρχησις καὶ τῆς ἐναγωνίου χειρονομίας). Wenn außerdem Lukian in seiner Apologie der zeitgenössischen Pantomimik deren historische Ursprünge im kretischen Waffentanz und ihren Urheber im homerischen Meriones sieht (oben S. 159; Π 617 ὀρχηστής), so greift er damit die antike Ansicht auf, nach der Tanzkunst und Kampftechnik eng miteinander zusammenhängen; dazu ausführlich Staab (2007) 41–43. Auf der anderen Seite hatte sich ganz real in der zeitgenössischen Schauspielpraxis der ursprünglich zur Kriegsvorbereitung rituell ausgeführte Waffentanz der Pyrrhiche468 zum pantomimischen Schaukampf im Rahmen der Unterhaltung entwickelt.469 Für den Zeitgenossen, dem die verschiedenen Formen des öffentlichen Schauspiels sowie deren übereinstimmende Elemente vertraut waren und dem noch dazu die Verbindung des pantomimischen Tanzes mit Kampfbewegungen vor Augen stand, war bei der Lektüre des hier behandelten Epigramms klar: Ein ehemaliger Pantomime, dessen Paraderolle „auf der Bühne“ – wie der beibehal-tene Name noch zu erkennen gibt – wohl die des Achill gewesen war, hatte „in der Arena“ aufgrund seiner tänzerischen Fähigkeiten durch überraschende Bewegungsabläufe den gestandenen Gladiator Droseros niedergestreckt.

|| Cheironomia („Gestik“) als wichtigster Technik der Pantomimik; dazu auch SGO 09/11/02 (Herakleia Pontike, 2./3. Jh. n. Chr.) V. 15 mit Anmerkung und L. Robert OMS VII 502 mit Anm. 27 (1981). 467 Vgl. Robert (1930) 120–122; Lukian de salt. 76. 468 Vgl. Sittl (1890) 236–238; L. Robert, Hellenica I (1940) 151f.; Ceccarelli (1998); Larmour (1999) 21–25, Pyrrhiche als Kombination aus Athletik und Musik. 469 Vgl. Friedländer II (101922) 135f.; Slater (1990) 215–218.

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*02/06/22 STRATONIKEIA Vitalis, getötet von Polydeukes Ed. pr. Aydaş (2006) 107f.; Staab (2007) 44f.; IK 68 Stratonikeia Nr. 1497; Mann 98

Abb. 3: Reliefstele des Typs „Gladiator in seinem Ruhm“.470 Maße: Höhe 1,03 m – Breite 0,63 – Tiefe 0,17; Buchstabenhöhe 2 cm. Der Gladiator hat links neben sich den Helm auf seinem Schild abgelegt (vgl. Staab [2007] 36 Anm. 8) und präsentiert als Siegeszeichen einen über den Bildrahmen hinausragenden Palmzweig als Zeichen des Sieges471 in seiner rechten und zusätzlich einen Siegeskranz in seiner linken Hand. Im Feld und auf dem Rahmen sind insgesamt 16 Kränze für die errungenen Siege abgebildet.

|| 470 Weitere Beispiele Staab (2007) 37 Anm. 10. 471 Vgl. Steier (1941) 401f., wonach die Sitte, erfolgreichen Gladiatoren Palmen zu verleihen, in republikanische Zeit zurückreicht (vgl. Cic. Rosc. 6 plurimarum palmarum … gladiator; Suet. Calig. 32, 2 über Caligula) und sich im römischen Bereich wohl aus dem bei Livius X 47,3 für das Jahr 293 v. Chr. beschriebenen „aus Griechenland stammenden Brauch“ (translato e Graecia more) herleitet, siegreiche Krieger mit Palmen zu ehren. Nach Plutarch quaest. conv. VIII 4, 3 p. 724 A (vgl. Thes. 21, 3; Paus. VIII 48,3) überreichte zum ersten Mal Theseus als Agon-Veranstalter auf Delos eine Siegespalme, nach einer anderen von Pausanias berichteten Sage Herakles in Olympia (Paus. VIII 48,1); vgl. P.Oxy. 519(b), 18 (Account of Public Games). Carter (2006) begründet nach Ville (1981) 405 mit Blick auf die Passio Perpetuae et Felicitatis 10, 8 die Beibehaltung der Überlieferung positā (…) palmā (gegenüber der Konjektur parma) bei Martial spect. 31, 5 damit, daß die Palme als Siegesprämie vor Kampfbeginn zunächst allen feierlich gezeigt und „nach Niederlegung der Palme“ solange gekämpft worden sei, bis der unterlegene Gladiator mit erhobenem Zeigefinger (ad digitum) seine Niederlage eingestand bzw. um Gnade bat.

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Abb. 4: Detailaufnahme des Sockels mit der Inschrift *02/06/22.

Edition (auf dem oberen Rand:) Βιτᾶλις (auf dem Schild:) πά(λου) α⸍ Z. 1–2 V. 1 [Ὁ θ]ρ̣ασὺς ἐν πυγμαῖς Βιτάλιος ἐνθάδε | [κε]ῖται, v 2–3 ὃν κτάνεν ἐν σταδίοις | [ἰδ]ίαις παλάμαις Πολυδεύκης 3–4 V. 3 [πὺξ ἀ|γα]θ̣ός, κρατερός, ἄξιος οὐνό̣[ματος]

Übersetzung „Der im Gladiatorenkampf mutige Vitalis liegt hier, den in der Arena mit eigenen Händen tötete Polydeukes, gut im Kampf, stark, würdig seines Namens.“

Kommentar Vers 1 [Ὁ θ]ρ̣ασὺς ἐν πυγμαῖς: Die Anfangsworte sind eine Abwandlung der mehrfach in Gladiatoreninschriften belegten Eingangsformel τὸν θράσυν ἐν σταδίοις; vgl. Staab (2007) 45 Anm. 64; oben S. 134f. zu solchen Mustern. Ähnlich wie σθεναρός (vgl. zu *02/16/01 V. 4, S. 173) ist θρασύς typisches Epitheton der Gladiatoren; vgl. Robert (1940) 303; Staab (2007) Anm. 64. Βιτάλιος: Der Name ist auf dem oberen Reliefrahmen mit ΒΙΤΑΛΙΣ angegeben. Der Verstorbene trug also den lateinischen Namen Vitalis, der in der griechischen Umschrift Βιτᾶλις seltener erscheint (etwa IG V 1 Nr. 1314, 16 [Thalamai/Lakonien, 2. Jh. n. Chr.]; IG Bulg. II 712 [Nikopolis]) als das gräzisierte Βιτάλιος, welches hier allein schon metrisch gefordert ist; vgl. Gignac II (1981) 49f. für griechisch -(λ)ιος als Wiedergabe von lateinisch -(l)is. Der vorliegende Wechsel zwischen beiden Formen kann davon beeinflußt sein, daß im späten Griechisch generell, bisweilen bei Namen der ursprünglichen lateinischen Form -ius, die Varianten -ιος und -ις nebeneinander existieren; vgl. Gignac II (1981) 25-28. Im lateinischen Bereich erscheinen gleichnamige Gladiatoren; vgl. unter

*02/06/22 Vitalis, getötet von Polydeukes | 165

anderen EAOR II 53 b 7 (CIL XI 7444; Ferentium); EAOR II 46 (CIL XI 1070, ILS 5118; Parma: Retiarius, der gemeinsam mit seinem Gegner starb). Vgl. in Stratonikeia/Panamara noch den Priester des Namens (M. Aurelius) Vitalis/Βιτάλιος IK 21 Nr. 435–437. V. 2 ὃν κτάνεν ἐν σταδίοις: Durch die Einführung dieses Relativsatzes, in dem der gefallene Gladiator nurmehr als Objekt erscheint, erhält die Darstellung der Vorzüge des überlegenen Gegners wie in den beiden anderen neuen Gedichten aus Stratonikeia ein für Gladiatorenepigramme ungewöhnliches Übergewicht. Zu ἐν σταδίοις als Signalwort für Gladiatorenepigramme vgl. oben zu *02/06/21 V. 2, S. 161. [ἰδ]ίαις παλάμαις: Aufgrund des zur Verfügung stehenden Raumes scheint allein diese Ergänzung möglich; vgl. SGO 19/01/01 (Marassos, 1./2. Jh. n. Chr. [nach Abklatsch in ETAM III Abb. 82]) V. 2 ἰδίαις παλάμαισι κατάσχων (sc. einen Eber); SGO 09/05/31 (Nikaia, kaiserzeitlich) Z. 5 [.]. ΙΔΙΑΙΣ παλάμαις; SGO 02/12/08 (Robert 124, Ritti/Yılmaz [1998] 522–526 [Neuedition], Mann 177; Hierapolis) V. 6 κτεῖναι παλάμαισι („durch einen Trick“, Merkelbach); or. Sib. 11, 269; 14, 256. Mit dieser Formulierung, die nicht mehr ins Repertoire der Gladiatorenepigramme gehört, verläßt der Dichter das starre Schema und beginnt die am mythischen Faustkämpfer ausgerichtete Stilisierung. Sie macht es einem unmöglich zu entscheiden, ob Polydeukes tatsächlich mit bloßen Händen seinen Gegner Βιτάλιος tötete. Jedenfalls unterstreicht der Ausdruck die übermächtige Gewalt, welcher der Verstorbene ausgeliefert war. Πολυδεύκης: Den Namen des hiesigen Siegers Polydeukes trägt ein weiterer Gladiator, der in Beroia seinem Kameraden Κέστιλλος (Caestillus) ein Grabmal gesetzt hat; vgl. Robert 18 (Mann 29); IK 24, 1 Smyrna Nr. 843 zum Pendant Kastor; Porphyrio zu Horaz ep. I 18,19, wo Interpreten genannt werden, die hinter dem Namen Castor einen Gladiator vermuten. V. 3 [πὺξ ἀ|γα]θός: Der Name des mythischen Faustkämpfers, der nach den Pindarscholien (hyp. in Pyth. A, II p. 3,1f. Drachmann) bei den ersten pythischen Spielen als Sieger im Boxen hervorging, wird im folgenden zum Ausgangspunkt, um in einem subtilen Spiel dessen homerisches Epitheton πὺξ ἀγαθός (Γ 237, Λ 300 πὺξ ἀγαθὸν Πολυδεύκεα) vor dem Hintergrund der allgemeinen Übertragung der Derivate des Stammes *πυγ- auf den Gladiatorenkampf geschickt umzumünzen. Die Darstellungsmuster in den Epigrammen beruhen an sich schon teilweise auf der agonistischen Terminologie des Faustkampfes (siehe Vorbemerkung S. 153-155), der sich seinerseits mitsamt der inschriftlichen Stilisierung zum

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gefährlichen Spektakel entwickelte.472 Die spezifisch auf den Gladiator bezogene, aber undaktylische Ausdrucksweise des Stammes μονομαχ- (in Epigrammen deshalb oft metrisch gedehnt μουνομαχ-) kann dadurch gleichwertig ersetzt werden; vgl. Robert (1929) 25–27 (= OMS I 692–694). κρατερός, ἄξιος οὐνόματος: Zur schon bei Theognis (V. 2 λήσομαι ἀρχόμενος | οὐδ᾿ ἀποπαυόμενος) anzutreffenden Dehnung einer kurzen Silbe vor der Mittelzäsur des Pentameters vgl. West (1982) 45, außerdem 38 (e), 156. Die Versabfolge Hex-Hex-Pent ist für Steinepigramme nicht ungewöhnlich; vgl. Kaibel (1879) 701 hexametris duobus subiectus pentameter. Das epische Wort κρατερός ist zur Qualifizierung von Gladiatoren nicht üblich. Demgegenüber wurden aber zuvor sprachliche Idiome für den Gladiatorenkampf pointiert mit dem Namen des Siegers in Verbindung gebracht. Dieser wird durch diese Stilisierung seinem Namen wahrhaft gerecht (ἄξιος oὐνόματος) und als ‚zweiter Polydeukes‘ zum unüberwindlichen Heros, gegen den Vitalis keine Chance hatte. Wie in den beiden anderen Epigrammen aus Stratonikeia ist entgegen der Konvention den Qualitäten des Siegers mehr Aufmerksamkeit geschenkt als den Verdiensten des gefallenen Gegners, dem das Grabmal gewidmet wurde. Man darf daraus mutmaßen, daß die Initiative für die Setzung der Grabsteine von der familia gladiatoria ausging, der die beiden erwähnten Gladiatoren (Sieger und Besiegter) zugleich angehörten und der es daran gelegen sein konnte, neben der Erinnerung an ein zu Tode gekommenes Mitglied den verbliebenen Sieger als sehenswerte Berühmtheit anzupreisen.

|| 472 Vgl. die Grabinschrift für den Boxer Agathos Daimon, der wie die Gladiatoren einen Spitznamen trägt (ὁ καὶ κάμηλος), mit ihrer Einlage eines (fehlerhaften) elegischen Distichons (Siewert/Taeuber, I.Olympia Nr. 69 [vgl. Robert (1969) 198–201. 288; 2. Jh. n. Chr.] Z. 4–8): ἐνθάδε πυκτεύων ἐν τῷ σταδίῳ ἐτελεύτα / εὐξάμενος Ζηνὶ ἢ στέφος ἢ θάνατον.

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*02/06/23 STRATONIKEIA Eumelos, von Pherops getötet Ed. pr. Aydaş (2006) 109; Staab (2007) 46; Jones (2007) 47f.; IK 68 Stratonikeia Nr. 1499; Mann 100

Abb. 5: Oben gebrochene Stele mit dem Relief eines nach rechts zum Angriff gewandten Gladiators mit einem Dreizack (Retiarius)473 und 9 (erhaltenen) Kränzen. Maße: Höhe 0,71 m – Breite 0,64 – Tiefe 0,15 m; Buchstabenhöhe 2–3 cm.

Abb. 6: Detailaufnahme des Sockels mit der Inschrift *02/06/23.

Edition (im oberen abgebrochenen Teil:) [Εὔμηλος πά(λου) . . ] Z. 1 V. 1 Εὐμήλου τόδε σῆμα κραταιοῦ μουνομάχοιο, | 2 ὃν πολλ͙οὺς ὀλέσαν̣τα ἐνὶ σταδίῃ ὑσμείνῃ | 3f. V. 3 τῇδε κόνει παρέδωκ̣έ̣ μ’ ἔχ(ε)ιν Φεροπήϊος | αἰ̣χμή. V. 2 ΠΟΛΑΟΥΣ lapis V. 3 τῇδε Jones τῆλε ed. pr. –δωκέ μ᾿ ἔχ. leg. B. Puech (AE 2006, 1466) -δωκ̣ε̣ν ἔχ. ed. pr. Φερ. legi μεροπήϊος ed. pr. Μερ. Jones || 473 Parallelen zu diesem Relieftyp Staab (2007) 37 Anm. 11; vgl. Flecker (2015) 59.

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Übersetzung „Dies ist das Grabmal (von mir,) des Eumelos, des starken Gladiators, den, nach der Vernichtung vieler im stehenden Nahkampf, die Lanze des Pherops dem Staub hier übergab, damit er mich birgt.“

Kommentar Vers 1 Εὔμηλου τόδε σῆμα: Der Name im possessiven Genitiv gefolgt von τόδε σῆμα ist ein typischer Auftakt einfacher Epigramme, der sich aus der Form herleitet, welche bei Homer Hektor im Hinblick auf den von ihm getöteten Gegner in den Mund gelegt wird (vgl. oben S. 71; H 89f.):

ἀνδρὸς μὲν τόδε σῆμα πάλαι κατατεθνηῶτος ὅν ποτ’ ἀριστεύοντα κατέκτανε φαίδιμος Ἕκτωρ. Die homerische Formulierung scheint hier auch auf die in V. 2 anschließende syntaktische Struktur gewirkt zu haben (ὅν … ὀλέσαντα). Der von dem Heerführer der Thessaler vor Troja (vgl. Hom. Β 714; Ψ 288 u. ö.) abgeleitete Kampfname Εὔμηλος ist für Gladiatoren anscheinend bislang nicht nachgewiesen. V. 2 πολλ͙οὺς ὀλέσαντα ἐνί: Der Hiat in der weiblichen Mittelzäsur (κατὰ τρίτον τροχαῖον) ist legitim; vgl. Kühner/Blass (1892) I 192; z. B. Hom. Γ 376; Ε 898; θ 459. Die Junktur πολλ͙οὺς ὀλέσαν̣τα ist an prominenter Stelle in einem Simonideischen Epigramm zu lesen, AP VII 296 (FGE 870–7; Diod. XI 62,3) V. 5 οἵδε γὰρ ἐν Κύπρῳ Μήδων πολλοὺς ὀλέσαντες. Vgl. auch Aischyl. Ag. 1456f. (vgl. 1465) über Helena, μία τὰς πολλάς, τὰς πάνυ πολλὰς / ψυχὰς ὀλέσασ’ ὑπὸ Τροίᾳ. Weitere ähnliche Belege zu dem topischen Element, daß der gefallene Gladiator im Epigramm als ungnädiger Vollstrecker vieler Tode dargestellt wird, zu *17/11/03 V. 3, S. 190f. ἐνὶ̣ σταδίῃ ὑσμείνῃ: Die Wendung ἐνὶ σταδίῃ ὑσμείνῃ zur Beschreibung des Gladiatoren-Zweikampfes ist bestens passende Imitation Homers. Der Ausdruck erscheint in der Ilias einmal am Versende (N 314, dort ἐν; vgl. Ν 713 σταδίῃ ὑσμίνῃ im Vers), indem die formelhafte Schlußkadenz ἐνὶ κρατερῇ ὑσμίνῃ mit dem Terminus des Nahkampfes ἐν σταδίῃ (Η 241 οἶδα δ’ ἐνὶ σταδίῃ δηΐῳ μέλπεσθαι Ἄρηϊ [Hektor im Sinne der Kampf-Tanz-Metapher]; vgl. N 514; Ο 283) kombiniert wird. Vgl. Δ 462; Ε 712, dort intransitives ὀλέκοντας vorausgehend; H 18 u. ö.; auch Quint. Smyrn. posth. II 480 αἰνομόρῳ ὑσμίνῃ; VIII 140 ἐν ἀργαλέῃ ὑσμίνῃ jeweils am Versende. V. 3 τῇδε κόνει παρέδωκ̣ε̣ μ’ ἔχ(ε)ιν: Die Lesung eines My (statt eines Ny) von Puech (in AE 2006, 1466) erscheint nach der Abbildung sicher:

*02/06/23 Eumelos, von Pherops getötet | 169

Abb. 7: Detail der Zeile 3.

Erst in diesem Vers wird damit klar, daß der Gladiator bereits in V. 1 die Identifizierung des Bestatteten durch den Namen Εὔμηλος in erster Person ausspricht und sich demgemäß die Fortführung im Relativpronomen V. 2 ὅν auf das sprechende Ich bezieht. Dieses tritt dann als Objekt με hinter dem Subjekt, der todbringenden Lanze, zurück. Als logisches Subjekt des durch ein Verb des „Gebens“ (hier παραδίδωμι) ausgelösten final-konsekutiven Infinitivs – hier ἔχ(ε)ιν – fungiert immer der Dativ des Prädikates, das Akkusativobjekt hingegen – hier με, welches ὅν ausführt – bleibt als solches bestehen; vgl. zu παραδίδωμι mit finalem Infinitiv LSJ s. v. I. 1. (am Ende) und I. 3.; Hom. Β 336. Π 386 δοῖμεν ἔχειν; Hdt. I 210, 3; VI 103, 2; Schwyzer II (1950) 363. In κόνει παρέδωκε sind zwei Vorstellungen miteinander verbunden. Der durch die Lanze Getroffene stürzt zu Boden, in den „Staub“ der Erde. Schon bei Homer ist das „In-den-Staub-Fallen“ synonym für den Tod; vgl. neben anderen Ausdrucksweisen nur die Formel ὃ δ᾿ ἐν κονίῃσι πεσὼν ἕλε γαῖαν ἀγοστῷ (Λ 425, N 508. 520, Ξ 452, Ρ 315; vgl. Eur. suppl. 578 ἔλθ᾿, ὥς σε λόγχη σπαρτὸς ἐν κόνει βάλῃ474). Dieser auf die Kampfsituation bezogene Aspekt ist durch das Demonstrativum τῇδε dahingehend ins Gegenwärtige gewendet, daß der „Staub der Erde“ am Standort des Grabmals nun den Leichnam aufgenommen hat und für immer „beherbergt“; in diesem Sinne erscheint κόνις als Ort des Grabes, der den Toten „birgt“ (κεύθει, κρύπτει), „umhüllt“ (καλύπτει), „aufnimmt“ (δέχεται) oder „festhält“ (κατέχει) in Grabgedichten sehr häufig; vgl. Index GVI (1995-2002) s. v. κόνις; SGO 02/06/16 (IK 22,2 Stratonikeia Nr. 1326; hellenistisch) V. 7 τὸν δὲ λαχόντα τύχαι δνοφερὸν δόμον ἥδ᾿ ἐπέχει χθών; AP VII 185 (GP 157-62 [vgl. Kommentar]; Antipater von Thessalonike) V. 1 Αὐσονίη με Λίβυσσαν ἔχει κόνις. Φεροπήϊος: Die bisherige Lesung ΜΕΡΟΠΗΙΟΣ ist hinfällig. An der entsprechenden Stelle ist vor dem Epsilon kein My zu sehen, hingegen deutlich das obere (und ein wenig auch das untere) über die Zeile hinausragende Ende der Senkrechthaste sowie die untere Rundung des Mittelkreises eines Phi.

|| 474 Kirchhoffs Verbesserung der Überlieferung ἐν πόλει λάβῃ.

