›Furor satiricus‹: Verhandlungen über literarische Aggression im 17. und 18. Jahrhundert 3484181664, 9783484181663

Originally presented as the author's thesis (doctoral)--Universit'at Kiel, 1999. This study investigates the

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›Furor satiricus‹: Verhandlungen über literarische Aggression im 17. und 18. Jahrhundert
 3484181664, 9783484181663

Table of contents :
Einleitung
1. Literarische Destruktivkraft
1. Überlegungen zu einer Theorie literarischer Aggression
1.1 Die Erzeugung einer normativ-klassifikatorischen Ordnung
1.2 Poetologisch-kulturelle Verhandlungen
1.3 Zum Begriff ›literarische Aggression‹
1.4 Methodik und forschungspragmatische Beschränkungen
Exkurs: Vis comica. Codierungen von Gewalt in Selbst- und Fremdreflexion der Satire
II. Legitimationsmodelle literarischer Aggression
1. Satirische Strafe
1.1 Legitimationsbedingungen literarischer Gewalt
1.2 Die Beziehung von Strafrecht und Satire
1.3 Poenae mensura. Der satirische »Code des Leidens«
1.4 Generalpräventive Funktion der Satire
1.5 Die Grenze des Strafmodells: Die Strafrechtsreform des Humors bei Jean Paul
2. Satirische Therapeutik
2.1 Medicina mentis. Denkbedingungen der satirischen Seelenmedizin
2.2 Moralmedizinische Pathologie, Semiotik und Therapeutik: Christian Weise und die ›Sitten-Arzney-Kunst‹ des Vincentius Placcius
2.3 Methoden der literarischen Therapeutik
2.4 Satirische Arznei und Pharmakotherapie im 17. und 18. Jahrhundert
2.5 Satirische Katharsis
2.6. Die List der sanativen Vernunft
2.7 Narrenspital und Irrenanstalt im 17. und 18. Jahrhundert
2.8 Satirische Chirurgie
2.9 Die Grenze des Therapiemodells
3. Satirische Didaktik
3.1 Infinität und Notwendigkeit satirischer Erziehung
3.2 Die ›kleine Gewalt‹ der Erziehungsstrafen
3.3 Pädagogik des Spottes
3.4 Unpassionierte Didaktik
3.5 Die Grenze des Erziehungsmodells. Autonomieästhetische Kritik der satirischen Didaktik
III. Furor satiricus. Zur Psychologie literarischer Aggression im 17. und 18. Jahrhundert
1. Poetik und Psychologie
2. Ethik und Ökonomie des Lachens
2.1 Neustoische Lachaskese und rhetorische Konzessionierung der Komik
2.2 Die Suspektheit des satirischen Charakters
3. Die Renaturalisierung der Gewalt
3.1 »Imperet hoc natura«. Die Naturnotwendigkeit der Satire bei Horaz, Persius und Juvenal
3.2 Satirische Naturen im 18. Jahrhundert: Johann Christoph Gottsched und Friedrich Rudolph Ludwig von Canitz
3.3 Die Diskretion des Fühlens
4. »A characteribus agnoscere«. Typologie und Psychologie satirischer Schreibweisen
4.1 indignatio und admiratio
4.2 Die »admiration« in der cartesischen Psychologie
4.3 Gefühl und Verstand: Schillers Traktat ›Ueber naive und sentimentalische Dichtung‹
4.4 Intellektualität und Harmlosigkeit der Komik. Die Begründung der Arbeitsteilung zwischen Satire und Tragödie aus dem Geist der aristotelischen Psychologie
5. Die Gemütsbeschaffenheit des Satirikers
5.1 Barthold Feinds poetologische Temperamentenlehre
5.2 Von der Temperamentenlehre zur modernen Psychologie
6. »Impulsus ad scribendum«. Zur Phänomenologie des satirischen Leitaffekts im 18. Jahrhundert
6.1 Zorn und Haß in der philosophischen und medizinischen Anthropologie
6.2 Die Grausamkeit im Herzen des Satirikers
6.3 Das Gesicht des Satirikers. Physiognomik in Karl Philipp Moritz’ ›Magazin zur Erfahrungsseelenkunde‹
7. Zur Psychodynamik der satirischen Kommunikation
7.1 Die psychologische Leseranweisung als paratextuelles Regulativ
7.2 Selbstkritik und ethische Parität: Der Adhortativus inclusivus der Satire
8. Zur Psychologie des Pasquillanten
8.1 Der affekttheoretische Ort der maledicentia
8.2 Logische Immanenz der Spottsucht. Vom Furor des Archilochos zum Wahnsinn Jonathan Swifts
8.3 Furor und Ars, Affekt und Kalkül
IV. Poeto-Theologie der Satire
1. Denkbedingungen der theologischen Satirekritik
1.1 Lachaskese und Zeitökonomie. Monastische und neustoische Tradition. Gotthard Heideggers ›Mythoscopia ro- mantica‹
1.2 Christus als Spottopfer und der Genitiv Salomos: ›Gott spottet der Spötter‹
2. Satirischer Zorn und ira dei: Selbstbehauptung als Stellvertretung
2.1 Spott und Rache
2.2 Der heilsgeschichtliche Ort der Satire
3. Das Problem der Vokation
3.1 Zwischen Poesie und Prophetie. Nicodemus Frischlin
3.2 Praktische Satiretheologie. Die Lehre von der correptio fraterna
4. Das Heilige und das Lächerliche. Satire und Predigt
4.1 Das Problem des Kirchenschlafs
4.2. Satirischer Protestantismus. Johann Balthasar Schupp und die Homiletik im 17. und 18. Jahrhundert
5. Christliche Nächstenliebe und literarische Aggression
5.1 Moraltheologie der Satire. Johann Franz Buddeus’ ›Institutio theologiae moralis‹ und Johann Lorenz von Mosheims ›Sitten-Lehre der Heiligen Schrift‹
5.2 Im Spannungsfeld von Moral und Nutzen. Christian Weises Rechenschaft vom satirischen Wort
5.3 Am Ende der Einheit von Moral und Nutzen. Der Utilitarismus der Satire im 18. Jahrhundert
5.4. Superbia als satirische Ursünde
5.5 Biblische Ironismen und satirische Heilige. Blaise Pascals ›Lettres Provinciales‹
Exkurs: Skizze zu einer Satanologie der Satire
V. Vorgezogenes Schlußwort. Literarische Selbstverhandlungen über Satire
1. Sacrificium saturae. Christian Thomasius’ literarische Konversion in den ›Ostergedancken/ Vom Zorn und der bitteren Schreib-Art wider sich selbst‹
2. Ironische Konversion. Boileaus IX. Satire und Bodmer/Breitingers ›Mahler der Sitten‹
3. Satirische Selbstbehauptung. Theodor Haeckers ›Dialog über die Satire‹
Literaturverzeichnis
A. Quellen
1. Juristische Texte
2. Medizinische Texte
3. Pädagogische Texte
4. Theologische Texte
5. Satirische, poetologische und andere Texte
B. Forschungsliteratur
C. Nachschlagewerke
Bilderverzeichnis
Namenregister

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann

Band 166

Christoph Deupmann

>Furor satiricus< Verhandlungen über literarische Agg im 17. und 18. Jahrhundert

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2002

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Deupmann,

Christoph·.

»Furor satiricus« : Verhandlungen über literarische Aggression im 17. und 18. Jahrhundert / Christoph Deupmann. - Tübingen: Niemeyer, 2002 (Studien zur deutschen Literatur; Bd. 166) Zugl.: Kiel, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-484-18166-4

ISSN 0081-7236

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Einband: Geiger, Ammerbuch

Furor, [...] war so viel, als die Raserey, welche zu Friedenszeiten gebildet wurde, wie sie mit hundert Ketten gebunden auf allerhand Waffen saß, jedoch aber vor Tollheit lauter Blut mit dem Maule schäumete [...]. Zu Kriegeszeiten hingegen wurde sie, als frey von den Ketten, allein mit erhobenen blutigen Kopfe und einem Gesichte voller Wunden vorgestellet, welches sie jedoch mit dem Helme bedeckete. Dabey trug sie an dem linken Arme ein abgenutztes Schild, welches voller Pfeile steckete, in der rechten aber führete sie eine Fackel, alles damit in Brand zu setzen. (Benjamin Hederichs Gründliches Mythologisches Lexikon. Leipzig 1770, Sp. 1132.)

Inhalt

Einleitung

I.

ι

Literarische Destruktivkraft

14

ι. Überlegungen zu einer Theorie literarischer Aggression

14

1.1 Die Erzeugung einer normativ-klassifikatorischen Ordnung

14

1.2 Poetologisch-kulturelle Verhandlungen

20

1.3 Z u m Begriff »literarische A g g r e s s i o n

25

1.4 Methodik und forschungspragmatische Beschränkungen . .

31

Exkurs: Vis comica. Codierungen von Gewalt in Selbstund Fremdreflexion der Satire

33

a) Die Parität physischer und literarischer Gewalt. Eduard Maria Oettinger: >Das schwarze Gespenst< b) Die Rhetorik physischer Gewalt II.

33 35

Legitimationsmodelle literarischer Aggression

48

ι. Satirische Strafe

48

1.1 Legitimationsbedingungen literarischer Gewalt

48

1.2 Die Beziehung von Strafrecht und Satire

51

1.2.1 »Complement der Gesetze«. Naturrechtliche Begründung der satirischen Pönalisierung

51

1.2.2 Die strafrechtliche Disziplinierung des Pasquillanten 1.3 Poenae mensura. D e r satirische »Code des Leidens«

55 64

1.3.ι Moralische Delikte und literarische Vergeltungsformen 1.3.2 Das Risiko des Vergeltungsexzesses 1.4 Generalpräventive Funktion der Satire

64 66 71

1.4.1 Das satirische Straftheater

75

1.4.2 Strafe und Reinigung

80

VII

1 . j Die Grenze des Strafmodells: Die Strafrechtsreform des Humors bei Jean Paul 2. Satirische Therapeutik 2.1 Medicina mentis. Denkbedingungen der satirischen Seelenmedizin 2.2 Moralmedizinische Pathologie, Semiotik und Therapeutik: Christian Weise und die >Sitten-Arzney-Kunst< des Vincentius Placcius 2.3 Methoden der literarischen Therapeutik 2.4 Satirische Arznei und Pharmakotherapie im 17. und 18. Jahrhundert 2.4.1 Von Silenen und Apothekerbüchsen. Zur Genese einer medizinisch-poetologischen Metapher 2. j Satirische Katharsis 2.J.1 Allopathische Katharsis der Satire 2.J.2 Katharsis der Komik und humoralistisch-affektische Therapie im 18. Jahrhundert 2.6. Die List der sanativen Vernunft 2.6.1 Die ärztliche Ästhetik der Fiktion 2.6.2 Die Logik des Deliriums. Eine >fiktionalistische< Therapie der Melancholie als poetologisches Modell bei Johann Michael Moscherosch 2.7 Narrenspital und Irrenanstalt im 17. und 18. Jahrhundert.. 2.7.1 Die moralische Perzeption des Wahnsinns. Tommaso Garzoni, Johann Beer und Christian Weise . 2.7.2 Das Schauspiel der Narrheit 2.8 Satirische Chirurgie 2.8.1 Reservat aggressiver Schreibweisen 2.8.2 Eskamotierung der Aggression und extremer Paternalismus 2.9 Die Grenze des Therapiemodells 2.9.1 Das Verstummen der Resonanz: Antiquierung der medizinischen Metaphorik 2.9.2 Kritik der satirischen Medizin - vom Barock bis zu Lessings >Hamburgischer Dramaturgie< 3. Satirische Didaktik 3. ι Infinität und Notwendigkeit satirischer Erziehung 3.2 Die >kleine Gewalt< der Erziehungsstrafen 3.2.1 Die normative Grenze der Korrektur 3.2.2. Pädagogische Schulstrafreform VIII

81 84 84

88 92 94 104 107 107 113 117 117

120 127 127 134 138 138 142 147 147 148 153 1j j ij8 ij8 i6j

III.

3-3 Pädagogik des Spottes 3.4 Unpassionierte Didaktik 3.5 Die Grenze des Erziehungsmodells. Autonomieästhetische Kritik der satirischen Didaktik

176

Furor satiricus. Zur Psychologie literarischer Aggression im 17. und 18. Jahrhundert

180

ι. Poetik und Psychologie

180

2. Ethik und Ökonomie des Lachens 2.1 Neustoische Lachaskese und rhetorische Konzessionierung der Komik 2.2 Die Suspektheit des satirischen Charakters

182

3. Die Renaturalisierung der Gewalt 3.1 »Imperet hoc natura«. Die Naturnotwendigkeit der Satire bei Horaz, Persius und Juvenal 3.2 Satirische Naturen im 18. Jahrhundert: Johann Christoph Gottsched und Friedrich Rudolph Ludwig von Canitz . . . . 3.3 Die Diskretion des Fühlens 4. »A characteribus agnoscere«. Typologie und Psychologie satirischer Schreibweisen 4.1 indignatici und admiratio 4.2 Die »admiration« in der cartesischen Psychologie 4.3 Gefühl und Verstand: Schillers Traktat >Ueber naive und sentimentalische Dichtung< 4.4 Intellektualität und Harmlosigkeit der Komik. Die Begründung der Arbeitsteilung zwischen Satire und Tragödie aus dem Geist der aristotelischen Psychologie 5. Die Gemütsbeschaffenheit des Satirikers 5.1 Barthold Feinds poetologische Temperamentenlehre 5.2 Von der Temperamentenlehre zur modernen Psychologie . . 6. »Impulsus ad scribendum«. Zur Phänomenologie des satirischen Leitaffekts im 18. Jahrhundert 6.1 Zorn und Haß in der philosophischen und medizinischen Anthropologie 6.2 Die Grausamkeit im Herzen des Satirikers

167 171

182 187 190 190 192 198

204 204 209 211

214 216 216 220

221 221 227 IX

6.3 Das Gesicht des Satirikers. Physiognomik in Karl Philipp Moritz' >Magazin zur Erfahrungsseelenkunde< 7. Zur Psychodynamik der satirischen Kommunikation 7.1 Die psychologische Leseranweisung als paratextuelles Regulativ 7.2 Selbstkritik und ethische Parität: Der Adhortativus inclusivus der Satire

IV.

235 235 239

8. Zur Psychologie des Pasquillanten 8.1 Der affekttheoretische Ort der maledicentia 8.2 Logische Immanenz der Spottsucht. Vom Furor des Archilochos zum Wahnsinn Jonathan Swifts 8.3 Furor und Ars, Affekt und Kalkül

244 244

Poeto-Theologie der Satire

257

ι. Denkbedingungen der theologischen Satirekritik 1.1 Lachaskese und Zeitökonomie. Monastische und neustoische Tradition. Gotthard Heideggers >Mythoscopia romantica« 1.2 Christus als Spottopfer und der Genitiv Salomos: >Gott spottet der Spötter
Traité de la Satire< des Pierre de Villiers 3.2.2 Gottscheds republikanische Kritik der satiretheologischen Zurechtweisungslehre 4. Das Heilige und das Lächerliche. Satire und Predigt 4.1 Das Problem des Kirchenschlafs 4.2. Satirischer Protestantismus. Johann Balthasar Schupp und die Homiletik im 17. und 18. Jahrhundert X

231

249 253

258 265

268 268 274 278 278 281 285 288 291 294 301

5- Christliche Nächstenliebe und literarische Aggression

307

5. ι Moraltheologie der Satire. Johann Franz Buddeus' »Institutio theologiae moralis< und Johann Lorenz von Mosheims >Sitten-Lehre der Heiligen Schrift
Lettres Provinciales< Exkurs: Skizze zu einer Satanologie der Satire

V.

325 333

Vorgezogenes Schlußwort. Literarische Selbstverhandlungen über Satire

343

ι. Sacrificium saturae. Christian Thomasius' literarische Konversion in den >Ostergedancken/ Vom Z o r n und der bitteren Schreib-Art wider sich selbst
Mahler der Sitten
Dialog über die Satire
autochthonen< poetologischen Reflexion, sondern Schnittstellen heterogener Diskurse, in denen Poetik und Literatur sich mit anderen Diskursen, Praktiken und Institutionen austauschen; >StrafeTherapie< und >Didaktik< bezeichnen bereits drei Verhandlungspartner im kontroversen kulturellen Prozeß, zu denen die moraltheologische Strafpredigt hinzutritt. Die Reflexionsformen literarischer Aggression sind deshalb gleichsam diskursive Legierungen, Orte kultureller Verhandlungen der Poetik mit dem Recht, der Medizin, der Erziehung; in ähnlicher Weise kommuniziert die poetologische Reflexion mit der Psychologie und der Theologie ihrer Zeit. Solche Verhandlungen, durch welche die Poetik auf andere Subsysteme der Kultur bezogen ist, um die Grenzen sozial gebilligter literarischer Aggression auszuhandeln, verhalten sich nicht bloß supplementär zur poetologischen Theorie; vielmehr wird ihr Gegenstand im Verlauf dieser Verhandlungen selbst erst definiert, indem das systematische Raster legitimer und illegitimer Aggressionsformen in ihnen erst entworfen wird. Der gesellschaftliche und moralische Rechtfertigungsdruck zwingt aggressives Schreiben von vornherein in eine Selbstreflexivität, in der es Zeugnis ablegt nicht nur von sich selbst, von den eigenen gewalthaften Möglichkeiten und Begrenzungen, sondern zugleich von den Grenzen setzenden kulturellen Ordnungen außerhalb: den Disziplinargewalten, Dispositiven und institutionellen Praktiken seines geschichtlich-sozialen Kontextes. Und eben weil die Definitionsmacht über legitime literarische Aggression nicht zentral festgelegt ist, verteilen sich die Verhandlungspositionen auf verschiedene kulturelle Instanzen, deren theoretischer Niederschlag sich in der satiretheoretischen Definition und Explikationen der Poetiken manifestiert. Mit der Analyse der bloßen Verteilung und Rekurrenz solcher Topoi in poetologischer Rede, ihrer immanenten Logik und ihrer legitimatorischen Funktionen bliebe die Rekonstruktion jener kulturellen Grammatik, welche die Reflexionsformen literarischer Aggression reguliert, deshalb auf halbem Wege stehen. Erst die Aufarbeitung der intensiven Dialoge, in denen Literatur und Poetik sich mit den außerliterarischen Kommunikationsmedien, Institutionen und Praktiken ins Verständnis setzten, wird der Signifikanz dieser Modelle gerecht. Gerade die legitimatorischen Metaphern und Modelle literarischer Aggression erweisen sich als Umschlagstellen eines semantischen Transfers, in dem verschiedene Funktionssysteme und Instanzen der Kultur miteinander kommunizieren. Die Polyphonie, die sich durch den Einbezug externer, durch ständigen 21

Austausch miteinander verbundener >Diskurse< ergibt, gehört zur Charakteristik des (hier verwendeten) Begriffs vom poetologischen Diskurs selbst. 1 ' Diese poetologische Verständigung über die Formen legitimer literarischer Aggression vollzieht sich allerdings weithin im Modus einer Unbegrifflichkeit, der auch methodisch Rechnung zu tragen ist: über Metaphern und Analogien, die kraft der von ihnen angeknüpften Beziehungen über die genuinen Grenzen der Poetik hinausführen. Weil die Modellierungen literarisch-satirischer Aggression, um die herum der semantische Transfer zirkuliert, in bildhaften Anschauungsbeziehungen gerinnen, die als unbegriffliche Partikel im Kern der logischen Diskurse haften, schließt die diskursanalytisch-historische Rekonstruktion eine theoretisch fundierte >Metaphorologie< ein. Sie wird die Metaphorik der poetologischen Reflexion nicht bloß als Vorstufe theoretisch präziserer Diskursivierungen begreifen, sondern als »authentische Leistungsart« 20 des Wahrnehmens und Konstruierens von Beziehungen, die heterogene gesellschaftliche Bereiche produktiv in Kommunikation miteinander setzt. Ebenso instrumentalisiert die diskursive Rede auch nicht eine Metaphorik zur nachgängigen Illustration ihrer argumentativen Postulate, eher schon ist die Metaphorik der Argumentation antezedent. Indem die Bildlichkeit der Rede disparate Elemente in der Einheit der Metapher auf Zeit zusammenschließt, sprengt ihre »Widerstimmigkeit« (Edmund Husserl) die >monologische< Einstimmigkeit des poetologischen Diskurses: So bringt sie die Praktiken, Regeln und Gegebenheiten außerliterarischer Bereiche, die ihrerseits von spezifischen Diskursen eingekreist werden, als »Motivierungsrückhalt« 21 poetologischer Theorie zur Geltung. Die Aufgabe einer Korrelierung zwischen den bildhaft organisierten Reflexionsmustern, die das Phänomen literarischer Aggression umgeben, und den durch sie ins Spiel gebrachten Diskursen und Segmenten kultureller Praxis in einer Reihe von Korrelationsgeschichten wird darin bestehen, die zeitgenössischen Resonanzräume der Metaphern sichtbar zu machen und in ihrer historischen Stabilität und Wandelbarkeit soweit zu verfolgen, wie sie als Generatoren und Konservatoren von Vorstellungen aktiv sind. Ein natürlicher« Endpunkt der historisch-metaphorologischen Verfolgung wäre dort erreicht, wo der semantische Austausch eines Modells mit seinem kulturellen Referenzbereich sich endigt, wo die Resonanzräume der poetologischen Topoi verstummen, wo der >Realismus< der Metaphern sich verflüchtigt und so ihren Sinn abstrakt 19 20

21

22

Vgl. dazu auch Baßlers Einleitung in Baßler (Hg.): N e w Historicism, S. 14Í. Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt/M. 1997, S. 87. - Zur Metaphorologie Blumenbergs vgl. auch Jiirg Haefliger: Imaginationssysteme. Erkenntnistheoretische, anthropologische und mentalitätsgeschichtliche Aspekte der Metaphorologie Hans Blumenbergs. Phil. Diss. Basel. Bern 1996. Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer, S. 87.

werden läßt. Denn indem die wiederholten Bilder und argumentativen Topoi im Verlauf immer erneuter Anknüpfungen der poetologischen Diskussion an außerpoetische Bereiche allmählich zu festen Formen der poetologischen Sprache kristallisieren, gewinnen sie eine Festigkeit, die sie tendenziell abkoppelt vom Motivierungsrückhalt der Praxis, die ihnen ursprünglich Sinn verlieh. In dieser Selbständigkeit aber werden sie, erstarrt zu »Leitfossilien« 22 obsolet gewordener, antiquierter Beziehungen des Bewußtseins, weitergetragen im Medium der Sprache. Für eine Reihe von poetologischen Begriffen wie den der »Katharsis« oder des »Textes« selbst, deren ursprüngliche Anschaulichkeit sich zu Elementen einer bildlosen, gleichsam blinden Diskursivität eingezogen hat, ohne weiter im vitalen Austausch mit den Bereichen ihrer konkreten Motivierung zu stehen, ließe sich mit Blumenberg von »implikativen Modellen« sprechen: 2 ' Aussagen und Begriffe, deren semantischer Zusammenhang auf eine verdunkelte, implizit metaphorische Folie verweist, an deren nur noch hypothetisch rekonstruierbarer Leitbildlichkeit sich ihre Semantik aber dauerhaft orientiert. 24 Doch obwohl die legitimatorischen Leitmodelle literarischer Aggression einen Uberschuß an Bildlichkeit produzieren, den die metaphorologische Rekonstruktion einfangen will, obwohl sie ikonographisch aufgeladen sind mit dem Vorstellungsmaterial der Strafjustiz und ihrer Praktiken, medizinischer Verfahren und schulisch-pädagogischer Maßnahmen, sind sie - anders als die einschlägige Forschung, soweit sie die Topoi der Satireapologie berücksichtigt hat, meint25 - keineswegs als bloße Metaphern, sondern eher als selbstreflexive Paradigmen literarischer Aggression zu verstehen, die sich selbst als Strafgericht, Therapie oder Belehrung auslegt und interpretiert.26 Das Verhältnis von Metaphorik und Modell ist dabei so bestimmt, daß Vergleiche und me22 23 24

Vgl. diesen Begriff bei Blumenberg, ebd. Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt/M. 1998, S. 20. Blumenberg verwendet für diesen »impliziten Gebrauch von Metaphern« den Ausdruck »Hintergrundmetaphorik«; vgl. ebd. S.91 und 114. - Vgl. allgemein zur Metaphorik der gesamten philosophischen Sprache die zu wenig beachtete Metapherntheorie von Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. Bd. I: Das Denken. München, Zürich 1979, S. 107. - Die weiter unten gegebenen Analysen der Bildlichkeit poetologischer Leitbegriffe im Zusammenhang der satiretheoretischen Modelle können - in unvermeidlicher Vorläufigkeit, die aus dem Fehlen einer abgerundeten metaphorologischen Theorie resultiert - auch als tastende Versuche auf dem Gebiet einer Metaphorologie literaturtheoretischer Leitvorstellungen verstanden werden, die bisher kaum in Angriff genommen zu sein scheint.

2

® Vgl. stellvertretend für viele Randolph: The medical concept in english Renaissance satiric theory; Ronald Paulson: Satire and the Novel in Eighteenth-Century England. N e w Haven & London 1967, p.95-99 (»The Judicial Metaphor«). In einem anderen Buch hat derselbe Autor u.a. Formen der Strafe als >symbols of violence« auf der Darstellungsebene satirischer Texte untersucht (Paulson: The Fiction of Satire. Baltimore 1967, S. 10-14).

26

»Straffe« etwa wird (wie »Strafgedicht« noch bei Gottsched) sogar mitunter als un-

2

3

taphorische Bildlichkeit gleichsam vom Rahmen komplexerer Topoi oder Vorstellungsmodelle eingefaßt werden. 27 Der Satiriker vergleicht sich in seinem Gerechtigkeitsauftrag nicht bloß dem strafenden Exekutor, dem Arzt in seiner therapeutischen oder operativen Praxis, dem Pädagogen im Gebrauch seiner Disziplinarmittel (oder wird mit ihm verglichen), sondern er straft, heilt, erzieht - der Intention nach - , indem er schreibt. Diese strikte Identifikation satirischen Schreibens mit außerliterarisch-sozialen Funktionen, welche die Gesellschaft an spezielle Institutionen delegiert, stiftet eine Gemeinsamkeit, die über die metaphorische Spiegelung an spezifischen Praktiken hinausgeht. Die apologetischen Topoi der Satire reproduzieren deshalb zugleich die funktionalen und legitimationstheoretischen Bedingungen dieser Referenzbereiche im Bezirk des Poetischen selbst. Die strafpraktische, medizinische und pädagogische Metaphorik ist imprägniert mit einer juridischen, medizinischen und pädagogischen Normativität, deren Geltungsforderung sich als Teil des semantischen Transfers auf literarische Formen und deren normative Poetik überträgt. Diese positive Resonanz ist jedoch eine gesellschaftliche, in der sich ein prinzipielles Einverständnis zwischen literarischen Aggressionsmedien und den politisch implementierten Disziplinarmächten andeutet. Die legitimatorischen Modelle sind ebenso Zeugen einer objektiv praktischen Integration wie eines subjektiven Integrationsinteresses, das individuell-aggressives Schreiben mit den normativen Selbstverständlichkeiten der sozialen Lebenswelt vermitteln soll; ein normativer Konsens autorisiert die >begriffslosebeweisenliterarischen Destruktivkraft< sich auf die Pragmatik von Texten bezieht, ist im Begriff literarische Aggression offenbar die subjektive Beziehbarkeit auf den Aggressor mitgedacht. Aggression oder Aggressivität sind seit Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem zum Objekt psychologischer Erforschung und theoretischer Modellbildungen geworden; es bedarf also wohl einer Rechtfertigung, wenn die folgenden Untersuchungen den Begriff literarische Aggression nicht im psychologischen Sinn verwenden. Wie die Semantik von Aggression (im alltagssprachlichen nicht anders als im psychologischen Begriffsgebrauch) zwischen manifestem Verhalten und latenter, subjektinterner Disposition oszilliert, 29 läßt sich auch der Begriff literarische Aggression ebenso auf subjektive Intentionen des Schreibenden wie auf äußere Textqualitäten beziehen. So wenig jedoch der rekonstruktiv-analytischen Erforschung, die sich auf die Lektüre textueller Spuren verwiesen sieht, die >volle, authentische Vergangenheit^ 0 unmittelbar zugänglich ist, so wenig ist es offenbar das Bewußtsein (oder gar Vorbewußtsein) historischer Subjekte. Für diese Arbeit gilt also das Apriori des Diskurses: »Literarische Aggression ist nicht als Ableitung energetischer oder kognitiver Vorgänge im schreibenden Subjekt zu verstehen, sondern als ein Ereignis, das zunächst die zu rekonstruierenden Diskurse als solche erst konstituieren. 3 ' Während so der zu rekonstruierende poetologische Diskurs stets auch die subjektiv-psychische Bedingungen literarischer Aggression mitreflektiert, werden auf der metadiskursiven Ebene die Theoriemodelle psychologischer Aggressionsforschung absichtlich eingeklammert. Aggressionstheoretische oder anthropologische Postulate - wie die »klassischen Modelle der Triebtheorie, Lerntheorie oder der Frustrations-Aggressions-Theorie - } 2 liegen systematisch unterhalb der Ebene textuell manife-

29

Vgl. die Unterscheidung von Aggression (»Angriffsverhalten, Angriffshandlung«) und Aggressivität (»Angriffsbereitschaft«, »Angriffsbedürfnis«, »Angriffslust«) bei Raymond Battegay: Aggression, ein Mittel der Kommunikation? Bern/Stuttgart/ Wien 1979, S. 9. - Battegays Terminologisierung ist indes normalsprachlich nur ungenügend verankert: >Aggressivität< kennzeichnet nicht nur die mentale Disposition, sondern auch die auszeichnende Qualität angreifender Handlungen.

30

Vgl. Montrose: Die Renaissance behaupten, S. 67. Damit sollen freilich genauso wenig psychische Phänomene reduktionistisch als rein kulturelle Konstrukte interpretiert werden, wie umgekehrt Texte und Diskurse als bloße Ableitungen psychischer Prozesse verstanden werden können. Zur Aggressions-Frustrations-Hypothese vgl. die klassische Arbeit von John Dollard, Leonhard W. Doop, Neal E. Miller, O . H . Mawrer, Robert S. Sears in Zusammenarbeit mit S. Ford, Carl I. Hovland, Richard T. Sollenberger: Frustration und Aggression. Deutsche Bearbeitung von Wolfgang Dammschneider und Erhard Mader. Weinheim/Berlin/Basel 1972 (Pädagogisches Zentrum. Reihe C , Bd. 18); zur Triebtheorie Konrad Lorenz: Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression. Wien 1974, und Alfred Adler: Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose. In:

31

32

2

5

ster Aggression und ihrer theoretischen Reflexion.' 3 Der Verzicht auf psychologische Vorannahmen und Dogmatisierungen ist zugleich durch methodologische Skepsis motiviert: E r trägt der etwa im Falle psychoanalytischer Textanalysen flagranten Problematik Rechnung, daß der Transfer von Theoremen der Psychoanalyse auf den objektfremden Bereich literarischer Texte auch alle internen Begründungsprobleme der Theoriebasis auf den Anwendungsbereich, die Literaturinterpretation, überträgt. 34 Die hier vorgenommene Einklammerung verknüpft sich außerdem mit einer Art >normativer EpochéWarum Krieg ?konstruktiver< Problemlösungen verlernbar.

jüngeren Aggressionstheorie entsprechend - interagieren.3aufspürendenerspähendengreifendenIntertexte< hat indes das substantielle Subjekt mitsamt seinen »hypostases«: »la société, l'histoire, la psyché, la liberté«,39 zum bloßen Epiphänomen verselbständigter, dezentrierter Diskursbeziehungen abstrahiert und damit die aggressionstheoretische Leitdifferenz von endogener Spontaneität und sekundärer Reaktivität disqualifiziert, an der die >klassischen< Aggressionstheorien sich orientieren. Poststrukturalistisches Denken hat so die Subjektivität als transzendentale Bedingung aggressiver Texte annulliert: Der scripteur, ein Arrangeur von Zitaten, gleichursprünglich mit dem aufgeschriebenen Text, entbehrt der lebendigen Präsenz, die sich psychologisch analysieren ließe. Die vorliegende Untersuchung insistiert keineswegs auf der Rückgewinnung der »psyché«, wohl aber auf der Relevanz ihrer angeblichen Hypostasen: Gesellschaft und Geschichte.40 Deren Analyse baut im folgenden auf der voraussetzungsschwächeren Hypothese auf, daß das kontroverse Phänomen der Aggressivität von Schreibern und Texten durch eine historische Disposition konfiguriert wird, die es zugleich mit der Idee individuell-menschlicher Subjektivität seit dem 17. Jahrhundert mit zunehmender Deutlichkeit in Erscheinung treten läßt.41 Denn die Entdeckung der Subjektivität des Menschen - nicht zuletzt, durch die jeweilige SprecherRolle hindurch, im Medium der Poesie - stellt auch das Problem seiner Aggres-



Innerhalb der Psychologie hat auch die behaviouristische Theorie bereits den Rekurs auf teleologische, intentionsbezogene Annahmen und kognitive Prozesse in der Definition aggressiven Verhaltens zu eliminieren versucht und sich auf Reiz-ReaktionsRelationen beschränkt; dazu Ferdinand Merz: Aggression und Aggressionstrieb. In: Handbuch der Psychologie in 12 Bänden. Hg. von K. Gottschaidt, Ph. Lersch, F. Sander, H . Thomae. 2. Bd.: Allgemeine Psychologie. II. Motivation. Hg. von H . Thomae. Göttingen 1965, S. 569-601, hier S. 57if. und S. 577.

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Vgl. Julia Kristevas Erinnerung an den antiken Bedeutungsumfang des Verbums »lesen« in Julia Kristeva: Z u einer Semiologie der Paragramme. In:. Helga Gallas (Hg.): Strukturalismus als interprétatives Verfahren. Darmstadt, Neuwied 1972 (collection alternative. Bd. 2), S. 163-200, hier S. 1 7 1 . 38 Ebd. 39 Vgl. Roland Barthes: Le mort de l'auteur. In: Œuvres complètes. Tome II. Paris 1994, P-491-495.hierp.494. 4 ° Zur Kritik an der mitunter »scholastischen« Dogmatisierung postmoderner Theoreme vgl. auch Heinrich Detering: Die Tode Nietzsches. Zur antitheologischen Theologie der Postmoderne. In: Merkur, Heft 9/10 (September/Oktober 1998), S. 876-889. 41 Vgl. Foucaults These von der >Erfindung des Menschen< im >klassischen< Zeitalter des 17. Jahrhunderts. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Aus dem Französischen von Ulrich Koppen. Frankfurt/M. 1997, S. 27 und 462.

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sivität ans Licht,42 dessen textuelle Spuren in zahlreichen poetologischen, poetischen (resp. satirischen), medizinischen oder philosophischen Dokumenten nachlesbar sind. Begriffliche Differenzierungen zwischen >aggressiven< und >destruktiven< Antrieben,43 von >expressiver< und >feindseliger< (»hostile«) Aggression44 jedoch, mit welchen die aggressionspsychologische Forschung den Phänomenbereich aggressiven Verhaltens zu ordnen versucht, haben für das Verständnis literarisch betriebener Aggression, die den moralisch und ästhetisch besorgten Blick der Poetiker wie den einer selbstreflexiven Beobachtung auf sich zieht, keine Diskriminierungskraft. Die charakteristische Aggressivität der hier behandelten Texte mediatisiert Sprache und ästhetische Mittel nicht nur als expressives,45 sondern als operatives Medium ihrer (direkt oder strategisch-indirekt) auf eine außerliterarische Realität gerichteten Tendenz. Daß Satire und andere konstitutiv aggressive literarische Formen, indem sie sich sprachlicher Symbole bedienen, »Aggression nur durch Zeichen«46 ausagieren, verlagert ihre Aggressivität selbst nicht auf eine Metaebene ausdruckshafter »symbolischer Aggression^47 Textualität oder Zeichenhaftigkeit definieren vielmehr das Medium der aggressiven Performanz. Formen literarischer Aggression repräsentieren keine ästhetischen >ErsatzhandlungenDestruktion< und >ProduktionAggression< ist bei Brummack das genus proximum, >Sozialisierung< durch ästhetische Mittel aber die differentia specifica, die die Satire von den benachbarten Formen Polemik und Invektive unterscheidet. Der Grad ästhetischer Überformung und Abschwächung konstitutiver Aggressivität ermöglicht wiederum poetologische Binnendifferenzierungen gemäß der traditionellen Typologie von >komischerpathetischer< »satira tragica« des juvenalischen Typs. Dazu Brummack, ebd. S. 31 if. - Übereinstimmend Wolfgang Weiß: Probleme der Satireforschung, S. 1 1 £.; ders.: Swift und die Satire des 18. Jahrhunderts. E p o c h e - W e r k - W i r kung. München 1992, S. I9f.

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Nach einem Ausdruck Scaligers, vgl. dazu unten Kap. III. 8.3. Gegenüber Helmut Arntzen, der bereits von einer Dialektik von »Destruktion« und »Konstruktion« spricht (Helmut Arntzen: Satirischer Stil. Zur Satire Robert Musils im »Mann ohne Eigenschaften«. Diss. Bonn i960 (Abhandlungen zur Kunst-, Musikund Literaturwissenschaft. Bd. 9), S. 24), will Schönert die »Absicht, zu vernichten«, nur dem »Schimpf« und der Invektive zuordnen, die ihr Objekt weniger >darstellend< (mimetisch) als >redend< schmähen (Schönert: Roman und Satire, S. 14).

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sierung oder paradoxen Stilfiguren attackiert, 53 gerät der destruktive A k t selbst zu einem eminent produktiven Vorgang, zur »produktiven Destruktion«. 5 4 Poetische Produktion ist das Medium satirischer Destruktion: Wo jeder erfolgreiche destruktiv-physische Gewaltakt nur ein beschädigtes, deformiertes Sein hinterläßt, stiftet die satirische Aggression zugleich ein ästhetisches P r o d u k t . " 1.4 Methodik und forschungspragmatische Beschränkungen Weil die generativen Regeln der poetologischen Legitimation bereits die Grenze der Texte als >autonomer< Sinneinheiten perforieren, nimmt die Rekonstruktion ihrer Argumentationsmuster und Topoi sich das Recht, ihre Aussagen ähnlich dem resolutiv-kompositiven Verfahren der rationalistischen Methodologie - sowohl zu dekontextualisieren als auch im Zusammenhang einschlägiger Argumentationsschemata und (rekonstruktiv nie völlig einholbarer) Zitatketten neu zu kontextualisieren. Poetologische Aussagen werden so erneut in jenen dialogischen Zusammenhang mit dem eigenen sowie mit fremden, um sie herum gruppierten Diskursen gebracht, die sie hervorgebracht haben; in jene chambre d'écho (Roland Barthes) also, in der jede Aussage an eine andere, übereinstimmende oder dissidente Aussage anklingt. Die kommunikativen Transfers zwischen der Poetik und heterogenen Praktiken und Institutionen, die zur Konstitution eines normativ-poetologischen Systems beitragen, nötigen dazu, in starkem Maße diziplinär entlegene (medizinische, juristische, theologische etc.) Textzeugnisse einzubeziehen, die im Kontext der Satireforschung normalerweise unberücksichtigt bleiben.' 6 Die Signifikanz von Aussagen erhält dabei " Dazu Arntzen: Nachricht von der Satire. In: Ders (Hg.): Gegen-Zeitung. Deutsche Satire des 20. Jahrhunderts. Heidelberg 1964, S.6-17, hier S. 14; Schönert: Roman und Satire, S. 14Í. S4 Arntzen: Satire in der deutschen Literatur. Geschichte und Theorie. Bd. 1 [mehr nicht erschienen]: Vom 12. bis zum 17. Jahrhundert. Darmstadt 1989, S. 17. 55 Als literaturgeschichtliche Hypothese ließe sich annehmen, daß die Wirkungspotentiale produktiver und destruktiver Kräfte in poeticis genauso wie in politicis direkt proportional aufeinander bezogen sind: Stets entfalten sich die Wirkungsmöglichkeiten der Destruktivkräfte auf dem jeweiligen Entwicklungsniveau der Produktivkräfte. Vgl. dazu etwa Jürgen Brummacks Feststellung für den Zeitraum 1770—1800: »entsprechend der sozialen Entwicklung und den Fortschritten der Literatursprache [erweitern sich] die Möglichkeiten der Satire beträchtlich« (Jürgen Brummack: Satire. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Hg. von W. Kohlschmidt und W. Mohr. 3. Bd. Berlin, New York 1977, S. 601-614, hier S. 610). Als typische >Spät-Antiformen< etablierter Darstellungsweisen werden Satire und Parodie gelegentlich charakterisiert; vgl. etwa Freund: Die literarische Parodie, S.62; ders.: Die deutsche Verssatire im Zeitalter des Barock. Düsseldorf 1972 (Literatur in der Gesellschaft. Bd. 8), S. 16; Klaus Lazarowicz: Verkehrte Welt. Vorstudien zu einer Geschichte der deutschen Satire. Tübingen 1963, S. 312. 56

Für die Berücksichtigung >anderer Diskurse< plädiert auch Jaumann: Satire zwischen Moral, Recht und Kritik, S. 18.

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eine eindeutige Priorität vor dem Prinzip der Prominenz literarischer und poetologischer Texte. Weil Begriffsentwicklung und -abgrenzungen der Formen literarischer Aggression sich gleichermaßen in ästhetischer Theorie und dichterischer Praxis vollziehen, 57 sind zudem poetologische Reflexionen in poetischen wie in theoretischen Quellen konsequent gleichrangig zu beachten. Dem weiten Aufmerksamkeitsradius für die Regularitäten, Rekurrenzen und topischen Verfestigungen der satiretheoretischen Rede korrespondiert indes die Notwendigkeit einer forschungspragmatischen Begrenzung, ohne die die Fülle von Fakten und Interpretationen diffus bliebe. Extensiv materialsichtende Lektüre und systematische Auswertung legen daher ihren historischen Schwerpunkt in jenen auch für die poetologische Reflexion über die Formen literarischer Aggression entscheidend wichtigen, etwa zweihundertjährigen Zeitabschnitt von der ersten Hälfte des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, in dem Poetiker und literarische Praktiker (oftmals in Personalunion) die Maßstäbe und Standards einer international konkurrenzfähigen >Nationalliteratur< theoretisch und praktisch zu definieren versuchen und an dessen Ende auch der satiretheoretische Diskurs sich weitgehend in verfestigten Argumentationsmustern und bildlichen Signifikanten konsolidiert oder eingerichtet hat.' 8 Die forschungspragmatische, vom Untersuchungsgegenstand gestützte Konzentration impliziert damit keineswegs - im Sinne einer metahistorischen Teleologie das Postulat vom Ende des satiretheoretisch-poetologischen Diskurses, dessen Rede sich fortan nur im Modus selbstzitierender Rekursivität perpetuieren würde; seine unabschließbare Offenheit stellt vielmehr das einzige strukturell fixierbare Moment im kulturellen Verhandlungsprozeß um literarische Aggression dar, in dem die konfliktausgleichenden argumentativen Topoi und legitimatorischen Modelle eine vorübergehende, wenngleich mittelfristig frappierend weit anerkannte Stabilität erlangen. Weil sie es zu tun hat mit der verbotenen Schnittmenge von Literatur und Gewalt, der Spannung von >Ordnung< und >ChaosProzesses der Zivilisation, der auf immer größere Affektbeherrschung und Kontrolle chaotischer Aggressivität hinzielt; die Infragestellung der Zivilisationstheorie von Norbert Elias

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Vgl. S.-A. Joergensen: Satire. In: H W P h 8, Sp. 1 1 7 2 . N u r die europäische Tradition, mit einem Schwergewicht auf den deutschen Ausprägungen, kann im folgenden berücksichtigt werden; der Einbezug analoger außereuropäischer Diskussionen würde die Problematik beträchtlich komplizieren: Sie hätte bei der Frage nach der grundsätzlichen kulturellen Statuszuweisung der Affekte, respektive menschlicher Aggression, anzusetzen. Der generelle Begriff der »Kultur«, wie er im Rahmen dieser Arbeit verwendet wird, bleibt immer implizit am europäischen Modell« orientiert.

aufgrund jüngerer ethnologischer Forschungen, vor allem durch Hans-Peter Duerr, macht erneut die Risiken einer methodologischen Fremdbegründung literaturwissenschaftlicher Arbeit bewußt, wie sie der methodologische Transfer fachfremder Theoriebildungen beinhaltet." Im unabgeschlossenen (nicht-entelechetisch verstandenen) kulturellen Verhandlungsprozeß um Phänomene aggressiver literarischer Rede ist jedoch nicht allein die traditionsbewahrende Homogenität von Aussagen geschichtlich bedeutsam, sondern ebenso, wie dargestellt, die traditionsverwerfende Diskontinuität 60 legitimatorischer und kritischer Modelle und Argumentationsmuster. Die forschungspragmatische Umgrenzung bildet deshalb absichtlich einen diffusen Rand, eine limitative Unschärfe, die es gestattet, den Spuren einzelner Diskurs-Elemente sowohl an die rückwärtigen Schauplätze ihres ersten oberflächlichen Auftauchens wie an die näherliegenden ihrer bis heute verteidigten Präsenz zu folgen - bis an jene historisch >entlegenen< Stellen also, an denen sie ihre Plausibilität idealerweise zuerst gewinnen oder zuletzt verlieren.

Exkurs: Vis comica. Codierungen von Gewalt in Selbst- und Fremdreflexion der Satire I will speak daggers to her, but use none. 6 '

a) Die Parität physischer und literarischer Gewalt. Eduard Maria Oettinger: >Das schwarze Gespenst< Als letztes Stück einer Sammlung eigener Satiren, die der jungdeutsche Journalist und Herausgeber des >Berliner Eulenspiegeh Eduard Maria Oettinger als Taschenbuch auf das Jahr 1831 unter dem Titel >Das schwarze Gespenst< erscheinen läßt, findet sich ein Streitgespräch »zwischen Feder und Schwerdt«. 62 Der dialogische Schlagabtausch konfrontiert nur scheinbar einander Unglei59

Hans-Peter Duerr: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 1 : Nacktheit und Scham. Frankfurt/M. 1988. - Duerr bestreitet gegen Elias prinzipiell, »daß sich der historische Prozeß (innerhalb unserer Spezies) als Evolutionsprozeß beschreiben läßt«. - Eine theoretische Grundlegung der Literaturwissenschaft in Elias' Theorie vom Prozeß der Zivilisation, die mit der Anerkennung von Duerrs Kritik ebenfalls hinfällig würde, hat dagegen Reiner Wild versucht (Wild: Literatur im Prozeß der Zivilisation. Entwurf einer theoretischen Grundlegung der Literaturwissenschaft. Stuttgart 1982).

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Vgl. dazu noch einmal Foucault: Archäologie des Wissens, S. n j f f . Shakespeare: Hamlet, S. 194. Oettinger: Das schwarze Gespenst, S. 3 1 8 - 3 20. - Oettingers >Eulenspiegelprogressive< - Produktivität des Literaten, der mit der Feder für die Ideen der bürgerlichen Revolution, für Freiheit, Recht und Gleichheit kämpft, steht im Zeichen jener Ideale, für die er - wie der politische Revolutionär - >töten< darf.

b) Die Rhetorik physischer Gewalt Seit Beginn literarischer Überlieferung rührt literarische Aggression immer erneut provokativ an das Tabu, das die Kultur über die Gewalt verhängt hat. Die Grenzlage der Satire am Rande der Poesie, in welche die klassische AutonomieÄsthetik sie erst am Ende des 18. Jahrhunderts verweist, liegt zugleich am zum Naturzustand hin klaffenden Abgrund der Kultur, die beständig vom Rückfall in offene Gewalt bedroht ist. Die Codierungen der Gewalthaftigkeit literarisch-aggressiver Verfahren, die das folgende Florilegium, eine Sammlung von 64

Ebd. S.320. 35

>schwarzen Blüten< ihrer Selbst- und Fremdreflexion in der Form physischer Gewaltakte, präsentieren und kommentieren will, verschlüsseln eine Affinität zwischen aggressivem Schreiben und physischer Verletzung und Vernichtung, die potentiell die Demarkationslinie zwischen Gewalt und Kultur subvertiert. Diese selbst- und fremdreflexive Rechenschaft satirischer und poetologischer Texte, welche die Affinität aggressiver Rede zur physischen Gewalt auch durch ihre Literarisierung hindurch festhalten, stützt das oben entwickelte abstrakte Leitkonzept literarischer Destruktivkraft< zusätzlich ab. Zwar lizensiert die ästhetische Distanz satirischen Schreibens, die durch normative Selbstbindung konstituiert wird, auf der Objektebene die Ostentation des Bösartigen, Obszönen, der Gewalt, des malum morale oder >Geisthäßlichenklassischen< Poesie desorganisiert.6' Schon die Poetik des 17. Jahrhunderts legitimiert, eingebettet in einen gewaltintensiven zeitgeschichtlichen Kontext, vor allem für die Tragödie die Darstellung von »Todtschlägen/ verzweifflungen/ Kinder- und Vatermörden/ brande/ blutschanden/ kriege und auffruhr« aufgrund der Imitation literarischer (römisch-antiker) Vorbilder und Muster; aber sie subordiniert sie strikt dem moraldidaktischen Zweck, dem mit stoischer Abhärtung identischen >NutzenAgrippinaSatire< und Gewalt im Zustand einer archaischen Kultur, die den gekennzeichneten Prozeß der Depotenzierung menschlicher Rede noch vor sich hat. Im selben Maße, in welchem >satirischeunordentliche< Gewalt tabuierenden Kultur versöhnen; andererseits aber reflektiert und inszeniert sich literarische Aggression - nachdem sie aufgehört hat, eine Form physischer Gewalt zu sein - fortwährend in Bildern physischer Gewalt, die auf stofflich-motivischer Ebene satirischer und polemischer Texte so allgegenwärtig sind wie auf der Metaebene ihrer theoretischen Reflexion. Heinrich Heine, der seine Polemik gegen Platen als »Exekution« und »Krieg« begreift, hat in einem blutigen mythologischen Bild den für ihn größten Autor der >Romantischen Schuledestruktiven< Möglichkeiten, welche die Poesie in ordnungsbedürftiger Ambivalenz gemeinsam integriert. Eine Metaphorik der Waffen und des Kampfes bildet die bildhaft-anschauliche, gewalthafte Reflexionsform satirischer Wirkungsästhetik: Das Waffenar67

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Vgl. Elliot: The Power of Satire, p. 92: »The act of ritual [...] is one of participation rather than of creation [...]. Art [...] is a sublimation of magic. N o t until concern shifts from ritualistic efficacy to aesthetic value does art become free and the individual artist a maker.« Vgl. dazu Hederich: Gründliches Mythologisches Lexikon, Sp.339. Heine: Die romantische Schule II. In: Sämtliche Schriften 3, S.42if. 37

señal des Satirischen e n t h ä l t Spitzen, Stachel, 7 0 Pfeile, 7 ' K e u l e n 7 2 u n d K o l ben, 7 3 Prügel, 7 4 Spieße, 7 5 R u t e n 7 6 u n d Messer, 7 7 Schwerter, 7 8 D e g e n u n d D o l c h e , 7 ' G e i ß e l n , 8 0 Striegeln, 8 ' Schleudern, 8 2 P e i t s c h e n , 1 R a k e t e n 8 " u n d

Ge-

s c h ü t z e - später a u c h P i s t o l e n . 8 ' D i e G e w a l t m e t a p h o r i k d e r Satire hält m i t d e r E v o l u t i o n d e r W a f f e n p r o d u k t i o n Schritt; die P o t e n t i a l e realer u n d imaginierter G e w a l t k o m m u n i z i e r e n . E s ist keine A r t d e r K o m i k , schreibt B e r g s o n , die sich n i c h t »zu einer W a f f e des Geistes s c h m i e d e n « ließe. 8 6 I n d e r satirekritischen A n a l y s e erweist sich a u c h die S c h w ä r z e d e r D r u c k e r p r e s s e n als e f f e k tives V e r l e t z u n g s w e r k z e u g , als ein die D e s t r u k t i v k r a f t literarischer M i t t e l p o 70

»Stachelreime« wird im 17. Jahrhundert als Synonym für den »Schimpf-spitzige[n]« Spottvers gebraucht; vgl. etwa Schottelius: Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache II, S. 984. - >Stachel< bezeichnet ursprünglich den spitzen Treibstock, vgl. das Verb >anstacheln< (Duden: Das Herkunftswörterbuch, 8.698). 71 Tucholsky: Politische Satire. In: Gesammelte Werke 2, S. 172; Paul Hazard: Die Herrschaft der Vernunft. Das europäische Denken im 18. Jahrhundert. La Pensée Européenne au XVIII e siècle de Montesquieu à Lessing. Aus dem Französischen übertragen von Harriet Wegener und Karl Linnebach. Hamburg 1949, S. 31 (über den ironisch-satirischen Geist am Beginn des 18. Jahrhunderts): »Überall nichts als Spitzen, Stiche, Pfeile«. 72 Tucholsky, ebd. 73 Garzoni: Piazza universale, 153. Diseurs, S. 723; gemeint ist der Kolben des Herkules. 74 Beer: Corylo II. In: Sämtliche Werke III, S.97. 75 Spicula; Christophorus Landinus in: Horatius cum quattuor commentarius, unpag. Der Einsatz der >Langen Spieße< durch die Pikeniere in den Schlachten bei Ravenna und Novara in den Jahren 1 5 1 2 und 1513 markiert den kriegsgeschichtlichen Höhepunkt der organisierten Infanterieschlacht um die Wende des 15. und 16. Jahrhunderts; vgl. dazu Hermann Stegemann: Der Krieg. Sein Wesen und seine Wandlung, ι. Bd. Stuttgart, Berlin 1939, S.35off. 76 Vgl. Beer: Die teutschen Winter-Nächte, S. 10. 77 Vgl. das Motto von Glasbrenners >Freien Blättern< (Anm. 3). 78 Vgl. Ramler: Einleitung in die Schönen Wissenschaften III, S. 176 (über Juvenals Satiren: »dieß ist die Satire mit dem Schwerte, die vor Wut schäumt.«). 79 Boileau: IX. Satire. Verschiedene Satirische Schrifften, S.82; vgl. Boileau: Œuvres complètes, p. 53 (v. 166: »poignard«). - »Florett« noch bei Adorno: Minima Moralia, S· 237. 80 Schiller: Ueber naive und sentimentalische Dichtung. In: Werke 20, S.477. 81 Schönaich: Oden, Satiren, Briefe und Nachahmungen, S. 155. 82 Wendel: Einleitung in: Der Bürgerspiegel, S. 7. 83 Jean Paul: Auswahl aus des Teufels Papieren. In: Sämtliche Werke II, 2, S. 192; vgl. schon Wernicke: Epigramme, S. 1 1 7 (An den Leser). - Wernickes Epigramm ist gemeint bei Feind: Von dem Temperament oder Gemüths-Beschaffenheit des Poeten, S-4784 Heine: Reisebilder IV (Die Stadt Lucca. Spätere Nachschrift). In: Sämtliche Schriften 2, S.529. 85 Vgl. Westphalen: High Noon. 86 Henri Bergson: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen. Aus dem Französischen von Roswitha Plancherel-Walter, Nachwort von Karsten Witte. Darmstadt 1988, S. 73.

