Funktionen der Künste. Transformatorische Potentiale künstlerischer Praktiken 9783476049261, 9783476049278

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Funktionen der Künste. Transformatorische Potentiale künstlerischer Praktiken
 9783476049261, 9783476049278

Table of contents :
Vorwort der Herausgeber/innen
Zur Umschlagabbildung
Einleitung
Inhaltsverzeichnis
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Funktionen der Künste?
1 Einleitung
2 Verschiedene Funktionsbegriffe
3 Was ist heute interessant am Funktionsbegriff?
4 Zum Schluss ein kurzer Vergleich von Zwecken, Funktionen und Nutzen der Künste
Literatur
Improvisation als Paradigma künstlerischer Wirksamkeit und ihrer sozialen Dimension
1 Zum Begriff der Improvisation
2 Kunst und Improvisation
3 Die soziale Dimension künstlerischer Wirksamkeit
Literatur
Die Funktionalität der Kunst?
1 Autonomie oder Heteronomie, Funktionslosigkeit oder Funktionalität?
2 Allgemeines und Besonderes – Kunstbegriff und einzelnes Kunstwerk?
Literatur
Überengagement
1
2
Literatur
Zwingende Systeme
1 Funktionsverlust gleich Autonomiegewinn?
2 Kunstgeschichte als Funktionsgeschichte
3 Die Funktion der Autor/innen-Funktion
4 Die Autor/innen-Funktion als „zwingendes System“
5 Funktionalität und Skalierbarkeit der Kunst
6 Systemästhetik
7 Jenseits von Autonomie/Heteronomie
Literatur
Politische Dynamiken des Gegenwartstheaters
1 Soziale Selbstmobilisierung
2 Mediale Selbstmobilisierung
3 Migration und Mobilisierung
4 Die andere Öffentlichkeit
Literatur
Zur Funktion des Tanzes
1 Das Bild vom Tanz, die Rede vom Tanz: Funktionalisierung und alternative Potentiale
Tanz als ephemere Kunst
2 Ohne Worte: Tanz als sprachlose Körper-Kunst?
3 Zur Funktion der Unterscheidung von Tanz und Choreographie: Verlängerungen des Body-Mind-Dualismus
4 Experiential turn, participatory turn?
5 Tanz als Gemeinschaft konstituierende Kunstform
6 Tanz und Praxis
7 Mittel ohne Zweck: Tanz und Medialität
8 Tanz und Performance: Tanz als Arbeit
Literatur
Zum gehaltsästhetischen Ende
1 Die Krise der Neuen Musik aus Sicht des Neuen Konzeptualismus
2 Trond Reinholdtsens Sonderweg
3 Musik (2012)
4 Schluss
Literatur
To Live Inside the Law
1 Autonomy and Transgression
2 Avant-Gardes and Revolutions
3 Residual Autonomy as Enabling and Delegitimizing Factor
4 Postscript
References
(Politische) Kunst oder (soziale) Praxis?
1 Praxis auf Probe
2 Selbstorganisation im Kontext
3 „Adieu Vorhölle“
4 Bühnen der Arbeit
5 Projektekultur revisited
Literatur
Performance, Autonomie und mögliche Wirklichkeiten
1 Episteme des Performativen
2 Performativität und Grenzverletzungen
3 Politisierung der Performance
4 Theatralisierung der politischen Wirklichkeit
Literatur

Citation preview

Ä S T H E T I K E N X.0

Birgit Eusterschulte / Christian Krüger / Judith Siegmund (Hg.)

Funktionen der Künste Transformatorische Potentiale künstlerischer Praktiken

Ästhetiken X.0 – Zeitgenössische Konturen ästhetischen Denkens Reihe herausgegeben von Judith Siegmund, Stuttgart, Deutschland Michaela Ott, Hamburg, Deutschland Christian Grüny, Frankfurt, Deutschland Beiratsmitglieder Eva Schürmann, Magdeburg, Deutschland Daniel M. Feige, Stuttgart, Deutschland Rachel Zuckert, Chicago, USA Douglas Barrett, New York, USA

Die Reihe Ästhetiken X.0 folgt einem Verständnis von Kunstphilosophie und philosophischer Ästhetik, das auf Sachhaltigkeit und historische Konkretheit setzt. Danach sind philosophische Reflexion, wissenschaftliche Auseinandersetzung und kulturelle Situiertheit aufeinander verwiesen und sollten den Entwicklungen der ästhetischen Praxis in den verschiedenen künstlerischen Feldern, aber auch jenseits dieser Rechnung tragen. Ohne auf eine bestimmte theoretische Position festgelegt zu sein, bringt die Reihe Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen und Feldern zur Artikulation, die für die Gegenwart symptomatisch und wegweisend erscheinen. Dabei ist die Frage ausschlaggebend, was ästhetische Praxis heute bedeutet, in welchen (De)Form(ation)en sie stattfindet und welche gesellschaftlich-symbolische Position sie bezieht. Dazu gehört die Reflexion der Ästhetik als westlich-bürgerliche Emanzipationswissenschaft und normsetzend-universalisierende Disziplin. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16310

Birgit Eusterschulte · Christian Krüger · Judith Siegmund (Hrsg.)

Funktionen der Künste Transformatorische Potentiale künstlerischer Praktiken

Hrsg. Birgit Eusterschulte Berlin, Deutschland Judith Siegmund Musikwiss./-päd./Gegenwartsästhetik HMDK Stuttgart Stuttgart, Baden-Württemberg, Deutschland

Christian Krüger Institut für Philosophie Freie Universität Berlin Berlin, Deutschland

ISSN 2662-1398 ISSN 2662-1401  (electronic) Ästhetiken X.0 – Zeitgenössische Konturen ästhetischen Denkens ISBN 978-3-476-04926-1 ISBN 978-3-476-04927-8  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-04927-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Umschlagabbildung: © MAJA BAJEVIC, To Be Continued, 2017, Performance. Courtesy die ­Künstlerin und Galerie Peter Kilchmann, Ausstellungsansicht Migros Museum für Gegenwartskunst, 20.05.2017 – 13.08.2017, Sammlung Migros Museum für Gegenwartskunst Planung/Lektorat: Franziska Remeika J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Vorwort der Herausgeber/innen

Unverkennbar ist, dass sich die gesellschaftlichen und personalen Sensibilitäten fortgesetzt ändern. In einer selbstreflexiven und responsiven Gesellschaft, die auf den Wandel politischer Konstellationen zu reagieren vermag, wirkt dies auf politische Haltungen, theoretische Annahmen, künstlerische Praktiken und auch ästhetische Urteile zurück. Selbstbefragungen und Modifikationen der ästhetischen Theoriebildung sind daher allzeit unverzichtbar. So hat sich das Feld des ästhetischen Denkens zunehmend entgrenzt und im Hinblick auf seine Voraussetzungen hinterfragt: Heute reflektiert es ebenso auf zeitgenössische künstlerische Praktiken und globalisierte Ausstellungs- und Aufführungsdispositive wie auf die politische Verteilung des Sinnlichen und deren historische und kulturelle Bedingtheit. Es befragt das medial erweiterte Zusammenspiel der menschlichen Vermögen, die Interdependenzen von Theoriebildung und künstlerischen Verfahren, die Rolle und Funktion der Künste in Abhängigkeit von sozio-ökonomischen Bedingungen. Es reagiert auf erweiterte erkenntnistheoretische Fragestellungen wie aktuell auf jene des Posthumanen, Medienökologischen oder (Post-)Kolonialen, auf die Infragestellung anthropo- und eurozentrischer Perspektiven, auf nicht-westliche Schönheitsverständnisse und die Aufforderung, die Grenzen tradierter philosophischer Konzepte von Ästhetik zu problematisieren. Ästhetik hat sich zu einem transversalen Feld erweitert, das aus unterschiedlichen Disziplinen und Perspektiven Anleihen bezieht, um die sich verändernden aisthetischen und künstlerischen Konstellationen der Gegenwart in möglichst umfassender Weise zu reflektieren. Die im Metzler-Verlag erscheinende Reihe Ästhetiken X.0 trägt diesen Veränderungen Rechnung und wendet sich der zeitgenössischen Situation, in der die klassischen Bestimmungen nicht einfach fortgeschrieben werden können, mit erhöhter Sensibilität und theoretischer Neugier zu. Ihr Anliegen ist es, nahsichtig und skrupulös die ästhetischen Veränderungen im personalen, künstlerischen und gesellschaftlichen Bereich zu sondieren und auch auf Arten des Nichtwahrnehmens oder der theoretischen Geringschätzung zu reagieren. Damit will sie eine möglichst lebendige Forschung über Grenzen hinweg anregen. Judith Siegmund Michaela Ott Christian Grüny V

Zur Umschlagabbildung

Maja Bajević, To Be Continued, 2017 Performance, Ausstellungsansicht Migros Museum für Gegenwartskunst Zürich 2017 Die Gerüste im Ausstellungsraums ermöglichen es den Performer/innen, die höher gelegene Fensterebene zu erreichen. Sie wischen die Fensterscheiben, wobei sie den Schmutz eher verteilen als entfernen. In die verschmutzten Fenster schreiben sie Slogans, wischen sie wieder ab und beginnen von neuem – eine Sisyphusarbeit. Politische und ökonomische Slogans sind vermutlich der direkteste Weg, Meinungen zu äußern oder Botschaften breit zu streuen. Maja Bajević hat ein Archiv aus 149 solcher Parolen der letzten 100 Jahre zusammengestellt. Diese bilden die Grundlage für Installationen, Neonarbeiten, Performances und Klanginstallationen, wie sie in der Ausstellung Maja Bajević: To Be Continued im Museo Reina Sofia, Palacio de Cristal (2011), der DAAD-Galerie in Berlin (2012), in der Ausstellung Take Liberty! im Nationalmuseum für Kunst, Architektur und Design, Oslo (2014), oder in der Ausstellung Maja Bajević: Power, Governance, Labor im Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich (2017), zu sehen waren. Seit der Mitte der 1990er Jahre arbeitet die französisch-bosnische Künstlerin Maja Bajević (*1967 in Sarajevo, Bosnien-Herzegowina) an einer Vielzahl von Themen im Zusammenhang mit Globalisierung, Inklusion/Exklusion, Ausbeutung, Neoliberalismus und deren Wechselwirkungen. Zugleich wirft Bajević immer wieder die Frage nach persönlicher Identität und Heimat auf, und wie diese konstituiert oder ‚unmöglich gemacht‘ werden. Eine sorgfältig eingesetzte Dimension von Unbestimmtheit und Vergänglichkeit durchzieht dabei die atmosphärischen, aber politisch orientierten Arbeiten. Ausgehend von der eigenen Migrationserfahrung zeigen frühere Arbeiten das Interesse der Künstlerin am kontingenten Charakter von politischer Stabilität und nationaler Zugehörigkeit. Mit der Thematisierung des Missbrauchs von Macht und Religion, von Migration und der Marginalisierung des Fremden steht ihr Werk auch in der Tradition einer Kunst, die eine soziale, aufklärende Funktion erfüllt und auf die Veränderung eines vorherrschenden Bewusstseins zielt.

VII

Einleitung

Wer Kunst macht, rezipiert und – sei es in kritischer oder theoretischer Absicht – über sie nachdenkt, steht oftmals vor der Frage nach der Funktion der Kunst und nach den Funktionen der Künste: Wozu ist Kunst gut? Wo ist ihr Ort und was ihre Rolle im gesellschaftlichen Ganzen? Welchen Beitrag leistet die Kunst und leisten die einzelnen Künste, der ihren Wert und ihre anhaltende Relevanz begründet? Antworten auf diese Fragen und ja sogar die Möglichkeit dieser besonderen Perspektivierung künstlerischer Praxis selbst gewinnen Gestalt erst in bestimmten historischen Momenten und aus einer je spezifischen Kontextualisierung von Kunst heraus. In diesem Sinne stand das Fragen nach der Funktion der Kunst und den Funktionen der Künste lange Zeit im Zeichen der Diskussion um Autonomie und Heteronomie, um Selbst- und Fremdbestimmung von Kunst. Der vorliegende Sammelband möchte diese Diskussion nicht unmittelbar weiterführen. Stattdessen versammelt er Ansätze, Begriffe und Debatten, die seit einigen Jahren Phänomene und Fragen künstlerischer Funktionalität unbefangen und aus neuen Blickrichtungen thematisieren. Dabei stehen die möglichen Wirkungen künstlerischen Handelns als gesellschaftliche Effekte im Vordergrund. Der prägende Einfluss gesellschaftlicher Kräfte auf die Kunst und die Einbettung von Kunstentwicklungen und Kunstschaffen in ein weites Panorama gesamtgesellschaftlicher Kontexte und historischer Entwicklungen steht dabei für viele, die heute mit künstlerischer Praxis befasst sind, außer Zweifel.1 Der Fokus hat sich indes verlagert: Von Funktionen zu sprechen heißt nicht nur, Kunst, ihre Gattungen, Werke und Praktiken selbst als Funktionen, und das heißt, als vom jeweiligen Stand der Gesellschaft abhängig veränderliche Größen, sozusagen als gesellschaftlich gewirkte Größen, als ‚fait social‘, zu denken. Verstärkt wird nun

1An dieser Stelle sei auf Werner Buschs Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen. München/Zürich 1987, verwiesen, das den Versuch einer um den historischen Prozess der Autonomisierung der Kunst wissenden Rehabilitierung des Funktionsbegriffs unternimmt. In der Diskussion unterschiedlicher sozialhistorischer und kulturwissenschaftlicher Ansätze einer ‚Kunst im Kontext‘ haben die Funktionen von Kunst zwar eine Rolle gespielt, sind aber kaum systematisch untersucht worden. Einen instruktiven Überblick zum Funktionsbegriff in der Kunstgeschichte gibt Tristan Weddigen, Zur Funktionsgeschichte. In: Ders., Sible De Blaauw, Bram Kempers (Hg.): Functions and Decorations: Art and Ritual at the Vatican Palace in the Middle Ages and the Renaissance. Turnhout 2004, S. 9–25.

IX

X

Einleitung

auch nach dem originären Einfluss des Künstlerischen auf die nicht-künstlerischen Dimensionen unseres Lebens, nach den Wirkungen der Kunst im Gesellschaftlichen gefragt. Es geht, anders gesagt, um Kunst als eine ihrerseits etwa auf das Soziale oder Politische zielende und Einfluss nehmende Praxis, um die Reichweite ihres Engagements und um ihr Potential, gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen, Entwicklungen zu initiieren, Transformationen einzufordern oder einzuleiten. Dabei stehen die hier versammelten Autor/innen zugleich einer zu engen Zweckbindung und funktionalisierend-instrumentalistischen Verständnissen künstlerischer Praxis kritisch gegenüber und halten so die Idee eines künstlerischen Eigensinns, einer irreduzibel eigenartigen Form des Wirkens von Kunst im Spiel. Funktionen der Künste greift damit eine Tendenz auf, über die Produktivität und die Funktionen der Kunst und der Künste, neu nachzudenken – und neu meint: jenseits der unvollständigen Alternative von entweder Autonomie oder Heteronomie –, wie sie sich in unterschiedlichen theoretischen Zusammenhängen und mit Blick auf unterschiedliche künstlerische Phänomene herausgebildet hat, und führt diese Diskussionen erstmals zusammen.2 Bestrebungen, Kunst mit diesem Interesse in den Blick zu nehmen, finden sich z. B. an ganz unterschiedlichen Stellen in der rezenten philosophischen Diskussion. Die voneinander unabhängigen Ansätze korrespondieren darin, dass die Frage nach der Kunst und ihrem Ort nicht mehr primär von ihrer Differenz zur Nicht-Kunst her gedacht wird, sondern gerade von ihren ­vielgestaltig-produktiven Bezügen zu nicht-künstlerischen Dimensionen des Lebens her. Ziel ist es, zu beleuchten, wie Kunst wirkmächtig in den Alltag verwickelt ist, wie sie eingreift in unsere Selbst- und Weltverhältnisse, wie sie an der Gestaltung unseres Lebens auf ihre Weise mitwirkt und mitarbeitet. In diesem Sinne forderte etwa Hanno Rauterberg mit seinem streitbaren Essay Die Kunst und das gute Leben3 dazu auf, neu zu bestimmen, welchen Beitrag Kunst zu einem gelingenden Leben heute noch leisten könne und wolle, nachdem der Glaube an den Wert einer wesentlich zweckfreien Praxis künstlerischen Schaffens verflogen sei – so Rauterbergs Diagnose. Ursula Brandstätter vermisst in Erkenntnis durch Kunst4 hingegen die gesellschafts- und bildungspolitischen Potentiale spezifisch ästhetisch-künstlerischer Wissenspraktiken. Alva Noë argumentiert in Strange Tools5 aus einer wahrnehmungs- und kognitionsphilosophischen Richtung kommend dafür, dass wir unseren Blick abwenden sollten von den Kunstwerken in ihrer je eigentümlichen Verfasstheit und hin zu der Art und Weise, wie die Auseinandersetzung 2Vergleichbare

Bemühungen in dieser Richtung, wobei allerdings Fragen der Funktion von Kunst in erster Linie mit kunstdefinitorischen Fragen verbunden sind, finden sich u. a. in Kleimann, Bernd/Schmücker, Reinold (Hg.): Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion. Darmstadt 2001; Feige, Daniel Martin/Köppe, Tilmann/Zur Nieden, Gesa (Hg.): Funktionen von Kunst. Frankfurt a.M. u. a. 2009.

3Rauterberg,

Hanno: Die Kunst und das gute Leben. Über die Ethik der Ästhetik. Berlin 2015. Ursula: Erkenntnis durch Kunst. Theorie und Praxis der ästhetischen Transformation. Köln 2013. 5Noë, Alva: Strange Tools. Art and Human Nature. New York 2015. 4Brandstätter,

Einleitung

XI

mit Kunst zu einer Reorganisation unserer menschlichen Vermögen führen kann. Und Georg W. Bertram führt in Kunst als menschliche Praxis6 in grundlegender Weise die Widersprüche des von ihm sogenannten ‚Autonomie-Paradigmas‘ vor, um dann auszubuchstabieren, wie der Wert der Kunst verstanden werden kann, wenn man Kunst von ihrem praktisch-reflexiven Bezug auf n­ icht-künstlerische alltägliche Praktiken her begreift. Dass Kunst keine Praxis ist und keine Erfahrung bietet, die „bezugslos neben der theoretischen und praktischen Erfahrung der Welt“7 und sonstigen Praktiken steht, wie früh schon Andrea Kern und Ruth Sonderegger betont haben, sondern vielmehr innerhalb dieser Praktiken und in Bezug auf diese eine besondere Funktion entfaltet, könnte man so als die conditio sine qua non dieses neuerlichen Nachdenkens über die Funktionen der Kunst und der Künste bezeichnen. Im Feld der Kunst selbst zeigt sich die für die Theorie reklamierte Abkehr von der Idee der Kunstautonomie in einer spezifischen Repolitisierung der Kunst. Spätestens seit den 1990er Jahren wenden sich Künstler/innen wieder engagiert politischen und gesellschaftlichen Problemstellungen zu. Kunst tritt in diesem Zuge nicht nur als kritische oder negative Kraft, sondern maßgeblich als gesellschaftliche Arbeit oder partizipative Praxis auf.8 Ihr Selbstverständnis ist es, konkrete soziale und politische Wirkungen herbeizuführen. Diese von Claire Bishop als „social turn“9 beschriebene Veränderung bildet ein reichhaltiges Spektrum künstlerischer Praktiken mit Bezug auf außerkünstlerische Kontexte aus. Als Auslöser solch einer kunsttheoretischen Debatte kann hier auch an Nicolas Bourriauds Esthétique relationelle10 erinnert werden, die Strukturen der Teilhabe und Soziabilität zum zentralen Fokus künstlerischer Praxis erklärt hat. Shannon Jackson wiederum entwirft in Social Works11 eine Ästhetik des Supports, die der künstlerischen Praxis nicht notwendig eine Differenz oder einen Widerstand zur Alltagspraxis zugrunde legt. Während Jackson somit sozial engagierte Praxis weniger als ein das ästhetische Handeln kompromittierendes ‚außerästhetisches Milieu‘ auffasst und eher die Grenzziehungen des ‚Sozialen als Extra‘ aufzulösen sucht, fordert Claire Bishop anstelle einer Kritik, die reflexhaft ethische Beurteilungen sozialer und kollaborativer Praktiken vornimmt, einen Rückbezug auf deren Status als Kunst. 6Bertram,

Georg W.: Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik. Berlin 2014. Andrea/Sonderegger, Ruth: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik. Frankfurt a.M. 2002, S. 7. 8Vgl. dazu u. a. Thompson, Nato (Hg.): Living as Form: Socially Engaged Art from 1991–2011. Cambridge, Mass./London 2012; Aikens, Nick/Lange, Thomas/Seijdel, Jorinde/Ten Thije, Steven (Hg.): What’s the Use? Constellations of Art, History and Knowledge. A Critical Reader. Amsterdam 2016; Van den Berg, Karen/Jordan, Cara M./Kleinmichel, Philipp (Hg.): The Art of Direct Action. Social Sculpture and Beyond. Berlin 2019. 9Bishop, Claire: The Social Turn: Collaboration and Its Discontents. In: Artforum (Februar 2006) S. 178–183. 10Bourriaud, Nicolas: Esthétique relationelle. Dijon 1998. 11Jackson, Shannon: Social Works: Performing Art, Supporting Publics. London 2011. 7Kern,

XII

Einleitung

In Reaktion auf diese Kontroverse ist es eine lohnende Aufgabe, Differenzen der häufig ineinsgeworfenen Begrifflichkeiten einer der Autonomieästhetik opponierenden Auffassung – Nutzen, Gebrauch, Zweck – in jeweils verschiedenen philosophischen, soziologischen wie kunst- und kulturwissenschaftlichen Diskursen zu leisten, wie Judith Siegmund dies jüngst in Zweck und Zweckfreiheit12 unternommen hat. Solchen grundlegenden begrifflichen Reflexionen werden im vorliegenden Band gezielt Auseinandersetzungen mit konkreten künstlerischen Phänomenen an die Seite gestellt. So sollen kunstwissenschaftliche, kulturwissenschaftliche und kulturpolitische sowie philosophische Positionen miteinander ins Gespräch kommen. Bei aller Divergenz der untersuchten Phänomene, Methoden und disziplinären Orientierungen fokussiert der Band dabei auf Stimmen, die eine geteilte Sympathie für Fragen der Funktionalität, des Nutzens, der Zweckmäßigkeit, der Produktivität, des transformativen Potentials der Kunst und der Künste im skizzierten Sinne erkennen lassen oder die eine solche Sympathie mit kritischem Interesse verfolgen. So nimmt Judith Siegmund in ihrem Beitrag „Funktionen der Künste?“ eine Differenzierung des Funktionsbegriffs aus dem Verständnis verschiedener Fächer heraus vor: der Kunstgeschichte, der Soziologie, der Designtheorie sowie der philosophischen Ästhetik. Sie reflektiert die Problematisierung, die der Begriff im 20. Jahrhundert erfahren hat und stellt fest, dass fälschlicherweise eine gedankliche Gleichsetzung der Künste mit dem Nichtfunktionalen vor der Folie einer als funktional verstandenen Gesellschaft vorgenommen wurde. Alternativ dazu schlägt sie vor, sich von diesem oppositionellen Denken – nichtfunktionale Künste versus funktionaler Kapitalismus – zu verabschieden. In „Improvisation als Paradigma künstlerischer Wirksamkeit und ihrer sozialen Dimension“ arbeitet Georg W. Bertram unter Rekurs auf die künstlerische Praxis der Improvisation zunächst sozial formative Dynamiken zwischen Vergemeinschaftung und Vereinzelung in über Kunstwerke vermittelten Interaktionen zwischen Improvisierenden heraus. Er zeigt dann, wie diese Grundstruktur der Improvisation sich von der Kunst aus auch in sonstigen Praktiken niederschlagen kann. Daniel M. Feige macht in „Die Funktionalität der Kunst?“ geltend, dass autonomistische und funktionalistische Bestimmungen von Kunst nicht gegeneinander ausgespielt werden sollten, sondern dass ein revidierter Autonomiebegriff dazu imstande sei, einer besonderen Leistung der Kunst in Bezug auf gesellschaftliche Verhältnisse Rechnung zu tragen. Dabei sei es allerdings vielversprechender, diese Leistung über den Begriff der Form anstatt den der Funktion zu fassen. Den radikalen Vorschlag, das Gelingen sozial engagierter Kunst ausschließlich am Erfolg ihrer sozial-politischen Ansprüche zu messen, unterzieht Christian Krüger in „Überengagement“ einer eingehenden Kritik. Dadurch soll eine überzogene Vorstellung vom transformatorischen Potential der Kunst zurückgewiesen werden, die nur denjenigen in die Hände spielt, die der Idee eines transformatorischen Potentials grundsätzlich skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. 12Siegmund, Judith: Zweck und Zweckfreiheit. Zum Funktionswandel der Künste im 21. Jahrhundert. Stuttgart 2019.

Einleitung

XIII

Ein Ansatzpunkt für eine Refunktionalisierung der zeitgenössischen Kunstpraxis ist es, wie Tom Holert in „Zwingende Systeme“ vorschlägt, wenn Künstlerinnen und Künstler die Autor/innen-Funktion zum Gegenstand ihrer künstlerischen Reflexion und Produktion machen. Trotz der Widerstandsfähigkeit von Autorschaft wie auch anderer ‚notwendiger‘ Systeme scheint deren strukturelle Veränderung möglich, wie es in ausgewählten partizipativen Projekten in der Etablierung neuer Verhältnisse von Künstler/innen und Teilnehmenden sichtbar wird. Matthias Warstat untersucht in „Politische Dynamiken des Gegenwartstheaters“ verschiedene Formen und Strategien der Entgrenzung und Öffnung eines in seiner gesellschaftlichen Relevanz vor allem durch digitale Medien herausgeforderten Theaters auf einen außertheatralen Raum und eine theaterferne Öffentlichkeit hin. Er lotet dabei die ästhetischen wie ethischen Chancen und Gefahren dieser Bewegungen aus. In „Zur Funktion des Tanzes“ entwirft Kirsten Maar ein Panorama von Fragestellungen, die nicht allein die Wirksamkeit des Tanzes in den Blick nehmen, sondern ausgehend von den Selbstverständnissen und Zuschreibungen dieser Kunstform dessen Potentiale und Inanspruchnahmen innerhalb des Kanons anderer Künste thematisieren. Die Präsentation von Tanz und Choreographie im Ausstellungskontext ist dabei beispielhaft für das Interesse an körperbezogenen Erfahrungen und tänzerischen Praktiken, wie sie in einer Vielzahl partizipatorischer und performativer Formate außerhalb der Kunstform Tanz sichtbar werden. Die Krise der Neuen Musik in Bezug auf ihren eigenen gesellschaftlichen Anspruch steht im Fokus des Beitrags von Andreas Lang. Detailreich beschreibt er in „Zum gehaltsästhetischen Ende“ die Arbeitsweise des Komponisten und Performers Trond Reinholdtsen in dessen Stück Musik von 2012. Reinholdtsen wählt eben jene Krise der Neuen Musik zum persönlichen Ausgangspunkt und formuliert eine kompositorische und interpretatorische Antwort im Sinne des Neuen Konzeptualismus, der seinerseits den Anspruch auf gesellschaftliche Relevanz kommentiert. Sven Lütticken geht in „To Live Inside the Law“ auf aktuell arbeitende paralegale Künstler/innen und ihre Arbeitsweisen ein – paralegal sind Fachkräfte, die über ein juristisches Basiswissen verfügen und Jurist/innen zuarbeiten. Er setzt solcherart künstlerischen Aktivismus ins Verhältnis zur wissenschaftlichen Moderne, die auf die Autonomie der moralisch/juristischen Sphäre und ihre Trennung von ästhetischen Handlungsmustern Wert legte. Lütticken macht deutlich, dass dieser Trennungsgedanke von Moralität und Kunst immer schon unvollständig und voll von Widersprüchen und Konflikten war. Sabeth Buchmann beschreibt in „(Politische) Kunst oder (soziale) Praxis?“ eine (von ihr selbst erlebte und initiierte) „soziale Praxis in Versuchsanordnungen“ im Berlin der 1990er Jahre. Die temporär besetzten Räume im Berliner Bezirk Mitte wurden von verschiedenen Künstlerkollektiven im Sinne einer Erprobung linker alternativer Projekt- und Arbeitsformen bespielt. Mit Rancière beschreibt Buchmann modellhaft diesen Versuch, die eigenen Hierarchien und Machtverhältnisse kritisch zu thematisieren und mit Hilfe poststrukturalistischer Konzepte performativ zu verschieben, als eine gesellschaftliche Arbeit im Kleinen, die eine

XIV

Einleitung

Veränderung des allgemeinen Gesellschaftlichen erprobt, ohne dabei auf große Utopien im Sinne authentischer Veränderungen zu rekurrieren. Gegenwärtige Strategien des Eingreifens künstlerischer Praxis in politische und gesellschaftliche Zusammenhänge lassen die Forderung nach einer künstlerischen Autonomie ebenso wenig obsolet werden wie die Unterscheidung von künstlerisch-politischen Projekten und nicht-künstlerischen Projekten. In ihrem gemeinsamen Beitrag „Performance, Autonomie und mögliche Wirklichkeiten“ zeigen Karen van den Berg und Philipp Kleinmichel am Beispiel der Aktionen von Christoph Schlingensief und des Zentrums für Politische Schönheit, wie eine solche Differenzierung, der Rückgriff auf die Institution Kunst und auf ästhetische Mittel der Theatralisierung eine mediale Aufmerksamkeit über die Kunst hinaus erzeugen und die Widersinnigkeit und Obszönität der politischen Wirklichkeit allein erst sichtbar machen. Abschließend möchten wir allen Leserinnen und Lesern eine inspirierende Lektüre wünschen. Bedanken möchten wir uns vor allem bei der Einstein Stiftung Berlin und der Universität der Künste Berlin, die durch die Förderung des Forschungsvorhabens Autonomie und Funktionalisierung – eine ästhetisch-kulturhistorische Analyse der Kunstbegriffe in der bildenden Kunst ­ in Berlin von den 1990er Jahren bis heute die Arbeit der Herausgeber/innen an diesem Thema von 2017 bis 2019 möglich machten. Ein ausdrücklicher Dank gilt dem Verlag J. B. Metzler und insbesondere Franziska Remeika dafür, dass dieser Band nun endlich vorliegt. Die Herausgeber/innen

Literatur  Aikens, Nick/Lange, Thomas/Seijdel, Jorinde/Ten Thije, Steven (Hg.): What’s the Use? Constellations of Art, History and Knowledge. A Critical Reader. Amsterdam 2016. Bertram, Georg W.: Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik. Berlin 2014. Bishop, Claire: The Social Turn: Collaboration and Its Discontents. In: Artforum (Februar 2006), S. 178–183. Bourriaud, Nicolas: Esthétique relationelle. Dijon 1998. Brandstätter, Ursula: Erkenntnis durch Kunst. Theorie und Praxis der ästhetischen Transformation. Köln 2013. Busch, Werner: Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen. München/Zürich 1987. Feige, Daniel Martin/Köppe, Tilmann/Zur Nieden, Gesa (Hg.): Funktionen von Kunst. Frankfurt a.M. u. a. 2009. Jackson, Shannon: Social Works: Performing Art, Supporting Publics. London 2011.