170 | I Gladiatorenmonumente

Abb. 8: Detail der Zeile 3.

Es liegt die von Jones (2007) 47f. im Zusammenhang mit Mεροπήϊος dargelegte Bedeutung des wie im Epos aus einem Personennamen gebildeten Adjektivs vor. Der überlegene Gegner hatte den Namen Φέροψ, der dem lateinischen Ferox entspricht; vgl. Robert [1940] 300; weitere Gladiatoren dieses Namens Mann 65 (Philippopolis); Mann 133 (IK 23 Smyrna Nr. 402); Roueché (1993) Nr. 24 (Aphrodisias) Φέροπες; CIL XII 1915 (Vienna) ein t(h)r(aex). αἰ̣χμή: Das Wort bezeichnet die scharfe, metallene Spitze eines Speers und könnte von daher bewußt zur Bezeichnung des todbringenden Dreizacks des Gegners herangezogen worden sein, welchem Eumelos, nach dem Relief selbst ein Retiarius, unterlag; anders Jones (2007) 47, der für einen Dolch als Todeswaffe plädiert. *02/16/01 KARIEN INLAND Ein kleiner, aber starker Gladiator Ed. pr. Miranda (2008) 220 Nr. 139 (SEG 58, 1553)

Abb. 9: Unten gebrochener Grabaltar aus Marmor. Maße: Höhe 0,62 m – Breite 0,44 / 0,33 (Schaft) – Tiefe 0,39 / 0,33 (Schaft); Buchstabenhöhe 2,2–2,4 cm.

Oberhalb des Profils befindet sich eine Vertiefung, in die, wie aus dem Text zu erschließen ist, ursprünglich ein Grablöwe, der im Gedicht spricht, eingesetzt war. Die Kombination eines Grabaltars mit aufgesetzter Skulptur ist unüblich und wohl eine Weiterführung von Grabaltären mit Relief auf dem Schaft, was ein signifikant häufiges Gestaltungsmerkmal von Gladiatorengrabmälern darstellt.

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Provenienz Die Herkunft des im Museum von Denizli befindlichen Steines ist unbekannt. Im Einzugsbereich des Museums (vgl. Ritti [2008] VIII) liegen die folgenden antiken Städte, aus denen bereits Versinschriften bekannt sind: Eumeneia, Tripolis475, Hierapolis (Pamukkale)476, Laodikeia am Lykos477, Trapezopolis, Kolossai, Herakleia an der Salbake478, Tabai.

Edition Z. 1–3 V. 1 Ὅσσον ἐγὼ θηρῶν vv | προφερέστερος vv, | ὦ παροδεῖτα vv, | 4–6 τόσσον ὅ γ᾿ ἀντι|πάλων ἔσκε κρα|ταιότατος· vvvv | 7–9 V. 3 τυτθὸς μὲν δέμας̣ | ἦεν, ἀτὰρ μένος | οὔτις ὁμοῖος vv ‖ 10–12 ἔπλετ᾿ ἐνὶ σταδί|[οις] π̣ᾶ̣ν̣ σθε[ν|αρῷ ⏖⏒ (Name) ] V. 2 Ἀντι|πάλων ed. pr. ἀντ. Pleket in SEG V. 3 δέμα ed. pr. V. 4 ἔπλετεν ἰς σταδί[ο|υς . . ]ỊẠṆ ΣΘΕ[. .] ed. pr. ἔπλετ᾿ ἐνὶ σταδί|[οις] Pleket in SEG σθέ[νος] vel σθε[ναρός] Pleket in SEG

Übersetzung „Wieviel ich vorzüglicher als (alle anderen) wilden Tiere bin, Wanderer, soviel war genau er der Stärkste unter den Kontrahenten. Zwar war er winzig an Körperbau, dennoch gab es keinen in den Arenen, ähnlich an Kraft dem ganz und gar starken [NAME].“

|| 475 Vgl. das Gladiatorengrab SGO 02/10/02 (Robert 146, Mann 145). 476 Vgl. SGO 02/12/08 (Robert 124, Mann 177); Robert 121–126; Ritti/Yılmaz (1998). Ein weiteres noch nicht in SGO präsentiertes Gladiatorenepigramm aus dieser Stadt *02/12/12 (Mann 178) wird hier nicht eigens kommentiert. Aus der Anbringung eines Konsolenreliefs mit Gladiatoren an einem Agora-Gebäude in Hierapolis schließen Ritti/Yılmaz (1998) 511–513, daß dort Gladiatorenkämpfe auf dem Marktplatz stattfanden und das Gebäude ein Versammlungsort von φίλοπλοι (dazu Robert [1940] 24–27; Hellenica III [1946] 148) gewesen sein könnte. 477 Vgl. die Gladiatorengräber SGO 02/14/09 (Mann 179) und Robert 118 (Mann 180), Robert 119 (Mann 181), Robert 120 (Mann 182). 478 Vgl. das Gladiatorengrab Robert 153 (Mann 89). – Auch das Gladiatorenmonument Mann 184 ohne Herkunftsangabe im Museum Denizli.

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Kommentar Verse 1–2: Zum Rückgriff auf die Tradition des sprechenden Grablöwen, wie sie in dem vorbildhaften Epigramm des Antipatros von Sidon (AP VII 426; HΕ 390-395) V. 3f. literarisch vorlag, oben S. 121f.; ebd. zu anderen Vergleichen der Form ὅσσον … τόσσον in Epigrammen, so auch in SGO 06/02/32 (Samama 187; Pergamon, kaiserzeitlich) V. 3, dazu Anm. 354. Der Vergleich des Verstorbenen mit einem auf dem Grabrelief abgebildeten Löwen scheint ein gängiges Schema für Soldatengräber zu sein; vgl. S. 122 mit Anm. 359; unten S. 258f. zu *16/32/16 V. 3. Nach diesem Muster wird hier besonders passend ein Gladiator geehrt. V. 2 ἀντι|πάλων: Die in der ed. pr. vertretene Ansicht, daß in ΑΝΤΙ|ΠΑΛΩΝ ein sonst nicht belegter Personenname für den Verstorbenen zu sehen sei, ist abwegig. Hier sind, grammatisch und sachlich parallel zu den wilden Tieren (θηρῶν), von denen der Löwe sich abhebt, die „Kontrahenten“ gemeint, die der Verstorbene als „stärkster“ (κραταιότατος) übertrumpft. Der Gegner wird in Gladiatorenepigrammen ganz gewöhnlich als ἀντίπαλος bezeichnet (Robert [1940] 282), so auch einmal in Hierapolis, SGO 02/12/08 (Robert 124; Mann 177) V. 2 κτείνας ἀντίπαλον; vgl. SGO 11/02/01 (Robert 79, Mann 170; Amisos) V. 2 ἀντίπαλον ῥήξας; Luk. Tox. 60. Der Name des Verstorbenen muß also entweder außerhalb der Inschrift, etwa auf dem Löwen-Relief gestanden haben; es könnte sogar ein Eigenname ΛΕΩΝ überhaupt erst die Veranlassung zu dem Vergleich gegeben haben. Oder aber er wurde im letzten nicht mehr erhaltenen Hemiepes genannt (vgl. zu V. 4), was die dortigen Reste auch nahelegen. V. 2 κρα|ταιότατος: Der Superlativ wird erst seit dem Hellenismus gebildet und ist auffallend unpoetisch. V. 3 τυτθὸς μέν … ἀτὰρ μένος: Die Gegenüberstellung der geringen Körpergröße und der ungleich größeren Kampfkraft erinnert an die Beschreibung des Tydeus in der Ilias (E 801 Τυδεύς τοι μικρὸς μὲν ἔην δέμας, ἀλλὰ μαχητής), auf die sich auch später Chorikios von Gaza (6. Jh. n. Chr.) mit den Worten τυτθὸς ἔην δέμας (or. 37 [dial. 23], 1 ed. Foerster/Richtsteig) bezieht. δέμας̣: Das Schluß-Sigma des als Accusativus limitationis aufzufassenden δέμας̣ ist unbedingt erforderlich. Die Abbildung legt nahe, daß es ähnlich dem Ny am Ende von Zeile 1 ganz klein, wie schon das davor geschriebene Alpha, am äußersten Ende der Zeile stand. Andernfalls wäre δέμα‹ς› zu edieren. V. 4 ἐνὶ σταδί|[οις]: Wahrscheinlich stand die Dativ-Endung in der nächsten Zeile, die abgebrochen ist. Der Raum hinter ΣΤΑΔΙ ist zu klein, und wie sonst ist korrekte Worttrennung zu vermuten. Mit der aus athletischem Kontext übernommenen Wendung ἐν σταδίοις (vgl. zu *02/06/21 V. 2, S. 161) ist neben den typischen Wörtern ἀντιπάλων (V. 2) und wahrscheinlich σθεναρῷ (V. 4) eindeutig

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auf den gladiatorischen Zusammenhang verwiesen, der schon durch die Überschrift im SEG entgegen der Erstedition, wo von einem „atleta famoso negli stadi“ die Rede ist, angezeigt wird. π̣ᾶ̣ν̣ σθε[ν|αρῷ ⏖⏒ (Name)]: Die Überlegungen zur Ergänzung sollten zum einen auf den bis hierhin noch unerwähnten Namen ausgerichtet sein und zugleich in Anbetracht der sonst festzustellenden Qualität des Gedichtes voraussetzen, daß der Poet auch hier auf richtige prosodische Umsetzung bedacht gewesen ist. Wenn der Verstorbene an der zerstörten Stelle genannt war, so ist zunächst darauf zu verweisen, daß der Name Πανσθένης zwar existiert; allerdings ist er nur einmal in LGPN IV für Thrakien im Jahr 303 n. Chr. dokumentiert. Bei einer Deutung der Überreste am Anfang des letzten Hemiepes als adverbiales π̣ᾶ̣ν könnte der noch zu erwartende Name des Gladiators mit ΣΘΕ beginnen, wodurch Σθενέλαος (Π 586), Σθένελος (vgl. B 564, Ψ 511f.) oder Σθένιος in Betracht kämen. Theoretisch wäre dann etwa der prominenteste und auch sonst in Kleinasien, allerdings nicht für Gladiatoren, nachgewiesene Name Σθενέλᾱος im Dativ möglich. Gefolgt sein müßte, am besten als Attribut, ein weiteres zweisilbiges Wort, das aufgrund der erforderlichen Hiatkürzung auf Vokal anlautete, dessen Ergänzung aber schwierig ist: π̣ᾶ̣ν̣ Σθε[ν|ελά̄ῳ ⏑ ⏓]. Eine solche Lösung ist äußerst spekulativ, vor allem, wenn man sich vor Augen führt, daß in Gladiatorenepigrammen die Derivate von σθεν- einige Male anzutreffen sind, entweder das Substantiv σθένος (SGO 02/12/08 [Robert 124, Mann 177; Hierapolis] V. 5 τὸ γὰρ σθένος οὔποτ᾿ ἔλειψ[ε]), oder das Adjektiv σθεναρός (SGO 17/03/02 [Robert 111, Mann 187; Telmessos]; vgl. Robert [1940] 303; Staab [2007] Anm. 64), ebenfalls in der Schreibweise στεναρός (SGO 17/10/05 [Robert 106, Mann 189; Xanthos] V. 1) attributiv bezogen auf den jeweiligen verstorbenen Gladiator. Aufgrund dessen liegt es am nächsten, daß nach der Qualifizierung des Verstorbenen mit σθε[ν|αρῷ] dessen dreisilbiger, anapästischer Name folgte: Es kämen dann Gladiatorennamen im Dativ wie Στεφανῷ, Δροσέρῳ, Δανάῳ in Betracht. Wollte man annehmen, daß der sonst versierte Dichter mit der Namenssetzung am Ende doch gegen die Regeln des Pentameters verstoßen hätte, so kommt noch in besonderer Weise die Ergänzungsmöglichkeit von Τύ̄δει in Frage. In diesem Fall hätte die Benennung des Gladiators nach seinem ‚Vorgänger‘ aus der Ilias den Anlaß gegeben, die geringe Körpergröße im Verhältnis zu seiner Stärke zu thematisieren.

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*03/02/75 EPHESOS Achilleus aus Pergamon Ed. pr. Sänger/Taeuber (2017) 378–380 IN 5479

Abb. 10: Oberer Teil mit Inschrift *03/02/75 einer profilierten an den Rändern und in der Mitte beschädigten Stele aus hellgrauem Marmor mit Relief eines nach rechts gewandten murmillo in Kampfpose,480 an der Nordseite des Theaters im Versturz gefunden (Inv.-Nr. 5324). Maße: Höhe 0,97 m – Breite 0,66 – Tiefe 0,31; Buchstabenhöhe 1,3–1,5 cm (Φ 3 cm).

Inschrift Vier eingeschriebene Zeilen unterhalb des Profils; keine kursiven Formen, keine Ligaturen, breite Serifen. Die beiden Distichen enden jeweils mit der Zeile, sonst markiert ein vacat den Beginn des Pentameters. Datierung nach der Schrift: 2. Hälfte 2. Jh. n. Chr. (Taeuber) Edition Z. 1–2 V. 1 Τη̣λέφου ἄστυ παλαιὸν ἐμοὶ πατρίς, ο[ὔνο]μ᾿ Ἀ|χιλλεύς· v 2 ὅσσοι δ᾿ ἡμετέρην εἴσιδ̣ο[ν ἠν]ορ̣έ[ην], | 3–4 V. 3 [πά]ντες ὁ̣μῶς ἀγάσαντο, καὶ οὐκ [ᾔ]σχ[υ]ν[ον ἐκεί|νο]υς, v 4 οὔθ᾿ Ἡρακλεΐδην οὔ v τε τὸ[ν] Aἰ̣[α]κ̣[ίδην]. V. 2 εἴσιδ̣ο[ν ἠν]ορ̣έ[ην] supplevi V. 4 Aἰ̣[α]κ̣[ίδην] supplevi

V. 3 [ᾔ]σχ[υ]ν[ον ἐκεί|νο]υς supplevi

|| 479 Ich danke Hans Taeuber, der mir seine Vorarbeiten hatte zukommen lassen. 480 Dazu Aurenhammer (2017) 357f. SK 56 (Tafel 390).

*03/02/75 Achilleus aus Pergamon | 175

Übersetzung „Des Telephos altehrwürdige Stadt ist meine Heimat, mein Name Achilleus; diejenigen, die unsere [Tapferkeit] zu sehen bekamen, bewunderten sie alle in gleicher Weise, und nicht beschämte ich jene genannten (sc. Stadtgründer und Namenspatron), weder den Herakliden noch den Ai[akiden].“

Kommentar Vers 1 Τη̣λέφου ἄστυ: Gemeint ist Pergamon, als dessen Gründer der HeraklesSohn Telephos gilt und in dessen Kultleben die Telephos-Sage, wie auch weitere Inschriften zeigen, eine wichtige Rolle spielte; vgl. Schmidt (1924) 294f.; Robert OMS VI 457–468 (1984) zu Herakles in Pergamon, ausgehend von APl XVI 91. Die Asklepioshymnen in Pergamon begannen nach Pausanias III 26, 10 mit der Nennung des Telephos; vgl. Paus. V 13, 3 οἱ τῷ Τηλέφῳ θύοντες. Aelius Aristides nennt Pergamon in einem Orakel (or. 25, 12 II p. 416,17 Keil) πόλισμα Τηλέφου κλυτόν, der Lexikograph Zonaras (II p. 1728 Tittmann) Τήλεφις. Die Einwohner Pergamons werden in Epigrammen oft als Tηλεφίδαι bezeichnet: SGO 4, 23/02 (Milet, 2. Jh. V. Chr.) V. 1; 06/02/01 (Pergamon, 2./3. Jh. n. Chr.) V. 1; SGO 4, 23/09 (Apl XVI 91; Pergamon, 2. Jh. v. Chr.) V. 8; 08/05/07 (Miletopolis, hellenistisch) V. 5; 14/12/01 (Lykaonien/Isaurien, christlich; ebd. V. 5 nach V. 15 mit Calder Τηλ[εφί]δη[ς] zu ergänzen) V. 15, Abstammung aus Pergamon oder von einem Vater namens Tήλεφος; SGO 06/02/17, Stiftungsepigramm zu einer Telephos-Statue aus Pergamon. Daß Telephos im Mythos gegen Achill um die Stadt Pergamon kämpfte, geht unter anderem aus einem Epigramm des Pergamener Geschichtsschreibers hadrianischer Zeit, Charax (vgl. Habicht [1959/60]) hervor, das die Suda (χ 95 [Preger 172; FgrHist 105 T 1]) überliefert und in dem Telephos (V. 3) Ἡρακλῆος ἀμύμονος υἱὸς ἀμύμων genannt wird (vgl. V. 4 Ἡρακλεΐδην); zum Kampf mit Achill auch Schmidt (1924) 282,58–283,21. Ein Gladiator, der wahrscheinlich den Namen Telephos trug, ist für Philippopolis (Robert 36 [Mann 60] V. 2 [Τή]λ̣ε̣φος) bezeugt. Ein pergamenischer Gladiator war nach der Textherstellung von Robert vielleicht auch in Philippopolis (Robert 35 [Mann 64, dort: aus Perge]) bestattet. Ἀ|χιλλεύς: Siehe die oben S. 160 zu *02/06/21 (Stratonikeia) V. 2 gegebenen Belege, insbesondere SGO 06/02/28 (Robert 260, Mann 157), ein weiterer Gladiator des Namens in Pergamon. V. 2 [ἠν]ορ̣έ[ην]: Das epische Wort bezeichnet speziell die heroische Tapferkeit; vgl. Homer Δ 303 u. ö.; Ζ 156, in der unten zu V. 3–4 angeführten Rede des Glaukos. In Kition auf Zypern wird im 2. Jh. n. Chr. die Fähigkeit des verstorbenen Lehrers Kilikas bei der Homerinterpretation wohl von einem Schüler mit den

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Worten formuliert, daß er in den homerischen Gesängen die ἠνορέη jener Helden der Vorzeit aufgezeigt habe (GVI 1305 V. 4 δεικνὺς ἡρώων | ἠνορέην προτέρων). καὶ οὐκ [ᾔ]σχ[υ]ν[ον ἐκεί|νο]υς: Der Ersteditor hatte schon eine Form von αἰσχύνω vermutet. Hier werden die mit dem Gladiator in enger Beziehung stehenden Helden Telephos, auf den in V. 1 als Gründer von Pergamon Bezug genommen wurde, und der Namensgeber Achilleus zum Ausgangspunkt eines Vergleichs. Ähnlich ist in *02/06/22 V. 3 (Mann 98; Stratonikeia) der überlegene Gegner Polydeukes im Hinblick auf sein Namensvorbild in Szene gesetzt; vgl. S. 165f. Aktivisches αἰσχύνω im moralischen Sinne „beschämen“ liegt schon an der ersten Belegstelle im sechsten Gesang der Ilias vor. Dort berichtet der Lykier Glaukos seinem argivischen Gastfreund Diomedes, sein Vater habe ihm bei der Entsendung nach Troja die heroische Maxime, αἰὲν ἀριστεύειν καὶ ὑπείροχον ἔμμεναι ἄλλων (Ζ 208), mit auf den Weg gegeben und sie mit der Forderung verbunden, „das Geschlecht der Väter nicht zu beschämen“ (209 μηδὲ γένος πατέρων αἰσχύνεμεν). Das homerische Adelsideal ist also eng mit der Würdigung der Vorfahren als einem wichtigen Beweggrund verknüpft (vgl. Z 445f., sprachlich abgewandelt aus dem Munde Hektors). An der zweiten Belegstelle des bekannten Ausspruchs ist es der Protagonist (und Namensgeber des pergamenischen Gladiators) Achilleus, der von seinem Vater Peleus dieses Lebensmotto mit auf den Weg bekommt (Λ 784). Zwar wird dort die Vorbildfunktion der Vorfahren, hinter denen der Held nicht zurückstehen darf, nicht noch einmal explizit erwähnt, dem Dichter des vorliegenden Epigramms könnte aber der enge Zusammenhang bewußt gewesen sein, wenn er ausgerechnet für die Würdigung des Gladiators Achill auf den Grundsatz, nicht die Vorfahren zu beschämen, zurückgreift. Jedenfalls hat er bei der Gestaltung des kleinen, aber feinen Epigramms passend den (gemäß der Diomedes-Rede) mit dem Heldenideal in Verbindung stehenden Gedanken aus der Ilias insofern aufgegriffen, als der ‚neue Achilleus‘ mit seinen Heldentaten das Ansehen seiner ideellen heroischen Vorfahren, die im letzten Vers noch einmal eigens ins Bewußtsein gebracht werden (Stammvater Telephos und Namenspatron), nicht beschädigte (οὐκ [ᾔ]σχ[υ]ν[ον ἐκεί|νο]υς). Somit wurde der Gladiator Achilleus jener explizit dem Heros Glaukos und implizit Achilleus sowie allen anderen homerischen Helden auferlegten Forderung gerecht. Eine Umgestaltung der epischen Verwendungsweise des Verbs ist schon in einem Epigramm des 4. Jh. v. Chr. aus Thessalien zu erkennen, wo es über einen Gefallenen heißt, er habe den Ruhm seiner Vaterstadt nicht beschämt (CEG 634 V. 1 οὔτι καταισχύ{ι}νας πόλεως κλέος). Tyrtaios bezieht die Wendung auf denjenigen, der sich dem Kampf für das Vaterland verweigert; er „beschämt seinen Stamm“ (fr. 10 V. 9 αἰσχύνει τε γένος).