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tenzierendes tödliches »Gift«. 8 7 Erst das Druckzeitalter hat, Pierre Bayle zufolge, »den Satirenschmieden und Aufwieglern tausenderley Mittel dargebothen [...], ihr G i f t durch den gantzen Erdboden geschwindt auszubreiten.« 88 Johann Fischart muß bereits vorsorglich seine Leser beruhigen: »schertzlich Gschrifft ist kein schmertzlich G i f f t [...].« 8 ' Bayles 1697 erschienenes und von Gottsched übersetztes >Dictionnaire historique et critiques dessen illusionslose Materialhäufung menschlicher Irrtümer, Täuschungen und Verbrechen für Paul Hazard die »vernichtendste [ ] Anklageschrift« repräsentiert, »die zur Schande und Beschämung des Menschen je aufgestellt worden ist«, 90 breitet die Exempel satirischer Gewaltsamkeiten in reichlichem Maße aus. Schreibfeder und Druckerpresse, der Multiplikator satirischer Destruktivkraft, der ihre zerstörerische Potenz grenzenlos und bis zu einem eminenten politischen Risikofaktor steigert, ersetzen dem Satiriker den Degen oder andere Angriffs- und Vernichtungswerkzeuge, ohne den tödlichen Ernst seiner Absicht im geringsten zu schwächen. Für Bayle steht geradezu fest, »daß ein Satirenschreiber, welcher die Ehre seiner Feinde durch Schmähschriften angreift, durch Stahl und G i f t auch nach ihrem Leben streben würde, wenn er eben dieselbe Gemächlichkeit dazu hätte.« 9 ' Von physischer Gewalt ist diese literarische Aggression offenbar nur instrumenteil oder medial, nicht aber hinsichtlich des destruktiven Verletzungs- oder Vernichtungszwecks geschieden, den der Satiriker mit dem Giftmischer oder Messerstecher teilt. Die primär destruktive Verletzungsabsicht der Satire erscheint geradezu als Widerruf jeder >besserndenheilsamen< Intention, die ihre Apologetik doch so unablässig glaubhaft zu machen sucht. 92 Karl Wilhelm Ramler, dessen Einleitung

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Vgl. damit auch in viel jüngerer Zeit (Januar 1980) den aufs Medium Fernsehen bezogenen Vorwurf »politischer Giftmischerei«, den Franz Josef Strauß gegen die Satiresendung »Scheibenwischer« erhob; dazu Cornelia Bolesch: Eine »Skandalchronik«. In: Hans-Wolfgang Heßler, C. Bolesch, Robin Duval, Norbert Schneider: Satire - das anstößige Programm. VII. Tutzinger Medientage. Tutzinger Materialien Nr. 54 (1988). S. 10-20, hier S. 17. Bayle: Historisches und critisches Wörterbuch II, II. Abhandlung: Von den Schmähschriften, S. 601. Fischart: Werke II, S. 19. - Vgl. auch Beer: Corylo I (Vorbericht an den Leser). In: Sämtliche Werke III, S. 13: »Das Gift tödtet keinen Menschen/ es sey denn/ daß man es einnehme/ also können ungetesene Schriften nichts gut noch böse machen.« Hazard: Die Krise des europäischen Geistes, S. 137. Bayle: Historisches und critisches Wörterbuch II, S. 602. Die Verletzungsabsicht akzentuiert noch Werner Lauer in seiner theologischen Habilitationsschrift gegenüber allen produktiven Zielen: »Die Satire verletzt; das ist ihr primäres Ziel. Sie kann aufrütteln und heilen, sie kann bessern, aber sie will zunächst nur ihren Sieg, den Triumph des Ideals über die schlechte Wirklichkeit.« (Werner Lauer: Humor als Ethos. Eine moralpsychologische Untersuchung. Bern, Stuttgart, Wien 1974, S. 191.) Lauer verletzt indes selber vor allem die Logik, wenn er unmittel39

in die schönen Wissenschaften im Satire-Kapitel (ab der 2. Auflage) den Artikel der >Encyclopédie< vom Chevalier de Jaucourt übersetzt, diagnostiziert aufgrund der Angewiesenheit des Satirikers auf das literarische Medium in dessen Seele »eine Art von Verdrusse, daß man es nicht anders als durch Worte thun kann.« 93 Der Verzicht auf die Instrumente physischer Gewalt ist offenbar nicht subjektiv gewollt, sondern nur extern erzwungen von den Repressionsinstanzen der Kultur, die den Affekt des Aggressors ins symbolische Medium sprachlicher Zeichen zwingen. Von der Harmlosigkeit des Scherzes trennt die Satire dennoch eine Technik des Schmerzes. Sie ersetzt die Wundmale des Dolches oder der Geißel durch kaum minder schmerzhafte Schandmale des Spottes: »Es gehöret der Satyre zu, die Streiche so heftig zu führen, daß statt Blutes Schande und Schimpf aus der Wunde fleußt [...].«94 Für Carl Friedrich Flögel wird die Schmerzhaftigkeit der physischen Züchtigung sogar überboten von der ironischen Verspottung, die den literarisch Gezüchtigten stärker verletze als »die blutigen Striemen der schärffsten Geißel«. 95 Weil der menschliche Körper über den physikalischen Zusammenhang der Dinge hinaus, an dem er teilhat, einer symbolisch-kulturellen Ordnung zugehört, ist die physische Verletzung das Symbol jeder gewaltsamen Bestreitung der Integrität und Souveränität des Subjekts, 96 seiner Uberzeugungen und Verhaltensweisen, die es sich als >Eigenes< zurechnet. Die infamierende, die personale Würde ihres Opfers demontierende literarische Gewalt erniedrigt das souveräne Subjekt genauso, wie die physische Attacke es im Schutzbereich des ei-

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bar darauf fortfährt, der Satire seien deshalb (!) »alle Mittel des Komischen recht, ob sie verletzen oder nicht.« Ramler: Einleitung in die Schönen Wissenschaften III, S. 150. - Vgl. Jaucourt: Satyre. Encyclopédie T. 14, p. 700b: »une sorte de dépit de ne pouvoir le faire que par des paroles«. Bodmer, Breitinger: Der Mahler der Sitten II, 83. Blatt, S. 366. - Ebenso versichert Eckard Warner: Briefe moderner Dunkelmänner II, S.VIII: »Die Satire ist eine der schärfsten Waffen, die es giebt [...]. Sie soll schneiden, nichts als schneiden, bis aufs Mark, das ist ihre Aufgabe und ihre Schuldigkeit« - weshalb Warner sie ausdrücklich von der Verpflichtung auf >poetische Gerechtigkeit ausnimmt. Die Überlegenheit der Satire macht ihr Opfer zudem wehrlos: »Gegen das Lächerliche giebt es keine Waffe.« (Ebd. S. VII.) - Im verwendeten Exemplar der Universitätsbibliothek Göttingen wird das Herausgeber-Pseudonym Eckard Warner auf dem Titelblatt mit Karl Rudolf Schramm identifiziert; Karl Riha (Zur >Sache< der Dunkelmänner. Ein satirischer H u manisten-Briefwexel. In: Ders.: Kritik, Satire, Parodie. Gesammelte Aufsätze zu den Dunkelmännerbriefen, zu Lesage, Lichtenberg, Klassiker-Parodie, Daumier, Herwegh, Kürnberger, Holz, Kraus, Heinrich Mann, Tucholsky, Hausmann, Brecht, Valentin, Schwitters, Hitler-Parodie. Opladen 1992, S. 13) dagegen identifiziert den Verfasser mit Severin Simoneit. Flögel: Geschichte der komischen Litteratur 1, S. 291. Vgl. dazu Dietrich Schwanitz: Das Shylock-Syndrom oder Die Dramaturgie der Barbarei. Frankfurt/M. 1997, S. 1 1 .

genen Körpers entthront, indem sie dessen Grenzen ignoriert. »Ich schimpfe nicht, ich verstümmle«, lautet die Maxime des Satirikers Karl Kraus. 97 Die symbolische Klimax der Affinität von Satire und Gewalt aber liegt natürlicherweise in der Letalität, der tödlichen Absicht und Wirksamkeit literarischen Spottes. Das Telos (auch der Verbal-) Gewalt ist der Tod; vor allem Horaz hat die Erinnerung an die tödliche Macht der Jamben eines Archilochus oder Hipponax überliefert.' 8 Das >Historische und critische Wörterbuch« B a y l e s " sammelt ebenso wie Flögeis >Geschichte der komischen Litteraturaufhebtso raffiniert und nimmt mit Scherz und Witz den Hörer so sehr ein, daß dieser, ohne Schlimmes zu ahnen, [...] die auf ihn geschleuderten Spieße erst bemerkt, wenn sie ihm tief in den Leib gedrungen sind.< Ilé Ironische Wirkungsästhetik ist eine Ästhetik des Hinterhalts; der »Protheus« des Satirischen (Flögel) hält keine Schlachtordnung ein. Für Ludwig Geiger, dessen wilhelminisch-militanter N a tionalismus ihn f ü r die Gewalthaftigkeit der Satirischen besonders empfänglich macht, liegt in diesen »Schleichwege[n]« geradezu das »Wesen der Satire«;' 1 7 im

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Vgl. Hartmann: Ästhetik, S.437. Heine: Reisebilder IV, S. 529. Michail M. Bachtin: Discourse in Life and Discourse in Art (Concerning Sociological Poetics). In: Freudianisra: A Marxist Critique. Translated by I.R. Titunik. N e w York: Academic Press, 1976, p . 9 3 - 1 1 6 , hier p. io$ff. - Howes: Rhetorics of Attacks: Bakhtin and the Aesthetics of Satire. In: Genre X V I I I (Fall 1986), p. 215-243, hier p. 223, versucht eine Verfeinerung der Bachtinschen Unterscheidungen mit Hilfe der Leitdifferenz »conservative«/«radical«. Horaz: Sat. I, 1, v. 6¡)f. - Mit der Gewalt gegen ihre Leser spielt die Satire gelegentlich schon im Titel: vgl. etwa Amthor: Kusshände und Ohrfeigen; Knauf (Hg.): Das blaue Auge (mit einer »Warnung an Stelle eines Vorworts«). Landinus zit. nach der Kommentarsammlung: Horatius cum quattuor commentarius (1512), unpag. »Mira est hominis dissimulatio in reprehendendo. atque in ea re adeo uafer. adeoque lepore salibusque mentem auditoris occupât, ut dum se iocunditate uerborum demulcendum praebet. nihil acerbum suspicans: non antea in se contorta spicula animadvertat quam ilia intra praecordia recepisse senserit.« - Die oben gegebene deutsche Ubersetzung nach Brummack: Zu Begriff und Theorie der Satire, S. 290. Lat.praecordia trägt den Doppelsinn >Brust< / >Eingeweide< und >ZwerchfellHymnen und LobgesängenAnschlags-Zeddel im Namen von PhiladelphiaErzmagier< Philadelphia zum eiligen Verlassen der Stadt zwang, verdankt sich - wie bereits Jean Paul erkennt - inhaltlich einer ähnlichen Satire Swifts, dieses »ironische[n] Großmeisterfs] unter Alten und Neuen«;' 8 auch die komplementäre Beziehung von Satire und Strafrecht wird bereits mehr als ein Halbjahrhundert zuvor von dem englisch-irischen Autor in derselben Weise definiert. Das Verhältnis von Strafrecht und Satire liegt, so Swift, in dem unaufhebbaren Mißstand begründet, »that many great Abuses may be visibly committed, which cannot be legally punished [...].«'' Die Karriere von Swifts Argument im 18. Jahrhundert be-

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Der Ergänzung des Rechts durch die Satire im 18. Jahrhundert stellt Brummack zwei andere Möglichkeiten gegenüber: die Rechtskritik und das »Eigenrecht« der Satire (Brummack: Bemerkungen über Satire und Recht, S. 16). Zur satirischen Rechtskritik, die hier nicht verfolgt werden kann, vgl. neben Brummacks Bemerkungen v.a. Merkel: Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus. Lichtenberg: Schriften und Briefe III, S. 253-255. Lichtenberg: Brief an J . A . Schernhagen vom 1 6 . 1 . 1777. In: Schriften und Briefe IV, S. 2 9 2 . - V g l . dazu auch Merkel: Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus, S. 338. Vgl. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, 1, VIII, §. 37. In: Sämtliche Werke 1 , 5 , S. 150. Jean Paul hat Lichtenbergs >Anschlags-Zeddel< versehentlich John Arbuthnot, dem Arzt und langjährigen Freund Swifts und Popes, zugeschrieben. Vgl. das Vorbild Swifts im Kommentar zu Bd. III, S. I04f. Swift: The Examiner N o . 38, April 26, 1 7 1 1 . The Prose Works 3, p. 1 4 1 . - Dazu auch Merkel: Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus, S. 3 39, sowie ders.: »Wo gegen Natur sie auf Normen pochten...« Bemerkungen zum Verhältnis zwischen Strafrecht

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legt auch seine - ähnlich bei Gundling variierte - Wiederholung in einer gegen Sulzers Pädagogik gerichteten Satire des Magisters Kinderlieb: Eine »weise Obrigkeit sehe die Satyren an, als Supplemente der Geseze.« 20 Als informelles, einzig dem literarischen Talent des Einzelnen unterstelltes Sozialregulativ, dessen Legitimationsgrund allerdings fraglich erscheint, ist die Satire zum Strafrecht funktional komplementär, aber auch in gesteigertem Maße der sozialen Kontrolle bedürftig. Je unzureichender die institutionell-gesetzesbewehrte Strafmacht ist, desto wichtiger erscheint das Mandat des Satirischen als strafrechtsanaloges Korrektiv. Für Gottsched ist der Satiriker ebenfalls zugleich ein »Moralist« und »Vertheidiger der Gesetze«; 21 Recht und Moral werden in naturrechtlich überwölbter Einheit gedacht. Auch das satirische Strafmodell ist prinzipiell mit einer Gerechtigkeitssupposition verbunden, die den satirischen Angriff ins Recht setzt; weil aber das rechtsstaatliche Prinzip nulla poena sine lege für den satirischen Strafprozeß keine Geltung hat,22 da er in einer außerstrafrechtlichen, komplementären Sphäre unterhalb der Gesetzesebene abläuft, wird die Satire direkt der überpositiven N o r m der Naturgesetze unterstellt. Für Johann Georg Sulzer, der den satirischen »Zuchtmeister« in den Dienst der Aufklärung nimmt, hat der »geradef ] Weg der Natur und Vernunft« 23 das normative Richtmaß der satirischen Exekution zu sein, der davon Abgeirrte - das als unmoralisch oder irrational diskreditierte Andere der >natürlichen< Vernunft - ist ihr Delinquent. Als unreglementiertes Komplement des positiven Rechts erlangt das Satirische seine einschränkende Normierung von dorther, w o auch die geschriebenen Gesetze ihre Geltungsbasis haben: vom metapositiven Vernunft- oder Naturrecht. Der satirische Prozeß ist naturrechtsunmittelbar, während das Gericht nur mittelbar, über das legeshierarchische Mittelglied der positiven Gesetze, dem ius naturae untersteht. Deshalb muß der Satiriker

und Satire im Werk von Karl Kraus. In: Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Vorträge zu einem interdisziplinären Kolloquium, Hamburg 1 0 . - 1 2 . April 1985. Hg. von Jörg Schönert in Zusammenarbeit mit Konstantin Imm und Joachim Linder. Tübingen 1991 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 27), 8.607-631, S. 607; zur gleichen Auffassung des Verhältnisses von Satire und Strafrecht bei Henry Fielding vgl. Paulson: Satire and the Novel, p. 9 5. - Vgl. auch das Zitat in der Vorrede des Ubersetzers in Swift: Satyrische und ernsthafte Schriften (1760), S. VII: Die Satire sei eine »Strafschrift, darinn diejenigen Thorheiten und Laster, oder auch diejenigen Thoren und Lasterhafte mitgenommen werden, welche die Geseze ungestraft hingehen [...] lassen müssen«. 20 21 22

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Magister Kinderlieb: Klarer Beweis, S. 70. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst II, S. 172. Dieses Fundamentalprinzip des modernen Strafrechts, das erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Strafgesetzbücher aufgenommen wird (vgl. E. Kaufmann: Strafe, Strafrecht. In: H R G IV, Sp. 202 jf.), findet sich bereits im »Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten< von 1794 (20. Titel, 1. Abschnitt, § 9, S. 667). Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste IV, S. 132b.

nach Grosch auch »ein lus naturae, eine Moral, eine Politick, ein lus decori vollkommen verstehen« 24 - außerdem am besten gleich auch »die Landes- und Bürgerlichen Geseze«, die »Innungs-Geseze« sowie die Gesetze der Künstler und Gelehrten. 25 Die Poetik Groschs verlangt vom literarischen Aggressor (zumindest theoretisch) eine umfassende Gesetzeskompetenz, bevor sie ihm das literarische Strafmandat erteilt, gerade weil er den Ubergriff in die regulär-gesetzliche Ordnung ausschließen muß. Es ist an erster Stelle die das Rechtsdenken des ganzen 17. und 18. Jahrhundert dominierende Naturrechtstheorie, die das konfliktfreie, überschneidungslose Nebeneinander von staatlicher Strafgerichtsbarkeit und satirischer Pönalisierung regeln soll. Die Komplementarität von Strafrecht und Satire definiert auch die Grenze, an der legitime satirische Aggression die Grenze zum Pasquill überschreitet: Der Kompetenzbezirk des Satirischen beginnt dort, w o die Reichweite der Gesetze endet, und endet dort, w o die ethische Läßlichkeit des nicht justiziablen Vergehens Nachsicht erfordert und Vergeltung nur noch Sache privater Streitsucht wäre. 26 Das Strafmandat des Satirischen wird, wie vor allem Sulzers Argumentation zeigt, von der normativ bindungslosen, ausschließlich affektgelenkten Privatjustiz des Pasquills zur einen und von der positiven staatlichen Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit zur anderen Seite umstellt; als sozial-politisches Korrektiv hat es dort seinen legitimen Ort, w o die Exekutivmacht des positiven Rechts nicht hinreicht und doch die rational-moralische Norm durch ein Delikt von öffentlich-politischer Relevanz verletzt wird. 27 Staatlich-justizielle Gewalt hat darüber zu wachen, daß sich quasijustiziell-satirische Gewalt nicht vergreift an »moralischer und bürgerlicher Ehre, die vors Tribunal des weltlichen Richters gehört [...], sonst wird sie Pasquill.« 28 Das Verdikt über das Pasquill hat ebenso Gottsched zufolge einen doppelten, in einem sozialpsychologischen Reiz-Reaktions-Schema und im administrativen Gewaltmonopol

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G r o s c h : D i e Regeln der Satyre aus ihren G r ü n d e n hergeleitet, S. 2 1 4 . > Ebd. S.300.

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V g l . Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste I V , S. 13 5a: »Ich getraue mir desw e g e n zu behaupten, daß die Satire w o l eine besondere A u f m e r k s a m k e i t v o n Seiten der gesetzgebenden Macht in jedem Staate verdiente. S o w i e die Selbstrache, in Fällen, w o die Gesetze G e n u g t h u u n g verschaffen, und das Pasquill, das in Privatfeindschaft gegründet ist, nothwendig in jedem ordentlichen Staat verboten sind, so sollte auf der andern Seite der redliche Satirist von den Gesetzen geschützt werden.« Sulzer fährt fort: » G e m e i n e Schwachheiten, Vergehungen und Beleidigungen, die aus Uebereilung geschehen, alles vorübergehende Schlummern, das keine wichtigen Folgen hat, verdienet Nachsicht und freundschaftliche Erinnerung; und alles B ö s e , das durch Z u flucht zu den Gesetzen kann gehemmt werden, ist v o n der Satire ausgeschlossen.«

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Vgl. etwa auch G u n d l i n g : Satyrische Schriften, V o r r e d e des Herausgebers (unpag. [S. 7]): D i e satirisch abzustrafenden Torheiten seien » f ü r eine ernstliche Widerlegung zu groß und f ü r eine obrigkeitliche B e t r a f f u n g zu geringe [...]«.

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Flögel: Geschichte der komischen Litteratur 1, S. 309.

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zugleich liegenden Grund: Der unbegründete Spott reizt sein Opfer nur »zur Rachgier« und perpetuiert so zuletzt das »Böse«, das er angeblich entlarvt;29 die zutreffende Schmähung dagegen usurpiert die Funktion des staatlichen Gerichts. 30 Im Abstandsgebot von satirischen und justiziellen Zuständigkeiten ist Gottsched mit den Schweizern einig: Auch Bodmers und Breitingers >Mahler der Sitten< bestimmt daher die »sittliche Ehre«, nicht aber die »bürgerliche«, zum Angriffspunkt der Satire: »weil ich der Obrigkeit in ihr Strafamt griffe, als welche allein ihre Angehörigen an ihrer bürgerlichen Ehre kränken darf«.' 1 Wo die vom Gesetz geschützte bürgerliche Ehre auf dem Spiel steht, bedarf es des rechtlichen Nachweises: Der »Satyricus« aber kann kein strafrechtlicher »Ankläger« sein.32 Daß der satirische Prozeß mit seiner Verquickung von Anklage, Verurteilung und Exekution verfahrensrechtlich zweifelhaft bleibt, ist dem anonymen Beiträger zur moralischen Wochenschrift der Schweizer genau bewußt: Sie zieht ihr strikt die Grenze zum Kompetenzbezirk des Gerichts. Die literaturtheoretische Unterscheidung von >Satire< und >Pasquill< oder - wie der satirische Jurist Johann Friedrich Hertel formuliert - »injurieuse[n]« Schriften33 ist prinzipiell einseitig von juristischer Seite definiert: Deshalb gehört die Theorie des Pasquills, argumentiert Johann Andreas Grosch 1750, »eigentlich vor Juristen, doch haben die Satyricker den Vortheil darvon, daß sie nicht so leicht vor Pasquillanten ausgeschrien werden, wie es leider fast täglich geschiehet.«34 Tatsächlich ist die Selbst- und Fremdreflexion der Satire im 18. Jahrhundert in starkem Maße von juristischen Erwägungen bestimmt, in welchen der intensive Austausch der poetologischen und strafrechtlichen Diskurse sich dokumentiert. Was die Justiz kriminalisiert, entzieht sie dem Zuständigkeitsbereich der Satire; die Justiziabilität des Delikts, das der >tadelnde< Text zum Gegenstand macht, bildet fortan das hinreichende pragmatische Differenzkriterium zwischen Satire und Pasquill, legitimem und illegitimem Spott. 35 »So strafbar es demnach ist, seinen Nächsten eines Todschlages, Raubes, Diebstahls, Ehebruchs und anderer Verbrechen zu beschuldigen, so erlaubt ist es, ihm solche Fehler beyzumessen, die nicht gestraffet werden, und seinen ehrlichen

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Vgl. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, Praktischer Theil, S. 495 (803. $). Vgl. ebd.; Gottsched folgert daher: »Es muß also eine große Strafe auf solche Schmähschriften gesetzet werden; worunter doch die Satiren über allgemeine herrschende Laster nicht zu rechnen sind.« Bodmer, Breitinger: Der Mahler der Sitten II, S. 578. - Die Bodmer-Breitingersche Definition des Pasquills wird zustimmend zitiert bei Grosch: Die Regeln der Satyre aus ihren Gründen hergeleitet, S. 299. Bodmer, Breitinger, ebd. Hertel: Politische Schnupf-Tobacs-Dose, S.68. Grosch: Die Regeln der Satyre aus ihren Gründen hergeleitet, S. 143. Zur Einklagbarkeit als juristisches Unterscheidungskriterium von Satire und Pasquill vgl. auch Wilfried Barner: Nicodemus Frischlins »satirische Freiheit^ In: Ders.: Pio-

Nahmen nicht beschmitzen«, 36 urteilt Mitte des Jahrhunderts Liscow. Gegen das persönlich angreifende Pasquill, das positive Straftatbestände aufgreift, ist die verletzte Ehre einklagbar, gegen die Satire dagegen nicht, die auf den strafrechtsfreien, gleichwohl von moralischen und sozialen N o r m e n geregelten Raum beschränkt ist. Das Pasquill markiert genau die verbotene Schnittmenge von literarischer Destruktivkraft und strafrechtlicher Gewalt, den verbotenen Bezirk, in dem satirische Aggression den - rechtshistorisch wandelbaren - Radius der Kriminalität 37 und damit die Zuständigkeit der Gerichte überlappt.

1.2.2 Die strafrechtliche Disziplinierung des Pasquillanten Genau diese strafrechtliche Relevanz des Gegenstandes ist auch im a l l g e m e i nen Preußischen Landrecht< von 1794 noch derjenige Aspekt, an dem die beleidigende Absicht des Injurianten besonders deutlich wird. Sie vernichtet die ausdrücklich festgesetzte Unschuldsvermutung, die regelmäßig f ü r die Absicht eines Beschuldigten gilt - j 8 freilich wird der f ü r die Verurteilung der Verbalinjurien erforderliche Nachweis der infamierenden Absicht ebenfalls durch die Behauptung sozial ehrenrühriger Handlungen und den Gebrauch notorisch herabsetzender >Ausdriicke< erbracht. 39 Wer einem Andern Verbrechen Schuld giebt, die ihm, wenn die Beschuldigung gegründet wäre, die Ahndung der Gesetze zuziehen würden, der hat die Vermuthung wider sich, daß er die Ehre desselben habe kränken wollen.40 Das Preußische Landrecht rechnet das Pasquill wie die körperliche >Realinjurie< zu den >groben oder schweren InjurienCodex Maximilianeus BavaricusEssay on the Freedom of Wit and Humour< zu begründen versucht. 52 Aber noch am Ende des 18. Jahrhunderts erwägt Sulzer den Nutzen einer speziellen »Gesetzgebung für die Satire«,53 die ihren Radius einerseits zwar begrenzen, andererseits aber auch absichern soll; daß die »gottlosen Pasquillen oder Lästerschriften« als »Stifterinnen unzähliches Unheils [...] durch die Gesetze der Obrigkeit allezeit verbothen und scharf bestrafet worden« seien,54 ist auch Gottsched zufolge notwendige - und seit je etablierte - politische Praxis. Als Herausgeber der Vernünftigen Tadlerinnen< hatte sie ihn bereits vier Jahre vor Erscheinen seiner Poetik selbst getroffen. 55 Weil durch die satirische Provokation von »Zänckerey, Verbitterung« und Streitlust offenbar »in einer Republick große Unruhe entstehen

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Zu Mencke ( 1 6 7 5 - 1 7 3 2 ) vgl. Jocher: Allgemeines Gelehrten-Lexicon III, Sp.4i5f. Ebd. S . 1 3 5 . 5 ' Zur bundesrepublikanischen >LachpolitikEhre< der Person gegenüber psychosozialer Verletzung im römischen Recht erfolgt nach Robert Mainzer durch eine allmähliche Ausdehnung des Persönlichkeitsschutzes über den Schutz der körperlichen Integrität hinaus. Die libelli famosi wurden zuerst im Anfang der römischen Kaiserzeit unter die von L. Cornelia Sulla aufgestellte >Lex Cornelia injuriarum< subsumiert (Robert Mainzer: Die ästimatorische Injurienklage in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Diss. Tübingen 1907. Stuttgart 1908, S. 8). 60 Garzoni berichtet sogar von einem durch Plutarch überlieferten Gesetz der Lydier, das die Verleumder zum Tode, die Totschläger dagegen zu den Galeeren verurteilte; Garzoni: Piazza universale, 88. Diseurs, S. 510. 61 Einige Fälle bei Mencke (Pseud. Philander von der Linde): Ausführliche Vertheidigung Satyrischer Schrifften, unpag. [S. 12ÍJ; Beispiele vor allem aus der Antike knapp 59

Erst ihre soziale Wirksamkeit macht offenbar aus der subjektiven Unkontrolliertheit der literarischen Spottlust ein virulentes politisch-moralisches Problem; in der Vehemenz der Verurteilung spiegelt sich die Macht des Verurteilten. Die mangelnde Sozialisation, die die noch darzustellende Psychologie der Satire im literarischen Verhalten des Pasquillanten ausmacht, ruft die sozialen Ordnungsgewalten - Zucht- und Irrenhaus - auf den Plan, um ihm sein »schlimmes Handwerk« 62 zu legen. Weil die Bosheit der Pasquillanten »gefährlicher, als die Tücke des Strassenräubers« sei, die gleichfalls die Unschuldigen trifft und sich selbst in der Anonymität zu verbergen sucht, verdient sie genauso »die Rache der Gesetze«. 63 Die Literatur soll dagegen ihrem Selbstverständnis nach den ethisch gereinigten Ort repräsentieren, an dem den »schnöden Spötter[n]« gleich anderen moralisch verworfenen, lichtscheuen Subjekten keine Aufenthaltserlaubnis gewährt wird: Gleich wie die duncklen Laster Holen Nicht an der hellen Sonne stehn; So schickt sich auch der Bücher Licht vor keine schnöde Spötter nicht. 64

Der Pasquillant scheut, »wie die garstigen Fledermäuse, des Tages Liecht«, indem er, »wie solche ehrvergessene Leute zu thun pflegen, die im Finstern mausen«, 6 ' sich vor dem Zugriff der Gesetze ins Dunkel der Anonymität zurückzieht. Weil die Pasquillanten »Störer der Bürgerlichen Ruhe und Einigkeit«, aber eben keine Satiriker sind, überantwortet Grosch ihre fehlgeleitete Aggression der staatlichen Strafgerichtsbarkeit, die Verfasser burlesker »Spass-Schriften« dagegen dem selbstregelnden, inoffiziellen, strafrechtsanalogen System der Literatur: Sie »sind wert, daß ächte Satyricker selbige peitschen und geissein, bis aufs Blut, wenn sie statt einer Satyre, Spaß-Schriften, die in die Gelehrsamkeit einschlagen, verfertigen.« 66 Auch das literarische Dokument, das Pasquill selbst, wird noch im Preußischen Landrecht einer symbolischen Hinrichtung unterzogen: Durch den Gerichtsdiener soll es unter den Augen dreier »von dem Beleidigten gewählten Zeugen« vor dem versammelten Gericht zerrissen und >mit Füßen getreten< werden. 67 Den ertappten Pasquillanten aber, bei Garzoni, ebd. S. 5 1 1 . - Über strafrechtliche Beschränkungen der Satire in England im 18. Jahrhundert informiert Weiß: Swift und die Satire des 18. Jahrhunderts, S. 8386. 62 63 64 6s 66 67

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Hunold: Satyrischer Roman,Vorrede (unpag.). Rabener: Satiren I, S. 10. Weise: Kurtzer Bericht vom Politischen Näscher, S. 175. Schupp: Abgenöthigte Ehren Rettung. In: Streitschriften II, S. 34. Grosch: Die Regeln der Satyre aus ihren Gründen hergeleitet, S. 144. Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, 20. Titel, 10. Abschnitt, §620, S.691. - Ein Pasquill, dessen Verfasser nicht identifiziert werden konnte, soll »durch den Henker auf öffentlichem Platze verbrannt werden« (Ebd. § 621 ); der Drucker und Verleger erleidet in diesem Fall die doppelte Strafe (ebd. §624).

den die Schmähsucht antreibt, »einen perfecten Sprey-Vogel zu agiren«,68 trifft die ganze Härte der Gesetze: Seinem Dichtereleven Hans Wurst droht schon Gottfried Wilhelm Sacer ohne jede Ironie an, daß »[du] wie einstmahls zu Rom« der zuletzt in afrikanischer Verbannung verstorbene Komödiendichter Naevius, »welcher vornehme/ ehrliche Bürger angeklaffet/ darüber ins Loch von den Häschern gestäckt würdest/ und darinnen so lange hungern müstest biß du dein gespiehenes wieder einschlucktest/ deine Unbesonnenheit Versweiß bekennetest/ alle Beschmützungen womit du die Leute verletzet/ Verßweise zu rücke nehmest/ und einen Gegensatz Verßweise machtest.«69 Die gesetzesbewehrte Staatsmacht kennt strafrechtlich definierte Mittel, eigene Tatbestände und eigene Sanktionen, um den literarischen Aggressor notfalls ins Lager der Lobredner zu zwingen. Vom Mittelalter bis in die Neuzeit wird nicht anders als nach den von Robinson und Elliot dargestellten altirischen Gesetzen gegen die crimes of the tongue - den Gotteslästerern die Zunge, dieser »Herold« der »geheimen Cantzeley des Gedächtnißes«/ 0 die Sehne, von welcher der vergiftete Pfeil des Wortes abschnellt, herausgeschnitten. 7 ' Im Falle der Verbalinjurien wird im 17. Jahrhundert durch Gefängnishaft »mit Wasser und Brod« und Androhung der Landesverweisung der »öffentliche[ ] Wiederruf [sie!] und Schlagung ihres verlogenen Mauls« erzwungen, 72 der der beleidigten Ehre und dem verletzten Recht Genugtuung verschafft. Für die öffentliche Revokation existieren in der Frühen Neuzeit feste Formeln wie die folgende, die Döplers >Theatrum Poenarum< (1693), ein repräsentatives Handbuch der Strafrechtswissenschaft und -praxis vom Ende des 17. Jahrhunderts, zitiert: Ich N . N . bekenne hiermit öffentlich und vor Gericht/ daß ich wieder Gottes Wort und Befehl/ auch mein eigen Gewissen gröblich gehandelt/ daß ich aus pur lautern Haß/ Feindschafft und Rachgier/ durch Verleitung des Satans mich erkühnet N . N . zu beschuldigen/ als etc. (hier wird solche umständlich inserirt). Weil aber solches von mir auf ihn wieder besser Wissen und Gewissen erdichtet und erlogen ist; Als bekenne und bereue ich solches hiermit von Hertzen/ schlage und züchtige auch deshalber mit diesen handstreich (hie muß er sich selbst aufs Maul schlagen/ oder/ da er nicht dran will/ thut es der Scharffrichter) mein verlogen Maul: Revocire anbey alle und jede von mir wieder N . N . ausgestossene Lästerungen/ injurien, Schmach- und Schand-Reden/ und verschlucke dieselbe wieder in meinen Kragen und magen/ wie dieselbe von mir evomiret worden/ und bitte ihn um Gotteswillen/ er wolle mir solchen groben Fehltritt und harte Beleidigung Christlich und von Hertzen verzeihen und vergeben. Ich

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[Sacer:] Reime dich/ oder ich fresse dich, S. 5 5. Ebd. S. j6f. Ebd. S.942. Das Durchbohren oder Herausreißen der Zunge ist die einschlägige Strafe für den Lästerer; vgl. Hentig: Die Strafe I, S. 369. - Vgl. auch bereits Selhamer: Tuba analogica I, S. 372. - Schon das altirische Recht bestrafte derart symbolhaft die »crimes of the tongue«; vgl. Elliot: The Power of Satire, p. 104! Döpler: Theatrum Poenarum, S. 824.

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halte ihn vor einen ehrlichen/ unbescholtenen/ rechtschaffenen Mann/ weiß von ihm nichts/ als alle Ehre/ Liebe und Gutes/ will mich auch hinkiinfftig vor solcher schweren Sünde und Verläumbdung meines Nächsten fleißig hüten/ und versehen/ diesen schweren Sünden-Fall G O t t fußfällig und mit Trähnen abbitten/ und mein Leben bessern. 75

Die öffentliche Revokation soll, unterstützt durch die leibliche Züchtigung des frevelnden Organs, des spöttischen »Mauls«, das vorangegangene >Ausspeien< des aggressiven Textes gleichsam physisch rückgängig machen, wie ihre bildhafte Sprache - analog zu Sacers oben zitierter Drohung - verspricht; 74 nur daß sie in gebundener, poetischer Form (»Versweiß«) erfolgen muß, ist eine ironische Erfindung Sacers. Auch das 18. Jahrhundert kennt noch die Retorsion, die (in der Regel außergerichtliche) Erwiderung oder »zurückschiebung der injurien« zur unmittelbaren Umkehrung einer Beleidigung auf den Injurianten selbst; sie ist eine tatunmittelbar, ohne verzögernde Verhandlungen vorzunehmende Reversion des beleidigenden Aktes, die nur der Beleidigte selbst vornehmen kann. U m wirksam zu sein, muß sich der Beleidigte dabei derselben Worte bedienen, mit denen er beleidigt worden ist.75 Die Erwiderung neutralisiert die Injurie, sofern sie deren beleidigende Qualität in genauer Äquivalenz abgleicht. Im gerichtlichen Injurienprozeß dagegen kann nur der Injurant selbst das ehrverletzende Wort in sich zurücknehmen, dem einmal bereits öffentliche Wirksamkeit zu entfalten Gelegenheit gegeben ward. Ein authentischer Fall, der des poeta laureatus und Professors der Tübinger Universität Nicodemus Frischlin, zeigt bereits im 16. Jahrhundert nicht nur die Vollstreckung der justiziellen Maßnahmen eines gesellschaftlich-ständischen

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Ebd. - Für die Schmähung »wieder vornehme Leuthe/ Fürstliche Räthe/ von Adel/ oder andere grosse Ministros« sieht die Justiz am Ende des 17. Jahrhunderts sogar Staupenschläge und ewige Landesverweisung vor (vgl. ebd. S. 826). Dasselbe Bild findet sich auch bei Thomasius: Kurtze Abfertigung Derer in der Ausführlichen Beschreibung Des Pietisten Unfugs enthaltenen Lästerungen. In: Kleine Teutsche Schrifften, S. 628f.: »[...] und die dißfalls von dem Lästerer wider mich ausgestossene injurie ihme in seinen Busen zurück schiebe.« Vgl. Estors gründlicher Unterricht von geschickter abfassung der urtheln und bescheiden, §§ 1596bff., S. 930, und seine Erläuterung: »Dieweil man den ehrenschänder seine schmachreden in seinen hals zu verschlucken, und zu verdauen, zurückschiebet; so versteht es sich, daß es mit eben denselben worten geschehen müsse; allermassen es sonst für eine neue injurie angesehen würde. Also wenn jemand ein dieb gescholten worden, darf er nicht sagen: du dieb! sondern dis geht an: das laugst du, als ein dieb. Hergegen wäre es keine retorsion, wenn er sagte: das lügest du, du dieb!« - Dieselbe Auffassung findet sich im >Codex Maximilianeus Bavaricuss IV, 17, § 18, S. 487^, der allerdings auch eine >exzessive< Retorsion kennt: Diese hebt die Beleidigung nicht auf, sondern wird als ebenfalls strafbare »reciprocirliche Injurie« angesehen. — Die Gegenwart kennt noch die Retorsion im zwischenstaatlichen Verkehr, als Beantwortung einer unbilligen Maßnahme (etwa der Ausweisungen fremder Staatsangehöriger) des einen durch einen anderen Staat.

Selbstschutzes gegen die Verbalinjurien 76 des literarischen Aggressors, sondern verdeutlicht zugleich, daß die - in ihrem spezifischen Zusammenhang noch darzustellende - psychologisch verfestigte Figur des zwanghaft-furiosen Spötters auch den politischen Umgang der gesellschaftlichen Institutionen mit ihm prägt. Dem »rasend[en] Poet[en]«, 77 den seine immer neuen satirischen Attakken gegen den Adel und die Württemberger Kanzlisten schließlich auch um die Gunst seines herzoglichen Schutzpatrons bringen, wird der ihm nachgesagte Furor zum Verhängnis; man setzt ihn in verschärfte Festungshaft, »weil seines Calumnirens, Schändens und Schmähens doch kein Ende sei.«78 Im selben Maße, in dem ihm hier die Möglichkeit kathartischer Entladung aggressiver Impulse im Schreiben verwehrt ist, verfällt der Satiriker dem >antisatirischen< Temperament schlechthin: der »melancholia«. 79 Die offizielle Revokation, von der Sacer spricht und deren Muster Döpler abdruckt, steht am Ende einer psychischen Zermürbung. Das rasend, toll und unfläthig Schreiben wider Eure Fürstliche Gnaden Rath [...] verfluch und verraaledei ich, wie auch andere giftige, zornige, teuflische Schreiben, mit Mund, Hand und Herzen, und hab darin gehandelt wie ein Gott- und treuvergessener und von dem teuflischen Argwohn übereilter Mann. 8 0

Sie entspricht trotz ihrer Kürze dem gegebenen Muster in allen strukturellen Momenten: öffentliche Denunzierung des eigenen, inkriminierten Textes oder der verleumderischen Aussage, der unsittlichen Motivation, reuiges Bekenntnis der Sünde. Zugleich aber wird in der rituellen Sanktion der öffentlichen Demütigung eine >vertikaleFrischlinus iacet hic, celsa qui decidit arce: Ingenio magnus, sed male abusas eo.< (>Frischlinus lieget hier, vom Falle bös verstaucht: Er war ein guter K o p f , doch hat er ihn mißbraucht.De Iure Belli ac Pacis Libri tres< beleuchtet die Diskursüberschneidung von Satire und Recht von der anderen Seite, derjenigen der Jurisprudenz. Die Repräsentanz natürlicher Gerechtigkeitsprinzipien im Rechtskonsens der Völker, dem ius gentium, hatte Grotius nicht zuletzt anhand poetischer Quellen demonstriert; 84 im Hinblick aber auf die Strafzumessung kann der Jurist sich zitierend auf den Satiriker berufen, weil beide - schon der antiken poetologischen Theorie zufolge - derselben regula der Strafgerechtigkeit unterstehen:

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Möller: Praxis Evangeliorum II, S.434Í. Hentig: Die Strafe II, S. 5. Foucault: Uberwachen und Strafen, S. 46. Daher gründet sich auch das poetologisch-juristische Selbstbewußtsein Johann Elias Schlegels darauf, »daß Hugo Grotius fast alle Sätze des Rechts der Natur mit den übereinstimmenden Lehrsprüchen der alten theatralischen Dichter bestätigt hat.« (Schlegel: Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters, S. 273·) - Vgl. auch Thomas Wirtz: Gerichtsverfahren. Ein dramaturgisches Modell in Trauerspielen der Frühaufklärung. Würzburg 1994 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 132), S. 272.

Jedem Vergehen die rechte Bestrafung, so will es die Regel. Wer nur die Peitsche verdient, dem gib nicht die schwerere Geißel. 8 ® D i e strafrechtliche H i e r a r c h i e der V e r g e l t u n g s ü b e l ü b e r s e t z t d e r satirische >Prozeß< in die traditionelle T y p o l o g i e der satirischen S c h r e i b w e i s e n . K a r l W i l helm

Ramler

schreibt

(nach

dem

»Satyre«-Artikel

der

>EncyclopédiesymbolischenBlindirrational< ist die Gewalt nur, sofern sie ihren rechtfertigenden Grund vergißt95 und in der Raserei des Zorns der Proportionalität nicht achtet, die Anlaß und Vergeltung, Destruktionszweck und destruktive Mittel ins Verhältnis setzt. Die arbeitsteilige Justiz hat daher persönliches Interesse und amtliches Mandat bewußt - als Verhinderungsmittel gegen den bei privater Vollstreckungskompetenz stets drohenden Vergeltungsexzeß - auseinandergelegt. Der Exekutor der satirischen Züchtigung erscheint daher eher als der Nachfolger jener atavistischen Bluträcher, die »haßten und exekutierten in einer Person«;94 justizielle Gewalt ist dagegen etwa seit der naturrechtlichen Uberwindung der theokratischen Staatsrechtstheorie im 17. Jahrhundert durch Affektneutralisierung gekennzeichnet: Sie ersetzt die Affektivität des subjektiv-privaten Gerechtigkeitssinns durch die objektiv-institutionelle Verfahrensrationalität des Prozesses. Das Gerichtsverfahren kann in seiner immanenten Logik durch subjektive Affektivität nur gestört werden, seine Garantie der

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Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, S. 1 1 7 . Vgl. W. Sellen: Strafprozeß II. In: H R G IV, Sp.2036. In Christian Weises Politischem Näscher< heißt es: Denn durch ein übermäßig Straffen/ Wird nur dem Sünder kund gemacht Wie schwach und furchtsam der regiert/ Der die Gewalt im Titul führt. Daher gilt: Gott ehre mir die Mittelstrasse/ Nicht allzu streng und nicht zu weich [...]. Weise: Politischer Näscher, S. 7 1 . René Girard erklärt mit solcher Blindheit die religiöse Bereitschaft zur Annahme eines Ersatzopfers, an dem die entfesselte Gewalt sich stillt; vgl. René Girard: Das Heilige und die Gewalt. Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger-Ruh. Frankfurt/M. 1994, S. I i . Becker: Der operative Aspekt menschlicher Aggression, S. 32.

Rechtssicherheit wird vernichtet durch den Einbruch der Kontingenz. Zusätzlich aber wird der Richter auf ein Rationalitätsideal eingeschworen, dessen repressive Beziehung zur Affektivität des Menschen gemäß den Postulaten der stoischen Ethik gedacht wird; das moderne naturrechtliche Rechtsbewußtsein codiert die Person des Richters zur affekt-, also reibungslos funktionierenden Subsumtionsmaschine um.95 Der Richter, fordert das umfangreiche, 1693 erschienene >Theatrum Poenarum< Jacob Döplers, sei ein »VIR CONSTANS, ein Mann standhafften Gemüths«, »von allen Affecten frey«, damit er »im Gericht sein Müthlein nicht kühle/ ohne Ansehen der Person richte/ und bloß aus Liebe zur Gerechtigkeit ein gerechtes Urthel [sie!] fälle.«96 Der satiretheoretische Diskurs folgt auch hier im Hinblick auf die Person des Satirikers der Spur der strafrechtlichen Diskussion, die - in doppelter Grenzziehung zum biblischen Sprachgebrauch und zur Privatjustiz der mittelalterlichen Fehde - 9 7 objektives >Recht< von subjektiver >Rache< schied.'8 Seit dem 17. Jahrhundert wird einer intensiv geführten strafrechtlichen Diskussion die ira, der Zorn des Richters oder auch: seine feritas, crudelitas - im gleichen Maße zum Problem, in dem der absolutistische Machtstaat die politische Position des Fürsten, der obersten Strafgewalt, zurpotentia absoluta ausbaut.99 Wo jedes Verbrechen zugleich den Souverän verletzt, dessen Wille sich im Gesetz manifestiert,100 werden >Recht< und >Rache< erneut zu Synonymen; in der Personalunion von Geschädigtem, Ankläger und Richter droht die Vermischung von institutionellem Recht und privater Rachsucht. Hatte die reformatorische Staatsrechtslehre Melanchthons, die die Erneuerung der theokratischen Straftheorie im 16. Jahrhundert einleitete, die weltliche Obrigkeit noch als »Dei minister ultor ad iram« definiert,101 so liefert gerade diese Legierung von Gerechtigkeit und Affekt einen 9!

Vgl. Wirtz: Gerichtsverfahren, S. 4. - Die satirische K o m ö d i e im 18. Jahrhundert hat diese quasimaschinelle Charakteristik des Richters gleichfalls thematisiert; vgl. Quistorp: D e r Bock im Processe, S. 3 1 5 : »Ein gesetzter Advokat muß eiserne Ohren, einen glasürten Magen, und eine phlegmatische Natur haben, die alles vertragen, und verdauen können.«

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Döpler: Theatrum Poenarum, S. 203 und S. 1 9 1 . Vgl. E . Kaufmann: Rache. In: H R G IV, Sp. l o i é f . Die Kritik am fürstlichen Mißbrauch der Strafe als Rache wird bereits in der Antike formuliert: Vgl. Senecas Kritik der »crudelitas, quae nihil aliud est quam atrocitas in exigendis poenis.« (Seneca: D e dementia I, S. 16.) Vgl. dazu Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 242ff.; Eberhard Schmidt: Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege. Göttingen 1983 (Jurisprudenz in Einzeldarstellungen. Bd. 1), S. 164t.

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Vgl. Foucault: Uberwachen und Strafen, S . é j f f . Zit. nach Schmidt: Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, S. 162. - Vgl auch Luthers >Sendbrief von dem harten Büchlein wider die Bauern« ( 1 5 2 5 ) in Luther: Werke 18, S . 3 8 4 - 4 0 1 . Z u m theokratischen Strafrechtsverständnis und zur damit parallelisierten Identifikation des satirischen furors mit dem Z o r n G o t tes vgl. auch Kap. IV. 2 dieser Arbeit.