Einleitung

XV

Kern, Andrea/Sonderegger, Ruth: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik. Frankfurt a.M. 2002, S. 7. Kleimann, Bernd/Schmücker, Reinold (Hg.): Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion. Darmstadt 2001. Noë, Alva: Strange Tools. Art and Human Nature. New York 2015. Rauterberg, Hanno: Die Kunst und das gute Leben. Über die Ethik der Ästhetik. Berlin 2015. Siegmund, Judith: Zweck und Zweckfreiheit. Zum Funktionswandel der Künste im 21. Jahrhundert. Stuttgart 2019. Thompson, Nato (Hg.): Living as Form: Socially Engaged Art from 1991–2011. Cambridge, Mass./London 2012. Van den Berg, Karen/Jordan, Cara M./Kleinmichel, Philipp (Hg.): The Art of Direct Action. Social Sculpture and Beyond. Berlin 2019. Weddigen, Tristan: Zur Funktionsgeschichte. In: Ders., Sible DeBlaauw, Bram Kempers (Hg.): Functions and Decorations: Art and Ritual at the Vatican Palacein the Middle Ages and the Renaissance. Turnhout 2004, S. 9–25.

Inhaltsverzeichnis

Funktionen der Künste? Eine Differenzierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Judith Siegmund Improvisation als Paradigma künstlerischer Wirksamkeit und ihrer sozialen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Georg W. Bertram Die Funktionalität der Kunst? Für einen revidierten Begriff künstlerischer Autonomie . . . . . . . . . . . . . . 33 Daniel Martin Feige Überengagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Christian Krüger Zwingende Systeme Die Funktion der Gegenwartskunst (vor und nach ihrem Ende). . . . . . . . 61 Tom Holert Politische Dynamiken des Gegenwartstheaters Funktionen einer Selbstmobilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Matthias Warstat Zur Funktion des Tanzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Kirsten Maar Zum gehaltsästhetischen Ende Trond Reinholdtsens Musik (2012) als Weg aus der Krise . . . . . . . . . . . . . 115 Andreas Lang To Live Inside the Law Aesthetic Practice as Paralegal Activism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Sven Lütticken

XVII

XVIII

Inhaltsverzeichnis

(Politische) Kunst oder (soziale) Praxis? Eine Versuchsanordnung über die 1990er . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Sabeth Buchmann Performance, Autonomie und mögliche Wirklichkeiten. . . . . . . . . . . . . . . 165 Karen van den Berg und Philipp Kleinmichel

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Über die Herausgeber Birgit Eusterschulte,  Kunsthistorikerin, war nach dem Studium der Kunstwissenschaft und Germanistik als kuratorische und wissenschaftliche Mitarbeiterin an verschiedenen Ausstellungshäusern tätig. 2017 erfolgte die Promotion am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin; von 2017–2019 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsvorhaben Autonomie und Funktionalisierung der Kunst an der FU und der Universität der Künste Berlin. 2020 erschien die Monographie Robert Barry. Materialität und Konzeptkunst. Christian Krüger  arbeitet als Philosoph und Drehbuchautor. Er studierte Kulturwissenschaften in Hildesheim, war Stipendiat des Internationalen Graduiertenkollegs InterArt und Mitarbeiter am DFG-Sonderforschungsbereich 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. 2016 promovierte er an der Freien Universität Berlin in Philosophie. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Philosophie der Sprache und der symbolischen Medien, Philosophie der Kunst, Anthropologie und Kulturphilosophie. 2019 erschien Medien der Bedeutung. Wie die Welt einen Unterschied macht. Judith Siegmund  ist Professorin für Gegenwartsästhetik an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart. Dort baut sie mit anderen zusammen den Campus Gegenwart auf. Sie kommt aus der Philosophie und der bildenden Kunst und war von 2011 bis 2018 Juniorprofessorin für Theorie der Gestaltung/Ästhetische Theorie/Gendertheorie an der Universität der Künste Berlin, wo sie das Forschungsprojekt Autonomie und Funktionalisierung der Kunst mit installiert hat. Monographien: Die Evidenz der Kunst (2007), Zweck und Zweckfreiheit. Zum Funktionswandel der Künste im 21. Jahrhundert (2019).

XIX

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Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Autorenverzeichnis Georg W. Bertram seit 2007 Professor für theoretische Philosophie (mit den Schwerpunkten Ästhetik und Sprachphilosophie) an der Freien Universität Berlin. 2002–2007 Juniorprofessor für Philosophie an der Universität Hildesheim. Gastprofessuren an der Universität Wien (2006), der Università degli Studi di Turino (2015), der Università degli Studi Roma Tre (2015) und der IULM Milano (2017). Ausgewählte Monographien: Kunst als menschliche Praxis (2014), Kunst. Eine philosophische Einführung (2005). Sabeth Buchmann (Berlin/Wien) ist Professorin für Kunstgeschichte der Moderne und Nachmoderne an der Akademie der bildenden Künste Wien. MitHg. von PoLYpeN bei b_books/Berlin. Publikationen (Auswahl): Mit-Hg. von Putting Rehearsals to the Test. Practices of Rehearsal in Fine Arts, Film, Theater, Theory, and Politics (2016); Hélio Oiticica & Neville D’Almeida, Experiments in Cosmococa (2013 mit Max Jorge Hinderer Cruz); Denken gegen das Denken. Produktion, Technologie, Subjektivität bei Sol LeWitt, Yvonne Rainer und Hélio Oiticica (2007). Daniel Martin Feige  hat Jazzklavier, Philosophie, Germanistik und Psychologie studiert. Nach Promotion und Habilitation ist er Professor für Philosophie und Ästhetik an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart und lehrt und forscht an der Schnittstelle von Ästhetik und theoretischer Philosophie. Seine letzte Monographie ist Design. Eine philosophische Analyse (2018). Demnächst erscheinen seine Bücher Die Natur des Menschen und Musik für Designer. Tom Holert  arbeitet als Kunsthistoriker, Autor, Kurator und Künstler in Berlin. Jüngere Buchveröffentlichungen: Knowledge Beside Itself. Contemporary Art’s Epistemic Politics (2020); Neolithische Kindheit. Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930 (2018; hg. mit Anselm Franke); Marion von Osten. Once We Were Artists (2017, hg. mit Maria Hlavajova), Troubling Research. Performing Knowledge in the Arts (2014, hg. mit Johanna Schaffer u. a.), Übergriffe. Zustände und Zuständigkeiten der Gegenwartskunst (2014). Philipp Kleinmichel  studierte Philosophie, Kunst- und Medientheorie in Freiburg, Karlsruhe und New York. Er war Stipendiat am Whitney Museums of American Art (ISP) und an der Akademie Schloss Solitude. Nach Lehraufträgen in Karlsruhe, Gießen, Hamburg und Berlin ist er seit 2018 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. 2014 erschien die Monographie Im Namen der Kunst. Eine Genealogie der politischen Ästhetik. Christian Krüger  arbeitet als Philosoph und Drehbuchautor. Er studierte Kulturwissenschaften in Hildesheim, war Stipendiat des Internationalen Graduiertenkollegs InterArt und Mitarbeiter am DFG-Sonderforschungsbereich 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. 2016 promovierte er an der

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Freien Universität Berlin in Philosophie. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Philosophie der Sprache und der symbolischen Medien, Philosophie der Kunst, Anthropologie und Kulturphilosophie. 2019 erschien Medien der Bedeutung. Wie die Welt einen Unterschied macht. Andreas Lang studierte Schulmusik, Deutsch und Musiktheorie in Freiburg und Stuttgart. In seinen Arbeiten über Neue Musik untersucht er vor allem Zusammenhänge zwischen ­Autor/in-Intention, kompositorischer Faktur und Wirkung. Als Lehrer, Komponist und Interpret beschäftigt er sich mit der Bedeutung verschiedener Hörgewohnheiten und Stilistiken für unsere musikalische Gegenwart. Sven Lütticken  studied art history at the Vrije Universiteit Amsterdam and the Freie Universität Berlin. He teaches art history at the Vrije Universiteit Amsterdam. Lütticken publishes regularly in journals and magazines such as New Left Review, Texte fur Kunst, e-flux journal, Grey Room and Afterall, and contributes to catalogues and exhibitions as writer or guest curator. He is the author of Idols of the Market: Modern Iconoclasm and the Fundamentalist Spectacle (2009), History in Motion: Time in the Age of the Moving Image (2013), and Cultural Revolution: Aesthetic Practice after Autonomy (2017). Kirsten Maar  ist Theater- und Tanzwissenschaftlerin und Dramaturgin und lehrt derzeit als Junior-Professorin an der Freien Universität Berlin. 2007–2014 arbeitete sie im D ­ FG-Sonderforschungsbereich 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Ihre Arbeitsschwerpunkte umfassen u. a. choreographische Verfahren im 20. Jahrhundert, Entgrenzungen zwischen bildender Kunst, Architektur und Choreographie. ­(Co-)Publikationen u. a.: Assign and Arrange. Methodologies of Presentation in Art and Dance (2014); Entwürfe und Gefüge (2019). Judith Siegmund  ist Professorin für Gegenwartsästhetik an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart. Dort baut sie mit anderen zusammen den Campus Gegenwart auf. Sie kommt aus der Philosophie und der bildenden Kunst und war von 2011 bis 2018 Juniorprofessorin für Theorie der Gestaltung/Ästhetische Theorie/Gendertheorie an der Universität der Künste Berlin, wo sie das Forschungsprojekt Autonomie und Funktionalisierung der Kunst mit installiert hat. Monographien: Die Evidenz der Kunst (2007), Zweck und Zweckfreiheit. Zum Funktionswandel der Künste im 21. Jahrhundert (2019). Karen van den Berg  ist seit 2003 Inhaberin Lehrstuhls für Kunsttheorie & inszenatorische Praxis an der Zeppelin Universität. Sie studierte Kunstwissenschaft, Klassischen Archäologie und Nordische Philologie in Saarbrücken und Basel. 1995 erfolgte die Promotion in Basel. Von 1993–2003 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Witten/Herdecke. Fellowships und Gastaufenthalte führten sie u. a. an die Chinati Foundation (Texas), die Parsons New School for Design, das IKKM in Weimar und die Stanford University.

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Matthias Warstat  ist seit 2012 Professor für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Zwischen 2008 und 2012 hatte er den Lehrstuhl für Theater- und Medienwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg inne. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Ästhetik des Gegenwartstheaters, Geschichte des politischen Theaters sowie Relationen von Theater und Gesellschaft. Publikationen (Auswahl): Soziale Theatralität. Die Inszenierung der Gesellschaft (2018); Theater als Intervention. Politiken ästhetischer Praxis (mit Joy Kristin Kalu u. a., 2015).

Funktionen der Künste? Eine Differenzierung Judith Siegmund

1 Einleitung In einem Beitrag der Zeitschrift Positionen. Texte zur aktuellen Musik äußert sich der Musikwissenschaftler Frank Schneider über eine Generation von Komponisten Neuer Musik in der DDR der 1980er Jahre.1 Schneider versteht deren Kompositionsarbeiten als Gegenentwürfe zur Doktrin des Sozialistischen Realismus; diese Gegenentwürfe sollten allerdings – so Schneider – anders beschrieben werden als das experimentelle avantgardistische Komponieren zur gleichen Zeit im Westen. Er sagt über diese Gruppe: Auf jeden Fall haben die Komponisten Fragen nach der Funktion von Musik in der Gesellschaft ernst genommen. Sie wollten ihrem Publikum etwas sagen und wollten, dass es verstanden werden konnte. Das hat, bei aller Öffnung der Klangsprache gegenüber den internationalen Innovationen, ob zu Cage, Feldmann oder Lachenmann, zu einer eigens geprägten Klanggestik geführt. Dies aber wahrzunehmen, erforderte heute eine bessere Präsenz im Musikleben wie auch einen Paradigmenwechsel der Historiker, die endlich einmal aufhören sollten, den Fortschritt nur über das Nadelöhr der Darmstädter Schule zu beschreiben.2

1Vermutlich war in dieser Generation keine Komponistin dabei, deshalb verwende ich an dieser Stelle allein die männliche Form. [Hervorhebung JS]. 2Schneider, Frank: „… als würde gegen eine Mauer gerannt“. Sozialistischer Realismus und seine Gegenentwürfe. In: Positionen. Texte zur aktuellen Musik 108 (August 2016), S. 24–31, hier S. 30.

J. Siegmund (*)  Institut für Musikwissenschaft, Musikpädagogik und Ästhetik, HMDK Stuttgart, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Eusterschulte et al. (Hrsg.), Funktionen der Künste, Ästhetiken X.0 – Zeitgenössische Konturen ästhetischen Denkens, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04927-8_1

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Im selben Heft findet sich ein Text des Musikwissenschaftlers Ulrich Mosch, der mit dem „Glauben an die Kraft der Abstraktion“ die komplementäre Haltung einer westlichen Avantgarde-Generation ausbuchstabiert, deren künstlerische Haltung er mit Bezug auf Adorno als ein Erfinden von Dingen charakterisiert, „von denen wir nicht wissen, was sie sind“.3 Auch bei dieser Gruppe von Künstlern4 ist der „Glaube an die Veränderbarkeit der Gesellschaft“ Mosch zufolge das zentrale Anliegen gewesen. Er spricht aber davon, dass diese Komponisten versuchten, die Gesellschaft „indirekt zu verändern“.5 Mosch schreibt: „Sie [die Gesellschaft; JS] indirekt zu verändern, indem man Dinge macht, ‚von denen wir nicht wissen, was sie sind‘, die uns aber mit unserem eigenen Wahrnehmungsvermögen mit all seinen sedimentierten Erfahrungen und mit unserem Kunstbegriff konfrontieren, besitzt […] mehr Sprengkraft, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Die wichtigste Funktion jener erfundenen Wirklichkeit besteht darin, unsere Wahrnehmung neu zu polen.“6 Interessant an dieser Gegenüberstellung ist, dass beide Autoren – Frank Schneider und Ulrich Mosch – das Verhältnis, das Komponist/innen zur Wirklichkeit, besser gesagt zur Gesellschaft einnehmen, mit Hilfe des Funktionsbegriffs erläutern – und dies, obwohl es sich bei beiden historisch erläuterten Entwicklungen Neuer Musik um zwei verschiedene Auffassungen dieser Neuen Musik handelt. Begründet in der ersten Darstellung die Sprachähnlichkeit der Musik ihre gesellschaftliche Funktion, so ist es in der zweiten gerade ihre Nichtverständlichkeit, die zu einer „Umpolung“ der Wahrnehmungsweisen führt. Es wäre nicht schwer, ähnliche Erläuterungen in den Diskursen über die bildenden Künste zu finden; und um Diskurse über ‚die Funktion der Kunst‘, die damals zeitgleich im Feld der bildenden Künste und der Kunstwissenschaft geführt wurden, soll es in diesem Text auch gehen. Darüber hinaus möchte ich aber auch den Funktionsbegriff der Kunst bzw. der Künste in Bezug auf seine Stellung in der philosophischen und soziologischen Theorie sowie in den Designwissenschaften befragen. Ich werde dabei u. a. auf das Verständnis von Funktion im Sinne des deutschen Begriffs ‚Gebrauch‘ zu sprechen kommen, allerdings, um diese Auffassung von Funktion kritisch zu kommentieren. Eine Funktion in diesem Sinne wurde in der Philosophie oft Werkzeugen und Designdingen zugesprochen; Ziel des Textes ist es, über diese Sichtweise hinauszugehen. Am Ende meines Beitrags sollte klar geworden sein, dass ‚Funktion‘ erkenntnistheoretisch nicht als das Gegenteil einer Autonomie der Künste verstanden werden kann, dass aber gleichwohl ein Prozess einer ‚Funktionalisierung‘ der Künste die Frage nach der theoretischen Bestimmung ihrer Funktionen notwendig macht. Bedeutung und Wert von künstlerischer Arbeit ergibt sich auch

3Mosch,

Ulrich: Die neue Realität Kunst. Der Glaube an die Kraft der Abstraktion. In: Positionen. Texte zur aktuellen Musik 108 (August 2016), S. 31–35, hier S. 34. 4Es handelt sich ebenfalls nur um Männer. 5Mosch, Die neue Realität Kunst, 2016, S. 34. 6Ebd. [Hervorhebungen JS].

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aus dem Zusammenhang, in dem sie steht; dafür steht der Funktionsbegriff. Zum Schluss sollen in einem Ausblick die Begriffe des Zwecks der Kunst sowie ihres Nutzens philosophisch ins Verhältnis zum Funktionsbegriff der Kunst bzw. zu den ‚Funktionen der Künste‘ gesetzt werden. Beginnen möchte ich zunächst mit einer kurzen Überblicksdarstellung verschiedener Funktionsbegriffe in unterschiedlichen Zusammenhängen.

2 Verschiedene Funktionsbegriffe ‚Funktionen der Kunst‘ in der Kunstgeschichte Einschlägig für einen kunstgeschichtlichen Begriff der Funktion wurde das 1986 von Werner Busch herausgegebene Buch Funkkolleg Kunst. Die Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen, dessen Beiträge zurückgehen auf Sendetexte aus dem Saarländischen Rundfunk 1984/85. In ihm kommen vier Funktionen der Künste zur Sprache: die religiöse, die ästhetische, die politische und die abbildende. In der Schlussbemerkung zum zweibändigen Buch schreibt Busch: „Unsere Fragestellung zielte darauf, jeweils zu klären, wie das Kunstwerk in seiner Geschichte gesehen wurde und auf Grund welcher Faktoren sich diese Sicht und damit der Gegenstand selbst wandelte.“7 Diese Erläuterung des Begriffs kennzeichnet die kunstgeschichtliche Perspektive auf Kunst, die sich für Kontexte der Entstehung, des Gebrauchs und der Bewertung von Kunstwerken interessiert. Auch für die Bestimmung unseres Verhaltens heute den Werken gegenüber ist die geschichtlich-gesellschaftliche Kontextualisierung künstlerischer Objekte und der Perspektiven, unter denen wir sie betrachten, laut Busch wichtig: „Erst eine Sicht, die historische Bestimmung und gegenwärtiges Rezeptionsverhalten in ein Verhältnis setzt, dürfte in der Lage sein, Aussagen zu machen, die sowohl dem Erkenntnispotential wie auch der ästhetischen Dimension des Kunstwerks gerecht werden.“8 Damit betont Busch einerseits die historische Dimension der Funktionen verschiedener Werke; gemeint ist die Praxis ihrer Herstellung und Benutzung. Andererseits wird es möglich, durch diese Kontextualisierung des einzelnen Werks zu beschreiben, wie sich die Auffassung der Praxis der Rezeption, in der das Werk steht, veränderte; so würden z. B. erst in der Relation zu vergangenen religiösen Funktionen die aktuellen, ästhetischen Funktionen von Werken, die beispielsweise aus den Kirchen in die Museen wanderten, verstehbar – wie u. a. Wolfgang Kemp in der FunkkollegPublikation erläutert.9 Kemp sieht die bürgerlichen Interessen an den Werken, die fortan vom Bürgertum gesammelt werden, aus den liturgischen, pädagogischen und repräsentativen Interessen der Kirche hervorgehen. „Die Ambivalenz der

7Busch,

Werner (Hg.): Funkkolleg Kunst, Bd. I und II. München/Zürich 1987, S. 798.

8Ebd. 9Kemp, Wolfgang: Kunst kommt ins Museum. In: Werner Busch (Hg.): Funkkolleg Kunst, Bd. I und II. München/Zürich 1987, S. 205–229.

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neuen Situation will also sehr genau begriffen sein: die Lösung der Kunst aus den Zwängen religiöser Kunstübung bedeutet keine totale Freiheit, es entstehen nur andere Bindungen.“10 Kemp kritisiert hier einen bestimmten populär gewordenen Begriff der Kunstautonomie, dem zufolge sich die Geschichte der Kunst als eine Fortschrittsgeschichte darstellen lässt – angefangen von ihrer ursprünglichen Angewandtheit hin zu ihrer Befreiung aus Gebrauchs- und Interessenszusammenhängen. Betont werde so, dass die „Interesselosigkeit des ästhetischen Urteils als Beurteilung künstlerischer Werke“, wie sie als Differenzkriterium z. B. von Kant gesetzt worden war, im Grunde genommen mit einem starken Interesse verbunden worden sei. Das gesamte Verständnis von dem, was Künste, was ein Kunstwerk sei, habe sich gewandelt. „Die bürgerliche Kulturrevolution brachte also das Kunststück fertig, nicht nur neue Kunst zu erzeugen, sondern auch die alte Kunst, die Kultur der überwundenen Gegner für ihre Zwecke neu zu schaffen.“11 Solche Umwidmungen lassen sich kunstgeschichtlich (im Grunde nur) mittels eines Funktionsbegriffs vornehmen, der die Rezeption thematisiert, und eben nicht aus einer reinen Produktions- und Werkanalyse heraus. Aber was genau ist in einer solchen kunstgeschichtlichen Perspektive mit der ästhetischen Funktion der Kunst gemeint? Lässt sich überhaupt so ein Kollektivsingular bestimmen? Die ästhetische Funktion der Kunst ergibt sich laut Kemp erst aus der bürgerlichen Bewertung der Kunstfertigkeit ihrer Herstellung, ist also eine Wertzuschreibung bzw. Heraushebung bestimmter Tätigkeiten und Fähigkeiten und der damit verbundenen Abwertung anderer. „[Ä]sthetisch nennen wir den neuen Funktionsbereich deshalb, weil er die Kunstfertigkeit zu einem wesentlichen Kriterium der Auswahl, Präsentation und Wertung der Gegenstände macht.“12 Mit der Erläuterung der angesprochenen ‚Ambivalenzen des Übergangs‘ steht auch die scharfe Grenze, die das 20. Jahrhundert zwischen ‚eigentlichen‘ Kunstwerken und den bloß angewandten, benutzbaren Objekten zieht, zur Debatte. Die Übergänge sind komplex, historisch beeinflusst von verschiedenen Sichtweisen und bewirken, dass eine ausschließende Unterscheidung von Kunst und Nichtkunst nicht zuverlässig möglich ist.13 Ein zuvor durch seinen Gebrauch definierter Gegenstand kann in einer Umwertung seiner Funktion zu einem Gegenstand werden, der aufgrund seiner Materialeigenschaften nun als Produkt kunstfertiger Bearbeitung bewundert wird. Der Besitz eines solchen Gegenstands wiederum dient dem Machtinteresse oder dem Prestige des Besitzenden – daran hat sich vermutlich bis heute nicht so viel geändert. Werner Busch konstatiert im Zuge dieser historischen Umwertung

10Kemp,

Wolfgang: Kunst wird gesammelt. In: Werner Busch (Hg.): Funkkolleg Kunst, Bd. I und II, München/Zürich 1987, S. 185–204, hier S. 202. 11Kemp: Kunst kommt ins Museum, 1987, S. 215. 12Kemp: Kunst wird gesammelt, 1987, S. 203. 13Ebd.: „Und die Sammlungsgeschichte hat uns gelehrt, wie bunt und gleichberechtigt die Verteilung der Produkte aller Künste war, wie wichtig und angesehen der Beitrag gerade jener Künste war, die wir ‚angewandte‘ oder ‚niedere Künste‘ nennen oder ganz aus der ästhetischen Sphäre aussondern.“.

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„neue Funktionsanforderungen“ an die Künstler, die das Aussehen der Werke mit beeinflussen, so dass Materialität und Eigenschaften der Werke in historischen Kontexten über den ‚Umweg‘ der veränderten Funktion ihrerseits als veränderbare Größen erläutert werden können.14 Laut Busch ist es den Künstler/innen nicht bewusst, dass es zu einer Neubesetzung durch andere Funktionen kommt, wenn religiöse und höfische Funktionen der Künste schwinden. Künstler/innen gingen im Szenario des Wechsels von einer „scheinbaren Funktionsfreiheit“ aus, so Busch. Man könnte, dies weiterdenkend, die politische Funktion der Kunst als eine Selbstermächtigungsfigur verstehen, die das einlöst, was mit einer solchen scheinbaren Funktionsfreiheit verbunden ist – die Möglichkeit von Künstler/ innen, über eigene Funktionsneubesetzungen zu entscheiden. Dies wird auch in der Funkkolleg-Publikation am Beispiel von George Grosz dargestellt, der wegen seines grafischen Zyklus Hintergrund ein drei Jahre dauerndes Gerichtsverfahren mit der Anklage der Gotteslästerung über sich ergehen lassen musste.15 Konrad Hoffmann, der diesen Gerichtsprozess ausführlich beschreibt, stellt aber auch eine traditionelle Linie her, die von politischen Karikaturen des Mittelalters bis hin zur Kritik von Grosz an der Kriegsverherrlichung durch Kirche und Staat verläuft. Die Bildkritik im Mittelalter und in der Reformationszeit setzte dabei allerdings „moralische, religiöse und politische Normen in der neuen Lebenswirklichkeit breit durch“, ohne dass die bestehende „zugrundeliegende Ständeordnung“ dabei angetastet worden wäre.16 Künstler wie Lucas Cranach fungieren als eine Art von Auftragnehmer, die im Auftrag von anderen, z. B. Melanchthon, kritische Inhalte lancieren. George Grosz hingegen steht als Künstler im 20. Jahrhundert allein mit seiner bissigen Bildkritik an Kirche und Staat vor Gericht. In dieser Gegenüberstellung deutet sich an, dass sich die Dimension des kunstgeschichtlichen Begriffs der Funktion im Hinblick auf die Moderne geändert hat; d. h., in der Moderne wird es möglich, unter dem Stichwort der Funktion auch die Wirkung einzelner Werke als eine ganz eigene, ans Werk gebundene Wirkung zu verstehen, die es ohne dieses konkrete Werk nicht geben würde. Ganz generell lässt sich so viel sagen, dass sich die ‚Funktionen der Künste‘ bestimmen lassen erstens durch den Beitrag eines Teils zum Ganzen, zweitens durch die Verfügbarkeit der jeweiligen Kunst für ein Anderes. Drittens ist eine ästhetische Funktion im Sinne einer beeindruckenden Ausführung bzw. Fertigung von etwas nicht allein den Künsten zuzuordnen, sondern kann auch in ganz anderen Bereichen eine Rolle spielen.17 Der kunsthistorische Begriff der Funktion

14Vgl.

Busch, Werner: Die Autonomie der Kunst. In: Ders. (Hg.): Funkkolleg Kunst, Bd. I und II. München/Zürich 1987, S. 230–256, hier S. 249 f. 15Hoffmann, Konrad: Das Bild als Kritik. In: Werner Busch (Hg.): Funkkolleg Kunst, Bd. I und II. München/Zürich 1987, S. 507–531. Der Prozess gegen Grosz wurde von 1928 bis 1931 geführt. 16Ebd., S. 517. 17Vgl. hierzu Mattenklott, Gerd: Der ästhetische Mensch. In: Werner Busch (Hg.): Funkkolleg Kunst, Bd. I und II. München/Zürich 1987, S. 289–310.