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[ἐκεί|νο]υς: Das Demonstrativum („jene [sc. berühmten]“) greift auf die zur Präsentation des Verstorbenen in V. 1 eingeführten Heldennamen zurück, den Stadtgründer von Pergamon, Telephos, und das Namensvorbild des Gladiators Achilleus, die im letzten Vers appositiv mit ihren Patronymen erscheinen. V. 4 Ἡρακλεΐδην: Variation des Namens Τήλεφος in V. 1 durch das Patronymikon. So wird Telephos auch von Philostrat her. 23, 9 genannt. Vgl. oben zu V. 1; AP III 2 (SGO 08/01/12; Kyzikos) V. 3 Ἡρακλέους φίλ‹ι›ος γόνος; auch Schmidt (1924) 275; 282,38–41; 282,58–283,21. Durch die Erinnerung an die Vorfahren der auf den Gladiator bezogenen mythischen Helden wird dessen heroische Aura doppelt verstärkt. Αἰ̣[α]κ̣[ίδην]: Vom vierten Buchstaben ist an der Grundlinie ein kleiner Querstrich mit mittigem Ansatz einer Senkrechten zu sehen; es dürfte sich um die auch sonst großzügige untere Serife der senkrechten Haste eines Kappa handeln. Die Bezeichnung Achills mit dem auf den Großvater bezogenen Patronymikon ist seit der Ilias (Β 860 passim; Π 854 Ἀχιλῆος … Αἰακίδαο) üblich. Mit dieser Benennung wird im Sinne des oben S. 84-89 beschriebenen Achill-Paradigmas in einem Grabepigramm aus Thera (vielleicht 1. Jh. n. Chr.) auf den Helden Bezug genommen (GVI 1695 V. 8 καὶ Θέτις Αἰακίδην κλαῦσεν ἀποφθίμενον).

*03/02/76 EPHESOS Secutor Pardos fällt und tötet im letzten Duell Ed. pr. Sänger/Taeuber (2017) 376–378 IN 4481

Relief Das im unteren Teil des Schaftes befindliche Relief in einem vertieften Feld zeigt links einen nach rechts sitzenden, aufgrund der Zitzen als weiblich zu identifizierenden Panther, der den Kopf nach hinten wendet, und auf der rechten Seite wahrscheinlich einen hohen Schild, neben einer rudis, dem Freilassungsstab, und, wegen der Krümmung, wohl nicht der sonst üblichen stehenden Lanze.482

|| 481 Angezeigt mit undeutlichem Bild schon von F. Krinzinger, Kazı Sonuçları Toplantısı 21, 2, 1999, 11–24, hier 15 mit Anmerkung 20 (Abb. 11, 22). – Es gilt auch hier das in Anm. 479 Gesagte. 482 Dazu auch Aurenhammer (2017) 357 SK 55 (Tafel 389), die hier nach einem Vorschlag Taeubers statt des Schildes den Meteorstein aus dem Kybele-Heiligtum von Pessinus in Anspielung auf die phrygische Herkunft des Pardos vermutet.

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Inschrift Die ersten drei Zeilen der Inschrift befinden sich auf dem Profil. Die Inschrift orientiert sich in Z. 16–18 am Relief und wurde demnach zuletzt eingemeißelt. Durchgehend klare, leicht serifierte Formen ohne kursive Buchstaben. Wahrscheinlich aus Platzgründen zwei doppelte Ligaturen am Zeilenenden (Z. 5 Η͜Κ͜Ε; 11 Η͜Μ͜Ε), eine weitere vor dem Ende des Gedichtes (Z. 18 N͜E). Datierung nach der Schrift: 2. Hälfte 2. Jh. n. Chr. (Taeuber)

Abb. 11: Profilierte Basis aus weißem Marmor mit Relief, die an der Nordseite des Theaters von Ephesos im Versturz gefunden wurde (Inv.-Nr. 5325). Die Ränder sind leicht abgestoßen. Maße: Höhe 1,22 m – Breite 0,545 – Tiefe 0,56; Buchstabenhöhe 1,7–2,2 cm (Φ 4,3).

*03/02/76 Secutor Pardos fällt und tötet im letzten Duell | 179

Edition Z. 1–2 2–3 4–5 5–6 6–7 8 9–10 10–11 11–12 13–14 14–15 16–18

V. 1 V. 3 V. 5 V. 7 V. 9 V. 11

[Π]ά̣ρδος ἐγὼ κλῆσιν, πάρδος [πό]|δας ἔργα τε θηρός, Φρὺξ γενε|ήν· ἀλκὴ δ᾿ ἦε σεκουτορίη. | πολλοὺς δ᾽ ἐν σταδίοισι τριαινοφ[ό]|ρους ἕλον ἄνδρας χειρὶ σιδηρείῃ͜ κ[͜ε] | ποσὶ καρπαλίμοις, πρίν γε Φιλήμο|να δῖον ἐς ἡμετέρην τράπε δῆριν | [ἀρ]χιερεὺς κλεινὸς τῆς ἱερῆς Ἐφέσου, | [τ]ὸν πάντων ὤκιστον ἰδ᾽ ἀλκηέστ[α]|τον ἀνδρῶν χρυσοφαὴς Ἠὼς ε[ἶ]|δε τριαινομάχων· ἀλλ᾽ οὐχ ἡ͜μ[͜ε]|τέρους ἔφυγεν πόδας. ὑστ[ά]|τιον δὲ κεῖνο· περὶ ψυχῆς μ̣[αρ]|νάμεθ᾽ ἡμετέρης. ὡς δ᾿ ἔθ̣[α]|νον, καὶ ἔπεφνον· ἀτὰρ κλέ|ος Ἀσίδι λείπω μη|τροπ[ό]λει μεγ̣άλῃ | κείμενος εἰν ͜Ἐφέσωι.

V. 2 δ᾿ ἦε legi δή τε Taeuber supplevi κατ͙έπεφνον?

V. 4 σιδηρείῃ͜ κ[͜ε] legi

V. 11 ὡς δ᾿ ἔθ̣[α]|νον

Übersetzung „Mein Name ist Pardos („Panther“), ein Panther (war ich) im Hinblick auf die (schnellen) Füße und Taten des wilden Tieres, von der Abstammung her ein Phryger; (meine) Waffengattung aber war die eines Secutors. Viele Dreizack tragende Männer habe ich in den Arenen getötet mit eiserner Hand und flinken Füßen, bevor dann der berühmte Kaiserpriester des heiligen Ephesos den edlen Philemon zu einem Kampf zwischen uns hineinbrachte, den schnellsten und wehrhaftesten von allen mit Dreizack kämpfenden Männern, den die goldstrahlende Eos gesehen hat. Doch unseren Füßen entkam er nicht. Zuletzt aber (geschah) jenes Berüchtigte: Wir kämpften ‚um unsere Seele‘. Und wie ich zu Tode ging, tötete ich auch. Doch Ruhm hinterlasse ich der großen Metropole von Asia, indem ich in Ephesos (in der Erde) liege.“

Kommentar Vers 1 [Π]ά̣ρδος: Der Name ist neben dem bei Robert (1940) 300 Anm. 4 angeführten Beleg (Dessau ILS 5084 [bei Rom] Z. 13 provocator; ebd. Varianten Pantheriscus, Παρδαλᾶς [Robert 269; Roueché (1993) Nr. 17; *02/12/12 (Mann 178; Hierapolis)], Πάρδαλις; vgl. EAOR I 63 Pardus; EAOR II 52 [Dessau ILS 5122] Pardon) noch einmal für einen Gladiator in einem Grabdistichon aus Smyrna bezeugt, SGO

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05/01/28 (Petzl, ΙΚ 23 Nr. 547, ebd. Doxographie; Robert 237, Mann 115; vgl. Kaibel 307):

Πύκτην AAΣKEΠON λεύσ(σ)εις | ἐμὲ, τὸν κατέπεφνεν | Πάρδος ὁμοιείου τευξ͙ό͙|μενος θανάτου. Abschrift: ΣΕ Die hier gegebene Edition von Petzl läßt offen, welcher Name sich hinter dem Gladiator (πύκτης) aus V. 1 verbirgt, der in erster Person nach typischer Motivik dem Passanten erklärt, wessen Grab dieser gerade betrachtet. Vielleicht war das Distichon, von welchem nur noch eine Abschrift existiert, ursprünglich mit einem Relief versehen, auf dem der verstorbene Gladiator tatsächlich zu sehen war. Unter den Vorschlägen für die Lesung des Namens (Βöckh und Welcker: {A} Ἄσκεπ‹τ›ον; Wilamowitz, Dittenberger: Ἀδσκεῖτον; Keil: {A}Ἀσκά͙ν‹ι›ον) bietet sich das von Robert (1940) 208 zu Nr. 237 vorgeschlagene Λασκεῖβον (lat. Lascivus) insofern an, als dieser Name noch einmal auf einer Inschrift aus Apollonia (Albanien) für einen Gladiator nachgewiesen ist (Robert 9, Mann 16). Nach Robert (1940) 305 Anm. 2 bedeutet der zweite Vers, daß Pardos, welcher den im Epigramm geehrten Gladiator getötet hat, den „gleichen“ (ὁμοιείου, lies: ὁμοιΐου) Tod wie sein Opfer erlitt, d. h. im gleichen Nahkampf zu Tode gekommen ist. Für diese Interpretation ist der schon von Kaibel dargelegte Bedeutungswechsel des Attributes gegenüber der aus Homer übernommenen Junktur ὁμοίϊος θάνατος (γ 236; „[allen] gemeinsam, gleich [machend]“) nötig. Die wohl auch durch die Schreibung EI angezeigte Langmessung der vorletzten Silbe von ὁμοιείου kommt bei Homer nur in der Verbindung ὁμοιί̄ου πολέμοιο vor (vgl. I 440, N 358 u. ö.). Robert erachtete zur Herstellung des intendierten Sinns den Aorist τευξ͙ά͙μενος (Böckh) für notwendig, wohingegen τευξ͙ό͙μενος den seiner Meinung nach sonst nicht anzutreffenden Wunsch483 zum Ausdruck brächte, daß Pardos eines Tages denselben Tod erlangen möge (anders Petzl, der den gleichzeitigen Tod besser in τευξ͙ό͙μενος zum Ausdruck gebracht sieht). Vor diesem Hintergrund möchte Taeuber den Pardos des Epigramms aus Smyrna mit jenem aus Ephesos identifizieren, der laut V. 11 gemeinsam mit dem von ihm in ein und demselben Kampf getöteten Philemon ums Leben gekommen sei. Just auf diesen Philemon sei nun das smyrnäische Gedicht verfaßt, in welchem (V. 2) andererseits Pardos als der im gleichen Kampf gefallene Gegner erschiene. Taeuber denkt sogar an einen gemeinsamen Verfasser der beiden Gedichte, wofür er || 483 Das Futur würde nicht unbedingt einen Wunsch („souhait“) zum Ausdruck bringen, sondern allein die sichere Voraussage, daß auch der siegreiche Gladiator irgendwann dasselbe Schicksal erfährt, so wie es auch in einer lateinischen Inschrift aus Mailand, die daktylisch anhebt, zum Ausdruck kommt, Dessau ILS 5115 (EAOR II 50 Z. 11f.) Et moneo ut quis quem vic[e]|rit vacat occidat. – Zu dieser Mahnung vgl. Carter (2006/2007) 98f.

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auf die Diktion τὸν κατέπεφνεν (Smyrna V. 2) verweist, die dieselbe Verwendung des τόν als Relativpronomen wie in Ephesos (V. 7) zeigt, sowie auf das in beiden Epigrammen benutzte homerische (κατ-)ἔπεφνον (Ephesos V. 11 ἔπεφνον). Nach der von Taeuber vorgeschlagenen Deutung kann sich nun freilich nicht mehr hinter den in V. 1 überlieferten Buchstaben der Name des Gladiators, dem das Epigramm gewidmet wäre, nämlich Philemon, verbergen. Deshalb liest er V. 1 in folgender Weise (Sänger/Taeuber [2017] 378):

Πύκτην ἆ ἄσκεπον λεύσ[σ]εις ἐμέ. Hier liefere das Attribut ἄσκεπον („ungeschützt“) den Hinweis auf den mit knapper Rüstung auftretenden Retiarius (Philemon). Die verlockende These enthält zu viele Ungereimtheiten, als daß sie leicht zu akzeptieren wäre. Die Einfügung der Interjektion ἆ mit Hiat und des unmetrischen ἄσκεπον, besonders aber die Außerachtlassung des in dem Epigramm zu erwartenden Namens des gefallenen Gladiators machen Taeubers Lösungsvorschlag unwahrscheinlich. κλῆσιν … [πό]|δας ἔργα τε: Eine Reihung von Accusativi limitationis, die betonen, daß der Gladiator in mehrfacher Hinsicht einem Panther ähnelt; zum Vergleich von Gladiatoren mit einem Löwen siehe oben *02/16/01 V. 1f., S. 172. V. 2 δ᾿ ἦε: Die Lesung ΔHTE (δή τε) von Taeuber an der etwas beschädigten Stelle ist nur möglich, wenn man eine Ligatur T͜E annimmt.

Abb. 12: Detail in Vers 2.

Eine solche, in der Inschrift nicht belegte und auch von Taeuber nicht bei der Aufzählung der Ligaturen angegebene Buchstabenverbindung scheint schon deshalb unmöglich, weil für die obere Querhaste des Tau nach links zum vorangehenden Η hin zu wenig Platz wäre. Allein die Lesung ΔΗΕΣ und demzufolge ἀλκὴ δ᾿ ἤε σεκουτορίη ergibt syntaktisch einen Sinn, weil dann δ(έ) korrekt an zweiter Stelle den Ausdruck ἀλκή … σεκουτορίη als neuen Satz anbindet. Zu ἦε(ν) als neuionischer Variante der Form ἦν („er, sie, es war“), wobei gewöhnlich das -ν vor Vokal stehenbleibt, vgl. Kühner/Blass (1892) II 226; SGO 16/34/29 (MAMA V 106; Dorylaion, nach 212 n. Chr.) V. 3 ἥτις στέφος ἦε γυναικῶν; *14/08/03 (Perta, spätantik) V. 2 ergänzt.

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ἀλκὴ δ᾿ ἦε σεκουτορίη: Neu ist, daß das epische Wort ἀλκή speziell die Kampf- bzw. Waffengattung der Gladiatoren bezeichnet. Die hier gesicherte Bedeutung wirft ein klareres Licht auf eine fragmentarische Inschrift aus Mylasa, wo wohl von Gladiatoren die Rede ist, die sich durch „äußere Erscheinungen und Kampfgattungen unterscheiden“; vgl. Robert 171 (ΙΚ 34 Mylasa Νr. 531) Z. 10 εἴδεσι καὶ ἀλκαῖς διαφερόντων. Die Adjektivbildung σεκουτορίη ist bislang nicht belegt. Σεκούτορες werden des öfteren bezeichnet: Mann 14 A (Larisa), ebd. Z. 11–13 ἐν|[θ]άδε κεῖμαι συνκαταβιβάσας τὸν | [ε]ἴδιον ἀντίπαλον, 14 B 6 [σ]ὺν τῷ κτείναντι δὲ κεῖται̣; Robert 12 (Mann 49; Thessalonike) σεκούτορι; Robert 69 (Markianopolis), später als Myrmillo aufgetreten; ein Ausbilder vielleicht in Mann 1 B ἐπι|στά|της σεκ̣[ο]|υ̣[τό|ρων]; zur Bezeichnung Secutor S. 156 Anm. 455. Die betonende Absetzung des Gedankens ἀλκὴ δ(έ) könnte besser zu verstehen sein vor dem Hintergrund, daß ein Φρύξ sprichwörtlich als „feige“ galt; vgl. Strabon I 2, 30 p. 36, 29f. (Poseidonios fr. 6 Theiler) δειλότερον δὲ λαγὼ Φρυγός (dazu Hinweise im Kommentar von Radt). V. 3 πολλοὺς δ᾽ ἐν σταδίοισι … ἕλον: Zum Motiv vorangegangener Tötungserfolge vgl. S. 190f. zu *17/11/03 V. 3; zu ἐν σταδίοις als Signalwort für Gladiatorenepigramme vgl. oben S. 161 zu *02/06/21 V. 2. V. 4 χειρὶ σιδηρείῃ: Für die Bildung der Junktur, welche bei Thukydides (IV 25, 4; VII 62, 3; 65, 2) den Enterhaken bedeutet, dürfte der Dichter sowohl an die mit dem „eisernen“ gladius bewaffnete Hand als auch in metaphorischem Sinne „die starke, unerbittliche“ (vgl. LSJ s. v. σιδήρεος Ι. 2.) Hand des Secutors gedacht haben; vgl. auch AP VII 232 (HE 746–9; vgl. Anm. 366) V. 2 πολλὰ σιδηρείης χερσὶ θιγόντα μάχης („oft mit eigenen Händen in Berührung mit eiserner Schlacht“). ποσὶ κα̣ρπαλίμοις: Die Junktur stammt aus einer homerischen Kampfszene, in der Meriones, im übrigen seinerseits ein Namensgeber für Gladiatoren (Robert 57; siehe oben S. 159), den Gegner Akamas überwältigt (Π 342): Μηριόνης δ’ Ἀκάμαντα κιχεὶς ποσὶ καρπαλίμοισι. Die Schnelligkeit spielt im Zweikampf zwischen dem mit Nahwaffe gerüsteten Secutor und dem mit Netz und Dreizack aus etwas größerer Entfernung angreifenden Retiarius eine besondere Rolle. Mehrfach wird in diesem Sinne auf die „Füße“ verwiesen (V. 1 und V. 9; vgl. V. 7 πάντων ὤκιστον). Der Spitzname Πάρδος dürfte dem Gladiator nicht zuletzt aufgrund seiner wendigen Schnelligkeit zugelegt worden sein, für welche die schon in homerischen Vergleichen (Φ 573-575; vgl. N 102–104; Ρ 20) als unerbittlich und furchtlos dargestellte Raubkatze bekannt war; vgl. Weckwerth/Heydasch-Lehmann (2014) 902–909.