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Haupteinwand gegen die Tortur des peinlichen Prozesses - so etwa in Christian Thomasius' Abhandlung >De Torturai 1 0 2 Im Strafrechtskapitel seiner Theorie des Kriegs- und Friedensrechts trennt auch Hugo Grotius strikt den »appetitus« der Rache von der »ratio« rechtmäßiger Vergeltung, die über alle aggressiven Leidenschaften herrscht; 103 und noch anderthalb Jahrhunderte später stellt Beccaria die rhetorische Frage, die noch immer ihrer realpolitischen Beantwortung harrt: Kann in einem politischen Körper, der, weit entfernt, aus Leidenschaften zu handeln, vielmehr ein ruhiger Beherrscher der Leidenschaften der einzelnen Bürger ist, kann in einem solchen unnütze Grausamkeit, das Werkzeug der Wuth, des Fanatismus oder schwacher Tyrannen w o h n e n ? 1 0 4

A n genau derselben Stelle setzt auch die Kritik des satirischen Prozesses an: Die satirische Strafe birgt stets das Risiko, die gerechte Sache mit dem persönlichen furor zu vermischen. 105 Weil der literarische Aggressor über kein offizielles Mandat verfügt, das der vergeltenden Sanktion letzte Autorität verliehe, setzt er einen potentiell unendlichen, eskalierenden Prozeß der Rache in Gang - genau jenen Zirkel der Gewalt, den das Recht mit seiner gerichtlichen Autorität und monopolosierten Gewalt beenden will, weshalb es die Erinnerung an seine Herkunft aus der Rache auszulöschen sucht. 106 Das Recht muß jeden Anschein persönlicher Beziehungen vermeiden. Mit dem poetologischen Postulat des Unpersönlichen, rein Sachbezogenen der legitimen Satire, dessen affekttheoretische Implikationen noch zu behandeln sind, übernimmt die normative Poetik diese juristische Regel: »Personam amicus, res inimicus, das ist/ der Person Freund/ der Sachen Feind.« 107 Selbst die Grausamkeit des frühneuzeitlichen 102

Gleiches gilt f ü r die Abhandlung des Thomasius-Schülers Martin Bernhard: Dissertatio inauguralis jurídica de tortura ex foris christianorum proscribenda, 1705; vgl. die deutsche Ubersetzung in Thomasius: U b e r die Folter, bes. S. 165: »Die peinliche Frage gibt allen Tyrannen Gelegenheit, unter dem Schein der Gerechtigkeit gegen die Untertanen zu wüten.«

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Vgl. die lateinische Ausgabe: Grotius: D e Iure Belli ac Pacis libri tres, p. 362L; deutsche Ausgabe: Grotius: D e J u r e Belli ac Pacis libri tres, S. 328L Beccaria: U b e r Verbrechen und Strafen, S.43. Walther Schneider sieht (Mitte des 20. Jahrhunderts) dagegen die Satire als ästhetische >Veredlung< der »im philosophisch-juristischen Sinn« umstrittenen Rache: »So ist im G r u n d e alle Satire eine besondere A r t von Vergeltung.« »Das formale Moment dieser Rache verhindert ein unkontrolliertes Abgleiten ins Chaotische und schließt es aus.« (Walther Schneider: D i e Satire und das Gewissen. In: Wort in der Zeit Bd. 1 1 , H e f t 1 1 (195 5). S. 1 6 - 2 1 , hier S. 18.) - F ü r Schneider bleibt die »Vergeltung« der Satire deshalb auch v o n jeglicher Revision bewahrt, »weil die Erledigung in der satirischen A u f d e k kung irreparabel und unanfechtbar ist« (S. 21).

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Vgl. dazu Girard: das Heilige und die Gewalt, S. z8ff. Printz von Waldthurn: Phrynis Mitilenaeus, O d e r Satyrischer C o m p o n i s i I, S. 10. Z u m Absehen von der Person vgl. etwa Estors gründlicher Unterricht von geschickter abfassung der urtheln und bescheiden, §6, S. 3.

peinlichen Strafsystems konzentriert sich als Sühne, Abschreckung und >Reinigung< der Gesellschaft exemplarisch auf die rechtsverletzende Tat, die Rekonstruktion moralischer und politisch-sozialer Ordnung, nicht auf die Person des Delinquenten, 108 von der sie die Last ihrer Schuld wegnimmt. Daß im satirischen Zornaffekt der neuralgische Punkt des satirischen Strafmodells liegt, wird an der Abgrenzung der >legitimen< Satire vom >illegitimen< - und selber strafwürdigen - Pasquill ablesbar. Ausgeschlossen vom Wesen des Satirischen will Sulzer jene »schimpflichen oder spöttischen Anfälle auf einzelne Personen, oder Stände« wissen, »die blos von persönlicher Feindschaft herrühren, und Privatrache zum Grund haben.« 109 Private Aggressionsmotive korrumpieren die Gerechtigkeitssupposition des satirischen Prozesses. Nichts bedroht mehr die Funktionsfähigkeit des Legitimationsparadigmas Strafe als die Affektivität des Satirikers, gerade w o er ad personam verfährt. Die persönliche Satire gravitiert stets zu einer affektiven Parteilichkeit; aber selbst unabhängig von der »Gefahr [...], partheyisch zu werden«, erregt sie - wie Rabener argumentiert den Verdacht, »daß ich aus Privatleidenschaften, aus persönlichem Hasse, aus Begierde, mich zu rächen, schreibe.« 110 Deshalb gibt die persönliche Satire ungewollt ihrem Objekt die Möglichkeit, sich der Anklage jederzeit durch den Einspruch der Befangenheit zu entziehen:" 1 Nemo autem judex inpropria causa, lautet der zeitgenössische, vom Magister Kinderlieb zitierte Rechtsgrundsatz. 1 ' 2 So groß erscheint Gottsched die Gefahr niederer, privater Motive des >Neides< und der >Rachgierbeschimpfenden Strafen< gibt Dreyer: antiquarische A n merkungen über einige in dem mittlem Zeitalter in Teutschland und im N o r d e n üblich gewesene Lebens- Leibes- und Ehrenstrafen, § 1 9 - 2 3 , S. 9 7 - 1 3 1 . Döpler: Theatrum Poenarum, S. 823. Bergson: Das Lachen, S.90. Ebd. S . i 2 3 f . Ebd. S . 1 3 1 . Beccaria: V o n Verbrechen und Strafen, S. 59 ( § 1 8 : V o n der Ehrlosigkeit).

fen«' 3 7 steht auch für die Theoretiker der Satire im 18. Jahrhundert außer Frage. Ihre subjektive, opferbezogene Voraussetzung besteht allein in einem minimalen Ehrgefühl des Malefikanten: »Wer Empfindung von Ehre hat, dem ist nichts fürchterlicher als die Gefahr verachtet oder gar verspottet zu werden [...].«' 38 Das satirische Strafverfahren stellt indes auch ästhetische Anforderungen an sein Objekt; denn, schreibt Flögel: »das Laster hat nicht blos eine schädliche und häßliche, sondern auch eine lächerliche Seite.«' 39 Weil Komik und (strafrechtlich unbelangbare) Kriminalität koinzidieren, kann der Satiriker durch Verlachen strafen. Aber Flögel ergänzt, daß dem »Verächter öffentlicher Gesetze, des Gottesdiensts, des Staats und der Sittlichkeit« das Lächerlich-Werden durch »Spott und Ironie [...] vielleicht weher thut als die blutigen Striemen der schärffsten Geißel.«' 40 Erst das neunzehnte Jahrhundert hat - nach dem Urteil eines satirischen Zeitgenossen in dessen Mitte - den Nexus von Laster und Lächerlichem gelöst, indem es das Sanktionsmittel selbst, ohne Rücksicht auf rechtfertigende Gründe, verabsolutiert und autonom zum schwersten aller Delikte stilisiert: »Nur nicht [...] lächerlich erscheinen! Das wird von unserm Jahrhundert jedem armen Menschenkinde als Kriminalverbrechen aufgebürdet.«' 4 ' Der anthropologische Skeptizismus der Satiriker rechnet also mit dem Instinkt zur sozialen Selbsterhaltung mehr als mit einem naturwüchsigen moral sense, der die Einheit von Sein und Sollen von sich aus garantierte, oder einer fest eingewurzelten moralischen Normativität; die die satirische Pönalisierung fundierende Anthropologie ist durch einen Realismus definiert, »wie die Menschen geartet sind«,' 42 anstelle des Idealismus, wie sie geartet sein sollen. Denn '57 Ebd. 138

Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste III, S. 136b. - Für Sulzer rangiert das Ehrgefühl sogar noch über dem Besitz- und Selbsterhaltungsinteresse: »Mancher ließe sich eher sein Vermögen, oder gar das Leben rauben, als daß er lächerlich seyn wollte.« (Ebd.) - Vgl. ebenso noch Krug: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Begriffe III, S. 576, der damit für die dachende Satire< plädiert: »weil sie den Menschen mit seinen Thorheiten und Fehlern von der lächerlichen Seite auffasst und darstellt, Niemand aber gern als lächerlich erscheinen will, wenn man auch sonst gegen den strengsten Tadel des Moralisten gleichgültig wäre.« - Zur ächtenden Funktion der Satire vgl. auch Lipps: Komik und Humor, S. 256. Flögel: Geschichte der komischen Litteratur 1, S. 291.

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Ebd. - Daß solche Beschämungskraft sich freilich eher auf den Satiriker zurückwenden als Dank erzeugen kann, ist schon dem Barockdichter Daniel von Czepko selbstironisch bewußt: »Ich theile Schandfleck aus, und nehme sie auch ein: Denn jeder wil mich draus ohn Danck zum Tichter machen.« Czepko: Kurtzer Satyrischer Gedichte Fünfftes Buch. Weltliche Dichtungen, S. 394.

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Wiest: Geist, Witz und Satyre in Vorlesungen, Phantasiestücken, Humoresken, Aquarellen und Skizzen, S. 189. - Der im obigen Zitat ausgesparte, gleich wichtige Imperativ lautet: »Nur nicht langweilig seyn [...]!« Zedlers Universal-Lexicon 34. Bd., Sp.239 (s. v. >SatyreGräßlichkeit< seit der Aufklärung den historisch zurückgewandten B l i c k der Späteren nur abstoßen, konstituieren ein reichdifferenziertes Strafsystem zur rituellen Restitution der verletzten O r d nung, dessen unnachgiebiger Vollzug das R e c h t vor nachhaltiger Beschädigung bewahren soll. D i e zu Gericht sitzende staatliche M a c h t muß deshalb, wie der erfahrene Gerichtspraktiker J a c o b D ö p l e r postuliert, »in Bestraffung des B ö sen nicht zu weich/ gelinde und furchtsam seyn/ [...] D a m i t die O b r i g k e i t sich nicht selber frembder Sünden teihafftig m a c h e . « ' 4 9 D a s E x t r e m der peinlichen Strafe aber markiert die physische T ö t u n g der »Malefikanten«. J o h n D r y d e n beschreibt in seinem >Essay on Satire< das exekutive G e s c h i c k des Satirikers selbstbewußt als kunstvolles H e n k e r h a n d w e r k : Was die satirische Attacke v o m physischen Angiff unterscheide, sei die »vast difference betwixt the slovenly Butchering of a M a n , and the fineness o f a stroak that separates the H e a d f r o m the B o d y , and leaves it standing in its place.«' 5 0 D i e Artistik der tödlichen E x e kution, in der D r y d e n mit merklichem Stolz die eigene literarisch-satirische Kunstfertigkeit spiegelt, erscheint auf grausame Weise archaisch, weil die m o derne Strafjustiz die institutionelle Voraussetzung ihres Sinnes beseitigt hat: das öffentliche Strafschauspiel, das aus der E x e k u t i o n der Strafe eine rituell festgelegte Liturgie, ein düsteres Fest macht. 1 ' 1 D e r M e t a p h o r i k , welche die satirische Strafe umgibt, ist die Ö k o n o m i e einer Kriminaljustiz eingeschrieben, die n o c h keine Scheu vor dem gewaltsamen Zugriff auf den K ö r p e r des D e l i n -

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Zur »politischen Besetzung des Körpers« vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, S.}6ff. 149 Döpler: Theatrum Poenarum, S. 4t. ' s ° Dryden: Discourse concerning the Original and Progress of Satire. Works IV, p.71. ' 5 1 Vgl. dazu Foucault: Uberwachen und Strafen, S. 15 ; zur Rolle der Zuschauer vgl. auch s.75ff. 75

quenten kennt; der Schmerz, den dieser empfindet, ist ihr genauso wichtig wie die Öffentlichkeit, in der er ihm zugefügt wird. Die Publizität der vormodernen Strafpraxis impliziert obrigkeitliche Machtdemonstration, Bezeugung der Rechtsgültigkeit, allgemeine Anerkennung und Bekanntmachung des Delinquenten zugleich. 152 Erst am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts 1 " verschwindet die Strafe in der Bürokratie, die für die Theatralik und Virtuosität der Grausamkeit keinen Sinn mehr hat. Die Gewaltsamkeit, der tödliche Ernst des peinlichen Strafsystems wird von Dryden rückhaltlos affirmiert. Der Satiriker, der zum executor mortis wird, partizipiert bewußt am Fluidum des Furchterregend-Unheimlichen, das den Scharfrichter, die Verkörperung der dunklen Seite des Rechts, umgibt. Drydens Identifikation mit dem Henker des alten Straftheaters enthält unter der >Schauseite< seines Vergleichs, dem selbstbewußten Bild eines grausamen Virtuosentums, mehr an verschlüsselter Wahrheit über den Status seiner literarischen Profession als Satiriker, als sich dem ersten Hinblick aufdrängt. Die Meisterschaft der Enthauptung mit einem Schwertstreich, in der die literarisch-aggressive Artistik sich spiegelt, entspricht einem riskanten Erwartungsdruck des Publikums beim öffentlichen Strafschauspiel, der sich im Falle des >üblensündig< macht, vgl. auch Döpler, ebd. S. 5 j^ff; Glenzdorf, Treichel: Henker, Schinder und arme Sünder, S. i6ff.; Dülmen: Theater des Schreckens, S.93; Foucault: Uberwachen und Strafen, S. 70. - Bezeichnenderweise war es Heine, der »trotz der Infamie, womit jede Berührung des unehrlichen Geschlechts Jeden behaftet«, die schöne Tochter des Düsseldorfer Scharfrichters küßte - »nicht bloß aus zärtlicher Neigung, sondern auch aus Hohn gegen die alte Gesellschaft und alle ihre dunklen Vorurteile« (zit. nach Glenzdorf, Treichel, ebd. S. 16).

sie seine regulative Funktion prinzipiell akzeptiert. Wie die Zuschauermenge des Strafschauspiels vom Henker eine blutige Meisterschaft, die Enthauptung mit einem Streich, verlangt, 1 ' 6 muß auch der literarischen Öffentlichkeit ein kunstvolles Spektakel der Exekution geboten werden. Die Satire als Strafe zelebriert das Fest der Martern, 1 ' 7 affirmiert seine Grausamkeit, die sie als Abschreckungsinstrument einsetzt. So wie die obrigkeitlichen »Priester der Gerechtigkeit«, die Agenten der staatlichen Strafjustiz, die »Friedens-Störer nach Beschaffenheit ihrer Verbrechen [...] mit Galgen/ Strang und Rad/ zu Beförderung der gemeinen Ruhe/ und andern zum Schrecken und Abscheu/ zu bestraffen« pflegen 1 ' 8 - schreibt am Beginn des 18. Jahrhunderts Barthold Feind - , verfassen die Satiriker »zu Durchziehung und Bestraffung der Laster scharffe und stachlichte Gedichte«. 1 " Denn »selbst der Bösewicht«, ergänzt am Ende des Jahrhunderts Sulzer, »kann nicht leiden, daß er vor den Augen der Welt gepeitscht werde.« 160 Die Legitimierung der satirischen Schädigung bleibt innerhalb der repressiven Logik von staatlicher Macht und Unterwerfung, die von der Idee ständischer Einordnung und gewaltsamer Disziplinierung der Menschennatur geprägt ist. Repräsentant intakter sittlicher und politischer Ordnung ist daher auch nicht der nach dem Ideal der Aufklärung von Eintracht und Wohlstand regierte Staat, der dem Verbrechen seine Motive nimmt, sondern das von kompromißloser Autorität beherrschte Reich, »wo die Galgen und Räder wohl bespicket sind [...]«. 161 Die Satiriker des 17. und noch des 18. Jahrhunderts haben sich in dieser vom gleichförmigen Rhythmus von Verbrechen und Sühnung beherrschten Welt illusionslos eingerichtet. Folglich sind es auch die Praktiken der peinlichen Strafjustiz, welche die satirische Pönalisierung bebildern. Die metaphorische Sprache der Satire und ihrer Theorie erblickt in der Exposition und Geißelung der Malefikanten am Pranger, der »Staup-Seule« oder »Schmach-Kaak«, 162 und der öffentlichen Brandmarkung die größte A f f i nität zum satirischen Umgang mit dem menschlichen Objekt, weil sie infamierende Strafen sind. Denn »um deßwillen« stellen die Hals- und Obergerichte 156 1,7

Vgl. etwa Garzoni: Piazza Universale, 87. Diseurs, S. 508. Foucault, Uberwachen und Strafen, S. 44. - Zur Abschreckungsfunktion der »grausamen, den Menschen langsam zu Tode marternde[n] Strafen« vgl. auch Wagnitz: Historische Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland I, S. 10.

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Feind: Von dem Temperament und Gemüths-Beschaffenheit eines Poeten, S. 5Í. Ebd. S. 6f. - Wie vorbehaltlos der Literat die peinliche Strafjustiz seiner Zeit affirmiert, wird auch an seinem Verdikt über den 1545 als Atheist verurteilten Stéphane Dolet deutlich, dessen Geist »mit einem wohlverdienten Feuer auf den Scheiterhauffen verflogen« sei (S. 39). - Zu Dolet vgl. Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexicon II, Sp. i68f.

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Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste IV, S. 134b. Döpler: Theatrum poenarum, S.2. Ebd. S.831.

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den Delinquenten vor der Öffentlichkeit, vor den »Ambt- oder Rath-Häusern« oder auf den Märkten, 163 am Pranger aus, »daß/ zu ihrem Hohn und Spot/ sie Männiglig [...] ein Exempel an ihnen nehme/ und sich solcher straffe fürchten lerne.« 164 Von dem römischen Satiriker Juvenal schreibt Ramler, er zeichne den Angegriffenen nicht bloß lächerlich ab, sondern versehre ihn zugleich mit dem schmerzhaften und unauslöschlichen Mal der Schande: »er gräbt tiefe Züge ein, er brandmarkt.« 16 ' Die Brandmarkung, die schwerste Bestrafung nach der Todesstrafe, bedeutet im alten Recht wie der Pranger den sozialen Ausschluß, rechtliche Unehrlichkeit.' 66 Aber auch Drydens Bild der satirischen Exekution wird durch eine geläufige straftheoretische Wirkungsmetapher abgestützt, die den sozialen Effekt entehrender Strafen beschreibt auch wenn die Enthauptung durch das Schwert im System der peinlichen Strafjustiz eine >ehrlicheaufgeklärten< Gestalt, wie die Poetiken Sulzers, Gottscheds oder Eschenburgs sie entwerfen, liegt derselbe Abstand, der die christlich-theokratische von der säkularisiertem und nationalisiertem Rechtstheorie eines Grotius, Pufendorf oder Böhmer trennt. 168 Auch die Strafwürdigkeit des satirischen Delinquenten, seine negative Qualifikation zum Objekt satirischer Züchtigung, liegt in der sozialen Brisanz seiner Verfehlungen: Was »öffentlich gerüget« werden darf - erinnert Sulzer - , muß nicht allein lasterhaft oder töricht, sondern » zugleich Wichtigkeit genug habe[n]«, ,6? eher politische als private Qualität aufweisen; denn: »Gar oft

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' Ebd. S.835. Ebd. S. 829. - Nach Döpler sind Pranger und Halseisen vor allem für Gotteslästerung, Meineid, willkürliche Benachteiligung einer Partei in »Bürgerlichen und Peinlichen Sachen«, Kuppelei und Zuhälterei, Diebstahl und Verleumdung vorgesehen. l6 ' Ramler: Einleitung in die Schönen Wissenschaften III, S. 186. 166 Vgl. Dülmen: Theater des Schreckens, S. 70. 167 Beccaria: Über Verbrechen und Strafen, S. 19. - Das Resozialisationsziel führt daher auch bei Wilhelm v. Humboldt zur Ablehnung aller Ehrenstrafen; vgl. Humboldt: Über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates (1792). 168 Vgl. Schmidt: Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, S. i64ff. 169 Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste IV, S. 1 3 1 a .

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hat das, w a s m a n b l o s f ü r lächerlich hielt, die s c h w e r s t e n F o l g e n f ü r ein ganzes V o l k gehabt. « 1 / 0 F ü r E s c h e n b u r g sind j ene » Lasterf ] u n d T h o r h e i t e n « der legitim e G e g e n s t a n d d e r Satire, »die in der m e n s c h l i c h e n G e s e l l s c h a f t ü b e r h a u p t , o d e r in irgend e i n e m Staate, einem Stande u n d Zeitalter, h e r r s c h e n d g e w o r d e n s i n d . « ' 7 ' D a ß die Satire mit der Z ü c h t i g u n g v o n >Torheiten< u n d >Lastern< M o r a l u n d V e r n u n f t - u n d nicht, w i e die staatliche S t r a f g e w a l t , das p o s i t i v e R e c h t s c h ü t z t , entspricht d e r k o m p l e m e n t ä r e n A r b e i t s t e i l u n g v o n Satire u n d J u s t i z g e nau. D a s A r g u m e n t ist freilich geeignet, auch die p e r s ö n l i c h e Satire - u n t e r eins c h r ä n k e n d e n B e d i n g u n g e n - z u rehabilitieren: Was a m E i n z e l n e n gestraft w i r d , repräsentiert eine jederzeitige soziale M ö g l i c h k e i t . A l s G a t t u n g s r e p r ä s e n t a n t der L a s t e r h a f t e n u n d T o r e n w i r d a m I n d i v i d u u m w i r k u n g s v o l l stellvertretend v o l l s t r e c k t , w a s d e r G a t t u n g als g a n z e r gilt.' 7 2 J u r i s t i s c h e u n d quasijustiziell-satirische G e w a l t b e w e g e n sich entlang e i n e m e m p i r i s c h e n K o n t i n u u m der V e r w o r f e n h e i t , auf d e m der sittliche V e r s t o ß bereits d e n D a m m b r u c h z u r p o l i t i s c h e m K r i m i n a l i t ä t darstellt. » U n d w i e k u r z ist d e r Schritt«, f r a g t der S w i f t Ü b e r s e t z e r J o h a n n H e i n r i c h Waser, von solchen der Satyre unterworfenen Sünden, zur Ubertrettung auch solcher Pflichten, die man im Staat als ein redlicher Bürger hat? Ein Fresser und Säufer, ein Müssiggänger, ein stolzer Windbeutel, ein Kerl, der seine moralischen Pflichten zu übertreten sich kein Bedenken macht, hat gewiß (die Erfahrung lehret es) die nächste Anlage auch zu solchen Taten, welche die Geseze bestrafen. 173 170

Ebd. S. 132a. - Vgl. dieselbe Position bei Flögel: Geschichte der komischen Litteratur i, S. 309. - Platner: Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise I, S. 390 (§ 878), legt das »satyrisch Lächerliche« systematisch auf »wichtige, d.h. für die Glückseligkeit der Welt überhaupt bedeutende Unvollkommenheiten des Menschen; und zwar vornehmlich moralische« fest, im Unterschied zum bloß »komisch« Lächerlichen, dessen »Inhalt unwichtige menschliche Unvollkommenheiten und Uebel« sind (S. 396 (§ 878)). Der Unterschied von Torheit, dem Gegenstand der Satire, und Laster, dem Gegenstand der »Sittenlehre«, ist für Platner gleichwohl unwesentlich, da er nur auf der Perspektive beruht: Das Laster entspricht einer auf den moralischen Aspekt des »Schadens« gerichteten Wahrnehmungsweise und erweckt Haß und Zorn, die Torheit dagegen dem eher ästhetischen Gesichtspunkt der »Schwäche«, die »ein Reiz des Lachens für den Satiriker« wird (S. 397 (§ 887)).

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Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, S. 1 1 5 . Vgl. ebd.: »Denn eigentlich soll die Bestrafung des satirischen Dichters mehr wider das Laster und die Thorheit, als wider den Verbrecher und Thoren, mehr wider eine ganze Gattung, als einzelne Individuen gerichtet seyn; es sey denn, daß er eins derselben als Beispiel einer ganzen ähnlichen Menschenklasse aufstellen könne. [...] Persönlich darf die Satire nur äußerst selten werden, und fast nur in dem einzigen Falle, wenn uns das Beste des Ganzen, und der allgemein schädliche Einfluß eines Verbrechens dazu auffordert, das sich auf keine andre Art rächen oder strafen läßt.« - Elliot bemerkt bereits über die persönliche Attacke im Ritual der »magical satire«: »No doubt the individuals who were satirized by name in the ceremony somehow represented what was to be driven out.« (Elliot: The Power of Satire, p. 59.)

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Waser: Vorrede zu Swift: Satyrische und ernsthafte Schriften I, S. X I . - Zu Johann 79

ι.4.2 Strafe und Reinigung Die juristische Theorie des peinlichen Strafsystems impliziert nicht weniger als die poetologische Theorie eine spezifische Ethik, die dem christlichen Skrupel, »ob man mit guten Gewissen einen Menschen Naß- und Ohren abschneiden/ oder auch ein Brandmahl ins Gesichte brennen lassen könne?«, nicht ausweicht. Aber die christliche Ethik des 17. Jahrhunderts hat sich, moraltheologisch begründet, mit dem grausamen Strafschauspiel arrangiert: »weil der Mensch GOttes Ebenbild nicht ist secundum lineamenta corporis & formam externam [...], nach der äußerlichen Leibes-Gestalt/ und den äußerlichen Menschen/ besondern nach den Qualitäten der Seelen/ und nach dem inwendigen Menschen [...]«. 174 Es gibt einen Idealismus der Grausamkeit, begründet auf einer Transzendenz der Person, die in ihrem metaphysischen Kern von den körperlichen Praktiken der Strafe nicht erreicht wird - oder wenn, dann nur negativ: durch Reinigung, Freisetzung der Seele aus der Leiblichkeit. Denn der Henker symbolisiert und exekutiert eine weltliche Strafe, die das Heilsschicksal des inneren Menschen noch nicht präjudiziert, sondern die Leidens- und Todesbereitschaft sogar mit der Chance unmittelbarer Einkehr ins Himmelreich belohnt. 175 Wenn bereits Mitte des 16. Jahrhunderts Johann Fischart den sozialen Nutzen seiner Satire anhand des »schreckliche[n] spectacul[s]« der öffentliche Hinrichtung reflektiert, führt er doch neben dem generalpräventiven Effekt auch den Armen Sünder als einen sittlich Geläuterten vor, welcher der Liturgie der Hinrichtung gemäß durch seine öffentlich-erbauliche Buße die rechtlich-moralischen Normen rechtfertigt, die über sein Leben richten. Deßgleichen pflegen nit auch noch heut etliche Eltern ihre Kinder, sie von Lastern unnd Bubenstücken abzuschrecken, zur Warnung raitzunemmen, wann man einen Übelthäter vom leben zum todt zurichten außführet? aida die schöne Leichpredig, so der Dieb schwanenmäsig zur letzt aüff der leiter ihm selbs zu spat Galgenreulich unnd andern zu frühe Galgentreulich thut, anzuhören. 1 7 6

Es ist prinzipiell dieselbe, die physische Grausamkeit der Gerichtspraxis legitimierende Trennung von innerer Menschlichkeit, die zuletzt der eigenen Liquidation zustimmt, und äußerer, in den »böse[n] Gliedmassen«, 177 mit denen die

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Heinrich Waser (1742-1780), der 1770 Pfarrer in Zürich, 1774 suspendiert und schließlich wegen Hochverrats und Diebstahls wichtiger Dokumente hingerichtet wurde, vgl. den ausführlichen Artikel in A D B 41. Bd., S. 220-227. Döpler: Theatrum Poenarum, S.913 (im Kapitel über das Brandmarken). Zur Heilserwartung des todesbereiten Armen Sünders und zur »Liturgie« der Hinrichtung vgl. Dülmen: Theater des Schreckens, S. i é i f f . Fischart: Geschichtklitterung, S. 7. - Zur Bedeutung solcher >letzter Worte< oder »Schaffott-Diskurse« vor der Hinrichtung vgl. Foucault: Uberwachen und Strafen, S.8 5 f. Döpler: Theatrum poenarum, S. j.

verbrecherische Tat v o l l f ü h r t w u r d e , symbolisierter Schuld, die i m p o e t o l o g i schen K o n t e x t der satiretheoretischen R e f l e x i o n wiederkehrt: als U n t e r s c h e i d u n g der akzidentellen » U n t u g e n d e n « v o n der substantiellen »Person [...]/ die selbige an sich hat«; 1 7 8 - eines moralischen Frevels also, der gestraft w e r d e n muß, u n d eines ethisch unantastbaren Subjekts, das der Z ü c h t i g u n g entzogen bleiben soll. A u c h sie legitimiert (literarische) A g g r e s s i o n , aber mit einer - freilich gewichtigen - D i f f e r e n z : W ä h r e n d die Satire diese Trennung in der unpersönlichen, typisierenden F i k t i o n real vollziehen kann, bleibt der M a l e f i k a n t der p h y s i s c h e n Strafe ausgeliefert mit der ganzen p s y c h o p h y s i s c h e n P r ä s e n z seiner Person.

1.5 D i e G r e n z e des Strafmodells: D i e S t r a f r e c h t s r e f o r m des H u m o r s bei J e a n Paul Stellt die satirische Pönalisierung das Lächerliche der >Toren< und >Lasterhaften< ö f f e n t l i c h z u r A b s c h r e c k u n g und Sühne, z u r »Warnung, o d e r z u r Z ü c h t i g u n g « ' 7 5 aus - u m der lesenden Ö f f e n t l i c h k e i t jenen »heilsamen Schrecken« einzuflößen, dessen moralischen E i n f l u ß die aufklärerischen Strafrechtskritiker w i e Beccaria der peinlichen Strafjustiz gerade absprechen - , ' 8 ° so kehrt sich die aufklärerische Strafrechtstheorie u n d , zeitverzögert, auch deren Praxis, v o n den peinlichen Strafen ab. Was d e m alten Straftheater als unerläßliche B e d i n gung seines primären P r ä v e n t i o n s e f f e k t s gilt, verhindert f ü r den aufgeklärten B l i c k der S t r a f r e c h t s r e f o r m e r geradezu den sittlichen B i l d u n g s e f f e k t auf die Allgemeinheit: » D e n n je minder sie p h y s i s c h s c h m e r z h a f t u n d schrecklich sind,« argumentiert Wilhelm v o n H u m b o l d t 1 7 9 2 f ü r die »Gelindigkeit« der Strafen, »desto m e h r sind sie es m o r a l i s c h . « 1 8 ' D a s R i s i k o der grausamen M a r tern, daß sich die zuschauende M e n g e durch ihr Mitleid o d e r ihre B e w u n d e rung mit d e m Verurteilten solidarisiert, w i r d z u m A r g u m e n t gegen eine Strafpraxis, die den einzig rechtfertigenden A b s c h r e c k u n g s z w e c k verfehlt.' 8 2 I m M a ß e , in d e m die Resozialisation des Verurteilten, den die ältere K r i m i n a l j u s t i z bedenkenlos sozial liquidierte, z u m Strafziel a u f r ü c k t , verlieren auch die >infa178

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Erasmus: Lob der Torheit, S. 5; Hunold (Pseud. Menantes): Galante, Verliebte/ Und Satyrische Gedichte I, Vorrede. Uber den andern Theil (unpag. [S. X]), sowie mit gleichen Begriffen Rabener: Satiren IV, Vorbericht (unpag. [S.II]). Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste III, S. 135b. Vgl. etwa Beccaria: Über Verbrechen und Strafen, S. 52. Humboldt: Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, S. 208. Vgl. etwa Dreyer: antiquarische Anmerkungen, §4, S. 15. - Dreyer verweist auf die Präzedenzfälle der verurteilten Freibeuters Louis Mandrin und des Königsmörders Damien, dessen Exekution 1757 das 18. Jahrhundert stark beeindruckte (vgl. etwa Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. In: Sämtliche Werke II, S. 82) und von Foucault eindrucksvoll beschrieben wird (Foucault: Uberwachen und Strafen, S.9-12). 81

mierenden< Ehrenstrafen ihre strafrechtstheoretische Legitimation. 183 Die öffentliche Zurschaustellung des Delinquenten am Pranger wird in Drydens Heimat 1837, in Frankreich schon 1789 abgeschafft. 1 ' 4 Das Zuchthaus dagegen ist seinem Wortsinne gemäß - eine Erziehungsanstalt, 18 ' die Haftstrafe hat weniger eine Sühne- als eine Korrekturfunktion, die außerhalb der Denkbedingungen des vormodernen Rechts lag. Der »weise Gesetzgeber«, argumentiert Heinrich Balthasar Wagnitz im Vorwort seiner 1791-94 erschienenen h i s t o r i schen Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschlands macht die » Verbesserung dessen, der bis dahin Störer seiner und der bürgerlichen Wohlfahrt war, zum Zwecke seiner Strafgesetze [,..].«l8Torheiten< wird: Denn das »Lächerliche«, das die Satire boshaft exponiert, trägt das Signum der partialen Endlichkeit,' 88 die die humoristische Totalität< gerade überwindet. Der komische Kontrast mißt nicht länger die sittliche Normabweichung am Codex einer sich selbstverständlichen Vernunft der moralisch-intellektuellen Normen, sondern die »tolle Welt« als Ganze an der unendlichen Idee, der »keine einzelne Torheit, keine Toren«' 89 mehr wichtig sein können. Das humoristische Schreiben zieht bei Jean Paul dieselbe Konsequenz, die die Geschichte des Strafrechts als >Humanisierung< kennt.' 90 Die strafrechtliche Metaphorik pointiert die Korrelation von strafrechtlicher und ästhetischer Reform mit frappierender Präzision aus, indem sie die generalpräventive Wirkungsästhetik des öffentlichen, auf die Zuschauer abzielenden satirischen Straftheaters der justiziellen Innovation der Haftstrafe ausliefert: Der romantische Dichter weigert sich, »der Denunziant und Galgenpater der einzelnen Toren« zu sein;' 9 ' den »gemeinen Satiriker« dagegen, »den Schergen des Prangers«, nimmt er samt allen Zuschauern in Haft [!], weil nicht die bürgerliche Torheit, sondern die menschliche, d.h. das Allgemeine sein Inneres bewegt. Sein Thyrsus-Stab ist kein Taktstock und keine Geißel [...]. 1 9 2

Es war die skeptische Leistung der kantischen Erkenntniskritik, die im Falle Jean Pauls die Garantie eines - nur partikular beeinträchtigten und daher satirisch-strafend wieder in seine Rechte einzusetzenden - metaphysischen Konsenses der Vernünftigkeit von Welt und menschlichem Verstand zerstörte.' 93 Doch in derselben Weise entmachtet auch Hegels Ästhetik das satirische Strafgericht, dessen apologetische Modellfunktion mit dem Postulat moralischübersubjektiver Normen, verhandelbarer Gegenstände und einer urteilenden Instanz automatisch beseitigt wird, indem sie die Objektivität alles Einzelnen, des Autors wie seiner Gegenstände, in einem subjektivistischen Spiel spontaner »Einfälle, Gedankenblitze, frappanter Auffassungsweisen« preisgibt.' 94 Das le188

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Vgl. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik I, VI, § 30. In: Sämtliche Werke I, 5, S. 124. Den >eschatologischen Bezug< dieser Humor-Definition unterstreicht Rudolf Bohren: Predigtlehre. Gütersloh 1993, S. 244. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik I, VI, § 3 1 , S. 125. Vgl. E. Kaufmann: Strafe, Strafrecht. In: H R G 4, Sp. 2024. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik I, V I , § 3 1 , 8 . 1 2 7 . Ebd. S . 1 2 5 . Dazu Wilhelm Schmidt-Biggemann: Vom enzyklopädischen Satiriker zum empfindsamen Romancier: Jean Pauls frühe Entwicklung. In: Jean Paul: Sämtliche Werke. A b teilung II, Bd. 4. Hg. von Norbert Miller und Wilhelm Schmidt-Biggemann. S. 263292, hier S. 287^ Hegel: Ästhetik I, S. 575. - Vgl. auch Jurij M. Striedter: Der Clown und die Hürde. In: Das Komische. Hg. von Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning. München 1976 (Poetik und Hermeneutik VII), S. 389-398, hier S. 395: Das moderne Subjekt »lacht

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gitimistische Modell der satirischen Züchtigung wird etwa gleichzeitig von zwei Seiten, vom bilderspendenden Referenzbereich des Strafrechts und von der Seite der Ästhetik, dementiert: Die strafrechtliche Praxis beseitigt mit der Abschaffung der körperlichen Züchtigung und ihrer Reformation zum Gefängniswesen den Bildbereich, mit dem aggressiv satirisches Schreiben sich identifizieren kann. Die ästhetische Theorie aber gibt wie die dichterische Praxis im Zeichen der humoristisch-spielerischen Auflösung einer allgemeinverbindlichen Norm die Sinnvoraussetzung seiner Selbstdeutung als quasijustizielles Strafschauspiel preis. Es geht um eine zum Strafrechtsreformismus genau parallellaufende Distanzierung, die bei Jean Paul auch die ironische Enkomie des Galgens im >Luftschiffer Giannozzo< unter Beweis stellt. 1 " Der Festredner zum Jubiläum des Mülanzer Galgens zitiert der Reihe nach die traditionellen Rechtfertigungstopoi und Erfolge des peinlichen Straftheaters - von der grausamen Abschreckung bis zur Reinigung der Delinquentenseele - in einer so übertriebenen und ironischen Weise, daß sie ihre Uberzeugungskraft vernichtet: Weil der Galgen, dieser »Eckpfosten unserer Sittlichkeit«,'96 so wirksam vom Straßenraub abschreckt, beschere er dem von der Inquisition bewachten Staat die ehrenhaften »Fallierer« (Bankrotteure), Nachdrucker und Hasardeure. - Will die Satire sich fortan noch als Pönalisierung verstehen, muß sie sich entweder anachronistisch zur >vormodernen< institutionellen Praxis der Strafe zurückwenden'97 - oder ihre Identifikation bei den justiziell geächteten Formen der Privatjustiz suchen: bei jener rächenden Gewalt, deren subjektiver Anspruch der legitimistischen Rückkoppelung an die faktischen Instanzen und Normierungen der institutionellen Strafjustiz entrât.'98

2. Satirische Therapeutik 2.1 Medicina mentis. Denkbedingungen der satirischen Seelenmedizin Neben der Strafe ist die medizinische Therapeutik das zweite Paradigma satirischer Selbst- und Fremdreflexion, das hier rekonstruiert werden soll. Auch die Pathologisierung und Therapie satirisch verspotteter Zustände und Eigenschaften hat sowenig wie die Bestrafung bloß metaphorischen, sondern erneut

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nicht mehr, indem es andere degradiert, sondern weil es, indem es ihnen und sich selbst zuschaut, die eigenen Sinngebungen in ihrer komisch entlarvenden Unzulänglichkeit mit belacht.« - Dazu auch Röcke: Die Freude am Bösen, S. 156. Jean Paul: Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch. In: Komischer Anhang zum Titan. In: Sämtliche Werke I, 3, S.953-958. Ebd. S.953. Vgl. etwa aus der Mitte des 19. Jahrhunderts Voß: Satirische Laster-Geißel. Vgl. dazu beispielhaft Westphalen: High N o o n , S. 1 3 2 !

paradigmatisch-konkreten Sinn, der über die metaphorische Referenz aggressiv-satirischen Schreibens auf medizinische Praxis hinaus eine funktionale Identität zwischen beiden stiftet: Satirische Therapie ist die literarische Praxis der medicina mentis oder medicina animi·, ihre Heilungsintention zielt auf die Wiederherstellung »gesunder Vernunft«. Als Titel moralphilosophischer oder logischer Traktate - so bei Joachim Lange oder Ehrenfried Walther von Tschirnhaus - ist die auf Cicero zurückgehende medicina mentis dem 17. und 18. Jahrhundert geläufig. 1 ' 9 Mehr noch als im Strafen bewahrt sich im >Heilen durch Worte< die archaische Erbschaft des Satirischen, dessen einst geglaubte physische Wirkungsmacht in der medizinisch-physiologischen Metaphorik noch aufscheint. Das Rechtfertigungsschema der satirischen Therapeutik verkehrt jedoch die primäre körperliche Schädigungsintention der vorliterarischmagischen Schmährede ins genaue Gegenteil: Als Therapeut instrumentalisiert der Satiriker verbale Destruktivkraft zum Zweck der Heilung des Verspotteten von den - stoisch verstandenen - >Krankheiten< seiner Seele, seinen Affekten und Lastern, die der vernünftigen Lebensführung opponieren. Bereits die Diagnostik des Welt-, Menschen- oder Gesellschaftszustandes als Krankheitszustand ist freilich im Kern ein aggressiver Akt, der, indem er dem Bestehenden das Recht bestreitet zu bleiben, wie es ist, die soziale Therapeutik von vornherein der Gewalt assimiliert; sie ist eine Selbstermächtigung zur Gewalt.200 Auch die Medizin ist wie die Strafe und die Erziehung eine »soziale Ordnungsmacht«, eine Disziplinargewalt, die die Unangepaßtheit des Individuums an seine Umwelt mit dem Stigma der Krankheit belastet.201 Ihre Zu-

Vgl. Tschirnhaus: Medicina mentis; der Hinweis auf Lange bei Johanna Geyer-Kordesch: Die Medizin im Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Pietismus: Das unbequeme Werk Georg Ernst Stahls und dessen kulturelle Bedeutung. In: Halle. Aufklärung und Pietismus. Hg. von Norbert Hinske. (Zentren der Aufklärung I.) Heidelberg 1989 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung. Bd. 15), S. 25 5-274, S. 262. - Zum Begriff vgl. Cicero: Tusculanae disputationes III, 6: >est prefecto animi medicina, philosophiaArs Iocandi< im 16. Jahrhundert. Phil. Diss. Marburg 1968, Hildesheim 1972 (Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken. Reihe B, Bd. 2), S. 50.) 200

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Vgl. im weiten Zusammenhang auch Lübbe: Ideologische Selbstermächtigung zur Gewalt. Achim Thom: Gesundheit - Krankheit. In: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Hg. von Hans-Jörg Sandkühler. Bd. 2. Hamburg 1990, S. 442-448, hier S. 447; vgl. Irving K. Zola: Medicine as an Institution of social Control. In: Sociological Review. Vol. 20 (1972), p. 487-504, sowie Alfons Labisch: »Hygiene ist Moral - Moral ist Hygiene« - Soziale Disziplinierung durch Ärzte und Me-

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ständigkeit expandiert in gleichem Maße, in dem Krankheit als Metapher jeglicher sozialer Abweichung beliebig politisch benutzbar wird.202 Die Pathologisierung moralisch diskreditierten Verhaltens und die Diskursverschränkung von Moral und Medizin, wie sie sich im Transfer medizinischer Ordnungsschemata auf die Ethik oder bereits im Doppeltitel von Thomasius' Schrift >Von der Artzeney Wider die unvernünfftige Liebe [...] Oder Ausübung der Sittenlehre< (1696) manifestiert, beruht auf einer wenigstens umrißhaft skizzierbaren kulturellen Tiefenstruktur, welche die medicina mentis in mindestens vierfacher Weise mit Denkbedingungen platonischer, stoischer, christlich-theologischer und medizinischer Lehrtraditionen verknüpft; sie alle prägen irreduzibel auch den Sinn der satirischen Therapie. Eine erste Verknüpfungsstelle liegt im platonischen Konzept einer genau komplementären Beziehung von psychomoralischer Tugend und physischer Gesundheit: Der Gesundheit als somatischer Tugend< korrespondiert die Tugend als Gesundheit der Seele.203 Der Parallelismus seelischer Tugend und leiblicher Gesundheit beruht auf einer identischen hierarchischen Ordnungsstruktur beider Bereiche, die im Mikrokosmos des individuellen Organismus und Affekthaushalts den Makrokosmos sich spiegeln läßt.204 Aber erst die Affektenlehre der stoischen Ethik, vor allem die des Chrysippos, erklärt die menschlichen Affekte zu behandlungsbedürftigen »Krankheiten der SeeleMaximus Galenus< (Clemens von Alexandria), »medicus animorum simul & corporum* (Cyrill) (vgl. Selhamer, ebd.).

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Austausch mit ihr profiliert. Der strenge Sinn der medicina mentis wird sich dann am Ende des 18. Jahrhunderts in einer interdisziplinären Koalition behaupten, in der medizinisch-psychologische und literarische Therapeutik endgültig eins geworden sind. 2.2 Moralmedizinische Pathologie, Semiotik und Therapeutik: Christian Weise und die >Sitten-Arzney-Kunst< des Vincentius Placcius Es ist zunächst die konfuse oder fehlende Ordnung im äußeren Bild der Krankheit, die ihrer Therapie im Wege steht: Der Therapeut muß die undeutliche Schrift >moralischer< oder >physischer< Krankheiten 211 mit Hilfe medizinischen Wissens zuerst entziffern, identifizieren und diagnostizieren, um aussichtsreich auf sie einwirken zu können. Auch die Praxis der literarischen Therapie setzt Bedingungen eines solchen Wissens voraus, das außerhalb ihrer selbst liegt. »Denn gleich wie der MEDICUS«, schreibt Johann Beer, »die Art und Beschaffenheit einer Kranckheit erstlich erkennen muß/ ehe er mit dem Patienten eine glückliche Cur vornehmen kann; Also wurde erfordert/ daß auch ich denen Narren zuvorhero den Pulß grieffe/ ehe und bevor ich mein ARCANUM APPLiciren [...] wollte.« 212 Zur diagnostischen Identifikation der Anzeichen nicht nur physischer, sondern ebenso moralischer Krankheiten hat die frühneuzeitliche Medizin eine spezifische Semiotik entwickelt, die den systematisch mittleren, aus praktisch-ärztlicher Perspektive freilich primären Teil einer vierstufigen medizinellen Logik aus Physiologie, Pathologie, Semiotik und Therapeutik bildet: Medizinisches Handlungswissen setzt mit der Erforschung der allgemeinen >Natur< des menschlichen Körpers und der physischen Defekte ein, deren Identifikation durch äußere Zeichen sie anschließt, um am Ende einen therapeutischen Maßnahmenkatalog ableiten zu können. Es ist dieses komplexe, von der gelehrten Medizin schon im 16. Jahrhundert ausdifferenzierte Wissenschaftsschema, durch dessen axiomatische Geltung reguläre Medizin und Mediana moralis der Satire in der Frühen Neuzeit sich systematisch zuerst verschränken. Für beide kommt es darauf an zu erkennen, »wie man nehmlich die Kranckheit der anklebenden Laster gebührend erforschen/ genau unterscheiden/ und durch bewehrte Mittel curiren solle.« 2 ' 3 Christian Weises >Kurtzer Bericht vom Politischen Näscher< hat die genaue historische Verknüpfung medizinischen und literarischen Wissens im Zusammenhang dieser medizinellen Logik festgehalten. Denn der Satiriker beruft sich auf den moralphilosophi211

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Die Einteilung in >moralischephysische< und ggf. >gemischte< Krankheiten begegnet besonders häufig in der vitalistischen Medizin des i8. Jahrhunderts; vgl. etwa die Klassifikation der Melancholie in [Anonym]: D e r Medicinische Haupt-Schlüssel, S.ézff. Beer: M a u l - A f f e n . In: Sämtliche Werke I X , S. 1 1 . Weise: Kurtzer Bericht vom Politischen Näscher, S. i2of.

sehen Traktat des Hamburger Polyhistors (und Arztsohnes) Vincentius Placcius, 214 der seinem >Typus accessionum moralium, seu institutionum medicinae moralis< (deutsch: >Sitten-Artzney-Kunstmodernen< Naturwissenschaften, mit Francis Bacons Begründung und der Implementierung induktiver Erkenntnisverfahren anstelle des scholastisch-deduktiven Denkens in der wissenschaftlichen Praxis wandelt sich langfristig auch das Gesicht der Medizin: Die empirisch-experimentelle Medizin verdrängt die philologische, auf die autoritäre Geltung der antik-medizinischen Schriften gegründete Medizin des Spätmittelalters und der Renaissance;215 die Autopsie ersetzt die Autorität als Verifikationsinstanz der medizinischen Lehre; Beobachtung und Experiment stellen ihre operative Leistungsfähigkeit in neuartigen Entdeckungen der Physiologie und pathologischen Anatomie unter Beweis. 216 Aber es ist speziell die dem 17. Jahrhundert selbstverständliche Verbindung von medicina theoretica und mediana practica,217 von Erkenntnis und Technologie, welche die Medizin für Placcius als Leitbild einer ethischen Wissenschaft attraktiv macht, deren Systematik bei Aristoteles wie noch bei dem Zeitgenossen Schottel die Ergänzung durch praktisch handhabbare Therapieformen vermissen lasse.2'8 Der systematische Transfer von der Medizin zur Ethik gründet im praktisch-philosophischen Interesse an der letzten, therapeutischen Stufe medizineller Logik, die 214

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Zu Placcius vgl. Jöchers Allgemeines Gelehrten-Lexicon III, Sp. i6iof.; der ungemein produktive Verfasser soll selbst an Melancholie und »Milz-Beschwerung« gelitten haben. Wie problematisch dieser langfristige Ablösungsprozeß sich tatsächlich gestaltet, wird indes an einer Bemerkungen Zimmermanns klar, welche die Empirie erneut in die Autorität einmünden läßt: »Der Beobachtungsgeist zeigt uns was Hippokrates lehrte, das Genie was Galenus lehren wolte.« (Zimmermann: Von der Erfahrung in der Arzneikunst I, S. 478 (Hervorhebung im Original).) Verwiesen sei nur auf die durch Morgagni und andere im Anschluß an Andreas Vesal weitergeführte empirische Anatomie, die Entdeckung des Blutkreislaufs durch Harvey (1628), der Mikroskopie durch Leeuwenhoek, Swammerdam und Malpighi, die Entwicklung der klinischen Diagnostik und Therapie bei Thomas Snydenham. Zur Evolution der Medizin im 17. Jahrhundert vgl. Eckart: Geschichte der Medizin, S. 1 7 i f f . ; zur »chronologischen Schwelle< in der medizinischen Theorie und Praxis des »klassischen Zeitalters< auch Foucault: Die Geburt der Klinik. Vgl. dazu Eckart: Geschichte der Medizin, S. 148. Placcius: Die Sitten-Artzney-Kunst, Vorrede, S. if.; zur Einheit von medizinischer Theorie und Praxis im 17. Jahrhundert vgl. Eckart: Geschichte der Medizin, S. 148. 89

rückwirkend Placcius' ganze Ethik medizinisiert: Wie die medizinische Wissenschaft ihren Diskurs unter den Titeln Physiologie, Pathologie (oder N o s o logie), Semiotik und Therapeutik ordnet, 2 1 ' ersetzt auch die Ethik des Hamburger Gelehrten das etablierte antike Schema von Eudämonologie, Anthropologie und Aretologie, das noch die gleichfalls in der zweiten Jahrhunderthälfte erscheinenden Ethiken eines Schottel, Horn oder Golius 2 2 0 benutzen, durch die neue Einteilung in Physiologia

und Pathologia

M oralis. Ihr erster Teil um-

faßt die »Sitten-Naturforschung« (Physiologia Moralis) und die Erkenntnis des »Höchsten Gutes«, der ewigen Seligkeit ( H y g i e n e Moralis);221 trifft die moralpathologische Seite, die sich in Nosologia, rapeutica

der zweite be-

Semeiotica

und The-

Moralis gliedert. 222 Die moralische Nosologie entwickelt einen spezi-

fizierenden und klassifizierenden Katalog der kardinalen Laster - angeführt von der »Gottlosigkeit«, gefolgt von Unmäßigkeit, »Untapferkeit«, Ungerechtigkeit oder »Feindsäligkeit« - , 2 2 3 die wie Krankheiten stets mit »Unruhe und Schmertzen verbunden« sind, das höchste Gut hindern und auch den moralisch Gesunden ständig mit dem Risiko des >Rezidivs< bedrohen. 224 Die moralische Semiotik lehrt dagegen die Unterscheidung der »Zeichen der Güte und B o ß heit« in einem Examen des eigenen Gewissens ( E x a m e n conscientiae)

oder auch

fremden Verhaltens ( E x a m e n censurans). Es ist dieselbe Übertragung der medizinischen Zeichenlehre auf Ethik und Anthropologie, die noch die Hoffnung der Illuminaten auf eine - mit Knigges Ausdruck - »sichre Semiotic der Seele« richtet, die im >Charakterexamen< erarbeitet werden soll. 2 2 ' Bei Placcius jedoch

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Vgl. bei Jean Fernel: Universa Medicina (ι 554; 3. Auflage 1574) die Einteilung in Physiologia und Pathologia, die wiederum Krankheitsbeschreibung und Ursachen (»De Morborum causis«, S. 3é3ff.), Zeichenlehre (»De Symptomatis atque signis«, S. 392ff.) sowie Therapeutik umfaßt (vgl. den vollständigen Titel, aber auch das abschließende 7. Buch über >äußere Körperzustände< und Chirurgie: »De externis corporis affectibus«, S. 644Íf.). - Zu diesem Einteilungsschema vgl. auch [Red.]: Pathologie. In: HWPh 7, Sp.183. Vgl. Schottelius: Ethica; zu den entsprechend strukturierten Ethiken Horns und Golius' vgl. Walter E. Schäfer: Moral und Satire. Konturen oberrheinischer Literatur des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1992 (Frühe Neuzeit. Bd. 7), S. 66. Placcius: Die Sitten-Artzney-Kunst, S. 5 und 124. Ebd. S.148, 175, 209. Ebd. S. 149, 154, 162. Ebd. S.173. Knigge: Philo's endgültige Erklärung und Antwort [...], in Richard van Dülmen: Der Geheimbund der Illuminaten. Darstellung, Analyse, Dokumentation. Stuttgart, Bad Cannstatt 1975, S. 350. - Das präzise >Charakterexamen< der Illuminaten soll genaue Auskunft geben, »wozu Jeder im Staate taugte.« (Ebd.) - Die »Seelenzeichenkunde« gehört im übrigen zu den Kategorien des durch Mendelssohn angeregten Ordnungssystems in Moritz' >Magazin zur ErfahrungsselenkundeSymptomen< und diagnostischen, anamnestischen und prognostischen >Zeichen< in »wesentliche«, kausal »verursachende« und »außwirckende« aufteilen; denn der moralischen Semiotik zufolge sind »gewisse Missethaten [...] denen Anstoß-Zeichen der leiblichen Artzney (Signa Paroxysmi) gleich«.226 Aus der Natur der so dechiffrierten Laster leitet die moralische Therapeutik schließlich die Remedia moralia ab, die sich ihrerseits noch einmal doppelt differenzieren: einmal in »eigenthätige« und »gesellschaftige« oder »frembde/ so durch anderer Leute Hülffe uns beygebracht werden«, 227 dann aber nach ihrer kausalen Beziehung zur Krankheit in Praeparatoria, Praeservativa und Curatoria. Nur die letzteren sind die eigentlichen »Geneeß- oder Verbesserungs Mittel« zur Behandlung des Lasterkranken.228 Wie die vorklinische Medizin im jeweiligen Namen der Krankheit ihre Ursache, Prognose und therapeutische Indikation bündelt, 22 ' enthüllt auch das entzifferte Laster dem geschulten Blick der medicina moralis seine eigene >NaturGrobianus< vornimmt, präsentiert in gedrängter Weise die ganze metaphorisch beleihbare Skala ärztlicher Maßnahmen zur Krankheitstherapie, die die folgenden Rekonstruktionen aufschlüsseln werden: Sieh/ wenn ein Artzt nicht rathen In schwerer kranckheit kan; wenn artzney nicht zustaten Dem siechen Menschen kommt/ so sinnt er hin und her Auff was vor mittel jhm zuhelffen etwa weraggressivpolypragmatische< medizinische Therapiemodell den Fokus der Aufmerksamkeit

2,4

Das Titelkupfer in Grimmelshausens Roman >Satyrischer Pilgram< (1667) zeigt zu Füßen eines Seifenblasen produzierenden Kindes ein Gefäß mit der Aufschrift »Teriac« und ein weiteres mit dem Namen eines schnellwirkenden Giftes: »aconi[tum]Magazin zur Erfahrungsseelenkunde< vor allem durch die stoische Ethik versehen wird, 2 3 9 wetteifern zwei Therapieformen im medizinischen Reflexionsmodell satirischer Verfahren: der >aggressivebittere Wahrheit< als »überzuckerte Arzneijuvenalisch-strenge< satyra tragica sich als operativ-einschneidendes Verfahren versteht, ersetzt die >horazisch-heitere< Satire die heilende Zufügung des Schmerzes durch die sanfte Therapeutik des Scherzes.