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der Künste geht im Wesentlichen von der Einbettung von einzelnen Kunstwerken in ihren historischen Zusammenhang aus und bestimmt das Werk über seine Rolle in diesem Konkreten. Erweitert werden kann diese Bestimmung dadurch, dass unter dem Begriff der Funktion im Rahmen künstlerischer Intentionen und Strategien Werke auch als ein Mittel von Künstler/innen verstanden werden können, wie die Erläuterung der politischen Funktion des Grafikzyklus von George Grosz verdeutlicht. Denn Grosz setzte seine Druckgrafiken gezielt ein, um die Rolle der damaligen Kirchenvertreter als Kriegstreiber anzuprangern. ‚Funktionen der Kunst‘ in der Soziologie Im Mittelpunkt der soziologischen Frage nach der Funktion von Künsten stehen die Akteure und ihr Verhältnis zur gesellschaftlichen Praxis. Fragen nach Dingen, Objekten, Materialien, in diesem Fall also nach Kunstwerken, und ebenso Fragen nach dem Einfluss derselben in einer gestalteten Umgebung oder gar im Verhältnis zur Natur kommen nur sehr sporadisch vor.18 Soziologische Bestimmungen der Funktionalität drehen sich im Allgemeinen um die Frage nach dem Verhältnis der Handlungen einzelner Akteure im Verhältnis zu Teilsystemen (z. B. im Systemfunktionalismus bei Luhmann) bzw. zu sogenannten Feldern (bei Bourdieu) oder im Verhältnis zum gesellschaftlichen Ganzen (z. B. bei Talcott Parsons). Zur Debatte steht für unsere Fragestellung nach transformatorischen Potentialen künstlerischer Praktiken, ob überhaupt und wie das Handeln Einzelner als gesellschaftliche Formgebung begriffen werden kann – ein Gedanke, der z. B. für die Theorie des allgemeinen Handlungssystems bei Parsons von zentraler Bedeutung ist. Es geht um eine Verhältnisbestimmung von Akteur/in und einer hier noch nicht erläuterten Art von kollektiver Ordnungsbildung. Nicht nur die Frage nach dem Einfluss der künstlerisch Handelnden und ihrer Werke, sondern auch die Frage, wie sich soziologisch Gesellschaft überhaupt auffassen lässt, steht damit zur Diskussion. Der Ordnungsbegriff ist damit zunächst sehr unspezifisch gefasst – von strukturierter Unordnung oder gesellschaftlicher Differenzierung bis hin zur Unverfügbarkeit kann vieles unter einem (damit eher systematisch gedachten) Ordnungsbegriff mitgemeint werden. Auffällig im Vergleich zu dem, was oben im ersten Abschnitt gesagt wurde, ist bereits auf den ersten Blick, dass unter dem Label des soziologischen Funktionsbegriffs etwas anderes gemeint ist als aus kunstgeschichtlicher Perspektive, aus der heraus die Frage nach gesellschaftlichen Konventionen des Umgangs mit einzelnen Kunstwerken gestellt wird. In seiner Theorie des allgemeinen Handlungssystems setzt Parsons den Begriff der Funktion zentral. Er versteht darunter Auswirkungen, die Handlungen haben. Die Sozialtheorie der Gesellschaft versteht Parsons als die Frage, wie und warum Handlungen in die Gesellschaft integriert werden und somit spezifische Wirkungen erreichen. Handlungen fasst er auf als soziale Tatsachen, nicht als subjektiv Gemeintes. In seinem systemfunktionalistischen Denken geht er davon

18Eine

Ausnahme bildet hier Bruno Latour, fasst man ihn vorrangig als Soziologen und weniger als Wissenschaftshistoriker oder Philosophen auf.

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aus, dass geteilte Wertorientierungen als eine Art Motor von Gesellschaftsbildung aufgefasst werden können. Er betont, „dass es uns schlichtweg nicht möglich ist, unsere eigenen Werte zum Gegenstand von Nutzenkalkulation zu machen“.19 Damit wird eine integrative Kraft geteilter kultureller Wertorientierungen behauptet, an deren Variantenreichtum und Weiterentwicklung kollektiv gearbeitet werden kann – und zwar auch im Rahmen expressiver und kreativer künstlerischer und nichtkünstlerischer Handlungsformen.20 Parsons veröffentlichte den Essay „Politics and Social Structures“ 1969, dennoch werden demokratische Prozesse der Teilnahme und Aushandlung in der Öffentlichkeit bis heute zu großen Teilen ähnlich beschrieben. In aktuellen identitätspolitischen Debatten wird hingegen nicht mehr davon ausgegangen, dass es noch geteilte Wertorientierungen gibt. Vielmehr werden hier Differenzen zwischen Mitgliedern verschiedener Gruppen betont. Im Gegenzug zu Parsons Ansatz kommt es zur Betonung einer kulturellen Vielfalt, die auch eine Vielfalt der Wertorientierungen ist. An die Verschiedenheit von Wertorientierungen knüpft bereits Niklas Luhmann an. Die Orientierung auf die jeweilige Situiertheit von Werten begreift Luhmann als Komplexität im Ganzen, und seine Antwort darauf ist das Szenario des Auseinanderfallens von Zusammenhängen und Funktionen, die nur noch in Teilsystemen analysierbar sind. „Funktionen […] können nicht in eine allgemein gültige Rangordnung gebracht, können also nicht wie Schichten hierarchisiert werden, weil sie für die Gesellschaft allesamt notwendig sind und sich ihr jeweiliger Vorrang oder Wichtigkeitsgrad nur situationsweise regeln läßt.“21 Mit Gesellschaft meint Luhmann allein die moderne Gesellschaft – und so ergibt sich im Verhältnis zur kunstgeschichtlichen Prägung des Funktionsgedankens eine interessante Parallele sowie zugleich eine Verschiebung: Die Bestimmung der historisch konkreten Situation, in der Tätigkeiten und Gegenständen Funktionen zukommen, ist dem kunstgeschichtlichen Ansatz verwandt. Nur die Differenzierung der Gesellschaft findet bei Luhmann nicht durch die Unterscheidung unterschiedlicher historischer Epochen in Abfolge statt, sondern sie wird als Denkfigur horizontal im Moment (der Moderne) angeordnet. Verschiedene Funktionen der gleichen Sache (z. B. der Kunst – ihrer Tätigkeiten und Gegenstände) sind also gleichzeitig denkbar – und so wird es mit Luhmann auch denkbar, dass wir denselben Kunstwerken gleichzeitig ganz unterschiedliche Funktionen zuschreiben. Dem grundlegenden Impuls der Funktionsfrage, nämlich der Frage nach den gesellschaftlichen Wirkungen der Künste, entzieht sich Luhmann geschickt durch die Trennung der Begriffe Funktion und Leistung. Während die Wirkungen der künstlerischen Tätigkeiten, Gegenstände, Diskurse und überhaupt von allem, was zum System der Kunst dazugehört, immer wieder in der Systemerhaltung als der Erhaltung einer Autonomie der Kunst münden, nennt er die Wirkungen, die durch die Ansprüche

19Joas,

Hans/Knöbl, Wolfgang: Sozialtheorie. Frankfurt a.M. 2004, S. 63 („Zweite Vorlesung: Der klassische Versuch zur Synthese. Talcott Parsons“). 20Vgl. Joas, Hans: Die Kreativität des Handelns. Frankfurt a.M. 1992, S. 113 ff. 21Ebd., S. 27 f.

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anderer Akteure bzw. anderer gesellschaftlicher Systeme ‚von außen‘ an die Kunst herangetragen werden, „Leistung“. Das, was andere als Leistungen der Kunst in Anspruch nehmen, verändert die innersystematische Funktion der jeweiligen Künste nicht. Denn Funktionen sind – wie jede Differenzierung laut Luhmann – dem Gedanken der Reduktion von Komplexität geschuldet. Und Komplexität wurde reduziert dadurch, dass die internen Regeln des Systems Kunst durch die Akteur/innen anderer Systeme gar nicht mehr erfasst werden können. Sie beurteilen die Kunst vielmehr nach den Regeln ihres eigenen Systems. Um ein Beispiel zu nennen: Wird Kunst von der Politik im Sinne ihrer Leistung ‚benutzt‘, so hat dies keine Auswirkungen auf die Kunst selbst, deren interne Funktion nach Luhmann Autonomie bedeutet. Autonomie wäre das, was wiederum nur im Kunstsystem gilt, dafür aber nicht gesamtgesellschaftlich durchgesetzt werden kann.22 Umgekehrt findet ebenfalls eine Komplexitätsreduktion statt, wenn Außerkünstlerisches in das künstlerische System integriert und nun nach den Parametern der Kunst beurteilt wird. Was ging dabei verloren? ‚Sinnbildung‘ bleibt so lediglich eine Methode der Akteure, eigene Entscheidungen vor sich und anderen zu begründen. Verloren ging die Idee, die sich bei Parsons noch findet, dass es zwischen den Entscheidungen und Handlungen von Akteuren und den gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Handlungen irgendeinen kausalen Zusammenhang geben kann. Luhmann spricht auch von der Kontingenz der Operationen des gesellschaftlichen Teilsystems. Das Erleben von Kontingenz ist an die Stelle der Möglichkeit von Verantwortung gerückt, so Hans Joas und Wolfgang Knöbl.23 Die Autoren kritisieren den Funktionalismus Luhmanns als zu radikal, weil in ihm der Gedanke der Verursachung, der ursprünglich im Wort ‚Funktion‘ enthalten ist, beseitigt wurde. In seinem Vorschlag, die Kreativität des Handelns in der soziologischen Theoriebildung stärker zu beachten, argumentiert Joas gegen den ‚soziologischen Funktionalismus‘, um dann die Idee der Funktion als kausaler Verursachung handlungstheoretisch wieder einzuführen.24 Kreative Handlungsformen seien seit jeher für jedes Handeln mitbestimmend. Joas spricht davon, dass das „Begehren der Handelnden, […] ihre sozialen Ordnungen anzuerkennen, als wären sie ein Werk ihres Willens“, konstitutiv für soziologische Theoriebildung sein müsse. Im Rahmen einer Betonung des kreativen Anteils allen Handelns erübrigt sich auch die Denkfigur der Trennung eines funktionalen nichtkreativen Handelns vom künstlerisch-kreativen. Bewusste und unbewusste Entscheidungen spielen in beiden Fällen eine Rolle, sie sind anteilig zu bestimmen, so eine Schlussfolgerung. Dem Funktionsgedanken ist damit seine Bestimmung als Wirksamkeit zurückgegeben, die sich auf ein Verhalten und Handeln von Akteur/innen gründet – im

22Vgl.

Siegmund, Judith: Zweck und Zweckfreiheit. Zum Funktionswandel der Künste im 21. Jahrhundert. Stuttgart 2019, S. 28–31. 23Joas/Knöbl: Sozialtheorie, 2004, S. 378. 24Joas: Die Kreativität des Handelns, 1992.

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Einklang mit der Auffassung einer pluralen gesellschaftlichen Ordnung. Dieser Funktionsbegriff gilt dann auch für die Künste. ‚Funktionen der Kunst‘ in der Theorie des Designs Direkt an Hans Joas’ Ausführung zum soziologisch gefassten funktional-kreativen Handlungsgedanken anschließend, lässt sich eine Version des Funktionsbegriffs erläutern, der in der Geschichte des Designs seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts Karriere gemacht hat – Design wird heute vielerorts verstanden als ein Handeln, in dem nicht allein fertige Produkte, sondern ebenso Prozesse des Entwerfens und Herstellens sowie gesellschaftliche Kontexte und Konsequenzen gestalterisch thematisierbar geworden sind. Neben einer guten Funktionalität von Gebrauchsgegenständen stehen damit auch Fragen wie diese im Mittelpunkt: Von wem werden diese Gegenstände oder auch Situationen entworfen, für wen und welchen Gebrauch, in welche Ideologien und Herrschaftsverhältnisse sind sie eingelassen?25 Zunächst möchte ich aber mit dem Begriff des Funktionalismus als Stilbegriff beginnen und darüber etwas sagen, wie er sich in der Geschichte des Designs und der Designtheorie herausgebildet hat. Der Funktionalismusbegriff im Kontext von Design hat zunächst nichts zu tun mit dem soziologischen Begriff, d. h., er hat nichts zu tun mit dem Gedanken der Kontingenz (wie z. B. bei Luhmann). Funktionalismus steht im Design für einen die Epoche prägenden Stil, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Zuge der Expansion des Industriekapitalismus entstand. Der Ausspruch Louis H. Sullivans „Form follows function“, der sich bis heute einer großen Beliebtheit erfreut, steht für den Gedanken des Zusammenhangs ‚guter‘ Gestaltung und zugleich sinnvoller Nutzung von Design und Architektur. Er besagt, dass die funktionalste gestalterische Lösung zugleich die ästhetisch ansprechendste sei. In der Moderne sah es für eine Weile so aus, als sei ein Funktionalismus in diesem Verständnis ihr zentrales Motto. In Wirklichkeit handelt es sich hier aber um einen Stilbegriff, mit dem sich lediglich eine gestalterische Grundüberzeugung in der Moderne charakterisieren lässt; ihr stehen andere Gedanken und Überzeugungen bezüglich des modernen Gestaltens gegenüber. Anders formuliert: Sullivans Theorie des Funktionalismus entspricht bei näherem Hinsehen beispielsweise nicht den Theoriebildungen der Nachkriegsmoderne, in denen Serialität, Effizienz und Massenfertigung bedeutend geworden sind. Vielmehr meinte Sullivan mit seinem Ansatz eine überzeitliche Idee zu präsentieren, nämlich die, dass in der Natur selbst funktionale Lösungen zu finden sind, welche von Gestalter/innen kopiert und zitiert werden können. Bis heute ist dieser Ansatz in ingenieurstechnischem Denken von Relevanz. Die Idee, die Sullivan mit naturphilosophischen Gedanken aus dem 18. und 19. Jahrhundert

25Ein

prominentes Beispiel wäre: Dunne, Anthony/Raby, Fiona: Speculative Everything. Design, Fiction, and Social Dreaming. Cambridge, Mass./London 2013. Eine solche weite Perspektive wurde bereits in den 1960er Jahren von Baudrillard eingenommen. Vgl. zu seiner kritischen Darstellung des Funktionalen aus einer poststrukturalistischen Perspektive Baudrillard, Jean: Das System der Dinge. Frankfurt a.M./New York 1991.

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zusammenbringt, ist aus einer Handlungsperspektive künstlerischen Gestaltens entwickelt – und so steht der Stil des Funktionalismus eigentlich für die Idee einer Verbindung von technischem Ingenieurswissen, künstlerischem Gestalten und naturwissenschaftlichem Erkennen. Positionen einer solchen Verschränkungsidee wurden z. B. von dem Architekten und Designer Peter Behrens, dem Bauhaus, aber auch der Werkbundbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorgetragen. Alle diese Positionen sind aus produktionsästhetischen Perspektiven gedacht – und so ist es nur ein weiterer Schritt, Funktionalität im Designhandeln nicht allein als eine funktionale Eigenschaft von Designobjekten zu beschreiben, sondern sie mit den Designprozessen zu verbinden. Ich möchte anknüpfend an diese Gedanken der Gründer/innen des Funktionalismus und im Hinblick auf ein erweitertes Selbstverständnis von Designer/ innen Funktionalität im Design als ein verantwortungsvolles Umgehen mit den Wirkungen gestaltender Entscheidungen bestimmen. Denn der Funktionalismus als ein auf den Stil von Gegenständen bezogener Begriff ist seit den 1970er Jahren auch innerhalb des Designs selbst in die Kritik geraten. Aus einer kapitalismuskritischen Perspektive wurde die Idee des effizienten und funktionalen Gegenstandes, die sich im Zuge der Massenproduktion in der Nachkriegszeit etabliert hatte, in Frage gestellt. Auch die soziale Verantwortung von Designern ist seitdem mehr in den Fokus gerückt – Gestalten wird nun stärker als zuvor als eine soziale Praxis verstanden. Die Gründung von Studiengängen der Visuellen Kommunikation an den Kunsthochschulen steht in diesem Zusammenhang. Ein gutes Beispiel für eine solche Auffassung liefert ein Text von Bruno Latour, der Design durch ein vorsichtigeres und umsichtigeres Handeln bestimmt, das sich von den Szenarien in der Moderne unterscheidet, die vom Gedanken einer absoluten Beherrschbarkeit und totalen Lösbarkeit bestimmt gewesen sei.26 In der Auffassung designerischen Handelns als ein funktionales Handeln, das in einer gesellschaftlichen Praxis steht, lässt sich der Begriff der Funktion bzw. der Funktionalität des Designs mit der soziologischen Definition funktionalen Handelns, wie sie unter Rückgriff auf Hans Joas skizziert wurde, zusammenführen. Funktionen von Design – seinen Prozessen und Gegenständen – charakterisieren dasjenige, was den einzelnen gestaltenden ‚Beitrag‘ übersteigt und durch den Kontext mitbestimmt ist. Die Funktion eines Stuhls wäre dann nicht allein, dass man auf ihm sitzen kann (sein Gebrauch), sondern seine Funktion besteht auch in Geschichten, Bedeutungen und gesellschaftlichen Kontexten, die er durch sein Gemachtsein verkörpert. ‚Funktionen der Kunst‘ in der philosophischen Ästhetik Innerhalb der Philosophie und Ästhetik stellt sich die Geschichte des Funktionsbegriffs wieder anders dar: Die Metaperspektive bleibt einerseits wie in der Soziologie erhalten, sie wird aber konfrontiert mit einer Theoriebildung, die auf

26Latour,

Bruno: Ein vorsichtiger Prometheus? Einige Schritte hin zu einer Philosophie des Designs, unter besonderer Berücksichtigung von Peter Sloterdijk, http://www.bruno-latour.fr/ node/69 (abgerufen am 23.01.2020).

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das Subjekt aus einer Binnenperspektive des Teilnehmens an Künsten gerichtet ist. Die systematische Bestimmung betrifft wesentlich das einzelne Subjekt, dem dann in der europäischen Ästhetik des 20. Jahrhunderts die Dimension der Praktiken, in denen es steht, als konstitutiver Background mit eingeschrieben wird. Dadurch, dass in der modernen Ästhetik im Wesentlichen Fragen aus der Perspektive der Rezeption von Kunstwerken gestellt worden sind, bekommt das Funktionale zunächst eine ganz andere Konnotation. Kunst bzw. die Künste hatten hier die Aufgabe, von den allgemeinen gesellschaftlichen Funktionen zu entlasten, dem oder der Einzelnen die Möglichkeit zu geben, aus Zwängen herauszutreten. Die soziologischen Narrative einer allgemeinen gesellschaftlichen Individualisierung und Rationalisierung bilden die Folien für die Beschreibung einer funktional gedachten Moderne, im Kontrast zu der die Beschäftigung und Erfahrung der Künste eine Art von Befreiung versprach. Und diese Befreiung – thematisiert unter dem Stichwort der Autonomie der Kunst – wurde in verschiedenen ästhetischen Theorien ganz unterschiedlich ausbuchstabiert, oft ist sie als ein Heraustreten aus einer funktional gedachten Gesellschaft erläutert. Es versteht sich aus der Logik dieser Erläuterung heraus, dass eine Thematisierung der ‚Funktionen der Künste‘ mit einer solchen Bestimmung von Gesellschaft problematisch geworden ist. Und so sprach Adorno auch von der Funktionslosigkeit der Kunst als ihrer Funktion, eine Formulierung, die oft und zumeist zitiert wird, wenn es um Fragen nach der ‚Funktion der Kunst‘ geht.27 Hinzu kommt, dass das Funktionale in einem grenzziehenden Diskurs gegenüber den Künsten immer wieder den Gebrauchsdingen, dem „Zeug“, wie Heidegger sie nennt, sowie Designgegenständen zugeordnet worden ist. Zeug und Design sind ontologisch dadurch gekennzeichnet worden, dass sie uns zu etwas dienen, also durch die Betonung technizistisch gedachter Funktionalitäten. Kunstwerke gehören nun, so Heidegger, explizit nicht zu dieser Gruppe, denn sie gehen gerade nicht auf in funktionalen Zusammenhängen. Vielmehr ließe ihre Eigenschaft der Wahrheitsentbergung gerade die Thematisierung und das Erleben der Geschichtlichkeit der Menschen als eigentliches Merkmal der Kunstwerke erkennen. Umgekehrt sei es Gegenständen, die in funktionalen Zusammenhängen stehen, eben gerade nicht möglich, so etwas wie Geschichtlichkeit zu verkörpern; sie werden (zu etwas) benutzt und dann weggeworfen bzw. sie „nutzen sich ab“, wie Hannah Arendt mit Heidegger betont.28 Man kann auch sagen: Die Gegenstände, die keine Kunst waren oder nicht als Kunst angesehen wurden, wurden philosophisch charakterisiert durch einen sehr eindimensionalen Funktionsbegriff, der im Grunde genommen die Abwesenheit von Menschlichkeit und Geschichtlichkeit bedeutet. Heidegger formuliert später: Technischer Fortschritt führt in Seinsvergessenheit. 27Reinold

Schmücker ist in diesem Zusammenhang zu nennen als jemand, der die Frage nach den Funktionen der Kunst früh anders gestellt hat; vgl. Schmücker, Reinold: Wozu Kunst? In: Bernd Kleimann/Reinold Schmücker (Hg.): Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion. Darmstadt 2011, S. 13–33. 28Arendt, Hannah: Kultur und Politik. In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München 2013, S. 277–304, hier S. 297.

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Spricht man in diesem philosophischen Kontext von der Funktion der Kunst, bezieht man sich einerseits zumeist auf andere philosophische Traditionen, oder es muss andererseits darum gehen, das Missverständnis einer Autonomie, die als Funktionslosigkeit verstanden wird, aufzuheben. Hierbei ist der Gedanke, dass sowohl den Künsten im Gesellschaftlichen als auch einzelnen künstlerischen Arbeiten Funktionen zukommen, eng gekoppelt an die Art und Weise der Darstellung von künstlerischen Wirkungen. Solche Wirkungen lassen sich sowohl aus der Metaperspektive eines zeitgenössischen Kunstverständnisses bestimmen als auch als Bedeutungen, die Werken aufgrund dessen zukommen, dass sie bestimmte Bewegungen, Handlungen und Intentionen von Künstler/innen verkörpern. Künstler/innen sind, soziologisch gesprochen, Akteur/innen, die ihre Werke und Situationen für plural existierende gesellschaftliche Kontexte schaffen. Aus einer solchen Perspektive lässt sich freilich die scharfe Grenze, die autonomieästhetisch zwischen Kunst und Design gezogen wurde, nicht halten. Die Abgrenzung beider Bereiche muss eher phänomenal beschreibend vorgenommen werden, sie wird nicht kategorial, sondern empirisch graduell verständlich. Beide – Künste und Designpraktiken – lassen sich beschreiben durch bestimmte Vorgehens- und Handlungsweisen, die prozesshaft gedacht werden können. So erläutert Bruno Latour eben ein neues nachmodernes Verständnis designerischen Handelns als eines, das Parameter der Moderne hinter sich lässt und also etwas anderes will. Auch Adorno erklärt in seinem Vortrag über Funktionalismus, den er 1965 auf der Tagung des Deutschen Werkbundes hielt, dass es Autonomie im Sinne einer als Funktionslosigkeit verstandenen Zweckfreiheit nicht geben kann.29 Hier führt er allerdings den ästhetischen Zweckbegriff in die Debatte um die Funktionen der Künste und des Designs ein – ein geschickter gedanklicher Schachzug, der neue Möglichkeiten eröffnet, auf die ich abschließend noch kurz eingehen werde. Adornos Denkfigur einer Synthese des Funktionalen und Künstlerischen lässt sich wieder in Verbindung bringen mit dem produktionsästhetischen Ansatz der Design-Funktionalisten vom Beginn des 20. Jahrhunderts.

3 Was ist heute interessant am Funktionsbegriff? Man kann sich heute dem Funktionalen der Künste wieder entspannt nähern. Denn die soziologisch-philosophische Fixierung auf die Dichotomie von oftmals negativ konnotierten Funktionalisierungen des Gesellschaftlichen – z. B. im Sinne der Versachlichung und Verdinglichung – und nie im Funktional-Gesellschaftlichen aufgehenden Künsten als deren Pendant lässt sich wohl nicht mehr in dieser reinen Form vertreten.30 Es sind nicht zuletzt kreativwirtschaftliche, aber auch politisch bzw. gesamtgesellschaftlich ästhetisierende, aber auch populistische und medienbasierte kulturelle Entwicklungen, die eine solche scharfe Trennung nicht mehr 29Adorno,

Theodor W.: Funktionalismus heute. In: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft, Bd. I: Prismen. Ohne Leitbild. Frankfurt a.M. 2016, S. 375–395, hier S. 395. 30Vgl. dazu auch Siegmund : Zweck und Zweckfreiheit, 2019, S. 55–58.

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zulassen würden.31 Inzwischen lässt sich also unbefangener fragen: Wofür sind einzelne Künste gemacht und was bewirken jeweilige künstlerische Aktionen und Werke? In einigen Fällen ist das, was sich mit einem Kunstwerk machen lässt, ganz offensichtlicher Bestandteil seiner Gattung, wie z. B. in der klassischen Musik, die dazu gemacht ist, sie im bürgerlichen Konzertsaal zu hören, oder bei der Popmusik, die gerade nicht zu einer solchen Rezeptionsweise, sondern zum Hören in privaten oder anderen öffentlichen Räumen produziert wird. Aber auch hier ändern sich begleitende Fachdiskurse. Zum Beispiel wird heute oft ein Moment der Teilhabe an musizierenden oder Musik hörenden Gemeinschaften betont, weil Musik inklusive Wirkungen hervorruft, oder es wird die Kritikalität des Pop beschworen.32 Wie Stefan Deines es mit John Dewey sagt: Der „Wert der Kunst [wird] […] durch ihren besonderen Zusammenhang […] beschrieben. […] Pragmatistische Ästhetik fragt in diesem Sinne ganz explizit nach der Funktion der Kunst für uns als Handelnde, für die Praktiken, in die wir involviert sind, für das soziale Zusammenleben bzw. die Kultur und Zivilisation insgesamt.“33 Die negativ konnotierte Formulierung, dass Künste einfach ‚in den Dienst genommen werden‘, scheint damit überholt zu sein. Jedoch, so lässt sich fragen: Gibt es eine Indienstnahme nicht ebenso und ist sie nicht nach wie vor in einigen Fällen ärgerlich oder sogar falsch, dem künstlerischen Werk unangemessen? Was ist das Kriterium der Unterscheidung zwischen einer positiv gedachten Funktion von künstlerischen Werken in ihren Umgebungen auf der einen Seite und Missverständnissen auf der anderen Seite, die sich in einer falschen Interpretation und Benutzung zeigen? Und wie lassen sich Änderungen von Funktionen künstlerischer Arbeiten beschreiben, deren Auftreten ja durch die kunstwissenschaftliche Perspektivierung nahegelegt worden ist? Geht der Begriff der künstlerischen Funktion über eine einfache Deskription des Umstands hinaus, dass Werke zu ihren gesellschaftlichen Umgebungen in einem kausalen Verhältnis stehen? Mit der Verabschiedung der Sonderrolle der Kunst als besonderem Ort in versachlichten, rationalen Gesellschaften verknüpft sich auch ein Abschied von dem Gedanken, Künste müssten immer kritisch sein, indem sie gesellschaftlich Funktionales in Frage stellen; dieser Anspruch einer kritischen Reflexivität der Künste wird zu einem möglichen Anspruch unter anderen.34 Funktionen der Künste

31Vgl.

z. B. Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin, 2017; Gumbrecht, Hans Ulrich: Ästhetische Erfahrung heute – Allgegenwart und Ende? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.08.2017; Stalder, Felix: Kultur der Digitalität. Berlin 2017; Gumbrecht 12.08.2017; Stalder 2016. 32Diederichsen, Diedrich: Über Pop-Musik. Köln 2014, S. XV. 33Deines, Stefan: Die Funktionen der Kunst in der Pragmatistischen Ästhetik. In: KongressAkten, Bd. 4: Das ist Ästhetik!, hg. von Rebentisch http://www.dgae.de/wp-content/ uploads/2017/06/Deines_Pragmatistische-A%CC%88sthetik.pdf (abgerufen am 15.04.2019). 34Beschäftigt man sich z. B. mit der Frage, wie viele Künstler/innen ihre Kunst kritisch gegen den Nationalsozialismus gewendet haben oder sich seinerzeit in die sogenannte innere Emigration zurückgezogen haben, kommt man zu dem Ergebnis, dass das Verhalten der Künstler/innen und die Inhalte ihrer Kunst – beispielsweise an der Hochschule der Künste Berlin – sich nicht grundsätzlich

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lassen sich bestimmen als Beitrag eines Teils zum Ganzen, und dieser Beitrag kann sich kritisch auf ein Ganzes beziehen, kann es beispielsweise stören. Mit dem Terminus der Funktionen der Künste lassen sich aber ebenso repräsentative oder unterhaltende Aufgaben von Künsten beschreiben, die es in der Kunstgeschichte immer gegeben hat. Die Verfügbarkeit für ein Anderes ist nicht per se unmoralisch und ebenso ist die Nichtverfügbarkeit künstlerischer Arbeit nicht per se als moralisch oder ethisch gut zu denken. Der Einzelfall verlangt nach einer Prüfung.

4 Zum Schluss ein kurzer Vergleich von Zwecken, Funktionen und Nutzen der Künste In der Geschichte der deutschsprachigen ästhetischen Theorie des 20. Jahrhunderts wurden aus historisch nachvollziehbaren Gründen mit der zunehmenden Geltung einer ‚Zweckfreiheit der Kunst‘ die Begriffe Zweck, Funktion und Nutzen gleichermaßen als negative Kontrastfolie für diese Zweckfreiheit der Kunst verwendet. Die Idee der Zweckfreiheit hatte sich ihrerseits aus einem ganzen Bündel von theoretischen Ansätzen in der deutschen ästhetischen Debatte der Nachkriegszeit herausgebildet. Die speziellen theorieimmanenten Gründe und Ursachen dieser Entwicklung habe ich bereits an anderer Stelle etwas ausführlicher zu befragen und zu erläutern versucht.35 Ein Anliegen sollte es aber sein, Differenzen der Bestimmung von Zweck, Funktion und Nutzen aufzuzeigen, nicht zuletzt, um das Verhältnis von Künsten und gesellschaftlichen Kontexten hinreichend komplex erläutern zu können. Oftmals werden Nutzen/Nützlichkeit und Autonomie (als Selbstzweck) der Kunst in Opposition zueinander gesetzt, wie z. B. von Karl-Siegbert Rehberg, der allerdings zeitdiagnostisch feststellt, dass heute „Autonomie und Nützlichkeit […] – zuweilen mit zynischer Offenheit – eine konjunkturbelebende Verbindung ein[gehen]“.36 Dies ist ein Beispiel für den negativ gefassten ökonomischen Nutzen von Kunstwerken. Aber nicht nur für ökonomische Zwecke können Kunstwerke nützlich sein, sondern genauso gut auch für die Demokratie, wie oftmals heute auch von politischer Seite eingefordert wird. Wofür steht dann der Begriff des Nutzens und was unterscheidet ihn vom Funktionsbegriff? Nützliche Handlungen ganz allgemein werden ausgeführt, um ein Ziel zu erreichen, das erstens mit unserer Bedürfnisbefriedigung (in einem direkten und trivialen Sinn) zu tun hat und zweitens keinerlei Prozesshaftigkeit und Dynamik mehr zulässt außer dem

vom Verhältnis der Bevölkerung insgesamt zum Nationalsozialismus abheben. Die Tatsache, dass künstlerisch gearbeitet worden ist, stellte moralisch keine Differenz her. Ich beziehe mich hierbei auf Forschungsergebnisse bei Ruppert, Wolfgang: Künstler im Nationalsozialismus. Die „deutsche“ Kunst, die Kunstpolitik und die Berliner Kunsthochschule. 2015. 35Siegmund:

Zweck und Zweckfreiheit, 2019. Karl-Siegbert: Kunstautonomie als (historische) Ausnahme und normative Leitidee. In: Uta Karstein/Nina Tessa Zahner (Hg.): Autonomie der Kunst? Zur Aktualität eines gesellschaftlichen Leitbildes. Wiesbaden 2017, S. 51–65, hier S. 55.