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Vgl. die Schnelligkeit betonende Namen bei Staab (2007) 40 Anm. 36; den Ποδήνεμος („Windschnell“) bei Mann 38 (Beroia). V. 5 Φιλήμο|να δῖον: Das epische, in der Ilias unter anderem auf Achill (Α 7 u. ö.) bezogene Heldenepitheton δῖος zeigt den Respekt gegenüber dem Gegner, dem als Schicksalsgenossen in den Gladiatorenepigrammen nie in irgendeiner Art negative Eigenschaften angeheftet werden. Ein Gladiator Φιλήμων erscheint auf einem weißen Marmorfragment unbekannter Provenienz neben anderen, wahrscheinlich aus gesundheitlichen Gründen freigestellten (καυσάριοι = causarii) Gladiatoren (Robert 320 [Hell. 5], mit Abb. pl. XI) sowie in Milet für einen aus dem Kampf durch missio entlassenen Gladiator, der gemäß dem dortigen Relief – wie im vorliegenden Gedicht – ein Retiarius war (Milet VI 3 Nr. 1375 Φιλή̣μων̣ | ἀπελύθη). V. 6 [ἀρ]χιερεὺς κλεινός: In Ephesos sind bislang zwei Archiereis als Ausrichter von Gladiatorenspielen namentlich bekannt: M. Aurelius Mindius Mattidianus Pollio (Robert 198 = Campanile [1994] 52) und T. Flavius Montanus (Robert 312 [Hell. 5] = Campanile [1994] 90; vgl. auch Robert 199–201); zur Ausrichtung der seit Augustus ‚verstaatlichten‘ Gladiatorenspiele Staab (2007) Anm. 4. V. 9f. ὑστάτιον δὲ |/ κεῖνο: Das Demonstrativum steht präparativ für etwas, das als Berühmtes oder Berüchtigtes eingeführt werden soll; vgl. Kühner/Gerth (1904) I 650f.; unten S. 300 zu *06/02/37 V. 11 τήνων ἀπὸ σηκῶν. Dies ist hier der für Gladiatoren schicksalsentscheidende Kampf auf Leben und Tod (περὶ ψυχῆς). Die Partikelsetzung verdeutlicht allerdings nicht, ob der Dichter innerhalb der Gesamtsyntax (einschließlich V. 10) κεῖνο mit prädikativem ὑστάτιον als inneren, adverbialen Akkusativ zu μαρνάμεθα aufgefaßt hat, den er dann auf derselbe Ebene mit dem terminologischen präpositionalen Ausdruck περὶ ψυχῆς ausführen wollte („als letztes [d. h. zuletzt] kämpften wir jenen [gefürchteten Kampf] auf Leben und Tod“), wobei am Ende noch ἡμετέρης hinzutritt, oder ob er ὑστάτιον δὲ | κεῖνο als selbständige syntaktische Einheit im Sinne von „Schließlich [geschah] jenes:“ und damit in gewissem Anklang an die Konversationssprache (τοῦτ᾿ ἐκεῖνο, „da hatten wir’s“) zur Einleitung des folgenden Satzes verstanden wissen wollte. Letzteres scheint näher zu liegen aufgrund einleitender Ausdrücke wie δεύτερον δ’ ἐκεῖνο bei Dem. or. 56, 22 und Philo de specialibus leg. II 87. V. 10 περὶ ψυχῆς μ̣[αρ]|νάμεθ᾽ ἡμετέρης: Unter den nach festen Regeln und strengem Ehrencodex ablaufenden Kämpfen zwischen Gladiatoren (vgl. Carter

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[2006/2007]), die oft als Kameraden in derselben Gemeinschaft miteinander trainierten und lebten, waren die Gefechte περὶ/ὑπὲρ ψυχῆς,484 d. h. „auf Leben und Tod“, gegenüber den reinen Schaukämpfen sehr viel seltener; Carter (2006/2007) 100 mit Anm. 8; Staab (2007) 40 Anm. 34. Eine auf Juni 240 n. Chr. datierbare Ehreninschrift für einen Makedoniarchen aus Beroia macht klar, daß zu dieser Zeit bei den Kaiserspielen ein solches Duell auf Leben und Tod als Besonderheit zu den üblichen (unblutigen) Kämpfen hinzukam; vgl. EKM 1 Beroia 69 (dazu Carter [2015] 42 mit Anm. 16) ἕτερον ζεῦγος περὶ τῆς ψυχῆς ἀγω|νιούμενον πρὸς τοῖς νενομισμένοις δυσίν. Zum Gebrauch des auch allgemein (Plut. Caesar 56, 4) benutzten Ausdrucks in Gladiatoreninschriften: Milet VI 3 Nr. 1141 Ζ. 9–11 [ἀνὰ ζυγὸν] | ὑπὲρ ψυχ[ῆς ἀγωνισάμε]|νον; IK 54 Perge Nr. 203, 2f. (vgl. Herrmann [1999]) [ζεῦγ]ος μονομάχων τὸ | [ὑπὲρ] ψυχῆς ἀγωνισά|μενον; Robert 171 (IK 34 Mylasa Nr. 531) Ζ. 1f. ἐπὶ δὲ τῶν ἀγωνισαμέ|[νων ὑπ]ὲρ ζωῆς παραστήματι καὶ πυγμῇ, Ζ. 3f. ὑπὲρ ψυ[χῆς]; IG X 2, 1s Nr. 1073 (Thessalonike, 252 n. Chr.) Ζ. 8f. ζυγὰ τὸν ἀριθμὸν | ιη⸍ περὶ ψυχῆς ἀγων[ιούμ]ενα; IG X 2, 1s Nr. 1075 (Thessalonike, 260 n. Chr.) Z. 10f. [καὶ ζε]ύγη δύο̣ [μονο]μάχων περὶ | ψυχῆς̣ ἀγωνιούμενα; Robert 66 (Ι.Cret. IV 374; Mann 82; Gortyn) V. 3 οὐ κότινος τὸ θέμα, | ψυχῆς δ᾿ ἕνεκεν μαχ|όμεσθα; Philostrat vit. soph. I 25, 9 p. 541 ἰδὼν δὲ μονόμαχον ἱδρῶτι ῥεόμενον καὶ δεδιότα τὸν ὑπὲρ τῆς ψυχῆς ἀγῶνα; Zweifel erweckt Mann 60 (Philippopolis) [ὑπ]ὲρ ψ͙υχῆς (Robert 36, dort im Kommentar als Verbesserung für [ὑπ]ὲρ τύχης vorgeschlagen). V. 11 ὡς δ᾿ ἔθ̣[α]|νον, καὶ ἔπεφνον: Während ὡς die enge sachliche („wie“) und zeitliche („als“) Verbundenheit der beiden Vorgänge des „Zu-Todes-Kommens“ und „Tötens“ betont, wird durch καί das sachlich-zeitliche Paradox hervorgehoben, daß das Töten „sogar“ bzw. „noch“ stattfand, obwohl dies normalerweise durch das eigene Sterben ausgeschlossen gewesen wäre. Da καί nicht zwangsläufig nötig ist und in Gladiatorenepigrammen bislang allein das gewählte Kompositum κατέπεφνον des defektiven Aoristes begegnet, ist man geneigt, an ein Versehen des Steinmetzen zu denken, der κατέπεφνον zu καὶ ἔπεφνον, ohne durch die Hiatkürzung das Metrum zu gefährden, verschrieben hätte. Vgl. Robert 55 (Mann 80; Thasos) Z. 9–11 καί με κατέ[πε|φν]εν ἀντίος οὐδείς, ἀλ|λ’ ἰδίῳ ἔθανον; Robert 69 (Mann 193; Kyrene) τούτους μὲν κατέπεφνε

|| 484 Zur davon zu unterscheidenden ἀπότομος πυγμή ausführlich Carter (2015) 39–52, der als Grundmerkmal eines solchen Kampfes die Beteiligung eines zum Tode Verurteilten (damnatus ad gladium) ansieht und darunter einen blutigen Exekutionskampf versteht, bei dem der professionelle, als Vollstrecker eingesetzte Gladiator immer siegt, wie es sich in einer von Artemidors Traumanalysen andeutet (oneir. V 58 ἀπεγράψατο εἰς μονομάχους καὶ πολλοῖς ἔτεσιν ἐπύκτευεν ἀπότομον πυγμήν).

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[Ἄ]ρης καὶ φύλοπις αἰνή· ἐμὲ δὲ νῦν κατέπεφνε νό|σος; GVI 767 (IOSPE3 III 195; Chersonesos, 1. Jh. v. Chr.) V. 5 ὃν κατέπεφνεν Ἄρης (Soldatenepigramm); das zu V. 1 zitierte Epigramm aus Smyrna SGO 05/01/28 V. 1 τὸν κατέπεφνεν | Πάρδος. Βei Homer kommen allerdings sehr wohl das Simplex wie auch das Kompositum gleichermaßen häufig vor. Die Situation, daß sich beide Kontrahenten in einem Zweikampf gegenseitig umbringen, kommt mehrere Male in Gladiatorenepigrammen zur Sprache. Daraus wird man weniger auf die Häufigkeit solcher Fälle, als vielmehr darauf schließen wollen, daß dieses Schicksal, so es sich denn ereignete, kaum verschwiegen werden konnte. Vgl. das zu V. 1 zitierte Epigramm aus Smyrna SGO 05/01/28; Mann 14 (Larisa) A 11–13 ἐν|[θ]άδε κεῖμαι συνκαταβιβάσας τὸν | [ε]ἴδιον ἀντίπαλον (der getötete Secutor Phoibos ließ seinen Gegner mitniedergehen); Robert 191 (Mann 76; Kos) Z. 4–6 νεικήσας καὶ | ἀποκτείνας τὸν σύν|ζυγον ἀπέθανον; Robert 66 (I.Cret. IV 374, Mann 82; Gortyn) V. 5f. με Μοῖρ̣’ ὀλοὴ | δαμασσαμένη πο|σὶ θῆκεν | vac. ἀντιπ̣άλοιο δέμας | ὑπ’ ἐμεῖο δαμέντος. („Die grausige Moira bezwang mich und legte mich als Leichnam zu Füßen des Gegners, der von mir bezwungen worden war.“ [Übers. Mann] – Der Gegner war hier wohl nur gemäß den Regularien besiegt worden und überlebte den Sieger.); SGO 05/01/27 (Mann 114; Smyrna) V. 1f. ὃν ἀνεῖλε (…) | (…) οὐ προφυγὼν θάνατον; Robert [Hell. 8] 335 (Mann 159; Pergamon) Νυμφέρως προ|βοκάτωρ Καλλιμόρ|φῳ μορμίλλωνι | συναπέθανεν. Unklar ist SGO 4, 23/12 (Mann 161; Klaudiupolis) V. 3f. ἄλειπτος |/ τῷ ΧΑ̣ΛΚΕΙ Στεφάνῳ μ̣οῖρ̣αν ἴσην ἔλαχον (Merkelbach sieht in ΣΤΕΦΑΝΩ den Bronzereif am Netz des Retiarius. Grammatisch könnte χαλκεῖ nur der Dativ von χαλκεύς „Schmied“ sein; vielleicht falsche Bildung für χαλκῷ, vgl. Hom. E 704 u. ö. χάλκεος Ἄρης). Obwohl in Alexandria Troas der siegreiche Gladiator Autolykos den unterlegenen Gegner selbst verschonen wollte (SGO 07/05/02 [Robert 285] V. 2 σῶσαι θέλω‹ν›), kommt er ums Leben (V. 3); SGO 03/02/54 (Ephesos; V. 1 entspricht Σ 309, dort τε statt τις) V. 1f. [Ξ]υνὸς

Ἐνυάλιος, καί τις | κτανέοντα κατέκτα· |/ τὸν κτείν[ο]ντ’ ἐφόνευσ[α] | δίκην δ̣ὲ̣ θ̣ε̣οῖς ἀπέτεισα̣. V. 11f. κλέ|ος Ἀσίδι λείπω / μη|τροπ[ό]λει μεγ̣άλῃ: Der Gladiator besitzt wie ein homerischer Held κλέος (vgl. S. 85 mit Anm. 240), das über den Tod durch sein Grabmal in Ephesos auf die Stadt abstrahlt. Der Gedanke ist in Grabinschriften selten. Ähnliche Ausdrucksweise in einem privaten Grabmal, GVI 102 (GG 224; IG IX 1 Nr. 658; Ithaka, 3. Jh. v. Chr.) V. 3 παιδὶ | ἔλλιπε (…) κλέος ἀθάνατον.

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*17/11/03 TLOS „Ares“ Chrysomallos, nach dem Kampf gestorben

Abb. 13: Stele mit oben abgebrochenem Giebel, in dem ein Gefäß abgebildet war. Die schlichte Machart mit 15 Siegeskränzen im oberen Teil des Schaftes ist selten. Maße: Höhe 0,71 m – Breite 0,335 – Tiefe 0,11 (oben) / 0,14 (unten); Buchstabenhöhe 2 cm – Zeilenabstand 0,3–0,5 cm. Aufbewahrungsort: Fethiye, Privatsammlung O. Kocagil, Inv. Ω 28.

Vorbemerkung Aus Lykien sind relativ wenige Steinzeugnisse zu Gladiatorenwettkämpfen erhalten, darunter bislang nur drei Epigramme: Sehr fragmentarische Überreste aus Telmessos lassen sich gerade noch als Gladiatorenepigramm identifizieren; vgl. SGO 17/03/02 (Robert 111, Μann 187; Grabaltar). In Xanthos hat eine Frau namens Amazon, vielleicht selbst Gladiatorin (Schäfer [2001] 258), ihrem Mann, einem Secutor Viktor, der aus Libyen stammte, einen Grabaltar mit Inschrift gesetzt; vgl. SGO 17/10/05 (Robert 106, Mann 189; siehe oben S. 134f.). Und ebenso gedachte dort Panthia ihres Gatten Achilleus, eines Murmillo, in einem gedanklich unklaren Epigramm; vgl. SGO 17/10/06 (Robert 107, Mann 190; Grabaltar).

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Zur Schrift Sehr breite Linienführung der Buchstaben; keine kursiven Formen; MajuskelOmega mit eingedrehten Enden; My mit gebogenen Hasten. Beim Rho schwingt die Senkrechte nach oben links hinaus. Silbentrennung ist nicht eingehalten.

Abb. 14: Detailaufnahme der Inschrift *17/11/03.

Edition Z. 1–3 V. 1 Τὸν πολύτολμον | Ἄρηα, τὸν ἐν σταδίοισι | ἄλ(ε)ιπτον, 3–5 ἔνθα{δε} βλέπ|εις Χρυσόμαλλον ἐπώ͙|νυμον, ὃς τὸ πρὶν ἀλκῇ | 6–8 V. 3 κτεῖνε μάχαις σταδίοι|ς ὄχλον πολυήρατον ἀν|δρῶν. 8–10 καὶ νῦν οὐχ ἥτ(τ)ην | ἔλαχον, φίλοι, ἀλλὰ φο|νεύσας 10–12 V. 5 ἀντίπαλον κα|τέσ(ε)ισα, φάος δ᾿ εὐνῇ | προέλ(ε)ιψα. V. 2 ΕΠΟΝΥΜΟΝ lapis

Übersetzung „Den waghalsigen Ares, den in den Gladiatorenarenen unbesiegten, siehst du hier, mit Namen Chrysomallos, der zuvor mit seiner Kraft durch Kämpfe in den Arenen eine Menge vielgeliebter Männer tötete. Auch jetzt habe ich keine Niederlage erlitten, meine Freunde, sondern habe den Gegner getötet und zu Boden geworfen, das Lebenslicht aber im Bett verloren.“

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Kommentar Vers 1 Τὸν πολύτολμον | Ἄρηα: Der verstorbene Gladiator wird mit dem sehr seltenen Wort πολύτολμος charakterisiert, welches sonst ausschließlich in literarischer Prosa und erst seit Plutarch (quaest. conv. 731 C) belegt ist. Der Göttername Ἄρης ist bislang zur individuellen Bezeichnung eines Gladiators nicht bekannt gewesen. Wahrscheinlich ist er hier in Metonymie zur Betonung des kämpferischen Ungestüms des Gladiators gesetzt, der damit als „wilder Kämpfer“, „Berserker“ o. ä. gekennzeichnet ist. Auch in anderen Fällen erklärt sich das häufige Vorkommen des Namens in Gladiatorenepigrammen damit, daß der Kriegsgott metonymisch für das Geschehen in der Arena steht; vgl. auch Robert (1940) 22. In Tomis ehrten die Ἄρεως ἀθλητῆρες (Robert 41 V. 9) einen Ausrichter von Gladiatorenspielen (V. 5 Ἄραιως ἆθλα ἐτέλεσα) mit einem Grabepigramm. Wie die gymnischen Athleten, die Hermes Enagonios als ihren Schutzgott ansahen, haben Gladiatoren den Gott Ares zum Patron; vgl. Robert 24, ein Relief am Theater in Philippi. In einem Epigramm auf einen Stifter von Festspielen in Sagalassos, der „in den Arenen ein so großes Heer an Aresfreunden niederstrecken ließ“ (SGO 18/08/01 [Robert 98] V. 3f. ἀρηϊφίλων485 ὅτε φωτ[ῶν] | τόσσην ἐν σταδίοις ἐστόρ̣εσε στρατι[ήν]), ist „nach Ares“ auch dessen Engagement für die gymnischen Wettkämpfe des Hermes erwähnt (V. 7 τῷ μετὰ κ̣λεινὸν Ἄρην ἐναγ̣ώνιός ἐστι καὶ̣ Ἑρμ[ῆς]). Wie bereits in der Ilias (B 381) wird das Kampfgeschehen der Arena metonymisch mit „Ares“ bezeichnet, wenn in Ptolemais/Cyrenaica von einem verstorbenen Gladiator die Rede ist (Robert 69; Mann 193), den nicht [Ἄ]ρης und φύλοπις αἴνη töteten, sondern den eine Krankheit umbrachte (V. 2 ἐμὲ δὲ | νῦν κατέπεφνε νό|σος σωθέντα σει|δήρου). Nach einer metrischen Inschrift aus Kaisareia in Kappadokien wachsen die Gladiatoren gemeinsam mit Ares heran (SGO 13/06/01 [Robert 74, Mann 192] V. 1 συνηβήσαντας Ἄρηϊ) und sind Festteilnehmer des „mörderischen Enyalios“ (V. 2 κωμαστὰς φονίου … Ἐνυαλίου). Selbst erzielen sie „Siege des Ares“; vgl. Robert 292 (Mann 153; Kyzikos) Z. 3f. νεική[σ]ας Ἄρεως | νείκας; Robert 55 (Mann 80; Thasos) Z. 4f. ἀρέσαντα Ἀρηΐοισι νείκε|σιν (vielleicht νίκαισι zu lesen zum zweiendigen Adjektiv Ἀρήϊος und nicht von νεῖκος); SGO 09/04/04 (Robert 84, Mann 166; Prusa) V. 1 Ἄρεως στα|[δίοι]σ̣ιν).486 || 485 Auch ein Schauspieler homerischer Szenen kann, wie in Pompeiopolis der Spender eines Grabmals für einen Kollegen, als „Aresfreund“ (SGO 10/05/04 [2./3. Jh. n. Chr.] V. 10 ἀρηΐφιλος) bezeichnet werden; dazu oben S. 58. – Vgl. SGO 22/38/02 (Bosana, wohl 3. Jh. n. Chr.) Z. 2 ἀρηϊφίλῳ in einem nicht näher bestimmbaren Fragment eines Grabepigramms (vielleicht auf jemanden aus dem Militär). 486 Ganz unsicher sind Stellen wie Robert 314 (Mann 20; Amphipolis) V. 3 Ἄ[ρης] und SGO 09/06/03 (Mann 164; Nikomedeia) V. 4 Ἄρηα, wo der Zusammenhang, in dem der Name Ares

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σταδίοισι: Das ν-Ephelkystikon, welches zur Hiatvermeidung und für das richtige Metrum notwendig ist, wurde am Ende der Zeile nicht geschrieben. Zu ἐν σταδίοις als Signalwort für Gladiatorenepigramme vgl. oben zu *02/06/21 V. 2, S. 161. ἄλ(ε)ιπτον: Wie in V. 5 bei κα|τέσ(ε)ισα und προέλ(ε)ιψα hat der Steinmetz den als i-Laut gesprochenen ει-Diphthong nicht ausgeschrieben. Vor dem Hintergrund der Verwendung von λείπομαι + Gen. („hinter jemandem zurückbleiben“) ist das Adjektiv für Athleten und so auch in den Gladiatoreninschriften der Terminus für „unbesiegt“ (wörtlich „nicht hinter jemandem zurückgeblieben“); vgl. Robert (1940) 22f.; Robert (1960) 332–342. V. 2 Χρυσόμαλλον ἐπώ͙|νυμον: Die Verschreibung eines Omega durch den Kurzlaut, hier ἐπόνυμον, welche auf den Steinmetz zurückgehen dürfte, kommt häufig vor, selbst noch in einer prominenten Bäderinschrift der Kaiserin Eudokia aus Hammat Gader, SGO 21/22/01 (Gadara) V. 5 δω͙τῆρα.487 Bei dem Namen Chrysomallos, wörtlich „Goldwolle“ (bezogen auf einen Umhang oder die lockigen Haare), der auch Sklaven und Pantomimen beigelegt wurde (AP VII 463, dazu Weinreich [1948] 81 Anm. 1; Strasser [2004] 200; Jones [2013] 169–171), handelt es sich um einen typischen sekundären Gladiatorennamen, der sich wie andere Namen mit dem Stamm χρυσο- von der äußeren Erscheinung bzw. bunten Ornat der in der Arena auftretenden Kämpfer ableitet;488 vgl. auch SGO 09/05/10 (Robert 81, Mann 162; Nikaia) V. 2 Χρυσόμα{ο}λλον ῥητιάριον; Robert 263 (Pfuhl/Möbius II [1979] Nr. 1247; Pergamon); unsicher Robert 216 (Mann 108; Ephesos) [Χρυσο]μάλῳ [ – – – ]. Ein doppelter Künstlername Ἄρης Χρυσόμαλλος dürfte dem Gladiator allerdings nicht zu eigen gewesen sein; vgl. oben zum metonymischen Gebrauch von Ἄρης. Sonst wird zwar häufig ein Doppelname genannt, dann ist aber neben dem Gladiatorennamen der ursprüngliche zivile Name in der Form ὁ πρίν NAMΕ oder ὁ καί ΝΑΜΕ angegeben; vgl. Robert 16 (Mann 24; Beroia);

|| erscheint, unklar bleibt. – Bei dem Fragment SGO 05/01/86 (Smyrna), in welchem vielleicht von einer Ehrenstatue für Ares (Ἄρεος εἰκών) die Rede ist, dachte Merkelbach ohne genauere Erläuterung an einen Gladiator; vgl. Agosti (2007) 47f., der über einen lokalen hohen Beamten spekuliert. 487 Busch (1999) 91 sieht das Versehen bei der in der Prosodie unsicheren Dichterin Eudokia; dieser war allerdings die in der epischen Tradition angelegte Längung (vgl. θ 325 u. ö. θεοί, δωτῆρες ἑάων) ausweislich ihrer eigenen Dichtung (vgl. δωτήρ de mart. Cypr. I 115, II 406) bekannt. 488 Vgl. Staab (2007) 37 zu Χρυσός und Χρυσόπτερος (dazu jetzt Mann 96 bzw. Mann 97); zu den ebd. 38f. mit Anm. 21 gegebenen Namensbelegen noch Χρυσάμπελος: Robert 144 (Philadelpheia); SGO 08/01/32 (Robert 295, Mann 151; Kyzikos); Robert (Hell. 5) 320 mit Abb. pl. XI (unbekannte Provenienz); Mann 4 (Patrai); Mann 10 (Patrai); Ündemiş/French (1989) 91f. Nr. 2 (auch SGO 09/09/02; Klaudiupolis) Z. 8; Χρυσέρως: Robert 26 (Chersones; unklar, ob Gladiator).