2.4 Satirische Arznei und Pharmakotherapie im 17. und 18. Jahrhundert Im sechsten Band des Moritzschen >Magazins zur Erfahrungsseelenkunde< (1788) analysiert dessen zeitweiliger Mitherausgeber Pockels knapp die analoge Beziehung zwischen physischer und psychischer Heilkunde: Die Curen der Seele haben viel Ähnlichkeit mit der Heilung körperlicher Krankheiten. In beiden Fällen muß der Patient oft Arzeneien gebrauchen, die sehr bitter sind, wenn sie eine gute Würkung haben sollen. Am bittersten kommen uns gemeiniglich die Heilmittel gegen die Krankheiten der Seele vor; theils weil die wenigsten Menschen - so sehr es auch andre bemerken, an ihrer Seele krank zu seyn glauben, und also sich gegen die ihnen angebotenen Mittel sträuben; theils auch, weil die wenigsten Seelenärzte ihre Patienten mit weiser Schonung zu heilen wissen, sondern nach einer Methode verfahren, die den Schwächen jener unangemessen ist, und die Wunden mehr aufreißt, als heilt.24' Die methodologische Gleichung von physischer Heilkunst und Psychotherapie, die ihre Strategien der fehlenden Krankheitseinsicht ihrer Patienten - ein 1,9

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Moritz: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde IX, 1, S. 13. - Als diätetischen Teil der Medidna moralis versteht aber auch Zückert seine >Medicinische und Moralische Abhandlung von den Leidenschaftenc Er will »eine diätetische Anweisung [...] geben, wie man die Leidenschaften vernünftig zu seinem Nutzen brauchen, und den Schaden abwenden soll, der aus denselben entstehen kann.« (Vorrede, unpag.) Dazu Brummack: Zu Begriff und Theorie der Satire, S. 313. Moritz: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde V I , 2, S. 1 3 4 .

Spezifikum der seelischen Pathologie - M 2 anpaßt und ihren Widerwillen überlistet, hat sich in dem von Pockels nur angedeuteten pharmakologischen Bild längst verdichtet, während die Therapie der Seele noch nach wirksamen Verfahren sucht.243 Die >überzuckerte Arznei*, deren angenehm-verführende Einkleidung der bitteren, aber heilsamen Wirksubstanz der Wahrheit Aufnahme ins Herz oder in den Verstand der Adressaten verschafft, stellt das meistverbreitete topische Bild medizinischer Verfahren der Satire dar. Seine Allgegenwärtigkeit im 17. und 18. Jahrhundert zeugt von einer medizinhistorischen Konjunktur pharmakotherapeutischer Verfahren, ja einer regelrechten »Pharmakomanie«, die der hallesche Medizinprofessor Georg Ernst Stahl schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts kritisiert.244 A m geschichtlichen Ursprung des medizinischen Vergleichs literarischer Rede mit dem Pharmakon steht indes die Selbstreflexion der antiken Rhetorik über ihre eigene sprachliche Beeinflussungsmacht, aber auch die somatisch-symptomatischen Reaktionen, die sie beim Hörer evoziert. Bereits der erste große griechische Rhetor, Gorgias von Leontinoi, vergleicht - gestützt auf das semeiotische Verfahren der antiken Medizin - 2 4 5 die Wirkung des Logos und seiner physischen Symptome der Wirkung medizinischer Pharmaka. 246 Doch erst bei den humanistischen Verssatiriker-Kommentatoren des 15. und 16. Jahrhunderts verfestigt sich der medizinische Vergleich von Logos und Pharmakon zu einem standardisierten wirkungsästhetischen Modell von fast universaler Reichweite. Die Hoffnung auf ein literarisches Universalheilmittel für alle sittlichen Gebrechen zeichnet be-

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Die mangelnde Krankheitseinsicht des Seelenkranken kulminiert im Glück des Wahnsinns; vgl. dazu in Goethes Werther (II, Brief v. 30. November) die Episode des Blumenpflückers im Winter, der das verlorene Glück seiner Raserei im Tollhaus betrauert (Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. In: Sämtliche Werke (Münchner Ausgabe) Bd. 1.2, S. 269-272).

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' Vgl. dazu bei Moritz, Magazin zur Erfahrungsseelenkunde VI, 2, S. 134, die Klage des zeitweiligen Herausgebers Pockels über den Mangel an Beiträgen für die in jedem Band des Magazins vorgesehene Rubrik »Seelenheilkunde«. 244 Vgl. dazu Wolfram Kaiser: Pro memoria Georg Ernst Stahl (1659-1734). In: Georg Ernst Stahl (1659-1734). Hallesches Symposium 1984. Hg. von Wolfram Kaiser und Arina Völker. Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle/Saale 1985, S. 7-24, hier S. 17. 245 Vgl. dazu Manfred Wilhelm Pölert: Untersuchungen zu Denk- und Beweisformen des Gorgias und ihren geschichtlichen Hintergründen. Gorgias und ihren geschichtlichen Hintergründen. Diss. Kiel 1973, S. 83. 246 »Im selben Verhältnis steht die Wirkkraft der Rede zur Ordnung der Seele wie Arrangement von Drogen zur körperlichen Konstitution: Denn wie andere Drogen andere Säfte aus dem Körper austreiben, und die einen Krankheit, die anderen aber das Leben beenden, so auch erregen unter den Reden die einen Leid, die andern Genuß, und dritte Furcht, und wieder andere versetzen die Hörer in zuversichtliche Stimmung, und noch andere bezaubern und berauschen die Seele mit einer üblen Bekehrung.« Gorgias v. Leontinoi: Reden, Fragmente und Testimonien, S. 1 if.

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reits der Persius-Kommentator Angelo Poliziano im medizinischen Bild einer Satire, die ihren Leser-Patienten »salubres Ambrosiae succos, & odoriferam panaceam« 247 verabreicht. Kraft der hierarchischen Stelle, welche die Therapie durch die materia medica auf der Skala abgestufter Interventionsgrade medizinischer Behandlungsmaßnahmen einnimmt, steht das Bild der Arznei stets für die aggressionsreduzierte, dem Rezipientengeschmack sich anpassende Form satirischen Schreibens. Für August Buchner, der mit seinem >Kurzen Weg-Weiser zur deutschen Ticht-Kunst< (1663) in Opitz' Sinne für die konkurrenzfähige Literaturfähigkeit des Deutschen streitet,24® unterscheidet der therapeutische Gebrauch »sothanefr] Mittel«, »die den Patienten angenehm/ und nicht zuwider währen«, 249 den Poeten überhaupt vom Philosophen. Dieser verfährt diskursiv-belehrend, jener narrativ-unterhaltend; der Philosoph hat Schüler, der Poet Patienten. Erst das von Buchner zugrundegelegte medizinische Modell verleiht der Differenz von diskursiv-philosophischer Belehrung und narrativer oder fiktionaler Dichtung ihren Sinn: Es ist die Gefangenschaft im Inneren des moralischen Lasters, die Isolation von der belehrbaren Vernunft, die dem Adressaten die Erkenntnis moralischer Regeln und deren Applikation auf sich selbst verwehrt. Der Satiriker behandelt seinen Adressaten deshalb nicht als mündiges Gegenüber, sondern macht ihn zum Gegenstand seiner therapeutischen Technologie, eines überlegenen Heilungswissens, dem die zeitgenössische Medizin das Modell gibt. Im asymmetrischen Verhältnis von Arzt und Patient spiegelt sich die ästhetische, von teilnehmender Identifikation strikt getrennte Distanz des Satirikers zum >niederen< Gegenstand, ein Abstand, der dessen literarische Darstellbarkeit überhaupt erst legitimiert: »Der Artzet muß darumb nicht kranck werden, wenn er schon mit Krancken umbgeht«. 2 ' 0 Diese Distanz bildet im Falle des Satirikers gleichsam eine ästhetische Infektionsprophylaxe, durch welche er die sittliche Depravation, die er darstellt, sich zugleich vom Leib hält. Aber das pharmakotherapeutische Modell impliziert aufgrund seiner eigenen Logik, der Akkomodation an den subjektiven Geschmack, eine Ethik der Aggressionsdämpfung, die gleichzeitig der Form der Horazischen Satiren und der Formel der Horazischen Poetik entspricht: Aus der Verpflichtung des Dichters auf die Einheit von »Nutz« und »Liebligkeit«, prodesse und delectare, folgt nach der barocken Poetik Buchners unmittelbar auch die Verpflichtung auf den »höflich« 2 ' 1 spottenden, heiteren Typus der Satire, der ihre

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Angelo Poliziano: Praelectio in Persium. In: Angeli Politiani Opera, S. 5 1 2 - 5 1 6 , hier S. 512. - Zu Angelo Poliziano (1454-1494) vgl. B U 35, p. 193-199. Zu Buchner und Opitz vgl. Hans Heinrich Borcherdt: August Buchner und seine Bedeutung für die deutsche Literatur des siebzehnten Jahrhunderts. München 1919. Buchner: Kurzer Weg-Weiser zur Deutschen Tichtkunst, S. 26. Fischart: Geschichtklitterung, S.9. Buchner: Anleitung zur Deutschen Poeterey, S. 10. - Zum Motiv der >überzuckerten Arznei< bei Buchner (mit unspezifischem Hinweis auf »Plato, Lucrez, Tasso«) knapp

soziale Störkraft fesselt.2'2 Der Schutzpatron der satirischen Therapie ist Asklepiades, der - modern formuliert - die >Compliance< seiner Patienten mit Wein anstelle bitterer Medizin bestach. 2 " Die pharmazeutische Rezeptur, die das überzuckerte Pharmakon für den poetologisch-bildhaften Gebrauch präpariert, ergibt sich von beiden Seiten des medizinischen und poetologischen Wissens, die in der Schnittfläche der Metapher zusammentreffen - aus der Selbstdeutung der Satiriker genauso wie aus der Praxis der Pharmakotherapie. »Wie der Artzt einem herben safft/ Mit Honig gibt ein süsse krafft/ Pillen mit Gold bekleidet fein/ Die sonst bitter Aloë sein«, so verfahre, Georg Rollenhagen zufolge, der Satiriker, wenn er »vom ernst in schimpff und schertzen« schreibt.2'4 Es ist das Vorbild der Purgativa, der säftereinigenden Abführmittel, das sich auch von medizinischer Seite her erschließt, weil schon die bloße Form der Pille sich mit der purgierenden Funktion verknüpft: Die »Formul« der Pille, heißt es im »Gründlichen Bericht Von seinen Balsamischen Blut-reinigenden und confortirenden Pillen< (2. Auflage 1734) des europaweit berühmten Mediziners und preußischen Leibarztes Stahl, werde »nach der gemeinen mode, keinem andern, als purgirenden Medicamenten gegeben«;2" ihre Verabreichung soll die aggressiveren Maßnahmen der Bruno Markwardt: Geschichte der deutschen Poetik. Bd. 1: Barock und Frühaufklärung. Berlin, Leipzig 1937, S. 59 sowie S. 67 und 219; allgemein auch Hans Peter Herrmann: Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670 bis 1740. Bad Homburg, Berlin, Zürich 1970 (Ars poetica. Bd. 8), S. 39 und 48L - Ausführlich dagegen Hans Peter Erlhoff: Groteske Satire und simplicianische Leidenschaft. Eine Untersuchung zur Literaturtheorie des 16. und 17. Jahrhunderts. Frankfurt/M. u.a. 1988 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1, Bd. 1028), S. 67-82. 2 2

' Folgerichtig führt Buchners poetologisches Schema zur Relegation jener Pasquillanten aus dem Bereich des Poetischen, »welche ehrliche Leute mit Laster-Versen durchziehen/ und aus verderbtem Gemüth ihren guten Namen zu beschmizen bemühet sein«. (Buchner: Anleitung zur Deutschen Poeterey, S. 30.)

2

" Vgl. Buchner: Kurzer Weg-Weiser zur Deutschen Tichtkunst, S. 26f. - Zu Asklepiades' medizinischer Ethik vgl. auch Platon: Politela, 407c; nach Jöchers »Allgemeinem Gelehrten-Lexicon< taugt Asclepiades (Beinahme: »Philophysicus«) freilich nur bedingt als Exempel in Buchners Sinne: »Er erlaubte zwar seinen Patienten den Gebrauch des Weins zum öfftern, [...] stellete aber zu anderer Zeit einen rechten Kercker-Meister vor.« Jöchers Allgemeines Gelehrten-Lexicon I, Sp. 588. - Vgl. damit auch Fischarts Empfehlung des Weins zur Behandlung der Melancholiker, Geschichtklitterung, S. 16: »Darumb mag ihm wol zu Zeiten ein Medicus ein reuschlin trincken, nit alleine den bösen lufft und geruch minder einzulassen, sonder auch bossierlicher zuseyn: der wird ein Krancken mutiger und getroster machen, alß ein langweiliger Langschaubiger Stirnruntzelter Fantast.«

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Rollenhagen: Froschmeuseler (Widmungsgedicht an Heinrich Ranzaw, unpag.). Stahl: Gründlicher Bericht Von seinen Balsamischen Blut-reinigenden und confortirenden Pillen, S. 2of. - Stahl empfiehlt seine Pillen außer zur »Läuterung und Reinigung des Geblütes« und zur »Besänfftigung und Mäßigung der allzu hefftigen Erregung desselben« insbesondere bei Beschwerden des Unterleibs (ebd. S. 8). Zu den

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Evakuation durch den Aderlaß ersetzen, wo immer sie »nöthig«, aber angesichts des geschwächten Zustands eines Patienten »bedencklich« erscheinen.2'6 Die poetologische Metapher kommuniziert also mit einer spezifischen medizinischen Hintergrundtheorie, der hippokratisch-galenischen Humoralpathologie, deren Säftechemie in modifizierter Weise - nicht zuletzt durch den Einfluß Stahls - 2 ' 7 bis weit ins 18. Jahrhundert hinein die pharmakotherapeutischen Möglichkeiten der Inneren Medizin beherrscht, deren praktischer Radius durch Austrocknung, Abführung oder Reinigung der kranken oder schädlichen Säfte, abgesteckt wird. Pharmakon und Purgativum gelten der hippokratischen Medizin als schlechthin identisch.2'8 Es ist dieser sehr konkrete Sinn der Satire als Abführmittel, den auch Hamann am Ende der ersten Zuschrift der >Sokratischen Denkwürdigkeiten durch den Vergleich seiner Schrift mit den »Küchlein« der humoralistischen Pharmazie aufruft. 2 ' 9 Hamann verweigert jedoch seiner satirischen Schrift ausdrücklich jede Anpassung an den »Geschmack« des zeitgenössisch aufgeklärten Lesepublikums, dessen aufgeklärtem Hochmut sein Text vielmehr in analoger Weise zunichte machen soll wie die leibliche Erfahrung der Abführdroge die erwartete Gottheitsverklärung des römischen Kaisers Vespasian, der beim Gebrauch eines Abführmittels anläßlich eines Darmleidens starb.260 Aber die medizinisch-bildhafte Selbstreflexion von Hamanns Schrift bewegt sich hier offenbar trotz gegensinnigen Bildgebrauchs auf der Traditionslinie eines satiretheoretischen Topos, die seine noch >Stahlschen PillenBrennens< und >Schneidens< entgegengesetzt, repräsentiert doch gerade den Verzicht auf aggressive Mittel; 286 die vorgefertigte legitimatorische Bildlichkeit und eine Einbildungskraft, die der aggressiven Seite des Schreibens Rechnung trägt, streben voneinander weg. In der Brüchigkeit, die so durch das medizinische Bild hindurch die physische Gewalt hervorkommen läßt, artikuliert sich jene gewaltaffine Feindlichkeit, welche von der Metaphorik in einer Weise >verdrängt< wird, die schon dem psychoanalytischen Verdrängungsbegriff nahekommt. Die metaphorische Rede verbirgt sie sonst unter einer Schicht des Schweigens, die das medizinische Modell über den Affekt des Schreibers legt ganz so, wie die Indirektheit des literarischen Angriffs, eingekleidet in das gefällige Kostüm der Komik, seine direkte Erfahrung dem Leserbewußtsein entzieht. Aber dieselbe Komik, die die pharmakologische Metapher als Konzession an den Publikumsgeschmack ausweist, changiert in einer wirkungsästhetischen Ambivalenz zwischen Anziehung und Abstoßung, zwischen der Evokation komischen Vergnügens und Mißfallen. Es ist diese Doppelwertigkeit, der bei Weise eine Variabilität der Metaphorik Rechnung trägt, die sich noch immer im 284

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Weise: Kurtzer Bericht vom Politischen Näscher, S. 15 5. - Vgl. dazu auch Frühsorge: Der politische Körper, S. 128. Weise: Kurtzer Bericht vom Politischen Näscher, S. 102. Vgl. etwa ebd. S.i04f.

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Bildbereich der Pharmazie bewegt, ihre Sinnstruktur jedoch vollständig revidiert. D u r c h seinen »närrischen Titul«, heißt es etwa im V o r w o r t der >Drei ärgsten E r z - N a r r e n in der ganzen WeltLeseanweisung< fungiert: D e r L e ser soll die schon in der >fratzenhaften< P h y s i o g n o m i e des Titels signalisierte, grotesk-komische O b e r f l ä c h e des Textes auf den dahinter verborgenen ethischen Gehalt hin transzendieren. D i e R ü c k v e r f o l g u n g der Zitatenkette läßt in umgekehrter Richtung die Genese einer Metapher sichtbar werden, die v o n einer nichtmedizinischen, philosophisch-antiken Q u e l l e aus in den medizinischpoetologischen Sinnbezirk hineinführt. Wie das »Hanfgebutzte A p o t e c k e r g e schir und Weinbüchsen v o n ausen häßlich und greßlich überaußscheinen, unnd d o c h z u innerst mit herrlichem schleck und C o n f e c t seind geschicket unnd gespicket, v o n Balsam, Bisam, Latwergen, Sirup, Julep, Treseneien, und anderen kostbaren fantaseien«, 2 8 ' wirke der satirische Text laut Fischart auf seinen L e ser; d o c h sobald dieser diß Biichlin recht eröffene, unnd dem innhalt gründlich nachsinne, so wird sich befinden, das die Specerey darinnen von meherem unnd höherem werd ist, als die büchsse von aussen anzeyget und verheisset, das ist, das die fürgetragene materi nicht so närrisch unnd auß der abweiß geschaffen, wie die überschrifft möcht vielleicht fürwenden. 2 ' 0

Fischart übernimmt die poetologische Metapher aus François Rabelais' P r o l o g z u m >Gargantua< (1532), der seiner freien Bearbeitung zugrunde liegt: Silenen, heißt es dort, seien Behältnisse w i e die heutigen »bouticques des apothecaires«, äußerlich geschmückt mit »Harpies, Satyres, o y s o n s bridez, lievres c o r n u z , canes bastées, b o u c q s volans, cerfz limmoniers« u n d anderen lächerlichen G e stalten, in denen die A p o t h e k e r A m b r a , Balsam, M o s c h u s oder Z i m t verwahren. 2 ' 1 Rabelais bezieht sich dabei auf Piaton, der den Alkibiades im >Symposion< v o n den Silenen, den äußerlich grotesken, aufklappbaren Götterstatuetten, sprechen läßt. A b e r das Berufsinteresse des Mediziners Rabelais hat die antiken Statuetten eigenmächtig aktualisierend mit den gleichnamigen A p o t h e k e r b ü c h s e n zusammengeschoben, u m die eigene, ärztlich-poetische D o p p e l f u n k t i o n des Schriftsteller-Arztes in der sinnfälligen Einheit der Metapher z u verbinden. E r

Weise: Die drei ärgsten Erznarren, S. 3. Fischart: Geschichtklitterung, S. 8. 28 ' Ebd. S.22. 290 Ebd. S.25. 2?I Rabelais: Gargantua, p. 4 j f . 287

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nutzt damit ein metaphorisches Potential, das schon im platonischen Dialog angelegt ist. Durch einen satirischen Vergleich, wie er bei Hochzeiten und symposia im antiken Griechenland üblich war,292 werden in Piatons Text die Götterstatuetten mit der Gestalt des Sokrates verknüpft; Alkibiades vergleicht hier seinen philosophischen Lehrer mit den Silenen, jenen kleinen Bildhauerfiguren, die unter grotesken Satyrdarstellungen anmutige Götterbilder verbergen - ebenso, wie Sokrates seine einzigartige Weisheit und Besonnenheit unter Scherz und ungestaltem, satyrhaftem Äußeren verdecke. 2 ' 3 Eine zweifache Transformation - eine poetologische, die das platonische Motiv als Gleichnis der satirischen Textstruktur zitiert, und einezweite, medizinisch-pharmakologische-präpariertdie antiken Silenen als selbstreflexive Metapher bei Rabelais, Fischart und Weise. Diese stilmetaphorische Applikation wird dabei übrigens schon durch Alkibiades' Selbstauslegung autorisiert, daß die niedere Redeweise des Sokrates die göttliche Vernunft ins >Fell des frechen Satyrs< kleide, 294 wobei die etymologische Assoziation der Satire mit dem Satyr diese Applikation stabilisiert. Es ist denn auch diese poetologische Sinnebene des Motivs, die Erasmus in seinen >Adagia< unter dem Stichwort »Sileni Alcibiadis« belangt,295 um das im geringen, >närrisch< erscheinenden Äußeren verkapselte Innere der Silenen auf die christliche Botschaft und die Form ihrer Verkündigung zu beziehen. 296 In genau diesem Sinn wird das Motiv weit später auch bei Hamann zitiert, der - im direkten Rückgriff auf Piatons Gastmahl - der >Physiognomie< des Titelblatts seiner >Kreuzzüge des Philologen< (1762) 297 die Pansvignette als Symbol seiner satirischen, stilistisch >unreinen< Schreibweise aufdrückt, um so das »alkibiadischef ] Gehäuse« 2 ' 8 seiner Texte schon graphisch dem Vorbild der Silenen anzugleichen.

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Dazu Jan Bremmer: Witze, Spaßmacher und Witzbücher in der antiken griechischen Kultur. In: Kulturgeschichte des Humors. Von der Antike bis heute. Hg. von Jan Bremmer und Herman Rodenburg. Aus dem Englischen übersetzt von Kai Brodersen. Darmstadt 1999, S. 1 8 - 3 1 , hier S. 22. Piaton: Gastmahl, 2 1 5 f f . Zur Gestalt des >Silenos-Satyros< vgl. Der Kleine Pauly 5, Sp.191-193. Piaton, ebd. 221. Erasmus: Adagiorum chiliades iuxta locos communes digestae, Sp. 1670-1682, hier Sp. 1 6 7 1 : »sermo simplex ac plebeius, & humilis«. Ebd.: »An non mirificus quidam Silenus fuit Christus?« Vgl. Hamann: Kreuzzüge des Philologen. In: Sämtliche Werke 2, S. 1 1 3 . Hamann an Moser, 1 . 1 2 . 1773 (Briefwechsel III, S. 398): »Jedermann hat sich über die Façon des Satyrs oder Pans aufgehalten und niemand an die alte Reliquie des kleinen lutherschen Katechismus gedacht, dessen Schmack und Kraft allein dem Pabst- und Türcken-Mord jedes Äons gewachsen ist und bleiben wird.« - Zur Pansvignette vgl. auch Wilhelm Koepp: Der Magier unter Masken. Versuch eines neuen Hamannbildes. Göttingen 1965 (Kirche im Osten. Bd. 5), S. 7off., sowie Georg Baudler: >Im Worte sehen*. Das Sprachdenken Johann Georg Hamanns. Bonn 1970 (Münchener Philosophische Forschungen. Bd. 2), S. 92Í., der aufgrund einer Briefstelle den Panskopf umstandslos mit dem Autor identifiziert (Hamann an J . G . Lindner, 1 9 . 1 2 . 1761; Brief-

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Das groteske Äußere der pharmazeutischen Behältnisse aber, in die Rabelais' medizinische Transformation das Motiv der Silenen überführt, ist eine Formmetapher, die die Beziehungsstrukturen von gustatorischer >Qualität< und >SacheForm< und >Inhalt< andererseits herstellen, bilden eine chiastische Struktur. Denn die satirischen »Frazzen«, wie Rosenkranz die Texte Rabelais' und Fischarts charakterisiert, 2 " stellen keineswegs mehr eine verlockende Form dar wie die süße Dragierung heilsamer, aber übelschmeckender Wirkstoffe, sondern eine >närrische< Einkleidung, die den Rezipienten-Patienten abstößt, also vom Genuß eines ebenso angenehmen wie heilsamen Inhalts eher abhält. Die wirkungsästhetische Ambivalenz des aggressiven Witzes - sein gleich großes Potential, zu gefallen wie zu mißfallen - wird jedoch gerade in der >verkehrten< Sinnstruktur der Metapher genau reflektiert. Zwar vermag der moderat-heitere, aggressionsreduzierte Spott die Gefahr zu vermindern, den sensiblen Leser als Patienten abzuschrecken; dennoch ist die satirische Schreibweise angewiesen auf eine rezeptive Bereitschaft zur Transzendenz, die durch das Komische hindurch zur gleichsam verkapselten Wahrheit des Textes vordringt und diese auch zu würdigen vermag. »Cui non est balsamum, huic non est Pharmacum. Das ist/ wer diese Materie vor keinen Balsam hält/ der mag sich davon keine Artzney wieder die lange Weile bestellen.«300

2.5

Satirische Katharsis Was soll man in diesen melancholischen Zeiten billicher Schreiben als eine Satyra? 3 0 1

2.J.1 Allopathische Katharsis der Satire Kraft der sie fundierenden säftemedizinischen Hintergrundtheorie ist die satirische Medikation untrennbar mit einer Katharsis verkoppelt, in deren Zeichen Medizin und Poesie einander traditionell verschwistert sind. 302 Aber bereits

Wechsel II, S. 125: »Erschrecken Sie nicht, wenn Sie den Autor in effigie sehen werden.«). 299 Karl Rosenkranz: Ästhetik des Hässlichen. Mit einem Vorwort von Wolfhart Henckmann. Unveränderter reprografischer Nachdruck der Ausgabe Königsberg 1853. Darmstadt 1973, S.403. 3 °° Weise: Kurtzer Bericht vom Politischen Näscher, S. 10. 301 Beer: C o r y l o I (Vorbericht an den Leser). In: Sämtliche Werke III, S. 12. 302 Vgl. dazu im Hinblick auf die aristotelische Tragödientheorie Hellmut Flashar: Die

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seit dem 16. Jahrhundert wird die kathartische Wirkung, stoisch-christlich als >GemütsabhärtungTrojanerinnen< in O p i t z : Gesammelte W e r k e II, S. 4 2 4 - 5 2 2 , hier. S. 43of.

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V g l . etwa f ü r die N o v e l l e Bonciani: L e z i o n e sopra il c o m p o r r e delle N o v e l l e , 1 5 7 4 ; Schmitz: Physiologie des Scherzes, S. 5 1 ; F . W . W o d t k e : Katharsis. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte I, S. 8 1 1 ; zur Verallgemeinerung des Katharsis-Begriffs in der Poetik des 1 7 . Jahrhunderts auch H a n s - J ü r g e n Schings: C o n s o l a t i o Tragoediae. Z u r T h e o r i e des barocken Trauerspiels. In: Deutsche Dramentheorien. B d . 1. Beiträge zu einer historischen Poetik des D r a m a s in Deutschland. H g . v o n R e i n h o l d G r i m m . Wiesbaden 1980, S. 1 9 - 5 5 , hier S. 24.

305

Rotth: Vollständige Deutsche Poesie I I I , V o r r e d e »an den Leser« (unpag.). Heinsius: D e Satyra Horatiana (2. A u f l a g e 1629), S. 54. - H e i n s i u s ' Definition übernehmen D r y d e n : A Discourse concerning the Original and Progress of Satire, p. 100, sowie R o t t h : Vollständige Deutsche Poesie I I I , S. 69; Pasch zitiert und kommentiert sie ebenfalls zustimmend: D e variis M o d i s Moralia tradendi, p. 23 5f.

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Vgl. auch B r u m m a c k : Z u Begriff und Theorie der Satire, S. 3o6f.: » U b e r die W i r k u n g der T r a g ö d i e hat man sich jahrhundertelang den K o p f zerbrochen [...]. Bei der Satire, die ja behauptet, daß sie bessern, heilen, reinigen will, und die ganz gewiß L e i d e n schaften aufregen kann, hätte sich das nicht minder gelohnt; aber man hat (innerhalb der Poetik) viel zu wenig über die satirische Katharsis nachgedacht, sondern die gute W i r k u n g entweder einfach vorausgesetzt oder ebenso einfach bestritten.« - D a b e i gilt es B j ö r n E k m a n n noch heute als »sicher [...], daß mit einer Katharsis-Wirkung die Satire (wie die K o m ö d i e und w i e die Tragödie) steht und fällt.« A b e r : »das Wesen dieses psychischen Prozesses ist meines Erachtens nach w i e v o r unerklärt [...].« (Björn E k mann: V o n der Schwierigkeit des Schreibens v o n Satire heute und U b e r die G r e n z e n des satirischen Verfahrens. In: D i e Schwierigkeit, Satire (noch) zu schreiben. K o p e n hagener K o l l o q u i u m 3.-4. M ä r z 1995. H g . v o n B j ö r n E k m a n n . K o p e n h a g e n , M ü n chen 1996 (Kopenhagener K o l l o q u i e n zur deutschen Literatur. B d . 16 = T e x t und

Abb. ι. Matthias Greuter: Der Narren- und Grillen-Artzt, Germanisches Nationalmuseum)

um 1630 (Nürnberg,

durch eine strukturelle Parallelverschiebung auf diejenige v o n K o m ö d i e u n d Satire (oder s a t i r i s c h e r KomödieNarrheitNarrheit< ist nicht Objekt einer Evokation und reinigenden Evakuation im Zuschauer, wie es sich von den kathartischen Affekten Jammer und Schauder behaupten läßt.' 09 Sulzer fixiert die aufklärerische Identität von >gesunder< Natur und Vernunft, an die psychologische Struktur der komischen Katharsis aber reicht seine lakonische Auskunft gar nicht heran - vor allem deshalb, weil die sinngebende humoralistische Hintergrundtheorie, auf die das Modell des satirischen Catharticums rekurriert, ganz aus dem Spiel bleibt. Verallgemeinerung und Terminologisierung der Katharsis als allgemein poetologischer Begriff haben ihren medizinischen Sinn so abstrakt werden lassen, daß das gemeinte Signifikat die Eigenheit des metaphorischen Signifikanten ganz absorbiert. Deshalb ignoriert Sulzers isomorphe Übertragung der aristotelischen Theorie auf die >spottende< Komödie die strukturelle Differenz zwischen tragischer und satirischer Katharsis: Tragische Katharsis wirkt homöopathisch; sie bewirkt die Affektreinigung durch identische Affekterregung, reinigt also vom Ubermaß von phobos und eleos, indem sie im Zuschauer dieselben Affekte evoziert und abführt.' 1 0 Satirische Katharsis wirkt dagegen - >unaristotelisch< - allopathisch; sie purgiert den schädlichen durch den gesunden Affekt, also contraria contrarili,y" wie die zeitgenössische medizininische Theorie formuliert: die schwarze Galle der Melancholie mit dem Antidot der Heiterkeit. Im Gegensatz zur poetologischen Theorie hält jedoch die Selbstreflexion der Satiriker den medizinischen Referenzbereich präsent, den jene, blind gegenüber der metaphorischen Herkunft ihrer Begriffe, gewissermaßen unterschlägt. In der >Teutschen Zugabe< zum ersten Teil seiner von den 1628 erschie-

auch seinen Art. »Tragödie« in Sulzer: Allgemeine Theorie IV, S. 5 573-598!), speziell S. 560a. } 9 ° Z u m Ubersetzungsproblem vgl. Manfred Fuhrmanns N a c h w o r t in Aristoteles: Poetik, S. I62Í. 3,0 Vgl. beispielhaft Gottsched: Rezension Hudemann, S. 302: »Das heißt nach Aristotelis Lehre durch die Tragödie, und durch die Erregung der Leidenschaften selbst, die Leidenschaften reinigen und mäßigen.« - Z u Gottscheds Katharsis-Konzept vgl. Heide Hollmer: Anmut und Nutzen. Die Originaltrauerspiele in Gottscheds >Deutscher Schaubühnen Tübingen 1994 (Theatron. Bd. 10), S. 79-88. 311 D e natura hominis; zit. nach Goltz: Säfte, Säftelehre. In: H W P h 8, Sp. 1 1 2 0 . - Im barocken Trauerspiel wird allerdings, wie Schings gezeigt hat, die homöopathische Methode der aristotelischen Katharsis in eine allopathische Methode der consolatio überführt; vgl. dazu Schings: Consolatio Tragoediae, S. }6{. V o n »homoeopathischer Seelen-Hygiene« spricht auch Lausberg: Handbuch der Rhetorik, § 1 2 2 2 , S. 591.

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nenen >Sueños< des Spaniers Francisco de Quevedo inspirierten >Wunderlichen und Wahrhafftigen Gesichte Philanders von Sittewalt< erläutert Johann Michael Moscherosch die satirische Katharsis durch den genauen Rekurs auf die zeitgenössische pharmakotherapeutische Praxis: Der Satiriker müsse, der pharmazeutischen Herstellung »übergülte[r] verzuckerte[r] bittere[r] Artzneyen« entsprechend, die verhasste Artzney der bittern Warheit mit dergleichen schimpff und glimpff reden (welche mann lieber höret) uberzuckeren/ überlegen und vergulden [...]: damit dem Benötigten Patienten also der Eckel und Widerwill gegen dieselbige entnommen; und er under dem lächerlichen Gespräch deren doch so viel in leib bekommen möge/ das jhm/ der mit Gall der Schalckheit/ und mit dem Schleym der Heücheley überzogene Magen gesäubert; und das böse hitzige Gebliith deß Gewalts unnd der Dieberey gereiniget und außgetrieben werde/ gleichsam ohn sein selbs merken [..·]· 3 ' 2

Moscherosch verordnet die satirische Arznei zur Behandlung einer melancholischen Dyskrasie, des durch den Uberfluß der schwarzen oder gelben Galle gestörten Fließgleichgewichts (isonomia) der humores, deren derangierte Disproportion sich in der Dominanz nur einer Affektart 313 repräsentiert. Moral und Medizin sind in der antik-mittelalterlichen Humoralpathologie bereits so eng verklammert, daß Moscherosch die physiologischen Qualitäten der humores nicht erst zu allegorisieren braucht:3'4 Galle und Schleim, atra bilis und phlegma, die von Moscherosch zitierten Grundstoffe des menschlichen Säftehaushalts, sind in der traditionellen Vier-Säfte-Lehre den moralisch minderwertigen Eigenschaften des Geizes, des Neides, der Verschlagenheit oder Menschenverachtung zugeordnet.3'5 Die Melancholie öffnet den Kranken für das Böse - >Caput melancholicum, est balneum DiabolicumErfahrung< - so s c h w e r ihre ontologische E r k l ä r u n g im unaufgelösten cartesianischen Substanzenparadigma auch fallen mag. E r s t diese kausale Ö k o n o m i e begründet ü b e r die bloße A n a l o g i e hinaus die satirische Katharsis medizinisch: Sie macht die mit der zeitgenössischen M e d i z i n korrelierte Satire z u r medizinischen Therapie stricte

dicta.

2.5.2 Katharsis der K o m i k u n d humoralistisch-affektische T h e r a p i e im 18. Jahrhundert U b e r die literarische E v o k a t i o n konträrer A f f e k t e , durch delectare

und

move-

re, k a n n der Satiriker also auf die säftechemische V e r f a s s u n g seiner L e s e r w i r ken. Daniel v o n C z e p k o beschreibt dieses humoralistisch-kathartische A f f e k t management der Satire so: Wann aus der Miltze gleich die Schwermuth kommt gestiegen, Wird ein Gelächter sie doch alsobald besiegen, Denn Momus selber lacht, wenn er die Verse liest.' 24

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siologie des Scherzes, S. lojif; Schipperges: Antike und Mittelalter, S. 236; Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. 22éf. Czepko: Kurtzer Satyrischer Gedichte Anderes Buch. Weltliche Dichtungen, S. 371. Der griechisch-römische Gott Momus ist der Sohn der Nacht und des Schlafes: »Er wird als eine hagere Person vorgestellt, die ganz bleich aussieht, den Mund immerzu offen hat, auf die Erde nieder sieht, und solche mit einem Stabe schlägt.« Nach Hederich: Gründliches Mythologisches Lexikon, Sp. iééof., soll Momus selbst angesichts der Venus noch eingewendet haben, »daß ihre Pantoffeln allzu sehr klapperten, wenn sie gienge.« - Vgl. offenbar dieselbe, jedoch leicht abgewandelte Anekdote bei Garzoni: Piazza universale, 88. Diseurs, S. 509, wo Momus an einem von Praxiteles gemalten Bild der Venus tadelt, »daß ihr die Schuh nicht wol anstünden«, und das bei Henkel, Schöne: Emblemata, Sp. 1576, verzeichnete Emblem: >Momus tadelt beim Fest der Götter die knarrende Sandale der tanzenden Venus.< - Momus figuriert daher (häufig neben dem respektlosen Kritiker Homers, dem Sophisten Zoilus (4. Jh. v. Chr. bis ca. 330)) in der satirischen Literatur als Inbegriff des maßlos-übertriebenen Tadels. Vgl. etwa >Herrn Heinrich Heidens Poetische Lust und UnlustEulenspiegel< sich mit Momus identifiziert, indem er die Musen anredet: So nempt nun auf mich Reutersknaben, Ihr müßt je auch was Schalckhaffts haben,

113

War es bei Moscherosch noch der konzentrierte Gehalt der »bittern Wahrheit«, der den moralisierenden Effekt der säftereinigenden, psychophysischen Katharsis 32 ' produziert, so ist es bei Czepko die formale Komik allein, der bereits eine kathartische Funktion zukommt. Gerade damit aber konvergiert die satirische Wirkungsästhetik mit den medizinischen, bereits von der mittelalterlichen Säftemedizin vorbereiteten Therapiemethoden der Melancholie. Die noch weitgehend humoralistisch begründete Medizin des 18. Jahrhunderts erprobt praktisch alle denkbaren Methoden, um durch Zureden, Reizen, Erschrecken, endlich auch durch grobe Gewalt, 326 die Melancholiker unter der lastenden Schwere ihrer Krankheit aufzustören; und genau wie die Satire erforscht die Medizin dabei auch die therapeutischen Möglichkeiten des Witzes, um durch »nachdrückliche und artige Schertz-Reden« das »traurigef ] Delirium« derMelancholie zu beheben. 327 Die medizinische Hoffnung, durch >scherzhafte< Evokation des Lachens den Melancholiker zu heilen, bezieht sich medizinhistorisch auf die mittelalterliche Funktionsvorstellung der Milz, die als instrumentum risus und zugleich als A u f bereitungsstätte der schwarzen Galle gleichsam die organische Schnittstelle zwischen Lachen und Melancholie repräsentiert:328 als somatischer Ort, an dem die aktuelle Krankheit und das potentielleTherapeutikum der Satire unmittelbar zusammenstoßen. Noch amEndedesi8 .Jahrhunderts untersucht der Fuldaer H o f medizinerund Leibarzt Friedrichs II. von Preußen, Friedrich Christian Gottlieb Scheidemantel, die therapeutische Verwendbarkeit der Leidenschaften als Heilmittel· ( 1787); er konzipiert eine humoralistische Affekttherapie, die sich auch in Hinsicht auf die pathophysiologischen Bedingungen der Gemütskrankheiten

Wie andre Götter haben auch Den Momum bey jn, der sie brauch Und Helden haben, die sie schelten. Fischart: Eulenspiegel Reimensweiß, S.4 (Der Eulenspiegel zum Leser, v. 33-37). 32 ' Vgl. dazu auch W . K . Thomas: Satiric Catharsis. In: The University of Windsor Review 3 (1968). P. 33-44. 326 Vgl. Muzell: Medicinische und Chirurgische Wahrnehmungen I, S.64, über die Behandlung eines Melancholikers: »ich ließ ihm also bey der Nase und am Kopfe zupfen, rütteln, mit Nadeln stechen, ja endlich gar mit Ruthen peitschen.« Der Arzt muß schließlich gestehen, daß im berichteten Fall durch all diese Maßnahmen »nichts ausgerichtet wurde«. - Die Therapie der »Zwangsmittel« gegen das »Irreseien« empfiehlt schon Celsus: Uber die Arzneiwissenschaft, S. 142. Der christlichen Predigt- und Ermahnungsliteratur dient die gewaltsame Therapie der Melancholie schon früher als Vorbild; vgl. etwa den Titel J. Muelman: >Flagellum Antimelancholicum, das ist, Christliche Geissei, wider den Melancholischen Trawrgeist und Hertzfresser. Aus Gottes Wort geflochten [...]De melancolías referiert und kommentiert bei Heinrich Schipperges: Melancolía als ein mittelalterlicher Sammelbegriff für Wahnvorstellungen. In: Melancholie. Hg. von Lutz Walther. Leipzig 1999, 8.49-76, hier S. 60.

wissenschaftlich zu rechtfertigen sucht. » B e y d e m Traurigen ziehen sich die zarten G e f ä ß e des K ö r p e r s [...] z u s a m m e n , aber die K r a f t des H e r z e n s w i r d zugleich geschwächt. [...] Wegen des langsamen G e b l ü t s u m l a u f s bleibt die G a l l e in der L e ber z u r ü c k , stocket u n d verhärtet sich. A u s der v e r d o r b e n e n V e r d a u u n g und der geringen B e y m i s c h u n g einer schlechten G a l l e mit schlechtem C h y m u s , k a n n kein guter M i l c h s a f t entstehen, u n d also auch kein gutes Blut.« 3 2 9 D a s w i r k s a m s t e medizinische R e m e d i u m erkennt der erfahrene A r z t nun in der E r r e g u n g der »Freude«: D e n n » b e y heiterer Seele, o d e r einer mäßigen u n d s c h w a c h e n F r e u d e , [ w i r d ] das B l u t v o n überflüßigen u n d z u m Theil sehr w ü r k s a m e n Theilen bef r e y t « . 3 3 ° D i e C h e m i e der K ö r p e r s ä f t e hat die strikte disziplinare Trennung v o n somatischer M e d i z i n u n d P s y c h o l o g i e , A r z n e i l e h r e u n d E t h i k , w e l c h e die materialistische K ö r p e r m e c h a n i k befestigt, v o n vornherein unterspült; in der Breite ihres A n w e n d u n g s s p e k t r u m s rücktdieTherapiedurch>Freude< i n d i e N ä h e e i n e r Panazee, eines Universalheilmittels, das Scheidemantel f ü r eine eminent reichhaltige Liste v o n E r k r a n k u n g e n bis hin z u m v e r b o r g e n e n Krebs< verschreibt: f ü r » G a l l e n - u n d fäulichte F i e b e r « , H y p o c h o n d r i e , » L e b e n s s c h w ä c h e « 3 3 1 ebenso wie, »vorzüglich w e g e n des damit verbundenen L a c h e n s « , f ü r reife A b s z e s s e , s c h w e r e G e b u r t , V e r s t o p f u n g , Ü b e l k e i t , kindliche Rachitis. 3 3 2 D a ß diese L a c h therapie funktioniert, bezeugt bereits Fischart durch eine medizinische A n e k d o te, die n o c h der m o d e r n e n A r z n e i w i s s e n s c h a f t des 18. J a h r h u n d e r t s o f f e n b a r g l a u b w ü r d i g erscheint: Schon E r a s m u s soll sich durch ein heftiges G e l ä c h t e r ü b e r die satirischen >Dunckelmännerbriefe< ein gefährliches »geschwär, welchs man ihm sonst mit gefahr auffschlagen müssen, [...] auffgelacht« haben. 3 3 3 P u r g i e r u n g der M e l a n c h o l i e d u r c h E r r e g u n g des konträren A f f e k t s u n d ihrer p h y s i s c h e n M a n i f e s t a t i o n s f o r m , das Lachen: Ä r z t l i c h e u n d literarische E r f a h r u n g sind sich einig, daß schon in der K o m i k , nicht erst in einer moralischen B o t s c h a f t , w i e die A r z n e i - M e t a p h e r der Satire suggeriert, ein therapeutisches Potential liege. D e r »Werth des G e s p ö t t e s , u n d seiner A r t e n , der Satyre, u n d des Scherzes«, ist außermoralisch 3 3 4 - meint: medizinisch-humoralistisch

-

längst erwiesen: »Sie sind eine heilsame A r t z n e y des G e m ü t h e s « , konstatiert B o d m e r / B r e i t i n g e r s >Mahler der Sittenmoralischen Melancholie* durch eine sprachliche einwirkende Therapie ersetzt, kalkuliert der Psychodynamismus der von Stahl geprägten vitalistischen Medizin ausdrücklich die therapeutische List der Fiktionen mit ein. Weil der Therapieerfolg allein das Maß des medizinethisch Erlaubten ist, empfiehlt der >Medicinische Haupt-Schlüssels daß der Arzt »alles, was man nur zu seiner vorhabenden Intention vor nöthig zu haben erkennet«, dem melancholischen Patienten mit gehörigem Nachdruck vorstellig machen und einlegen müsse. Man darf sich eben hier nicht allezeit gleichsam nach der Wahrheit, sondern auch ie zuweilen nach puren Fictionibus richten.« 348

Es ist eine zweifache Qualität der Fiktion, die sie der medizinischen wie der literarischen Therapie gleich nutzbar macht: zum einen ihre beliebige Anpassbarkeit an die Rezeptionsbedingungen des Adressaten-Patienten, zum anderen aber eine dissimulatorische Kraft, mit der die Fiktion zeitweilig das egoistisches auf Selbstrechtfertigung bedachte Interesse des Rezipienten storniert, indem sie auf das scheinbar unverfängliche Feld bloßer Erfindungen leitet.349 Die Fiktionalisierung der Darstellung, die zur Annahme handlungsleitender Wahrheiten verführt, bewirkt eine heilsame Inversion, in der die affirmativ aufgenommene moralische Lehre sich unvermerkt wider die >krankhaften< Denkund Verhaltensweisen des Lesers selbst wendet und so zur Deckung der einmal akzeptierten Einsicht mit dem eigenen Verhalten zwingt, die mit der N o r m moralischer >Gesundheit< identisch ist. Wie eng genetisch das sanative Täuschungsverfahren der Fiktion zum Bild der satirischen Arznei gehört, wird in der Komprimierung zur impliziten Metapher sichtbar, in der Gottsched das ge346 347 348 349

118

[Anonym]: Der Medicinische Haupt-Schlüssel, S. 72. Ebd. S.70. Ebd. S . 7 4 f . Diese Funktion des Fiktionalen erläutert auch Schiller mit Bezug auf die sensualistische Tragödie in seiner Abhandlung >Uber das Vergnügen an tragischen Gegenständem (1792). Vgl. auch Albert Meier: Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politisch-klassizistischen Tragödie des 18. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1993 (Das Abendland. N F Bd. 23), S. 83. - Auch für Lukian (in der Ubersetzung Wielands) ist »nichts tauglicher, als eine Lektüre, die unter dem Schein, die Seele bloß mit freien Erfindungen der Laune und des Witzes belustigen zu wollen, irgend einen nützlichen Unterricht verbirgt«. (Wieland: Lukian. Wahre Geschichte. In: Werke V , S. 629.)

läufige Bild der »überzuckerten] und vergült[en]«3'° Arznei nur noch anklingen läßt, um es sogleich in die therapeutische List zu überführen, die gar nicht mehr mit pharmakologischen Mitteln operiert. Gottsched verteidigt die Menschheitssatire von Swifts >GulliverPsychiatrieNarrenspitals< als Motiv der Satire werden in einer Korrelierung transparent, die es erneut dem medizinisch-juristischen Umgang mit dem Wahnsinn annähert, aus dem es sich ableitet. Im satirischen Handlungs- oder Darstellungsraum dieses Motivs kommuniziert die Satire mit den institutionellen Strukturen der vormodernen Psychiatrie. Aber obwohl das >Narrenspital< offenbar in den medizinischen Modellbereich gehört, in dem die Satire ihren eigenen Umgang mit den moralischen Defekten der Zeitgenossen auslegt, ist es ebensowenig ein Ort der Heilung wie seine realen, vor allem im Laufe der hier betrachteten zwei Jahrhunderte in ganz Europa errichteten Vorbilder, sondern vielmehr wie diese ein Ort der Isolierung eines diffusen Wahnsinns im Schnittpunkt von Moral und Medizin, der Gefangensetzung einer anstößigen Unvernunft, die fahrlässig oder mutwillig die Grenze der sozialen Toleranz überschritten und die moralische Ordnung der Welt verlassen hat. 1618 erscheint das >Spital Unheylsamer Narren/ unnd Närrinnen« des Italieners Tommaso Garzoni in der deutschen Bearbeitung durch Georg Friedrich Messerschmid, das uns in diesen Zusammenhang einführt. Es ist offensichtlich das weniger auf Therapie denn auf sicherstellende Internierung ausgelegte Irrenhaus des späten 16. Jahrhunderts, das sich dem satirisch-didaktischen Text Garzonis als Vorbild eingeschrieben hat, wenn er auch spricht von einem »ansehnlichen Spital/ darinnen etlicher armseeliger und wol betrawrender Narren gepflogen und gewartet wirdt«. 5 ' 2 Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts sind die Narrenspitäler, Toll- oder Irrenhäuser institutionell fest mit Zuchthaus und

350

3,1

392

Vgl. Beer: Das Narrenspital. - Wie wenig übrigens der >Wahnsinn< als Chiffre moralischer Verfehlungen noch akzeptiert wird, zeigt Richard Alewyns Nachwort, ebd. S. 150. Auch Karl Kraus begründet 1933 den Rückzug seiner »Dritten Walpurgisnacht< durch den Abstand zwischen dem Zuständigkeitsbereich der Satire und dem Wahnsinn: »Irrsinn [sei] kein Gegenstand der Satire«. (Kraus: Die Fackel Bd. 1 1 , Nr. 890, S. 26.) Zum >Narrenhaus< der ganzen Welt als Topos der >voraufklärerischen< Satire vgl. auch Arntzen: Nachricht von der Satire, S. 6. Garzoni: Spital Unheylsamer Narren, Prologus (unpag. [S. 1]). - Vgl. das italienische Original: L'Hospidale De' Pazzi Incurabili (1594), Prologo (gleichfalls unpag. [S. ι]).