36Rehberg,

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Erreichen des besagten Ziels. Diesen Begriff des Ziels möchte ich drittens mit dem Begriff der externen Zwecksetzung bei John Dewey vergleichen, aus der für die Subjekte wesentliche Fragestellungen und Sinndimensionen ausgeschlossen werden, eben weil es sich um externe Zwecksetzung handelt. Dewey spricht z. B. von Tätigkeiten, die „einen großen Teil unserer Arbeiten in Haus, Fabrik, Laboratorium und Studium“ einnehmen; er sagt, es seien solche Tätigkeiten, die auf keinen Fall künstlerisch oder ästhetisch genannt werden können.37 Wie steht es nun mit dem oftmals zitierten ‚Nutzen der Künste für die Demokratie‘? Auch dieser kann starr als ein extern vergebener Auftrag aufgefasst werden, von Leitkulturforderungen bis hin zur Inklusionsaufgabe, nämlich dann, wenn kein Spielraum der Befragung und Änderung der Nützlichkeit mehr gegeben ist; Spielraum beispielsweise für eine Dynamik, die nicht Erfüllung von Bedürfnissen bedeutet. Dieser Nutzenbegriff erinnert an Luhmanns Terminus der Leistung, in der Künstlerisches aus ganz kunstfremden Perspektiven verwertet wird. Spricht man von Funktionen der Künste, so ist damit das Verhältnis von künstlerischer Tätigkeit und den Kontexten ihrer Ergebnisse bereits offener gefasst als in dem einseitigen Gedanken ihres Nutzens oder ihrer Benutzung. Hier geht es um ein Wechselverhältnis zwischen Künstler/innen, ihren gesellschaftlichen Kontexten und Wertzuschreibungen an Tätigkeiten und Werke, das immer mit historischen Kontextualisierungen zu tun hat. Wie bereits angemerkt wurde, können sich Funktionen von künstlerischen Gattungen und einzelnen Kunstwerken ändern. Dies geschieht jedoch nicht willkürlich, sondern im Rahmen von breiter stattfindenden gesellschaftlichen Umbrüchen und Verschiebungen des Verständnisses von Kunst. Vermutlich befinden wir uns in einer solchem Umbruchphase der Änderung künstlerischer Funktionen. Der Zweck der Kunst unterscheidet sich als philosophischer Terminus nun von ihrer Funktion als Bestimmung künstlerischer Werke und Tätigkeiten (Funktion war ja die Bestimmung der Künste nicht durch sich selbst, sondern durch anderes), und er unterscheidet sich ebenso von dem Gedanken eines Nutzens (als vordergründige Bedürfnisbefriedigung). Mit Zweck fokussiere ich, mit Dewey gesprochen, auf eine innere Zweckhaftigkeit, die als telos künstlerischer Handlungen gegeben ist. Als ein innerer Zweck künstlerischen Handelns liegt er ebenfalls außerhalb der Handlung. Dies wird besonders deutlich, wenn es um künstlerische Resultate geht, die ihrer Herstellung und Herbeiführung äußerlich sind. Aber der Begriff des Zwecks weist noch über den herzustellenden Gegenstand hinaus. Er fokussiert auch auf dessen Einsatz, Funktion oder Benutzung. Vom Nutzen ist er deshalb unterschieden, weil seine Fixierung nur dynamisch gedacht werden kann, d. h., nicht nur seine Mittel, sondern auch das Ziel/der Zweck selbst werden im Rahmen künstlerischer Handlungen und Verkörperungen immer wieder zu korrigierbaren Größen, die sich gegenseitig fortlaufend modifizieren. Es lässt sich hier sogar von einer Prekarität sprechen, die für die Dynamik eines gemischten – ebenso kreativen wie rationalen

37Dewey,

John: Erfahrung und Natur. Frankfurt a.M. 1995, S. 341.

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– Verfolgens innerer Zwecke steht und die man trotzdem oder gerade deswegen als Selbstermächtigung deuten kann. Ähnliches passiert in den rezeptiven Prozessen, in denen Künste uns aktivieren.

Literatur Adorno, Theodor W.: Funktionalismus heute. In: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft, Bd. I: Prismen. Ohne Leitbild. Frankfurt a.M. 2016, S. 375–395. Arendt, Hannah: Kultur und Politik. In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München 2013, S. 277–304. Baudrillard, Jean: Das System der Dinge. Frankfurt a.M./New York 1991. Busch, Werner (Hg.): Funkkolleg Kunst, Bd. I und II. München/Zürich 1987. Busch, Werner: Die Autonomie der Kunst. In: Ders. (Hg.): Funkkolleg Kunst, Bd. I und II. München/Zürich 1987, S. 230–256. Deines, Stefan: Die Funktionen der Kunst in der Pragmatistischen Ästhetik. In: Kongress-Akten, Bd. 4: Das ist Ästhetik!, hg. Von Juliane Rebentisch, S. 1f., http://www.dgae.de/wp-content/ uploads/2017/06/Deines_Pragmatistische-A%CC%88sthetik.pdf (abgerufen am 15.04.2019). Dewey, John: Erfahrung und Natur. Frankfurt a.M. 1995. Diederichsen, Diedrich: Über Pop-Musik. Köln 2014. Dunne, Anthony/Raby, Fiona: Speculative Everything. Design, Fiction, and Social Dreaming. Cambridge, Mass./London 2013. Gumbrecht, Hans Ulrich: Ästhetische Erfahrung heute – Allgegenwart und Ende? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.08.2017. Hoffmann, Konrad: Das Bild als Kritik. In: Werner Busch (Hg.): Funkkolleg Kunst, Bd. I und II. München/Zürich 1987, S. 507–531. Joas, Hans: Die Kreativität des Handelns. Frankfurt a.M. 1992. Joas, Hans/Knöbl, Wolfgang: Sozialtheorie. Frankfurt a.M. 2004, S. 63 („Zweite Vorlesung: Der klassische Versuch zur Synthese. Talcott Parsons“). Kemp, Wolfgang: Kunst kommt ins Museum. In: Werner Busch (Hg.): Funkkolleg Kunst, Bd. I, und II, München/Zürich 1987, S. 205–229. Kemp, Wolfgang: Kunst wird gesammelt. In: Werner Busch (Hg.): Funkkolleg Kunst, Bd. I und II, München/Zürich 1987, S. 185–204. Latour, Bruno: Ein vorsichtiger Prometheus? Einige Schritte hin zu einer Philosophie des Designs, unter besonderer Berücksichtigung von Peter Sloterdijk, http://www.bruno-latour.fr/ node/69 (abgerufen am 23.01.2020). Mattenklott, Gerd: Der ästhetische Mensch. In: Werner Busch (Hg.): Funkkolleg Kunst, Bd. I und II. München/Zürich 1987, S. 289–310. Mosch, Ulrich: Die neue Realität Kunst. Der Glaube an die Kraft der Abstraktion. In: Positionen. Texte zur aktuellen Musik 108 (August 2016), S. 31–35. Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin 2017. Rehberg, Karl-Siegbert: Kunstautonomie als (historische) Ausnahme und normative Leitidee. In: Uta Karstein/Nina Tessa Zahner (Hg.): Autonomie der Kunst? Zur Aktualität eines gesellschaftlichen Leitbildes. Wiesbaden 2017, S. 51–65. Ruppert, Wolfgang: Künstler im Nationalsozialismus. Die „deutsche“ Kunst, die Kunstpolitik und die Berliner Kunsthochschule. Köln 2015. Schneider, Frank: „… als würde gegen eine Mauer gerannt“. Sozialistischer Realismus und seine Gegenentwürfe. In: Positionen. Texte zur aktuellen Musik 108 (August 2016), S. 24–31. Schmücker, Reinold: Wozu Kunst? In: Bernd Kleimann/Reinold Schmücker (Hg.): Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion. Darmstadt 2011, S. 13–33. Siegmund, Judith: Zweck und Zweckfreiheit. Zum Funktionswandel der Künste im 21. Jahrhundert. Stuttgart 2019. Stalder, Felix: Kultur der Digitalität. Berlin 2016.

Improvisation als Paradigma künstlerischer Wirksamkeit und ihrer sozialen Dimension Georg W. Bertram

Immer wieder ist die Wirksamkeit von Kunst in Begriffen ästhetischer Erfahrung verstanden worden.1 Demnach erlaubt die Auseinandersetzung mit Kunstwerken eine besondere Dimension in Bezug auf den menschlichen Stand in der Welt zu erleben.2 Diese besondere Dimension kann man auch im Sinne von Kritik verstehen wollen, indem man sagt, dass Kunst Menschen und ihren Praktiken den Spiegel vorhält. Eine entscheidende Implikation des Rekurses auf ästhetische Erfahrung ist dabei, dass der Kunst ein spezifischer Standpunkt jenseits anderer menschlicher Praktiken zugeschrieben wird, der eine außerordentliche Art der Erfahrung ermöglicht. Der spezifische Standpunkt der Kunst bedeutet dabei eine Differenz der Kunst gegenüber anderen Formen der Erfahrung. Diese Differenz ist die Grundlage des Zustandekommens einer kritischen Perspektive auf andere menschliche Praktiken. Eine Erläuterung der Wirksamkeit von Kunst, die in dieser Weise bei der Spezifik ästhetischer Erfahrung ansetzt, droht aber, nicht zu erklären, was sie zu erklären sucht. Die Wirksamkeit wird hier auf eine Sonderstellung der Kunst zurückgeführt. Diese Sonderstellung führt aber dazu, dass unklar wird, inwiefern eine Wirksamkeit der Kunst in den Praktiken zustande kommen kann, von denen Kunst sich abhebt. Es ist dabei nicht entscheidend, ob man ästhetische

1Vgl.

diesbezüglich unter anderem die Positionen von Beardsley, Monroe: Aesthetics. Problems in the Philosophy of Criticism. New York 1958; Bubner, Rüdiger: Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik. In: Ders.: Ästhetische Erfahrung. Frankfurt a.M. 1989, S. 9–51. 2Vgl. hierzu besonders Menke, Christoph: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt a.M. 2008.

G. W. Bertram (*)  Institut für Philosophie, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Eusterschulte et al. (Hrsg.), Funktionen der Künste, Ästhetiken X.0 – Zeitgenössische Konturen ästhetischen Denkens, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04927-8_2

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Erfahrungen primär als angenehm und bestätigend begreift oder ob man ihnen im emphatischen Sinne eine Kritik zutraut, die den Zusammenhang menschlicher Praktiken durchbricht: In beiden Fällen wird die Wirksamkeit der Kunst auf einen Sonderstatus von Kunst zurückgeführt, der aufgrund seiner strukturellen Abgetrenntheit die Möglichkeit gesellschaftlicher Wirksamkeit gerade fraglich erscheinen lässt. Will man Kunst in ihrer Wirksamkeit begreifen, gilt es aus diesem Grund, nach anderen Optionen für eine Explikation zu suchen. Eine solche Suche ist zudem auch geboten, um die offensichtliche Relevanz von Kunst für Menschen in unterschiedlichen kulturellen und geschichtlichen Zusammenhängen zu erhellen. Kunst muss als eine Praxis begriffen werden, die für Menschen in ihren jeweiligen alltäglichen Welten bedeutsam ist. Sie prägt die unterschiedlichen Arten und Weisen, wie Menschen leben. Wenn man sie grundsätzlich in dieser Weise in ihrer gesellschaftlichen Einbettung versteht, ergibt sich auch eine Erklärung dafür, dass die gesellschaftliche Wirksamkeit von Kunst oft missachtet wird: Sofern alltägliche Praktiken von Menschen als insgesamt von Kunst geprägt zu begreifen sind, also Kunst in alltägliche Zusammenhänge eingelassen ist, wird sie in ihrer Wirksamkeit nicht in besonderer Weise sichtbar. Alltägliche Praktiken und Verständnisse sind einem entsprechenden Verständnis zufolge in einer Art und Weise von künstlerischen Impulsen durchdrungen, dass diese Impulse nicht gesondert hervortreten. Dies gilt gerade für kulturelle Kontexte, in denen kein Verständnis von Kunst als eines autonomen gesellschaftlichen Teilsystems leitend ist. In all den historisch-kulturellen Kontexten, in denen künstlerische Gegenstände und Praktiken Teil der Alltagskultur oder in denen popkulturelle Elemente von besonderer Bedeutung sind, fällt Kunst nicht besonders auf. Das heißt aber nicht, dass sie in diesen Kontexten nicht wirksam wäre und dass es sich nicht um eine Wirksamkeit von Kunst im vollen Sinn handelte. Ganz im Gegenteil: Wir müssen entsprechende Kontexte genau von einer besonderen Wirksamkeit von Kunst her begreifen. Es gilt den Begriff der Kunst so anzulegen, dass Elemente der Alltagsund Populärkultur gerade auch als Kunst verständlich werden. Um dies zu tun, ist es erforderlich, die Art und Weise besser zu verstehen, in der sich Kunst in gesellschaftliche Zusammenhänge einschreibt. Ich schlage vor, für ein Verständnis der so verstandenen Wirksamkeit von Kunst Improvisationen heranzuziehen, da sich an Improvisationen begreifen lässt, wie sich Praktiken als Impulse in andere Praktiken einschreiben. Insofern geht es mir darum, eine Analogie herzustellen, die von Kunst ausgehende Impulse für gesellschaftliche Zusammenhänge mit Impulsen innerhalb von Improvisationen parallelisiert. Inwiefern lassen sich künstlerische Impulse in Analogie zu Impulsen in Improvisationen begreifen? Inwiefern lassen sich die Interaktionen in Improvisationen als Modell für die Interaktionen mit Kunst im Rahmen alltäglicher Praktiken heranziehen? Die folgenden Überlegungen können und wollen diese Fragen nicht erschöpfend beantworten. Sie widmen sich in erster Linie skizzenhaft der sozialen Dimension künstlerischer Wirklichkeit und beschränken sich damit auf einen Aus-

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schnitt dessen, was mit der Analogie zwischen Improvisationen im Besonderen und dem Zusammenhang von Kunst und Gesellschaft im Allgemeinen ins Spiel kommt. Mir geht es darum, einen Ansatz zur Bestimmung der Art und Weise zu gewinnen, wie Kunst soziale Formationen bestimmt. Aus diesem Grund sind meine Überlegungen folgendermaßen aufgebaut: Im ersten Teil trage ich einige grundlegende Aspekte in Bezug auf Improvisationen zusammen. Dies ist die Grundlage für die Analogie, die ich im zweiten Teil zuerst in allgemeiner Weise herstelle. Im dritten Teil komme ich dann auf die sozial formierende Dimension von Kunst im engeren Sinn zu sprechen. Meine These ist, dass man Kunst von dem Spannungsfeld zwischen dem Synchronisieren umfassender sozialer Zusammenhänge und der konfliktiven Vereinzelung einzelner Individuen her begreifen muss.

1 Zum Begriff der Improvisation Improvisationen werden oftmals als Geschehen verstanden, die aus der Konfrontation mit Unerwartetem resultieren. Wer mit etwas Unerwartetem konfrontiert ist, muss demnach improvisieren. Das Unerwartete wird dabei als etwas konzeptualisiert, auf das man nicht vorbereitet ist. Dies aber ist falsch, wie eine einfache Überlegung deutlich machen kann: Wenn wir auf etwas gänzlich unvorbereitet sind, dann haben wir keine Möglichkeit, es zu erkennen. Um etwas zu erkennen, müssen wir grundsätzlich, zumindest in gewisser Hinsicht, vorbereitet sein.3 Die Wichtigkeit von Vorbereitungen für eine Improvisation reicht aber noch weiter: Nicht nur gilt es, das Unerwartete zu erkennen; erforderlich für eine Improvisation ist auch, dass man auf es in produktiver Art und Weise zu reagieren vermag. Dazu bedarf es vielfältiger Vorbereitungen, die darin bestehen, die für eine produktive Reaktion erforderlichen Fähigkeiten zu entwickeln. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Unerwartete sowohl der kognitiven als auch der praktischen Vorbereitung bedarf.4 Dies lässt sich an einer ganz alltäglichen Improvisation weiter klären. Wer zum Beispiel für ein Gericht nicht die passenden Zutaten zur Hand hat, muss improvisieren. In diesem Fall spielt das Unerwartete nur in vermittelter Weise eine Rolle. In erster Linie geht es um eine Handlung, die an einem klaren Ziel orientiert ist: an dem Ziel, ein bestimmtes Gericht herzustellen. Zweifelsohne bedarf es für die Herstellung eines Gerichts – ganz unabhängig davon, ob man es nach Rezept oder improvisierend herstellt – vielfältiger Fähigkeiten: Geschicklich-

3Vgl.

hierzu und zum Folgenden insgesamt die zusammen mit Alessandro Bertinetto entwickelten Bestimmungen zum Begriff der Improvisation in: Bertinetto, Alessandro/Bertram, Georg W.: „We make up the rules as we go along“ – Improvisation as an Essential Aspect of Human Practices? In: Open Philosophy 3 (2020). 4Vgl. Bertinetto, Alessandro: Performing the Unexpected Improvisation and Artistic Creativity. In: Daimon: Revista Internacional de Filosofía 57 (2012), S. 117–135.

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keiten im Umgang mit Zutaten, passende Bewegungsfähigkeiten, geschmackliche Fähigkeiten und anderes mehr. Beim improvisierenden Herstellen eines Gerichts kommt auf Basis dieser Fähigkeiten Unerwartetes ins Spiel: Man schmeckt die Suppe ab und bemerkt mit einem Mal, dass der Geschmack auf eine besondere Weise unrund ist. Man reagiert darauf (improvisatorisch) mit der Hinzufügung von etwas Zitrone und etwas Pfeffer. Auch wenn es hier nicht um einen großen improvisatorischen Impuls geht (wie wir ihn in mancher künstlerischen Improvisation erwarten mögen), so spielt doch im Kleinen das Unerwartete eine große Rolle. Aus diesen Überlegungen zum Zusammenhang von Unerwartetem und Fähigkeiten müssen wir den Schluss ziehen, dass das Unerwartete nicht als Ausgangspunkt, sondern als Errungenschaft von Improvisationen zu begreifen ist: Es gibt das Unerwartete nur im Zusammenhang mit den Fähigkeiten, mit ihm umzugehen. Diese Grundvoraussetzung aller Improvisation hat entscheidende Konsequenzen für das Verständnis der Fähigkeiten, von denen hier die Rede ist. Diese Fähigkeiten sind zum einen als Voraussetzung aller improvisatorischen Praktiken zu begreifen. Sie erschöpfen sich aber nicht darin, Voraussetzung zu sein. Um zu begreifen, warum dies so ist, ist wiederum eine einfache Überlegung hilfreich. Wenn eine Improvisation bloß auf bestimmten im Vorhinein entwickelten Fähigkeiten beruht, dann kann sich innerhalb einer Improvisation nichts Neues entwickeln. Eine Improvisation kann nur gelingen, wenn die Fähigkeiten, mit denen sie begonnen wird, innerhalb ihrer herausgefordert werden können. Das heißt, dass die Fähigkeiten, von denen die Rede ist, nicht in sich abgeschlossen sind. Eine Improvisation ist eine Praxis, innerhalb deren die Fähigkeiten, auf denen sie beruht, immer weiterentwickelt werden. Um es pointiert zu sagen: Innerhalb einer Improvisation müssen die ihr zugrundeliegenden Fähigkeiten immer in einem gewissen Maße verlernt werden. Sie müssen sich stets weiterentwickeln können, so dass sie sich durch die Improvisation verändern. Denken wir an eine künstlerische Improvisation. Eine Instrumentalistin, die auf ihrem Instrument viel geübt und zusammen mit anderen gespielt hat, verfügt über viele Skalen, Patterns, harmonische Kenntnisse und anderes mehr. Dies ist die Grundlage der Improvisationen, an denen sie mitwirkt, aber zugleich eine grundlegende Gefahr, die in erster Linie darin besteht, dass innerhalb der Improvisation die Fähigkeiten nur reproduziert werden. Eine Improvisation kann dadurch misslingen,5 dass innerhalb ihrer nichts passiert. Dies ist besonders dann der Fall, wenn diejenigen, die miteinander improvisieren, einfach nur Eingeübtes wiederholen. Sofern eine Improvisation nur von Eingeübtem geprägt ist, ist es oftmals so, dass innerhalb ihrer buchstäblich nichts geschieht. Es kommt zu keinerlei Überraschung und Entwicklung. Die grundlegende Gefahr für eine Improvisation, von der hier die Rede ist, lässt sich knapp mit dem Begriff der Stereotypie fassen. Wenn eine Improvisation bloß in Stereotypen verhaftet bleibt, dann fehlt ihr alle

5Vgl.

zur grundsätzlichen Bedeutung der Möglichkeit des Misslingens für Improvisationen Peters, Gary: The Philosophy of Improvisation. Chicago 2009, S. 59 ff.

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improvisatorische Dynamik.6 Wir können an diesem Punkt an die Art und Weise denken, wie Improvisierende ihre eigene Praxis reflektieren. Vielfach kommt es dazu, dass Improvisierende kritisch bemerken, dass der Funke nicht übergesprungen ist, dass sie nur vor sich hin gespielt haben, ohne aufeinander einzugehen. Einfach nur routiniert zu spielen, ist das Gegenteil von dem, was eine gelingende Improvisation ausmacht. Mit Blick auf die Frage, wie in einer Improvisation Unerwartetes ins Spiel kommt, ist eine weitere Dimension von Improvisationen entscheidend: die Interaktion. Jedes improvisatorische Geschehen weist eine interaktive Dynamik auf, durch die sie sich entwickelt. Für die hier in Frage stehende Dynamik ist die Struktur grundlegend, in der unterschiedliche Aktionen miteinander verbunden sind. Jede Aktion innerhalb einer Improvisation steht in einem doppelten Verhältnis. Auf der einen Seite reagiert sie auf vorangegangene Aktionen; auf der anderen Seite fordert sie zukünftige Aktionen. Wir können hier von einer Struktur von Impuls und Antwort sprechen.7 Jede Aktion innerhalb einer Improvisation ist Impuls und Antwort zugleich. Denken wir an die Bewegung einer Tänzerin in einer Tanzimprovisation. Mit dieser Bewegung setzt sie womöglich einen Impuls. Zugleich antwortet sie auf Bewegungen von Mittänzer/innen. Die Impuls-Antwort-Struktur von Improvisationen hat zwei Dimensionen, die es weiter zu klären gilt. Die erste Dimension betrifft die Zeitlichkeit der Improvisation. Immer wieder ist die Zeitlichkeit einer Improvisation als die Gegenwart bestimmt worden. Improvisationen sind demnach Geschehnisse, die primär im Hier und Jetzt vonstattengehen. Mit Blick auf die Impuls-AntwortStruktur allerdings muss ein solches Verständnis revidiert werden.8 Die einzelnen Aktionen in einer Improvisation finden nicht im Hier und Jetzt statt, sondern sind als Antworten immer auf Vergangenes und als Impulse immer auf Zukünftiges bezogen. Die Zeit der Improvisation ist die vergangene Zukunft und die zukünftige Vergangenheit, und dies in folgendem Sinn: Jede Aktion ist als Zukunft einer vergangenen Aktion zu begreifen – als eine Antwort auf einen Impuls, der vorangegangen ist. Zugleich aber fordert sie als Impuls selbst eine Zukunft, deren Vergangenheit sie darstellt. Jeder Impuls ist nur dadurch wirksam, dass er zu einer vergangenen Aktion wird, auf die eine zukünftige Aktion antwortet. Eine Improvisation ist in diesem Sinn kein gegenwärtiges Geschehen, sondern überschreitet die Gegenwart immer auf die Vergangenheit und Zukunft hin.

6Mit Adorno kann man ein solches Scheitern einer Improvisation auch mit dem Begriff des „Immergleichen“ fassen. Vgl. Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Kulturindustrie. In: Dies.: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M. 1969, S. 128–176. 7Vgl. hierzu auch Bertram, Georg W.: Improvisation und Normativität. In: Gabriele Brandstetter u. a. (Hg.): Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren. Bielefeld 2010, S. 21–40. 8Vgl. hierzu auch Gallope, Michael: Is Improvisation Present? In: George E. Lewis/Benjamin Piekut (Hg.): The Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies. Oxford 2016, Bd. 1, S. 143–158.

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Die zweite Dimension der Improvisation betrifft die Interaktion, auf der die Impuls-Antwort-Struktur beruht. Die unterschiedlichen Aktionen, durch die sich diese Struktur aufspannt, kommen durch Interaktionen zustande. Insofern muss man Impuls und Antwort auch noch einmal anders fassen: Ein Impuls kommt durch eine Ausgangsaktion zustande, und die Antwort durch eine Antwortaktion. Immer wieder greifen in Improvisationen Ausgangsaktionen und Antwortaktionen ineinander. Das Klavier führt zum Beispiel einen bestimmten Rhythmus ein, auf den das Schlagzeug antwortet. Das Klavier bietet so eine Ausgangsaktion. Jede Ausgangsaktion ruft nach Antworten, die aber durchaus ausbleiben können. Grundsätzlich gibt es drei Typen von Reaktionen im Rahmen von Improvisationen: Erstens können die Reaktionen den Impuls aufgreifen und fortführen. Zweitens können sie eine Gegen-Aktion hervorbringen. Drittens kann aber auch jede Reaktion ausbleiben. Immer ist es möglich, dass Ausgangsaktionen resonanzlos verbleiben, dass sie ignoriert werden. Reaktionen können so auf der einen Seite affirmativ ausfallen, so dass die Reaktionen die Impulse als solche fortführen. Denkbar ist aber immer auch eine negative Reaktion, die wiederum ein doppeltes Gesicht annehmen kann. Die Gegen-Aktion kann einen Konflikt mit der Aktion austragen, so dass innerhalb der Improvisation über ihre Fortführung gestritten wird. Aber die GegenAktion kann auch einfach neben die Aktion treten. In diesem Fall kommt kein Konflikt zustande, sondern ein bloßes, im Extremfall kontaktloses Nebeneinander unterschiedlicher Ideen in Bezug auf die Weiterentwicklung der aktuellen Improvisation. Zudem kann es im Rahmen einer Improvisation dazu kommen, dass eine Spielerin isoliert wird, da niemand auf ihre Aktionen eingeht. Wenn Reaktionen auf das, was von einer Spielerin eingebracht wird, vollständig ausbleiben, führt dies zu einer solipsistischen Position im Rahmen des Zusammenspiels. Improvisatorische Interaktionen zwischen unterschiedlichen Improvisator/ innen etablieren in dieser Weise innerhalb der Improvisation soziale Strukturen. Im Rahmen eines improvisatorischen Spiels werden, so kann man dies auf den Punkt bringen, unterschiedliche Formen sozialer Kohäsion ausgehandelt. Das harmonische Einschwingen in einen einheitlichen Rhythmus ist dabei genauso als eine Art und Weise sozialer Kohäsion zu begreifen wie der intensive Konflikt über die Weiterentwicklung der Improvisation. Gehen diejenigen, die miteinander improvisieren, nicht aufeinander ein, so kommt es zu einem Fehlen sozialer Kohäsion. Der Extremfall eines solchen Fehlens ist die radikale Vereinzelung einer Mitspielerin. Die soziale Struktur improvisatorischer Interaktionen hängt untrennbar mit der Impuls-Antwort-Struktur von Improvisationen zusammen. Je nachdem, in welcher Weise Impulse aufgegriffen und für das Zusammenspiel fruchtbar gemacht werden, entwickeln sich harmonische oder konfliktive Zusammenhänge beziehungsweise kommt keine soziale Verbindung zustande. So ist eine Improvisation nie nur ein Geschehen, in dem ein spezifisches (zum Beispiel musikalisches oder gestisches) Material weiterentwickelt wird. Vielmehr werden immer auch soziale Zusammenhänge ausgehandelt, die mit der Arbeit

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am Material zusammenhängen, sich aber nicht auf dieses reduzieren lassen. Die für Improvisationen charakteristische Aushandlung von Sozialität schließt vielfach nicht nur die Improvisierenden, sondern auch Zuhörerinnen und Zuhörer ein, umfasst also all diejenigen, die im Rahmen einer Improvisation miteinander interagieren.9 Die sozialen Strukturen, die dabei ausgehandelt werden, nehmen unterschiedlich komplexe Formen an. Die bislang unterschiedenen Grundtypen sozialer Strukturierung werden dabei vielfältig verknüpft und in Überlappung gebracht. Nun mag man einwenden, dass Improvisationen doch immer wieder in Situationen stattfinden, wo bloß eine Improvisierende für sich spielt. Stellen wir uns vor, dass eine Pianistin versunken für sich am Klavier sitzt. Inwiefern kann man hier sinnvoll von einer Interaktion sprechen? Gilt auch für eine solche Situation die These, dass die Entwicklung des Materials in einer Impuls-AntwortStruktur konstitutiv mit der Aushandlung sozialer Strukturen zusammenhängt? Es ist zweifelsohne richtig, dass sich in einer Solo-Improvisation, bei der keine anderen zugegen sind, keine sozialen Strukturen zwischen unterschiedlichen Individuen entwickeln. Dennoch kommen auch in einer solchen Situation andere ins Spiel. Dies liegt besonders an zwei Gründen. Erstens ist immer unklar, wo die Grenzen einer Improvisation sind. Vielfach entwickelt sich eine Improvisation über viele unterschiedliche Situationen hinweg, da bestimmte Impulse wieder und wieder aufgegriffen werden. So kann die für sich Improvisierende zum Beispiel ein rhythmisches oder thematisches Material fortführen, das sie bereits mit anderen zusammen im Rahmen von Improvisationen verfolgt hat. In diesem Fall ist ihr Spiel als ein fortgesetztes Antworten zu begreifen, so dass sie auch die sozialen Beziehungen weiterentwickelt, die sie zu den anderen, mit denen sie bereits über dieses Material improvisierte, etabliert hat. Dies wird spätestens dann manifest, wenn sie nach ihrer Solo-Improvisation wieder mit den anderen zusammentrifft. Die Weiterentwicklung, die das Material im vereinzelten Spiel erhalten hat, wird hier für alle anderen deutlich werden. Zweitens sind die Aktionen und Reaktionen, die eine Improvisierende hervorbringt, immer auch mit der improvisatorischen Handlungsfähigkeit verbunden, die die Improvisierende entwickelt.10 Mit jeder Improvisation entwickeln sich die Fähigkeiten weiter, mit denen sie in neue Improvisationen hineingeht. In ihre improvisatorische Persona geht so auch all das ein, was sie in Solo-Improvisationen entwickelt. Diese Persona aber ist eine grundsätzlich soziale Größe. Sie ist immer auf die Interaktionen mit anderen hin angelegt. In diesem Sinn entwickelt eine Solo-Improvisation auch dann soziale Zusammenhänge, wenn sie kein Material mit anderen Improvisationen teilt und wenn in der Improvisation selbst keine interagierenden Anderen im Spiel sind. So zeigt sich, dass die interaktive Dimension für Improvisationen grundsätzlich gilt.