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Robert 19 (Mann 25; Beroia); Mann 40f. (Beroia); Robert 20 (Mann 46; Edessa); Mann 48 (Stoboi); Robert 12 (Mann 49; Thessalonike); Mann 62 (Maroneia); Mann 69 (Markianopolis); Robert 67f. (Ptolemais); Mann 194 (Ptolemais); Robert 191 (Mann 76; Kos); SGO 06/02/28 (Robert 260, Mann 157; Pergamon) V. 3; Robert 271 (Mann 144; Thyateira); SGO 08/01/31 (Robert 296, Mann 150; Kyzikos) V. 9; Robert 292 (Mann 153; Kyzikos); Mann 91 (Halikarnassos). Der ursprüngliche Name des verstorbenen Gladiators konnte offenbar nicht mehr zu einer Identifizierung dienen, vielleicht war er in der Öffentlichkeit und selbst unter den Gefährten, die das Grab anlegten, schon nicht mehr bekannt. Statt dessen erfand man hier eine Doppelbenennung, zusammengesetzt aus der metonymischen Verwendung des Namens des Kriegsgottes und dem Kampfnamen des Gladiators. V. 3 κτεῖνε (…) ὄχλον (…) ἀν|δρῶν: Im allgemeinen wird in Grabgedichten, die den letzten Kampf in der Arena erwähnen (vgl. auch SGO [2004] Index VII s. v. Gladiatorenkampf), betont, daß der zu Tode gekommene Gladiator zuvor immer größten Erfolg hatte, indem er viele Kontrahenten besiegte. Dabei muß nicht automatisch an die Tötung des Gegners in blutigen Kämpfen gedacht werden.489 Manchmal wird dem Gladiator noch zugute gehalten, daß er im Triumph Gnade hat walten lassen und seine Gegner mit dem Leben davonkommen ließ, um – wie in einem Gedicht aus Thasos ausgesprochen – selbst bei einer Niederlage verschont zu werden.490 Daß dies als Beweis seiner φιλανθρωπία galt, belegt eine von Cassius Dio (LXXVII 19) berichtete Episode aus Nikomedeia, wo ein Gladiator unter den Augen des Kaisers Caracalla den unterlegenen Gegner nicht zu verschonen wagte, „um nicht noch menschenfreundlicher als der Kaiser zu erscheinen“ (ἵνα μὴ καὶ φιλανθρωπότερος τοῦ Αὐτοκράτορος εἶναι δόξῃ). Wenn hier anstelle der φιλανθρωπία oder des einfachen Kampferfolges die durch Tötung errungenen Siege hervorgehoben werden, entspricht dies einem ganz anderen Argumentationsmuster, welches zur heroischen Würdigung des Verstorbenen den Leser an die Brutalität des blutigen Kampfgeschehens denken läßt. Eine ähnliche Stilisierung, wonach Gladiatoren ganze „Heere“ zugrunde richten, begeg-

|| 489 SGO 02/02/05 (Robert 148, Mann 101 [Tralleis]) V. 2 νικήσας μὲν π[άν|τας]; Robert (Hell. 5) 314 (Mann 20; Amphipolis) V. 2 πολλάκι πυκτ|εύσας καὶ πολλάκι νεῖκος [ἀ]|ν̣ευρών. Dieses Motiv spiegelt sich auch in der Namensgebung Pasinikos für Gladiatoren; vgl. Mann 5 (Patrai); 28 (wahrscheinlich Beroia); Robert 294 (Mann 156; Kyzikos). 490 Vgl. Robert 55 (Mann 80; Thasos) Z. 5–9 ψυχὰς πολλὰς σώ|σ‹α›ντα κρατερῶς ὑπ’ ἀ|νάνκην, ἐλπίζων καὐ|τὸς ὅτι κἀμοί τις ταὔτ’ ἀ|ποδώσει; vgl. Robert 56 (Mann 12; Larisa) πολλάκις ἐν σταδίοις νεῖκος αἱρησάμενον, | πολλοὺς δ᾿ ἐν σταδίοις σώσας; auch Robert 20 (Mann 46; Edessa/Makedonien) Z. 3 μηδένα λυπήσας; SGO 07/05/02 (Robert 285, Mann 147; Alexandria Troas) V. 2 σῶσαι δὲ θέλω‹ν› (nur auf den Endkampf bezogen).

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net in einem Epigramm auf den bereits zu V. 1 erwähnten Organisator von Kämpfen aus Sagalassos, der ein „so großes Heer in den Stadien niederstrecken ließ“ (SGO 18/08/01; Robert 98) V. 4 τόσσην ἐν σταδίοις ἐστόρεσεν στρατι[ήν]. Sonst wird an das todbringende Kampfgeschehen noch in weiteren Epigrammen erinnert: SGO 03/02/53 (Mann 104; Ephesos) V. 3 πολλοὺς δὲ ὤλεσ᾿ ἐμεῖο βίη; 09/04/04 (Robert 84, Mann 166; Prusa) V. 2 πολ|λοὺς δαμάσας χείρεσι ταῖς φ[ο]|νίαις; *02/06/23 (oben S. 167; Stratonikeia) V. 2 πολλοὺς ὀλέσαντα; *03/02/76 (oben S. 179ff.; Ephesos) V. 3 πολλοὺς δ᾽ ἐν σταδίοισι (…) ἕλον. πολυήρατον: Das seit Homer (λ 245, ο 126 u. ö.) und Hesiod (theog. 404 u. ö.) benutzte Wort ist in Enallage zu ἀνδρῶν aufzufassen. Es fungiert als generisches Epitheton für alle Gladiatoren und zielt damit auf die allgemeine Beliebtheit der Gladiatorenspiele und ihrer Kämpfer. Daß einzelne Gladiatoren Publikumslieblinge waren, kommt auch in Wendungen wie πα|[ρὰ π]ᾶ̣σιν φιλητός (Mann 14 [Larisa] V. 2) und φιλη|[θ]ὶς ὑπὸ πάντων (Robert 29 [Μann 57; Arkadiopolis] Z. 10f.) zum Ausdruck. V. 4f.: Nachdem bis hierher nach der Anrede des Passanten mit βλέπεις (V. 2) der Bestattete im Relativsatz in dritter Person als Gladiator vorgestellt wurde, der – wie es der Topik entspricht – in der Arena nie unterlegen, sondern immer siegreich war, teilt in den letzten beiden Versen der Verstorbene selbst (ἔλαχον/κατέσισα/προέλιψα) den Passanten die konkreten Umstände seines Todes mit. Ob der Dichter des Epigramms bereits bei dem Sprecher von βλέπεις statt an das Grabmal an den erst am Ende in erster Person auftretenden Chrysomallos gedacht hat, ist unklar. Er hätte jedenfalls diesen Gedanken dadurch verschleiert, daß er in den ersten Versen keinen Hinweis in Form eines μέ (τὸν πολύτολμον …) gesetzt hat. Der Wechsel der Perspektive war vielleicht darauf angelegt, daß die frühere (V. 3 τὸ πρὶν), zunächst allgemein aus der Außensicht geschilderte Lebensleistung, nämlich die Überlegenheit im Kampf, durch die aktuellen Umstände des Todes (V. 4 καὶ νῦν) aus der direkten Erfahrung des Betroffenen um so eindrücklicher bekräftigt werden sollte. Der Gattung entsprechend stehen die Verse im Dienste der Glorifizierung, nach welcher der Gladiator seinen SiegerStatus über den Tod hinaus wahrt, sei es daß er sich in der Arena wie ein Heros übermenschlichen Mächten der Moira beugen muß oder daß er, wie hier, außerhalb der Arena angeblich einen ‚normalen‘ Tod stirbt (V. 6 εὐνῇ), ohne daß dieser als Folge seines ungünstigen Agierens in der Arena erscheint. V. 4 ἥτ(τ)ην: Es handelt sich um eine (sonst nicht belegte) falsch ionisierende Bildung aus unpoetischem, attischem ἧτταν (mit kurzem ᾰ). Nicht auszuschließen ist, daß der Steinmetz, wie schon in V. 2 bei ἔνθα{δε} und ἐπώ͙|νυμον, die Vorlage des metrisch korrekten Dichters falsch abschrieb. Vielleicht hat er auch

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hier aus Unkenntnis den Ausgangstext der Vorlage, in welchem ἧττᾰν als brevis in longo vor der Penthemimeres gestanden haben könnte, verschlimmbessert. φίλοι: Die Anrede der φίλοι könnte eine Andeutung auf die Sponsoren des Grabes sein, bei denen es sich um die Gefährten aus der familia gladiatoria handelt, in der Chrysomallos lebte. In den Gladiatorenepigrammen treten als Spender des Grabes neben den Ehefrauen besonders die Kampfgenossen und Freunde hervor; vgl. Robert (1940) 43–45. So hat in Apollonia oder Dyrrhachion „die Freundschaft des Kronios ein Grabmal gesetzt“ (Mann 18 V. 4 φ̣ι̣λίη Kρονίου στῆσ᾿ ἐπιτυμβίδιον). Οὐνίων stiftete seinem auf See verstorbenen Gefährten eine letzte Ruhestätte in Kyzikos (SGO 08/01/31 [Robert 296, Mann 150] V. 8 σῆμα δέ μοι τοῦτο ἐπόησε φιλίης χάριν ἐνθάδε Οὐνίων). Dem Kameraden Meiletos setzte der Freund Odysseus „des Gedenkens und der Freundschaft willen“ in Attaleia ein Grabmal (SGO 18/12/02 [Robert (Hell. 8) 331; Mann 185] V. 7f. μνήμης | ἕνεκεν φιλίης τε / στῆ|σεν ὑπὲρ δόξης χρηστὸς | φίλος ἐνθάδ᾿ Ὀδυσσεύς). Daß Freunde ausschlaggebend für die Errichtung der Grabmäler waren, deutet sich auch sonst noch an; vgl. SGO 11/02/01 (Robert 79, Μann 170; Amisos) V. 5f. μ᾿ ἔ|θαψεν / ἔνθα φίλος ἀγαθός; 07/05/02 (Robert 285, Mann 147; Alexandria Troas) V. 1 Anrede φίλε; Robert 3 (Mann 19; Dyrrhachium) Z. 2 Have am[ice]; Mann 14 (Larisa) A 11 φίλοις ἑτέροις (= ἑταίροις) συμβιώσας. Die enge Verbundenheit der in Schicksalsgemeinschaft491 zusammenlebenden Gladiatoren gab den Ausschlag, daß in Beroia die συνοπλᾶνες (Mann 43) für Thurinos ein Grab errichteten, in Maroneia die συν|κομάσιο|[ι] (Mann 61) für Iaklator, daß in Smyrna (Mann 130) Rhosos seines Zimmergenossen (συν|κελλαρίῳ) Iphoros gedenkt und dort vielleicht mehrere συνκελλάρι[οι] einen Gedenkstein für einen Asbolas spenden (Mann 138); vgl. auch Mann 67 (Stryme) φαμιλία; Robert 78 (Amisos) Ζ. 7 φαμιλία μονομάχων; Robert 241 (Mann 117; Smyrna); Robert 240 (Smyrna; für einen Sohn eines Gladiators) Z. 4–7 συ|κατενενκάσης | φαμιλίας Ἀπελλίκο|ντος μονομάχων. Sonst dürfte es sich bei oft nicht näher hervortretenden männlichen Grabstiftern um Kampfgenossen handeln; vgl. Robert 45 (Mann 73; Tomis) Orestes für Argutus; Mann 74 (Tomis) Sophon und Ophellios Longos für Amarantos; Robert 294 (Mann 156; Kyzikos) Herold Parthenopaios für Pasinikos; SGO 09/05/10 (Robert 81, Mann 162; Nikaia) Heliodoros für Chrysomallos; Mann 167 (Prusa) Eurotas für Viktor.

|| 491 Vgl. Robert (1940) 306. – Es konnte sogar vorkommen, daß Freunde in einem Kampf mit scharfen Waffen gegeneinander antreten mußten, wie ein fragmentarisches Epigramm aus Attaleia zeigt, SGO 18/12/03 (Mann 186) V. 2 πρῶτος ἔτρωσα φίλον Ταχεινὸν ⟦.⟧ | ⟦. . .⟧ συνόμειλο[ν – – –]. Die hier mit Doppelklammern angezeigte Rasur ist ersichtlich auf der Abbildung 7 in Belleten 22, 1958, nach S. 91.

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V. 5 κατέσ(ε)ισα: Das seltene, in der Dichtung nicht begegnende Kompositum ist in ganz anderem Zusammenhang in medial-intransitiver Verwendung in einem Grabepigramm in Amastris zu lesen, SGO 10/03/05 (Kaiserzeit) V. 1 ἔκτοτέ μου ψυχὴ κα[τ]εσείσατο („Von da an geriet mein Herz in Unruhe“). Das Verb bedeutet wörtlich „niederschütteln“ und von daher auch „niederwerfen“; außerdem kann es beschreiben, daß man eine schnelle Bewegung, meist mit der Hand, als Zeichen macht. Da in Hinsicht auf letztere Bedeutung die Hand (χείρ) in den bei LSJ gegebenen Beispielen immer ausgedrückt ist und eine solche Benutzung des Wortes im gladiatorischen Kontext zur Bezeichnung einer bestimmten Geste, etwa um den Kampf abzubrechen, nicht belegt ist, dürfte die erste Bedeutung in Frage kommen. Nach dem hier formulierten Ablauf des Kampfgeschehens hätte Chrysomallos seinen Gegner (ἀντίπαλον, ἀπὸ κοινοῦ zu verstehen) zu Boden geworfen (κα|τέσισα), indem er ihn tötete (φο|νεύσας koinzident). Der Gladiator war jedenfalls in einen der selteneren Kämpfe auf Leben und Tod verwickelt (dazu oben S. 183f.), aus dem er als Sieger hervorging. V. 5 φάος (…) προέλιψα: Entsprechende Redewendungen, für die das Verständnis von φάος als „Licht des Lebens“ (Hom. Ε 120 u. ö.) ausschlaggebend ist, sind seit frühester Zeit in der Literatur (Hesiod op. 155 λαμπρὸν δ’ ἔλιπον φάος ἠελίοιο) und in Grabepigrammen (frühestes Zeugnis CEG 178 [Attika oder Ionien; 440–430 v. Chr.] V. 3 ἔλιπεμ φάος) verbreitet. Ähnliche Formulierungen mit dem poetischen Wort φάος sind in Gladiatorenepigrammen besonders beliebt; vgl. SGO 11/02/01 (Robert 79, Mann 170; Amisos) V. 4 ἐκ δὲ | φάους ἤλυθον εἰς Ἀΐδην; Robert 25 (Philippi; Bestiarius) V. 6 ἔλιπον φάος τὸ γλυκὺ κόσμου; 06/02/28 (Robert 260, Mann 157; Pergamon) V. 5 φάος δ̣᾿ ἀπ̣[έ]|λειπον; 08/01/31 (Robert 296, Mann 150; Kyzikos; Gladiator, auf dem Meer umgekommen) V. 11 ἔλιπον τὸ φάος; 15/03/02 (Mann 176; Pessinus) V. 1 [– – –]λ̣ι̣π̣ὼν φάος; *02/12/12 (Mann 178; Hierapolis) V. 2 ἱερὸν φῶς ὧδε προλείπω. εὐνῇ: Das Schlaflager des Gladiators, auf dem dieser stirbt, wird genauso wie das „Feldbett“ im Milieu der Soldaten mit εὐνή bezeichnet (vgl. LSJ s. v. Ι. 2. B.). Der Dichter meinte wohl wegen poetischer Ausdrucksweise die Präposition zur Angabe des Ortes erübrigen zu dürfen; vgl. auch die Häufung der reinen Dative in jeweils eigener Funktion in V. 2f. ἀλκῇ, μάχαις, σταδίοις. Die Betonung, daß der Gladiator „im Bett“ entschlief, ersetzt die Argumentation im Hinblick auf einen in der Arena verursachten Tod, für den normalerweise nicht die Schwäche des Unterlegenen selbst, sondern dessen Mοῖρα oder der δαίμων verantwortlich gemacht werden (vgl. Anm. 457). Die eng vorausgehende Schilderung des siegreichen Duells läßt nur noch erahnen, daß Ares-Chrysomallos wohl genau aus dem erwähnten Kampf auf Leben und Tod eine Verletzung davongetragen hatte, von der er sich nicht mehr erholte. Ähnlich war laut einem Epigramm aus Smyrna

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ein Gladiator direkt nach seinem offenbar unter schweren Verletzungen errungenen Erfolg, als er noch die Siegespalme in der Hand hielt, verstorben; vgl. SGO 05/01/87 (Robert 239, Mann 116; Smyrna) V. 4 νεί|κης δὲ βραβῖον ἔχο[ν]|τα Μῦρα κατήγαγεν | ὧδε. Fand ein Gladiator einen anderen als den zu erwartenden Tod, kam dieser Umstand wohl generell in den Epigrammen zur Sprache. Als unbedingt erwähnenswerte Abweichung von der Norm galt, wenn sich die Kontrahenten gleichzeitig umbrachten (siehe S. 185f. zu *03/02/76 V. 11) oder wenn das Schicksal durch Regelverstöße und Hinterlist im Kampf besiegelt wurde.492 Falls ein Gladiator außerhalb der Arena starb, wird die Todesursache nie mit einem mißglückten Kampf in Zusammenhang gebracht; die Folgen einer in der Arena zugezogenen Verwundung scheinen bisweilen als Krankheit (νόσος) verschleiert zu werden. Auf Verletzungen, an denen beide Kontrahenten später sterben, ist wohl auch in Amaseia beschönigend mit νόσος angespielt, Robert 307 (Mann 169) oὐ σύνζυγος | μ᾿ εἵλατο, | νόσος με κατέ̣κτανε καὐτόν ἀν[εῖ]λ[ε]ν. Vgl. Robert 37 (Philippopolis; Bestiarius) V. 3 [μ]ὴ̣ θ̣ηρῶν γεν̣ύεσσι δ̣[α]μείς, νούσῳ δὲ βροτείῃ; Robert 69 (Mann 193; Ptolemais/Cyrenaica) V. 2 ἐμὲ δὲ | νῦν κατέπεφνε νό|σος σωθέντα σει|δήρου; Robert 141 (Mann 139; Philadelpheia) V. 4 νόσῳ προδο|[θ]εὶς ὑπὸ Mύρης ὧδε | ἐφονεύθην; Robert 16 (Mann 24; Beroia) Ζ. 4-7 θνῄσκω οὐ|χ ὑπὸ