128

Armenversorgung verbunden. 393 Sie sind nicht der Raum >moderner< klinischer und psychiatrischer Erfahrung und Behandlung, sondern, wie vor allem Michel Foucault eindringlich dargestellt hat,394 einer Absonderung, Verwahrung und strafvollzugsanalogen Disziplinierung, 39 ' der die Delirierenden oder >Rasenden< unterschiedslos mit beschäftigungslosen Müßiggängern, Libertins, Vagabunden, >VerkommenenGeisteszerrüttungen< ihren Platz einräumen will; 398 einer Therapie allerdings, die angesichts des Mangels 393

N a c h Wagnitz diente etwa das H a m b u r g e r Zuchthaus seit seiner Errichtung 1 6 1 5 bis zur neuen A r m e n v e r o r d n u n g v o n 1788 der U n t e r b r i n g u n g von A r m e n und V e r b r e chern (vgl. Wagnitz: Historische Nachrichten und B e m e r k u n g e n über die m e r k w ü r digsten Zuchthäuser in Deutschland I I / 1 , S. 143).

394

Vgl. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft; zur ethischen W a h r n e h m u n g des W a h n sinns im >klassischen< Zeitalter vgl. v.a. S. 129ft.

395

V g l . damit A d e l u n g : Grammatisch-kritisches W ö r t e r b u c h I I I , S p . 4 3 1 : D a s » N a r r haus« ist »ein H a u s , in welchem N a r r e n , d.i. w a h n w i t z i g e Personen, eingesperret und v o n der G e m e i n s c h a f t mit andern Menschen abgesondert werden; das Narren-Spital, das Tollhaus.«

396

V g l . dazu Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. 68ff. - Foucault bezieht die A b l ö sung des >Narrenschiffes< durch das >Narrenhaus< als T h e m a der Satire auf einen veränderten U m g a n g mit dem »Wahnsinne W u r d e n während der Renaissance noch die Geisteskranken häufig aus den Städten verjagt oder den Schiffern übergeben, schließt man sie seit dem 1 7 . Jahrhundert in feste H ä u s e r ein. V g l . ebd. S. 2 j f f .

397

Wagnitz: Historische Nachrichten und B e m e r k u n g e n über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland II/2, S . 2 4 2 . Wagnitz zitiert mit dieser Passage eine B e schreibung des » H e r r f n ] R a t h Becker«. - D e r A r z t , häufig nur einer f ü r die gesamte Anstalt, »entschliesst sich (wie fast allgemein geschieht), sich nicht zu überarbeiten, das ist, solche K r a n k e ganz gleichgültig ansehen zu lernen und f ü r sie im eigentlichen Verstände - N i c h t s zu thun.« (Ebd.) - Z u r mangelnden medizinischen Behandlung vgl. auch Eckart: Geschichte der M e d i z i n , S. 209.

398

Z u Wagnitz vgl. Krebs: D i e Vorschläge v o n Heinrich Balthasar Wagnitz; D ö r n e r : B ü r g e r und Irre, S. 260; Krause: Geschichte des Strafvollzugs, S. 68. - D i e F o r d e r u n g nach einer T r e n n u n g v o n Straf- und Irrenanstalten w i r d wenig später noch durch die einer Trennung v o n H e i l - und Versorgungsanstalten fortgeführt; vgl. dazu Reil: Beiträge zur Organisation der Versorgungsanstalten f ü r unheilbar Irrende, S. 5.

129

erprobter, genuin psychologischer Maßnahmen anfangs des 19. Jahrhunderts ihrerseits die terroristischen Praktiken körperlicher Tortur bereitwillig aufnehmen wird: Hunger und Durst, glühende Eisen und brennendes, in die Hände geträufeltes Siegellack, Peitschen mit Brennesseln, Rutenstreiche und schließlich viele »unschädliche Arten der Tortur« zählt noch Reil zu den »psychischen« Mitteln in der Behandlung der Geisteszerrüttungen.399 Als praktisches Vorbild reicht die Strafe noch lange in den Innenraum der verselbständigten Psychiatrie hinein. Der tatsächliche Therapieverzicht, in dem die Narrensatire sich historisch den realen Irrenhäusern parallelisiert, hat jedoch auch seine ideologische Signifikanz für das satirische Bewußtsein: Denn das voraufklärerische Denken der Beer, Garzoni oder Weise erwartet offenbar die Heilung einer >närrischen< Welt nicht von einer veränderten immanenten Praxis, sondern von einer transzendenten Erlösung, die allein die in letztlich unverbesserlicher Narrheit verkapselte Vernunft noch zu erreichen vermag. Die institutionelle und räumliche Verkoppelung der Zuchthäuser mit den »Oettern des Wahnsinns«400 verweist auf eine Amalgamierung medizinischer und moralischer Maßstäbe im Begriff des Wahnsinns selbst. Eine ethische Perzeption begreift den Wahnsinn allgemein als Form der >aus der Spur geratenenpsychiatrischen< Folter- und Strafmaßnahmen gilt übrigens derselbe Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, derpoenae mensura, wie für die Strafjustiz: »Die Züchtigungen müssen nicht unmässig und grausam, oder der Gesundheit nachtheilig, sondern dem Zweck angemessen seyn« (S. 197). Dazu auch Dörner: Bürger und Irre, S.265ff.

400

Wagnitz: Historische Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland II/2, S. 229. Vgl. dazu Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. i)of. und passim. - N o c h 1846 protestiert der Leiter der Schleswiger Irrenanstalt P.W. Jessen vor dem Kieler Kongreß Deutscher Naturforscher und Arzte gegen das »Vorurteil«, das »Geistes- und Gemütskrankheiten [...] mit moralischen Gebrechen vermengt und verwechselt« (Jessen: Uber die in Beziehung auf Geistes- und Gemütskranke herrschenden Vorurteile, S. 5 6).

401

130

renzierung wird etwa in der Unterhaltung vom »Narrenspital« in Harsdörffers >Frauenzimmer Gesprächspielen< sichtbar, welche zwischen den semantischen Schichten der »Narrheit« bereits differenziert: Aus dem Umkreis der »Büchernarren]/ Geldnarr[en]/ Weibernarr[en]« hebt eine der Sprecherfiguren hier die >klinische< Form des Geisteskranken heraus, der tendenziell der anthropologischen Gattungsdefinition entgleitet; dieser entspricht nur mehr dem Monstrum eines Menschen, der »seiner Vernunft beraubt ist/ und das verlieret/ welches wegen er für einen Menschen gehalten wird/ Es sey gleich der Verstand gar verlohren/ odrr [!] die Bildungskräfften zerrüttet wegen Blödigkeit deß Hirns«. 4 0 2 Es ist diese Differenzierung zwischen einem moralisch-sozialen und einem medizinisch->psychiatrischen< Sinn der Narrheit, die sich auch schon in Garzonis >Spital Unheylsamer Narren unnd Närrinnen« nachweisen läßt. Aber die Differenz wird hier auf eine Weise präsentiert, die ihre Signifikanz gleichzeitig annulliert. Zwar werden die Phrenesie, »die Wanwitz oder Unsinnigkeit meister Medicorum und Erzte«, und die »Melancholi oder Trawrigkeit/ [...] ein species unnd Gattung/ deß Aberwitziges (ohne Fieber)«, 403 im Hinblick auf die zeitgenössische Theorie der Medizin begrifflich exakt bestimmt; genauso, als Wahnsinn mit bzw. ohne Fieber, werden Phrenesie und Melancholie in den medizinischen Lehrbüchern definiert. 404 Wie die Internierung der Wahnsinnigen auf die Nosologie und die diagnostischen Fähigkeiten der Medizin zurückgreift, ist auch die »vollkommene Erkandnuß/ und wissenschafft der Narrheit«, 4 0 ' die der satirische Text Garzonis seinen Lesern verspricht, angewiesen auf die Erkenntnisse der zeitgenössischen gelehrten Medizin - von Galen und Hippokrates bis Jean Fernel. Doch obwohl Garzoni seinen Lesern eine Präsentation der Narrheiten »bono ordine« 406 verspricht, werden die gerade medizinisch definierten Manifestationen des Wahnsinns doch sogleich unterschiedslos eingereiht in die lange Serie »Thörichter«, »Lasterhaffter«, »Neydiger«, »Lächerlicher«, »mondsüchtiger«, »verzweiffelter« oder »Teufflischer verfluchter Narren«, welche die Zellen des Spitals bewohnen. In der Indifferenz gegenüber der systematisch-medizinischen Distinktion behauptet sich offenbar der Primat des sozialmoralischen Sinns, der selbst die klinische Psychopathie noch einschließt. Es ist dieselbe ethische Perzeption des Wahnsinns, welche auch die satirische Narrenrevue bei Johann Beer regiert, dessen satirischer Roman das >Narrenspital< ebenfalls im Titel führt. Indem Beer die Hochstapler und »Disputiernarren«, die »geborenefn] Narren«, »Weibernarren«, »Kleidernarren, 401

Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele I, S. 287 (309). Garzoni: Spital Unheylsamer Narren, S. 1 1 und S. 2 1 . 404 Vgl. Fernel: Universa medicina, S. 516; Garzoni zitiert Ferneis Definition der Melancholie in: Garzoni: Spital Unheylsamer Narren, S. 2 1 . - Vgl. auch etwa Nicolai: Gedancken von der Verwirrung des Verstandes, S. 34. 4 s ° Garzoni: Spital Unheylsamer Narren, S. 1 1 . 406 Ebd. S. 100 [fehlerhafte Paginierung: S. 200!]. 403

Modenarren« in einer Reihe als exemplarische Repräsentanten von Irrationalität und ethischer Devianz paradieren läßt,4°7 weist er sie mit einer strikt ausschließenden Geste, ohne Rücksicht auf ihre Harmlosigkeit oder Gefährlichkeit, der Sphäre der Unvernunft zu. Die satirische Narrenrevue bleibt so gleichsam im ethischen Hof des sich herausbildenden klinischen Wahnbegriffs, den die medizinische Theorie einkreist. Der Primat der ethischen Schicht in der Semantik des Narrenbegriffs, die die satirische Narrenrevue autorisiert, bestätigt sich auch in einem dritten satirischen Beispieltext. Wenn in Christian Weises >ErznarrenPhantastNarr< und >Narrheit< sind Begriffe einer medizinisch-moralischen Sprache, über die Moral, Medizin und Satire gemeinsam verfügen. Wie sehr die satirische Motivik sich mit der moralischen Wahrnehmung des Wahnsinns und der zeitgenössischen Internierungspraxis durchdringt, wird noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts an Gottlieb Wilhelm Rabeners Geheimer Nachricht von D. Jonathan Swifts letztem Willen< unmittelbar evident. Es handelt sich um eine satirische Version der testamentarischen Verfügung des irisch-britischen Satirikers zur Stiftung eines speziellen Tollhauses für die »moralischen Narren«, »welche oftmals bey gesundem Körper dennoch die anstekkendsten Krankheiten haben«. 410 Das beigefügte Kodizill ergänzt die Stiftung gleich um eine Internierungsliste, die eine beträchtliche Auswahl unverbesserlicher Narren - den ignoranten Adligen und den geldgierigen Bischof, den elenden Schriftsteller, den dummen Junker und andere - versammelt; ein Schmähsüchtiger allerdings wird gleich ins Zuchthaus überwiesen. 4 ' 1 Rabeners 407

Vgl. Beer: Das Narrenspital, 8.48-61. Weise: Die drei ärgsten Erznarren, S. 223 und 226. 409 Vgl. Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch III, Sp. 431 : »Narrheit« ist die negative »Fertigkeit, auf eine grobe Art wider die gesunde Vernunft zu handeln, besonders in der unrichtigen Bestimmung des Guten und Bösen.« Daneben kennt Adelung aber bereits einen ausdifferenzierten medizinischen Begriff des »Narren«: »ein Mensch, welcher des Gebrauches seiner Vernunft ganz unfähig ist; ein Wahnwitziger, Wahnsinniger, Alberner.« (Sp.430.) - Zum Bild des Narren im 18. Jahrhundert vgl. auch Wolfgang Promies: Der Bürger und der Narr oder das Risiko der Phantasie. Sechs Kapitel über das Irrationale in der Literatur des Rationalismus. Frankfurt/M. 1987, S. 7éff. 410 Rabener: Satiren II, S. 175. 4 " Diese Satire suchten Rabeners Zeitgenossen als Schlüsseltext zu entziffern; vgl. seine Entgegnung in Rabener: Satiren I, S. 205. 408

132

Bearbeitung geht auf einen von Swift bereits 1733 entworfenen, detaillierten »Plan zur Schaffung eines Hospitals für Unheilbare< zurück. Tatsächlich hatte Swift 1740, zwei Jahre bevor eine Kommission de lunatico inquirendo ihn selbst offiziell für geschäftsunfähig erklärt und er - wie der Mediziner Johann Georg Zimmermann später kommentiert - »ein bedaurenswerther Bürger des Tollhauses hätte abgeben können, welchem er zwölftausend Pfund Sterling [...] vermacht«, 4 ' 2 testamentarisch einen Teil seines Vermögens für die Einrichtung eines ersten menschenwürdigen Heims für Geisteskranke in Irland verfügt, der schließlich dem Dubliner St. Patricks Hospital zugute kam, als dessen Dechant Swift wirkte. 4 ' 3 Wenn Rabener also die testamentarische Verfügung auf die sittlich-sozialen Intentionen des Satirikers bezieht - als konsequenter Endpunkt jener literarischen »Cur[en]« und »Operationen]«, die Swift an den von ihm satirisierten »Patienten« vornahm -, 4 ' 4 greift er nur eine schon bei Swift selbst angeknüpfte Beziehung zwischen Irrenhausstiftung und Satire auf: H E gave the little Wealth he had, To build a House for Fools and Mad: And shew'd by one satyric Touch, N o Nation wanted it so much: That Kingdom he hath left his Debtor, I wish it soon may have a Better. 4 ' 5

Der karitative Stiftungsplan wird bei Swift und Rabener in der bekannten Weise zum Anlaß, ein Panoptikum närrischer Typen zu entwerfen. Genau wie die polizeiliche Internierung soll das Tollhaus für »moralische Narren« die Vernunft vor einer moralischen Infektionsgefahr schützen, die auch die empirische Psyochologie des späten 18. Jahrhunderts noch dem >Laster< und >Torheiten< einbegreifenden Wahnsinn zutraut. Swifts Hospital ist wie das zeitgenössische Irrenhaus im öffentlichen Interesse den psychisch >Unheilbaren< zugedacht, als welche ihm nicht weniger als die Hälfte der auf acht Millionen geschätzten Bevölkerung Großbritanniens gelten. Sein >Plan< ist auch das Dokument einer Desillusion, der resignativen Einsicht in die Begrenztheit praktisch-therapeutischer Wirkungsmöglichkeiten der Satire.4'6 Aber bereits in seiner frühen Satire >A Tale of a Tub< (erschienen 1704; deutsch: >Mährgen von der Tonnes 1737) hatte Swift in einer Digression über den Wahnsinn nicht nur dessen Ubiquität festgestellt, sondern auch die Dialektik ironisch pointiert, die sich daraus zwischen der hospitalisierten Narrheit und ihren frei flottierenden, sozial akzeptierten Formen im gesellschaftlichen 412

Zimmermann: Von der Erfahrung in der Arzneykunst II, S. 521. Dazu Weiß: Swift und die Satire des 18. Jahrhunderts, S. io8f.; Dorner: Bürger und Irre, S.48. 414 Rabener: Satiren II, S. I 7 j f . 4,5 Swift: Verses on the Death of Dr. Swift. In: The Poems, Vol. II, p. 572 (v. 479ff.). 4 é ' Vgl. dazu Anselms Schlössers Einleitung in Swift: Ausgewählte Werke 1, S.45. 413

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>Außen< ergibt. 4 ' 7 Es ist derselbe Wahnsinn, der nur kontingenterweise entweder als Norm oder als Abweichung gilt, der Könige, Eroberer, religiöse Enthusiasten, systematische Philosophen 4 ' 8 mit den Internierten des Irrenspitals von Bedlam vereinige - und mit Swift selbst, der nach eigener Aussage »einige Zeit auch ein unwürdiges Mit-Glied gewesen« sei (der Dean of St. Patrick's wird ab 1 7 1 4 tatsächlich als »Governor of Betlam« fungieren). 4 ' 9 Swift antizipiert damit die wesentlich spätere Einsicht des Mediziniers Reil, daß die »Narren in Bicetre und Bedlam offener und unschädlicher [sind], als die aus dem grossen NarrenHause«. 420 Die Gewaltintensität des Normalen übertrifft allemal diejenige des Pathologischen, und das Fremde des Wahnsinns beginnt schon im eigenen Haus einer ihrer Vernunft gewissen Normalität - wie umgekehrt der Wahnsinn der Tollhäuser, wie gezeigt, kaum weniger über die logisch-vernünftigen Gesetze verfügt als diese. Swift schlägt daher eine »Reformirung« vor, 421 um die Narren an ihre gewohnten sozialen Positionen in der Gesellschaft zurückzuversetzen. Es ist die Entdeckung der letztlich willkürlichen, durchlässigen Grenze zwischen sanktionierter Norm und deviantem Wahnsinn, die im satirischen Text die Tore des Spitals sich zum ersten Male öffnen läßt.

2.7.2 Das Schauspiel der Narrheit Die »madness« bleibt freilich auch bei Swift ein Denunziationsmotiv im Sinne der sittlichen Vernunft, obwohl die im satirischen Text erprobte Austauschbarkeit zwischen dem akzeptierten und dem internierten Wahnsinn bereits die strikte Trennung von Normalität und Anomalität untergräbt. In den zerrüttenden Wirkungen erkennt schon Garzoni eine für die komische Darstellung ergiebige Affinität zwischen dem Kranken und dem Lächerlichen; denn die Narrheit, wann sie in das Hirne einziehet/ da verfinstert den Verstandt/ kehret urab die Gedächtnuß/ verendert das Gemühte/ verderbet die Vernunfft/ verhindert den Men-

4,7

418

419 420

421

Swift: A Tale of a Tub, p. 1 0 2 - 1 1 4 (»A Disgression concerning the Original, the Use and Improvement of Madness in a Commonwealth«); vgl. Swift: Mährgen Von der Tonne, S. 1 7 2 - 1 9 5 . Vgl. Swifts etwa gleichzeitiges Echo bei Shaftesbury: »The most ingenious way of becoming foolish, is by a system.« (Shaftesbury: Soliloquy III, 1. In: Standard Edition I, i , S.210.) Vgl. Dörner: Bürger und Irre, S. 48. Reil: Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 9: »Der Rachsüchtige gebeut, dass Feuer vom Himmel falle, und der eingebildete Heerführer glaubt, nach einem tollkühnen Plan, den halben Erdball mit dem Schwerdt zu zerstören. Doch rauchen keine Dörfer, und keine Menschen winseln in ihrem Blute.« Swift: Mährgen Von der Tonne, S. 195.

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sehen/ daß er nichts à propos redet/ lieset/ discerniret, gedencket und thut: sondern macht alsbald das sich derselbe mit verwirreten Fantaseyen; mit wanckendem Gemühte un steiffem Geiste; mit kranckem Sinne; mit seuchem Hirne; mit lär und ödem Kopffe/ als wie ein außgehölete/ und an der Sonnen außgedörrete Kürbis; an Tausenterley Thörlichkeiten: so wenigers nicht erbärmlich/ als lächerlich seind/ gleich wie ein würbel/ umb und umb treibet. 422 D i e satirische D a r s t e l l u n g vollzieht d i e s e n >unsolidarischen< B l i c k eines e m o tional d i s t a n z i e r t e n B e o b a c h t e r s , auf d e n d a s L ä c h e r l i c h e der N a r r h e i t w i r k t . G a r z o n i w e n d e t sich i m » P r o l o g u s « seines >Spitals U n h e y l s a m e r N a r r e n * k o n s e q u e n t e r w e i s e an die » S p e c t a t o r e s u n n d Z u s e h e r e « , d e n e n die V e r s a m m l u n g d e r N a r r e n » e i n e n L u s t / S p a ß u n d s o n d e r b a h r e E r g ö t z l i c h k e i t « bereiten soll, » i h r e r / als W i l d e r G ä n s e / närrische p r o s o p o p a e j a m , z u b e s c h a w e n [...]: J a sie w e r d e n gewißlichen/ nicht ringe F r e w d / K u r t z w e i l u n n d A n m u t h / ab derer u n e r h ö r t e n / u n d z u m a l u n g e r e i m b t u n d u n g e w ö h n l i c h e n N a r r h e i t e n / die sich in b e s e h u n g deß W e r c k s / d a r i n n e n w e r d e n eraigen u n d sehen l a s s e n / s c h ö p f f e n u n d b e k o m m e n . « 4 2 3 D e r v o n d e n t h e r a p e u t i s c h e n Zielen der m o d e r n e n P s y c h iatrie weit entfernte, s o z i a l p o l i t i s c h e S i n n einer Internierung, die die G e s e l l schaft vor Unterwanderung und Ansteckung durch den Wahnsinn schützen soll, w i r d v o n der satirischen W i r k u n g s ä s t h e t i k nicht b l o ß r ü c k h a l t l o s b e s t ä tigt, s o n d e r n a u c h r e p r o d u z i e r t . Sie b e n u t z t d a s N a r r e n s p i t a l als T o p o s , u m die multiplen F o r m e n sozialmoralischer A b w e i c h u n g gleichsam motivisch dingfest z u m a c h e n u n d als I n s t r u m e n t s o z i a l m o r a l i s c h e r A b s c h r e c k u n g s e f f e k t e e i n z u s e t z e n . Wenn G a r z o n i s >Spital< j e d e r A r t >Narrheit< »in particulari [...] e i n s a m e u n d a b s o n d e r l i c h e G e m a c h « z u w e i s t , » d a r i n n e n mit guter R u h e u n d M u ß / a u c h allem L ü s t e / sie s e y n / u n d d e r C h u r recht a b w a r t e n m ö c h t e n « , 4 2 4 s o erfüllt d i e s e K a t a l o g i s i e r u n g der N a r r h e i t e n ihren Z w e c k allein in der eind r ü c k l i c h e n W a r n u n g an die Leser, die selber an einer » a l l g e m e i n e [ n ] Welt N a r r h e i t « , 4 2 ' die » d u r c h alle P r o v i n t z e n / p a ë s i u n n d L a n d s c h a f f t e n der Welt/ z e r s t r e w e t u n d außgesäet ist«, 4 2 6 n o t w e n d i g ihren Teil h a b e n u n d d e s h a l b a u c h in den N a r r e n k a t a l o g d e s satirischen Textes v o r g ä n g i g s c h o n e i n b e z o g e n sind. U m s o mehr, als es z u r L o g i k der N a r r h e i t g e h ö r t , d a ß sie ihr O p f e r v o n der E r k e n n t n i s ihrer selbst a b s c h i r m t . Weil der W a h n s i n n - i m Sinne jener als die s c h o n die antik-mittelalterliche M e d i z i n d e n W a h n s i n n

422 42J 424 42s

416

alienado,

kennzeich-

Garzoni: Spital Unheylsamer Narren, S. if. Ebd., Prologus (unpag. [S. 5 f.]). Ebd. [S.2], Ebd. [S. 2]. - Christian Felix Weisse zitiert analog in der Vorrede der für ihre »feine Satire« gerühmten Sammlung anakreontischer Lyrik seiner Leipziger Jahre: »These World was made for fools, sagt Shakespear, und wer wollte sich davon ausschließen?« (Weisse: Scherzhafte Lieder, Vorrede (unpag).) Garzoni: Spital Unheylsamer Narren, S. 2.

135

net

sich n o t w e n d i g e r w e i s e selbst f r e m d bleibt, muß die Satire ihn mit sich

bekannt machen; weil f ü r das Lächerliche des Wahns blind ist, w e r ihn selbst noch teilt, will die N a r r e n s a t i r e seinen B a n n durch Sichtbarmachung brechen. Z w i s c h e n d e m instruktiven Paratext des >Prologus< u n d d e m satirischen Text v o m N a r r e n s p i t a l ergibt sich so eine B e z i e h u n g , in der die v e r b o r g e n e Identität v o n O b j e k t e n u n d Adressaten im Z e i c h e n einer allgemeinen N a r r h e i t h e r v o r tritt: Leser, B e s u c h e r u n d N a r r e n stehen sich nur zufällig in Freiheit u n d G e f a n g e n s c h a f t gegenüber. N u r w e r der N a r r h e i t - und sei es lesend - ins A u g e blickt, erhält die C h a n c e , ihr z u entgehen. D i e linear fortschreitende L e k t ü r e entspricht dabei der B e w e g u n g der Besichtigung, die sich einer räumliche O r d nung gemäß, welche die klassifikatorische umsetzt, v o n Zelle zu Zelle f ü h r e n läßt - bis in einen zweiten, eigens den F r a u e n reservierten Teil, in d e m die O r d nung des ersten sich analog wiederholt. I m N e b e n e i n a n d e r der Geschlechter w i e der sozialen Stände 4 2 8 d o k u m e n t i e r t sich eine Gleichheit v o r dem Wahn: In G a r z o n i s Text w i r d sie z u d e m durch eine Vielzahl historischer u n d anekdotischer, v o n Kaisern, B ü r g e r n , B a u e r n u n d Bettlern handelnder E x e m p e l quer durch die sozialen Stände belegt. D a s geordnete Inventar der N a r r h e i t e n ü b e r deckt indes nur u n v o l l k o m m e n , daß sich in den v o r m o d e r n e n Spitälern alle A r ten und F o r m e n der K r a n k h e i t e n ebenso vermischen u n d durchdringen 4 2 9 w i e die moralischen Qualitäten i m gesellschaftlichen R a u m , f ü r den das satirische N a r r e n s p i t a l steht. D i e »Irrenden«, kritisiert Reil noch z u B e g i n n des 19. J a h r hunderts, sind meist »wie Pandekten ohne S y s t e m , o d e r c o n f u s , w i e die Ideen ihrer K ö p f e , in den Irrenhäusern geordnet. Fallsüchtige, Blödsinnige, S c h w ä t zer und düstre M i s a n t h r o p e n s c h w i m m e n in der schönsten V e r w i r r u n g durch einander. D i e E r h a l t u n g v o n R u h e u n d O r d n u n g beruht auf terroristische P r i n cipien.« 4 3 0 V o r allem aber durch die Präsentation der N a r r h e i t ahmt der satirische Text v o m N a r r e n s p i t a l die zeitgenössische Praxis an den >Örtern des Wahnsinns* nach. Z u m Schauspiel der N a r r h e i t , durch das G a r z o n i s »Spital U n h e y l s a m e r N a r r e n u n n d Närrinnen* seine Z u s c h a u e r - L e s e r belustigend u n d belehrend geleitet, ö f f n e n sich auch die Tore der realen Irrenhäuser. N o c h im ganzen 18. J a h r h u n d e r t liefern die Spitalwärter ihre Insassen einer gesellschaftlichen N e u g i e r aus, indem sie den B e s u c h e r n gegen G e l d P r o b e n des jeweiligen

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Dazu Schipperges: Melancolía als ein mittelalterlicher Sammelbegriff für Wahnvorstellungen, S. 59. Vgl. Garzoni: Spital Unheylsamer Narren, S. 3: »Sie [die Narrheit, C.D.] schenkt es den Königen nicht; ubersichts den Keyser nicht; verschonet der Hauptleute/ und der Gelärten nicht; haltet auff die Reichen nichts; fürchtet weder den Adel/ noch respectirt einigen/ der sie bezwing unnd zäme«. Zur Struktur des >vormodernen< Spitals und seiner Kritik im 18. Jahrhundert vgl. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 33!. Reil: Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 15.

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Irreseins vorführen. 431 Wagnitz protestiert gegen diese einträgliche Finanzierungsquelle der Spitäler am Ende des Jahrhunderts: »Man giebt sie der Neugierde des Pöbels Preis, und der gewinnsüchtige Wärter zerrt sie, wie seltene Bestien, um den müssigen Zuschauer zu belustigen.« 432 Die Praxis der öffentlichen Schaustellung des Wahnsinns ist nicht nur das reale Vorbild für Struktur und wirkungsästhetische Intentionen der satirischen Narrenrevue, sondern bezeugt ihre Vorbildlichkeit auch auf der Handlungsebene satirischer Texte. In Johann Beers bereits zitiertem >Narrenspital< begibt sich eine bürgerlich-feudal gemischte Ausflugsgesellschaft eigens zu einem abgelegenen Spital, um sich die dort internierten Narren, die »an den Ketten rasseln«, vorführen zu lassen; die vergnügliche Betrachtung der Lasterhaften, Toren und Geistesschwachen stabilisiert die Vernunft im Angesicht ihres Gegenteils. Indem sie die >Narren< der Neugier des Publikums ausliefert, vermischt die Narrenbesichtigung Neugier und boshafte Lust am Elend der Irren mit dem moralischen Sinn der Abschrekkung. Die Narrenbeschau im satirischen Text verschlüsselt in der Motivik des Erzählten dessen eigenes wirkungsästhetisches Verfahren, durch das er seine ethische Abschreckungsintention entfalten soll: »darum«, lautet die Lehre für die vergnügten Narrenbesucher in Beers Roman wie für die Leser außerhalb, »ist es klug getan, alle närrische Affecten fahren zu lassen, auf daß man sich vor dem Narrenspital hüten könne, in welchem für alle Stände so grausam viel Kammern und Zellen zugerichtet sind.« 433 Aufgrund derselben Wirkungsästhetik schließen sich auch am Ende von Garzonis Text »die Pforten unnd Thüren deß Spitals« hinter Besuchern und Lesern. Sie gehen »hinauß in die weite und helle«, ohne sich tiefer auf den Wahnsinn einzulassen. 434 Die dahinter zurückgelassenen >Narren< haben ihre Funktion erfüllt in der lächerlichen Repräsentanz einer Unvernunft, die den unbetroffenen Zuschauer-Lesern den Weg moralischer Vernunft weist.

431

V g l . W a g n i t z : H i s t o r i s c h e N a c h r i c h t e n u n d B e m e r k u n g e n ü b e r die m e r k w ü r d i g s t e n Z u c h t h ä u s e r in D e u t s c h l a n d I I / 2 , S. 2 4 3 ; v g l . a u c h s e i n e n R e f o r m v o r s c h l a g in e i n e r » I n s t r u c t i o n f ü r d e n I r r e n w ä r t e r u n d d e s s e n G e h ü l f e n « , die ein V e r b o t j e g l i c h e r B e s u c h e F r e m d e r i m S p i t a l v o r s i e h t (S. 2 7 2 ) . - Z u r P r a x i s d e r I r r e n h a u s - B e s i c h t i g u n g e n a u c h F o u c a u l t , W a h n s i n n u n d G e s e l l s c h a f t , S. 1 3 8f.

432

R e i l : R h a p s o d i e n ü b e r die A n w e n d u n g d e r p s y c h i s c h e n C u r m e t h o d e auf G e i s t e s z e r -

433

B e e r : das N a r r e n s p i t a l , S. 61. - B e i W e i s e w i r d diese » T h o r h e i t a u ß g e s c h w i n d e n u n d

r ü t t u n g e n , S. 1 5 . ü b e r e i l t e n A f f e c t e n « n o c h u m die v e r z e i h l i c h e r e V e r f e h l u n g e n aus » E i n f a l t u n d U n w i s s e n h e i t « u n d d i e v e r w e r f l i c h e r e n aus b e w u ß t e r H i n t a n s e t z u n g des G u t e n e r g ä n z t ( W e i s e : D i e d r e i ä r g s t e n E r z n a r r e n , S. 2 2 3 ^ ) . 434

G a r z o n i : S p i t a l U n h e y l s a m e r N a r r e n , S. 2 3 2 . I

37

2.8

Satirische C h i r u r g i e In's faule Fleisch einen tiefen Schnitt! 435

2.8.1 R e s e r v a t aggressiver Schreibweisen Z w e i M o m e n t e satirischen B e w u ß t s e i n s erweisen sich als sperrig gegenüber der M e t a p h o r i k des oben analysierten >überzuckerten< M e d i k a m e n t s : die A g g r e s s i vität satirischen Schreibens u n d ein gewisser, p r o v o k a n t geäußerter R i g o r i s m u s der Wahrhaftigkeit. D e r >antirhetorische< G e s t u s der Z u r ü c k w e i s u n g jener strategischen A n p a s s u n g an die R e z e p t i o n s b e d i n g u n g e n , 4 3 6 die die A r z n e i - M e tapher impliziert, bestimmt e t w a die ausdrückliche Weigerung

Sebastian

Brants, die moralischen G e b r e c h e n seiner Zeitgenossen »mit L i n d e n s a f t z u schmieren«, statt »mit E i c h e n r i n d e z u gerben«. 4 3 7 A u c h läßt die A l l g e g e n w a r t der >überzuckerten Arznei< in den satirischen Vorreden bereits beim P u b l i k u m eine U b e r s ä t t i g u n g am Süßen erwarten, w i e A n d r e a s G r y p h i u s zugunsten der »bitteren« Schreibart der satirischen G e d i c h t e seines >Weichersteins< anführt: » D o c h k o m t mir ein daß auch die süßten Sachen/ D u r c h o f f t e n B r a u c h b i ß w e i len E c k e l machen.« 4 3 8 M e h r noch, gegen die belustigend->süße< D r a g i e r u n g der >bitteren Wahrheit< im B i l d der ü b e r z u c k e r t e n A r z n e i scheint ein Z w e i f e l schon v o n Seiten der H u m o r a l p a t h o l o g i e selbst zu erwachsen, w i e man bei H a r s d ö r f f e r nachlesen kann: » D a s Süsse macht viel G a l l e n und U n r a t h [..,].« 4 3 9 Z w a r ist es zunächst eine generelle A n a l o g i e der fachlichen K o m p e t e n z z u m heilenden E i n g r i f f , welche die Q u a l i f i k a t i o n der Literaten f ü r die Satire mit der Q u a l i f i k a t i o n z u r A u s ü b u n g des H e i l h a n d w e r k s v e r k n ü p f t : » w e r keine P f l a ster schmieren kan/ der w e r d e kein Baibier; w e r keine P u r g a t i o n zu dispensiren weiß/ der w e r d e kein L e i b - M e d i c u s ; u n d w e r keine Special L e h r e n v o r irrende P e r s o n e n im Vorrathe hat/ der begebe sich nicht auff das lustige Bücherschreiben.« 4 4 0 A b e r diese A n a l o g i e der Satire mit der medizinischen Praxis v e r z w e i g t sich in z w e i voneinander fortstrebende R i c h t u n g e n , denen die zeitgenössische medizinische Arbeitsteilung im betrachteten Z e i t r a u m B e g r i f f e u n d B i l d e r leiht: pharmakotherapeutische u n d chirurgische Praxis. E s ist eine V e r z w e i gungsstelle, die lexikalisch schon d u r c h den beliebten » s c h i m p f f « markiert 43 s 436

437 438 439 440

Warner: Briefe moderner Dunkelmänner I (Motto). Vgl. etwa Homburg: Schimpff- und Ernsthaffte Clio, C X C I V (»Spiegel-Glas«), der die höfische pmdentia moralisch zurückweist: »Das schwartze heiss' ich schwartz/ das weise weis ich nenne [...] Ich sage frey heraus/ was ihm und dir gebricht/ ich rede/ wie einmein Sinn/ und bin kein Hoffmann nicht.« Zit. nach Geiger: Deutsche Satiriker des 16. Jahrhunderts, S. 279 (bzw. S. 39). Gryphius: Vermischte Gedichte. Gesamtausgabe 3, S.48. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele I, S.294 (316). Weise: Kurtzer Bericht vom Politischen Näscher, S. 155.

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w i r d , der nach M o s c h e r o s c h die bittere Wahrheitsarznei >überzuckertsanfter< Therapie u n d >aggressivem< E i n g r i f f , in d e m Innere M e d i z i n u n d C h i r u r g i e sich begegnen. D e n n das satirische E p i g r a m m muß >schimpfspitzig< sein, w i e Schottel f o r d e r t , es darf nicht grob v e r letzen, soll aber d o c h einen >Stachel< (im Schlußvers) f ü h l b a r machen, 4 4 6 w i e ihn die W u n d ä r z t e z u m A d e r l a ß benutzen. Z w a r ist das V o r b i l d der chirurgischen Behandlungstechniken häufig längst verblasst, w e n n etwa v o m >Salz< der Satire die R e d e ist, mit der schon H o r a z die Satire des Lucilius charakterisiert: 4 4 7 »[D]as Salz der Satire beitzet das faule 441 442 443

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Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste IV, S. 130a (Anmerkung). Vgl. Grimm, DWb 9, Sp. 174. Vgl. dazu Eckart: Geschichte der Medizin, S. 1 1 4 und S. 241L - Die Vielzahl handwerklicher Heilberufe (Chirurgen, Bruch- und Steinschneider, Starstecher, Zahnbrecher, Hebammen) neben den akademischen Ärzten markiert zugleich den Beginn der fachlichen Differenzierung; vgl. ebd. S. 166; zur Aufteilung der Medizin vgl. etwa Boerhaave: Kurzgefaßte Lehrsätze von Erkenntniß und Heilung der so genannten Chirurgischen Krankheiten, S. 1. - Nach Garzoni: Piazza universale, 7. Diseurs, S. 88, gehört das Haarschneiden und Bartscheren noch zu den häufigsten Tätigkeiten der Wundärzte. Wernicke: Epigramme, S. 133. Heister: Chirurgie, S. 379. Schottel: Teutsche Vers- oder Reimkunst, S. 258, sowie ders.: Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache, S.984. Vgl. Horaz: Sat. 1 , 1 0 , v. 3f. über Lucilius: »sale multo urbem defrieuit«. - Horaz selbst (Sat. I, 10, ν. 1 1 ) favorisiert freilich den heiter-urbanen Scherz: »modo tristi, saepe iocoso«.

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Fleisch w e g , damit sie hernach b e y dem bessern Unterrichte ein ganz neues u n d gesundes ansetzen k ö n n e « , f ü h r t M o s h e i m s >Sitten-Lehre< 1765 aus. 448 G e r a d e der aggressiven Satire vermag die C h i r u r g i e indes ein reich differenziertes Vergleichsangebot an V e r f a h r e n anzubieten - »zu schneiden (incidere), abzunehmen (amputare), auszurotten (exstirpare)« u n d zu »verzehren« - , 4 4 9 aus d e m sich ihr R e c h t f e r t i g u n g s b e d ü r f n i s bedienen kann. D i e o f f e n b a r e U n v e r f ü g b a r keit eines »Universalheilmittels« z u r B e h a n d l u n g p s y c h o m o r a l i s c h e r K r a n k heiten, die auch die empirische P s y c h o l o g i e am E n d e des 18. J a h r h u n d e r t s n u r bestätigen kann, 4 5 0 legitimiert diesen R ü c k g r i f f auf medizinische M a ß n a h m e n jenseits der W i r k s a m k e i t s g r e n z e >sanfter< (pharmakotherapeutischer) M e t h o den. D a m i t aber codieren die Bildlichkeiten der versüßten A r z n e i u n d des aggressiven E i n g r i f f s gegensätzliche Entscheidungen f ü r oder gegen aggressive Schreibweisen, die sich polemisch aufeinander beziehen: W ä h r e n d die Wirkungsästhetik der >horazisch-heiteren< Satire sich im Bildbereich der >sanften< P h a r m a k o t h e r a p i e eine angemessene M e t a p h o r i k reserviert, erkennt die A g gressivität der >juvenalisch-ernsthaften< Schreibweise sich in den >aggressiven< M a ß n a h m e n der C h i r u r g i e wieder, in der medizinischen Gestalt einer heilsamen G e w a l t . D e r R e f e r e n z b e r e i c h , aus d e m sich diese m e t a p h o r i s c h - m o d e l l hafte R e d e bedient, offeriert den F o r m e n u n d V e r f a h r e n literarischer A g g r e s sion also gleichsam einen doppelten Spiegel, der gleichzeitig legitimiert, w a s er reflektiert. D i e s e Legitimationsleistung erfüllt j e d o c h die C h i r u r g i e , am eigenen Selbstverständnis gemessen, a u f g r u n d ihres unleugbaren N u t z e n s in einem k a u m überbietbaren Maße: D u r c h ihre »grosse u n d absolute N o t h w e n d i g k e i t « rage die K u n s t o d e r Wissenschaft 4 5 1 der Wundärzte, w i e das weitverbreitete L e h r b u c h des H e l m s t ä d t e r P r o f e s s o r s L o r e n z H e i s t e r will, gar über alle anderen K ü n s t e hinaus, und selbst die Verächter der M e d i z i n w e r d e n zur A n e r k e n nung genötigt, sobald sie n u r ihrer bedürfen. 4 S 2 A u f g r u n d des heilsamen Z w e c k s u n d der Aggressivität seiner V e r f o l g u n g herrscht z w i s c h e n den O p e r a tionen der poetischen u n d der medizinischen Praxis, z w i s c h e n chirurgischem Einschnitt und satirischer A t t a c k e , eine vollständige S y m m e t r i e . A b e r die A g gression der Satiriker erobert sich durch das M o d e l l des chirurgischen E i n g r i f f s ein Reservat, das v o n den Schranken der N o t w e n d i g k e i t strikt u m g r e n z t w i r d .

448 449 450

451

452

Mosheim: Sitten-Lehre der Heiligen-Schrift VII, S. 386a. Col von Vilars: Abhandlung der Chirurgie I, S. 31. Vgl. Salomon Maimón explizit im letzten Band des >Magazins zur Erfahrungsseelenkunde« (X, 3, S. 197): »Es giebt gegen die Seelenkrankheiten keine Universalmittel.« Die Trennung von der Inneren Medizin hat die Frage, ob die Chirurgie nur Kunsthandwerk oder auch Wissenschaft sei, bis ins 18. Jahrhundert hinein unentschieden gelassen; für Col de Vilar ist sie »von keiner erheblichen Wichtigkeit«, solange nur beide »niemalen von einander getrennet werden.« (Col von Vilar: Abhandlung der Chirurgie I, Vorrede (unpag. [S. 3]).) Heister: Chirurgie, S. 2.

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Weil der chirurgische Eingriff die ultima ratio einer Therapie repräsentiert, die alle schonenden Mittel bereits ausgeschöpft hat, muß der Wundarzt »allezeit den gelinden Weg, w o es thunlich, zuerst versuchen, um dem Patienten nicht Schmerzen noch Noth zu machen, oder ihn gar in Lebens-Gefahr zu setzen [...]«. 45î Der Satiriker, reformuliert Mosheims >Sitten-Lehre< dasselbe für den literarischen Bereich, bedient sich legitimerweise eines »beissenden Salzes bey solchen Kranken, welche die gelindern Arzneymittel der Moral nicht wol bessern würden.« 4 ' 4 Die Chirurgie im 18. Jahrhundert hat eine spezifische, längst etablierte Ethik, eigene Autoritäten und Regeln, mit denen sie die Praktiker für ihr ärztliches Tun jenseits der Schmerzgrenze ihrer Patienten präpariert. Der Chirurg, fordert Heister im Anschluß an Celsus, soll »eine veste, stete [...] Hand haben, welche nicht zittere; [...] unerschrocken seyn, und, w o es nöthig, unbarmherzig: damit er sich durch das Schreyen des Patienten nicht hindern lasse, und dadurch entweder weniger schneide und thue, als nöthig ist, oder zu viel eile [,..].« 4Si Eine pragmatische Tugendlehre verlangt vom Chirurgen emotionale Distanz, die das Leiden der Patienten aus dem Horizont seiner Wahrnehmung ausblendet, indem sie so tut, »eben, als ob der Patient nicht schreye.« 4 ' 6 N u r scheinbar paradoxerweise soll gerade die emotionale Abhärtung, die mit der Empfindlichkeit für das Leiden zugleich alle dem Arzt lästigen »Beschwerlichkeiten des Geblüts, Materie, Eyter, Übeln Geruch und andere Häßlichkeiten« unterdrückt, gerade »Christlicher Liebe« zur Geltung verhelfen; zu einer ars caritativa hat bereits die christliche Iatrotheologie die Heilkunst versittlicht und so das ärztliche Ethos in die Tugend der misericordia verlegt.457 Das chirurgische Ethos zieht eine scharfe Trennlinie zwischen bloß empfindsam-passivem und aktivem Mitleid, das einer temporären emotionalen Anästhesie des Behandelnden gegenüber seinem Patienten bedarf; eine Unterscheidung, die mit der Abwertung der passiven »Erbarmung« gegenüber der aktiven »Barmhertzigkeit« in der neustoischen Ethik genau übereinstimmt. 4 ' 8 Es ist diese Immunisierung des Chirurgen gegen die Reflexe des Leidens, die seine Tätigkeit beim Patienten auslöst, welche am tiefsten in den apologetischen Sinn des Modells vordringt. Denn durch den Rückgriff auf ein in seinem Nutzen unbestrittenes, durch eine akzeptierte Ethik der >Entsympathetisierung< geprägtes Vorbild der medizinischen Praxis rechtfertigt es eine mitleidlo-

4

» E b d . S. 1 3 . M o s h e i m : Sitten-Lehre der Heiligen-Schrift V I I , S. 388a.

4¡4 45í

Heister: Chirurgie, S. 1 1 . - Vgl. Celsus: U b e r die Arzneiwissenschaft (VII), S. 363. A h n l i c h auch G a r z o n i : Piazza universale, 7. Diseurs, S. 87.

4 6

'

Heister: Chirurgie, S. 1 1 . - V g l . Celsus: U b e r die Arzneiwissenschaft (VII), 8 . 3 6 3 : »vielmehr führe er alles aus, als ob durch das Klagegeschrei des K r a n k e n bei ihm gar kein Mitleid erregt würde.«

4S7

Vgl. Schipperges: A n t i k e und Mittelalter, S.248.

4 8

V g l . Lipsius: V o n der Bestendigkeit, S. 33f.

'

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se Härte satirischen Schreibens, die einzig der zielsetzenden N o r m verpflichtet ist. Wie der Chirurg, identisch mit der empfindungslosen technologischen Vernunft seiner Disziplin, sich der von Heister vertretenen mechanistischen Anthropologie zufolge über die »sehr künstliche Maschine« 459 des menschlichen Körpers beugt - ihm gilt (Boerhaave folgend) der menschliche Körper nur noch als Konglomerat aus »vielen kleinen Maschingen«: aus »Sprützen, LuftPumpen, Klappen, Zangen, Scheeren, Mühlen, [...] finstere[n] Kammern, Gehör-Werckzeuge[n], und dergleichen mehr« -,4Aggressivität< der medizinischen Maßnahme hat mit der psychologischen Ebene subjektiver Aggressionslust nichts mehr zu tun. 46 ' Dem poetologisch-normativen Topos, daß die Satire nicht Personen, sondern abstrakte >Laster< und >Torheiten< anzugreifen habe, entspricht das medizinische Legitimationsmodell in einer von der Sinnstruktur des therapeutischen Eingriffs, der nur dem modus deficiens der Krankheit gilt, schon vorgegebenen Selbstverständlichkeit: Als >Delendum< literarischer Therapie gilt nie der Patient qua Person, sondern jenes malum an ihm, das im Wege therapeutischen Spottens auf die gesunde N o r m zurückzuführen ist, ohne daß dieses Verfahren mit dem neminem nocere der hippokratischen Ethik kollidiert. Satirische Destruktivkraft avisiert - mit einem paracelsischen Begriff den destructor sanitatis, der die moralische Ordnung des Subjekts zersetzt, um Sitte und Vernunft, dem conservator sanitatis, zum Recht zu verhelfen. 462

2.8.2 Eskamotierung der Aggression und extremer Paternalismus Die eskamotierende Leistung des chirurgischen Modells wird am kenntlichsten dort, w o die Metapher explizit auf das zurückgeführt wird, was sie repräsen4

" Heisters Practisches Medicinisches Handbuch, S. 8. Ebd. S.22. 461 Weickard hat allerdings auch für den Arzt eine Art emotionaler déformation professionnelle ausgemacht: »[...] durch lange Uebung wird auch mancher hart, unbarmherzig, endlich auch grob wie ein Postsekretär.« (Weickard: Der philosophische Arzt I, 460

462

S.178.) Vgl. Büchner: Allgemeine Pathologie, S. 15.

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tiert und gleichzeitig verschwinden läßt; w o hinter dem Bild der medizinischen Operation unvermittelt der Affekt des Schreibenden wieder hervorgezogen wird. Vom Mittelalter bis in die Neuzeit verläßt sich die chirurgische Methodik auf das Ausbrennen der Wunden mit dem Glüheisen, um »verdorbene Theile wegzubrennen«, Blutungen zu stillen, vor allem aber Vergiftungen und entzündliche Prozesse zu kurieren. 463 Brenneisen und Beizmittel der Chirurgen bilden ein Analogon extrem aggressiver Schreibweisen, die »brennendheiß« sind wie der Stil Juvenals. 464 Sie repräsentieren den äußersten Grad an satirischliterarischer Gewaltsamkeit in einem metaphorischen Modell, in dem chirurgische Maßnahmen von Verstümmelung kaum noch zu unterscheiden sind. Schon vom >brennenden Salz< der Satire, das einen »heftigen Schmerz« verursacht, schreibt Ramler (nach Jaucourt): man muß boshaft seyn, wenn man es gebrauchen will. Es giebt noch ein glühendes Eisen, das Haut und Fleisch mit wegnimmt: und dieß ist Wut, Grausamkeit, Unmenschlichkeit. 4 *'

Die kraft der Magie der Metapher unsichtbar gemachte, von Ramler/Jaucourt aufgespürte und ans Licht gestellte Grausamkeit des Satirikers ist ein Affekt, dessen späterer Diskussion im Zusammenhang der Satire->Psychologie< hier nicht vorgegriffen werden soll. Was sich jedoch in Ramlers Auflösung der Metapher zeigt, ist eine verselbständigte Aggressivität, die deren Verdeckung gerade darum braucht, weil ihre unproportionale, die Grenze des Zweckhaften längst ignorierende Intensität in Wahrheit von der medizinischen Rationalität so wenig wie von humanen und poetologischen Maßstäben noch gedeckt wird. Leidvolle Erfahrungen sorgen dafür, daß ähnlich den peinlichen Strafmethoden auch die chirurgischen Behandlungsmaßnahmen ein eminentes Vorstellungsreservoir menschlicher Schmerzzufügungen - wie hier durch die Kauterisation, das Wundausbrennen mit dem Glüheisen - bergen; schon der erste römische Chirurg, Arcagatus, soll sich - wie Garzoni nach einer Plinius zugeschriebenen Anekdote berichtet - durch die mitleidlose Verstümmelung seiner Patienten derart verhaßt gemacht habe, daß seine Disziplin fortan zu Rom durch öffentliches Edikt überhaupt verboten worden ist. 466 Chirurgie, peinliche Strafe und physische Aggression stehen in einer so starken Affinität zueinander, daß die eigentlich getrennten Metaphern sich in der poetologischen Sprache über die

463

464 465

466

Heister: Chirurgie, S. 436. - Vgl. bereits Celsus: Über die Arzneiwissenschaft, S. 288f. Dazu auch Eckart: Geschichte der Medizin, S. I49ff. Bereits im Ausgang des 16. Jahrhunderts beginnt sich dagegen die Behandlung mit kühlenden Umschlägen und mild adstringierenden Medikamenten durchzusetzen. Ramler: Einführung in die Schönen Wissenschaften III, S. 168. Ebd. S. 149. - Jaucourt: Satyre. Encyclopédie T. 14, S. 700a: »II y a encore le fer qui brûle, qui emporte la piece avec escarre, & c'est fureur, cruauté, inhumanité.« Garzoni: Piazza universale, 7. Diseurs, S. 87.