9Den

umfassenden Charakter der Interaktionen kann man gut mit dem Begriff der Medialität fassen; vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2004, S. 63 ff. 10Vgl. zum Zusammenhang von Improvisation und Agency Landgraf, Edgar: Improvisation as Art: Conceptual Challenges, Historical Perspectives. London 2011, S. 109 ff.

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2 Kunst und Improvisation Die bisherigen Überlegungen zu Improvisationen bieten eine gute Grundlage, um zu einer Konzeptualisierung des Verhältnisses von Kunst und Gesellschaft zu gelangen. Dazu ist es hilfreich, Kunstwerke und die Auseinandersetzungen mit ihnen als Impulse für andere gesellschaftliche Praktiken zu begreifen. Das Bild, das man dadurch gewinnt, will ich erst einmal in grundsätzlicher Weise charakterisieren: Es handelt sich um das Bild einer großen Improvisation, die im Rahmen historisch-kultureller Lebensformen stattfindet.11 Menschen improvisieren ihre Existenz. Dabei spielt ihre Auseinandersetzung mit Kunst eine entscheidende Rolle. Kunstwerke und ästhetische Ereignisse sind als Elemente einer unentwegten Improvisation im Rahmen historisch-kultureller Praktiken zu begreifen. In dieser Improvisation geht es darum, ein Verständnis von sich und dem Stand in der Welt zu gewinnen. Die grundsätzliche Struktur des Zusammenhangs von Kunst und Gesellschaft ist die von Impulsen, die immer wieder weithin aufgegriffen werden und andere Praktiken durchdringen. Die Auseinandersetzung mit Kunst beschränkt sich so nicht nur auf Situationen, in denen Einzelne tatsächlich mit einem Kunstwerk oder einem künstlerischen Ereignis konfrontiert sind. Sie reicht vielmehr in alltägliche und außeralltägliche Kontexte hinein, in denen es nicht um Kunst geht. Die Antworten auf die von Kunstwerken ausgehenden Impulse umfassen, so gesehen, auch alltägliche und außeralltägliche Praktiken, in denen diese Impulse fortwirken. Kunst lässt sich so als eine Praxis begreifen, die zur Aushandlung einzelner Aspekte historisch-kultureller Kontexte (wie körperlicher Bewegungen oder sprachlicher Ausdrucksweisen) beiträgt. Nicht zuletzt umfasst diese Aushandlung auch soziale Strukturen. So weit zu dem grundsätzlichen Bild, das sich für den Zusammenhang von Kunst und Gesellschaft auf der Basis eines Nachdenkens über Improvisationen ergibt. Dieses Bild bedarf nun allerdings einer Ausarbeitung, die sich nicht nur aufs Grundsätzliche beschränkt. Eine solche weitere Ausarbeitung kann bei der Frage ansetzen, wie Kunstwerke im Rahmen gesellschaftlicher Zusammenhänge wirken. Wie werden Impulse, die von Kunstwerken ausgehen, beantwortet? Hier sind erst einmal die Interaktionen entscheidend, die sich im direkten Umfeld von Kunstwerken beziehungsweise künstlerischen Ereignissen ergeben.12 Diejenigen, die mit einem Kunstwerk konfrontiert sind, entfalten unterschiedliche Praktiken, mittels deren sie die Strukturen des Kunstwerks erschließen. Denken wir an ein

11Catherine

Malabou fasst die Struktur, die ich hier mit dem Begriff der Improvisation artikuliere, mit dem Begriff der „Plastizität“ (Malabou, Catherine: The Future of Hegel: Plasticity, Temporality, and Dialectic. London 2005). Damit wird die naturgeschichtliche Dimension der offenen transformatorischen Dimension des Menschen betont. 12Diese Interaktionen und damit auch den grundsätzlich improvisatorischen Zusammenhang von Frage und Antwort in der Auseinandersetzung mit Kunst hat besonders auch Gadamer theoretisiert; vgl. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, Tübingen 1990, S. 375 ff.

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Bild: Hier sind optische Wahrnehmungsaktivitäten wichtig für die Annäherung an die Strukturen des Bildes – aber auch die körperlichen Bewegungen, mittels deren man sich im Raum zum Bild positioniert, um möglichst gute Betrachtungswinkel zu gewinnen. Bei einem Roman hingegen spielen affektive Aktivitäten eine entscheidende Rolle. Die Struktur des Erzählten wird hier durch affektiven Nachvollzug erfasst. Ich habe anderswo den Vorschlag gemacht, die Praktiken, von denen hier die Rede ist, insgesamt als interpretative Aktivitäten zu begreifen.13 Interpretative Aktivitäten umfassen körperliche, perzeptive, affektive, imaginative und symbolische Aktivitäten. Jeweils geht es dort, wo entsprechende Aktivitäten in der Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk entfaltet werden, darum, die Strukturen des Kunstwerks durch einen Nachvollzug zu erschließen.14 Entscheidend für die Auseinandersetzung mit Kunstwerken sind, so gesehen, Aktivitäten. Verbleiben diejenigen, die mit einem Kunstwerk konfrontiert sind, einfach passiv, werden dessen Impulse nicht wirksam. Zugleich aber führen auch aus sich heraus zustande kommende eigene Aktivitäten der Rezipierenden nicht zu einer Wirksamkeit der von Kunstwerken ausgehenden Impulse, weil im Falle solcher Aktivitäten die Impulse ganz auf ihrer Seite liegen. Es bedarf also Aktivitäten, die Impulse vom Kunstwerk aufgreifen. Um dies zu leisten, müssen die Aktivitäten sich vom Kunstwerk leiten lassen. Die grundlegende Struktur, die sich damit ergibt, ist die einer Unselbständigkeit in der Selbständigkeit.15 Selbständig hervorgebrachte Aktivitäten werden auf eine unselbständige Weise vollzogen, da die im Kunstwerk angelegten Strukturen für die Aktivitäten maßgebend sind. Interpretative Aktivitäten, die diese Grundstruktur erfüllen, sind äußerst vielfältig. Sie reichen von körperlichen Bewegungen bis zu symbolischen Artikulationen. Jeweils geht es dabei um das Erzielen von Verständnissen in Bezug auf das betreffende Werk. Aus diesem Grund spreche ich durchweg davon, dass die Aktivitäten interpretativ sind. Es ist unzutreffend, Interpretation primär mit symbolischen und besonders sprachlichen Aktivitäten zu verbinden. Wer zur Musik tanzt, erschließt die betreffende Musik dabei in ihren Strukturen und gelangt in seinen Bewegungen zu einem Verständnis von ihr. Auch wer sich affektiv in eine Auseinandersetzung mit Musik involviert, kommt zu Verständnissen. Grundsätzlich lässt sich so sagen, dass das Verstehen in Auseinandersetzung mit Kunst praktischer Natur ist. Das ist auch für diejenigen, die mit Kunst befasst sind, keine Überraschung, da wir einen Roman – zumindest in Ansätzen – durch die Praxis der Lektüre verstehen – und eine Oper dadurch, dass wir einer Aufführung im Zuge einer Praxis des Opernbesuchs folgen.

13Vgl.

Bertram, Georg W.: Kunst als menschliche Praxis. Berlin 2014, S. 131 ff. zum Nachvollzug als einem grundlegenden Moment der praktischen Auseinandersetzung mit Kunst auch Vogel, Matthias: Medien der Vernunft. Frankfurt a.M. 2001, S. 212 ff. 15Vgl. hierzu auch Bertram, Georg W.: Aesthetic Experiences as Aspects of Interpretive Activities. In: CoSMo (Comparative Studies in Modernism), Nr. 6 (2015), S. 65–74. 14Vgl.

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Ein weiterer Aspekt interpretativer Aktivitäten ist im Kontext der hier entwickelten Überlegungen von besonderem Interesse. Ich kann mich ihm dadurch nähern, dass ich die spezifische Verfasstheit eines Kunstwerks mit dem Begriff des Idiolekts charakterisiere.16 Kein Kunstwerk teilt seine Anlage mit einem anderen Kunstwerk oder einem anderen Zusammenhang in der Welt.17 Auch wenn Kunstwerke vielfach aufeinander und auf einzelne Zusammenhänge der Welt bezogen sind, ist doch in jedem Werk die Anlage seiner Elemente spezifisch bestimmt. Das gilt auch für Werke, die derselben Gattung angehören, und für unterschiedliche Werke einer Künstlerin. Kein Werk kann das, was wir als seine Sprache bezeichnen können, einfach von einem anderen Werk übernehmen. Die Eigenständigkeit jedes Kunstwerks hat eine wichtige Konsequenz für alle interpretativen Aktivitäten, die Rezipierende ihm gegenüber entfalten. Da ein Idiolekt konstitutiv nicht gelernt werden kann, sind nur Annäherungen an ihn möglich. All die Aktivitäten, die diejenigen hervorbringen, die sich mit einem Kunstwerk auseinandersetzen, nähern sich dem Kunstwerk an. Mit der Annäherung, von der ich hier spreche, ist ein improvisatorischer Charakter verbunden. Denken wir diesbezüglich an die Lektüre eines Romans. Wer einen Roman liest, verwickelt sich imaginativ und affektiv in spezifischer Weise in das Erzählte. Dabei ist ihm die erzählte Welt grundsätzlich unvertraut, so dass jede imaginative und affektive Verwicklung als ein Versuch zu begreifen ist, sich dem Werk anzunähern. Eine Leserin improvisiert dabei auf die erzählten Zusammenhänge. Das heißt nicht, dass sie strukturell so agiert wie eine Musikerin im Rahmen einer JazzImprovisation. Es wäre falsch, interpretative Aktivitäten als gleichermaßen interaktiv zu begreifen, wie Aktivitäten im Rahmen einer Jazz-Improvisation es sind. Aus diesem Grund spreche ich von einem improvisatorischen Charakter. Die Leserin antwortet auf das von ihr Gelesene dadurch, dass sie in spezifischer Weise imaginativ und affektiv reagiert. Die Reaktion ist von dem Kriterium geleitet, etwas hervorzubringen, das den Strukturen des Romans gegenüber angemessen ist. Dies kann allerdings durchaus Unterschiedliches heißen: Angemessen kann es sein, den Strukturen des Romans gegenüber sehr getreu zu verfahren; es kann aber auch gefordert sein, eigene Impulse und Aspekte mit einzubringen, so dass der Dialog mit dem Text mit einer eigenen Stimme geführt wird. Harold Bloom hat den Vorschlag gemacht, in diesem letzten Fall von „strong readings“ zu sprechen.18 Solche „strong readings“ gibt es nicht nur bei denjenigen, die sich in den Wissenschaften interpretierend mit Texten auseinandersetzen. Es gibt sie genauso bei alltäglichen Beschäftigungen mit Literatur. Hier kann es genauso vorkommen, dass eine Leserin in ihrer Vorstellung sehr eigene Akzente

16Vgl.

zur Erläuterung von Kunstwerken als Idiolekten Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik. München 1972, S. 151 ff. 17Aus diesem Grund charakterisiert Adorno Kunstwerke mit Leibniz’ Begriff der Monade; vgl. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M. 1970, S. 15 u. a. 18Bloom, Harold: Kabbalah and Criticism. New York 1975, S. 125.

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in der Lektüre setzt und dem Text in diesem Sinn mit einer eigenen Stimme antwortet. Die im ersten Teil präsentierten Überlegungen zur Impuls-Antwort-Struktur von Improvisationen erlauben es uns, die Alternative, die sich hier in Bezug auf interpretative Aktivitäten zeigt, besser zu verstehen. Ich habe diese Alternative oben so gefasst, dass ich affirmative Reaktionen von Gegen-Aktionen unterschieden habe. Es ist charakteristisch für eine Improvisation, dass immer offen ist, welcher Typ von Reaktion angemessen ist. Dabei gilt zugleich, dass sich die Angemessenheit niemals in dem Moment der Reaktion entscheidet. Erst im Lichte der weiteren Entwicklung der Improvisation klärt sich, was in einem bestimmten Moment angemessen war. Hier zeigt sich noch einmal die spezifische Ungegenwärtigkeit der Improvisation, die ich oben betont habe. Diese Ungegenwärtigkeit gilt auch für die Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk. Niemals lässt sich in Bezug auf eine bestimmte rezeptive Antwort auf die Strukturen eines Kunstwerks gleich die Angemessenheit oder Unangemessenheit dieser Antwort einschätzen. Erst die weitere Entwicklung zum Beispiel der Lektüre und die Interaktion mit anderen erlauben eine Entscheidung hierüber. Interpretative Aktivitäten sind so immer auf die Zukunft hin offen. So wichtig die Betrachtung interpretativer Aktivitäten für das Verständnis von Kunst ist, so birgt diese Betrachtung auch eine entscheidende Gefahr. Sie kann dazu verleiten, die Wirksamkeit von Kunst auf einen gewissermaßen innerkünstlerischen Bereich zu beschränken. Dies aber wäre ein großer Fehler. Auf dem Wege interpretativer Aktivitäten erfasst die Auseinandersetzung mit Kunstwerken auch sonstige alltägliche Aktivitäten in der Welt.19 Die Art und Weise, wie wir uns zu Musik bewegen, prägt auch unseren alltäglichen Gang durch die Straße – und die affektiven Bindungen an andere werden durch literarische Texte verändert. Die interpretativen Aktivitäten, mittels deren wir die Strukturen von Kunstwerken verfolgen, vollziehen sich in Typen von Praktiken, die wir auch in anderen alltäglichen Zusammenhängen vollziehen. Wahrnehmungen, körperliche Bewegungen, emotionaler Nachvollzug, Imaginationen und symbolische Artikulationen bestimmen gleichermaßen unsere Auseinandersetzung mit Kunst wie andere alltägliche Vollzüge. Die in interpretativen Aktivitäten aufgenommenen Impulse schreiben sich aus diesem Grund in andere alltägliche Praktiken ein. Der improvisatorische Charakter unserer Auseinandersetzung mit Kunst gewinnt dadurch noch einen zusätzlichen Aspekt. Es geht in dieser Auseinandersetzung nicht nur um eine improvisatorische Erschließung von Werken, sondern immer auch um eine improvisatorische Gestaltung unserer selbst. Die Selbstgestaltung hängt besonders mit den Fähigkeiten zusammen, die in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken im Spiel sind. Denken wir zum Beispiel an körperliche Bewegungen, wie sie beim Tanzen im Spiel sind. Die erschließende Auseinandersetzung mit Musik setzt voraus, dass Bewegungsfähigkeiten aufs

19Vgl.

zur Manifestation von Kunst im Alltag auch Noë, Alva: Strange Tools. Art and Human Nature. New York 2015.

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Spiel gesetzt werden. Die Fähigkeiten sind nicht bloß als Voraussetzung der Nachvollzüge zu begreifen, sondern werden ihrerseits im Rahmen dieser Nachvollzüge weiterentwickelt. Pointiert kann man sagen, dass die betreffenden Fähigkeiten in der Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk immer auch ein Stück weit verlernt beziehungsweise neu gelernt werden müssen. Auf diese Weise schreibt sich die Auseinandersetzung mit Kunst in unsere Fähigkeiten ein. Man kann das Aufs-Spiel-Setzen von Fähigkeiten auch noch einmal mit Blick auf den Zusammenhang zwischen interpretativen Aktivitäten und anderen alltäglichen Praktiken zur Geltung bringen, indem man sagt: Wer sich interpretativ auf ein Kunstwerk einlässt, setzt dadurch Fähigkeiten aufs Spiel, die auch die Grundlage alltäglicher Praktiken sind.20 Die Fähigkeiten werden dabei zu einem gewissen Grad verlernt beziehungsweise neu gelernt. Kunst ist gerade in dieser Weise als eine Praxis zu begreifen, mittels deren Menschen sich im Rahmen historisch-kultureller Praktiken weiterentwickeln.

3 Die soziale Dimension künstlerischer Wirksamkeit Bislang habe ich interpretative Aktivitäten in Auseinandersetzung mit Kunstwerken analysiert, ohne ihre soziale Dimension zu beachten. Besonders markant ist diese soziale Dimension bei allen Aufführungskünsten (bei Musik, Theater, Tanz etc.), bei denen Rezipierende gemeinsam ein Publikum formen, aber auch zum Beispiel auf der Tanzfläche. In all diesen Fällen werden interpretative Aktivitäten von Rezipierenden offensichtlich im Zusammenspiel mit anderen Rezipierenden entwickelt. Aber auch für die einsame Lektüre eines Romans und das einsame Hören von Musik lässt sich eine grundlegende soziale Dimension geltend machen. Denn immer sind die Lektüre und das Hören von unseren Interaktionen mit anderen geprägt. Wir diskutieren mit anderen, was wir lesen, lassen uns von ihnen Empfehlungen geben und vieles andere mehr. Musik, die wir für uns hören, ist oft damit verbunden, dass wir zu ihr auch mit anderen getanzt oder mit anderen Aufführungen beigewohnt haben. Dabei sind wir – auch dann, wenn wir über Musik nicht gut sprechen können – mit Reaktionen anderer konfrontiert worden, die in unsere Auseinandersetzung mit dieser Musik eingehen. Es zeigt sich so, dass alle Interpretation von Kunstwerken eine soziale Dimension aufweist. Will man die in Frage stehende soziale Dimension weitergehend analysieren, ist die Typologie hilfreich, die ich oben in Bezug auf die soziale Grammatik von Improvisationen vorgeschlagen habe. So gibt es zum einen das gemeinsame Einschwingen in die durch ein Kunstwerk vorgegebenen Strukturen. Zum anderen kann aber auch im Konflikt ein Zusammenhalt und damit soziale Kohäsion hergestellt werden. Durch die von Kunstwerken ausgehenden Impulse können soziale

20Vgl.

hierzu auch Bertram: Kunst als menschliche Praxis, 2014, Kap. 4.

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Bindungen in Konflikten aber auch in Frage stehen und im äußersten Fall kann die Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk auch zu radikaler Vereinzelung führen. Ich will diesen Strukturen nun an Beispielen etwas mehr Aufmerksamkeit schenken: Wer zur Musik mit anderen zusammen tanzt, wird immer wieder Momente des Einschwingens erleben, in denen sich eine größere Gruppe von Individuen synchronisiert.21 Das synchronisierende Einschwingen kann auch in einem Publikum von Theater- oder Musikaufführungen zustande kommen. Interpretative Aktivitäten wie zum Beispiel das affektive Mitgehen mit den Strukturen der Musik werden dabei in konsonanter Form von großen Teilen eines Publikums entfaltet. Für die Individuen, die einer entsprechenden Aufführung beiwohnen, kommt es zu einem besonderen Gemeinschaftserleben und zur Festigung geteilter Verständnisse. In anderer Weise kann ein solches Erleben aber auch aus Desynchronisierungen der interpretativen Reaktionen im Zuge der Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk hervorgehen. Denken wir zum Beispiel an Praktiken des battle dance. Oder denken wir an die Polarisierung eines Publikums angesichts neuer Musik, wie zum Beispiel bei den berühmten Skandalen im Jahr 1913 (in Bezug auf Alban Bergs Orchesterlieder op. 4 und Igor Strawinskys Sacre du printemps). Auch die Streitigkeiten nach dem Film sind als desynchronisierender Aspekt der narrativen und affektiven Dramaturgie vieler Filme zu begreifen, der nichtsdestotrotz mit einem im Konflikt hergestellten Zusammenhalt verbunden sein kann. Gerade in der Gegenwart tritt die sozial formierende Dimension künstlerischer Wirksamkeit in künstlerischen Projekten besonders in Erscheinung. Viele Arbeiten von Christoph Schlingensief – wie zum Beispiel das markante Projekt Bitte liebt Österreich!, das im Jahr 2000 mit einer Containeraktion vor dem Burgtheater in Wien realisiert wurde – sind von Grund auf mit der Organisation sozialer Formationen verbunden. Auch in Projekten der immersiven und der sozialen Kunst ist die sozial formierende Kraft von Kunst entscheidend. So haben zum Beispiel die Aktionen des Zentrums für politische Schönheit oder interaktive Arbeiten wie Tino Sehgals This Progress (2006) immer eine aktivierende Dimension, die sowohl mit einem kollektiven Einstimmen als auch mit der Ausbildung konfliktiver gesellschaftlicher Formationen verbunden ist. In einer solchermaßen auf Aktivierung angelegten Kunst kann es zudem auch immer zu sozialer Isolation als einer möglichen Wirkung kommen. Einerseits riskieren viele Gruppen von Künstler/innen soziale Ausgrenzung; andererseits kann aus ihren Arbeiten auch eine Isolierung von Individuen resultieren, die mit Blick auf die gesellschaftlichen Mehrheitsmeinungen randständige Positionen vertreten. Soziale Vereinzelung wird im Kunstdiskurs unter anderem durch den Topos des unverstandenen Künstlers artikuliert. Aber sie tritt genauso in der Rezeption

21Vgl. hierzu z.  B. Brandstetter, Gabriele: Synchronisierungen von Bewegungen im zeitgenössischen Tanz: Zur Relevanz von somatischen Praktiken in den Arbeiten von Jefta van Dinther. In: Thiemo Breyer u. a. (Hg.): Resonanz – Rhythmus – Synchronisierung. Bielefeld 2017, S. 409–428.

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auf. Vielfach verbinden Individuen mit spezifischen Werken oder künstlerischen Positionen Aspekte, die sie von anderen nicht verstanden sehen und die sich diesen auch nicht mitteilen lassen. Für sie gehen von den Werken beziehungsweise Positionen Impulse aus, die sie in einer von anderen nicht geteilten Art und Weise beantworten. Da Kunstwerke als Impulse je eigenartig sind, ist grundsätzlich immer denkbar, dass Antworten auf diese Impulse gleichermaßen eigenartig ausfallen. Die Möglichkeit einer entsprechenden Vereinzelung darf man aber nicht falsch verstehen. Falsch verstanden wäre sie, wenn die Auseinandersetzung mit Kunst als subjektiv begriffen würde. Kunst hat eine sozial formierende Kraft. Sie bringt vielfach Individuen zusammen, sei es in einem Einschwingen oder im Konflikt. In dem Spannungsfeld der Prägungen von Sozialität, das von Kunst ausgeht, macht soziale Vereinzelung nur ein Extrem aus. Gerade mit Blick auf die soziale Dimension künstlerischer Wirksamkeit ist das improvisatorische Moment von Kunst insgesamt, das ich in den zurückliegenden Überlegungen ins Zentrum gestellt habe, entscheidend. Kunstwerke und künstlerische Projekte geben nicht einfach spezifische soziale Strukturen vor. Vielmehr entwickeln diejenigen, die sich mit ihnen auseinandersetzen, solche Strukturen in einer offenen Art und Weise. Die Strukturen werden improvisatorisch ausgehandelt und dabei immer weiterentwickelt. So können Werke und Aufführungen genauso Anlass zu tiefgreifenden Kontroversen wie zu einvernehmlichen Ausbildungen von Kollektiven geben – und dies durchaus so, dass ein und dasselbe Werk an der einen Stelle auf die eine und an der anderen Stelle auf die andere Weise wirkt. Allerdings ist es wichtig, dieses offene Aushandlungsgeschehen nicht im Sinne einer Beliebigkeit zu verstehen. Die sozialen Konfigurationen, die sich in Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk ausbilden, fallen genauso wenig wie diejenigen in einer Improvisation beliebig aus. Vielmehr ist das Aushandlungsgeschehen durchweg an der Frage orientiert, welche Reaktionen auf die Impulse des Werkes angemessen sind.22 In einer Improvisation werden alle Reaktionen immer von weiteren Reaktionen bewertet. So ist es auch in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken. Die von Rezipierenden in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken entwickelten Antworten auf deren Impulse werden implizit im Zuge weiterer Rezeptionen evaluiert. Aus diesem Grund kann keine Beliebigkeit aufkommen. Auch wenn es immer Spielraum für neue und anders geartete Reaktionen gibt, werden unangemessene Reaktionen doch im Rahmen der Aushandlungsprozesse in Auseinandersetzung mit Kunstwerken in ihrer Unangemessenheit bewertet. Dies trifft auch auf die sozialen Formationen zu, die durch Kunstwerke angestoßen werden. Die sozial formierenden Wirkungen von Kunst, die ich mit diesen Überlegungen knapp umrissen habe, machen eine wichtige Dimension dessen aus, wie Kunst in alltäglichen Praktiken gegenwärtig ist. Sowohl die Konsonanz

22Vgl.

hierzu nochmals Bertram: Improvisation und Normativität, 2010 (Anm. 7).

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als auch die Dissonanz in alltäglichen sozialen Verhältnissen ist immer auch mit künstlerischen Interventionen verbunden, die sich in diesen Verhältnissen sedimentieren. Das heißt, dass gerade die so weit abstrakt gefassten sozialen Prägungen von Kunst oftmals gerade nicht als solche manifest werden und so leicht übersehen zu werden drohen. Sie machen aber eine wichtige Seite der gesellschaftlichen Einbettung von Kunst aus. Der Rekurs auf Improvisationen und die soziale Struktur ihrer Interaktionen kann uns helfen, diese Seite trotz ihrer Unauffälligkeit theoretisch zu fassen.

Literatur Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Kulturindustrie. In: Dies.: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M. 1969, S. 128–176. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M. 1970. Beardsley, Monroe: Aesthetics. Problems in the Philosophy of Criticism. New York 1958. Bertram, Georg W.: Improvisation und Normativität. In: Gabriele Brandstetter u. a. (Hg.): Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren. Bielefeld 2010, S. 21–40. Bertram, Georg W.: Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik. Berlin 2014. Bertram, Georg W.: Aesthetic Experiences as Aspects of Interpretive Activities. In: CoSMo (Comparative Studies in Modernism), Nr. 6 (2015), S. 65–74. Bertinetto, Alessandro: Performing the Unexpected Improvisation and Artistic Creativity. In: Daimon: Revista Internacional de Filosofía 57 (2012), S. 117–135. Bertinetto, Alessandro/Bertram, Georg W.: „We make up the rules as we go along“ – Improvisation as an Essential Aspect of Human Practices? In: Open Philosophy 3 (2020), S. 68–80. Bloom, Harold: Kabbalah and Criticism. New York 1975. Brandstetter, Gabriele: Synchronisierungen von Bewegungen im zeitgenössischen Tanz: Zur Relevanz von somatischen Praktiken in den Arbeiten von Jefta van Dinther. In: Thiemo Breyer u. a. (Hg.): Resonanz – Rhythmus – Synchronisierung. Bielefeld 2017, S. 409–428. Bubner, Rüdiger: Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik. In: Ders.: Ästhetische Erfahrung. Frankfurt a.M. 1989, S. 9–51. Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik. München 1972. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2004. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode [1960]. Tübingen6 1990. Gallope, Michael: Is Improvisation Present? In: George E. Lewis/Benjamin Piekut (Hg.): The Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies. Oxford 2016, Bd. 1, S. 143–158. Landgraf, Edgar: Improvisation as Art: Conceptual Challenges, Historical Perspectives. London 2011. Malabou, Catherine: The Future of Hegel: Plasticity, Temporality, and Dialectic. London 2005. Menke, Christoph: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt a.M. 2008. Noë, Alva: Strange Tools. Art and Human Nature. New York 2015. Peters, Gary: The Philosophy of Improvisation. Chicago 2009. Vogel, Matthias: Medien der Vernunft. Eine Theorie des Geistes und der Rationalität auf Grundlage einer Theorie der Medien. Frankfurt a.M. 2001.