ἀντιπάλου ἀλλὰ ὑπὸ βίας, | ἑπτὰ στεφανωθεὶς ἡττῶμε | οὐχ ὑπὸ ἀντιδίκου, ἀλλὰ ὑπὸ βίας (Tod durch ein Gewaltverbrechen); Mann 26 (Beroia) V. 2 Μο̣[ῖ]|ραν ἔχων ἰδίαν (natürlicher Tod); Robert 55 (Mann 80; Thasos) Z. 9–11 καί με κατέ[πε|φν]εν ἀντίος οὐδείς, ἀλ|λ’ ἰδίῳ ἔθανον; Robert 294 (Mann 156; Kyzikos) ἄλειπτος ἀπέθανε.493

|| 492 In Amisos stirbt der Sieger Diodoros durch „die verderbliche Todesgöttin und die schlimme List des Summarudis“, SGO 11/02/01 (Robert 79, Mann 170) V. 3 Mοῖρ᾿ ὀλοὴ καὶ σουμμά|ρου δόλος αἰνός (σουμμά|ρου wohl als Abkürzung). Vgl. auch Robert 34 (Mann 63; Philippopolis) V. 2 ἔκτεινέ με δαί|μων, οὐχ ὁ ἐπίορκος Πίννας; SGO 02/12/08 (Robert 124, Mann 177; Hierapolis) V. 2 κτείνας ἀντίπαλον, V. 5f. τὸ γὰρ σθένος οὔποτ᾿ ἔλειψε, / πρὶν | κτεῖναι παλάμαισι Τ͜ΕΟΝ ψυχῆς ἐvπίβουλον (ediert nach Abbildung in Ritti/Yılmaz [1998] 523; SGO fehlerhaft); 07/05/02 (Robert 285, Mann 147; Alexandreia Troas) V. 3 νικήσας ἔθανον παρὰ | μοῖραν (Hergang unklar). – Ob der Gladiator Victor aus Tralleis (SGΟ 02/02/05, Robert 148, Mann 101), nachdem er – wie Merkelbach suggeriert – bereits den Sieg errungen hatte, durch die „mörderischen Hände“ (χειρσὶν φονίαις) des unterlegenen Gegners „unter Bruch der Regeln“ getötet wurde, ist aufgrund des fragmentarischen Erhaltungszustandes nicht sicher. 493 Gemäß SGO 08/01/31 (Robert 296, Mann 150; Kyzikos) ertrank der Gladiator Dionysios bei einer Schiffspassage durch das fahrlässige Verhalten des Schiffers, der wohl zur Unzeit aus dem Pontos aufs offene Meer des πέλαγος (sc. Αἰγαῖον) hinausfuhr; V. 6 (in verunglückter Metrik) ναύτης γὰρ προλιπὼν φοβερὸν οὔνομα τὸ πόντου |/ εἰς ἐμὲ τὴν ὀργὴν τοῦ πελάγους ἔθετο. – Merkelbachs Auffassung scheint mir unzutreffend.

II Junge Mütter *04/14/02 SILANDOS Babis aus Saittai stirbt im Kindbett im Vaterhaus in Silandos

Abb. 15: Oben gebrochene Grabstele mit Einlaßzapfen. Über dem vollständig erhaltenen Text ist noch der untere Teil eines Relieffeldes mit zwei Kränzen erkennbar. Gefunden von H. Malay bei einem Survey 2010 im Haus des Hikmet Karataş in Avlaşa, nordwestlich des antiken Silandos (Karaselendi); vgl. Karte am Ende von TAM V 1 sowie ebd. Nr. 48, 63, 65, 66 aus demselben Dorf. 494

|| 494 Hasan Malay hat mir freundlicherweise das Foto und die Informationen zum Fundort zur Verfügung gestellt und die Veröffentlichung gestattet. Die Maße des Steines lagen ihm leider nicht vor. https://doi.org/9783110597394-010

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Inschrift Unregelmäßige, fast ohne Serifen ausgeführte Buchstaben von leicht variierender Größe (z. B. zu großes Delta Z. 4f. u. ö. und Rho Z. 3. 6. 8 u. ö.); Alpha mit gerader Querhaste. Kursiv ist nur das Omega, welches oft wie ein nach oben offener Kreis mit einem geraden Mittelstrich ausgeführt wird. Auffällig ist, daß das Ypsilon in den ersten sechs Zeilen in der Grundform manchmal kaum vom Tau zu unterscheiden ist und an zwei Stellen wohl nachträglich durch weitere, oben angesetzte kleine Striche kenntlich gemacht wurde (Z. 2 ΤΟΥ, Ζ. 5 ΟΔΥΝΑΙΣΙΝ). Nach Z. 6 ist Ypsilon besser erkennbar. Die Silbentrennung wird nicht eingehalten. Die Verse sind, falls sie nicht mit der Zeile enden, durch ein vacat von 2 Buchstabenbreiten abgetrennt.

Edition Z. 1 2 3 4 5–6 6–7 8–9 9–10 10–11 12–13 13–14 14–15 16–17 17–18 19–20 20–21 21–22 23–24 24–25 25–26

Bάβειν Φιλονείκου τοῦ Ἡρώδου τοῦ Ἀρτέμωνος, γυναῖκα δὲ γεγενημέμην Ξενάρχου τοῦ Κλεάρχου μερίδος Σαεττηνῆς V. 1 V. 3 V. 5 V. 7 V. 9 V. 11 V. 13 V. 15

Δέρκεο τὰν ὀδύναισιν ὑπὸ σσπλ⟦α⟧|άνχνοισι βαρήαις v κούρην, ἐ|κ θαλάμων ὃς μόρος ἀγάγετο· | ἄρτι γὰρ ὠδείνων ἀπελύετο, χἁ πο|λυπενθής v Mοῖρα φίλαν ψυχάν, | ἅλικες, ἡρπάσατο. v ἄπνοα δ᾿ ἀμ|φοτέρωθι χαρὰ πένθος τε ἀπ᾿ ἐμῆο | πρὸς πόσιν ἐκ πατέρων ἔπτατο κ̣αὶ | θαλάμους· v κωκυτῷ ⟦ΤΩ⟧ δ᾿ ὀλολυ|γμὸς ἐμείγνυτο. Καὶ παρεόντι v πα|τρὶ τὸν ἐκ ψυχῆς οὐ προσέειπα λόγον̣, | οὐδ᾿ ἐπ᾿ ἐμοῖς βλεφάροις χεῖρας θέτο· | καὶ τόδ᾿ ἐς Ἅδαν v οἴσομ᾿ ὑπὸ σπλ|άνχνοις δύσμορος ἐκ πατέρων. | αἰαῖ, τὰν θαλάμοις λυγρὰν ὁδόν, ἃν | ἀπὸ πάτρας v οὔποτε ἐ̣μοῖς γουν̣ο|ῖς νείσομαι εἰς θαλάμους. v α̣ἰα̣ῖ, πορ|φυρέην κούρην, ὑακίνθινον ἔρνος, v ἧς τρυφερὸν νεότας πῦρ χ̣ρόα ληΐ|σατο.v τέτλαθι δὴ σύ, Ξέναρχε, φί|λας ἀλόχοιο θανούσης v καὶ σύ, πά|τερ Φιλόνεικε, ἄλγεσι δαιόμε̣νο̣ ς.

*04/14/02 Babis aus Saittai | 197

Übersetzung „Babis, Tochter des Philonikos, Enkelin des Herodes, Urenkelin des Artemon, welche Gattin des Xenarchos, Sohn des Klearchos, aus einem zu Saittai gehörigen Gebietsabschnitt, gewesen ist. Betrachte, welches Schicksal das Mädchen mit schweren Schmerzen unter den Eingeweiden aus den Gemächern mit sich fortgeführt hat. Gerade nämlich wurde sie von den Geburtswehen erlöst, als auch schon die viel Leid bringende Moira die liebe Seele, ihr Gleichaltrigen, hinwegraffte. – (Babis:) Atemlos flogen beiderlei, Freude und Trauer, von mir ausgehend aus dem Vaterhaus zum Gatten und in die Brautgemächer: Freudengeschrei mischte sich mit Wehklage. Obwohl er anwesend war, sprach ich zu meinem Vater nicht das letzte Herzenswort, und nicht hat er auf meine Augenlider seine Hände gelegt. Auch dies (sc. Leid) werde ich im Innersten in den Hades mitnehmen, unglücklich von den Vätern her. Weh, für die Brautgemächer trauriger Weg, den ich nimmermehr gehen werde von der Vaterstadt zu meinen fruchtbaren Ländereien (d. h. Landgut) in die Ehegemächer. – Weh, purpurnes Mädchen, Hyazinthensproß, dessen anziehende Jugendhaut das Feuer geraubt hat. Bleibe nur standhaft, Xenarchos, da die liebe Gattin gestorben ist und du, Vater Philonikos, gequält von Schmerzen!“

Kommentar Zeilen 1–4: Die einleitenden Daten in Prosa geben Auskunft über den zur Deutung des Epigramms unerläßlichen sachlichen Hintergrund. Daraus geht hervor, daß Babis, die Tochter einer stolzen, bis auf drei Generationen zurückverfolgten Familie, mit einem Bürger aus der μερίς Saittai verheiratet war. Gemäß dem Fundort stand das Grabmal aber in Silandos. Von diesem örtlichen Abstand zwischen Elternhaus in Silandos und dem Haus des Gatten in dem etwa 20 km Luftlinie entfernten Gebiet von Saittai ist nun auch der Grundgedanke des Gedichtes geprägt. Demnach war Babis nämlich unglücklicherweise in ihrer väterlichen Heimatstadt, wo dann auch durch das Grab ihr Andenken gewahrt wurde, während der Geburt ihres Kindes gestorben, in Anwesenheit ihres Vaters, aber fernab von ihrem Gemahl und den ehelichen Gemächern. Im Epigramm wird auf diese mißliche Situation mehrfach angespielt, unter anderem durch die wiederkehrende Formulierung, daß das Leid „väterlicherseits“ (ἐκ πατέρων, V. 6. 10. 11), d. h. vom Vaterhaus, seinen Ausgang nahm. Z. 1 Bάβειν: Der in Zentralanatolien häufig belegte Name, den Robert (1963) 368 als Lallnamen klassifiziert, ist noch einmal um die Zeitenwende für Silandos

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bezeugt (SEG 31, 1051) [Μ]ηνόδωρος v Κρίτωνος | Βάβειν τὴν θυγατέρα. Vgl. Zgusta (1964) § 133–15; SEG 60, 1485 (Konana) Mutter und Tochter mit diesem Namen. Z. 4 μερίδος Σαεττηνῆς: Ungewöhnlich, zumal in der Kaiserzeit, ist die Verwendung des Wortes μερίς im lokalen Sinne von „Bezirk“. Die Bezeichnung spielt in den Inschriften Kleinasiens normalerweise keine Rollen. In Beroia bezeichnet μερίς wie in der Apostelgeschichte 16, 12 wahrscheinlich einen der vier „Verwaltungbezirke“ der Provinz Macedonia (EKM 1 Beroia Nr. 61); dazu Pilhofer (1995) 161f. Nach den Papyri Ägyptens bedeutet μερίς (etwa wie der lateinische Begriff regio) eine dem Nomos untergeordnete, kleinere Verwaltungseinheit und kann im Sinne von „Parzelle“ unterhalb der Größe einer κώμη eine Feldgröße bezeichnen (inschriftlich OGIS 221 [Ilion] Z. 30. 39; vgl. Meissner [1990] 178–181). Die auffällige Formulierung mit der Adjektivbildung Σαεττηνῆς (gewöhnlich Σαιττηνῆς) von Saittai (hier nach der bei Ptolemaios geogr. V 2, 21 belegten Schreibung Σαέτται) dürfte darauf verweisen, daß der Ehegatte nicht direkt in der Stadt Saittai beheimatet war, sondern einen zu Saittai gehörigen Landstrich besiedelte und vielleicht ein ländliches Gehöft bewirtschaftete. Dies könnte auch eine Erklärung dafür bieten, daß sich die Ehegattin zum Zeitpunkt ihrer Niederkunft im Vaterhaus befand; dort wäre sie besser versorgt gewesen (vgl. zu V. 12 ἐ̣μοῖς γουν̣ο|ῖς). Vers 1 Δέρκεο: Dieser Imperativ dient über alle Zeiten hinweg, den Beginn von Epigrammen markierend, als Appell an den Passanten; vgl. GVI 1254 (Kyrene, 3./2. Jh. v. Chr.); 1259 (Larymna, hellenistisch); 1279 (Kallatis/Thrakien, 2./3. Jh. n. Chr.); IG XII 7 Nr. 290 (Minoa/Amorgos, kaiserzeitlich); in SGO 08/04/04 (See von Daskyleion, späte Kaiserzeit); *08/06/13 (Hadrianuthera, kaiserzeitlich) Δέρκεο, δέρκεο, ξεῖνε φί|λε καὶ παροδεῖτα; SGO 23/09 = 06/02/35 (Pergamon, 156–154 v. Chr.; Heraklesweihung); 03/02/22 (Ephesos, iustinianisch; Stiftungsepigramm); am Ende des ersten Verses 01/19/42 (Didyma, späthellenistisch). τάν: Das Gedicht ist, wenn auch nicht konsequent, durch die Dorisierung von η zu ᾱ geprägt, um mit dem Anklang an lyrische Formen, die freilich auch in literarischer Epigrammatik benutzt werden, den Eindruck hoher Dichtung zu erwecken; vgl. V. 2 ἀ̅γάγετο, V. 3 χἁ, V. 4 φίλαν ψυχάν, | ἅλικες, V. 9 ἐς Ἅδαν, V. 11 ἅν, V. 14 νεότας (= νεότητος), V. 15 φί|λας͙. ὀδύναισιν (…) βαρήαις: Das Attribut entspricht βαρείαις. Die Schreibweise könnte vielleicht mehr als nur der Ausdruck einer Unsicherheit wegen des allgemeinen Iotazismus (H = EI = I; vgl. Brixhe [1984] 48 unten) sein. Wie im Falle der dorischen Formen sollte das Gedicht dadurch wohl den Anspruch lyrischer Poe-

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sie erfüllen; für η statt ει an dieser Stelle als äolische Dialektform vgl. z. B. Sappho fr. 102 L./P. γλύκηα μᾶτερ; Etymologicum Gudianum s. v. αἰπεῖα p. 52, 12f. ed. de Stefani ⸤διδ⸥άσκουσι δὲ καὶ αἱ ⟦διάλεκτοι⟧· ταχῆας ⟦γὰρ λέγουσι⟧ καὶ βαρῆας ⟦διὰ τοῦ η⟧. Allerdings wird die Schreibweise mit Eta nicht als Indiz gelten können, daß Diphthong -ει- vor Vokal noch als E-Laut gesprochen wurde; dazu im Zusammenhang der Substantive auf –εια Meisterhans Grammatik 48 § 21, 22. Die Junktur „schwere (…) Schmerzen“ schon in der Ilias E 417 ὀδύναι δὲ κατηπιόωντο βαρεῖαι (vgl. Theokr. id. 25, 262), wobei im vorliegenden Epigramm der Ausdruck der „Schwere“ die Last der im Hintergrund stehenden Geburt betonen dürfte, wenngleich für die angesprochene Tote der eigentliche Geburtsvorgang wohl abgeschlossen war und die Nachwehen gerade am Abklingen waren; vgl. neben dem folgenden Zusammenhang Schol. rec. in Aristoph. ran. 1423 ὥσπερ γυνή τις δυστοκοῦσα ὀδύνας ἔχει βαρείας; *02/12/13 V. 1. ὑπὸ σσπλ⟦α⟧|άνχνοισι: Vgl. Brixhe (1984) 32f. (2.1.1. b) zur Gemination des Sigma; siehe oben *17/23/01 (S. 264) V. 4. Das die „inneren Weichteile“ bezeichnende Wort kommt zur Beschreibung des Sitzes der Gebärmutter schon bei Pindar vor, Ol. 6, 43f. ἦλθεν δ’ ὑπὸ σπλάγχνων ὑπ’ ὠδίνεσσ’ ἐραταῖς Ἴαμος / ἐς φάος αὐτίκα; vgl. Nem. 1, 35; Aisch. Sept. 1031; unter den Inschriften IGUR 1322 (1./2. Jh. n. Chr.) V. 2 μητρὸς ἐν | σπλάγχνοις (ein Säugling, der nach der Geburt stirbt). Ähnlich wie hier begegnet die Zwischenstellung der Wendung zur Bestimmung des Ortes der (Liebes-)Schmerzen in dem anonymen hellenistischen Epigramm ΑP XII 160 (HE 3776–81) V. 1f. Θαρσαλέως τρηχεῖαν ὑπὸ σπλάγχνοισιν ἀνίην / οἴσω. V. 2 ὅς: Als indirektes Fragepronomen, wobei von ὅστις statt des zweiten der erste Bestandteil gesetzt wird, ist das Relativum schon seit Homer zu lesen, B 365 γνώσῃ ἔπειθ᾿, ὅς θ᾿ ἡγεμόνων κακὸς ὅς τέ νυ λαῶν; dazu Chantraine Grammaire Homérique II 238 (§ 349), 293 (§ 430) weitere Belegstellen; Schwyzer II (1950) 643 (9.); Blass/Debrunner/Rehkopf (182001) § 293, 3. A); LSJ s. v. ὅς B. IV. 5. und 6. a. b. ἐκ θαλάμων: Hier ist mit der Wendung ganz allgemein terminologisch ausgedrückt, daß eine verheiratete Frau durch den Tod „aus den (Ehe)gemächern“ entschwand, wie in SGO 08/05/04 (Miletopolis oder Kyzikos, Kaiserzeit) der Ehemann (Ζ. 10f. νύμφιον ἐκ θαλάμων Πλούτων | ἥρπασέ με). Die θάλαμοι stehen in den Epigrammen oft als metonymisch für die „Ehe“ (vgl. Pollux onom. III 37 καὶ ὁ μὲν τόπος τοῦ γάμου θάλαμος). Ebenso dürfte in V. 11 θαλάμοις als Dativ zu λυγράν („für die Ehe-Gemächer betrüblich“) vor allem auf die eheliche Bindung der Verstorbenen bezogen sein. Darüber hinaus ist in V. 6 und V. 12 mit θαλάμους bzw. εἰς θαλάμους das konkrete Haus des Ehegatten in Saittai gemeint.