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Satire oft genug überschneiden. Schon der Horaz-Kommentar des Humanisten Landino bietet für die durchlässigen Ränder der Modelle ein aufschlußreiches Beispiel. Der strategische Mangel, daß die aggressive Heilmethode auf die verführende Einkleidung des Wahrheitspharmakons verzichten muß, verlegt die chirurgische Metaphorik in die Nähe der kriegerischen List: Wie der fallenstellende Krieger sein argloses Opfer zuerst scherzend ablenkt, um ihm dann unversehens die Spieße tief in den Leib zu treiben, so müsse der Satiriker auch qua Therapeut mit der Heilung durch Eisen und Feuer nicht eher beginnen, als bis er seinen Patienten durch verborgene Schlingen so festgesetzt hat, daß er den Händen seines Arztes nicht mehr entkommt. 467 In die bildliche Lücke, die zwischen der satirischen Wirkungsstrategie der Verführung und den chirurgischen Praktiken des Ausbrennens und Schneidens der Wunden liegt, tritt hier eine menschenjagende Kriegslist ein, die den Patienten zum wehrlosen Opfer macht (eine ironische »Ubertreibjagd«, wie Karl Kraus formuliert). 468 Dennoch tritt gerade hier, in der Uberschneidung von medizinischer und militärischer Bildlichkeit, die Ethik der satirischen Therapie am deutlichsten zutage. Denn dem strukturellen Gefälle zwischen satirischem Aggressor und satirisiertem Objekt entspricht ein extrem paternalistisches Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Die satirische Therapie darf ihr Objekt jedoch nur darum entmündigen, weil die moralische Krankheit es zuvor schon entmündigt hat: Cum insanis non esse disputandum. Das durch die affektbeherrschende Macht der Laster sich selbst entfremdete Bewußtsein gleicht tauben, erstarrten Gliedern, führt Angelo Poliziano aus, deren Empfindungslosigkeit das Krankheitsbewußtsein des Erkrankten unterdrückt. Die Satire muß daher mit ähnlichen Mitteln wie die Chirurgie vorgehen, die mit Eisen und Feuer den Schlaf der physischen Fühllosigkeit stört. 4 6 ' Die Trennung des moralisch Erkrankten 467

V g l . C h r i s t o p h o r u s Landinus in: Horatius cum quattuor commentarius, unpag.: » N a m cum sibi proposuerit: non homines maledicendo vexare sed castigando a vitiis ad rectam viam revocare non prius f e r r u m ignemue vulneri sanando admovet: quam aegrotum ita occultis laqueis irretiverit: ut medicas manus etiam si velit affugere: nequat.«

468

Kraus: D i e Fackel B d . 1 1 , N r . 8 9 0 , S . 2 1 7 . - Dasselbe W o r t prägt z u v o r schon D a niel Spitzer: Wiener Spaziergänge, 1. Sammlung, 3. A u f l a g e 1880, S. 61 f.; diese A n gabe nach K u r t K r o l o p : Sprachsatire als Zeitsatire bei K a r l Kraus. Berlin 1992,

S.i'5t· 469

»Caeterum medicinae hanc o p e m plerique ideo haud imploramus, q u ò d tarn gravi animi m o r b o laboramus, ut ne aegrotare quidem nosmet intelligamus, similes lilis, qui torpentia atque obstupefacta membra, vel ob idipsum sana esse arbitrantur, q u ò d praemortua sint, sensusque omnis, dolorisque expertia. Q u a p r o p t e r ut medici saepe eiusmodi corporis partibus f e r r u m adhibent, aut cauterium, q u o scilicet vires ipsarum, vel conscopitae excitentur, vel fugatae revocentur: ita nos p r o f e c t ò his potissimum hominibus, nostras curandos ánimos tradere debemus, qui labem, pestemque illorum o m n e m , cunctaqueperturbationum semina, ceu [sic!] ferro, & flammis radicitus extirpant: quales scilicet ei potissimum poetae censentur, qui aut R o m a n a m hanc satyram,

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von sich selbst ermächtigt den Satiriker-Arzt auch zum schmerzhaften Eingriff in sein subjektives Wohl; seine subjektive Unwilligkeit bestätigt nur den therapeutischen Handlungsgrund. Der sanative Zweck heiligt die aggressiven Mittel. Diese problematische Doppelung von aggressiver satirischer Schärfe und therapeutischer Funktion wird emblematisch gedeutet im Bild des Skorpions, wie ihn das Titelkupfer zu Moscheroschs >Gesichten Philanders von Sittewald< in der Hand des Satyrs zeigt: Sein Gift wirkt zugleich als Antidot gegen den verletzenden Stich. 470 Der Nähe operativer Therapie zu physischer Gewalt schlägt offenbar durch in der Syntax der Metaphern, die sich gegenseitig brechen. Diese Katachrese, die medizinische und kriegerische Bilder einander sinndurchkreuzend überlagern läßt, signalisiert gleichsam die Wiederkehr einer verdrängten, von Ramler unter der Schicht der Metaphern wieder aufgedeckten Gewaltsamkeit. Sie kommt genauso in der Legierung medizinisch-chirurgischer und strafjustizieller Bilder zum Vorschein, wenn etwa der eben zitierte Christoforo Landino das >Schneiden und Brennen« des Chirurgen zusammen mit dem strafenden >Züchtigen< in derselben undifferenzierten semantischen Schicht um den gewalthaften Kern der Satire herum anordnet: in einer logischen Kreisstruktur gleichsam, welche die Modelle beliebig ineinander verschiebbar macht. Unter dem ethischen Rechtfertigungsdruck der Satire neigt ihre Selbst- und Fremdreflexion zu einer Maximierung sozialer Legitimität, die durch die Aggregation gleich mehrerer apologetischer Modelle hergestellt werden soll. Joachim Rachel, den Gottsched aufgrund seiner »sehr heftigen und beißenden Schreibart« als »unsern Lucilius«, als Begründer einer eigenständigen deutschsprachigen Satirik feiert, 471 läßt ebenfalls operatives Heilverfahren und Strafe, Patient und Delinquent unmittelbar ineinander übergehen:

470

471

aut Atheniensem illam veterem comoediam scriptitarunt.« Angelo Poliziano: Praelectio in Persium, in: Angeli Politiani Opera, S. 512Í. Zur Deutung vgl. Wolfgang Harms' Nachwort in seiner Edition von Moscherosch: Wunderliche und Wahrhafftige Gesichte, S.233L, sowie Schäfer: Der Satyr und die Satire. - Fischarts Eulenspiegel nimmt dasselbe Emblem in ironischer Weise auf: Da der satirische Held (der Lehre der Musen gemäß) vom satirischen Schreiben abläßt, vergleicht er sich gleichzeitig dem Skorpion und dem Arzt, die eine Verletzung erst heilen, nachdem der Patient ihr bereits erlag. Vgl. die einleitenden Verse »Der Eulenspiegel zum Leser«: [...] Werd also wie ein Scorpion, Der seine stich heilt nach dem Todt Und werd ein Artzt der geschädigt hot. Fischart: Eulenspiegel Reimensweiß, S.4 (Der Eulenspiegel zum Leser, v. i82ff.). Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst II, S. 169. - Dieselbe Würdigung Rachels - als >Nachahmer< Juvenals - findet sich bei Morhof: Unterricht von der teutschen Sprache und Poesie, S. 3 5 5; Rachel sei es zu verdanken, »daß wir auch in diesem Stücke nicht nöthig haben/ den Außländern den Vorzug zu gönnen.« - Zu Rachel vgl. auch den Artikel bei Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexicon III, Sp. i860.

I 4S

Ist dieser Eßig scharf, so ist er doch gesund, Und beißt das faule Fleisch heraus bis auf den Grund. Gleichwie Machaon brennt und heilt mit klugen Händen: So mag auch ein Poet zwar strafen, doch nicht schänden. 472 D i e D i f f e r e n z sanktionierender und sanativer F u n k t i o n e n w i r d in der K o n traktion der M o d e l l e , die einander wechselseitig erläutern sollen, 4 7 3 völlig eingeebnet. D i e ineinander geschobenen K o r r e l a t i o n e n des D o p p e l v e r g l e i c h s der Satire mit T h e r a p i e und Strafe aber stabilisieren sich zusätzlich auch durch eine gleichsam rückseitige Verstrebung, w e l c h e Strafe und T h e r a p i e - schon bei Seneca - direkt miteinander verkoppelt. D e r christlichen D e u t u n g s k o r r e l a t i o n v o n K r a n k h e i t und Sünde, Therapie u n d Strafe entspricht s y m m e t r i s c h die Spiegelung der Strafjustiz in der medizinischen Therapeutik: »Sicut enim M e dico indecora sunt multa vulnera: ita etiam Principi multa supplicia.« 4 7 4 D ö p lers H a n d b u c h der Leibesstrafen vergleicht gleichfalls die peinliche Z ü c h t i g u n g d e m »Schneiden u n d B r e n n e n « der »Medici«, u n d noch W a g n i t z ' K e n n z e i c h nung der Strafen als gesellschaftliche » P a l l i a t i v - C u r e n « u n d »unentbehrliche C u r a r t « zieht die Linien dieser Z u o r d n u n g therapeutischer und strafender Praktiken nach. 4 7 S D i e wechselseitige A f f i n i t ä t der D e u t u n g s m o d e l l e stellt der Satire eine z w e i f a c h e reflexive Bildlichkeit z u r V e r f ü g u n g , die ihr Selbstdeutungsbedürfnis gleichzeitig a u f r u f t . A b e r der zuletzt zitierte D o p p e l v e r g l e i c h Rachels o f f e n b a r t doch eine abgestufte D i s t a n z der D e u t u n g s m o d e l l e z u d e m , w a s sie repräsentieren: D a s Bild des chirurgischen E i n g r i f f s bedarf o f f e n b a r der A u s l e g u n g durch eine zweite M e t a p h e r ( v o m >strafenden< Poeten), deren eigene B i l d h a f t i g k e i t gar nicht m e h r z u m B e w u ß t s e i n k o m m t . Weil die chirurgische M e t a p h e r auf p h y s i o l o g i s c h e W i r k u n g s z u s a m m e n h ä n g e v o n körperlicher L ä sion und wiederherstellender O p e r a t i o n z u r ü c k g r e i f t , nicht auf den sozialen Z u s a m m e n h a n g v o n Scham u n d A b s c h r e c k u n g , an d e m J u s t i z und Satire gemeinsam teilhaben, bleibt ihre Bildlichkeit aufdringlich, o h n e daß sie mit der Bildlosigkeit der bloß terminologischen A u s s a g e oder des >implikativen M o dells« verschmelzen kann.

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Zit. nach Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst I, S. 166. - Wernicke zitiert ein analoges Beispiel aus dem Schäferhandwerk: »Tondere pecus, non degulere« (>Scheren das Vieh, nicht häutenDe sedibus morborum per anatomen indagatisi dazu Eckart, ebd.; Julius Pagel: Geschichte der Medicin I. Berlin 1898, S. yoyi. Der bedeutende Mediziner und Autor des »Versuchs Schweizerischer Gedichte« (1732), Albrecht von Haller, der als medizinischer Ordinarius in Göttingen dem empirisch-experimentellen Forschungsparadigma verpflichtet ist, weist die Lehre der »galenische[n] Schule« aufgrund eigener experimenteller Beobachtungen entschieden zurück, ohne sich indes mit dem mechanistischen Materialismus Lamettries einverstanden erklären zu können; Lamettrie hatte Haller seinen >L'homme machine« (1747) - sehr zu dessen Verdruß - gewidmet (vgl. dazu N D B 7, S. 544). »Es lasset sich nämlich auch nicht einmal auf eine entfernte Weise wahrscheinlich machen, daß in wirklich melancholischen Menschen entweder an Schleime, oder an einer Menge mit vielem erdigen Grundstoffe versezzten Schleims ein Ueberflus statt finden, oder daß verdorbne scharfe Säfte zu einer schwarzen Galle gehören könnten. Denn sonst müste man alle Greise zu melancholischen Menschen machen müssen [...]« (Haller: Anfangsgründe der Physiologie des menschlichen Körpers II, S. 228).

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vollständig durch das neue Paradigma disqualifiziert u n d abgelöst ist, an d e m der aus den T h e o r i e n und P r a k t i k e n der institutionellen M e d i z i n gebildete R e s o n a n z r a u m beseitigt ist u n d die suggestive S t i m m e des apologetischen M o dells verstummt. Wenn K u r t T u c h o l s k y noch 1 9 1 9 seine A n t w o r t auf die F u n damentalfrage der Satire an exponierter Stelle, ganz am E n d e seiner A r g u m e n tation, mit H i l f e des ausführlich analysierten Bildes v o m satirischen Purgativ f o r m u l i e r t , w i r d am Zitat der apologetischen Bildtradition zugleich eine geschichtliche G r e n z e sichtbar, die die Ungleichzeitigkeit z w i s c h e n der M e t a p h o r i k u n d ihrer M o t i v i e r u n g o f f e n b a r t : » D i e echte Satire ist blutreinigend: u n d w e r gesundes B l u t hat, der hat auch einen reinen Teint.« 4 7 9 Wenn unmittelbar darauf diese F r a g e bündig entschieden w i r d : »Was darf die Satire? Alles«, 4 8 0 spielt das satirische T h e r a p i e m o d e l l n o c h einmal seine ganze Legitimationsleistung aus. A b e r die E v o l u t i o n medizinischer T h e o r i e u n d Praxis hat den rechtfertigungsstiftenden M o d e l l b e z u g längst irreversibel antiquiert, der d e m zitierten T o p o s seine Plausibilität verlieh. I n d e m sie sich neuen, anders begründeten T h e r a p i e k o n z e p t e n z u w a n d t e , ist die medizinische Praxis über die traditionell gefestigten Vergleichsmodelle der literarischen Satire hinweggegangen, ohne sie durch neue zu ersetzen. Sie bestreitet a f o r t i o r i den Sinn der poetologischen A n a l o g i e n . Z w a r kann die M e t a p h o r i k des chirurgischen E i n g r i f f s sich prinzipiell gegen eine solche medizingeschichtliche A n t i q u i e r u n g behaupten - e t w a ein J a h r z e h n t v o r T u c h o l s k y vergleicht etwa E d u a r d F u c h s die satirische K r i t i k mit »gefährliche[n] O p e r a t i o n e n am gesellschaftlichen O r g a n i s m u s « , die »neben der sichersten H a n d das stärkste V e r a n t w o r t l i c h k e i t s g e f ü h l dessen [erfordern], der sie v o r n i m m t « ; 4 8 ' der dabei a u f g e r u f e n e M e t h o d e n f u n d u s , der ebenfalls im h u m o r a l p a t h o l o g i s c h e n V o r s t e l l u n g s z u s a m m e n h a n g gründet, veraltet gleichwohl. V o n der >lebendigenHamburgischer Dramaturgie« A l l e r d i n g s tritt zu dieser allmählichen A n t i q u i e r u n g auch noch eine alte u n d t i e f v e r w u r z e l t e Tradition der antimedizinischen Skepsis hinzu, die den therapeutischen Sinn der Satire verdächtig macht. T o m m a s o G a r z o n i kann in seiner

479 480 481

Tucholsky: Was darf die Satire? In: Gesammelte Werke 2, S. 44. Ebd. Eduard Fuchs: Geschichte der erotischen Kunst. Erweiterung und Neubearbeitung des Werkes >Das erotische Element in der Karikatur« mit Einschluß der ernsten Kunst. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe von 1908. Berlin 1977, S. 393.

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>Piazza universale*, einer Enzyklopädie sämtlicher Berufe der Welt, den >Discurs< »Von den Medicis und Artzten« bereits mit einer namenreichen Zeugnisliste gängiger Mediziner-Verachtung eröffnen, der in der Frühen Neuzeit nur noch der verbreitete Haß gegen die Juristen gleichkommt. 482 Noch bevor die medizingeschichtliche Evolution der einschlägigen Metaphorik ihre Legitimationskraft entzieht, wird sie ihr bereits aus Gründen bestritten, die die Vergleichbarkeit von Sinnstrukturen, Ethik und Effekten zwischen ärztlicher und literarisch-satirischer Tätigkeit betreffen. Denn der Sinn der Heilkunst wird prinzipiell von ihrem Ende her gedacht: Wer heilt, hat recht. Weil der sanative Erfolg seiner literarischen Therapie dem Satiriker-Arzt die offizielle Approbation ersetzen muß, das medizinische Pendant zum satirischen Strafmandat, setzt ihn folgerichtig der mangelnde Heilerfolg ins Unrecht. Von der Kritik ihres medizinischen Sinns her offenbart sich so ein Plausibilitätsproblem des medizinischen Modells, das seinen apologetischen Wert gegenüber den zwei anderen Haupttopoi der Satiretheorie mindert. Denn die Erziehungsfunktion der Satire bleibt verbindlich, solange die Einheit von Dichtung und Didaxe feststeht; kraft ihres Motivierungsrückhalts in der justiziellen Praxis infamierender Strafen besitzt das entsprechende satirische Modell eine Evidenz, die am Ende des 18. Jahrhunderts nur durch den humanitären Zweifel am Recht dieser Rechtspraxis selbst verunsichert wird. Das Therapiemodell hingegen hat solche Selbstverständlichkeit auch in der äußersten Affinität literarischer und therapeutischer Prozeduren nie zu erreichen vermocht, weil die Heilfähigkeit der Satire, die Chance, ihr sittlich-therapeutisches Versprechen einzulösen, stets fragwürdig geblieben ist. Für Jean Paul koinzidieren Satire und Arzneiwissenschaft gerade in gemeinsamer Nutzlosigkeit: Der Satiriker »gleicht [...] einem Arzte, sowohl weil das, was er verschreibt, zu bitter ist, als auch, weil es gar nichts hilft«. 483 Doch während immerhin der Hypochonder jede irgendwo von den Ärzten beschriebene Krankheit bereitwillig sich zueigen mache, weist der Leser einer Satire jedes darin abgehandelte Übel weit von sich. Dem Skeptiker gilt allerdings nicht erst am Ende des 18. Jahrhunderts die Dichtung überhaupt in medizinischen wie juristischen Dingen als gleich untauglich, wie ein weit früheres Beispiel zeigt: Man muß gestehn; Es wird durch Poesie Kein Krancker heyl; durch solche wird auch nie Sich vor Gericht ein Bürger können rathen: Jens ist der Artzt/ und diß der Advocaten. 484 482

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Zur Juristenschelte vgl. die Kollektion einschlägiger Topoi bei Kuhnau [Zuschreibung zweifelhaft]: Der schlimme Causenmacher, Vorrede (unpag. [S. if.]). Jean Paul: Scherze in Quart. In: Sämtliche Werke II, 2, S. 38. Auszug aus >N.E.C. Heigemanns Gedichten wider den Mißbrauch der Edlen Poeterey/ und wider die Feinde derselben< in: Reinhold [d.i. Gottfried Wilhelm Sacer]: Reime dich/ oder ich fresse dich, unpag.

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Solch generelle Skepsis signalisiert eine zunehmende Differenzierung gesellschaftlicher Funktionsbereiche in der Frühen Neuzeit, die den Sinn jeglicher Kompetenzüberlagerungen bestreitet, von denen die beschriebenen apologetischen Modelle gerade leben; 48 ' sie führt tendenziell im Zeichen professionaler Spezialisierung zur Auflösung jener Legierung medizinischen, juristischen und poetischen Wissens, welche die Semantik dieser Modelle bestimmt. Daß die Satire auf ihr Objekt mit Erfolg einwirken könne, wird sowohl in Hinsicht auf komische wie aggressive Mittel gleichermaßen suspekt, weil beide eher distanzieren als affizieren; und diese zum therapeutischen Sinn gegenläufige Lesart bewirkt schließlich eine grundsätzliche Umdeutung innerhalb des medizinischen Paradigmas der Satire, die an der Kette kritischer Einwendungen gegen die satirische Therapeutik entlang verfolgt werden kann. Weil vor allem die Aggressivität des Heilmittels selbst potentiell den Heilzweck sabotiert, droht ihr wie bei der medizinischen Arznei eine iatrogene Wirkung. Wielands >Peregrinus Proteus< warnt daher im Gespräch mit dem römischen Satiriker Lukian vor einer Verkehrung satirischer Intentionen, »wenn unsre Arzney noch viel schlimmere Wirkungen thut, als das Übel ist, dem wir abhelfen wollen.« 486 Die nützliche oder schädliche Wirkung resultiert aus einer Funktion, die zwei Variablen - therapeutische Mittel und diagnostizierten Zustand - miteinander verrechnet. Was man als pathologisch und behandlungsbedürftig beschreibt, hängt indes ab von anthropologischen Prämissen, die keineswegs ahistorisch gelten. Wielands satirische Therapeutik ist jedenfalls von der voraufklärerischen Satire, die den im Grunde unverbesserlichen Zustand der gefallenen Welt im diesseitspessimistischen Bild des Narrenspitals deutet,4®7 bereits durch einen antistoizistischen Optimismus getrennt, der die anthropologischen Voraussetzungen des neustoizistisch-barocken Denkens neu und konträr definiert und auch die therapeutische Aufgabenstellung der Satire nicht unbetroffen läßt. Der satirische Topos, daß »die ganze Erde Ein großes Narren und Siechenhaus« sei,488 steht deshalb für Wieland im Zeichen eines hypertrophen Gesundheitsideals, das jedem a priori die Chance verwehrt, als gesund gelten zu dürfen. Die literarisch-philosophische, in bezug auf die Heilungschancen ihrer Patienten implizit tief pessimistische medicina mentis decouvriert Wieland an anderer Stelle überhaupt als eine Art Beschaffungsmedizin,

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Zu diesem Prozeß der allmählichen Ausbildung einer »funktionalen Differenzierung«, welche die stratifikatorische Ordnung der alteuropäischen Gesellschaften schließlich ablöst, vgl. im ganzen Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik I. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt/M. 1993, bes. S. 2 j f f .

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Wieland: Peregrinus Proteus. In: Sämmtliche Werke I X , S. 35. Zum >Narrenhaus< als »Topos der alten Satire« vgl. auch Arntzen: Nachricht von der Satire, S.6. Ebd.

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die mit den gleichen Mitteln »wie ihre Schwester, die leibliche Arzneikunst«, sich unentbehrlich und allzuständig zu machen suche. 48 ' Der allgemeine Gegensatz prätentiöser Ideale aber heißt bei Wieland stets >NaturFrauenzimmer Gesprächspielen< laut. Als sanatives Mittel erscheint der aggressive Spott genauso fehl am Platz wie das tatenlose Mitleid: »Welcher Artzt weinet oder lachet über deß Kranken Schmertzen?« 4 ' 0 Die gewissermaßen überhebliche, von Identifikation weit entfernte Haltung des Schreibers entfremdet seine satirische Rede tendenziell dem Objekt seiner therapeutischen Bemühungen, wie an der paternalistischen Beziehungsstruktur zwischen beiden bereits sichtbar wurde. Das satirische Lachen dokumentiert so die Grenze einer medicina mentis, die in Harsdörffers Argument gewahr wird, ihr Objekt effektiv nicht mehr zu erreichen; es erscheint nur konsequent, wenn es daher seine therapeutischen Intentionen auch bewußt von ihm zurückzieht. »Gleichwie aber nun der Artzt einen rasenden Patienten/ welchem er nicht helffen kann/ entweder auslacht oder verachtet«, erläutert der Hamburger Theologe Balthasar Schupp einen seiner satirischen Traktate: »Also habe ich in der verzweiffeiten Kranckheit unsere Jugend von dem lächerlichen und falschen Reden entweder Artzney/ oder einen blossen Trost suchen wollen.« 491 Diese (an)erkannte Ohnmacht der Satire, die gegen das moralische Delirium letztlich nichts mehr auszurichten vermag, markiert genau den Punkt, an dem das medizinische Modell sich loslöst von den Strukturen des Resonanzraums, von dem es seine Plausibilität bezieht, und einen ganz anderen Sinn gewinnt. Im satirischen >Lachen über< wird offenbar jene Boshaftigkeit wieder deutlich, die nach der Logik heilender Zuwendungen stets verdeckt blieb, nun angesichts des Scheiterns solcher Bemühungen aber auch die ethische Forderung der ärztlichen caritas nicht mehr zu respektieren braucht. Indem sie sich vom Maßstab der Heilung abwendet, wendet sich die satirische Ethik eine andere Bezugsgröße zu. Wenn der Satiriker-Therapeut über die sittlichen Gebrechen seiner >Patienten< lacht - sucht Albrecht Christian Rotth noch zwischen dieser neuen Funktion und der Mitleidsnorm zu vermitteln - , so geschieht dies »nicht zu dem Ende die Elenden noch darzu zu spotten/ sondern andern nur da durch das Laster zu verleiden« 4 ' 2 ; das heißt: in einer Art narrativ-stellvertretender »praemeditatio futurorum malorum«, wie

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Wieland: Fragmente von Beiträgen zum Gebrauch derer, die sie brauchen können oder wollen. In: Sämmtliche Werke III, S. 428. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele I, S. 291 (313). Schupp: Der Ungeschickte Redner. In: Sämtliche Lehrreiche Schrifften, S. 816. Rotth: Vollständige Deutsche Poesie III, S . 7 1 .

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Lipsius' neustoische Lehre formuliert, 493 die Folgelasten der Laster aufzuzeigen. Der Satiriker arbeitet in der moralmedizinischen Lasterprävention oder Unglücksprophylaxe: als »Vorsorger«, »Schadenweiser« des selbstverschuldeten Elends. 494 Die Wiederherstellung der medizinischen Reputation der Satire gelingt nur um den Preis eines tiefgreifenden Einschnitts in ihre Sinnstruktur, welcher der skeptischen Demontage ihres Wirkungsversprechens bereits Rechnung trägt. Den generellen aufklärerischen Optimismus, den etwa Sulzers A l l gemeine Theorie der schönen Künste< unter dem Stichwort »Lächerlich« entfaltet - der Satiriker könne durch seine geschickte Applikation »die Menschen von jeder Thorheit, von jedem Vorurtheil, von jeder bösen Gewohnheit heilen, und jede schädliche Leidenschaft im Zaum halten«495 - hatte sein eigener »Satyre«-Artikel bereits wieder zurückgenommen: »Ich getraue mir nicht zu behaupten, daß Bösewichte, Narren und Thoren von einerley Art, gegen die die Satire eigentlich gerichtet ist, sich dadurch bessern lassen [,..].« 496 Die poetologische Diskussion hat so in einer hier nur besonders dekonstruktiv erscheinenden Weise die apologetischen Topoi, die sie einführt, immer auch skeptisch konterkariert. Auch Flögel stimmt Ende des 18. Jahrhunderts in den Chor der Skeptiker ein - »Es ist richtig, der Lasterhafte wird durch Satyre nicht gebessert« - , um dennoch den Sinn der satirischen Therapie durch den Austausch der Adressaten wieder aufzurichten: »Desto heilsamer kann die Wirkung der Satyre auf andre seyn, gegen die sie nicht gerichtet ist«.497 Mehr als zwei Jahrzehnte zuvor hatte Lessing in gleicher Weise dem satirischen Heilungsoptimismus widersprochen und zugleich das therapeutische Modell umfunktioniert. Im 29. Stück der >Hamburgischen Dramaturgie< dementiert er die Therapeutik der satirischen Komödie durch das Zugeständnis, »daß der Geizige des Moliere nie einen Geizigen, der Spieler des Regnard nie einen Spieler gebessert habe; [...] daß das Lachen diese Toren gar nicht bessern könne«. 498 Die Umfunktionalisierung des Satirischen, die Lessing vornimmt, aber verbleibt im paradigmatischen Bezirk der Medizin: Aus dem Therapeutikum des Spottes wird nun - wie zuvor schon bei Rotth - ein »Preservatif«. 499 Lessing verschiebt damit die Funktionsstelle der Satire im Katalog der Therapeutica Moralis, den der Ham-

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Vgl. dazu Lipsius: Manuductionis ad Stoicam Philosophiam libri tres, S. 776ÍÍ. Weise: Kurtzer Bericht vom Politischen Näscher, S.98. - Für den Fall, daß selbst die Prävention vergeblich bliebe, mahnt Weise an, »daß man die Schrifften nicht nach der Besserung des Lesers/ sondern nach dem guten Gemüthe des Verfassers urtheilen soll.« (S. Ermutigung< seiner sozial positiv ausgezeichneten Talente; Sozialisierung und Zivilisierung auf gesellschaftliche Integration und Normkonformität hin; Moralisierung schließlich durch Verinnerlichung der Gebots- und Verbotsstruktur gesellschaftlicher Koexistenz.' 0 ' Seit Johann A m o s Comenius (Komensky)'° 6 versucht die Pädagogik, die Funktionen der Erziehung in wechselnden klassifikatorischen Schemata zu konkretisieren, die bis ins 18. Jahrhundert die Kenntnisvermittlung sowie die Einübung der Sittlichkeit und Frömmigkeit zu ihrem Kernbestand rechnen.' 07 Aber erst seit dem 18. Jahrhundert hat die Erziehung neben der Strafe ihre exakt definierte Funktionsstelle in einer dezentralen Organisation gesellschaftlicher Macht. Erziehung soll einerseits Fremdzwänge in Selbstzwänge umsetzen und gerade durch diese Leistung - anders als die auf Permanenz ausgelegte Drohung der obrigkeitlichen Strafe - sich selbst überflüssig machen; andererseits indes hält sie an ihrer Notwendigkeit solange fest, wie die Selbstbindung des Einzelnen noch lückenhaft, der Auftrag seiner Sozialisierung und Moralisierung also unvollendet bleibt. A u c h die modellhafte Roilenzuschreibung, die den Satiriker als Erzieher begreift, übernimmt damit eine soziale Etablierungsfunktion, die dem literarischen Aggressor im System der Disziplinarmächte seine Position zuweist: Wie zuvor von der ärztlichen Reputation, profitiert der Satiriker nun von derjenigen des Pädagogen. Der Satiriker ist Johann Heinrich Waser zufolge »so gut als andere Tugendlehrer, ein nüzlicher und verehrenswürdiger Mann«'° 8 , weil sein Schreiben so gut wie schulische und pastorale Erziehung eine nützliche Stelle im System gesellschaftlich fest verankerter Zwecke ausfüllt. O b w o h l sie im legitimatorischen Nutzen mit den oben analysierten Modellen völlig übereinstimmt, repräsentiert die satirische Didaktik doch in einer Hinsicht ein abweichendes Modell: Sie ist unter allen Deutungsparadigmen der Satire das am wenigsten metaphorische. Gerade das >Bessern< und >Erziehen< der Satire reduziert sich im deutenden Gebrauch auf ein meist bildloses, selbstverständliches,

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° Vgl. damit Immanuel Kant: Vorlesung über Pädagogik. A A IX, S.443. Vgl. Comenius: Große Didaktik, S. 3iff. - Johann Amos Comenius' >Didactica migna< (tschechisch 1628, lateinisch 1638) gilt als erster Versuch einer wissenschaftlichen Didaktik; dazu Herwig Blankertz: Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar 1982, S. 3 3ff'°7 John Locke z.B. definiert >TugendLebensklugheit< (wisdom), >Lebensart< und >Kenntnisse< als Erziehungsziele, wobei er das religiöse Element unter das moralische subsumiert; vgl. Locke: Gedanken über Erziehung, § 134, S. 166, und die Erläuterungen der folgenden Paragraphen. - Vgl. auch die Locke-Übersetzung in Johann Heinrich Campes allgemeiner Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens< IX, S-4o6ff. ! 8 ° Waser: Vorrede zu Swift: Satyrische und ernsthafte Schriften I, S. XI. 506

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>implikatives Modell< der poetologischen Rede; die erzieherische, schulischpädagogische Praxis ist - im Unterschied zur Pluralität der strafpraktischen und therapeutischen Methoden - an bildhaften Beziehungen am wenigsten fruchtbar. Denn sie bietet ein geringeres Identifikationsangebot an aggressiven Praktiken, die dem Selbstdeutungsbedürfnis literarischer Aggression Genüge tun könnten; gegenüber den schulischen Erziehungsstrafen zieht die Vielfalt und Drastik der justiziellen Strafpraxis viel stärker die Aufmerksamkeit der satiretheoretischen Bildsuche auf sich.

3.1 Infinität und Notwendigkeit satirischer Erziehung Zwischen Erziehung und Satire wirkt eine prinzipielle Identität, die sich auf die Ebenen der beidseitigen Notwendigkeit wie der Zwecke bezieht. Es ist eine universal-anthropologische, eigentlich unwidersprechliche Begründung, mit der ein Satiriker des 17. Jahrhunderts wie Moscherosch seine Leser in die disziplinierende Schule der Satire schickt: »Wir sind ja eilende Schuler/ die wir theils so Hochgelehrt/ und doch das arme Namenbuch noch nicht außstudiret haben/ welches sagt: Ein jeder lern seine Lection So wird es wohl im hause stöhn.' 0 '

Die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen, wie Moscherosch sie postuliert, ist prinzipiell universell und infinit; sie durchkreuzt jede soziale und bildungsmäßige Differenz, welche im alltäglichen sozialen Feld die gattungsgegebene Gleichheit aller Menschen vergessen macht. Die didaktische Satire überwacht und betreibt Erziehung als einen unabschließbaren Prozeß der Enkulturisation, die durch eine widerständige Natur oder wechselnde Moden ständig gefährdet bleibt. Für die Radikalität des erzieherischen Anspruchs im 17. Jahrhundert ist es entscheidend, daß er dieselbe praktisch-pädagogische Konsequenz aus völlig konträren anthropologischen Prämissen ziehen kann. Denn ob seine erbsündliche Natur den Menschen - so der Pietist August Hermann Francke - zum Bösen determiniert oder eine metaphysische Natur ihn - wie später der Aufklärer Rousseau postuliert - in schuldloser Güte hervorbringt: Unter beiden Vorzeichen des anthropologischen Pessimismus oder des metaphysischen Optimismus bedarf er der Erziehung, die seine naturhafte Neigung entweder korrigiert oder kultiviert.' 10 Erst recht aber resultiert diese Erziehungsbedürftigkeit aus der Annahme einer gattungskonstitutiven Unbestimmtheit des Menschen, dieses »erstefn] Freigelassenen der Schöpfung«, wie 509

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Moscherosch: Visiones de Don Quevedo II, S. 9; >Namenbuch< ist im Fränkischen und Oberdeutschen ein »Buchstabierbüchlein für Kinder« (Adelung: Grammatischkritisches Wörterbuch III, Sp. 420). Dazu Blankertz: Die Geschichte der Pädagogik, S. 29^

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Herder formuliert, den keine natürliche Instinktausstattung von vornherein auf konfliktvermeidende Soziabilität hin programmiert hat; zur »Humanität« muß er erst gebildet werden. 5 " Aber in der Universalität der erzieherischen Notdurft, im unendlichen >Elend< der >Schüler< also, hat die pädagogische Aufgabe bei Moscherosch auch sich selbst erreicht. Denn durch den Adhortativus inclusivus »wir« gesellt sich der satirische Lehrer seinen Leser-Schülern zu, begegnet er ihnen in einer horizontalen Beziehung, welche die satirische Situation umbaut und sich auch auf die Struktur des satirischen Textes auswirken muß. Die Universalität der satirischen Erziehung, die in der Vorrede zu Moscheroschs >Wunderlichen und Wahrhafftigen Gesichten< bloß eine rhetorische Proklamation ist, relativiert den Status des Ich-Erzählers, indem sie die Beziehung, die er zu seinen Lesern unterhält, in eine Begegnung unter Gleichen verwandelt: Philander ist ein desorientierter Jüngling, der in seinen Träumen, in denen er die belehrende Welterfahrung imaginiert, zum »Spiegel glas«' 12 für den Leser wird; an ihm kann jener erkennen, was ihm gebricht, und damit auch die Notdurft seiner eigenen (literarischen) Erziehung. Diese Erziehungsbedürftigkeit des Menschen bezieht sich auf elementar moralische Qualitäten, auf den Codex sozialer Vernunft und den Dekalog, den die moraldidaktische Satire ihren Adressaten ex negativo vorbuchstabiert. Der Leser als Schüler, als Objekt einer beabsichtigten satirisch-erzieherischen >FormationEmile ou de l'Education< (1765) wird die Kindheit zum Gegenstand einer >pädagogischen< Perzeption, die sie als Entwicklungsphase eigenen Rechts aus der Welt der Erwachsenen löst, um sie erzieherisch wieder in sie einzubinden; es ist die - institutionengeschichtlich relativ späte —513 Ausdifferenzierung des pädagogischen Erziehungs-Diskurses in der Mitte des 18. Jahrhunderts, die das Kind als selbständiges Wesen erzeugt und die Voraussetzungen, Methoden, Aufgaben und Ziele der Erziehung zum Problem macht.5'4 Die >vormodernehöherer< sozialer Etablierung vorgesehen ist. Noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gilt das »Lehr- und Erziehungsamt« zum Leidwesen der modernen Pädagogen zumeist nur als »eine Heerstraße zur Pfarre«, 5 ' 5 die keinerlei spezifische Qualifikationen verlangt. Mühsal, karge Besoldung und geringes Ansehen des Lehrerberufs tragen nicht eben zu seiner Beliebtheit bei, so daß selbst Zedlers >Universal-Lexicon< unter dem Stichwort »KinderZucht« nur verzeichnen kann: »Niemand, als den die liebe Noth darzu zwinget/ unternimmet sich der Sorge des Lehr-Amtes.« 5lé Die >vormoderneabweichendemDidactica magna* erscheint, 521 zur frühzeitigen Anwendung disziplinierender Gewalt gegen die grobianischen Verhaltensauswüchse der Jugend. Denn »[w]er es gut mit Reben meint [,] Hat sein Messer stets zur handt«: So ists mit der Kinderzucht Bald nur von der Wiegen an/ Allen fleiß herfür gesucht Weil man sie noch biegen kan. Wer ins Alter zucht wil sparen Wirdt nur hertzeleid erfahren. 522

3.2

Die >kleine Gewalt< der Erziehungsstrafen

3.2.1 Die normative Grenze der Korrektur Zur schulisch-sittlichen Erziehung gehört, mit Opitzens Worten, die »anmahnung z u e der t u g e n d « so gut w i e eine negative Seite, »die harte Verweisung der

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Zum Vorrücken der Peinlichkeitsschwelle vgl. Elias: Der Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 1 Bd. Frankfurt/M. 1997. Zu den sozialgeschichtlichen Bedingungen der grobianischen Dichtung vgl. die Einleitung von Rolf D. Fay in Scheidt: Grobianus, S. V l l f f . Scherffer: Der Grobianer und Die Grobianerin, S. 1 des 1. Cap. (unpag.). Vgl. Arthur Henkel, Albrecht Schöne: Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des X V I . und X V I I . Jahrhunderts. Stuttgart, Weimar 1996, Sp. 264. Comenius: Große Didaktik, S. 19 (mit einem fälschlich Diogenes zugeschriebenen Diotogenes-Zitat; vgl. ebd. Anm.9, S.247). - Ein abgewandeltes Bild vom >BirnBaum< findet sich bei Beer: Pokazi. In: Sämtliche Werke IV, S. 7. Scherffer: Der Grobianer und Die Grobianerin, Einleitungsgedicht (unpag.).

laster«.' 23 Von jeher implizieren die Besserungstechniken der Erziehung strafende Mittel zur Korrektur am werdenden Menschen. Als Disziplinargewalt steht die Erziehung offen zur Praxis der Strafe; genau in diesem Öffnungsbereich können die aggressiven Formen satirisch-polemischen Schreibens sich ansiedeln. Aber diese Nähe von Didaxe und strafender Gewalt hat Folgen für den poetologischen Bildgebrauch. Bei Opitz überführen deshalb die strengkorrigierenden Erziehungsverfahren unterderhand die friedliche Situation der Erziehung in die Situation des bewaffneten Kampfes: Die satirische Sittenlehrerin wird unversehens zur Kriegerin, die mit »allerley stachligen und spitzfindigen reden/ wie mit scharffen pfeilen/ umb sich scheußt.« 524 Die Brüchigkeit des von Opitz gebrauchten Bildes - eher: eine Kontamination der pädagogischen und kriegerischen Deutungsparadigmen - entspricht keineswegs einfach individuell-sprachlichem Ungeschick; denn das didaktische Bild bricht genau an der Stelle, an der die destruktiv-aggressive Seite des Satrischen ins Spiel kommt: Die Gewalthaftigkeit der Satire, die mit den Waffen des Krieges einhergeht, bricht das Bild der gewaltlosen Belehrung entzwei. Stets hat das Modell moralischer und rationaler Erziehung durch Satire Schwierigkeiten mit der Integration ihres aggressiven Moments, das als Handlungscharakter der strafenden Exekution oder dem medizinischen Eingriff so selbstverständlich eingeschrieben ist. An ihren aggressiven Mitteln wird Erziehung als DisziplinargeaWr kenntlich. Doch ist es ein spezifischer, an aggressiver Kraft verminderter Gewalttypus, den die Pädagogik dem Selbstdeutungsbedürfnis der Satire offeriert: die >kleine Gewalt< der Erziehungsstrafen. 525 Das Reflexionsmodell der Pädagogik ersetzt die Geißel des Henkers durch die »Rute« des Lehrers - die »satyrischef ] Ruthe« 526 eines Boileau etwa, die Bodmers und Breitingers >Mahler der Sitten< zur Erziehung der deutschen Poeten herbeiwünscht. Die Satire sympathisiert mit der physischen Gewalt der Schuljustiz, einer spezifischen Ausformung paternalisitischer Herrschaft über Unmündige. Freilich kennt die Elementarschule des 17. und 18. Jahrhunderts - ein Sammelbegriff für die Küster-, Land-, Stadt- und Armenschulen - 5 2 / über die weithin übliche Prügelpädagogik 528 hinaus eine breit differenzierte Palette disziplinierender Maßnahmen, auf die

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Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey, S. 28. Ebd. Zum Begriff Lindenberger, Lüdtke: Physische Gewalt - eine Kontinuität der Moderne, S. 22. Bodmer, Breitinger: Der Mahler der Sitten I, 5. Blatt, S.45. Vgl. Jürgen Bennacks Einführung in Rochow: Schulbücher-Gesamtausgabe, S. V. Der Begriff >Volksschule< für die Vermittlungsinstitution basaler, muttersprachlicher Bildung wird erst in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts gebräuchlich. Vgl. Hans Scheuerl: Geschichte der Erziehung. Ein Grundriß. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1985, S.73. J

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die Selbstdeutungsphantasie der Satiriker zurückgreifen kann. Eine Stelle in der Vorrede zu Moscheroschs 1642/43 in zweiter Auflage erschienenen, durch Francisco de Quevedo angeregten >Wunderlichen und Wahrhafftigen Gesicht e t erschließt die vorbildlichen Erziehungspraktiken dieses Schultypus als realgeschichtliches Modell der satirischen Didaktik, indem sie gleich mehrere solcher Maßnahmen sich ausleiht und ausdrücklich benennt. Mit seiner Anrede der Leser als Schüler macht der Satiriker zugleich die Rollenverteilung klar, welche die Rezeptionsstruktur in Hinsicht auf den satirischen Text beherrschen soll. Kriegestu aber wegen deines unfleiß und Ungehorsams in dieser Teütschen Schule irgend einen tolle, ein döpel/ Einen product? Lieber so schweige still/ hauche an die finger/ laß das schwätzen der Maul-Christen forthien bleiben/ damit dich der Corycaeus nicht mehr under die garrientes schreibe/ oder dir jrgend den Notam gebe.' 2 '

Obwohl ihr technisches Vokabular sich an der lateinischen Unterrichtssprache orientiert, steht die »Teutsche Schule« Moscheroschs, anders als die übliche Lateinschule, im Zeichen der sittlichen und sozialen >RealienVerbalismus< der bloßen Vermittlung altsprachlichen Wissens einfordert;" 0 moralische Integrität und kulturpatriotische Identität, die seine satirische Kritik verteidigt, gehören im normativen System der Sprachgesellschaften zusammen. Die disziplinierende Funktion aber, die seine menippeische Satire im Zeichen dieser Zwekke übernehmen soll, imaginiert Moscherosch nach dem Vorbild der schulischen Erziehungsstrafen: Die »tolle« ist ein Streich oder Schlag, 531 der »product« (nach Adelungs Erläuterung) eine »feyerliche Züchtigung ungezogener Schüler vor dem Hintern«," 2 unter der »Nota« schließlich versteht man das Zeugnis, in welchem das Schuloberhaupt den Verweis gegen die Schwätzer (»garrientes«) festhält. 533 Die Unterwerfung des Kindes unter die >kleine< Erziehungsgewalt gilt einem klassischen Topos zufolge geradezu als Synonym für den Schulbesuch überhaupt: Die Hand unter die Rute legen (oder unter ihr wegziehen: Manum ferulae subducere) ist seit der Antike gleichbedeutend mit

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Moscherosch: Visiones de D o n Quevedo, Anderer Theilder Gesichte, Vorrede S. 9. »Corycaeus« steht wahrscheinlich für >CpryphaeusMagazin f ü r Schulen und die Erziehung ü b e r h a u p t I, 1, S.42Í., erhoben. - G a n z anders heißt es noch 1 7 3 7 in Zedlers Universal-Lexicon 15. Bd., Sp. 660 (s. v. >Kinder-ZuchtStärke< der Erwachsenen und einer durch absolute Bedürftigkeit und Vertrauen bestimmten >SchwächeEmile< zu den Zentraltexten der europäischen Aufklärungspädagogik gehört und den Campes Revisionswerk 1787 erstmals vollständig ins Deutsche übersetzt: John Lockes >Some Thoughts concerning Educations Der Verspottung der Kinder wird hier als eines pädagogischen Skandalons gedacht, das die verheerendsten Effekte der physischen Züchtigungen noch überbietet: »Der größte Zorn«, merkt Locke im Kapitel über das Schlagen (whipping) an, »so schädlich er übrigens ist, würde, nach meiner Meinung, nicht so schlimme Wirkung, nicht einen solchen Widerwillen gegen den Strafenden hervorbringen, als Fühllosigkeit und Spott.«'62 Vor dem didaktischen Übel des Spottes zu warnen, erscheint dringlich genug, daß Campes Mitarbeiter am Revisionswerk, der Magdeburger Rektor Funk, der Anmerkung Lockes noch eine eigene, unterstreichende Note hinzufügt. Schwerlich hat ein anderer Fehler des Erziehers so äußerst schlimme und so unaustilgbare Wirkung, vorzüglich auf die edelsten und sanftesten Gemüther, als Spott oder Hohn beym Bestrafen. Ueberhaupt wer diesen fähig, der bedarf noch viel zu sehr der Erziehung für seine eigene Person, als daß er sich einfallen lassen müßte, Andere erziehen zu wollen.' 6 3

Der Spott als Erziehungsverfahren bescheinigt dem Erzieher nur eigene Unerzogenheit und Ignoranz gegenüber den psychologischen Wirkungsmechanismen - Zusammenhänge, welche die Erzieher kennen und beherrschen müssen, 561 562

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Ebd. S.25. Zitiert wird die deutsche Übersetzung in: Allgemeine Revision des gesammten Schulund Erziehungswesens I X , S. 229. Ebd. (Anmerkung, §83.)

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wenn sie nicht als Pedanten und »lebendige Diktionairs« selbst zum Spott der aufgeklärten Pädagogik und ihrer Schüler werden wollen.' 64 Der Pädagoge bedarf, wie der Segeberger Rektor Ehlers formuliert, einer »Semiotik der Leidenschaften«, 565 um den psychologischen Konnex von Sanktion und Reaktion effektiv zu kalkulieren - dieselbe Wissenschaft, ohne welche die gesamte medizinische, psychologische und pragmatische Anthropologie des 18. Jahrhunderts im Umgang mit Menschen nicht auskommen kann.' 66 Das Resultat der Korrelierung von Pädagogik und satirischem Spott muß also wohl ein negatives sein: Der pädagogisch-philanthropische Diskurs dementiert in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Funktionalität genau jener Verfahren, auf die die satirische Didaktik ihre Hoffnung gesetzt hat. Und dennoch stellt gerade die psychologisch aufgeklärte Erziehung zwischen beiden ein bemerkenswertes Einvernehmen her, das zwischen literarischen und didaktischen Verfahren vermittelt. Denn satirische und pädagogische Didaktik orientieren sich an einer gemeinsamen psychischen Bezugsgröße - an der >Ehrliebe< des Zöglings. Es ist dieser >natürliche< Trieb, dessen nützliche Rolle in der didaktischen Logik Friedrich Gabriel Resewitz in seinem pädagogischen Periodikum b e danken, Vorschläge und Wünsche zur Verbesserung der öffentlichen Erziehung als Materialien zur Pädagogik< im Jahre 1779 eingehend analysiert: Er erschließt den Pädagogen genau jene empfindliche Stelle der Einwirkung auf den heranwachsenden Menschen, auf die sich die aggressive Didaktik der Satiriker von jeher konzentriert. Die »Anregung der Scham oder Beschämung ist ein nothwendiges Mittel zur sittlichen Erziehung«, postuliert der Erziehungstheoretiker und -praktiker Resewitz, um deren empfindlichen Mechanismus sogleich in psychologisch präziser Naheinstellung freizulegen: Unter allen Empfindungen des Menschen ist keine von so leisem und zartem Tact, als die Scham. Gleich der fühlenden Pflanze, die sich auf Annäherung eines Gegenstandes zurück und in sich zieht, krümmt sich der betroffene und beschämte Mensch gleichsam in sich selbst zurück, schaut, fühlt und gesteht sich sein Gebrechen; und das mit einer Alteration, die im Moment alle Organen Leibes und der Seelen durchdringt.' 6 7

Die Beschämung versetzt den Beschämten in einen Zustand innerer Wahrheit, in dem er seinen Selbstschutz aufgibt und in dem der Erzieher mit seinen didaktischen Intentionen seinen Zögling erreichen kann. Die pädagogisch-psychologische Erfahrung bestätigt damit den etwa gleichzeitig bei Eschenburg formulierten Zusammenhang der miteinander verkoppelten satirischen Wirkun-

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s6s

s6é *67

Magazin für Schulen und die Erziehung überhaupt 1,4, S. 419 (Rezension über Ehlers: Von den zur Verbesserung der Schulen nothwendigen Erfordernissen, S. 414-44 5). Ebd. S.418. Vgl dazu oben Knigges Forderung nach einer »Semiotic der Seele«. Gedanken, Vorschläge und Wünsche II, i , S. 21.

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gen, im selben Moment »zu beschämen und zu bessern«.' 68 Aber nur kraft äußerster Sensibilität und strenger Ökonomie in der Verwendung dieses beschämenden Verfahrens kann der Satiriker-Erzieher sich die Stelle offenhalten, in die seine erzieherische Hoffnung einziehen kann - gegen die sie sich aber andernfalls dauernd abschließt und verhärtet, wie Salzmanns ironisch dargebotenes Exempel elterlichen Spottes demonstriert. Es ist dieselbe didaktisch-sensible, im Rollenverhältnis von Lehrer und Schüler mögliche Funktionalität der Beschämung, in deren Kontext noch Nietzsche die Ironie lokalisiert und konkretisiert: Sie wirkt als »pädagogisches Mittel« einer vorgetäuschten Unwissenheit, die dem anderen Gelegenheit zu »Blößen aller Art« gibt, um dann deren offenbar Lächerliches unversehens ins Licht zu setzen. Die Ironie erscheint so bei Nietzsche als Verfahren einer didaktischen Entwürdigung, die das positive Selbstgefühl des Zöglings destabilisiert, indem sie ihn in die deckungslose Nacktheit seines Unvermögens hervorlockt: »Ihr Zweck ist Demütigung, Beschämung, aber von jener heilsamen Art, welche gute Vorsätze erwachen läßt [,..].« !Der Himmel auf Erden< zur »Seligkeit« bereits des irdischen Lebens anleiten will: »Verachtung ermuntert uns, uns mehr innern Werth zu geben.« 57 '

568

Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, S. 1 1 4 . Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. In: Werke IV, 2, S.265. i7 ° Durch diese Didaktik grenzt André Jolies die Ironie gerade ausdrücklich von der Satire ab: »Satire vernichtet - Ironie erzieht.« Und zwar deshalb, weil der ironische Spötter eine geheime > Vertraulichkeit mit dem Ironisierten unterhalte, der satirische dagegen absolut distanzierend und mitleidlos tadle. (Jolies: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Tübingen 1982 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft. Bd. 15), S. 25 5.) 571 Salzmann: Der Himmel auf Erden, S. 359.