Die Funktionalität der Kunst? Für einen revidierten Begriff künstlerischer Autonomie Daniel Martin Feige

Angesichts jüngerer politischer Kunst wie etwa der medienwirksamen Aktionen des Zentrums für politische Schönheit stellt sich die Frage, ob nicht Funktionen von Kunstwerken zu deren wesentlichen Bestimmungen dazugehören. Man versteht die Interventionen und Aktionen des Zentrums für politische Schönheit nicht, wenn man nicht ihre deutlich politische Stoßrichtung sieht. Welche Konsequenzen daraus für den Begriff des Kunstwerks zu ziehen wären, ist zunächst einmal offen: Man könnte der Auffassung sein, dass wir in eine (nicht in einem wertenden Sinne verstandene) vormoderne Situation zurückkehren, in der die Kunst eine Vielzahl religiöser, repräsentativer etc. Funktionen hatte – heute in der partizipativen Kunst etwa soziale Funktionen und in der Performancekunst etwa politische Funktionen. Man könnte allerdings auch der Auffassung sein, dass die mit der Entstehung des Bürgertums verbundene Autonomie der Kunst hier von Seiten der Kunstpraxis in dialektischer Weise einer Kritik an einem falschen, weil verkürzten Verständnis dieser Autonomie unterzogen wird.1 Diesem zweiten Weg folgen die hier vorgestellten Überlegungen: Es wird mir nicht darum gehen, den Gedanken der Autonomie der Kunst zugunsten ihrer Funktionalität zu verabschieden; es wird mir vielmehr darum gehen, eine entsprechende Autonomie so zu verstehen, dass sie gar nicht dem Gedanken widerspricht, dass Kunstwerke eine bestimmte Rolle in unserer Lebensform spielen. Die jüngeren Entwicklungen vor allem im Bereich der bildenden Kunst, die gerade soziale und politische Funktionen in 1Vgl. zu einer entsprechenden Diagnose mit Blick auf die Gegenwartskunst auch Rebentisch, Juliane: Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung. Hamburg 2015, Kap. 1.

D. M. Feige (*)  Philosophie und Ästhetik, Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Eusterschulte et al. (Hrsg.), Funktionen der Künste, Ästhetiken X.0 – Zeitgenössische Konturen ästhetischen Denkens, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04927-8_3

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ihren Objekten und Ereignissen durchspielen, verstehe ich entsprechend nicht so, dass sie der Autonomie der Kunst eine Absage erteilen; ich verstehe sie vielmehr so, dass sie Autonomie auf neue Weise zu denken versuchen. Das aus folgendem Grund: Selbst für die ästhetisch wie politisch umstrittenen Aktionen des Zentrums für politische Schönheit ist charakteristisch, dass sie nicht einfach bruchlos und ohne Vermittlung Ausdruck einer politischen Agenda sind. Anstelle eine andere Politik zu realisieren, stellen sie eher in und durch ihre Aktionen die Frage, was das Politische ist und heute noch sein kann. Damit leisten sie, wenn man gewillt ist zu sagen, dass an ihnen etwas gelingt, einen Beitrag zur Bildung politischer Subjekte, aber nicht einen Beitrag zur Realisierung einer bestimmten Politik. Das deshalb, weil entsprechende Aktionen im Register der Kunst zu behandeln meines Erachtens nicht so sehr heißt, nachzuvollziehen, welchen politischen Zwecken diese dienen, sondern vielmehr die Medialität und Struktur dieser Aktionen nachzuvollziehen: Was gehört von den unendlichen Mengen an Handlungen, Ereignissen, Materialien und Materien genau zu diesem Kunstwerk und worum geht es hier eigentlich?2 Ohne diese Frage an dieser Stelle beantworten zu müssen oder auch nur zu können (für besagte Aktionen ist charakteristisch, dass sie in der Schwebe halten, was überhaupt Teil ihrer ist und was nicht und dass letztlich auch unbestimmt wird, worum es hier geht): Wenn sich solche Fragen nicht ansatzweise angesichts eines Gegenstandes stellen, so können wir skeptisch sein, ob wir es nicht einfach mit einer politischen Maßnahme anstelle eines Kunstwerkes zu tun haben. Der Begriff der Autonomie meint genau diesen Umstand: Wir haben es hier mit Gegenständen zu tun, die nicht transparent sind mit Blick auf das, was sie artikulieren, sondern bei denen wir immer auf die Form der Artikulation selbst zurückverwiesen werden. Was immer der Witz unserer Erfahrung oder der Leistung von Kunstwerken sein mag – es kann nichts anderes sein als etwas, was nur in und durch die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Werk selbst zu haben ist (was nicht heißt, dass das Werk sich in seiner eigenlogischen Konstitution nur um sich selbst dreht). Neben der Option, den Autonomiebegriff selbst zu verabschieden, bietet es sich meines Erachtens deshalb an, die Frage zu stellen, wie wir den Autonomiebegriff so verstehen können, dass er den jüngeren Entwicklungen der Kunst prinzipiell gerecht zu werden vermag. Im Geiste Albrecht Wellmers kann man sagen:3 Es sollte nicht darum gehen, dass man den Begriff der Autonomie als kategoriale Bestimmung der Kunst zurückweist, sondern vielmehr darum, falsche Verständnisse der Autonomie der Kunst zu korrigieren. Mit der folgenden kurzen Skizze möchte ich einen entsprechenden Versuch unternehmen. Dazu werde ich im ersten

2Sensibel

für diese mereologischen Fragen haben sich vor allem Arthur Danto und Peter Osborne gezeigt. Vgl. Danto, Arthur C.: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Frankfurt a.M. 1991. Osborne, Peter: Anywhere or not at All. Philosophy of Contemporary Art. London 2013, v. a. Kap. 2. 3Vgl. Wellmer, Albrecht: Kultur und industrielle Produktion. Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. In: Merkur 37 (1983), S. 133–145.

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Teil kritisch zum einen die Unterscheidung zwischen Autonomie und Heteronomie und zum anderen die Unterscheidung zwischen Funktionalität und Funktionslosigkeit diskutieren. Der Grundgedanke der folgenden Überlegungen lautet, dass wir dann an der Autonomie der Kunst festhalten können, wenn wir diese nicht länger mit Funktionslosigkeit paraphrasieren. Indem die Kunst nicht in handgreiflichen praktischen, moralischen, politischen und subjektiven Zwecken aufgeht, erfüllt sie selbst eine bestimmte Rolle in unserer Lebensform. Ohne auf diese Frage eine abschließende Antwort zu haben, möchte ich dabei leise Zweifel anmelden, ob der Begriff der „Funktion“ hier der richtige Begriff ist, um etwas Entsprechendes zu denken. Worin die besondere Kraft der Kunst bestehen könnte und wie sie sich im Reigen ästhetischer Gegenstände verortet – dazu werde ich im zweiten Teil meiner Überlegungen eine kurze Skizze vornehmen.

1 Autonomie oder Heteronomie, Funktionslosigkeit oder Funktionalität? Sollte eine kritische Analyse des Autonomiebegriffs dazu führen, dass man gegenüber der Autonomie der Kunst auf ihre Heteronomie pocht? Nein, denn dieser Gedanke würde schlichtweg besagen, dass externe Zwecke, die mit dem Begriff der Kunst nichts zu tun haben, als kunstkonstitutive Zwecke behandelt werden sollten bzw. der Gedanke der kunstkonstitutiven Zwecke wird ganz verabschiedet, weil Kunst letztlich zu allen möglichen Zwecken gebraucht werden kann. Auf die Heteronomie der Kunst zu pochen heißt, damit letztlich natürlich entweder die Autonomie der Kunst dialektisch schon vorauszusetzen oder aber das gesamte Begriffspaar Autonomie und Heteronomie aus den Angeln zu heben. Ich möchte hingegen dafür plädieren, dass wir am Autonomiebegriff festhalten und heteronome Gebrauchsweisen von Kunstwerken so erläutern sollten, dass sie ein Kunstwerk nicht als Kunstwerk gebrauchen. Nun ist keineswegs von der Hand zu weisen, dass Kunstwerke in vielfältigen Hinsichten instrumentalisiert werden – Mozarts Klavierwerke werden kulinarisch als Hintergrundmusik gebraucht, Gemälde werden als Wertanlage im Finanzmarkt verwendet und Romane in der Schule als Mittel der moralischen Erziehung gebraucht. Das Problem ist, dass Mozarts Klavierwerke, so leicht ihr Charakter mitunter auch sein mag, eben nicht Werke sind, deren ästhetischer Witz darin besteht, sie als atmosphärischen Hintergrund zu gebrauchen. Wer sie allein kulinarisch konsumiert, wird ihnen nicht gerecht. Das Problem von Gemälden als Wertanlage ist, dass trotz der steigenden Relevanz der merkantilen Prinzipien des Kunstmarkts Kunst eben nicht in einer solchen Wertanlage aufgeht. Unter den Bedingungen des gegenwärtigen Kunstmarkts produzierte und nicht bloß unter ihnen gehandelte Kunst fügt sich diesen Bedingungen nicht, sondern attackiert sie vielmehr immanent in einer Weise, dass sie selbst nicht länger aufgeht in etwas, das eine austauschbare Wertanlage ist (da sie sonst, mit Hegel gesprochen, ihrem eigenen Begriff nicht gerecht wird). Das Problem mit Romanen als moralischem Aphrodisiakum ist, dass auch dann, wenn Romane ethische Fragen behandeln, sie

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nicht einfach ein Mittel zur ethischen Erziehung sind (auch wenn sie so gebraucht werden können, gilt: Kommt diesem Zweck immanent vom Gegenstand nichts in die Quere, könnte man sogar sagen, es handelt sich hier gar nicht um ein Kunstwerk). Kein Roman von Rang ist einfach eine Abrichtung zu richtigem Verhalten oder ein bloß transparentes Bewusstmachen des moralisch Guten im menschlichen Leben. Romane, die dezidiert ethische Themen aufgreifen, sind keine Mittel zur ethischen Erziehung und handeln auch nicht einfach von ethischen Themen, sondern sind vielmehr Verhandlungen des Ethischen selbst. Und für politische Kunst gilt: Sie ist nicht transparente Artikulation politisch-praktischer Zwecke und auch keine Behebung sozialer Mängel (dann drohte sie dialektisch durch eine Anerkennung dieser Mängel Ideologie zu werden, sich mit dem gleich zu machen, wogegen sie eigentlich gerichtet ist), sondern sie sind Verhandlungen des Politischen. Kunst mag Bildung sein, aber diese Bildung ist eine in ihrem Charakter unbestimmte und auf keinen instrumentellen Zweck verrechenbare Sache. Weist man einerseits den Gedanken zurück, dass Kunst heteronom ist (weil dieser Begriff die Autonomie voraussetzt und die paradoxe These gemeint wäre, dass Kunst als Kunst solchen Zwecken dient, die mit ihr nichts zu tun haben), so ist damit natürlich noch nicht genauer bestimmt, was Autonomie der Kunst heißen kann. Bislang heißt diese Zurückweisung einfach nur: Das, was Kunstwerke nichts angeht, geht sie einfach nichts an; was ihnen äußerlich ist, ist ihnen halt äußerlich. Wichtig ist es dabei festzuhalten, dass das, was jeweils konstitutiv für ein Kunstwerk ist, nur im Rahmen einer interpretativen Auseinandersetzung mit den einzelnen Werken entschieden werden kann. Und hierin steckt ein erster Fingerzeig für einen richtig verstanden Begriff der Autonomie der Kunst: Ein Kunstwerk als Kunstwerk zu behandeln heißt, es allein an dem zu messen, was es aus sich heraus etabliert. So wäre es etwa ausgesprochen albern, die Aufzeichnung einer Improvisation von John Coltrane anhand dessen zu messen, was es heißt, dass eine Klaviersonate von Brahms kraftvoll ist, genauso wie es albern wäre, eine Installation von Félix González-Torres anhand dessen zu messen, was an einer Skulptur von Rodin gelingen mag. Kunst etabliert ihre eigenen Evaluationskriterien dadurch, dass sie in und durch jedes kraftvolle Werk neu bestimmt, was der Sinn ihrer jeweiligen Materialien vor dem Hintergrund einer Geschichte von Künsten und Materialien ist.4 Gute Kunstkritik ist entsprechend keine Beurteilung des Werks im Lichte der Vorlieben der Kritiker oder irgendwelcher ethischer Maßstäbe, sondern der Versuch, dem Werk gerecht zu werden – in seinem Gelingen wie Scheitern. Eine solche Explikation pocht auf den Eigensinn der Kunst im Sinne der Form des Kunstwerks und macht geltend, dass, was immer inhaltlich in ein Kunstwerk eingespeist werden mag, niemals in unverwandelter

4Vgl.

dazu ausführlicher auch Feige, Daniel M.: Design. Eine philosophische Analyse. Berlin 2018, Kapitel 4 sowie Feige, Daniel M.: Retroaktive Neuverhandlung. Zum Verhältnis von Vorbild und Nachbild in der Kunst. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 63/1 (2018), S. 127–137.

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Form im Kunstwerk auftaucht5 – die Stimmung, die ein musikalisches Werk ausdrückt, ist an die spezifische Art und Weise, wie es das durch seine Operationen des Klingens leistet, gebunden bzw. ist gar nichts anderes als diese Operationen; der Inhalt eines Kunstfilms ist nicht etwas, das sich abstrakt und unter Absehung der spezifischen Art und Weise, wie er präsentiert wird, angeben lässt. Mit Adorno lässt sich festhalten,6 dass der Inhalt eines Kunstwerks gar nichts anderes als seine Form ist – und zwar genauer: Seine Form im Kontrast zu seinem Anderen, nämlich der gesellschaftlichen Wirklichkeit, von dem sich das Kunstwerk just durch seine Form abgrenzt und dialektisch doch auf es bezogen ist. Nichts an diesen Bemerkungen zur Autonomie der Kunst legt nahe, dass die Kunst in ihrem Eigensinn für diejenigen, die sie erfahren, nicht durchaus eine spezifische Rolle in ihrem Leben spielt. Die Zweckfreiheit der Kunst hat, was die Frage der Rolle der Kunst in menschlichen Lebensformen angeht, selbst einen spezifischen Sinn. Es ist naheliegend, an dieser Stelle die begriffliche Unterscheidung zwischen Funktionalität und Funktionslosigkeit ins Spiel zu bringen: Die Kunst ist autonom – aber ihre Autonomie darf nicht mit Funktionslosigkeit gleichgesetzt werden. Obwohl ich eine Variante dieses Gedankens verteidigen möchte, zögere ich, das, was die Kunst macht, in Begriffen ihrer Funktion zu erläutern. Das hat mindestens drei Gründe. Erstens: Der Begriff der Funktion hat in der Ästhetik seinen angestammten Platz in Debatten einer Ästhetik des Designs und nicht so sehr einer Philosophie der Kunst.7 Designgegenstände sind zu etwas Bestimmtem da und die Art und Weise, wie sie dazu da sind, geht in die Bestimmung dessen ein, zu was sie da sind.8 In diesem Sinne erfüllen Kunstwerke keine Funktionen; sie dienen als Kunstwerke weder praktischen noch theoretischen Zwecken. Zweitens: Die vor allem in biologischen Explikationen des Funktionsbegriffs, aber auch funktionalistischen Theorien des Geistes liegende Dimension des Begriffs,9 dass solche Funktionen nicht auf die Intentionen der beteiligten Personen reduzierbar sind und sich sogar ihrem selbstbewussten Zugriff restlos entziehen können, drücken zwar eine richtige Einsicht aus: Dass der Sinn eines Kunstwerks nicht in unserem Wünschen und Wollen aufgeht, sondern es sich vielmehr gegenüber unserem Wünschen und Wollen in seiner Selbstständigkeit artikulieren kann. Diesen Gedanken drücken sie aber meines Erachtens in verzeichneter Weise aus. Der Überschuss und die Irreduzibilität,

5Vgl.

in diesem Sinne Danto, Arthur C.: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Frankfurt a.M. 1991, v. a. Kap. 7. 6Vgl. dazu Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M. 1973, v. a. S. 9 ff. und S. 205 ff. 7Vgl. dazu die Debatten zum Funktionalismus in Fischer, Volker/Hamilton, Anne (Hg.), Theorien der Gestaltung. Grundlagentexte zum Design. Frankfurt a.M. 1999, Bd. 1, Teil 3. 8Vgl. Feige, Design, 2018, Kap. 4. 9Vgl. zum ersten Parsons, Glenn/Carlson, Allen: Functional Beauty. Oxford 2008, Kap. 3; zum zweiten Fodor, Jerry: Psychological Explanations. An Introduction to the Philosophy of Psychology. New York 1968.

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die das Kunstwerk gegenüber unserem Wünschen und Wollen einklagt, ist keine, die sich einfach hinter unserem Rücken im Sinne einer bestimmten Funktion der Erfahrung des Kunstwerks einträgt. Drittens schließlich stellt sich mit Blick auf die Frage, welche Funktion Kunst hat, zugleich die Frage, in welcher besonderen Weise sie diese ausfüllt. Dabei drängt sich potentiell das Problem auf, dass Funktion und Form der Funktion hier möglicherweise nur extern und sekundär aufeinander bezogen werden. Wenn man etwa sagt, Kunst sei eine Form politischer Intervention, so muss man sofort spezifizieren, in welcher besonderen Weise sie das sein mag – und was hier überhaupt noch Politik und Intervention heißen mag –, da sie sonst droht, von öffentlichen Protesten, Flugblättern und Bundestagsdebatten ununterscheidbar zu werden. Denn selbst wenn man zu Recht sagt, dass politische Proteste, Flugblätter oder möglicherweise auch Bundestagsdebatten Teil einer Kunstaktion werden können, sind das politische Proteste, Flugblätter und Bundestagsdebatten doch nicht schon per se. Kurz gesagt: Obwohl ich an dieser Stelle keine begriffliche Alternative zu bieten habe, hege ich (mittlerweile)10 eine gewisse Skepsis hinsichtlich der Frage, ob das, was die Kunst leistet, sinnvoll in Begriffen der Funktion zu erläutern ist (dasselbe gilt für „Leistung“, „Rolle“ und „Zwecke“).

2 Allgemeines und Besonderes – Kunstbegriff und einzelnes Kunstwerk? All diese Bemerkungen artikulieren den Gedanken, dass das, was auch immer die Kunst mit uns anstellen mag, nichts ist, was unabhängig von dem, was das je einzelne Kunstwerk aus sich heraus etabliert, verständlich gemacht werden kann. Entsprechend kann es keine subsumtive Bestimmung dessen, was Kunstwerke tun, geben. Wenn Kant Kunst als „Erkenntnis überhaupt“ bestimmt oder Hegel Kunst als „das sinnliche Scheinen der Idee“,11 so können diese Bestimmungen keine subsumtiven Bestimmungen dessen, was Kunstwerke leisten, sein. Wenn der Gedanke ernst genommen wird, dass jedes Kunstwerk aus sich heraus seine Regeln etabliert,12 anhand derer es zu messen ist, so müssen solche Bestimmungen vielmehr derart verstanden werden, dass ihr Sinn im Lichte jedes neuen kraftvollen Kunstwerks neu verhandelt wird. Nicht allein handelt jedes kraftvolle Kunstwerk aus sich heraus seine Elemente aus, sondern handelt damit zugleich den Sinn der allgemeinen Bestimmungen, im Rahmen derer wir angeben, was die Rolle der Kunst im Rahmen der menschlichen Welt sein mag, neu aus. Meines Erachtens ist es nicht die Aufgabe der Kunstphilosophie, gewissermaßen von außen auf das, was Kunstwerke mit uns machen, zu schauen, sondern aus der Perspektive der-

10Vgl.

demgegenüber Feige, Daniel M.: Kunst als Selbstverständigung. Münster 2012. Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Frankfurt a.M. 1974, S. 132. Hegel, G.W.F.: Vorlesungen über die Ästhetik. Frankfurt a.M. 1986 (= Bd. 1), S. 151. 12Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, 1974, S. 241 ff. 11Kant,

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jenigen, die um ihre besondere Relevanz für unsere Lebensführung wissen, und damit auch aus der Perspektive des je einzelnen Werks eine reflexive Klärung dafür zu formulieren. Das Allgemeine der Kunst muss konkrete Allgemeinheit derart sein, dass es nichts anderes meinen kann als die Mitarbeit der Besonderungen an diesem Allgemeinen und damit seine wesentliche Unabgeschlossenheit und Unbestimmtheit – eine Unabgeschlossenheit und Unbestimmtheit, die damit selbst in und durch jedes Werk in Bewegung ist und nicht eine abstrakte Bestimmung kunstbezogener Grundbegriffe meint oder des Kunstbegriffs selbst. Kunst ist nicht deshalb ästhetisch, weil es bei ihr immer oder zumeist um sinnlich wahrnehmbare Objekte und Situationen geht (und das nicht allein, weil sehr vieles, was in der menschlichen Welt und damit der Welt eines Lebewesens, das sich durch Sinnlichkeit wie Vernünftigkeit gleichermaßen auszeichnet, geschieht, etwas mit der Sinnlichkeit des Menschen zu tun hat). Vielmehr ist Kunst ästhetisch darin, dass ihre Werke zu beurteilen heißt, ein Besonderes in seiner Besonderheit zu beurteilen. Kant hat uns in diesem Geiste ins Stammbuch geschrieben, dass das Ästhetische als eine besondere Urteilsform zu verstehen ist und damit als besondere Ausübung unserer begrifflichen Vermögen. Das Besondere als Besonderes zu beurteilen heißt damit nicht, es von seinem Allgemeinen – das ist Begriffe – abzuspalten, sondern vielmehr, diese begrifflichen Bestimmungen nicht als Prinzip des ästhetischen Urteils zu begreifen. Das Ästhetische beginnt damit dort, wo wir Objekte und Ereignisse nicht länger subsumtiv und summarisch betrachten, sondern wo wir uns auf ihre jeweilige Besonderheit einlassen – dieses Gemälde, diesen Klang, diesen Designgegenstand. Insofern hier durchaus das Allgemeine im Spiel ist, kann Kant sagen: Ästhetische Urteile können weder rein vernünftige noch rein sinnliche Wesen fällen; das ästhetische Urteil ist vielmehr das Signum eines Lebewesens, das über Sinnlichkeit und Vernunft derart verfügt, dass die Sinnlichkeit durch die Vernunft informiert wird und die Vernunft durch die Sinnlichkeit: Es ist das Signum des Menschen.13 Ein schlechthin Besonderes gibt es nicht, denn es wäre in Wahrheit ein falsches, weil abstraktes Allgemeines. Im ästhetischen Urteilen geht es aber gerade nicht um dieses Allgemeine – dieses Gemälde, dieser Klang, dieser Designgegenstand –, sondern unsere begrifflichen Vermögen stehen vielmehr im Dienste des Nachvollzugs des Gegenstandes selbst – dieses Gemälde, dieser Klang und dieser Designgegenstand. Kann Kants Theorie des ästhetischen Urteils damit auf den ersten Blick verständlich machen, dass Kunstwerke nur an dem zu messen sind, was sie jeweils aus sich heraus etablieren, so kann er das auf den zweiten Blick durchaus nicht verständlich machen, denn das ästhetische Urteil drückt ein reflexives Verhältnis des Subjekts angesichts beliebiger Gegenstände und Situationen aus; im beurteilten Gegenstand wird auch dann, wenn hier durchweg unsere begrifflichen Vermögen in besonderer Weise im Spiel sind, nichts an den Gegenständen erkannt. In der reinen Betrachtung des Gegenstandes geht es nur darum, ob dieses reflexiv

13Vgl.

ebd., S. 123.

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in mir Lust oder Unlust auslöst und das ist unabhängig von der Frage, um was für ein Ding es sich hier handelt. Kant hat völlig Recht, dass es im ästhetischen Urteilen nicht darum geht, Eigenschaften eines Gegenstandes, einer Situation, eines Ereignisses zu fixieren und einen Gegenstand, eine Situation, ein Ereignis etc. einfach subsumtiv unter einen Allgemeinbegriff zu bringen. Aufgrund seiner Verortung der Ausübung unserer begrifflichen Vermögen im ästhetischen Urteilen droht der beurteilte Gegenstand, die beurteilte Situation bzw. das beurteilte Ereignis aber selbst austauschbar zu werden. Ein Modell für den Versuch, kategoriale Unterschiede zwischen ästhetischen Gegenständen bei gleichzeitiger Berücksichtigung ihrer Kontinuität zu denken, und damit auch ein Modell für den Versuch, die Macht der Kunst in ihrer Zweckfreiheit im Kontrast zu anderen Arten ästhetischer Gegenstände zu denken, findet sich in Aristoteles Unterscheidung unterschiedlicher Arten von Seelenvermögen im Reich des Lebendigen. Als Seele kennzeichnet er die „erste Vollendung eines natürlichen, organischen Körpers“;14 von Vollendung spricht er, weil es seines Erachtens in der Entwicklung und Entstehung lebendiger Dinge zu Privationen kommen kann, wenn etwa der Rotluchs nur mit einem anstatt zwei funktionstüchtigen Augen geboren worden ist; wenn sie die Vollendung eines natürlichen, organischen Körpers ist, so steckt darin weiter der Gedanke, dass eine bestimmte Art der Seele nur in einer bestimmten Art von Körper sein kann – eine menschliche Seele kann nicht in einem Körper eines nicht-menschlichen Tieres sein, wie eine tierische Seele nicht in einem menschlichen Körper sein kann. Charakteristisch für seine Überlegungen ist gleichwohl dreierlei: Erstens handelt es sich bei Aristoteles’ Position trotz des Gedankens, dass in einem bestimmt verfassten Körper nur eine spezifisch verfasste Seele zu finden sein kann, nicht um einen Dualismus, sondern vielmehr um einen Monismus und zwar genauer: um einen nicht-reduktiven Materialismus. Die menschliche Seele meint das richtige und angemessene Funktionieren des menschlichen Körpers in seinen materiellen wie kognitiven Aspekten. Zweitens betont er mit der Unterscheidung von Pflanze, Tier und Mensch und der Zuordnung unterschiedlicher Seelenvermögen zu diesen drei Formen des Lebendigseins sowohl die Kontinuität wie Diskontinuität des Reichs des Lebendigen. Drittens schließlich gilt, dass Aristoteles, wenn er der Pflanze das Ernährungsvermögen, dem Tier zusätzlich noch das Wahrnehmungsund Bewegungsvermögen und dem Menschen schließlich darüber hinaus noch Vernunft zuspricht, diese Zuschreibungen nicht in einem additiven, sondern vielmehr in einem transformativen Sinne meint: Dadurch, dass der Mensch anders als Pflanze und Tier über vernünftige Vermögen verfügt, ändert sich der Sinn all derjenigen Vermögen, die er mit Pflanze und Tier teilt. Damit gilt: Für Aristoteles sind Pflanze, Tier und Mensch alle gleichermaßen lebendig, aber sie unterscheiden sich in der Art und Weise ihres Lebendigseins. Matthew Boyle hat das wie folgt expliziert:

14Aristoteles:

Über die Seele. Hamburg 1995, S. 63.

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[D]as, was es bedeutet, ein Tier zu sein, [wird] grundlegend transformiert […], wenn Vernunft im Spiel ist. ‚Vernünftig‘ ist ein Prädikat, das vom Tier abgrenzt, und nicht der Name von Eigenschaften, über die bestimmte Tiere verfügen, weil das, was vernünftig ist, sich in seiner Weise, ein Tier zu sein, unterscheidet von dem, was nichtvernünftig ist.15

Entsprechend sind Pflanze, Tier und Mensch nicht dahingehend lebendig, dass sie alle gemeinsame Eigenschaften teilen und sich dann noch in einigen Eigenschaften unterscheiden. Vielmehr weisen Pflanze, Tier und Mensch eine jeweils andere Form des Lebendigseins auf: Es handelt sich bei Pflanze, Tier und Mensch um disjunktive Bestimmungen des Lebendigseins. Aristoteles’ derzeit in den Debatten der theoretischen wie praktischen Philosophie vieldiskutierte Art der Unterscheidung lässt sich wie folgt für die Ästhetik fruchtbar machen:16 So wie es nach Aristoteles verschiedene Formen des Lebendigseins gibt, so gibt es verschiedene Formen des Ästhetischseins. So sind Kunst und Design beide ästhetisch dahingehend, dass sie als je besonderes Kunstwerk und je besonderer Designgegenstand zu beurteilen sind. Aber Kunstwerke sind auf formal andere Weise ästhetisch als das Designgegenstände – und mögliche weitere Arten ästhetischer Gegenstände – sind. Die Disanalogien zum aristotelischen Modell sollten gleichwohl auch deutlich sein: Kunst und Design sind nicht allein keine natürlichen Arten. Vielmehr sind die Formen des Ästhetischseins anders als Formen des Lebendigseins geschichtlich geworden und ihr Sinn ist in Bewegung; nicht allein bestimmt ihr Gewordensein den Sinn ihres jeweiligen Begriffs; vielmehr wird der Sinn ihres Begriffs in und durch jeden neuen relevanten ästhetischen Gegenstand neu und weiter bestimmt.17 Denn während die einzelnen Individuen einer Lebensform mit Blick auf den Sinn der Lebensform redundant sind18 – die privative Realisation des Rotluchses geht nicht in den Begriff des Rotluchses ein –, sind das die einzelnen Kunstwerke mit Blick auf den Begriff der Kunst und die einzelnen Designgegenstände mit Blick auf

15Boyle,

Matthew: Wesentlich vernünftige Tiere. In: Andrea Kern/Christian Kietzmann (Hg.): Selbstbewusstes Leben. Texte zu einer transformativen Theorie der menschlichen Subjektivität. Berlin 2017, S. 78–119, hier S. 97. 16Vgl. zu diesen Debatten als einschlägige jüngere Sammelbände: Kern, Andrea/Kietzmann, Christian (Hg.): Selbstbewusstes Leben. Texte zu einer transformativen Theorie der menschlichen Subjektivität. Berlin 2017; Hähnel 2017. 17Vgl. zu dieser historisch-dialektischen Logik auch Feige, Design, 2018, Kap. 2. 18Das gilt selbst für den Fall von Mutationen; zwar setzt der Begriff der Mutation einen Begriff des Standards voraus, vor dessen Hintergrund es sich hier überhaupt nur um eine Mutation handeln kann – aber die Mutation bestimmt nicht den Sinn dessen in der Weise neu und weiter, was vor ihr war, um die es mir hier geht. Wenn im Fall der Flügel von Vögeln diese ursprünglich im Sinne der Funktion der Wärmeregulierung selektiert worden sind und erst später zur Funktion des Fliegens co-adaptiert worden sind (vgl. dazu Gould, Stephen J./Lewontin, Richard C.: The Spandrels of San Marco and the Panglossian Paradigm: A Critique of the Adaptionist Programme. In: Proceedings of the Royal Society of London, Series B 205 1979, S. 581–598), so zeigt diese Co-Adaption nicht, dass der Sinn der Flügel schon immer das Fliegen war. Es handelt sich hier um einen bloßen Bruch und nicht um eine dialektische Aufhebung.