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V. 3 ἄρτι γὰρ (…), χἁ (= καὶ ἁ): Die Konstruktion ἄρτι + Imperfekt zur Bezeichnung eines andauernden Vorgangs, die von dem Satz καί + Ind. Aorist entsprechend einem cum inversum im Lateinischen durchbrochen wird, drückt das plötzliche Eintreten des Todes vor dem Hintergrund der gerade nachlassenden Geburtswehen aus. Dieselbe grammatische Struktur liegt in einem Epigramm des 2. Jh. n. Chr. aus Thessalonike vor, wo auffälligerweise wie hier die relativ seltene Krasis χἡ durchgeführt ist (IG X 2, 1 Nr. 368 [Peek (1976)] V. 5f.): ἄρτι γὰρ ἦν γονέεσσι μέριμνα (…), χἡ πικρὴ | Μοῖρ’ ἀπενοσφίσατο. („Denn eben noch war er den Eltern ein Gegenstand liebender Sorge …, da hat ihn die bittere Moira hinweggerafft.“ [Übers. nach Peek]). Zur Krasis der dorisierenden Form des Artikels mit καί vgl. AP XV 5 (SGO 09/05/05; Nikaia, ca. 130 n. Chr.) V. 8 χἁ (…) δεξαμένα; Kaibel 1103 (Geffcken 312; unterhalb eines Wandgemäldes in Pompeji, vielleicht Leonidas von Tarent) V. 2 χἁ Κύπρις. ὠδείνων ἀπελύετο: Die ὠδῖνες sind die reguläre Bezeichnung der Geburtswehen; vgl. etwa ein neues hellenistisches Epigramm aus dem kretischen Lato pros Kamara (Apostolakou [2009] mit weiteren Belegstellen und Literatur S. 462 Anm. 11), wonach die 30jährige Charo während der Geburt starb (V. 6 ὠδῖσιν πικραῖς ἐκπρολιπόνσα βίον). Demgegenüber wird im vorliegenden Epigramm präzisiert, daß die Wehen gerade am Nachlassen waren (Imperfekt ἀπελύετο), als sie verstarb (vgl. vorherige Anm.). Die Verbindung mit ἀπολύω, um das Abklingen der Wehen auszudrücken, ist anzutreffen bei Platon, dort im metaphorischen Sinne, symp. 206 D/E μεγάλης ὠδῖνος ἀπολύειν τὸν ἔχοντα (sc. die Schönheit den, der das Schöne in sich hat); außerdem Strabon XIV 1, 20 p. 639, 33 τὴν θεὸν (sc. Leto) ἀπολυθεῖσαν τῶν ὠδίνων; Eunap. vit. soph. VI 3, 4 p. 21, 22 G. (bezüglich der Geburt des Ablabios) κἀκείνην ἀπολύσασα (sc. eine Hebamme) τῶν ὠδίνων. Wenn die Wehen der Geburt (bei der Nachgeburt) schon am Nachlassen waren, so kann das nur darauf bezogen sein, daß Babis ihr Kind erfolgreich zur Welt gebracht hatte, bevor sie starb. Nur dazu paßt auch die im folgenden erwähnte χαρά, der jedenfalls ein freudiges Ereignis zugrunde liegen muß; die Freude über die reine Erwartung der kurz bevorstehenden Geburt kann wohl kaum gemeint sein. Der Vorfall, daß die Mutter trotz erfolgreicher Geburt stirbt, wurde literarisch neben den oben S. 118f. besprochenen berühmten Dialoggedichten auf die Samierin Prexo (AP VII 163–5) noch in einem Grabgedicht von Antipatros von Thessalonike AP VII 168 (GP 647–52) behandelt, wo die bereits tote Mutter Drillinge hervorbringt (V. 5 μητέρος ἐκ νεκρῆς ζωὸς γόνος). Eine ähnliche Situation liegt in einem fragmentarischen Steinepigramm des 1. Jh. n. Chr. aus Erythrai zugrunde (SGO 03/07/18), wo ein einziger Tag Leben und Tod hervorbringt (V. 6 παρέχον βιοτάν (…) θ[άνατον]); vgl. auch SGO 16/34/28 (Appia, 3. Jh. n. Chr.)

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V. 4 κάθθ̣α̣|νε δ᾿ ἐν λοχίαις, ἔλιπεν δέ ἑ νήπιον υἱόν. Nicht ganz klar geht aus einem neuen christlichen Epigramm aus Elaiussa Sebaste hervor, ob das Kind den Tod der Mutter im Kindbett überlebte, wenn es dort heißt (*19/09/04 V. 3): ἣ γόνον ὠδίνουσα τέκον θα|νάτοιο τελευτὴν („die ich in den Geburtswehen mein Todesende gebar“). Antipatros von Sidon hatte in AP VII 464 (HE 524–31) in Anlehnung an ein Epigramm des Kallimacheers Heraklit von Halikarnass in AP VII 465 (HE 1935–42) den noch komplizierteren Fall vor Augen, daß bei einer Zwillingsgeburt nur ein Kind überlebt. Der doppelte Tod von Mutter und Kind steht bei AP VII 166 (Dioskorides HE 1707–12) im Hintergrund. V. 3f. πο|λυπενθὴς v / Μοῖρα: Während normalerweise in Epigrammen der Gegenstand der Trauer, das heißt das Grab oder der Tote, mit dem poetischen Attribut (Hom. I 563 u. ö.) versehen wird, ist es hier wie in einem weiteren Grabgedicht aus Termessos (SGO 18/01/27 [Kaiserzeit] V. 1) Moira, die das Leid verursacht. V. 5 ἅλικες: Die an das Drama erinnernde Anrede der Altersgenossen ist in Grabgedichten selten; vgl. IMEG 83 (2./1. Jh. v. Chr.) V. 13 κλαύσατε Λυσάνδρην, συνομήλικες; IMEG 89 (2./3. Jh. n. Chr.) V. 1; SGO 16/31/15 (Phrygien, christlich) V. 16 unpathetisch alle Altersgruppen angesprochen. Hier ist die Apostrophe mit Pathos besonders passend, da das junge Mädchen Babis in seiner Heimatstadt, wo das Grabmal stand, sicherlich noch einen Bekanntenkreis von Gleichaltrigen hatte. In Gladiatorenepigrammen ist der Vokativ an die Freunde (φίλοι), hinter dem ein Hinweis auf die Grabspender stecken kann, einige Male anzutreffen; vgl. oben S. 192 Kommentar zu *17/11/03 V. 4. V. 5f.: Der genaue Sinn der Verse, mit denen die Rede der Verstorbenen einsetzt, ist schwer zu erschließen. Das seltene Wort ἄπνοᾰ „ohne Atem“ bezeichnet normalerweise die Leblosigkeit; in hoher Dichtung verwendet es Kallimachos ebenso am Versanfang im Sinne von „leblos (und dadurch duftlos)“ (aet. fr. 43, 14, dazu Harders Kommentar); vgl. IGUR 1255 V. 1 ἄπνουν bezogen auf das verstorbene Kind. Hier kann es als neutraler Akkusativ im Plural mit kurzer Endung nur adverbial aufgefaßt bzw. prädikativisch auf die beiden folgenden Subjekte bezogen werden. Die Bedeutung „atemlos (sc. aufgrund schneller Fortbewegung)“ ist nicht nachweisbar, paßte aber am besten zum Prädikat ἔπτατο (medialer athematischer Aorist von πέτομαι „schnell fliegen“), das – inkongruent – von den inhaltlich gegensätzlichen Subjekten χαρά und πένθος regiert wird. Ausgangspunkt der beiden Gemütszustände „Freude und Trauer“ ist nach der Idee des Gedichtes die Sprecherin selbst (ἀπ᾿ ἐμῆο [wie oben V. 1 ει>η] von ἀπ᾿ ἐμεῖο, seit Homer epische Dehnung von ἐμέο), die sich in Silandos im Vaterhaus befindet, aus welchem (ἐκ πατέρων) dann diese beiden Regungen bis nach Saittai „zum Gatten und in die Ehegemächer“ (πρὸς πόσιν … καὶ θαλάμους)

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vordringen. Der Verfasser des Epigramms wollte wohl zum Ausdruck bringen, daß die Geschehnisse im Vaterhaus, die von der Tochter ihren Ausgang nahmen, zweierlei mit völlig verschiedenen Stimmungen verknüpfte Botschaften zur Folge hatten. Während zunächst die Geburt des Kindes Freude (χαρά) auslöste, war der anschließende Tod der Gemahlin im Kindbett Grund zur Trauer (πένθος). Die kompliziert wirkende Betonung dieses Sachverhaltes ist verständlich, wenn man sich die reale Situation vor Augen führt, daß ein und derselbe Bote, oder sogar zwei Boten direkt hintereinander, diese beiden Nachrichten an den Ehemann in die 20 km entfernt liegende Nachbarstadt zu überbringen hatten. Mit ἀμφοτέρωθι sollte einleitend die Gegensätzlichkeit der beiden zu überbringenden Botschaften betont werden. Das mit Lokalsuffix gebildete, gegenüber ἀμφοτέρωθεν ungleich seltenere Adverb (vgl. Xen. mem. III 4, 12 „in beiden Fällen“) ersetzt hier wohl einfach ἀμφότερον,495 das oft zur Markierung zweier folgender Elemente dient; die zusätzliche kurze Silbe -θι erzeugt mit χᾰρά das richtige Metrum. In diesem Zusammenhang wäre zunächst das Adverb ἄπνοα eher als Betonung der unmittelbaren, „atemlos schnellen“ Abfolge der beiden Botschaften zu verstehen als in dem Sinne, daß etwas in „lebloser, toter Weise“ von irgendwoher seinen Ausgang nimmt; letztgenannte Deutung könnte schlecht mit der Nachricht über die Geburt des Kindes vereinbart werden, es sei denn, man möchte annehmen, daß hierin auf sehr komplizierte Weise zusätzlich zum Ausdruck gebracht werden sollte, daß zwar das Kind zunächst zur Welt kam, es aber dann, wie seine Mutter, doch noch verstarb, was allerdings sonst nirgends angedeutet wäre. Für die genauere Vorstellung, die hier zugrunde liegt, finden sich kaum Anhaltspunkte. Die Wahl des Adverbs ἄπνοα könnte auf die Atemlosigkeit des Boten zielen, der beide Nachrichten so schnell wie möglich, gleichsam ohne dazwischen Luft holen zu können, zu überbringen hatte. Oder es schweben die Reaktionen der Angehörigen vor, denen bei den Gefühlausbrüchen von Freude und Trauer, die in der Tat im folgenden noch expliziert werden, keine Zeit bleibt, um Atem zu holen; vgl. in dieser Beziehung ein Epigramm des Bianor AP VII 644 (GP 1661–6), in welchem eine Mutter vor Trauergeschrei am Grab ihres Kindes keine Luft mehr bekommt und selbst erstickt (V. 3f. κωκύσασα … / οὐκέτ᾿ ἐπιστρέψαι πνεύματος ἔσχε τόνους). In AP VII 608 stirbt eine Mutter aus Jammer um ihr früh

|| 495 Möchte man das Ortsadverb ἀμφοτέρωθι streng als solches auffassen, käme nach einem Hinweis von S. Schröder noch die etwas gekünstelt wirkende Möglichkeit der Satztrennung mit Asyndeton explicativum ins Spiel: ἄπνοα δ᾿ ἀμ|φοτέρωθι· χαρὰ πένθος τε … „Atemlosigkeit auf beiden Schauplätzen: Freude und Trauer …“

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verstorbenes Kind (V. 1f. θάνατον πενθοῦσα Μενίππη / κωκυτῷ μεγάλῳ πνεῦμα συνεξέχεεν), was hier aber keine Rolle spielen dürfte. V. 6 ἐκ πατέρων (ebenso in V. 10): Ausgehend von der Bedeutung „von den väterlichen Vorfahren her“ (vgl. Pind. Pyth. 8, 45) steht der Ausdruck hier in Überhöhung durch poetischen Plural für „von seiten des Vaters/Vaterhauses“. Die Formulierung rahmt die Darstellung, nach welcher der Vater trotz seiner Anwesenheit Sterben und Tod der kreißenden Tochter nicht mitbekam und ihr nicht die Augen schloß. Es sieht so aus, als habe dieser das Epigramm veranlaßt, um darin das für ihn schmerzliche Versäumnis zu verarbeiten. Unterschwellig ist in allen auf den Vater bezogenen Aussagen dessen Selbstvorwurf mitzuhören, die Situation nicht richtig eingeschätzt und seine Tochter beim Sterben alleingelassen zu haben. V. 7 κωκυτῷ ⟦ΤΩ⟧ δ᾿ ὀλολυ|γμὸς ἐμείγνυτο: Es wird die akustische Reaktion beschrieben, welche die beiden unterschiedlichen, durch die schnell aufeinanderfolgenden Ereignisse bewirkten Gefühlszustände Freude (χαρά) und Trauer (πένθος) bei den Angehörigen hervorrufen. Während ὀλολυγμός den Jubel über die Geburtsnachricht meinen dürfte, bezeichnet der κωκυτός das Trauergeschrei, das sich schon kurz darauf in die Freudenrufe einmischt. Der ὀλολυγμός leitet sich von der ὀλολυγή („gellender Schrei“) ab, die von ihrem Ursprung her das Aufschreien von Frauen gegenüber der ἀλαλαγή der Männer bezeichnet und in ritualisierter Form gebetsartig bei kultischen Handlungen (Hom. Z 301; vgl. Hdt. IV 189; Schol. in Aisch. sept. 268a), bisweilen bei einer Hochzeit, vor allem aber bei der Geburt eines Kindes durch die Umstehenden erfolgte.496 Auch in einem neuen kaiserzeitlichen Epigramm aus Daldis *04/08/05 ist wahrscheinlich mit der „Sitte des gellenden Schreies“ (V. 4 ἔθος … ὀλολυγῆς), die dem Verstorbenen nicht zuteil wurde, auf die ὀλολυγή bei der Geburt eines Kindes angespielt. V. 7f. παρεόντι / πα|τρὶ (…) οὐ προσέειπα: Die Verbindung des Dativs mit dem unkontrahierten syllabischen Augment (dieses schon Hom. A 552) begegnet auch in einem fragmentarischen Gedicht aus Hierokaisareia (SGO 04/04/99 [vgl. TAM V 2 Nr. 1279; 1./2. Jh. n. Chr.] V. 5 ἑῆι προσέειπ᾿ Ἀντωνίᾳ). Die Aorist-I-Endung am starken Aoriststamm εἰπ- in außerattischen Dialekten wird zwar in der Homer- (A 120 u. ö.) und Herodot-Überlieferung angezweifelt, seit Empedokles ist sie aber wohl unbestreitbar (DK 31 B 17 V. 15 ὡς γὰρ καὶ πρὶν ἔειπα πιφαύσκων πείρατα μύθων).

|| 496 Vgl. Deubner (1941) 14f. [610f.]; z. B. Hom. in Apoll. 119 bezüglich der Geburt Apollons. Das Wort kann auch ein Erschrecken zum Ausdruck bringen und bezeichnet in der späteren Entwicklung überhaupt jede Form des freudigen Jubels und der lauten Klage.

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V. 8 τὸν ἐκ ψυχῆς οὐ προσέειπα λόγον̣: In der Stilisierung des vorliegenden Epigramms äußert die Verstorbene selbst ihr Bedauern darüber, daß sie kein letztes Wort mehr an den Vater gerichtet hat. Mit der Wendung ἐκ ψυχῆς verbindet sich die Vorstellung, daß das (letzte) Wort im Sterben unvermittelt „aus tiefstem Herzen“ entspringt und der Sterbende mit dem Dahinschwinden der Seele seine innersten Gedanken nach außen kehrt. Wie hier das tiefe Bedauern über das Ausbleiben dieses Sterbeaktes trotz der Anwesenheit des Vaters zeigt, stellt normalerweise die Offenlegung der seelischen Beweggründe durch den Dahinscheidenden das von den Angehörigen ersehnte bleibende Vermächtnis dar. Durch die Aussprache des tiefsten Herzensanliegens im Tod bleibt der Verstorbene für die Nachwelt ähnlich lebendig wie durch den Akt des letzten Kusses, bei dem die Vorstellung zugrunde liegt, daß der letzte Lebenshauch durch ein Familienmitglied gleichsam aufgefangen wird und weiterwirkt; vgl. Lebek (1976); Rohde (1898) I 23 Anm. 1 (Ende). In Prusias am Hypios bittet der Verstorbene den Passanten in seinem Grabmal um Mitleid, da er vor seinem Tod weder mit Freunden noch mit Gemahlin und Kindern habe sprechen können (SGO 09/08/01 [2. Jh. n. Chr.] V. 2f.): οὐδὲ λάλησα φί|λοις οὐδ᾿ ἄλοχον προ|σέειπα φίλην, οὐ | παισὶ προσεῖπον. In Dorylaion hatte ein 12jähriger Knabe seine letzten Worte angeblich prophetisch als Trost für seine Eltern in niedergeschriebenen iambischen Trimetern hinterlassen (SGO 16/34/26 [Kaiserzeit] V. 3 μαντεύσατο γράπσας; V. 5f.). Auf einem Grabmal für seine verstorbene Frau Aquilina fragt der ohne Nachkommenschaft allein zurückbleibende Ehemann Phoibos, wer für ihn einen Gedenkstein aufstellen wird und an wen er seine letzten Worte wird richten können (SGO 11/08/01 [Amaseia, Kaiserzeit] V. 6): τίς μοι ταῦτ᾿ ἔρξει; τίνι δ᾿ | ὕστατα ῥήματα λέξω; In diesem Falle sind offenbar die Aufstellung des Grabmals und das Vermächtnis der letzten Worte in einen Zusammenhang gebracht. Die Grabinschrift wird selbst zum materiellen Ausdruck der ultima verba. In der Literatur ist die adverbiale Junktur ἐκ ψυχῆς in dem hier vorliegenden Sinne „aus tiefstem Herzen“ erst ab Xenophon aufspürbar (vielleicht emotionaler aufgefaßt als das seit Hom. Κ 10 belegte ἐκ κραδίης, was hier metrisch gepaßt hätte), wenn etwa von einem „herzlich verbundenen Freund“ (an. VII 7, 43 ἐκ τῆς ψυχῆς φίλος) oder von „herzlicher Liebe“ (oec. 10,4 ἀσπάσασθαι ἐκ τῆς ψυχῆς) die Rede ist. Ähnlich begegnet diese Bedeutung auch in der Koine des Neuen Testamentes, wo die Erfüllung von Gottes Wille „aus innerster Seele“ gefordert wird (Paulus Eph 6,6 ποιεῖν τὸ θέλημα τοῦ θεοῦ ἐκ ψυχῆς; vgl. Mt 22, 37 ἐν ὅλῃ τῇ ψυχῇ σου; Paulus ad Rom ἐκ καρδίας 6, 17). Die Unmittelbarkeit und Unverfälschtheit eines ἐκ ψυχῆς gesprochenen Wortes kommt in einer negativen Definition der συνήθεια („Gewöhnlichkeit“) in einem Lexikonexzerpt zum Tragen,

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Ps.-Zenodoros, Lex. Gr. Min. 256, 20f. ἡ δὲ συνήθεια ἐπὶ τοῦ μὴ ἐκ ψυχῆς λέγοντος, μὴ δὲ [sc. ἐπὶ τοῦ λέγοντος] ἃ φρονεῖ; vgl. or. Sib. [2], 122 (Ps.-Phokylides sent. 50) τά τ’ ἐκ ψυχῆς ἀγόρευε. In einem Epigramm aus Maionia beseufzen die Großeltern den Tod ihres kleinen Enkelsohnes „aus tiefstem Herzen“ (SGO 04/22/05 [224/5 n. Chr.] V. 4 ψυχῇ στενάχοντες). Die Sitte, daß ein Sterbender den nächsten Angehörigen – genauso wie eine hochstehende Person seinen Anhängern eine Abschiedsrede497 – ein persönliches letztes Wort mit auf den Weg gibt, an dem diese sich aufrichten können, kommt bereits in der Ilias zur Sprache. Dort beklagt Andromache am Ende der Trauerklage über ihren Gatten, daß Hektor kein „gedankenreiches Wort“ (πυκινὸν ἔπος) zu ihr gesprochen habe, an das sie sich in ihrer lebenslangen Trauer immer wieder würde erinnern können (Ω 743–5 οὐ γάρ μοι θνῄσκων λεχέων ἐκ χεῖρας ὄρεξας, / οὐδέ τί μοι εἶπες πυκινὸν ἔπος, οὗ τέ κεν αἰεὶ / μεμνῄμην νύκτάς τε καὶ ἤματα δάκρυ χέουσα.).498 In hellenistischen Epigrammen wird der Brauch des letzten Wortes im intimen Familienkreis mit dem Anspruch, die reale Situation nachzuzeichnen, literarisch ausgeführt. So läßt Anyte (AP VII 646 [HE 688-91, Geffcken 231]) die in den Armen ihres Vaters (V. 1 πατρὶ φίλῳ περὶ χεῖρε βαλοῦσα) sterbende Erato schildern, wie ihr kurz vor ihrem Tod das Augenlicht bricht. Auch in einem hellenistischen Epigramm der Simonidessammlung (AP VII 513 [FGE 1002–5, ebd. weitere Beispiele]) spricht der sterbende Sohn in den Armen seines Vaters (V. 2 πατρὸς περὶ χειρὸς ἔχοντος) seine Abschiedsworte, und bei Simias (AP VII 647 [HE 3296–9, Geffcken 240]) entläßt das dahinscheidende Mädchen Gorgo in einer letzten Berührung (V. 2 δέρης χερσὶν ἐφαπτομένα) ihre Mutter mit dem Auftrag, sie möge sich von nun an wieder um den Vater kümmern, um den mit ihrem Tod eintretenden Verlust der Alterspflege durch einen neuen Nachkommen zu ersetzen.499 V. 9 οὐδ᾿ ἐπ᾿ ἐμοῖς βλεφάροις χεῖρας θέτο: Zusammen mit den letzten Worten ist eine Berührung, wie sie in den oben erwähnten literarischen Epigrammen in Verbindung mit der Anrede durch den Dahinscheidenden stilisiert wird, am

|| 497 Vgl. zur Thematik der ultima verba berühmter Personen Stauffer (1950); Schmidt (1914). Ein besonderes Glanzstück ist das Vermächtnis Kyros’ des Großen an seine beiden Söhne (Xen. Cyr. VIII 7, 6–28, ebd. 26 Geste der Berührung durch die rechte Hand und letzter Blickkontakt). Persius mußte als kleiner Junge nach eigener Aussage vorgefertigte Abschiedsworte des großen Cato (3, 45 morituri verba Catonis; vgl. Kißels Kommentar) für den lateinischen Schulunterricht auswendig lernen. 498 Zu den ultima verba in den Kampfszenen der sich tötenden Helden Schmidt (1914) 15f. 499 Zu letzten Worten in Epigrammen vgl. Schmidt (1914) 19–22; GVI 1204–1208 als Sondergruppe innerhalb der Gedichtform „Zwiesprache des Toten mit dem Hinterbliebenen“ (GVI 1193-1203).