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Je mehr die didaktische Situation von affektiv-persönlichen Besetzungen befreit gedacht wird, desto mehr steigt der pädagogische Wert des Spottes. Im öffentlichen Beziehungsfeld, in dem die literarische Satire sich bewegt, kann daher auch ihre didaktische Valenz sich rehabilitieren. Durch eine paradoxe Funktionslogik kann hier die Verspottung die Würde, die sie demoliert, verstärken; eine sittliche Selbstoptimierung muß das Vakuum ausfüllen, das die satirische Demontage in erzieherischer Absicht im Selbstwert des Verspotteten hinterließ, um ihn den realen Mangel an sittlich-persönlicher Qualität spüren zu lassen. Der ethischen >Ermunterung< des Spottes, an die die Satire anknüpfen kann, korrespondiert darüber hinaus auch die erzieherische >Erbaulichkeitglory< überläßt, erzeugt der Ironiker ein Ressentiment gegenüber der eigenen Autorität, das seine didaktischen Absichten sabotiert: Kein Zufall also, daß die reflektierte Pädagogik des 18. Jahrhunderts jene Affektivität auszuschließen sucht, welche den Erzieher unversehens zum didaktisch wirkungslosen Aggressor macht.

3.4 Unpassionierte Didaktik Es ist die der >bissigen< Ironie eigene Affektivität, kraft derer literarische Aggression von den normativen Vorgaben des Erziehungsmodells abweicht. Wenn die Philanthropen das Bewußtsein der Erzieher auf das mittlere Maß g e linden, zwischen Anlaß und Sanktion rational ausbalancierender Strafakte einzustellen suchen, so können Passionen in diesem System nur mehr zu eliminierende Verzerrungen bewirken. In einer rationalisierten, vom »Affekt« gesäuberten Rollenbeziehung gewinnen die pädagogischen Verfahren ihr ethisches Fundament, auf dem sich die Autorität des Erziehers dann zu imponierender Größe aufbauen kann; denn, betont bereits Locke, »auch Kinder wissen zu unterscheiden, ob wir mit Leidenschaft handeln.« 578 Gerade darum freilich suchen die Erziehungstheoretiker die pädagogische Strafdisziplinierung affektiv zu ernüchtern, weil sie um die eminente Anziehung wissen, die zwischen Aggression und Erziehung besteht: »Zorn und verdrießliche Laune sind beynahe vom Erziehungsgeschäft unzertrennlich [...]«, konstatiert illusionslos der Oberlehrer Große. 579 Ein Ethos des Erziehers ist deshalb unverzichtbar, das die störenden Gefühlseffekte ausgleichen soll, welche die Gefällestruktur der Didaktik ständig produziert. Der Pädagoge muß den »Schein der Rache« in der Disziplinierung der ihm Anvertrauten daher unbedingt vermeiden, genauso wenig aber darf er den »Schein eines Vergnügens« zeigen, »daß er gestraft und

576 577 578 579

Ebd. Aristoteles: Rhetorik II, 2, 24, S.90 (1379b). Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens I X , S. 228. Gedanken, Vorschläge und Wünsche II, 2, S. 1 1 1 .

Ï71

das Übergewicht behalten hat«. Also keinesfalls die lustvolle Überlegenheit des ironischen Spötters, der das komische Gefalle zwischen sich und dem >Opfer< genießt: »Er triumphiere nicht«' 80 . Es ist genau diese postulierte Neutralität des Erziehers, die eine Schnittstelle zwischen den Forderungen pädagogischer und poetologischer Theorie in Hinsicht auf die Satire markiert; sie stattet das von zeitgenössischen Praktiken und Diskursen konstruierte Modell der Pädagogik mit einer affektrepressiven Normativität aus, das es als poetologische Reflexionsform der Satire qualifiziert. In der ironischen Belehrung kommt die vertikale Beziehung von Aggressor und Objekt auf riskante Weise zur Geltung: Der ironische Satiriker >infantilisiert< gewissermaßen seine erwachsenen Leser, verkleinert sie nach dem Maßstab einer anerkannten sittlichen N o r m zum bedürftigen Objekt seiner pädagogischen Zuwendung, während er selbst sich an derselben N o r m sittlicher und sozialer Richtigkeit zum Erzieher über sie aufrichtet. Aber diese N o r m normiert gemäß ihrem totalen Geltungsanspruch auch ihn und die Mittel seiner literarischen Erziehung. Indem sie das Gefälle zwischen Lehrer und Schüler in seinen affektiven Wirkungen neutralisiert, unterdrückt sie auch die Inkongruenz, die sich auftut zwischen Erzieher und Erziehung. N u r als Vorbild ist er Medium sittlicher Erziehung. 581 Die didaktisch zu vermittelnde Norm, die im ironischen Belehrungsverfahren erziehungstaktisch zurückgehalten wird, muß jedoch nicht bloß beim Erzieher selbst uneingeschränkt voraussetzbar sein; auch in der ästhetischen Form der Didaktik schlägt der moraldidaktische Anspruch zu Buche. »Wer andern ein Sittenlehrer sein will,« schreibt Gottsched, »der muß selbst nicht durch seine Schreibart zu verstehen geben, daß er lasterhaft ist«.' 82 Die sittliche Integrität, welche die Poetik ebenso wie die Pädagogik vom (literarischen) Erzieher fordert, verbannt alle >Unzüchtigkeit< und »Unflätereyen« von der Oberfläche der Texte.' 83 Daß satirische Poesie »die Frucht einer gründlichen Sittenlehre« 1st,584 die im Zeichen eines ethischen Rationalismus steht, beweist Gottsched an anderer Stelle anhand von vier exemplarischen Syllogismen: analytische Beweise des Satzes, »daß man die Satiren und Komödien im gemeinen Wesen nicht hindern müsse«.585 Gottscheds Syllogismen sind im Zusammenhang seiner >Ersten Gründe der gesammten Weltweisheit< nur als Demonstrationen der Vorzüglichkeit seiner Vernunftlehre gedacht, ihre Argumentation aber entspricht derjenigen in

580

Gedanken, Vorschläge und Wünsche I, 4, S.79. Vgl. auch Ulrich Herrmann: Erziehung. Erziehungswissenschaft/Pädagogik. In: Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. Hg. von Werner Schneiders. München 1995· S. 108-109 u n d S. 1 1 0 - 1 1 2 , hier S. 109. 582 Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst II, S. 176. '8> Vgl. Gottscheds Kritik an Rachel und Günther, ebd. 584 Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst II, S. 165. 585 Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit I. In: Ausgewählte Werke 5 , 1 , S.193. 581

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seiner >Akademischen Rede< über die Schauspiele genau. Es ist die in der frühaufklärerischen Erkenntnistheorie fundierte, methodische Beweisform, die dem inhaltlich erwiesenen Recht von Satire und Komödie auf soziale Wirkungsentfaltung ihren historisch invarianten Wahrheitsanspruch sichert und von einer bloßen revisionsfähigen »Meynung«*86 unterscheidet: Der strikt korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff Gottscheds und der Frühaufklärung meint die Ubereinstimmung der »Erkenntniß mit den Dingen selbst«;' 87 die formallogisch korrekte Demonstration überträgt die Wahrheit der Prämissen auf die zu begründende Konklusion. Aber die rationalistische Wahrheitstheorie betrifft auch den Anspruch der Kunst - hier: der Komödie und Satire selbst auf die Objektivität ihrer Lehre, deren Voraussetzung allein in »klaren und deutlichen Begriffen< besteht, wie die für Gottscheds frühaufklärerisches Denken maßgebliche cartesianische Epistemologie formuliert.®88 Die Dämpfung der Affekte beim Schreiben erscheint im Kontext dieser philosophischen Prämissen eindeutig begründet: Angesichts der subjekttranszendenten Wahrheit, die das urteilende Subjekt erkennt, brächte sich seine affektive Subjektivität nur als Störgröße zur Geltung. Die Forderung nach Zurückhaltung der Affekte stellt sich freilich weit früher schon jedesmal ein, wenn das Denkmodell satirischer Erziehung bemüht wird. Wenn Siegmund von Birken daran erinnert, daß die Satiren »nicht zu beißig seyn/ sondern mit dem Vorsatz/ andere freundlich zu unterrichten und zu bäßern/ geschrieben werden« müssen,®89 statuiert er das Horazische ridendum dicere verum bereits im vorausgehenden Jahrhundert als pädagogisches Prinzip, das die aggressive Form der Belehrung zugunsten unaffektiver, heiter-gewinnender Vermittlung zurückdrängt. Poetik und Pädagogik unterstellen gemeinsam die Erziehung einem Rationalitätsideal, das Aggressivität, idiosynkratische Abneigungen und die pure Lust an der Ausstellung des Bösen ausschließt, um der unverzerrten Stimme der Vernunft Gehör zu verschaffen. Der korrektive Sinn der Poesie schlechthin besteht für Hunold allein darin, »jemanden dadurch besser und vernünfftiger zu machen; dahero muß man alle pasionirte Bewegungen oder Begierden von sich entfernen/ um nichts anders/ als die Vernunfft zu hören.«" 0 Seine rational ernüchterte literarische Didaktik schließt daher »Schertz«, »Kurtzweil« oder »Beschimpffung« als Korrekturmittel aus dem Kreis ihrer Möglichkeiten aus: »Denn alles dieses erwecket Verdruß/ und bringt in dem Gemüth nichts als Widerwillen zu wege.« s9 ' Es ist dieselbe stabile Beschreibung einer psychodidaktischen Wirkungslogik, welche *86 Vgl. zur Differenz zwischen »Wissenschaft« und »Meynung« ebd. § 160. 187 Ebd., S . 1 8 . >88 Vgl. ebd. S. i8f. 589 Birken: Teutsche Rede- bind und Dicht-Kunst, S. 308. Hunold (Pseud. Menantes): Die Beste Manier In Honnéter Conversation, S. 137. Ebd. S. 139.



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auch für die philanthropische Pädagogik am Ende des 18. Jahrhunderts »Schimpfen und Schelten« zu kontraindizierten Verfahrensweisen macht, weil sie den Zögling nur gegen jede erzieherische Einwirkung verhärten; »es erregt Trotz und Unwillen bey dem Zögling, und gebiert dem Erzieher Verachtung.«" 2 Die Satire öffnet damit keineswegs den unumschränkten Rederaum einer Parrhesie des Gefühls, weil diese Freiheit den didaktischen Zweck vernichten würde, dessen Finalität die Charakteristik der satirischen Rede nur zu den Bedingungen ihrer pädagogischen Nutzbarkeit rechtfertigt. Wenn Carl Friedrich Flögel der Satire diese Brauchbarkeit geradezu bestreitet, ist es die Aggressivität ihrer Sprachform, die sie als didaktisches Mittel disqualifiziert. Aggressive Komik wird ihm zum Differenzkriterium, durch das sich die Rede des Satirikers von der des »didactische[n]« >Moralisten< entfremdet: Während »der Moralist den Ton des ernsthaften Lehrers annimmt«," 5 lacht und spottet der Satiriker. Flögel folgt auch hier der Ästhetik Sulzers: So wenig »der Moraliste«, schreibt dieser, »wenn er auch etwas unwillig wird, sich feindselig zeiget, so wenig nimmt jener [»der Satiriste«, C . D . ] den Ton eines väterlichen Lehrers an; auch da, w o er den Thoren belehret, thut er es als ein Zuchtmeister.« 594 Anstelle der Modellkorrespondenz zwischen Strafe und Erziehung tritt so am Ende eine Modellkonkurrenz, weil nur diese, nicht aber jene Deutung der Aggressivität des Satirischen angemessen Rechnung trägt. Die moraldidaktische Satire, die Albrecht Christian Rotth durch die H o f f nung definiert, daß »die gemeinen Laster verhaßt und die Leuthe gebessert werden mögen«, ist also mit dem Furor eines Aggressors inkompatibel: So iemand aber etwas anders mit seinen Satyrischen Schrifften sucht/ als daß E r etwan denckt sein Miithgen zu kühlen/ die Leute nur durch zuhüpeln und zu diffamiren/ der verfehlet des rechten Zwecks und wehre selbst einer Satyrischen Schrifft werth. S9S

Die Exklusion der Aggression aus der Didaktik fogt keinem abstrakten Erziehungsideal, sondern einer vor den Aufklärungspädagogen des 18. Jahrhunderts längst durchdachten Soziodynamik, die noch in ihren psychologischen* Diskussionszusammenhängen zu rekonstruieren sein wird. Bereits Harsdörffers >Frauenzimmer Gesprächspiele< zeihen die spöttisch-tadelnde Satire daher eines grundsätzlichen wirkungsästhetischen Irrtums, »da wir [...] [diejenigen] hassen/ die unserer lachen und spotten [...]. Wir lassen uns durch die Zehren [des Mitleids, C . D . ] und nicht durch das Gelächter bewegen.«" 6 Anstelle satirischen Spottes also das Mitleid: Auf dieser anderen Seite jedoch, durch den Gegenpol zum aggressiven Affekt, wird die Wirksamkeit pädagogischer Kor" 2 Gedanken, Vorschläge und Wünsche II, i, S. 23. 593 Flögel: Geschichte der komischen Litteratur, S.291. 594 Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste IV, S. 133a. m Rotth: Vollständige Deutsche Poesie III, S. 73. 196 Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele I, S. 291 (313).

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rektur nicht weniger bedroht. Denn auch das Mitleid figuriert als affektiver Störfaktor im System der >aufgeklärten< Pädagogik, der den Erzieher in der Ausübung seines Amtes nur behindert. U m die Korrekturfunktion der Erziehungsstrafen zu sichern, warnt daher auch der Erziehungsreformer Basedow in seinem >Elementarwerk< vor dem Affekt des »Mitleidens« nicht weniger als vor denjenigen des Zorns oder der Rache: Wer aus M itleiden die Zucht der Jugend und die Strafe der Lasterhaften versäumt oder verhindert, der vergißt des wichtigeren Mitleidens mit dem menschlichen Geschlechte, welches durch die üble Erziehung und durch die Straflosigkeit der Laster vielen Übeln unterworfen ist und vieler großen Vorteile entbehrt. 597

Die Argumentationsfigur, die der Jugenderzieher bemüht, ist nicht originell: Sie formuliert nur die utilitaristische Rechtfertigung aggressiven Handelns am einzelnen neu im Kontext der Pädagogik, indem sie generelle gegen spezielle ethische Verpflichtungen ausspielt; dasselbe Argument findet sich - bezogen auf die Satire - in mehreren Traktaten vom Graciän-Kommentar August Friedrich Müllers bis zu den einschlägigen Lexikonartikeln bei Walch und Zedier. 598 Weil das »allgemeine[ ] Gesetz« der Menschenliebe ihn gegen das Individuum wie gegen die Gattung verpflichtet, kann der Erzieher - unbeschadet seiner sittlichen Integrität - im Konfliktfall die spezialisierenden Nächstenliebe der generalisierenden Menschheitsliebe hintanstellen; das »allgemeine[ ] Beste[ ] der Menschen« 599 entschuldigt die Gewalt am einzelnen. Der Affekt des Mitleids dagegen hindert die satirische Pädagogik gleich doppelt: Er vereitelt die >Zucht< und sabotiert die Komik, indem er »allem satyrisch Lächerlichen ein Ende« macht.600 Die satirische Didaktik bedarf, wie noch Bergson sagen wird, einer Anästhesie des Gefühls. Es liegt an der semantischen Solidarität der apologetischen Modelle, daß sich hier, wo der aufgeklärte Erzieher Basedow die zielbewußte Strenge der Erziehung gegenüber der Infiltration des Mitleids abzudichten sucht, das Bild des medizinischen Eingriffs wieder einstellt, an dem die >mitleidlose< Härte des Satirikers immer wieder Maß genommen hat. Seinen jugendlichen Lesern erteilt der Pädagoge den Rat: »Hilf den Elenden wie der geübte Arzt den Kranken, zuweilen sogar durch schmerzhafte Mittel.« 601

597

Basedow: Elementarwerk I, S.494 (Hervorhebung im Original). Vgl. Walch: Philosophisches Lexicon, Sp. 2187L, und Zedlers Universal-Lexicon 34. Bd., Sp. 238 (jeweils s. v. >SatyreAndragogik< also - entbehren kann, und zugleich, wie mühevoll dem Satiriker solche literarische Didaktik wird. D e r Kinderbuchautor weiß es wohl: »[D]ie Erwachsenen gehören in die Kategorie der Schwererziehbaren.« 6 ' 5

6.4 6.5

Ebd. S. 120. Ebd. S.119.

179

III. Furor satiricus. Zur Psychologie literarischer Aggression im 17. und 18. Jahrhundert Nicht! gar zu hitzig! Freund! Mein Damon! etwas still! Wenn ein bekränztes Haupt noch sprechen darf u. will. 1

ι.

Poetik und Psychologie

Literarische D e s t r u k t i v k r a f t hat eine subjektiv-psychische, terminologisch n u r in geringem M a ß e fixierte >Innenseitepsychologischen< R e f l e x i o n e n über das P h ä n o m e n literarischer A g g r e s s i o n , die i m 1 7 . u n d 18. J a h r h u n d e r t mit wechselnder G e n a u igkeit u n d im Z u s a m m e n h a n g verschiedener affekttheoretischer B e z u g s s y s t e men, aber auch mit w i e d e r k e h r e n d e n B e s c h r e i b u n g s m u s t e r n immer w i e d e r begegnen u n d im F o l g e n d e n rekonstruiert w e r d e n sollen, übernehmen einen Teil jener prinzipiellen O r d n u n g s f u n k t i o n , die alle theoretischen A n s t r e n g u n g e n in b e z u g auf literarische A g g r e s s i o n integriert: I n d e m sie den idealen s a t i r i s c h e n Charakter< definieren, das T e m p e r a m e n t des Schreibenden, die M o t i v a t i o n u n d den >Leitaffekt< aggressiver Schreibweisen analysieren, w i r d ein klassifizierendes B e s c h r e i b u n g s s y s t e m z u errichten versucht, das literarisch manifestierte A g g r e s s i o n bereits in ihrem intrasubjektiven B e d i n g u n g s z u s a m m e n h a n g einer normativen K o n t r o l l e u n t e r w e r f e n soll. Weil die G e s e l l s c h a f t die n o t w e n d i g e soziale D i s z i p l i n i e r u n g nicht der externen A u f s i c h t durch das institutionalisierte obrigkeitliche G e w a l t m o n o p o l allein anvertraut, sondern zusätzlich auf interner moralischer Selbstbindung des Subjekts insistiert, bildet der G r a d der Interiorisierung sozialer N o r m e n durch den literarischen A g g r e s s o r selbst auch einen B r e n n p u n k t der einschlägigen poetologischen T h e o r i e . D e n n p s y chische Selbstkontrolle u n d institutionell ausgeübte F r e m d k o n t r o l l e sind innere u n d äußere D i s p o s i t i v e derselben zivilisatorischen Stabilisierung,' w e l c h e die >Kosten< der sozialen K o o p e r a t i o n gleichzeitig s o w o h l moralisch internalisiert als auch strafrechtlich externalisiert. V o n hier aus w i r d der G r a d theoretischer A u f m e r k s a m k e i t verständlich, den eine p s y c h o l o g i s i e r e n d e P o e t i k der moralisch-charakterlichen Q u a l i f i k a t i o n des literarischen A g g r e s s o r s zollt: Sie e n t w i r f t das ideale C h a r a k t e r m o d e l l , das d e m Subjekt aggressiven Schreibens im gleichen M a ß e Legitimität v e r s c h a f f t , in d e m es ihm in seiner a n g e n o m m e nen Sprecherrolle in seiner Vorbildlichkeit ähnlich w i r d , u n d es im gleichen

1 1 3

Schönaich: Oden, Satiren, Briefe und Nachahmungen, S.218. Brummack: Zu Begriff und Theorie der Satire, S. 282. Vgl. dazu Elias: Uber den Prozeß der Zivilisation II, S. 332^

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M a ß e moralisch disqualifiziert, in d e m es d a v o n abweicht. D i e f o l g e n d e R e k o n s t r u k t i o n einer >Psychologie< satirischen Schreibens versucht aus der Vielfalt selbst- u n d f r e m d r e f l e x i v e r A u s s a g e n in P o e t i k e n , V o r r e d e n u n d p o e t o l o g i schen Traktaten allmählich das >Gesicht< des literarischen A g g r e s s o r s , v o r allem des Satirikers, freizulegen, w i e es v o m 16. bis ins 18. J a h r h u n d e r t mit i m m e r klarerer K o n t u r i e r u n g gezeichnet w i r d . Dieses charakteristische P r o f i l konstituiert sich über Regelmäßigkeiten v o n A u s s a g e n , N o r m i e r u n g e n u n d A b g r e n z u n g e n innerhalb eines satiretheoretischen Teildiskurses, der als Schnittmenge v o n P o e t i k u n d >Psychologie< b e g r i f f l i c h erst seit d e m 18. J a h r h u n d e r t durch die sprachliche D u r c h s e t z u n g s m a c h t der W ö l f i s c h e n P h i l o s o p h i e in E r s c h e i nung treten kann. 4 Weniger n o c h als die anderen bisher aufeinander bezogenen D i s k u r s e bildet diese disziplinär n o c h keineswegs ausdifferenzierte >Psychologie< einen a u t o n o m e n D i s k u r s , sondern eher eine E n g f ü h r u n g v o n E t h i k , M e dizin u n d A n t h r o p o l o g i e , die bei der B e s c h r e i b u n g des M e n s c h e n einander ergänzen u n d gegenseitig durchdringen. E s bedeutet eine wichtige, hinsichtlich ihrer Implikationen f ü r das ö f f e n t l i c h k o m m u n i z i e r t e Bild des literarischen A g g r e s s o r s noch eingehend z u untersuchende Schwelle im hier rekonstruierten D i s k u r s , w e n n im Verlauf des 18. J a h r h u n d e r t s auch innerhalb der Poetik die normative einer deskriptiven P s y c h o l o g i e z u n e h m e n d Platz macht. V o r allem aber betrachtet der p s y c h o l o g i s c h e s f r e m d - o d e r selbstbeobachtende B l i c k der Literaten und P o e t i k e r die F o r m e n literarischen A n g r i f f s als soziales P h ä n o m e n , in d e m alle Ü b e r t r a g u n g s r i s i k e n k o m m u n i z i e r t e r A g g r e s s i vität sich bündeln. D i e >psychologische< A n a l y s e literarischer A g g r e s s i o n beruht auf spezifischen, historisch variablen B e d i n g u n g e n , deren S k i z z e v o r a n z u stellen ist, b e v o r anhand der p o e t o l o g i s c h - p s y c h o l o g i s c h e n L e i t f r a g e nach der » G e m ü t h s b e s c h a f f e n h e i t « des literarischen A g g r e s s o r s tiefer in das G e f l e c h t w i e d e r k e h r e n d e r A r g u m e n t a t i o n s m u s t e r , T o p o i u n d gegenstimmiger A u s s a gen v o r g e d r u n g e n w e r d e n kann. P s y c h o l o g i s c h e R e k o n s t r u k t i o n e n der sozialen V o r g ä n g e u m aggressive Texte orientieren sich g r o b bis z u m E n d e des 18. J a h r h u n d e r t s an einem M o d e l l literarischer K o m m u n i k a t i o n , das den R e z e p tionsvorgang Leser-Text strikt analog z u r ununterbrochen, persönlichen K o m m u n i k a t i o n L e s e r - A u t o r denkt. » D a s Lesen«, meint Sulzer, »ist ein U m g a n g mit den Schriftstellern; ihre Schreibart hat auf die L e s e r die W i r k u n g , die der persönliche Charakter, den sie ausdrükt, im w ü r k l i c h e n U m g a n g haben w ü r de.« 5 I n d e m das M o d e l l mündlicher K o m m u n i k a t i o n d e m A u t o r v e r w e h r t , hinter seinem Text zu v e r s c h w i n d e n , u n t e r w i r f t es ihn denselben sozialen N o r men, w e l c h e die direkte K o m m u n i k a t i o n z w i s c h e n anwesenden Subjekten re-

4

5

Die Durchsetzung des Begriffs >Psychologie< in der lateinischen Gelehrtensprache verdankt sich Wolff; vgl. seine »Psychologia empirica« (1732). Dazu E. Scheerer: Psychologie. In: HWPh 7, Sp. 1599. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste IV, S. 331b. 181

gieren; weil die Lektüre satirischer Texte ihre Leser effektiv dem Einfluß des literarischen Aggressor aussetzt, muß es die Poetik kümmern, »wer spricht«.6 Während die postmoderistische Theorie nicht einmal dem Leser eine Psychologie attestiert,7 beschäftigt die frühneuzeitliche Poetik die Psychologie des Autors zentral. Der aggressive Akt des Schreibens und der rezeptive der Lektüre sind wie verzahnte Räder eines Transmissionssystems, das die Dynamik von Feindschaft und Bosheit von der produzierenden auf die rezipierende Instanz überträgt. Möglich wird diese sozial riskante Transmission erst durch die rhetorischen Regeln des literarischen Diskurses, der das 17. und 18. Jahrhundert bestimmt und in dem die ganze Virulenz des psychologischen Interesses am Autor- oder Satiriker-Charakter gründet. Weil der Text in einem Kontinuum von Reden und Vernehmen steht, konstituiert sich der literarische Diskurs in der Anwesenheit seines Autors, kommuniziert er über rhetorische Verfahren dessen persönliche Qualitäten und Intentionen. Für eine psychologisch verfahrende Poetik verbirgt sich das schreibende Subjekt daher nicht unter einer opaken Schicht von sprachlichen Zeichen, vielmehr manifestiert es sich ihr in den Zeichen und Texten selbst. Die Feder des Autors ersetzt dessen »abwesendef ] Zunge« unmittelbar als »ein Werkzeug des Hertzens« (dessen natürliche Konstitution übrigens, wie Harsdörffer schreibt, eher zum Bösen als zum Guten tendiert).8 Wenn dagegen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die literarische Kommunikation sich an der Grenze des Geschriebenen bricht und den Text zu einem wechselseitigen >Spiel der Abwesenheiten von Autor und Leser macht,9 muß sich auch das psychologische Interesse, das dem >Charaktertypus< und den Affekten des Schreibenden galt, an die Hermeneutik eines Textsinns verlieren, der sich potentiell von den subjektiven Intentionen und Motiven seines Produzenten befreit.

2. Ethik und Ökonomie des Lachens 2.1 Neustoische Lachaskese und rhetorische Konzessionierung der Komik Im hier zu rekonstruierenden >psychologischen< Aussagensystem verschränken sich von Anfang an zwei Diskurse: derjenige über aggressives Schreiben mit demjenigen über das Komische und die - nach Aristoteles wie Helmuth

6 7

8 9

Vgl. diese Wendung Becketts bei Foucault: Was ist ein Autor?, S. 1 1 . »[L]e lecteur est un homme sans histoire, sans biographie, sans psychologie«. Barthes: La mort de l'auteur, in: Œuvres complètes II, p. 494. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele V I I , S. 74 (14j). Vgl. dazu Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Uber die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn, München, Wien, Zürich 1981, S. 17.

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Plessner - exklusiv humane »Ausdrucksform« 1 0 seiner Empfindung, das Lachen. Denn das Lachen definiert zunächst einen theoriegeschichtlich in der frühneuzeitlichen Diskussion privilegierten Zugang zum Phänomen des Komischen, in dessen Explikation wiederum dessen Aggressivität zutage tritt. Haben die Kontrasttheorien des Komischen seit Hutcheson den Fokus ihrer A u f merksamkeit überwiegend auf eine Inkongruenz in der Struktur des belachten Objekts verlegt," so steht doch deren Beginn bei Hobbes noch eindeutig im Zeichen der Psychologie des lachenden Subjekts. Hobbes' subjektivistische Analyse des Komischen als lustvolles Uberlegenheitsgefühl, das an der kontrastiven Unterlegenheit eines anderen sich nährt, 12 steht jedoch bereits in einer bis auf Piaton zurückreichenden philosophischen Tradition, die mit der theoretischen Explikation des Komischen die Tendenz zu dessen moralischer Denunziation verbindet. 13 Das Gelächter der thrakischen Magd in Piatons >Theaitetos< gilt nicht nur, der neuzeitlichen Komiktheorie entsprechend, einem strukturellen Kontrast, der sich auftut zwischen der Selbstvergessenheit des Theoretikers und dem um die ihm zukommende Aufmerksamkeit betrogenen Realismus, der ihn zu Fall bringt; das Lachen der Thrakerin ist zugleich eines der Ausschließung, der boshaften Freude am Schaden anderer, das in den Dialogen Piatons öfter noch hörbar wird.' 4 Eine semantische und zugleich ethische

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Plessner: Lachen und Weinen, S. 2 1 1 u.ö. Vgl. Wolfgang Preisendanz: Das Komische, das Lachen. In: H W P h 4, Sp. 890. Vgl. Hobbes: Human Nature. In: English Works IV, p. 46 (vgl. das Zitat in der Einleitung). - Auch für Friedrich Georg Jünger ist »die Wirkung des Komischen, der Genuß des Lachens [...] untrennbar verbunden mit einem Bewußtsein der Überlegenheit« (Jünger: Über das Komische, S. 72).

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Für Heinrich Schneegans, der den Begriff des Grotesken gleichfalls »vom psychologischen Standpunkte aus« entwickeln will (Schneegans: Geschichte der grotesken Satire, S. 15), repräsentiert das Hobbessche Überlegenheitsgefühl »eine Form des Egoismus«, so daß das darin begründete Lachen »auf der sittlich untersten Stufe des Komischen« stehe: »Es findet sich bei rohen, ungebildeten Leuten, oder bei Kindern, in denen die höheren sittlichen Ideen noch nicht entwickelt sind.« (S. 22Í.)

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Piaton: Theaitetos, i j } c 6 - i y $ b S . - Vgl. ebenfalls Piaton: Philebos, 48a8-c6, oder das ironische Ende des Dialogs >ProtagorasPoliteia< 388 und 606. Es paßt zu dieser Denunziation, daß in Piatons Akademie das Lachen verboten gewesen ist und Piaton selbst in der athenischen Komödie als ein »Miesepeter« dargestellt wurde; vgl. dazu Bremmer: Witze, Spaßmacher und Witzbücher, S. 27. - Aristoteles differenziert dagegen zwischen der statthaften Ironie des freien Mannes und dem >Possenreißer< (Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1 1 2 7 b 1128b). Zum Lachen der Thrakerin vgl. vor allem Hans Blumenberg: Der Sturz des Protophilosophen - Zur Komik der reinen Theorie, anhand einer Rezeptionsgeschichte der Thales-Anekdote. In: Das Komische. Hg. von Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning. München 1976 (Poetik und Hermeneutik VII), S. 1 1 - 6 4 . Theodor Lipps trennt dagegen die Schadenfreude völlig von der Komik ab (Lipps: Psychologie der Komik I, S. 392): »Die Schadenfreude hat, so oft sie auch sonst zur Erklärung der Komik verwandt worden ist, mit Komik nichts zu thun.« Auch das

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Zweideutigkeit zwischen Heiterkeit und Aggressivität, die das intentional >welthaftedenunziatorische< Erklärung desambiguiert indes die Semantik, indem sie das vieldeutige >Lachen< auf aggressives >Verlachen< reduziert. Die Ambivalenz des Lachens provoziert solche klassifizierenden Vereindeutigungen in derselben Weise, wie sie bezüglich der Zweideutigkeit von >horazischer< Heiterkeit und >juvenalischer< Aggressivität von Seiten der normativen Satiren-Poetik unternommen werden. Eine psychologisch-moralische (und vereindeutigende) Ordnung wird jedoch bereits in der Außerungsform allein gesucht, im Modus - der individuelle >Lachweise< - und der Frequenz des Lachens: Als sichtbares Indiz lassen sie den verborgenen Charakterzustand des Subjekts dechiffrierbar werden (>zeige mir, wie du lachst, und ich sage dir, wer du bistWer den Armen verspottet, verhöhnt dessen Schöpfer; und wer sich über eines andern Unglück freut, wird nicht ungestraft bleiben.< So Joachim Ritter: Uber das Lachen. In: Luzifer lacht. Philosophische Betrachtungen von Nietzsche bis Tabori. Hg. von Steffen Dietzsch. Leipzig 1993, S. 9 2 - 1 1 8 , hier S.94f·

' 6 Die Einebnung der Differenz zwischen >Lachen< und >VerlachenFrauenzimmer Gesprächspielen< (III, S. 28 5 (305)) eindeutig markiert, ist für die Einheit von Definition und Diskreditierung in einer langen Tradition der Theorie des Komischen charakteristisch. 17 Vgl. dieses Begriffspaar bei Dupréel: Le problème sociologique du rire, p. 214; zit. nach Hans Robert Jauss: Zum Problem der Grenzziehung zwischen dem Lächerlichen und dem Komischen. In: Das Komische. Hg. von Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning. München 1976 (Poetik und Hermeneutik VII), 8 . 3 6 1 - 3 7 2 , hier S.368. 18 Vgl. Plessner: Lachen und Weinen, S. 225. 184

Gelächter ausstößt, ist beständig, beharrlich, klug, hellköpfig, verschlossen, treu, arbeitsam [...]. Wer mit spöttischem Munde lacht, ist anmaßend, falsch, hartnäckig, jähzornig, lügnerisch, treulos.«'9 Für Hobbes verriet gleichfalls das häufige, verächtliche Gelächter den schwachen Geist; der große dagegen, seines Eigenwertes gewiß, will den anderen vor Verachtung schützen.20 Den Spötter trifft das Verdikt einer Lachpathologie, die sein habitualisiertes Gelächter mit moralischer Defizienz assoziiert und daher eine Lachökonomie postuliert, deren Sparsamkeitsgesetz sich normativ auch auf satirisches Schreiben auswirkt: Es begrenzt den Anteil der Komik am poetischen Text oder sogar an der literarischen Produktion überhaupt. Ein solches lachökonomisches Prinzip ist es auch, in dessen Namen Christian Weise im »Kurtzen Bericht vom politischen Näscher< (1680) seinen Abschied von der Satire nimmt; der gelehrte Autor reduziert den >Scherz< auf den knappen Anteil, den die übergeordneten Maßstäbe von Angemessenheit und ethisch-rationalem >Nutzen< ihm zuweisen: »Wer immer schertzt/ der thut zu viel.«21 Der Volksmund sekundiert: »Durch lachen und knarren, erkennt man den Narren.«22 Die quantitative Lachfrequenz ist dabei jedoch nur das gleichsam statistische Merkmal eines rhetorischen Gesetzes, das dem Lachen und der Komik keine Autonomie zugesteht und die delectado nur in den engen Grenzen konzessioniert, welche die sittliche utilitas ihr zieht. Rollenhagen erklärt beispielhaft: »Denn nie des Schreibers meinung war/ Das er wolt lachen ohne lahr.«23 Die rhetorische Ökonomie im 17. Jahrhundert subordiniert das Lachen strikt einer lehrhaften Wahrheit als probates Mittel der Maximierung ihrer Wirkungschancen - ganz anders als etwa die aristotelische Ethik, derzufolge das Lachen einfach in der Aquidistanz zu den Extremata einer penetranten >Possenreißerei< und einer trockenen >Steifheit< sein Maß fand, das weiter keiner Reglementierung bedürftig und vom freien gebildeten Mann souverän verinnerlicht war.24 Die rhetorischen Regeln des Schreibens binden das Lachen im Syntagma des Horazischen ridentem dicere verum, des mutmaßlich meistzitierten klassischen Topos der europäischen Satire-Apologie.2' Sie suchen so dem Risiko des >unbeherrschtenLachenFroschmeuseler< von Rollenhagen (Widmungsgedicht an Heinrich Ranzaw, unpag.): »mit lachen die warheit sagen.« 185

tigen Natur überantwortet.26 Die rhetorische Funktionalisierung und Ökonomisierung des Lachens aber wird Christian Weise vom europäischen Neustoizismus des 17. Jahrhunderts diktiert. Denn vor dem Hintergrund der affektrepressiven stoischen Tradition27 wird die Immunisierung gegen das Lachen schlechthin, freilich auch die gegen Jammer und depressive Gedrücktheit, zur charakterlichen Auszeichnung: Ihre Leitfigur ist Cato, der - wie Christus - niemals gelacht habe.28 Im Wirkungsradius der neustoischen Ethik figuriert daher der Lachasket Cato durch das ganze 17. und 18. Jahrhundert hindurch als advocatus diaboli der Satire, gegen den Legitimität und >Nutzen< satirischer Komik begründet werden müssen.29 Das Verfallen des Subjekts in unbeherrschtes Lachen zerstört seine im Ideal der Apathie angezielte Autonomie, die es gegenüber allen lebensweltlichen Kontingenzen sicherstellen soll. Denn das eruptive Lachen mit seinem konvulsivischen leiblichen Ausdruck ist der Reflex eines Affiziertwerdens durch die Turbulenzen der außergeistigen Umwelt, die es kraft Vernunftherrschaft aus dem moralischen Haushalt des Subjekts auszuschließen gilt.30 Das Lachen des Stoikers dagegen ist symbolisch festgelegt, es dokumentiert - gleichsam auf einer reflexiven Metaebene oberhalb der Spontaneität des Gelächters - eine unangreifbar-souveräne Distanz, in der er selbst

26

Vgl. dazu etwa Dietmar Kamper, Christoph Wulf: Der unerschöpfliche Ausdruck. Einleitende Gedanken. In: Lachen - Gelächter - Lächeln. Reflexionen in drei Spiegeln. Hg. von Dietmar Kamper, Christoph Wulf. Frankfurt/M. 1986, S. 7 - 1 4 , hier S. 1 1 ; Plessner: Lachen und Weinen, S. 273f.

27

Vgl. dazu Günter Abel: Stoizismus und Frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik. Berlin, N e w Y o r k 1978. Vgl. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele VIII, S.585 (626); zu Christus vgl. Frauenzimmer Gesprächspiele I, S.289 ( 3 1 1 ) , sowie unten Kapitel IV. 1.1 dieser A r beit. Vgl. stellvertretend für viele weitere Belege Scherffer: Der Grobianer und Die Grobianerin, Vorrede »An den embsigen Leser« (unpag.): »Und runzelt jhr die Stirn' hierob jhr Sauer-töpffe/ D u satsam grämmel-volck der ernsten Cato-köpffe?« Weise: Die Drey Klügsten Leute in der gantzen Welt, Vorrede (unpag.): »wiewohl sollte sich ein Cato finden/ der sich vor lustigen Erzehlungen in etwas entsetzte«. Liscow: Unpartheyische Untersuchung, S. 76. Ebenso auch bei Gracián: Der kluge Weltmann,

28

29

30

S.57· Allerdings impliziert die (schon kraft der Physis >unreiner< Vernunftwesen) unvermeidbare Verstrickung menschlicher Angelegenheiten ins 'Niedrige« auch eine H u manisierung des Lachens als menschliches Monopol, als humane Ausdrucksform im aristotelischen und plessnerschen Sinn. Zu diesem Aspekt der stoischen Anthropologie vgl. Karl Bormann: Zur stoischen Affektenlehre. In: Pathos, Affekt, Gefühl. Hg. von Ingrid Craemer-Ruegenberg. Freiburg, München 1981, S. 89; zur Humanität des Lachens vgl. auch Ritter: Das Lachen, S. 1 1 1 . Ritters zweifelhafte Bemerkung, daß die Götter nicht lachen - vgl. das >homerische Gelächter« der olympischen Götter! - , scheint freilich durch die stoische Behauptung der Lachaskese Christi bestätigt zu werden.

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von keinem aggressiven Spott mehr erreicht wird: Er ist der Metagelos - er »lacht des Lästerers.« 31

2.2 Die Suspektheit des satirischen Charakters Die moralische Verdächtigkeit des Lachens überträgt sich auf die Charakterologie des Satirikers, in der die Vorbehalte gegenüber dem Lachen wie gegenüber dem aggressiven Spott kondensieren. Bereits Aristoteles, dessen anthropogenetische Zweiteilung der Poesie eingangs für den Leitbegriff der >poetischen Destruktivkraft< in Anspruch genommen wurde, stellt sich die Herkunftsfrage der beiden poetischen Ursprungsformen, der (satirischen) »Rügelieder« und der »Hymnen oder Preislieder«, als Charakterfrage. Die mimetische Dichtung hat sich alternativ »nach den Charakteren aufgeteilt, die den Autoren eigentümlich waren«;' 2 die »niedrige Denkungsart« 33 des Satirikers, der das menschlich Schlechte zum Vorbild seiner dichterischen Mimesis nimmt, rangiert dabei als Eigenschaft der »Gewöhnlichere[n]« eindeutig hinter jenen charakterlichmoralisch »Edleren«, welche »gute Handlungen und die von Guten nach[ahmten]«.34 Seither haftet der Anfangsverdacht menschlich-ethischer Defizienz dem Satiriker an, und der Versuch sittlicher Exkulpation, der - je nach anthropologischer Hintergrundtheorie - Neutralisierung oder moralischen Nobilitierung des satirischen Affekts, bestimmt nicht zum wenigsten die satiretheoretische Argumentationstradition auf ihrer psychologischen Seite. Indem der Satiriker attackiert, bloßstellt, dem Gelächter preisgibt, widmet er sich vorzugsweise dem Niedrigen, Verächtlichen am Menschen, das er nach (poetischen)

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Seneca in Lohenstein: Epicharis (1665). In: Lohenstein: Römische Trauerspiele, S. 251. - Vgl. auch die folgenden, von Sokrates handelnden Verse: [...] Auch Socrates verkehrt In Lachen und in Schertz/ so/ wenn Xantipp ihm fluchet/ Als wenn in offnem Spiel ein Narr ein Gauckler suchet Ihn stachlicht aufzuziehn. Auch in Harsdörffers >Frauenzimmer Gesprächspielen< wird Seneca als Gewährsmann für eine vergleichbare Technik offensiver Spottabwehr zitiert: »Ich erinnere mich/ was dort Seneca schreibet/ daß/ so einer merket/ er werde mit dieser oder jener Sache vexieret werden/ so bald soll er solchem vorkommen/ und ihm die Wort gleichsam auß dem Mund nemen/ den befährlichen Schimf vermeiden und vermindern.« (Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele III, S. 28 jf. (305^).) - Der >Metagelosweltlichen< Referenten, sondern potentiell auch von der moralisch nicht minder fragwürdigen Natur des Sprechers: »qualis vir, talis oratio«, heißt es bei Seneca.42 Der poetologische Diskurs wählt genau diesen Zugang zur psychischen Natur des literarischen Aggressors, wenn er analytisch in seine Motivationen eindringen will.

3. Die Renaturalisierung der Gewalt 3.1 »Imperet hoc natura«. Die Naturnotwendigkeit der Satire bei Horaz, Persius und Juvenal Bevor jedoch die Poeto-Psychologie des 17. und 18. Jahrhunderts näher rekonstruiert werden kann, muß von der antiken Tradition her die argumentationslogische Stelle bezeichnet werden, die diese >Natur< in der Debatte um Recht und Unrecht aggressiven Schreibens einnimmt. Von derselben Stelle nämlich geht auch die apologetische Stimme aus, mit der sich der Geltungsanspruch der Satiriker offensiv Gehör verschafft. Es ist die >Natur< des Schreibers als souveräne Legitimationsgröße, die bereits durch die Selbstreflexion der römischen Verssatiriker als apologetischer Topos eingeführt wird: 43 »Poetae nascuntur, non fiunt«.44 Plinius verteidigt seine Lust an satirischen Schriften mit dem lakonischen Bekenntnis seiner Menschlichkeit: »homo sum«; 45 »quid faciam?« fragt Persius wie auch Horaz, der sich durch die Natur selbst mit der Waffe satirischer Dichtkunst ausgestattet weiß. 46 Zur Topik dieser Argumentationsweise gehört ein formales Arrangement, die Konstruktion einer diskursiven Rechtfertigungssituation, die den Satiriker zwingt, auf die Einwände eines mehr oder

41 42

43

44 45 46

Vgl. Bühler: Sprachtheorie, S.28. Seneca begründet damit den Topos von der abbildhaften Repräsentation des Seelenzustands in der Rede: »Imago animi sermo est: & qualis vir, talis oratio.« Zit. nach Garzoni: Piazza universale, 88. Diseurs, S. 509. In Frage kommen vor allem die >Ars poetica der Satire< bei Horaz (Sat. 1,4) sowie Satiren Juvenals (Sat. I, 1) und Persius' (Sat. 1). Zedlers Universal-Lexicon 28. Bd., Sp.980 (s. v. >PoesieStaunenswarmenniederen< Stoff. Unentschieden läßt er jedoch, ob der defizitäre Charakter die negative S t o f f w a h l determiniert oder der niedere Stoff den Charakter deformiert; ob also die Negativität des Objekts aufs Subjekt abfärbt oder dessen Negativität sich im gewählten O b j e k t nur reflektiert, »die Fratze sich in der Fratze spiegelt«. 1 3 4 D e r Satiriker darf sich nicht gemein machen mit dem satirisierten Stoff. W o die »Geißel der Satire« in die H ä n d e eines geistlosen Autors fiele, der ihrer vernichtenden Aggressivität nichts positiv entgegenzusetzen hat, wären die von ihr angerichteten G e schmacksverletzungen »greulich und schrecklich«.' 3 5 Im Wahlverhältnis des Satirikers zum niederen Stoff setzt Schiller auf den Primat des Charakters, dessen überlegene Qualität das Resultat ästhetischer Erziehung sein soll. Schiller läßt dabei, schon weil es ihm eigentlich nicht um die Exkulpation des Satirikers zu tun ist, eine Verteidigungsstrategie außer acht, die Johann Heinrich Waser wenige Jahrzehnte zuvor benutzt, um den Satiriker von dem Vorwurf zu freizusprechen, der aus der Wahl des negativen Stoffs auf seinen Charakter zurückschließt. Es ist die objektive Gegebenheit des

»Abge-

schmackte[n] und Lächerliche[n]« in einer sittlich konfusen Welt, die letztlich den Satiriker entlastet: F ü r die Materie, die er satirisch darstellt, zeichnet er nicht verantwortlich, weil, wie Waser in seiner Vorrede zu Swifts >Satyrischen und ernsthaften Schriften< (2. A u f l a g e 1760) argumentiert, »der Satyricker es nicht macht; das Laster hat es: E r zeichnet es nur aus, und stellt es in seiner Blosse dar.«' 3 6 D i e Satire wird als transparentes Medium (wie im Motiv des >Narren-SpiegelsschematisierterUngereimtheiten< als Referenz einer rein ästhetischen, ethisch neutralen Perzeption chiffriert sich eine inkongruenztheoretische Bestimmung des Komischen, die von Grosch, Ramler und Eschenburg an denselben Terminus geknüpft wird. 1 ' 9 Doch der psychologische consensus omnium des 18. Jahrhunderts, der die ethische und emotionale Indifferenz des komischen Spottes postuliert, ist theoriegeschichtlich beheimatet in einer von Aristoteles her datierbaren Denktradition, die das Komische allein den unbedeutenden, harmlosen Fehlern ohne gravierende Schadenseffekte (hamartémata) zuordnet, über die sich die heitere Intellektualität der Satiren und Komödien souverän erhebt. 140 N u r demgegenüber, was weder Abscheu noch Mitleid erregt und so das Gemüt exaltiert, ist die intellektuell bestimmte Distanz der Heiterkeit möglich. Die Zuordnung von Komik, ethischer Distanz und Intellektualität, die sich vom affektiv engagierenden Gegenstand fernhält, stabilisiert sich über das 18. Jahrhundert hinaus bis in die romantische, von dem Hegelianer Friedrich Theodor Vischer vertretene Ästhetik des Humors, der die dezidierte Einseitigkeit des satirischen Standpunkts überwinden will: Im gleichen Maße, in dem die eigentlich »unpoetische Grundstimmung« des »Unwil-

psycholinguistischem Aspekt Norbert Groeben, Brigitte Scheele: Produktion und Rezeption von Ironie. Bd. I: Pragmalinguistische Beschreibungen und psycholingustische Erklärungshypothesen. Tübingen 1984/85 (Tübinger Beiträge zur Linguistik. Bde. 263 und 279), S. 3off. 138

1,9

140

Vgl. Grosch: Die Regeln der Satyre aus ihren Gründen abgeleitet, S. 135; den h ö f l i chen Scherz< identifiziert Grosch mit der Ironie (S. 136). Zu den »Ungereimtheiten« als Hauptgegenstand der Satiriker vgl. Grosch: Die Regelnder Satyre aus ihren Gründen hergeleitet, S. 8 5 ; Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, S. 1 1 7 . Vgl. Aristoteles: Poetik, S. 17. - Dazu Lamping: Ist Komik harmlos?, S. 86ff.; Rainer Warning: Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie. In: Das Komische. Hg. von Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning. München 1976 (Poetik und Hermeneutik VII), S.279-333, hier S.285; auch Berger: Erlösendes Lachen, S.248: »Allgemein wird jede Komödie dann tragisch, wenn wirkliche Schmerzen, wirkliches Leiden Einlaß in sie finden.«

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lens, der Bitterkeit gegen die Welt« besonnenem, »objektivem Überblick« Platz macht, nähere die Satire sich der >freien KomikLob der Geld-SuchtHumoristennatürlichen< Umgebung der Seele - und nicht, wie bei Gottsched, im abstrakten System der Moral - zur Geltung kommen läßt. Weil bereits seine Definition über die sittliche Zulässigkeit oder Unzulässigkeit satirischer Aggression von psychologischer Seite her mitentscheidet, gibt der affektiv-energetische Impuls satirischen Schreibens der satiretheoretischen Reflexion ein Zentralproblem auf. Jener impulsas ad scribendum, nach dem die psychologische Theorie der Satire in immer neuen Anläufen und mit unterschiedlichen zeitgenössisch-theoretischen - bald humoralistischen, bald empirisch-psychologischen - Zurüstungen fragt, gehört indes ursprünglich der theologisch-poetologischen Inspirationslehre an, welche die profane Dichtung wie die kanonischen Texte der biblischen Propheten und Apostel auf eine transsubjektiv-numinose Quelle bezog.'66 Schon die barocke Poetik verhandelt die durchaus fragwürdige Alternative, ob durch den >Furor< des Dichters nun wirklich der inspirierte Geist oder doch nur die »Thorheit« des Narren spricht. So unterscheidet etwa Tommaso Garzoni, dessen abschließender, ausführlicher und offenbar pro domo ausgetragener >Discurs< in seiner >Piazza Universale< von den Poeten - besonders >von den Epitaphien und Pasquillenschreibern< - handelt und Grimmelshausen zum Vorbild des poetologischen Kapitels im >Satyrischen Pilgram< dient.'67 Denn neben dem »Himlischen 166

167

Vgl. G . Hornig: Inspiration. In: H W P h 4, Sp. 401-403; zur poetologischen Inspirationslehre vgl. v.a. Eike Barmeyer: Die Musen. Ein Beitrag zur Inspirationstheorie. München 1968 (Humanistische Bibliothek. Reihe I, Bd. 2). Grimmelshausen: Satyrischer Pilgram, S. 89-95. ~~ Vgl. Garzoni: Piazza universale, 153. Diseurs, S . 7 1 7 - 7 3 1 . - Z u r Abhängigkeit des Grimmelshausenschen Kapitels von Garzoni vgl. bereits J . H . Schölte: Zonagri Diseurs von Waarsagern. Ein Beitrag zu unserer Kenntnis von Grimmelshausens Arbeitsweise in seinem Ewigwährenden Calender mit besonderer Berücksichtigung des Eingangs des Abentheuerlichen Simplicissimus. Amsterdam 1921 (Verhandelingen der Koninklijke Akademie van Wetenschappen te Amsterdam. Afdeeling Letterkunde); Eberhard Mannack: Unvorgreifliche Gedanken über die Möglichkeit, unsere Kenntnisse von Barockautoren zu vertiefen. Demonstriert am Beispiel von J . C . von Grimmelshausen. In: Respublica Guelpherbytana. Wolfenbütteler Beiträge zur Renaissance-und Barockforschung. Fest-

222

G a i s t « 1 6 8 gibt es auch n o c h j e n e n k l i n i s c h e n F u r o r , » w e l c h e r auß B l ö d i g k e i t deß H i r n s entstehet/ u n d A b e r w i t z / o d e r T h o r h e i t genennet w i r d t « . l 6 ? F ü r d e n p o e t i s c h e n E n t h u s i a s m u s , der seit d e m Mittelalter - bei C l a u d i a n u s - ' 7 ° auf die F o r m e l des furor poeticus

gebracht w i r d , hat der S p o t t der Satiriker d a h e r meist

n u r abfällige D e u t u n g e n übrig: Sie r e k l a m i e r e n ihn - w i e C h r i s t i a n W e r nicke -

? l

f ü r substanzlose, formelhaft-leblose poetische Erfindungen oder

a b e r - w i e G o t t f r i e d W i l h e l m Sacer in seiner s p r i c h w ö r t l i c h g e w o r d e n e n P o e t i k - P a r o d i e >Reime dich, o d e r ich f r e s s e dich< - f ü r j e d e r a r t i d i o s y n k r a t i s c h e V e r r ü c k t h e i t e n u n d P a r o x y s m e n V e r n u n f t - u n d regellosen S c h r e i b e n s . » W e n n der F u r o r P o ë t i c u s , das ist/ die P o e t i s c h e R a s e r e y e i n e m ankörnt/ so geust das G e m ü t h e w u n d e r l i c h e Sachen aus: w e l c h e die P o e t e n / w e n n sich die G e m ü t h s H i t z e ein w e n i g gelegt/ k a u m selber v e r s t e h e n « . ' 7 2 D i e >noble< p l a t o n i s c h e

Ma-

nia als d i v i n a t o r i s c h e I m a g i n a t i o n s g a b e u n d I n s p i r a t i o n s f ä h i g k e i t 1 7 3 w i r d auf ihren k o n k u r r i e r e n d e n p a t h o l o g i s c h e n S i n n a s p e k t r e d u z i e r t . D i e rein p s y c h o logische, a n t i m e t a p h y s i s c h e E r k l ä r u n g u n d Z u r ü c k w e i s u n g des p o e t o l o g i schen T o p o s v o m M u s e n w a h n s i n n , seine d e f i n i t o r i s c h e E n t z a u b e r u n g mit d e m r e d u k t i o n i s t i s c h e n G e s t u s des »nichts alsgöttlichen< Mania des Dichters in Piatons >Phaidros< war im Mittelalter nicht bekannt. Grimmelshausen (Satyrischer Pilgram, S. 89) bezieht sich dagegen nach Garzoni auf ein »Buch de furore Poetico« Piatons (!). Vgl. Wernickes Epigramm »Furor Poeticus«, in: Wernicke: Epigramme, S. 327Í.; vgl. auch seine kritische Bemerkung gegen Lohenstein in der Vorrede, S. 122, sowie die Selbstironie des Epigrammatikers: »Ist endlich die Poesie eine Raserey, so ist des Verfassers seine eine der kürtzsten« (S. 129). Reinhold [d.i. Gottfried Wilhelm Sacer]: Reime dich/ oder ich fresse dich, S. 6of. - Dazu auch Markwardt: Geschichte der deutschen Poetik I, S. 202; zur ähnlichlautenden Kritik bei Thomasius vgl. Markwardt, ebd. S. 269. Vgl. Thomas Rütten: Demokrit - lachender Philosoph und sanguinischer Melancholiker. Eine pseudohippokratische Geschichte. Leiden, N e w York, K.0benhavn, Köln 1992 (Mnemosyne. Supplementum 118), S. 78f. - Rütten verfolgt den Doppelsinn des >krankhaften< und >göttlichen< (Dichter-)Wahnsinns bei Piaton (Phaidros, 244, S. 79Í.) auf vorsokratische Quellen zurück. - Zu parallelen germanischen und altnordischen Vorstellungen vom gottbegeisterten Dichter vgl. außerdem Grimm: Deutsche M y thologie II, S. 751. Vgl. so Zedlers Universal-Lexicon 28. Bd., Sp. 1 0 1 1 (s. v. >Poetische RasereyBegeisterung< in seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste< zeigt,' 76 durch die antimythologischen Intentionen der (Spät-)Aufklärung. Daß der poetische furor, wie »jede außerordentliche Antreibung oder Hemmung des Geblüts«, keineswegs durch die Gegenwart des Numinosen, seiner Muse, evoziert wird, sondern auf ganz natürliche Reize reagiert: den Wein, die Geselligkeit, die Liebe oder den Zorn,' 77 sagt der Poetiker über die vom »glücklichen Wahn« noch berauschten Köpfe der Poeten hinweg dem aufgekärten Philosophen »ins Ohr«.' 7 8 Der furor des Satirikers aber ist eine Frucht jenes >ZornsHasses< oder der >Wutstrafenden< Satire als eine chemische Verbindung von »Haß und Laune«,' 80 Canitz spricht vom »Zorn«,' 8 ' Gottsched von »Haß« oder »Zorn«,' 82 Jean Paul vom »moralische[n] Zorn« der Satiriker;' 83 noch für Friedrich Georg Jünger steht die »bösartigste, satirisch schärfste, unversöhnlichste Form« des Komischen, die satirische Karikatur, im affektiven Modus des Hasses;' 84 Haeckers >Dialog über die Satire< erörtert gleichfalls den »Haß«. 185 In der scheinbaren Regellosigkeit des promiscúen Sprachgebrachs ist die Differenz zwischen habitualisierten Leische Raserey, Poetische Enthusiasterey, Furor Poeticus [...] ist wohl nichts anders als die durchdringende und lebendige Würckung der Imagination und des Ingenii [...]«. Ebenso s. v. >PoesieHandbuch der Seelenmalerei< sie zeigt, weil sie den »Mahlern das einzige Hilfsmittel [sind], wodurch sie auf den Gemählden den Affect [...] auszudrücken vermögen«; 200 sie prägen auch die Ikonographie der Satire. 201 Es ist diese erfahrungsgesättigte, intensive phänomenologische Beschreibung, die sich den psychologischen Analysen der Satiretheorie mitteilt. Während die psychologisch-physiologische Affektenlehre der Mediziner den Zorn aus dem Zusammenspiel menschlicher Affekte und physiologischer Prozesse isoliert und präzise analysiert, spürt auch die Satirepsychologie ihn in seinen Legierungen mit anderen Affekten, Dispositionen und »Gesinnungen« auf: als primäre psychische Größe in der subjektiven Genese satirischen Schreibens, über der sich die normative Poetik als Uberbau nachträglicher Rationalisierungen erhebt.