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den Begriff des Designs nicht. Mit jedem relevanten Kunstwerk ändert sich der Sinn dessen, was es überhaupt heißt, dass ein Kunstwerk kraftvoll ist und damit das, was überhaupt ein Kunstwerk ist; mit jedem relevanten Designgegenstand ändert sich der Sinn dessen, was es für diese Art von Gegenständen heißt, dass sie unsere Praktiken im Lichte der Zwecke, zu denen sie da sind, formen. Anders gesagt: Auch wenn es Privationen in Kunst und Design gibt und damit Kunstwerke und Designgegenstände, die ihrem Begriff nicht gerecht werden, so liegt das eben nicht daran, dass das, was es heißt, seinem Begriff gerecht zu werden, hier schon – in einem logischen wie temporalen Sinne – vor den einzelnen Kunstwerken und Designgegenständen feststehen würde. Kurz gesagt: Kants Überlegungen müssen somit nicht allein im Geiste des Aristotelischen Formdenkens um den Gedanken unterschiedlicher Arten des Ästhetischseins erweitert werden, sondern zugleich im Geiste Hegels so expliziert werden, dass sie geschichtlich in Bewegung sind. Zwar handelt es sich hier um Formunterschiede, aber diese dürfen anders als im aristotelischen Denken nicht formalistisch verstanden werden. Vor den einzelnen Kunstwerken und Designgegenständen steht nicht schon fest, was Kunst und Design gewesen sein werden: Sie sind Praxisformen derart, dass in und durch jedes einzelne Kunstwerk und durch jeden einzelnen Designgegenstand ihr jeweiliger kategorialer Rahmen, wie auch ihr Verhältnis zueinander neu verhandelt werden. In ihrer Autonomie gegenüber außerkünstlerischen Zwecken – und das heißt, dass ein Kunstwerk zu verstehen immer meint, es in dem nachzuvollziehen, was es aus sich heraus etabliert, – hat die Praxisform der Kunst im Rahmen der menschlichen Welt eine bestimmte Macht über uns. Diese lässt sich – wie schon Kant und Hegel in unterschiedlicher Weise gesehen haben – so erläutern, dass Kunstwerke uns nur insofern etwas zeigen, als sie sich selbst zeigen. Kunstwerke sind konstitutiv selbstreflexiv verfasste Gegenstände derart, dass Interventionen der sozialen Kunst nicht einfach Versammlungen mit anderen Mitteln sind, sondern sich in ihrer Sozialform selbst thematisieren und uns auch daraufhin befragen, was sie überhaupt sind, worum es bei ihnen gehen könnte und was überhaupt im Moment der Versammlung zu ihnen gehört und was nicht. Dieses Sich-SelbstPräsentieren ist zugleich so zu erläutern, dass Kunstwerke, indem sie sich selbst präsentieren, eine Perspektive auf diejenigen artikulieren, die sie nachvollziehen. Denn auf einen Nachvollzug sind Kunstwerke aufgrund ihrer eigenlogischen Verfassung angewiesen – dass jedes kraftvolle Werk der Musik nicht allein in neuer Weise Elemente differenziell etabliert, sondern dass es dadurch zugleich auch die Kategorie des „Klangs“ selbst neu bestimmt. Ein Kunstwerk verstehen heißt damit immer, es in seiner je eigenen Konstitution nachzubuchstabieren; wie Adorno sagt: „Machen Kunstwerke nichts nach als sich, dann versteht sie kein anderer, als der sie nachmacht.“19 Die Rolle der Kunst in der menschlichen Welt in Form einer

19Adorno:

Ästhetische Theorie, 1973, S. 190.

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angebbaren Leistung oder Funktion subsumtiv zu fassen, heißt, den einzelnen Werken nicht gerecht zu werden. Sind Kunstwerke damit in je singulärer Weise selbstbezüglich verfasste Gegenstände, mit denen wir zugleich Erfahrungen einer Thematisierung unserer selbst machen, so kommt die Kraft der Kunst nicht durch so etwas wie besonders würdige „Inhalte“ (das Gute, das Schöne, das Wahre) zustande. Indem es in der Kunst um die Etablierung eigensinniger Formen geht, scheint in ihr ein gegenwendiges Moment gegenüber der außerkünstlerischen, gesellschaftlichen Rationalität auf – Inhalte sind in ihr dadurch unbestimmt und ungesichert, dass sie nichts anderes als materiale Formkonstellationen werden; ethische Fragen werden von ihr negativistisch beleuchtet, insofern Kunst niemals eine praktische Orientierung an einem inhaltlich bestimmten Guten ist. Eine solche negativistische Ästhetik der Kunst im Geiste Adornos darf nun aber nicht so gedeutet werden, dass jedes Kunstwerk das, was es macht, letztlich in denselben leeren und unbestimmten Abgrund wirft, so dass Kunstwerke ununterscheidbar würden. Wenn Adorno festhält, dass der „Zweck des Kunstwerks […] die Bestimmtheit des Unbestimmten“ ist,20 so darf dieses Unbestimmte gerade nicht als etwas verstanden werden, was außerhalb des Kunstwerks schon eine solche Bestimmtheit haben würde. Machen Kunstwerke in ihrer eigensinnigen Form außerkünstlerische Praxis unbestimmt, so handelt es sich immer um eine bestimmte Unbestimmtheit, die allererst in und durch das Werk ihre jeweilige Kontur erhält; das restlos Unbestimmte wäre das restlos Bestimmte. Demgegenüber wird in jedem kraftvollen Kunstwerk ein gegenüber unserem selbstbewusst-rationalen Leben gegenwendiges Moment artikuliert, das als Kehrseite selbst dialektisch auf dieses selbstbewusst-rationale Leben bezogen ist. Insofern dies in der Kunst nicht im Medium begrifflicher Artikulation, sondern durch die Form des Kunstwerks vielmehr in Form eines Gegen-Begrifflichen im Begrifflichen geschieht, ist es etwas, das in jedem Kunstwerk eine andere und neue Wendung erhält. Es ist ein Allgemeines, das in der Kunst – anders als in der Philosophie – eben nicht etwas meint, das auf einer höherstufigen kategorialen Ebene wiederum in einer Weise artikuliert werden könnte, das es noch als etwas anderes explizieren würde als das, was seine jeweiligen Besonderungen leisten. Eine entsprechende Erfahrung der Kunst ist praktisch dahingehend, dass wir uns als andere Subjekte durch sie konstituieren – als Subjekte, die sensitiv sind für das, was in ihrem Wünschen und Wollen eben nicht aufgeht, aber das eben nicht im Sinne eines abstrakten Satzes oder einer allgemein-diskursiven Einsicht, sondern als etwas, das sich allein in und durch das Werk zeigt.

20Ebd.,

S. 188.

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Literatur Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M. 1973. Aristoteles: Über die Seele. Hamburg 1995. Boyle, Matthew: Wesentlich vernünftige Tiere. In: Kern, Andrea/Kietzmann, Christian (Hg.): Selbstbewusstes Leben. Texte zu einer transformativen Theorie der menschlichen Subjektivität. Berlin 2017, S. 78–119. Danto, Arthur C.: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Frankfurt a.M. 1991. Feige, Daniel M.: Kunst als Selbstverständigung. Münster 2012. Feige, Daniel M.: Design. Eine philosophische Analyse. Berlin 2018. Feige, Daniel M., Retroaktive Neuverhandlung. Zum Verhältnis von Vorbild und Nachbild in der Kunst, In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 63/1 (2018), S. 127–137 Fischer, Volker/ Hamilton, Anne (Hg.): Theorien der Gestaltung. Grundlagentexte zum Design, Bd. 1. Frankfurt a.M. 1999. Fodor, Jerry: Psychological Explanations. An Introduction to the Philosophy of Psychology. New York 1968. Gould, Stephen J./Lewontin, Richard C.: The Spandrels of San Marco and the Panglossian Paradigm: A Critique of the Adaptionist Programme. In: Proceedings of the Royal Society of London, Series B 205 (1979), S. 581–598. Hähnel, Martin (Hg.): Aristotelischer Naturalismus. Stuttgart 2017. Hegel, Georg W. F.: Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 1. Frankfurt a.M. 1986. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Frankfurt a.M. 1974. Kern, Andrea/Kietzmann, Christian (Hg.): Selbstbewusstes Leben. Texte zu einer transformativen Theorie der menschlichen Subjektivität. Berlin 2017. Osborne, Peter: Anywhere or not at All. Philosophy of Contemporary Art. London 2013. Parsons, Glenn/Carlson, Allen: Functional Beauty. Oxford 2008. Rebentisch, Juliane: Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung. Hamburg 2015. Wellmer, Albrecht: Kultur und industrielle Produktion. Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. In: Merkur 37 (1983), S. 133–145.

Überengagement Christian Krüger

„What can the arts do for society?“1 – Die Frage nach dem gesellschaftlichen Nutzen von Kunst ist nicht neu. Sie hält vielmehr weite Teile der künstlerischen Praxis und des Nachdenkens über Kunst seit dem Ende ihrer fraglosen Funktionalisierung für kirchliche oder höfische Zwecke in Gang. Das gilt nicht nur für die offensichtlicheren Fälle, etwa für Heines politische Dichtung2 oder den Anspruch der historischen Avantgarde, Kunst in Lebenspraxis zu überführen. Nach einem gesellschaftlichen Beitrag der Kunst wird auch dort gefragt, wo zunächst das Hohelied der Autonomie der Kunst, ihrer Interesselosigkeit und Zweckfreiheit gesungen wird: Die pädagogischen Hoffnungen, die Schiller in die Kunst setzt, bezeugen das nicht weniger als Adornos Bemühungen darum, einer auf radikale Distanz zum Gesellschaftlichen verpflichteten Kunst dennoch ein gesellschaftskritisches Potential abzuringen. Anders gesagt: Im Zuge der Emanzipation der Kunst von nicht-künstlerischen Zweckregimen bleibt der Kunst ihr Bezug auf diese Zweckregime als offene Frage erhalten. Neu ist, wie direkt dieser Nutzen von unterschiedlichen Akteur/innen des Kunstfeldes mittlerweile (wieder) bestimmt wird. Die Kopfschmerzen, die frühere Generationen angesichts dieser Frage plagten, sind wie verflogen. Man scheint sich einig, dass der Nutzen oder die gesellschaftliche Funktion von Kunst darin besteht

1Bishop, Claire: Artificial Hells. Participatory Art and the Politics of Spectatorship. London u. a. 2012, S. 13. 2Dazu Böhm, Alexandra: Heine und Byron. Poetik eingreifender Kunst am Beginn der Moderne. Berlin 2013.

C. Krüger (*)  Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Eusterschulte et al. (Hrsg.), Funktionen der Künste, Ästhetiken X.0 – Zeitgenössische Konturen ästhetischen Denkens, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04927-8_4

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und bestehen sollte, unmittelbar förderlich auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zu wirken. Mit einer polemischen Formulierung der Kunsthistorikerin Claire Bishop gesprochen lautet das telos einer so verstandenen Kunst: ‚doing good‘. Für derartige, vor allem dem Programm nach nutzenorientierte Kunst (die Werke und ihre Rezeption entwickeln ja nicht selten einen ambivalenteren wenn nicht gar gegenläufigen Sinn) können hier exemplarisch die 2011 von der kubanischen Künstlerin Tania Bruguera ins Leben gerufene Asociación de Arte Útil genannt werden, die Wiener Künstlergruppe Wochenklausur sowie Theaterformate, die sich unter dem Begriff des ‚Applied Theatre‘3 fassen lassen. Gemäß dem Programm der Arte Útil muss Kunst u. a. folgenden Kriterien genügen: „Propose new uses for art within society. […] Be implemented and function in real situations. […] Have practical, beneficial outcome for its users. […] Re-establish aesthetics as a system of transformation.“4 Wochenklausur „stellt sich“ in ganz ähnlicher Weise „präzise Aufgaben und versucht in zeitlich begrenzten Intensiveinsätzen Lösungen für erkannte Probleme [gemeint sind: soziale, politische; CK] zu erarbeiten“.5 So unterstützte die Gruppe gemäß dem eigenen Leitziel „der Verringerung gesellschaftspolitischer Defizite“ arbeitslose Frauen dabei, Geschäfte in Glasgow zu eröffnen oder gründete (als österreichischer Beitrag zur Biennale di Venezia) Sprachschulen für kosovo-albanische Bürgerkriegsflüchtlinge in Mazedonien, um deren berufliche Chancen zu verbessern.6 Applied Theatre wiederum ist eine „Theaterpraxis, die auf soziale, pädagogische oder therapeutische Ziele ausgerichtet ist und erklärtermaßen in die täglichen Routinen fest umrissener Zielgruppen eingreifen möchte“.7 Mit diesen Agenden werden wiederum offene Türen bei Funktionär/ innen in Politik und Administration eingerannt, die, wie Bishop problematisiert,8 einem kulturpolitischen Leitbild folgen, das in Großbritannien während der NewLabour-Periode entwickelt wurde und das auf dem Kontinent bereitwillig aufgegriffen wurde. Für die Entwicklung dieses Leitbilds war eine Studie von François Matarasso maßgeblich, die diverse wünschenswerte soziale Effekte dokumentiert, die Matarasso im Zuge seiner kunstbasierten sozialen Arbeit beobachtete; mit der Folge, dass ebensolche Effekte für Politik und Verwaltung fortan als Förder- und Evaluationskriterien für Kunstprojekte gewissermaßen gesetzt waren.9 Das Ziel der

3Dazu

Warstat, Matthias: Ästhetik der Anwendung: Thesen zur gegenwärtigen Relation von Theater und Alltag. In: Paragrana 26/2. Berlin 2017, S. 26–41; Warstat, Matthias u. a. (Hg.): Theater als Intervention. Politiken ästhetischer Praxis. Berlin 2015, sowie Evers, Florian u. a. (Hg.): Applied Theatre. Rahmen und Positionen. Berlin 2017. 4Vgl. http://www.arte-util.org/about/colophon/, (15.02.2020). 5Vgl. http://www.wochenklausur.at/kunst.php?lang=de, (15.02.2020). 6Vgl. ebd. Hier bedürfte es einer genaueren Auseinandersetzung mit den künstlerischen Arbeiten, die mit großer Wahrscheinlichkeit Dimensionen dieser Arbeiten zutage förderte, die sich der Programmatik nicht fügen. 7Warstat: Ästhetik der Anwendung, 2017, S. 34. 8Vgl. Bishop: Artificial Hells, 2012, S. 12 ff.. 9Vgl. Matarasso, François: Use or Ornament? The Social Impact of Participation in the Arts. London 1997.

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Maximierung des gesellschaftlichen Wohls und Nutzens mit künstlerischen Mitteln wird so diesseits und jenseits der Kunst zum weitreichenden Konsens. Vor diesem Hintergrund widme ich mich hier einer philosophischen Stimme, die erst kürzlich und an prominenter Stelle in den Chor des künstlerischen Utilitarismus – wie man etwas plakativ titeln könnte – eingestimmt hat. Es handelt sich um Überlegungen, die Vid Simoniti seinerseits unter dem Stichwort eines „pragmatic view of aesthetic value“ vorgestellt hat.10 Simoniti argumentiert dafür, die Evaluation sozial engagierter Kunst allein an deren handfesten sozialen Resultaten zu orientieren. Genauer gesagt: Jede „‚as art‘ restriction on the realization of artistic value“11 sei aufzugeben. Wer die Güte oder das Gelingen von sozial engagierter Kunst beurteilen will, solle, ohne sich kunstbezogenen Fragen im engeren Sinne zu widmen, unumwunden und ausschließlich fragen: Hat diese oder jene Kunst sozial wünschenswerte Effekte oder nicht? Macht sie einen Unterschied dafür, wie die Dinge gesellschaftlich liegen oder nicht? Simoniti ist mit dieser Auffassung durchaus nicht allein. Er artikuliert vielmehr in zugespitzter Form eine weitverbreitete Intuition. So behauptet der Theaterwissenschaftler Matthias Warstat: „Je mehr sich das Theater die Intervention in reale Konflikte und Probleme spezifischer Zielgruppen auf die Fahnen schreibt, desto mehr muss es sich daran messen lassen, was es hinsichtlich dieser Konflikte und Probleme tatsächlich ausrichten kann.“12 Der Philosoph Nicholas Wolterstorff klingt ganz ähnlich: „Every piece of social protest art is a protest against a particular form of social injustice; its success is to be judged by its contribution to the righting of that particular form of social injustice.“13 Ich werde hingegen dafür argumentieren, dass die von Simoniti verfochtene und von anderen nahegelegte pragmatische Auffassung des Wertes von (sozial engagierter) Kunst nicht haltbar ist. Das Grundproblem dieser Auffassung lautet: Sie verzeichnet eine für die anvisierte Funktions- und Wertbestimmung von Kunst konstitutive Trennung zwischen den Begriffen künstlerischer und sonstiger nicht-künstlerischer Praktiken und kann daher nicht plausibel machen, dass die gewertschätzten gesellschaftlichen Effekte noch einer Praxis der Kunst zuzurechnen sind. Aber was der Theorie, zumal der Philosophie, hinsichtlich ihrer begrifflichen Bestimmungen schlecht zu Gesicht steht, kann in der künstlerischen Praxis seinen Reiz und sein gutes Recht haben: Grenzen verletzen und Differenzen ignorieren. Daher bemühe ich mich zugleich darum, zu zeigen, dass das Scheitern der pragmatischen Auffassung als begrifflicher Rekonstruktion einer künstlerischen Praxis des sozialen Engagements uns nicht dazu verleiten sollte, jener Praxis ihre gesellschaftlichen Ambitionen auszureden. Zu schnell passiert es nämlich, dass man der Kunst etwa in Reaktion auf zuweilen vielleicht arg verstiegene und fehlgeleitete Wirkungsabsichten einerseits und in Reaktion auf theoretisch

10Vgl. Simoniti, Vid: Assessing Socially Engaged Art. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 76/1 (2018), S. 71–82. 11Ebd., S. 76. 12Warstat: Ästhetik der Anwendung, 2017, S. 37. 13Wolterstorff, Nicholas: Art Rethought. The Social Practices of Art. Oxford 2015, S. 229.

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unhaltbare Verteidigungen solcher Absichten andererseits, hinsichtlich ihres transformatorischen Potentials gleich ganz den Garaus macht und sie (nicht selten nolens volens) auf vertrautes autonomieästhetisches Terrain zurückverweist.14 Es wird also deutlich zu machen sein, dass sich der gesellschaftliche Nutzen von Kunst zwar nicht in der Weise kalkulieren und messen lässt, wie dies von so mancher Verfechter/in eines künstlerischen Utilitarismus behauptet und gefordert wird. Dies soll aber so geschehen, dass die Idee eines greifbaren gesellschaftlichen Nutzens von Kunst im Spiel bleibt, was impliziert, dass der Sinn dessen, was hier „greifbar“ und „nützlich“ heißt, nicht derselbe bleiben kann. Kunst hat demnach durchaus gesellschaftlich relevante Effekte, allerdings solche eigener Art.

1  Allen Berichten von prägenden Romanlektüren, aufrührerischen Filmvorführungen oder heilsamen theatralen Re-Enactments historischer Ereignisse zum Trotz,15 und obwohl Zensurmaßnahmen und Prozesse gegen unliebsame und wegen ihres Wirkungspotentials gefürchteter Kunst Legion sind, hält sich die Überzeugung hartnäckig, dass Kunst im Grunde machtlos ist.16 Es ist nicht die geringste Schwäche von Simonitis Text (und auch meines eigenen), dass er selbst wenig bis nichts unternimmt, um die Skeptiker eingreifender oder engagierter Kunst vom Gegenteil zu überzeugen. Er setzt vielmehr voraus, dass Kunst gesellschaftlich produktiv zu werden vermag, bleibt aber eine Erläuterung schuldig, wie genau ein produktiver Eingriff von Kunst in gesellschaftliche Verhältnisse möglich und zu verstehen ist. Auf den ersten Blick rührt das Fehlen

14Paradigmatisch

(wenn auch zutiefst ambivalent) artikuliert sich ein solcher Argwohn gegen das Nützliche der Kunst bekanntermaßen bei Jacques Rancière. Vgl. dazu u. a. Rancière, Jacques: Die Paradoxa der politischen Kunst. In: ders: Der emanzipierte Zuschauer [zuerst: Le spectateur émancipé, 2008], Wien 2009, S. 63–99. 15Ich denke hier u. a. an eine der Urszenen der Medienwirkungsdiskussion, an den (z. T. auch zweifelhaften) Erfolg von Goethes Die Leiden des jungen Werther; oder daran, wie das SEDRegime es bald bereute, den Film Blutige Erdbeeren, der die Studentenrevolte 1968 an der Columbia University verhandelt, in den 1970ern in die DDR-Kinos gebracht zu haben; oder daran, wie der britische Künstler Jeremy Deller das brutale Aufeinandertreffen von streikenden Stahlarbeitern und Polizisten in der Stadt Orgreave 1984 – das sogenannte Battle of Orgreave – 17 Jahre später mit Akteuren von damals in verkehrten Rollen aufführen ließ. 16Ihre vermeintliche Schwäche wurde der Kunst erst jüngst wieder vorgerechnet in Emmerling, Leonhard: Kunst der Entzweiung. Zur Machtlosigkeit von Kunst. Wien 2017. Paradigmatisch ist auch die Antwort, die Konrad Paul Liessmann im Vorfeld der Documenta 14 in der Sendung des Deutschlandfunks „Soll die Kunst die Welt retten?“ auf die Frage gibt: „Was kann die Kunst beitragen zu einer Verbesserung der Welt, und soll sie das tun?“ Liessmann antwortet: „Kunst kann weder zu dem Einen noch zu dem Anderen etwas beitragen, denn die Kunst […] ist jenseits der Welt, sie ist eine Welt für sich, sie ist tatsächlich eine Sache des Einzelnen für Einzelne. […] Von diesem Jenseits her gibt es keine Möglichkeit, in diese Welt zielgerichtet einzugreifen.“ Vgl. Website Deutschlandfunk, https://bit.ly/2JCVTp5 (15.02.2020).

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dieser Erläuterung daher, dass Simoniti ein bescheideneres Ziel verfolgt. Ihm geht es anscheinend nur darum, zu zeigen, dass und wie sozial engagierte Kunst übliche Vorstellungen vom Gelungensein von Kunst in Frage stellt. Genau besehen steckt hinter dem Fehlen einer solchen Erläuterung aber etwas anderes, weniger Bescheidenes – Simoniti findet solche Erläuterungen überflüssig. Das ist eine logische Konsequenz seines Plädoyers für einen eigentümlichen Pragmatismus in Fragen der Bewertung sozial engagierter Kunst: Wer nämlich versucht, dieses Engagement noch als ein mit den Mitteln der Kunst realisiertes Engagement zu erläutern – und daher eine Idee davon haben sollte, wie Kunst als Kunst das macht – hat die provokative Pointe seines ‚pragmatic view‘ schon verfehlt. Denn, wenn jede ‚as art restriction‘ in Fragen der Bewertung aufgeben werden soll, wie ich oben zitiert habe, dann ist es für die Bewertung eben irrelevant, was gegebenenfalls die besonderen Verfahren der Kunst sind, um gesellschaftliche Entwicklungen in Gang zu setzen. Natürlich kann es weiterhin eine lohnende Aufgabe sein, zu erläutern, in welcher Weise Kunst anders als andere Praxisformen (Wissenschaft, Recht etc.) Gesellschaft zu transformieren vermag. Das muss Simoniti nicht bestreiten. Für die Frage aber, wie die sozial engagierte Kunst, die ihm vor Augen steht, das macht und vor allem, was diese Kunst zu guter und gelungener Kunst macht, spielt es dennoch keine Rolle. Denn das soll ja gerade an Maßstäben gemessen werden, die ohne einen Rekurs auf das womöglich spezifische Wie von Kunst gefasst werden.17 Simonitis Überlegungen sind trotz der Irritationen, die sie prompt auslösen, einschlägig. Sie kreisen um dieselbe Art von Kunstpraxis, die ich eingangs mit Beispielen aufgerufen habe. Und man sollte Simoniti dankbar sein, dass er sich auf den Anspruch dieser Kunst erst einmal einlässt – ob erfolgreich oder nicht lässt sich diskutieren – und sie nicht sofort als irregeleitet abtut oder gegen sie polemisiert, wie das vielfach geschieht. Nach Simoniti zeichnet sich rezente sozial engagierte Kunst jedenfalls durch zwei grundlegende Merkmale aus. Erstens: Es ist deren erklärte Absicht, respektive die der Künstler/innen, die diese Kunst initiieren, nachweislichen Einfluss auf gesellschaftliche und soziale Verhältnisse zu nehmen: „these artists dedicate themselves pragmatically to measurable impact, aligning their art with social work, activism or technology development.“18

17Damit

ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass die jeweilige Vollzugsform der künstlerischen Praxis in der Evaluation zu Buche schlägt; dies allerdings nur insofern, als es nicht auf die künstlerische Verfasstheit dieser Vollzugsform ankommt, sondern nur darauf, inwiefern die Vollzugsform den angestrebten gesellschaftlichen Zwecken oder Wirkungsabsichten zuwider läuft oder diese befördert. Eine z. B. auf die Herstellung von Gendergerechtigkeit zielende Performance, die es schlicht verpasst, Zuschauer/innen gendergerecht zu adressieren, ist dann aus gesellschaftlichen oder moralischen Gründen der Gendergerechtigkeit misslungen, nicht aber weil sie als Performance, verstanden als künstlerische Form, nicht zu performen vermag, worum es ihr vorgeblich geht. 18Simoniti: Assessing Socially Engaged Art, 2018, S. 74. Er spricht auch von „to generate measurable social change“ und von „to make a real difference“, ebd., S. 78 und S. 81.

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Zweitens: Zudem weisen die künstlerischen Verfahrensweisen große Ähnlichkeiten mit nicht-künstlerischen Praktiken auf, die ebenfalls um soziales oder gesellschaftliches Engagement bemüht sind (soziale Arbeit, politischer Protest etc.) oder werden gar ununterscheidbar von diesen. Unter Rekurs auf Miwon Kwon, die als eine der ersten eine Geschichte dieser neuen Kunstformen skizziert hat, ergänzt Simoniti – gewissermaßen an all jene gerichtet, die jetzt ohnehin schon um die Spezifik der Kunst bangen – dass „aesthetic and art historical concerns“ für sozial engagierte Kunst eben tatsächlich „secondary issues“19 seien. Beide Merkmale zusammennehmend kann man sagen, dass die Orientierung am gesellschaftlichen Nutzen sowohl mit einem Desinteresse am sogenannten Materialfortschritt der Kunst – wonach gewissermaßen gut und gelungen ist, was das avancierteste Material aufweist – als auch an ihrer künstlerischen Spezifik korreliert. Zugespitzt: Was zählt, ist allein der „social impact“; dass es der Kunst gelingt und am besten in großem Umfang, gesellschaftlichen Nutzen zu stiften. Ob dieser raffiniert und innovativ oder eklektisch und stereotyp zustande kommt, scheint egal zu sein, und ebenso – und das wiegt schwerer – ob dieser Anspruch noch etwas mit Kunst und ihren Fragestellungen im engeren Sinne zu tun hat. Und das lässt sich sogar in einem doppelten Sinn verstehen: Weder sollen die Mittel besondere künstlerische Mittel sein, noch die Zwecke und Wirkungen, die realisiert werden. An eine derartige Praxis, so Simoniti, lassen sich die gängigen kunstkritischen Bewertungsmaßstäbe nun nicht mehr anlegen – oder etwas genauer: Der Begriff des künstlerischen Wertes selbst müsse angesichts solcher Praktiken neu bestimmt werden. Die beiden gängigsten und zugleich rivalisierenden Verständnisse des Begriffs des künstlerischen Wertes, die entsprechend auf den Prüfstand müssen, sind für Simoniti der Ästhetizismus und der Pluralismus. Ästhetizisten plädieren bekanntermaßen dafür, den Wert von Kunst „kunstintern“ zu bestimmen. Verschiedene Spielarten des Ästhetizismus sind unter verschiedenen Titeln – L’art pour l’art oder Formalismus um nur zwei zu nennen – vertreten worden. Werkorientierte Varianten des Ästhetizismus etwa wertschätzen Kunstwerke allein mit Blick auf die artistische Güte der jeweiligen Werkgestalt, also weil z. B. die Farbkomposition auf einem Bild besonders spannungsreich ist, weil der Plot eines Films sich raffiniert wendet, ein Klarinettensolo virtuos gespielt wird oder eine Hebefigur im Tanz so mühelos erscheint. Wohingegen erfahrungsorientierte Varianten des Ästhetizismus Kunstwerke allein mit Blick auf die Erfahrungen wertschätzen, die sie ermöglichen. Dabei werden diese Erfahrungen wiederum so verstanden, dass wir sie ausschließlich in Auseinandersetzung mit Kunstwerken machen können und diese Erfahrungen grundsätzlich selbstgenügsam sind, wobei auch der Charakter dieser Erfahrung unterschiedlich bestimmt wird: Der britische Kunstkritiker Clive Bell etwa spricht sogleich von der Erfahrung einer besonderen

19Kwon, Miwon: One Place after Another. Site Specific Art and Locational Identity. Cambridge, Mass./London 2002, S. 24.