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Sterbebett der Tochter ausgeblieben. Daß kein gegenseitiger körperlicher Kontakt im Sterben stattfindet, wird etwa auch in einem Grabmal auf einen dionysischen Tänzer thematisiert, der wohl in der Ferne ums Leben kam und von daher seine Hände nicht mehr zu den Eltern ausstrecken konnte (SGO 09/09/16 [Klaudiupolis, 3. Jh. n. Chr.] V. 4):

μήτε γο|νεῦσιν ἐμοῖς χεῖρας ὀρε|ξάμενος Im vorliegenden Fall geht es aber nicht einfach um eine letzte zärtliche Zuwendung, sondern um die Unterlassung des Schließens der Augen, welches die erste Pflicht der Hinterbliebenen darstellt. Schon Agamemnon führt bei seiner Begegnung mit Odysseus im Hades den Frevel seiner Gattin eindrücklich damit aus, daß sie ihm nicht einmal Augen und Mund geschlossen habe (Hom. Λ 425f.):

οὐδέ μοι ἔτλη ἰόντι περ εἰς Ἀΐδαο, χερσὶ κατ’ ὀφθαλμοὺς ἑλέειν σύν τε στόμ’ ἐρεῖσαι. Und an späterer Stelle bezeichnet Laertes bezogen auf seinen vermeintlich in der Ferne verstorbenen Sohn Odysseus diesen Akt als letzte Ehre, die ihm von der Hand der Gattin versagt geblieben sei (ω 296):

ὀφθαλμοὺς καθελοῦσα· τὸ γὰρ γέρας ἐστὶ θανόντων. Vgl. Λ 452f. (Odysseus verächtlich zum getöteten Sokos:) ἆ δείλ’ οὐ μὲν σοί γε πατὴρ καὶ πότνια μήτηρ / ὄσσε καθαιρήσουσι θανόντι περ. Daß das Schließen der Augen, die als Sitz der Seele gelten (vgl. Babrios 95, 35 ψυχαὶ δ’ ἐν ὀφθαλμοῖσι τῶν τελευτώντων), ähnlich wie das Anhören des letzten Wortes oder ein letzter Kuß mit der Wahrung der Seele (ψυχή) des Versterbenden über dessen Tod hinaus in Zusammenhang gebracht werden konnte, deutet sich in einem spätkaiserzeitlichen Epigramm aus Rom an. Dort erzählt ein mit fünf Jahren dem Tode erlegener Knabe ausführlich seine leidvolle Krankheitsgeschichte, „bis schließlich die Hände meiner Mutter meinen Lebensatem von den Augen nahmen“ (IGUR 1702 [Vérilhac 106] V. 29 ἄχρις ὅτου ψυχήν μου μητρὸς χέρες εἷλαν ἀπ᾿ ὄσσων; vgl. Rohde (1898) I 23 Anm. 1500). In drastischer Weise ist damit im Gedicht aus Silandos auf die Umstände des konkreten Sterbefalls angespielt: Obwohl der Vater anwesend war (V. 7f. καὶ παρεόντι / πα|τρί), nahm er, vielleicht abgelenkt durch die Freude über oder die Sorge um den neugeborenen Säugling, das Ableben der durch die vorangegangene Geburt erschöpften Tochter eine ganze Zeit lang nicht wahr. Diese fand er wohl plötzlich tot im Kindbett vor. Vers 9 spielt entweder auf die Situation an,

|| 500 Vgl. auch SGO 03/06/04 (CLE 1168; Teos, 1./2. Jh. n. Chr.) V. 3f. nec (…) potui (…) || (…) manibus lumina contegere; Ovid her. 1, 101f. 113.

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daß jemand anderes als der Vater, der dazu als nächster Verwandter in Frage kam, die Augen des Mädchens verschlossen hat, oder daß das Ableben der Tochter etwa ein bis zwei Stunden unentdeckt blieb, bis durch den bei den Augenlidern einsetzenden rigor mortis das Schließen der Augen nicht mehr möglich war. In den Worten kommt jedenfalls die Verzweiflung des Vaters zum Ausdruck, der sich wegen seines Versäumnisses gleichsam öffentlich anklagt, dadurch daß er sich im Grabepigramm durch den Mund der Verstorbenen den unverzeihlichen Fehler vorhalten läßt. V. 9f. καὶ τόδ᾿ ἐς Ἅδαν v / οἴσομ᾿ ὑπὸ σπλ|άνχνοις δύσμορος ἐκ πατέρων: Μit τόδ(ε) ist nach dem als konklusiv aufzufassenden καί die zuvor ausführlich bedauerte Unterlassung der Handlungen gemeint, die zum familiären Sterbeakt gehören (die gegenseitige körperlich-sprachliche Zuwendung). Dieses Unterbleiben wirkt sich sogar auf das Schicksal der Toten am neuen Verweilort, dem Hades, aus, wo Babis’ Seele – nun gleichsam doppelt gestraft – unglücklich (δύσμορος) durch die Versäumnisse im irdischen Vaterhaus (ἐκ πατέρων) ihr Dasein fristen muß. Die Formulierung ὑπὸ σπλ|άνχνοις kann an dieser Stelle nicht den Mutterleib meinen wie in V. 1, sondern bringt zum Ausdruck, daß Babis die negativen Erlebnisse „im Innersten“, das heißt in ihrer Seele, bis in die Unterwelt mit sich trägt; vgl. zur Ausdrucksweise die oben zu V. 1 zitierte Stelle ΑP XII 160 (HE 3776–81) V. 1f. Θαρσαλέως τρηχεῖαν ὑπὸ σπλάγχνοισιν ἀνίην / οἴσω. Daß die letzte irdische Erfahrung für den Toten so prägend ist, daß sie ihn bzw. seine Seele über das Erdenleben hinaus noch im Hades, wie in einem ‚neuen Leben‘, gleichsam in seiner Persönlichkeit bestimmt, ist ein oft in den Grabepigrammen zu findender Gedanke. Bisweilen wird dort argumentiert, ein würdiges Grabmal verschaffe dem Toten im Hades höhere Anerkennung und Wohlergehen (vgl. etwa *04/08/04 V. 7f.), und wem keine letzte Ehre zuteil würde, der sei geradezu „doppelt tot“, denn er ist einerseits physisch gestorben, andererseits lebt seine Seele (durch das Vergessen) nicht mehr weiter (vgl. unten S. 280f. zu *04/02/14 V. 3f.). V. 11/13 αἰαῖ: Zum Akkusativ nach Ausrufen wie φεῦ, ὤ, αἰαῖ vgl. HE zu 966 (AP XIII 23 [Asklepiades] V. 5). Der doppelte, jeweils verschiedenen Sprechern in den Mund gelegte anaphorisch-erwiderte Wehruf, der sonst in der Tragödie und in den Unheilsvoraussagen der Oracula Sibyllina begegnet (vgl. noch IGUR 1379 [2./3. Jh. n. Chr.] V. 1f.), läßt die Totenklage besonders dramatisch erscheinen. V. 11 τὰν (…) ὁδόν (…) εἰς θαλάμους: Die von der Verstorbenen vorgebrachte Klage bezieht sich metaphorisch auf den Weg, den sie nicht mehr in ihre Ehegemächer wird zurückkehren können. Abermals ist der Gedanke des Gedichtes an der Situation entwickelt, die von der räumlichen Distanz geprägt ist zwischen der Vaterstadt (ἀπὸ πάτρας) Silandos, wo die junge Frau im Kindbett plötzlich stirbt,

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und ihrer neuen Heimat (Saittai), wo sie nach ihrem Aufenthalt bzw. erfolgreicher Entbindung freudig erwartet worden wäre. Die Formulierung, daß sie den Weg „niemals“ mehr wird zurückgehen können (οὔποτε … νείσομαι), betont zudem, daß selbst der Leichnam in der väterlichen Heimat verblieben ist, und mag auch vor dem Hintergrund zu lesen sein, daß es die Frau zuvor schon öfter einmal bei anderen familiären Gelegenheiten in ihr heimatliches Vaterhaus gezogen hatte, von wo sie freilich immer wieder unbeeinträchtigt zum Anwesen ihres Gemahls zurückkehrte. V. 12 ἐ̣μοῖς γουν̣ο|ῖς: Die Deutung ist schwierig. Mit γουνοῖς, von ὁ γουνός, können landschaftlich „hochliegende bzw. fruchtbringende Orte“ (vgl. Orion 38 ὑψηλὸς τόπος gegenüber schol. in Il. 18, 57c IV 446 γόνιμος τόπος) bezeichnet sein; vgl. in Epigrammen AP XIV 150 (Orakel) V. 2 γουνὸν Ἀθηναίων ἀφικέσθαι; GVI 1932 (Sparta, 2. Jh. n. Chr.) V. 5. Das Possessivum ἐμοῖς markierte diese als einen Landstrich, welchem Babis eigentlich zugehört. Demzufolge müßte der Ausdruck als Richtungsdativ aufgefaßt werden. Dies fügte sich insofern zur Hintergrundsituation, als sich Babis zur besseren Versorgung in fortgeschrittener Schwangerschaft in ihr Vaterhaus nach Silandos begeben hatte und die „fruchtbaren Ländereien“ (γουνοῖς) sich dann auf das (wohl abgeschieden gelegene) Landgut ihres Mannes bezögen (vgl. oben zu μερίς), wohin sie entgegen ihrer Planung im Anschluß an den Aufenthalt im Vaterhaus nicht mehr zurückkehrte. In γούνοις eine falsche, sonst nicht belegte Bildung des dat. pl. von τὸ γόνυ analog zu γοῦνα und γούνων zu sehen, führt nicht weiter, da eine Idiomatik von γόνασι im Zusammenhang mit einem Verb der Fortbewegung nicht existiert. Eine Dehnung des Wortes γόνος (im Sinne „Kind“), etwa um es ins Metrum einzupassen, ist leider ohne jede Parallele. Bei dem einzigen in LSJ gegebene Beleg für die gedehnte Form γοῦνος anstelle von γόνος (im Sinne von „Leibesfrucht“ im Zusammenhang einer Frühgeburt) handelt es sich um eine zu Unrecht in die Edition gelangte Konjektur bei dem medizinischen Schriftsteller des 2. Jh. n. Chr. Aretaios (IV 5, 1 CMG II p. 71, 13), wo genauso γόνος hergestellt wurde. Möchte man dem Dichter des vorliegenden Epigramms dennoch eine solche sehr freizügige poetische Umformung zugestehen, hätte er mit ἐμοῖς γούνοις ausdrücken wollen, daß die Verstorbene nicht mehr „mit ihren Kindern“ zum Ehemann heimkehrte. Mit der grammatischen Singularität hätte er dem Leser zugleich auch seine gedankliche Unschärfe zugemutet, die mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet: Handelt es sich um einen poetischen Plural für das neugeborene Kind oder hatte Babis im Vaterhaus noch andere Kinder bei sich? Sind „die Kinder“ überhaupt wieder zu ihrem Vater zurückgekehrt?

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V. 13 α̣ἰα̣ῖ πορ|φυρέην κούρην, ὑακίνθινον ἔρνος: Ab hier wird nun gemäß der Stilisierung des Gedichtes die Klage des Mädchens erwidert (V. 13–16). Es erfolgt ein Sprecherwechsel, der mit den aus objektiver Perspektive gesprochenen Versen 1–4 einen Rahmen für die Ichrede der Verstorbenen schafft. Der Dichter läßt den laut lesenden Passanten Stoßseufzer ausrufen: Zunächst bedauert er in direkter Anrede der Babis ihre verlorene Schönheit, zum Schluß (V. 15f.) ermutigt er in mitfühlenden Worten ihren Gatten und ihren Vater. Nach dem Wehruf αἰαῖ läßt die Apostrophierung der Verstorbenen als ὑακίνθινον ἔρνος an die aitiologische Sage um Hyakinthos denken, wobei das homerische Bild des ἔρνος („junger Trieb“) generell auf einen vielversprechenden jungen Menschen paßt (vgl. unten zu *17/23/01 V. 10 S. 272f.). Nach einer Sagenversion wurde der schöne Jüngling Hyakinthos versehentlich durch einen Diskuswurf von seinem Liebhaber Apollon getötet, der zum Gedenken an den Geliebten aus dessen Blut die purpurfarbene Blume wachsen ließ und ihren Blättern den Klagelaut AIAI einschrieb; vgl. Ovid met. X 212–216; zu Hyakinthos in Mythologie und Kult vgl. Murr (1890) 256–259; Eitrem (1914) 9; vgl. auch die salaminische Lokalsage bei Pausanias I 35, 4 zur Entstehung einer der Hyazinthe ähnlichen Pflanze nach dem Tod des Telamoniers Aias. In einem hellenistischen Kunstepigramm des Bukolikers Moschos tritt der Zusammenhang zwischen dem Klagelaut und der Sage noch ganz deutlich hervor, wenn die Hyazinthe aufgefordert wird ihr AIAI über den Tod des Bion von Smyrna, selbst ein Kenner des Mythos (vgl. Gedicht I Buc. Graec. p. 159), von sich zu geben (p. 140 Gow V. 6 νῦν ὑάκινθε λάλει τὰ σὰ γράμματα καὶ πλέον αἰαῖ). Daß der Mythos im kaiserzeitlichen Kleinasien allgemein bekannt gewesen sein dürfte, zeigt ein weiteres Epigramm aus Attaleia, in dem der Tod eines Gladiators mit dem Schicksal des Hyakinthos verglichen wird (SGO 18/12/02 [Robert 331; Mann 185] V. 4 ποτε δισ|κευθέντα πάϊν καλὸν | ὡς ῾Υάκινθον). Es sei dahingestellt, ob dem Dichter des Epigramms die gedankliche Verbindung zum Hyakinthos-Mythos bewußt vorschwebte. Ungeachtet dessen spielt hier die Hyazinthe als Anspielung auf die noch jugendliche Schönheit der Verstorbenen eine Rolle. In einem ähnlich umfangreichen Grabgedicht aus der Gegend um Saittai (SGO 04/12/09; 148/9 n. Chr.) wird wenigstens unterschwellig an diesen Mythos gedacht, wenn das Alter des als σεμνὸς ἔφηβος (V. 13) verstorbenen Knaben, den Klotho dahinraffte, „bevor an der Wange der weiche Flaum hervorsproß“ (V. 12 πρὶν γένυν ἀνθῆσαι μαλακὴν τρίχα), als „Hyakinthos-Alter“ (V. 11 ἡλικίην ὑακίνθιον) bezeichnet ist. Daß die Pflanze erotisch konnotiert war, geht bereits aus der Odyssee hervor, wenn Odysseus’ gelocktes Haar bei der Begegnung mit Nausikaa der Form der Hyazinthenblüte gleicht (ζ 231 ὑακινθίνῳ ἄνθει ὁμοίας) oder Sappho wahrscheinlich in einem Hochzeitslied Aphrodite

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vorstellte mit „von Hyazinthen durchflochtenen Locken“ (test. 194 ὑακίνθῳ τὰς κόμας σφίγξασα). Auch die Anrede des Mädchens als „purpurfarben“ (V. 13 πορ|φυρέην) steht in direktem Zusammenhang mit dem auf die Hyazinthe bezugnehmenden Adjektiv, denn die Pflanze wird in der Antike mit dieser Farbe in Zusammenhang gebracht (vgl. Sappho fr. 105 b V.; Stadler [1914] 6); zur Purpurfarbe allein bezüglich der anziehenden Schönheit junger Menschen vgl. Phrynichos F 13, TGrF I Snell (über Troilos) λάμπει δ’ ἐπὶ πορφυρέαις παρῇσι φῶς ἔρωτος; Simonides fr. 80 PMG πορφυρέου ἀπὸ στόματος ἱεῖσα φωνὰν παρθένος. V. 14 ἧς τρυφερὸν νεότας πῦρ χ̣ρόα ληΐ|σατο: Die Grundstruktur τρυφερὸν (…) πῦρ χ̣ρόα ληΐ|σατο ist deutlich und entspricht guter poetischer Ausdrucksweise. Der hellenistische Dichter Asklepiades hat das Wort ἐληΐσατο in einem sympotischen Gedicht an derselben Versstelle im Pentameter benutzt, um auszudrücken, daß Aphrodite ihn ganz in ihren Besitz nahm (AP ΧΙΙ 50 [HE 880–7] V. 2). Genauso wurde hier der schöne Körper von Babis, zur Steigerung der Dramatik umschrieben durch die ehemals „Begierde hervorrufende Haut“ (τρυφερόν … χρόα), die Beute des Feuers. Zu der genannten Junktur als Ausweis anziehender Schönheit von Mädchen AP V 151 (Meleager; HE 4166–73) V. 6; AP V 35 (Rufinos) V. 8 τρυφερῷ χρωτί. Etwas umständlich wirkt die Anbindung des auf κούρην (V. 13) bezogenen genitivischen Relativpronomens ἧς im Zusammenhang mit νεότας, welches nur im Sinne des Genitivs νεότητος (wie im dorischen Kreta; vgl. LSJ s. v. III.; Thumb/Kieckers [1932] 168 § 143, 15) untergebracht werden kann. Das Relativum gehört possessivisch zu dem aus χρόα und dem qualifizierenden Genitivattribut νεότας gebildeten Gesamtbegriff („Jugendhaut“). Der Schmerz richtet sich auf die Vorstellung, daß von der schönen körperlichen Gestalt nach der Einäscherung nichts mehr übrig ist. Dennoch kann freilich die Seele der Verstorbenen über den physischen Tod hinaus in den Versen 5–12 in Ichrede von ihrem Schicksal berichten. V. 15f. τέτλαθι δὴ σύ, Ξέναρχε … / καὶ σύ, πά|τερ Φιλόνεικε: Die mitfühlende Anrede der Hinterbliebenen, des Gatten und des Vaters, in den letzten beiden Versen entspricht gleichsam einer Beileidsbekundung, die der Dichter auskomponiert und dem zeitgenössischen Leser der Inschrift in den Mund gelegt hat. Der markante Aufruf τέτλαθι begegnet in der Ilias zweimal in Götterdialogen, einmal von seiten des Hephaistos an seine Mutter Hera, die den Plan des Zeus dulden soll (A 586 τέτλαθι, μῆτερ ἐμή). Ein anderes Mal mäßigt Dione die Aufregung ihrer Tochter Aphrodite über die Verwundung des Sohnes Aineias (E 382 τέτλαθι, τέκνον ἐμόν). Doch der Dichter des vorliegenden Epigramms hatte wohl eine noch prominentere Homerstelle im Sinn: Zu Beginn des zwanzigsten Gesangs der Odyssee unterdrückt Odysseus sein Aufbegehren gegen die sich

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den Freiern hingebenden Frauen mit dem von Platon zweimal (Phaed. 94 E; rep. 390 D) und in der Folge häufig besprochenen Selbstappell an das Herz (υ 18): τέτλαθι δή, κραδίη. V. 16 καὶ σύ (…) ἄλγεσι δαιόμε̣ν̣ος: Der Vokativ an den Vater steht weiterhin in Abhängigkeit vom Imperativ aus V. 15, dessen Erweiterung nun als Participium coniunctum mit den drastischen Worten ἄλγεσι δαιόμενος das gesamte Gedicht abschließt. Die Verwendung von δαίομαι in Verbindung mit Schmerzen ist orientiert an einer Stelle des ersten Gesangs der Odyssee, wo Athene ihr Mitleid mit Odysseus in die Worte kleidet (α 48):

ἀλλά μοι ἀμφ’ Ὀδυσῆϊ δαΐφρονι δαίεται ἦτορ. Aus den Scholien geht hervor, daß man sich bereits in der Antike an der im Schulunterricht gelesenen Stelle uneinig darüber war, ob δαίομαι von dem die Deverbativa δαίνυμι/δαΐζω bildenden und nur medial-passivisch vorkommenden δαίομαι501 „zerteilen“ (vgl. Schol. d1/d2 ed. Pontani und die zugehörigen Papyrusscholien im Apparat; so auch die modernen Lexica) oder von δαίω (