6.2 Die Grausamkeit im Herzen des Satirikers So präpariert Ramler in seiner 1762/63 in zweiter Auflage erschienenen Einleitung in die schönen Wissenschaften« aus den Schichten der menschlichen Seele den eingekapselten »Keim« heraus, der das literarische Verhalten des Satirikers zu einer prima facie destruktiven Richtung bestimmt. Was den »Geist der Satirenschreiber gemeiniglich beseelt«, unterscheide ihn in seiner Art von allen anderen Repräsentanten der literarischen Zunft - vom Philosophen in seiner (stoischen) Ataraxie wie vom idealistisch-enthusiastischen Rhetor und von den Bewunderung heischenden Poeten, aber genauso vom nihilistischen Misanthropen:

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Vgl. die sehr ähnliche Beschreibung bei Scheidemantel: Die Leidenschaften als Heilmittel betrachtet, S. Zückert: Medicinische und moralische Abhandlung von den Leidenschaften, S.9. Zückert gibt auch eine physiologische Erklärung für die »wunderbare mechanische Uebereinstimmung des Gesichts mit den Affecten«: Das Gesicht ist »dem Gehirn und dem Ursprung der Nerven am nächsten [...], folglich [sind] desselben Muskeln reizbarer und empfindlicher [...]« (ebd.). Le Brun charakterisiert den Zorn so: »Die Augenbrauen steigen und sinken, das Auge ist immer in Bewegung und funkelnd. Die Stirn ist gerunzelt, und zieht zwischen den Augen stehende Falten. [...] die Winkel des Mundes sind zuweilen etwas geöffnet, und bilden ein unwilliges grausames Lachen.« (Le Brun: Handbuch der Seelenmalerei, S. 54. Vgl. dazu ebd. Tab. X I I , Fig. 2-4: Zorn; Tab. X I I I , Fig. 3 u. 4: Verzweiflung, Wut). Für die allegorische Darstellung des Zorns knüpft Le Brun an die traditionelle allegorische Darstellung des Furors an: »Zorn, wird [...] mit drehendem Angesichte, mit Dolch und Fackel in Händen, und zuweilen wie die Furien mit Schlangenhaaren angedeutet.« (Ebd. S. 102.) Vgl. damit Hederich: Gründliches Mythologisches Lexikon, Sp. 1 1 3 2 ; Zedlers Universal-Lexicon 9. Bd., Sp.2333 (s. v. >FurorEncyclopédie< w ö r t l i c h v o r f o r m u l i e r t . 2 0 3 A b e r die p s y c h o l o g i s c h e P o i n t e dieser A n a l y s e des satirischen T y p u s liegt in ihrer r ü c k s i c h t s l o s e n D i s q u a l i f i k a t i o n aller n o r m a t i v e n D e f i n i t i o n e n , mit d e n e n n o c h die P o e t i k e n G o t t s c h e d s o d e r E s c h e n b u r g s seinen C h a r a k t e r umstellen. D i e A g g r e s s i v i t ä t des Satirikers gelangt z u einer A u t o n o m i e , die sich g e g e n ü b e r den m o r a l i s c h - p r o t r e p t i s c h e n , gleichsam >offiziellen< Z w e c k e n der Satire v ö l l i g verselbständigt, ja diese n u r n o c h z u m V o r w a n d ihres d y n a m i s c h e n A u s a g i e r e n s n i m m t . W ä h r e n d e t w a n o c h H a r s d ö r f f e r seine A n a l y s e des k u r z e n , z o r n i g e n F u r o r s mit einer (im R a h m e n d e r >Gesprächspiele< u n w i d e r s p r o c h e n e n ) A p o l o g i e der A f f e k t h a n d l u n g v e r k n ü p f t - » w i e ein R a s e n d e r / s o d e r V e r n u n f t b e r a u b t ist/ leichtlich entschuldiget w i r d ; also ist auch ein Z o r n i g e r / w e l c h e r mit e i n e m solchen M e n schen v e r g l i c h e n w i r d / auch leichtlich z u e n t s c h u l d i g e n « - , 2 0 4 k o m m t es der sez i e r e n d e n B e o b a c h t u n g d e r Satirikerseele bei J a u c o u r t u n d R a m l e r auf solch tolerante E n t s c h u l d i g u n g des A f f e k t s o f f e n b a r gar nicht m e h r an. Sie f i x i e r t rein

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Ramler: Einleitung in die Schönen Wissenschaften III, S. 150. Vgl. Jaucourt: Satyre. Encyclopédie T. 14, S. 697-703, hier S. 700a/b: »II n'est pas difficile [...] de dire quel est l'esprit qui anime ordinairement le satirique. C e n'est point celui d'un philosophe qui, sans sortir de sa tranquillité, peint les charmes de la vertu & la difformité du vice. Ce n'est point celui d'un orateur qui, échauffé d'un beau zele, veut réformer les hommes, & les ramener au bien. C e n'est pas celui d'un poëte qui ne songe qu'à se faire admirer en excitant la terreur & la pitié. C e n'est pas encore celui d'un misanthrope noir, qui haït le genre humain, & qui le haït trop pour vouloir le rendre meilleur. C e n'est ni un Héraclite qui pleure sur nos maux, ni un Démocrite qui s'en moque: qu'est-ce donc? Il semble que, dans le cœur du satyrique, il y ait un certain germe de cruauté enveloppé, qui se couvre de l'intérêt de la vertu pour avoir le plaisir de déchirer au-moins le vice. Il entre dans ce sentiment de la vertu & de la méchanceté, de la haine pour le vice, & au moins du mépris pour les hommes, du désir pour se venger, & une sorte de dépit de ne pouvoir le faire que par des paroles: & si par hasard les satyres rendoient meilleurs les hommes, il semble que tout ce que pourroit faire alors le satirique, ce seroit de n'en être pas fâché.« - Zum Chevalier Louis de Jaucourt (1704-1780), einem der wichtigsten Beiträger zur >EncyclopédieEncyclopédie< vgl. auch Brummack: Zu Begriff und Theorie der Satire, S. 324. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele VII, S. 378 (454).

228

deskriptiv ihre emotionalen M o t i v e in o f f e n e r D i s s o n a n z mit den p o e t o l o gisch-sozialethischen N o r m e n , w e l c h e sonst ihre aggressive D y n a m i k unterd r ü c k e n o d e r wenigstens mäßigen müssen, und weigert sich - nicht anders als die p s y c h o l o g i s c h e E m p i r i e v o n M o r i t z ' >Magazin< gegenüber einer F o r d e rung

Schillers

-

»diese

Dißonanzen

gleichsam

wieder

in

Harmonie

auf[zu]lös[en].« 2 ° 5 D i e Poetik der Satire w i r d damit auf einen rein deskriptivanalytischen >Realismus< umgestellt: D e r normative Z w e c k , u m dessentwillen die Satiretheorie der A u f k l ä r u n g den aggressiven A f f e k t des Schreibers allenfalls zu tolerieren bereit ist, degeneriert z u m Z u f a l l s p r o d u k t eines p s y c h o l o gisch eigengesetzlichen, kathartischen E n t l a d u n g s v o r g a n g s , der den F u r o r der Satirikerseele i m M e d i u m der D i c h t u n g ableitet. J a u c o u r t s und R a m l e r s P s y chologie steht im Z e i c h e n eines rationalitäts- und legitimationsskeptischen D e s i l l u s i o n i e r u n g s p r o g r a m m s , das auch die P r o v o k a t i o n s k r a f t der p s y c h o a n a lytischen »Aufklärung* am B e g i n n des 20. J a h r h u n d e r t s ausmachen w i r d . Ihre poetologischen Implikationen aber sind im satiretheoretischen R e f l e x i o n s k o n text, der sie integriert, u n d i m apologetischen Traditionskontext, v o r d e m sie sich abhebt, d e n k b a r weitreichende. D e n n sie radiert die Trennlinie z w i s c h e n Satire u n d Pasquill - d e m v o n » P r i v a t - A f f e c t e n « 2 0 6 u n d persönlicher » R a c h sucht u n d Feindseligkeit« 2 0 7 motivierten Schreiben - mit derselben U n b e k ü m mertheit aus, mit der sie bereits >Straf-< und »Rachgedichte« gleichsetzt. 2 0 8 J a u courts u n d R a m l e r s A n a l y s e steht quer z u r satiretheoretischen Legitimitätsk o n z e p t i o n , die jede persönliche A f f e k t i v i t ä t aus der satirischen P r o d u k t i o n bei Strafe einer poetologischen A u s b ü r g e r u n g auszuscheiden sucht. In dieser ethischen D e c k u n g s l o s i g k e i t , entblößt v o n den schützenden Schichten der L e gitimationen, steht die Aggressivität des Satirikers indes auch im K o n t e x t der deutschen Satirereflexion nicht nur bei R a m l e r / J a u c o u r t da, w i e der bekannte A p h o r i s m u s Lichtenbergs belegt: Die erste Satyre wurde gewiß aus Rache gemacht. Sie zu Besserung seines NebenMenschen gegen die Laster und nicht gegen den Lasterhaften zu gebrauchen, ist schon ein geleckter abgekühlter zahm gemachter Gedanke. 2 0 ' D i e Satiretheorie, die sich nicht zuletzt mit p s y c h o l o g i s c h e n K a t e g o r i e n unablässig u m die Trennung der legitimen Satire v o n illegitimen F o r m e n literarischer A g g r e s s i o n b e m ü h t , verwischt diese G r e n z e n immer wieder. D i e klare normative Struktur, w e l c h e die poetologisch-ethischen N o r m e n in der Seele

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207

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Schiller: Brief an Caroline von Beulwitz, 1 2 . 1 2 . 1788. In: Werke 25, S. 160. Hunold (Pseud. Menantes): Galante, Verliebte/ Und Satyrische Gedichte I, Vorrede. Uber den ersten Theil (unpag. [S. III]). Vgl. etwa Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, S. 1 1 7 . Vgl. auch den Vorbericht des Herausgebers in Wernike: Uberschriften, S . X X X . Lichtenberg: Sudelbücher D, Nr. 140. In: Schriften und Briefe I, S. 252. 229

des Satirikers verankert, w i r d als bloß zweitrangiges A r r a n g e m e n t marginalisiert, unter d e m die p s y c h o l o g i s c h e Skepsis den irreduziblen K e r n k a u m berechenbarer M o t i v e entdeckt - eine unmittelbar persönliche A f f e k t i v i t ä t , die hartnäckig ihrer M o r a l i s i e r u n g trotzt. D i e p s y c h o l o g i s c h e A u f k l ä r u n g , die L i c h t e n b e r g w i e R a m l e r / J a u c o u r t auf den Satiriker applizieren, hat das n o r mierende M o m e n t bereits aus sich ausgeschieden, welches das Interesse am C h a r a k t e r u n d den M o t i v e n des Satirikers ursprünglich motiviert. N i c h t w i l l k ü r l i c h w u r d e soeben die B e z i e h u n g hergestellt, die diese p s y c h o logische D e m o n t a g e der moralischen R a t i o v o r a u s w e i s e n d mit der P s y c h o a n a lyse v e r k n ü p f t ; denn die psychologisch-legitimationsskeptische Desillusionierung hinsichtlich des literarischen A g g r e s s i o n s m o t i v s , w i e sie J a u c o u r t s E n t d e c k u n g der unter einer D e c k s c h i c h t moralischer Rationalisierungen v e r b o r genen »cruauté« im H e r z e n des Satirikers ausmacht, setzt sich bis in p s y c h o analytisch geprägte Satiretheorien des 20. J a h r h u n d e r t s fort. A m u n g e w ö h n l i chen O r t einer >Geschichte der erotischen Kunst< definiert etwa E d u a r d F u c h s die Satire apodiktisch als eine F o r m des Z y n i s m u s , die sich gleichsam nachträglich durch geschichtsphilosophische »Weltanschauung« u n d »höchste[ ] sittliche[ ] T e n d e n z « legitimiere. 2 1 0 M i t J o s e p h B e n t l e y s R e k o n s t r u k t i o n einer s a d i s t i s c h e s R h e t o r i k der Satire bei S w i f t , Voltaire oder H u x l e y , die ihr O p f e r durch die R e d u k t i o n auf seine bloße Materialität deshumanisiere, ist die B e grifflichkeit p s y c h o a n a l y t i s c h e r T h e o r i e b i l d u n g schließlich ausdrücklich erreicht. 2 1 1 W i e in der skeptischen D i s k r e d i t i e r u n g der moralischen A r r a n g e ments, die sich bereits bei R a m l e r / J a u c o u r t im 18. J a h r h u n d e r t beobachten ließ, erscheinen auch f ü r Bentley moralische M o t i v i e r u n g e n nur m e h r als legitimistische U b e r f o r m u n g e n einer selbstzweckhaft-aggressiven Triebhaftigkeit: »on the unrationalized level, b o t h in action and in method, satire is sadism.« 2 1 2 D i e ethische N o r m a t i v i t ä t , v o n der die Satiretheorie unablässig handelt, rationalisiert demnach nur ex post facto,213

w a s in den Tiefenschichten der P s y c h e längst

nach deren eigenen G e s e t z e n entschieden w o r d e n ist.

1,0 211

212 213

Fuchs: Geschichte der erotischen Kunst, S. 392L Joseph Bentley: Satire and the rhetoric of sadism. In: The Centennial Review 1 1 (1967), p. 387-404, hier p. 389^ - Bentley gibt im Rekurs auf Freud, Krafft-Ebing sowie Baudelaire eine »formula of sadism«: »humanity is distorted by being deprived of all its uniquely human attributes; mind, soul, spirit, and intellect are abandoned and man remains as a purely physical structure in the crucible of its own raw, animal force.« - »Reduction to flesh is the rhetoric of sadism.« (P. 394.) - Zum »Sadism« als Motivation des Satirikers (wiederum mit Bezug auf Swift) vgl. auch Feinberg: The Satirist, p. 5 iff. Bentley: Satire and the rhetoric of sadism, p. 404. Vgl. auch Frances Russell: Satire in the Victorian Novel, zit. bei Feinberg: The Satirist, p.25.

230

6.3 D a s G e s i c h t des Satirikers. P h y s i o g n o m i k in K a r l Philipp M o r i t z ' >Magazin z u r Erfahrungsseelenkunde< E s ist der bei J a u c o u r t und R a m l e r durch »kaltblütige[ ] B e o b a c h t u n g « , w i e M o r i t z sie programmatisch der p s y c h o l o g i s c h e n Selbstreflexion abverlangt, 2 ' 4 aus den Falten des menschlichen H e r z e n s herauspräparierte K e i m , der a u f grund der p r o v o z i e r e n d e n moralischen Neutralität seiner B e s c h r e i b u n g das soziale A b s t o ß u n g s m o m e n t erstmals präzisierbar macht, das die K o m m u n i k a tion des Verbalaggressors mit seinem P u b l i k u m belastet. D e n n die im G r u n d e menschenfeindliche, z u r R a c h e geneigte Aggressivität beeinträchtigt o f f e n b a r jede B e z i e h u n g , die der >satirische< C h a r a k t e r z u den anderen a n k n ü p f e n kann - am deutlichsten natürlich dort, w o er mit unverhüllten Z ü g e n o f f e n hinter d e m Text hervortritt. M o r i t z ' >Magazin< behandelt diese A b s t o ß u n g 1 7 8 7 in einem Beitrag zur >Seelennaturkunde< unter d e m Titel der »unwillkürliche[n] A b n e i g u n g gegen gewisse Menschen. - M o r a l i s c h e A n t i p a t h i e « . 2 1 ' Z w a r mißtraut der Beiträger der P h y s i o g n o m i k Lavaters u n d ihrem >prahlerischen< A n spruch, im Schattenriß die intellektuelle u n d moralische Qualität der P e r s o n präzise zu entziffern, ebenso sehr w i e einer p s y c h o l o g i s c h zuverlässigen G e setzmäßigkeit in der Spontaneität des » p h y s i o g n o m i s c h e n G e f ü h l s « ; und dennoch w e n d e t sich sein e m p r i s c h - p s y c h o l o g i s c h e r Blick auf d e m historischen H ö h e p u n k t der p h y s i o g n o m i s c h e n M o d e ebenfalls d e m G e s i c h t zu - als d e m vermuteten Schauplatz des C h a r a k t e r s , als verschlüsseltem Text einer seelenerk u n d e n d e n L e k t ü r e , deren U n v e r z i c h t b a r k e i t auch die K r i t i k e r der P h y s i o g n o m i k bereitwillig zugestehen. 2 ' 6 Seine p s y c h o l o g i s c h e A n a l y s e beschränkt die postulierte Lesbarkeit des menschlichen Gesichts denn auch v o r allem auf eine >PathognomikMagazins zur Erfahrungsseelenkunde< sein Interesse an den gestalthaften Ursachen unwillkürlicher Sym- und Antipathien. 21 ' Damit aber berührt er genau den Punkt der spontanen Zuschreibung moralischer Qualitäten aufgrund äußerer Merkmale, der den entschiedenen Widerspruch des Göttinger Physikers und Satirikers Lichtenberg hervorruft. Dessen physiognomische Skepsis hat denn auch die Diagnose des Erfahrungsseelenkundlers knappe zehn Jahre früher bereits gleichsam im Voraus »widerlegt«: »Es gibt Leute, denen die Satyre selbst aus den Augen zu winken und zu spötteln scheint, und die dabei so unschuldig sind wie die Lämmer und ebenso stumpf.« 220 Dennoch ist es diese wissenschaftsgeschichtlich wichtige Stelle des psychologischen Diskurses, an der die bisher rekonstruierten Aussagen zum »satirischen< Typus sich in der disziplinären Einheit der »empirischen Psychologie« verdichten - und an der zugleich sein Gesicht zum ersten Mal gezeigt wird in der detaillierten Beschreibung aller seiner Züge. Zusammen mit der sympathetischen Reaktion, die sie evozieren, hat der anonyme Beiträger zu Moritz' »Magazin« sie exakt fixiert. Es ist offenbar das Gesicht eines »abominablen Menschen«, wie Lavaters Physiognomik sie mit bemerkenswerter Mitleidlosigkeit, aller ethischen Zweckbestimmung der Physiognomik zur »Menschenliebe« zum Trotz, diagnostiziert. 221 Und es ist diese bis in einzelne Züge hinein übereinstimmende Physiognomie, die ungefähr gleichzeitig der (selbst vermutlich an Schizophrenie erkrankte) österreichische Bildhauer Franz Xaver Messerschmidt seiner Charakterbüste des »Satirikers« gegeben hat (Abb. 4); dieser bis zu seinem frühen Tod in Preßburg zurückgezogen lebende, »excentrische[ ] Mensch«, 222 der seinen Zeitgenossen wahlweise als ein »Lavater der Plastik«

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222

Moritz: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde V, 1, S. 38. Vgl. Lavater: Physiognomische Fragmente, S. 5 5 f. Lavater nähert sich den Gründen solcher unwillkürlichen Sympathien und Antipathien empirisch, indem er beide Wirkungen menschlicher Physiognomien durch die Reaktionen eines zweijährigen Kindes belegt. Lichtenberg: Uber Physionomik. In: Schriften und Briefe III, S. 282. Dazu Peter von Matt:... fertig ist das Angesicht. Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts. München, Wien 1989, S. 162. Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1 7 8 1 , S. 404. - Nicolai selbst hat an dem Exzentriker Messerschmidt vor allem psychologisches Interesse: Er sucht an ihm »zu erforschen, wie die Ideen in seinem Kopfe eigentlich zusammen hingen.«« (S.408.)

2 2

3

Abb.4· Franz Xaver Messerschmidt: Der Satinkus. (Österreichische Galerie, Belvedere, Wien)

oder »Hogarth der Bildhauerei« gilt, 223 gestaltet seine physiognomischen Studien nach eigenen Grimassen vor dem Spiegel, wie sein Besucher Friedrich N i colai in der Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781 < berichtet. - Die in den Zügen des Satirikers sich abzeichnende A u s prägung maliziöser 224 Lust, eine Art physiognomisches Warnbild, ein Stigma allzeit gelegenheitsuchender Boshaftigkeit, bewirkt nach der erfahrungsseelenkundlichen Analyse in Moritz' >Magazin< eine Abstoßung oder »unwillkürliche Abneigung gegen den Satyriker«, die selbst jenes affirmierende Gelächter entwertet, mit dem sein Witz die Zuhörer seinem »Herzen« zu verbinden sucht. In den sich kreuzenden Blicken des Satirikers und seines Publikums begegnet die Bosheit der Furcht, der latenten Angst, die Aggressivität des bloßstellenden Blicks könnte sich ihm selbst bedrohlich zuwenden. Heimlich empören sich unsere Gefühle gegen ihn, und wir fühlen uns in Absicht seines Characters gemeiniglich um so viel mistrauischer, je treffender und beissender seine Gedanken sind. Wir glauben nicht, daß ein solcher Mann unser vertrauter Freund seyn könne, und wir fühlen es gleichsam im Voraus, daß wir in einer nähern Verbindung mit ihm oft seine giftige Zunge erfahren [...]. Vornehmlich aber fürchten wir uns, daß sein spähendes Auge an uns Fehler und Schwachheiten entdecken dürfte, die wir gern verbergen möchten, und wir zweifeln nicht, daß er uns in den Augen Anderer ohne Zurückhaltung lächerlich machen wird, sobald ihn seine spöttische Laune überfällt. 22 ' Die psychologische Analyse, die hinter dem beifälligen Lachen die latente Angst des anderen aufspürt, der die eigene Demontage antizipiert, dokumentiert letztlich das Scheitern der kommunikativen Strategie des komischen Alibis, deren reibungslosen Mechanismus Ramler so subtil rekonstruiert hatte. Das Bündnis, das der Satiriker mit seinem Publikum schließt, ist lose geknüpft, die Auflösung bei Abschluß des satirischen >Lachvertrages< aufgrund eines un-

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224

2

Emil Pirchan: Mimische Studien des Franz Xaver Messerschmidt. In: Jahrbuch der Gesellschaft für Wiener Theaterforschung XII, Wien i960, S. 134-137, hier S. 13 jf. Zu Messerschmidt (1736-1784) vgl. auch die psychoanalytische Untersuchung bei Ernst Kris: Die ästhetische Illusion. Phänomene der Kunst aus der Sicht der Psychoanalyse. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Peter Schütze. Frankfurt/M. 1977, S. 116-144. Kris deutet Messerschmidts Grimassen als eine Regression in apotropäische Magie zur Abwehr der >bösen Geister*, die sein paranoider Geist - »die betrogene Phantasie des armen M.« (Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, S. 417) - sich einbildet. Die Typisierungen seiner Charakterköpfe (wie im Falle des >SatirikersKritik und Satyre< formuliert; 226 auch die sittliche Verfeinerung und Veredelung seines Gegenübers drängt ihn ab in eine sozial isolierte Position, um die das Abrücken der Geselligen einen Bannkreis der Unberührbarkeit zieht. Der Satiriker zahlt den Preis der Einsamkeit f ü r den aus verbaler Aggression gezogenen maliziösen Lustgewinn. Die >kaltblütigPoetik< folgt; sie macht sie unter neuen, außermoralischen Reflexionsbedingungen nur verständlicher. 227

7. Zur Psychodynamik der satirischen Kommunikation 7.1 Die psychologische Leseranweisung als paratextuelles Regulativ Die sozialen Störungsmomente satirischer Kommunikation, die der anonyme Beiträger zum erfahrungsseelenkundlichen >Magazin< in der Physiognomie des Satirikers zu identifizieren sucht, lenken den Blick auf die subjektiven Bedingungen einer Interaktionsproblematik, die kommunizierter satirischer Aggression unabhängig vom (mündlichen oder schriftlichen) Medium anhaftet. Die ideale, v o m Schreiber erstrebte psychagogische Struktur der satirischen K o m munikation wird durch die Grundbegriffe der Rhetorik erläutert: Seine protreptische Intention 228 bedient sich des Kanals der Emotionen im Zeichen des rhetorischen movere, um den Transfer moralischer >IndignationGestriegelten Rocken-Philosophia< freimütig von sich »selbst/ daß/ wenn ich mir zuweilen G e d a n c k e n mache/ als sässe ich dem lieben G O t t im Schose/ ist mir wohl der Teufel am nechsten; weil ichs aber weiß/ muß ich durch G O t t e s Beystand desto vorsichtiger seyn.« 2tieferen< Ebene der Psychologie oder - mit dem zeitgenössischen Begriff - der Affektenlehre zu begründen. Ebenso werden die ästhetischen Kriterien, mit deren Hilfe die moderne Satiretheorie die Trennung von Satire, Polemik und Pasquill hinsichtlich der >Indirektheit< ihrer Verfahren bestimmt, 271 von der traditionellen Satirepsychologie des 17. und 18. Jahrhunderts auf rein subjektive Dispositionen des Schreibenden hin hintergangen, welche die legitime Aggressivität des Satirikers von allen illegitimen Antriebsmomenten trennt. Aber diese Psychologie vertieft sich nicht in die verborgene Beziehung zwischen manifestem Verhalten und seinen Ursprüngen, sondern bewegt sich gleichsam dicht unter der Oberfläche des Verhaltens, indem sie das begriffliche Netz ihrer affekttheoretischen Unterscheidungen darunter ausspannt; bis in die Aufklärung bleibt auch die wissenschaftliche Psychologie eine Psychologie nicht des Unbewußten, sondern des Bewußtseins. 272 Daß gerade satirisches Schreiben ein zuverlässiges Zeugnis über das schreibende Subjekt gibt, ist eine Annahme, die sich offenbar weit über das 18. Jahrhundert hinaus hält. Noch Tucholsky konstatiert: »Nirgends verrät sich der Charakterlose schneller als hier, nirgends zeigt sich fixer, was ein gewissenloser Hanswurst ist, einer, der heute

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272

Hunold (Pseud. Menantes): Die Beste Manier In Honnéter Conversation, S.45 (4. Maxime). Vgl. dazu Kapitel II. 1 dieser Arbeit. Nach Brummacks satiretheoretischer Grundformel etwa unterscheiden sich nichtsatirische literarische Aggressionsformen vor allem in verfahrenstechnischer Hinsicht, nicht in Hinsicht auf ihren Aggressionscharakter. Vgl. E. Scheerer: Psychologie. In: H W P h 7, Sp. 1602.

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den angreift und morgen den.«273 Der Anonymität, die nicht zuletzt zu den juristischen Merkmalen des Pasquillanten zählt, hinter der sich der literarische Aggressor verbirgt und die ihn so in seiner Illegitimität paradoxerweise gerade kenntlich macht, entspricht auf psychologischer Ebene eine Publizität, in der die Motive des Lästerers für den beobachtenden Blick offen zutage liegen. Obwohl die >chaotische< Aggressivität des Pasquillanten in der reinen Negation von Ordnung besteht, präsentiert sie sich der Psychologie in einer Positivität, deren begriffliche Bestimmung sich aus den Ordnungsschemata der Affektenlehre ergibt. Deren uneinheitliche Terminologien bilden ein charakteristisches Wortfeld verwandter - synonymer und halbsynonymer - Begriffe, auf die die Aussagen der Poetiken und Vorreden satirischer Texte zu beziehen sind. Aus dem Verhalten des Pasquillanten abstrahieren die Affektenlehren eine zwanghafte Neigung zu »Scurrilität«,274 zu »Lästerungen und Verleumdungen«,275 »Muthwillen und Beleidigung«,276 die »Lust [...] einen andern mit höhnischen Stichelreden durch[zu]ziehen«,277 die habituelle Tendenz zu »diffamiren«,278 zur literarischen Denunziation aus »verderbtem Gemutile«279, »verdorbenen Neigungen«,280 »Privat-Passion«2'1 oder »Rachgier«.282 Ein motivationaler Kern präpariert sich aus der Fülle der begrifflichen Umschreibungen heraus, der den zentralen Charakterfehler des literarischen Spötters bezeichnet: seine normlose, im Prinzip gegenstandsindifferente, allenfalls privat motivierte >Schmähsuchtkrankhafte< Dispositionen der Leidenschaft, die Placcius allesamt in seiner moralischen Nosologie verzeichnet. 28 ' In den gruppierenden Verzeichnissen von Tugenden und Lastern, welche die frühneuzeitlichen Affekttheorien anlegen, strukturiert sich die Psychologie moralisch, die Moral psychologisch im selben Maße, in dem sich deskriptiv-anthropologische und präskriptiv-ethische Theorie in stoischer Tradition verschränken. Die Differenz von aristotelisch-humanistischer und neustoischer Ethik wird für die Bestimmung der seelischen Hauptstrebungen, welche sie einbetten, kaum relevant.286 Im Aufriß einer differenzierten seelischen Topographie, einer Landkarte der Seele, welche den Ort des Lasters, seine Nachbarschaften und Affinitäten genau verzeichnet, hat die psychologische Analyse ihr Ziel erreicht. Denn auf ihr sind die Orientierungspunkte guter und schlechter Haltungen und daraus folgender Handlungen exakt markiert, an denen sich die moralische Integrität des Charakters stabilisiert. Sie zeichnet so den Weg vor, auf dem die Person mit ihrer sittlichen Vernunft identisch sein kann. Dennoch lassen sich verbundene, indes dem Typ nach verschiedene Leitdifferenzen in der Charakterisierung des literarischen Aggressors ausmachen, welche die >psychologische< Dimension der poetologischen Rede strukturieren. Es handelt sich einerseits um die anthropologische Differenz von >vernünftiger< versus >affektiver< Steuerung des Schreibenden, der andererseits die politische Unterscheidung zwischen >privaten< und >allgemeinen< Motiven des Schreibens korrespondiert. Aber beide entsprechen einander so, daß die Differenz von >Allgemeinheit< und >Privatheit< in die von >Vernunft< und >Affekt< gleichsam eingelagert ist. Die Leitunterscheidung von >Vernunft< und >Affekt< verdankt sich dem zweiwertigen, traditionell stoischen Ordnungsmodell einer Anthropologie, die das Verhältnis von individueller Sinnlichkeit und verallgemeinerbarer Vernunft einem binären normativen Code gemäß als inneres Herrschaftsverhältnis postuliert; und die möglichen Motivationen des Schreibenden verteilen sich regelhaft auf verschiedene Seiten dieser Bipolarität. »Privat-Affecte[ ]« 287 und persönliche »Rachsucht« 288 unterwandern die Herrschaft der Vernunft, weil sie für eine illegitime Verselbständigung des affektiven Antriebs stehen: Der »Lästerer« wird »bloß aus Neid, Rachgier oder andern Gemüthsbewegungen angetrieben«. 28 ' Der Satiriker muß hingegen

28

> Placcius: Die Sitten-Artzney-Kunst, S. 166-169. Dazu Schäfer: Moral und Satire, S. 71. 287 Hunold (Pseud. Menantes): Galante, Verliebte/ Und Satyrische Gedichte I, Vorrede. Uber den ersten Theil (unpag. [S. III]). 288 Vgl. etwa Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, S. 1 1 7 . 289 Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst II, S. 173. 286

246

nach Gottsched geradezu ein Philosoph, ein »Weltweiser« 2 ' 0 sein, dessen selbstreflektierte Rationalität ihn gegen die Verführungsgewalt egoistischspontaner Affekte abschirmt. Die genuine Motivation durch allgemeinverbindliche Normen, die der Satiriker literarisch verteidigt und die ihn zugleich als eine Art distanzierender Filter in ein abstrakt-unpersönliches Verhältnis zu seinem Objekt setzen, wird beim illegitimen Aggressor durch ein >privates< Verhältnis ersetzt, das keinerlei Distanzmomente birgt und daher dem Exzeß aggressiver Energien Vorschub leistet; genau jenem Exzeß, der die Verhältnis- und Rechtmäßigkeit des satirischen >Prozesses< aufhebt. 29 ' Das Risiko des Umschlags satirischer Gerechtigkeit in »partheyischfe]« Wut begründet denn auch Rabeners grundsätzliches Verdikt über die »persönliche Satire«: »Aus allgemeiner Menschenliebe fangen wir an, seine Fehler zu tadeln, und aus Eigenliebe fahren wir fort, ihn ohne Barmherzigkeit niederzureissen, so bald er Muth genug hat, sich zur Wehre zu setzen.« 192 Typus und Struktur von Rabeners Argument sind bemerkenswert: Er skizziert ein psychologisches slippery slope-Argument, das im persönlichen Verhältnis zwischen Satiriker und Objekt die schiefe Ebene erblickt, auf der die moralisch-motivationale Ordnung ins Gleiten gerät. Eine Affektdynamik, deren kritischer Ansatzpunkt noch im sanktionierten Schutzbereich allgemeiner Sittlichkeitsprinzipien liegt, läßt die persönlich-literarische Auseinandersetzung unweigerlich zu einer prinzipienvergessenen Animosität gravitieren. Der >private< Affekt korrumpiert jedoch den Gerechtigkeitssinn, erniedrigt die >objektive< Norm zum bloßen Vorwand seiner Agitation. Die affektive Trübung des moralischen Blicks macht die Legitimität der Satire zunichte, die auf o b jektiven Gerechtigkeit gründet. Wo die Laster und Fehler der satirisierten Person den rational ungenügend reflektierten »Affecten [des Satirikers, C . D . ] nur zum Prätext dienen müssen«, 29 ' hat die »Moralität der Satyren« 294 die Grenze überschritten, die ihr in Zedlers >SatyreStrafe< vgl. Kapitel II. 1. 3 dieser Arbeit. Rabener: Satiren I, S.25. Zedlers Universal-Lexicon 34. Bd., Sp.237 (s. v. >SatyreSatyreAdagia< des Erasmus verzeichnen bereits eine Cicero-Stelle, die Archilochos' Namen adjektivisch als Synonym boshafter Beleidigung und Bissigkeit verwendet, und erläutern: »Archilochia edicta contumeliosa vocat ac virulenta. Archilochi poetae mordacitas vulgo celebratissima fuit.« (Erasmus: Adagiorum chiliades iuxta locos communes digestae, Sp. 1213 (im Index fälschlich: 1413). - Auch Grimmelshausen: Satyrischer Pilgram, S. 94f., nennt den Namen des Archilochos (neben Hipponax) als Inbegriff eines Pasquillanten. Vgl. den Artikel »Archilochus« bei Bayle: Historisches und critisches Wörterbuch I, S. 300a (Anm. (G)).

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freisetzende Selbst- und Fremdbindungsverlust, durch den Aristoteles in der >Nikomachischen Ethik< den Possenreißer charakterisiert: »Er schont weder sich noch andere, wenn er nur die Leute zum Lachen bringen kann, und sagt Dinge, dergleichen ein feiner Mann nicht sagen, zum Teil nicht einmal anhören würde.« 3 0 ' Was bei Bayle lediglich als unerklärliches Paradoxon bestehen bleibt: die Möglichkeit eines gegen das Subjekt der Rede selbst sich wendenden Spottes, wird erst in Karl Philipp Moritz' >Magazin zur Erfahrungsseelenkunde< zum Gegenstand

einer psychologischen

Selbst-Analyse.

Solche

eindringliche

Selbstbeobachtung und Autopsie ist die privilegierte Methode der empirischen Psychologie des 18. Jahrhunderts, die sich am methodologischen Vorbild der Physik orientiert. 310 Im 1787 erschienenen fünften Band des Magazins bekennt ein anonymisierter Beiträger die »gewöhnlichefn] Seelenkrankheiten« eines >Gesundenzähneentblößenden< Lachen nur das spirituelle Lächeln überbrigläßt, hat das christliche Lachverbot eine außerchristliche Parallele. Daß solche Diziplin rigide gefordert wird, mag freilich ein Indiz proportional entsprechender >Lachfreude< als verdeckte >Rückseite< und motivierender Anlaß der Lachverbote sein. "3 Im Alten Testament erscheint das Lachen Sarahs, der späten Gebärerin an der Seite Abrahams, als Lachen des Unglaubens, ein A f f r o n t gegen Gott (1 Mose 18, 1 2 - 1 5 ) , der ihr jedoch wie Abraham verziehen wird; ihrer beider Sohn heißt Isaak - >Gott lachtChristus hat nie gelacht?« Überlegungen zu einer Theologie des Lachens. In: V o m Lachen: Einem Phänomen auf der Spur. Hg. von Thomas Vogel. Tübingen 1992, S. 106-128, hier S. 1 1 if.; Werner Thiede: Das verheißene Lachen. Humor in theologischer Perspektive. Göttingen 1986, S. 34L — Zur Legitimation des moderaten Lachens im Mittelalter Suchomski: >Delectatio< und >Utilitas«, S. 15; Steidel: Das Lachen im alten Mönchtum. 14

Basilius: Die Mönchsregeln, 17. Frage, S. I2JÍ. " Ebd. S . 1 2 5 . 16 Vgl. etwa Origines: Klagelieder. In: Werke 3, S. 239; dazu Steidel: Das Lachen im alten Mönchtum, S. 272f.

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d ö r f f e r - u n d selbst n o c h im 1 9 . J a h r h u n d e r t v o n B a u d e l a i r e - z u s t i m m e n d zitiert. 1 7 Z w a r i m p l i z i e r t die I n k a r n a t i o n C h r i s t i als v o l l k o m m e n e m e n s c h l i c h e r N a t u r ( c a r n e m et animami)

logisch auch die risibilitas,

Annahme w e l c h e die

- i m g a n z e n Mittelalter selbstverständlich a n e r k a n n t e - aristotelische A n t h r o p o l o g i e z u e i n e m D e f i n i e n s des H u m a n e n e r h o b . 1 8 D e n n o c h zählt die mittelalt e r l i c h - m o n a s t i s c h e T h e o l o g i e sie mehrheitlich - v o n A u g u s t i n ü b e r Basilius bis B e r n h a r d v o n C l a i r v e a u x u n d H u g o v o n St. V i c t o r - z u d e n D e f e k t e n m e n s c h l i c h e r N a t u r (defectus

corporis

et animae).

Weil C h r i s t u s diese S c h w ä -

c h e n nicht a n n a h m , w i e das S c h w e i g e n der E v a n g e l i e n v e r r ä t , blieb auch das L a c h e n u n e r l ö s t . ' 9 D e r c h r i s t l i c h - b a r o c k e S t o i z i s m u s , der aus der b e d r o h l i c h e n K o n t i n g e n z äußerer, p o l i t i s c h - s o z i a l e r u n d innerer, a f f e k t i s c h e r Verhältnisse d e n ethischen Schluß einer w e i t e s t g e h e n d e n v e r n u n f t h a f t e n I m m u n i s i e r u n g g e g e n die >körperliche< S i n n l i c h k e i t zieht, stellt i m 1 7 . J a h r h u n d e r t die L a c h a s kese C h r i s t i n e b e n d e n e b e n s o u n e r s c h ü t t e r l i c h e n E r n s t des H e i d e n C a t o . 2 ° A u c h in dieser sittlichen R e s e r v e g e g e n ü b e r der s i n n l i c h - l e i b v e r b u n d e n e n K o -

17

Vgl. Basilius, ebd. - Johannes Chrysostomus: Homilien über das Evangelium des heiligen Matthäus I, S.97 (6. Homilie). - Grimmelshausen: Der seltzame Springinsfeld, S. 19: »[...] es hat der H E r r Christus unser Seeligmacher selbst etlichmahl gewainet; aber daß er iemahls gelacht/ wird in H. Schrifft nirgends gefunden«. - Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele I, S. 289 ( 3 1 1 ) : »Der H E r r Christus hat offtermals geweinet/ niemals gelacht«. - Baudelaire: De l'essence du rire. In: Œuvres complètes II, p. 5 27. - Zum Problem auch Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 422; Jaques Le G o f f : Lachen im Mittelalter. In: Kulturgeschichte des Humors. Von der Antike bis heute. Hg. von Jan Bremmer und Herman Rodenburg. Aus dem Englischen übersetzt von Kai Brodersen. Darmstadt 1999, S. 43-56, hier S. 46; Thiele: Das verheißene Lachen, S. 37-41 und 1 1 7 ; Walter Dirks: Der Spaß und das Kreuz. In: radius, Heft 4 (Dezember 1970), S. 23-30; Bohren: Predigtlehre, S. 243.

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Aristoteles: Über die Glieder der Geschöpfe III, 10, S. 125 (673a). - Petrus Cantor folgert im 12. Jahrhundert daher explizit, Christus müsse gelacht haben können, weil er wahrer Mensch gewesen sei. Vgl. dazu und zur mittelalterlichen Bewertung des Lachens Suchomski: >Delectatio< und >UtilitasChristus hat niemals gelacht?Delectatio< und >UtilitasContinuatio des abentheuerlichen SimplicissimiSpringinsfeld< - 2 4 richtet sich gegen die Verselbständigung des Vergnügens gegenüber d e m sittlichen N u t z e n u n d die dadurch b e w i r k t e M i ß a c h t u n g der heilswirksamen Z e i t ö k o n o m i e - eine F e h l r e z e p t i o n , gegen die der A u t o r seinen satirischen Text nachdrücklich in Schutz n e h m e n will. Seine h e r a u s f o r d e r n d e Schärfe erhält das theologische U r teil über nutzlose, s e l b s t z w e c k h a f t e K o m i k u n d verschwendete Zeit durch eine v o n Tertullian u n d A u g u s t i n u s maßgeblich beherrschte R e i h e theologischer Verdikte, doch bedarf es o f f e n b a r zeitgenössischer Texte, w e l c h e die traditionelle K o m i k - und Unterhaltungsfeindlichkeit in G r i m m e l s h a u s e n s G e g e n w a r t w i r k s a m w e r d e n lassen. Tatsächlich läßt sich in der zeitlichen N ä h e G r i m m e l s hausens auch ein (wenig später publizierter) Text anführen, dessen p o e t o l o g i sche Ü b e r l e g u n g e n sich engagiert ins Z e i c h e n des M i s o g e l o s stellen: 2 ' G o t t h a r d H e i d e g g e r s >Mythoscopia Romantica< v o n 1698, eine der ersten theoretischen E r ö r t e r u n g e n der in der A n t i k e noch v o r b i l d l o s e n u n d daher noch theoretisch unbearbeiteten P r o s a f o r m des R o m a n s im deutschsprachigen R a u m . 2 6 D i e Schrift des reformierten Z ü r c h e r Geistlichen H e i d e g g e r diskutiert das Satirische freilich nicht u m seiner selbst willen, sondern nur als eine oftgebrauchte »Entschuldigung« der R o m a n e . D a ß sie einen » A b s c h e w « v o r den Lastern er-

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26

Vgl. dazu Karl Rahner: Anima naturaliter Christiana. In: 2 L T h K 1, Sp. 564^ Vgl. Ammann: Vorbild und Vernunft, S. 38. Grimmelshausen: Simplicissimus Teutsch, S. 472. Vgl. Grimmelshausen: Springinsfeld, S. 18 und 22. Unter dem Titel >Philogelosder LachfreundIbrahim ou l'illustre Bassa< (1641) >Clélie< (1654) und ihre »Conversations sur divers sujets< (1680-1692), Elisabeth Praschs »Reflexions sur les romans< (1684) sowie vor allem - als Opponent auch für Heidegger - Pierre Daniel Huets >Traité de l'origine des romans< (1670). - Konkret anlaßgebend für Heideggers Auseinandersetzung mit dem Roman war vermutlich Lohensteins >Arminiuswie sie nun einm a l - nach dem Sündenfall - >istVon Unzucht aber und jeder Art Unreinheit oder Habsucht soll bei euch nicht einmal die Rede sein, wie es sich für die Heiligen gehört.« - Ein anderes Pauluswort (1 Tim. 4, 7), das »Grundwort der Reformierten« überhaupt, führt als radikale Verwerfung aller Fiktionen die Zitatenreihe Heideggers an: »Der verruchten/ und Alt-vettlischen Fabeln entschlage dich/ übe dich aber selbst zur Gottseligkeit« (Heidegger: Mythoscopia romantica, S. 14; dazu Walter Ernst Schäfers Nachwort ebd. S. 347). Heidegger: Mythoscopia romantica, S. 180. 263

Die Lektüre zieht ihre Leser in einen Sog, in dem sie weder Zeit noch Hunger, weder Durst noch Witterung mehr beachten.31 Die Romanlektüre bedeutet einen »abscheulichen Zeit-Raub«, 32 der sich sub specie salutatis nur verhängnisvoll auswirken kann. Gerade das Komische, Witzig-Umwerbende und Heitere der Romane aber entlarvt Heidegger als eine teuflische List, den Leser »zu ihrem Sclaven zumachen«. 33 Abermals widmet sich Heidegger einem literaturkritischen Nebenschauplatz der eigentlichen Romankritik - der Kritik der Komödie; denn »wer die Schauspiel hasset/ der muß gewißlich die Roman vilmehr hassen.«34 Seine Komödienschelte hat ihm der Kirchenvater Tertullian in die Feder diktiert, der im Zusammenhang der Satiretheorie noch mehrfach - bemerkenswerterweise von Apologeten wie Anklägern der Satire - in Anspruch genommen wird. Wodurch auch immer Komödie oder Roman ihre Zuschauer oder Leser einzunehmen vermögen, stets suchen sie ihren geheimen Zwecken und »Schandlichkeiten« den Zugang zum moralbewachten Bewußtsein zu erschleichen. Die feste Schranke zwischen >gut< und >böse< wird durch die delectado perforiert - oder, wie Heidegger in jenen bildhaft-urwüchsigen Schweizerstil übersetzt, für den ihn der sächsische Thomasius-Schüler Gundling wenig später gehässig verspottet: »Alles was darinn eifrig/ ehrbar/ trefflich/ süß/ und geistreich lautet/ ist vor nichts anders zu halten/ als vor Honig-Tropfen/ die von einem vergifftet Aestlein triefen.« 35 - Es ist denn auch dieses totale Anathema über jede Art von >Ergötzung< und >BelustigungGott spottet der Spötter* Den sermo iocosus von Satire und Komödie kennzeichnet für Heideggers religöses Bewußtsein eine Leichtfertigkeit im Umgang mit Lebenszeit und Lebenszwecken, welche die eschatologische Heilsvorsorge vernachlässigt. Erst das Lachen des Spötters aber verdoppelt, indem es der komischen Frivolität die offensive Aggressivität hinzufügt, das theologische Konfliktverhältnis von K o mik und christlicher Doktrin. Denn es besteht, wie Harsdörffer gegenüber der semantischen Unscharfe im Begriff des Lachens (wie auch im risus-Begriff

der

einschlägigen Textstellen der Vulgata) differenziert, »eine [!] grosse Unterschied/ auß frölichem Hertzen lachen/ oder den Nechsten schimflich verlachen.« 38 In säkularer Sprache reproduziert Harsdörffer die Differenz von diesseitsverhafteter laetitia saecularis und >wahrer