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ästhetischen Emotion,20 Karl-Heinz Bohrer spricht von schockhaften Erfahrungsqualitäten21 und Monroe Beardsley, einer der Väter der analytischen Ästhetik, verbindet dementgegen ästhetische Erfahrung gerade mit einem „detachment of affect“.22 Pluralisten plädieren gegenüber allen Varianten des Ästhetizismus dafür, dass Kunstwerke vermittels ihrer Werk- und Erfahrungseigenschaften gerade auch ‚kunstexterne‘ Werte realisieren, d. h. in moralischer, pädagogischer oder epistemischer Hinsicht wertvoll sein können: Ein Historienfilm erweitert unser Wissen von den Lebensbedingungen und Sitten einer längst vergangenen Zeit; ein guter Song kann uns „experiental knowledge“23 darüber vermitteln, wie es ist, einsam und verlassen zu sein; Harriet Beecher Stowes Onkel Toms Hütte verschafft uns eine bewegende moralische Lektion ins Sachen Sklaverei etc. Und eben diese Realisierung kunstunspezifischer Werte und Zwecke soll Kunstwerke zu guten, gelungenen Werken machen können. Es liegt auf der Hand, dass der Ästhetizismus den zentralen Anspruch sozial engagierter Kunst, ihren Wert wesentlich (auch) im Nicht-Künstlerischen zu realisieren, schon im Ansatz verfehlt. Für Simoniti stellt er also zu Recht keine Option dar. Interessant ist, dass nun auch der Pluralismus sozial engagierte Kunst verfehlen soll, und dies, obwohl Pluralisten dezidiert offen dafür sind, einen Begriff des künstlerischen Wertes unter Einbezug sozialer, moralischer etc. Werte zu bestimmen. Die entscheidende Schwäche der Pluralisten sei aber, dass diese daran festhielten, dass der Wert, den Kunstwerke haben, die wir schätzen, „through features specific to the work’s medium, genre, theme, technique, display, art kind, or other artistic features“ realisiert sein müsse. Simoniti erkennt darin, wie gesagt, eine ‚as art restriction on the realization of artistic value‘ und eben die möchte er loswerden. Er plädiert dafür, den Rekurs auf „characteristically artistic features“24 im Zuge der Bestimmung des Begriffs des (künstlerischen) Werts sozial engagierter Kunst ganz aufzugeben. Auf diese Weise soll dem Selbstverständnis der künstlerischen Utilitaristen und der Spezifik ihrer (künstlerischen) Praxis Rechnung getragen werden. Aber ist das überzeugend?

20Vgl.

Bell, Clive: Art, Oxford 1987; vgl. dazu Misselhorn, Catrin: Gibt es eine ästhetische Emotion? In: Stefan Deines/Jasper Liptow/Martin Seel (Hg.): Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse. Berlin 1987; vgl. dazu Misselhorn 2013, S. 120–141. 21Vgl. Bohrer, Karl-Heinz: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a.M. 1981. 22Vgl. Beardsley, Monroe C.: In Defense of Aesthetic Value. In: Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association 52/6 (1979), S. 723–749. Eine Aktualisierung des erfahrungsästhetizistischen Ansatzes von Beardsley unternimmt Iseminger, Gary: The Aesthetic Function of Art. Ithaca/New York 2004. 23Vgl. dazu Gaut, Berys: Art and Knowledge. In: Jerrold Levinson (Hg.): The Oxford Handbook of Aesthetics. Oxford 2005, S. 436–449. 24Simoniti: Assessing Socially Engaged Art, 2018, S. 76.

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2  Ich möchte im Folgenden drei Einwände vortragen, betone vorab aber noch einmal, dass ich damit nur das Ziel verfolge, Erläuterungen der gesellschaftlichen Produktivität von Kunst oder ihres transformatorischen Potentials zurückzuweisen, die, bei aller Sympathie für die Idee einer gesellschaftlichen Produktivität von Kunst, dieser Idee dennoch einen Bärendienst erweisen. Damit soll Raum geschaffen werden für plausiblere Verteidigungen dieser Idee. So kritisch meine Überlegungen hier mit Blick auf ein sehr bestimmtes Verständnis der Produktivität von Kunst auch sind, so grundsätzlich zugetan sind sie dem Gedanken eines gesellschaftlich produktiven Beitrags der Kunst und darin durchaus einig mit Simoniti und Co. Zurück zu den Einwänden: Zuerst möchte ich Zweifel anmelden, dass die rezenten sozial engagierten Kunstpraktiken tatsächlich die kunsthistorische Sonderstellung einnehmen, die Simoniti ihnen zumisst.25 Das will ich an dem zweiten Merkmal sozial engagierter Kunst festmachen, das, wie eben gesehen, zur Ausmusterung der Pluralisten führt: die Ununterscheidbarkeit sozial engagierter Kunstpraktiken von nicht-künstlerischen engagierten Praktiken und die Indifferenz dieser Kunst gegenüber Fragen der ästhetischen Differenz. Mein Einwand lautet kurz gesagt, dass es mehr als 100 Jahre nach den Readymades von Duchamp zum festen und selbstverständlichen Repertoire der Künste gehört, Grenzziehungen zwischen Kunst und Alltag, zwischen ästhetischen und sonstigen Praktiken zu unterlaufen, und daher die genannten Merkmale sozial engagierter Kunst keine Sonderstellung dieser Kunst und die daraus abgeleiteten Konsequenzen für den Begriff ihres künstlerischen Wertes begründen.26 Die Geschichte der künstlerischen, d. h. mit den Mitteln der Kunst betriebenen Entgrenzung der Kunst ist natürlich viel älter als die von Duchamp und Co. Um nur ein Beispiel zu nennen: Bereits Courbets und Daumiers Realismus forderte wirkmächtig heraus, was zu deren Zeit als charakteristische und legitime künstlerische Mittel der Malerei galten. Und diese malerische Revolte war bei Courbet und Daumier (anders als bei Duchamp) mit einer offen sozialpolitisch-kämpferischen Agenda verbunden. In diese Perspektive gestellt erweisen sich heutige engagierte Kunstpraktiken, die ihr gesellschaftliches Engagement mit einer Provokation, weil Ignoranz gegenüber bestimmten künstlerischen Standards verbinden, weniger als Bruch als vielmehr als Fortsetzung einer altehrwürdigen Tradition. Und selbst der Umstand,

25Eine

ähnliche Tendenz, die Besonderheit rezenter Kunstpraktiken im historischen Vergleich zu betonen, hat Judith Siegmund, vgl. dies.: Zweck und Zweckfreiheit. Zum Funktionswandel der Künste im 21. Jahrhundert. Stuttgart 2019, bes. S. 2–26. Den Anstoß zu diesem Einwand verdanke ich einer Diskussion dieses Textes mit den Teilnehmer/innen des Kolloquiums für Gegenwartsästhetik von Georg W. Bertram an der Freien Universität Berlin. 26Simoniti spricht selbst davon, dass sozial engagierte Kunst heute eine ähnliche Herausforderung darstellt, wie einst Duchamps Readymades, zieht m. E. daraus aber nicht die richtigen Konsequenzen.

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dass sozial engagierte Kunst sich heute als unbekümmert um den eigenen Kunststatus überhaupt geriert, ist nicht ganz so neu, wie es den Anschein haben mag: Kunst, die keine Kunst sein will, war schon die klassische Avantgarde. Wenn das aber der Fall ist, lässt eine Kunst, für die ästhetische Fragen ‚secondary issues‘ sind und die sich gezielt nicht-künstlerischen Praktiken anverwandelt, die Kunst nicht hinter sich, sondern exerziert sie vielmehr in einer ihrer prägnantesten modernen Gestalten. Damit wäre es irreführend, zu glauben, man würde dem Anspruch dieser Kunst dadurch gerecht, dass man ihren Kunststatus in Fragen der Evaluation ausklammert. Viel eher schneidet man diese Kunst so ab von der fruchtbaren Geschichte, in der sie steht und von der her sie zu verstehen ist. Ich kann den Punkt auch noch einmal etwas anders machen: Was ‚characteristically artistic features‘ sind, wandelt sich historisch. Es handelt sich nicht um ein feststehendes, sondern vielmehr um ein dynamisches Repertoire, das mit jedem Werk neu zur Disposition stehen kann. Nicht immer, aber oft ist Kunst auch erklärtermaßen mit dem Anspruch verbunden, Neubestimmungen und Neuvermessungen des künstlerischen Möglichkeitsraumes zu leisten. Dabei ist dieser zunächst innerkünstlerisch erscheinende Anspruch auf Transformation und Neuerung zudem mit einer Agenda verbunden, die wesentlich aufs Nicht-Künstlerische, Gesellschaftliche zielt. Gerade umwillen von Resonanz und Wirkung im Außer-Künstlerischen wird mit den eingespielten Formen, Materialien, Stilen, Verfahrensweisen, Selbstverständnissen der Kunst gebrochen; und das deshalb, weil diese Formen immer wieder neu im Verdacht stehen, entweder in ein selbstgenügsames Spiel zu degenerieren, und so Kunst von der Nicht-Kunst zu isolieren, oder weil diese Formen von hochadaptiven nicht-künstlerischen Praktiken (z. B. kapitalistischen) so aufgenommen werden, dass sie ihren einst anstößigen Charakter verlieren, so dass neue Formen der Impulsgebung nötig werden. Wenn man also einen in dieser Weise für Entwicklungen offenen Begriff von künstlerischen Eigenschaften anlegt und die kunstinterne Entwicklung dieser Eigenschaften als Funktion ihres gesellschaftlichen Wirkungsanspruches begreift, besteht keine Notwendigkeit, die ‚as art restriction‘ preiszugeben, wie Simoniti fordert. Damit käme aber sein ‚pragmatic approach‘ gewissermaßen gar nicht erst aus den Startlöchern. Zweitens: Für den Fall, dass Simoniti dieser Einwand nicht überzeugt, will ich noch einen zweiten, kürzeren Einwand anbieten, der etwas direkter auf seinen provokativen Vorschlag eingeht, bevor ich drittens und abschließend noch einmal grundsätzlicher auf das gedankliche Setting von Simonitis Vorschlag zu sprechen komme. Aber lassen wir Simoniti zunächst mit einer zentralen Passage seines Textes noch einmal selbst zu Wort kommen: If we take seriously the intent of these art practices to make a difference to the political process, the value of these works ought to be assessed pragmatically: a socially engaged

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C. Krüger artwork is good art simply to the extent that it realizes a politically valuable end, regardless of the means the work employs.27

Mir scheint offenkundig, dass Simoniti damit vor folgendem Problem steht: Indem er den Bezug auf ‚artistic features‘ oder auf ‚means‘ im Allgemeinen streicht, gibt er notwendige Individuations- oder Identifikationskriterien für Kunstwerke aus der Hand. Jemand, der ein Kunstwerk für seinen gesellschaftlichen Nutzen preisen will, kann so nicht mehr angeben, welchem Kunstwerk er diesen Nutzen oder Wert eigentlich zuspricht.28 Aber genau darum geht es doch: zu sagen, welches Werk hinsichtlich seiner sozialen Wirkungen gelungen oder misslungen ist. Wer Mittel und Zwecke (oder Ursache und Wirkung) in der von Simoniti vorgeschlagenen Weise entkoppelt, kann zwar die sozial oder gesellschaftlich wünschenswerten Effekte, die sich einstellen, wertschätzen und auch den blanken Umstand, dass sie sich einstellen. Diese Wertschätzung ist aber nur insofern mit dem Applaus für ein bestimmtes Werk verbunden und kann diesem als Leistung zurechnet werden, wenn man auch angibt, welches Werk diese Effekte bewirkt hat. Doch um zu sagen, welches Werk für seinen sozialen Nutzen gepriesen werden soll, muss man eben in irgendeiner Weise auf dessen Werkgestalt (in einem maximal weiten Sinne verstanden) rekurrieren. Doch genau diesen Zug verstellt Simoniti. Wenn es egal ist (‚regardless‘), wie das Werk geleistet hat, was es geleistet haben soll, kann jedoch immer in Frage gestellt werden, ob die Leistung überhaupt mit dem fraglichen Werk zusammenhängt oder nicht vielmehr eine zufällige Koinzidenz darstellt, eine Fehlzuschreibung ist oder dergleichen. Wenn wir keinen Zusammenhang zwischen Werk und Wirkung herstellen (können) – von Wirkung, Effekt und dergleichen zu reden, ist dann sicher auch nicht mehr korrekt – scheint zuletzt auch die zentrale Prämisse in der Luft zu hängen, die Simonitis Überlegungen überhaupt erst motiviert: dass nämlich Kunstwerke als nützliche Mittel für gesellschaftlich wünschenswerte Zwecke geschätzt werden können. Denn Werke tauchen in seinen Überlegungen nicht mehr in identifizierbarer Gestalt auf. Drittens: Doch selbst wenn Simoniti seine These umformulierte, so dass er dem zweiten Einwand entkäme, hätte er noch das grundsätzlichere Problem, nicht recht verständlich zu machen, inwiefern der ‚artistic value‘ sozial engagierter Kunst tatsächlich ein künstlerischer Wert ist und nicht schlicht ein sozialer, politischer oder moralischer Wert. Wiederholt betont Simoniti aber genau das: dass es ihm mit Blick auf sozial engagierte Kunst bei allem Pragmatismus in Fragen der Evaluation doch um eine Neubestimmung des Begriffs des künstlerischen Wertes dieser Praktiken geht: „only this view [Simonitis eigene Position; CK] can explain

27Simoniti: Assessing

Socially Engaged Art, 2018, S. 80 [Hervorhebung CK]. könnte man Werke insofern weiterhin individuieren, als man sie über ihre nichtintrinsischen Eigenschaften aus der Vielzahl von Alternativen herausgreift (das Theaterstück, das zum Zeitpunkt t, am Ort x aufgeführt wurde, und für das man Tickets für den Preis von y lösen musste usf.). Damit kann man zwar eingrenzen, von welchem Werk die Rede ist, man hat aber nichts für die Frage gewonnen, inwiefern es zum Begriff dieses oder jenes Werkes gehört, bestimmte wünschenswerte gesellschaftliche Wirkung hervorzubringen.

28Natürlich

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their artistic value“.29 Doch warum, so könnte man fragen, beharrt jemand, der jede ‚as art restriction‘ in Fragen der Evaluation von Kunst aufgibt, überhaupt noch darauf, dass solche Evaluationen Evaluationen von Kunst sind? Hält Simoniti so nicht an entscheidender Stelle eine ‚as art restriction‘ im Spiel und begibt sich so in Widersprüche? Wäre es nicht konsequenter, zu sagen, dass es um die Frage der Bewertung des gesellschaftlichen Nutzens von kulturellen oder menschlichen Praktiken im Allgemeinen geht, ungeachtet ihr möglichen Unterscheidung als rechtliche, politische, therapeutische oder eben künstlerische Praktiken? Mein Verdacht ist, dass Simonitis Vorschlag, nimmt man ihn ernst, genau darauf hinausläuft. Und es ist nicht sicher, ob ihm das am Ende des Tages nicht vielleicht sogar sympathisch wäre – jedenfalls wenn man auf diese Weise dem Selbstverständnis bestimmter sozial engagierter Künstler/innen gerecht würde. Schließlich spiegelte sich so auf der Ebene der Theorie jene Entdifferenzierung zwischen künstlerischen und nicht-künstlerischen Praktiken, die, wie Simoniti ja selbst betont, ein herausstechendes Merkmal der fraglichen Praxis selbst ist. Nicht umsonst zieht sozial engagierte Kunst (in ihrer konsequentesten, alle Kunstabsicht und ästhetische Differenz negierenden Form) gemeinhin folgenden Vorwurf auf sich, wie Simoniti anführt: „[s]ocially engaged art […] no longer appear to be art in any meaningful sense. Instead, they have fully assimilated themselves into non-art fields of activity.“30 Und doch will Simoniti diesem Vorwurf entgegentreten. Entsprechend bemüht er sich, doch noch etwas zum Kunststatus ebenjener Praktiken zu sagen, deren Bewertung zugleich ohne Rekurs auf diesen Status erfolgen soll. Ich werde zeigen, dass sein entsprechender Vorschlag scheitert und der Vorwurf so weiterhin im Raum steht. Simoniti zeigt zunächst, dass die Ästhetizisten auch in Fragen der Bestimmung der Spezifik von Kunst keine große Hilfe sind. Da sie nicht nur den Wert von Kunst kunstintern fassen, sondern auch deren Spezifik unter Rekurs auf diesen Wert bestimmen – Kunstwerke sind Gegenstände, die z. B. eine besondere (ästhetische, belebende, harmonische etc.) Erfahrung ihrer selbst ermöglichen –, gerieten sie in Widerspruch mit künstlerischen Utilitaristen, die gerade auf kunstexterne Zwecke und Werte abheben. Zwar schließen künstlerische Utilitaristen aus der Realisierung eines solchen kunstexternen Zweckes oder Wertes nicht auf das Vorliegen eines Kunstwerkes – das wäre auch unsinnig, da kunstexterne Zwecke per definitionem auch von nicht-künstlerischen Gegenständen realisiert werden können – aber sie sprengen eben die enge begriffliche Verbindung, die Ästhetizisten zwischen den Begriffen der Spezifik und des Wertes von Kunst ziehen. Simoniti folgert daraus allerdings vorschnell: „We must therefore look to value-neutral definitions of art.“31 Dieser Schluss wäre aber nur zwingend, wenn der Ästhetizismus die einzige Option wäre, über einen Begriff des künst-

29Ebd., 30Ebd., 31Ebd.

S. 76. S. 77.

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lerischen Werts, die Spezifik von Kunst zu bestimmen (oder Kunst zu definieren). Das ist er aber vermutlich nicht. Eine andere Option hatte Simoniti ja bereits selbst angedeutet: den Pluralismus. Die Pluralisten scheinen immerhin mit Simoniti (und den künstlerischen Utilitaristen) darin einig zu sein, dass der Wert, der von gelungenen oder guten Kunstwerken realisiert wird, eben nicht kunstintern gefasst werden muss. Doch hier muss man genau sein: Die entscheidende Frage ist, ob die Pluralisten mit dem Rekurs auf einen nicht-kunstintern gedachten Begriff des künstlerischen Wertes auch eine kunstdefinitorische These verbinden, wie die Ästhetizisten, oder ob sie diesbezüglich in derselben Weise zweigleisig verfahren, wie Simoniti das vorschlagen wird, sprich: den Begriff des Werts von Kunst unabhängig vom Begriff der Spezifik von Kunst zu erläutern. Darüber erfahren wir in Simonitis Text nicht viel. Und ich werde an dieser Stelle auch nicht spekulieren, welche Positionen im Einzelnen Simoniti eine pluralistische Haltung zuschreiben würde und wie es sich bei diesen bezüglich des begrifflichen Zusammenhangs von Wert und Spezifik von Kunst verhält.32 Stattdessen zeige ich in aller Kürze, wie Simonitis Versuch, die kunstdefinitorische Frage für sozial engagierte Kunst unter Rekurs auf Jerrold Levinson losgelöst von Fragen der Evaluation zu lösen, misslingt. Simoniti stützt sich auf einen Vorschlag Kunst historisch zu definieren, wie er besonders wirkmächtig von Jerrold Levinson vertreten wurde.33 Levinsons Vorschlag lebt von einem Rekurs auf Künstler/innenabsichten einerseits und von der Idee einer traditionsbildenden oder standardsetzenden Kraft paradigmatischer Kunstwerke der Vergangenheit andererseits. Kurzum: Etwas ist ein Kunstwerk, wenn die Künstler/in die Absicht hat, dass ihr Werk „in some way“34 so betrachtet wird, wie die unumstrittenen Kunstwerke der Vergangenheit betrachtet wurden. Ungeachtet möglicher Einwände gegen einen Rekurs auf die Intentionen von Künstler/innen35 hat Levinsons Vorschlag für Simoniti zunächst scheinbar 32Simoniti

nennt beispielsweise Gaut, Berys: Art, Emotion and Ethics. Oxford 2007. Levinson, Jerrold: Defining Art Historically. In: British Journal of Aesthetics, 3/1979, S. 232–250; andere Spielarten finden sich bei Stecker, Robert: Historical Functionalism or the Four Factor Theory. In: British Journal of Aesthetics, 3(1994), S. 255–265, oder Carroll, Noël: Philosophy of Art, London 2009. 34Simoniti: Assessing Socially Engaged Art, 2018, S. 77. 35Nur so viel dazu: Es überrascht, wie unbekümmert Simoniti auf die Intentionen der Künstler/ innen oder ihrer, in Manifesten und Programmen umrissenen Absichten rekurriert. In gewisser Weise droht ihm eine Spielart des intentionalen Fehlschlusses, wie ihn Wimsatt und Beardsley kritisiert haben, vgl. Wimsatt, W. K./Beardsley, Monroe C.: The Intentional Fallacy. In: W. K. Wimsatt (Hg.): The Verbal Icon. Studies in the Meaning of Poetry, Lexington 1954, S. 3–20. Wimsatt und Beardsley kritisieren Versuche, den Erfolg und die Güte eines (literarischen) Werkes daran messen zu wollen, inwiefern dieses die Absichten seiner Autor/in realisiert, weil sie a) die Zugänglichkeit zu solchen Autor/innenintentionen in Frage stellen und b) für eine Interpretations- und Evaluationspraxis werben wollen, die Werke als wesentlich nicht in-sichgeschlossene, autonome, sondern als historisch etc. kontextualisierte oder eingebettete Gebilde versteht. In dem Maße aber, wie Simoniti die sozialen Wirkabsichten der Künstler/innen für bare Münze nimmt und nicht genauer ausführt, was genau es hieße, eine solche Wirkung zu erzielen, 33Vgl.

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den Vorteil, dass es spätere Kunstwerke nicht auf spezifische Ähnlichkeiten mit früheren Kunstwerken festlegt und er so den weitreichenden Entwicklungen in der Kunstgeschichte Rechnung tragen kann. Kontinuität und Innovation schließen einander nicht aus. Die Abweichung vom Vorhergehenden kann dabei sehr weit gehen. Denn, wenn ich es richtig verstehe, legen vergangene Werke den Möglichkeitsraum neuer Werke nicht fest; eher umgekehrt: die Vergangenheit, in die neuere Werke sich stellen, kann dadurch eben selbst eine Neudeutung erfahren.36 Etwas salopp formuliert: Herkunft wird gemacht. Man könnte also meinen, dass auf diese Weise sozial engagierte Kunstwerke, die gemäß Simonitis anfänglicher Charakterisierung nicht-künstlerischen Gegenständen und Praktiken ähnlicher zu sein scheinen, als ihren Vorgängern aus der Geschichte der Kunst, doch noch gut in die Kunst eingemeindet werden können. Ein/e Künstler/in könnte nämlich sein/ihr künstlerisch-soziales Engagement heute beispielsweise in loser Anlehnung an das avantgardistische Programm verstanden wissen wollen, wie es sich u. a. bei André Breton formuliert findet. Der wirbt bekanntermaßen in einem berühmten Pamphlet für das disruptive Potential von Dada und spricht in diesem Zuge von einer „immediate application“ poetischer Ideen, einer „intrusion of poetic order on moral order“.37 Nun betont Simoniti aber an diversen Stellen, dass sozial engagierten Künstler/innen gerade auf besonders radikale Weise mit jeglichen Traditionsbeständen der Kunst brechen.38 Die Radikalität des Bruchs besteht darin, dass a) „traditional artistic features may be

entsteht der Eindruck, dass es doch die Absichten der Künstler/innen allein sind, an denen die Werke gemessen werden. Damit hängt zusammen, dass sozial engagierte Kunst von Simoniti nicht genauer hinsichtlich ihrer Werkeigenschaften, der mit ihr verbundenen Rezeptionsweisen oder hinsichtlich der sich an diesen Werken entzündenden interpretativen und kritischen Praktiken untersucht. So erscheint das zweitgenannte Merkmal eigentümlich vage. Ein genauer Blick auf die genannten Werke und Praktiken lässt aber schnell fraglich werden, wie weit die behaupteten Ähnlichkeiten zwischen den künstlerischen und sonstigen Praktiken tatsächlich reichen und ob ein Blick auf die Verfahrensweisen, ergänzt um einen Blick auf die kunstkonstitutiven Rezeptions-, Interpretations-, und Evaluationsweisen nicht wichtige Differenzen zutage fördern könnte. 36Eine pointierte Zusammenfassung von Levinsons Überlegungen gibt Davies, Stephen: Definitions of Art. Ithaca/New York 1991; vgl. ebd., S. 170: „how artnow is to be regarded depends upon how artpast was correctly or standardly regarded. The connection between artnow and artpast does not depend (simply of (sic!) solely) upon similarities between two kinds of art, or upon their being the sole source of a kind of response (aesthetic experience). Rather, it depends, according to Levinson, upon the intention that they be regarded or approached in a certain manner.” 37Vgl. Breton, André: Artificial Hells. Inauguration of the »1921 Dada Season«, übers. von Matthew S. Witkovsky, October 105 (2003), S. 137–144. 38Tatsächlich behauptet er inkohärenterweise, dass sozial engagierte Kunst u. a. eine Tradition des Minimalismus und der Post-Studio-Art fortsetzt als auch radikal mit deren vornehmlich noch auf die ästhetischen Mittel bezogenen Innovationen bricht und diese überbietet.

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present, but they are used as an interchangeable means to an end“,39 was anders gesagt bedeutet, dass sie für die Realisierung des künstlerischen Werts unwesentlich sind, es könnten demnach auch andere (nicht-künstlerische) Mittel zum Einsatz kommen; und dass b) ebendieser Wert „should be evaluated by standards of other fields, such as politics, religion, ethics, and knowledge“.40 Insofern wird das Bild, das Simoniti von der Praxis und dem Wert sozialer engagierter Kunst zeichnet auf doppelte Weise doch wieder unspezifisch. Weder das künstlerische Material oder die künstlerischen Verfahrensweisen unterscheiden sich von ihren nicht-künstlerischen Pendants in irgendeiner signifikanten Weise, und der Wert, den diese Kunst realisiert soll dezidiert in Begriffen nicht-ästhetischer Werte erläutert werden. Ein von Künstler/innen intendierter Rückgriff auf die Kunstgeschichte greift dann aber als Erklärung nicht mehr, warum es sich hier dennoch weiterhin um Kunst handeln soll. Vielmehr liegt es auf der Hand, dass auch die Arbeitsvermittlung am Jobcenter, das Kriseninterventionsgespräch einer Sozialarbeiter/in oder parlamentarische Abstimmungen diese Merkmale sozial engagierter Kunst unproblematisch erfüllen können. Ihre Tätigkeiten einfach als Kunst auszugeben, könnte einer Arbeitsvermittler/in, einer Sozialarbeiter/in oder einer Abgeordneten tatsächlich in den Sinn kommen – die Aktionen der Gruppe Zentrum für Politischen Schönheit oder die der Yes Men stehen ja immer wieder (zuweilen auch zu Unrecht) im Verdacht, genau das zu tun. Damit wäre aber einem blanken Dezisionismus in Sachen Kunst Tür und Tor geöffnet,41 und zwar ohne, dass für die Frage der Spezifik von Kunst noch irgendetwas zu gewinnen wäre. Man könnte dann auch einfach durch die Frage, ob diese oder jene Praxis eine künstlerische Praxis sei, kürzen – an ihr hinge dann einfach nichts mehr. Ein informativer Unterschied zwischen künstlerischen Praktiken und künstlerischem Wert und sonstigen Praktiken und sonstigen Werten ließe sich infolge der behaupteten Radikalität des Bruchs nicht mehr angeben. So gesehen leistet Simonitis Rekurs auf Levinson nicht, was er leisten soll, nämlich die Spezifik von Kunst zu erläutern. Das ist im Grunde auch nicht überraschend. Denn Simoniti hat von Beginn sozial engagierte Kunst so beschrieben, dass Bemühungen um Differenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst nicht mehr greifen können. Und ich sehe nicht, dass Simoniti bereit wäre, von den zugrunde gelegten Charakteristika sozial engagierter Kunst wieder abzurücken, hängt doch der Witz seines Vorschlags daran, dass er auf eben eine solche Kunst zugeschnitten ist. Eine mögliche Konsequenz wäre dann, wie bereits gesagt, dass man einfach aufhörte, sozial engagierte Kunst oder die unter diesem Titel versammelten Praktiken noch als Kunst zu begreifen, und sie entsprechend der sozialen Arbeit etc. zuschlägt. Für manch eine gegebene Praxis, die zunächst unter der Flagge

39Simoniti: Assessing

Socially Engaged Art, 2018, S. 79. S. 75. 41In Bezug auf Levinson wird dieses Problem als „artify-problem“ diskutiert, vgl. Davies: Definitions of Art, 1991, S. 171 ff. 40Ebd.,

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„Kunst“ segelt, mag das tatsächlich die logische und vielleicht auch wünschenswerte Konsequenz sein – das muss man Fall für Fall entscheiden. Darin liegt auch keineswegs eine Degradierung solcher Tätigkeiten. Im Gegenteil, soziale Arbeit, um bei diesem Beispiel zu bleiben, ist eine in ihrem Beitrag für eine gelingende Gesellschaft viel zu gering geschätzte Profession. Aber in anderer Hinsicht würde die Preisgabe des Kunstanspruchs natürlich doch einen Verlust bedeuten: nämlich den Verlust eines spezifischen oder originären gesellschaftsrelevanten transformatorischen Potentials, das eben ausschließlich im Rahmen einer Praxis zustande kommt, die wir gemeinhin Kunst nennen; weshalb wir auch die starke Intuition haben,42 Kunst als eine eigentümliche Praxis zu begreifen, die besonderer Übung, Kenntnis, Pflege und besonderen Schutzes bedarf. So weit ist es sicher noch nicht. Noch wird genug Kunst gemacht, die sich nicht überengagiert und den Sinn fürs eigene Medium, fürs ureigene transformatorische Potential schon verloren hat. Doch greifen Vorstellungen eines unmittelbaren Nutzens von Kunst, befeuert u. a. von kulturpolitischen und entsprechenden Kunstförderprogrammen, eben auch mehr und mehr um sich. Solche Tendenzen haben die reale Möglichkeit, den Diskurs zu kapern und die Kunstpraxis und das Nachdenken über Kunst nachhaltig einzuschränken. Kunst unter Bedingungen der New-Labour-Kulturpolitik weiß ein Lied davon zu singen. Auch wenn ich an dieser Stelle wenig bis gar nichts darüber gesagt habe, wie man dieses Potential der Kunst positiv erläutern könnte, hält des Scheitern des pragmatischen Ansatzes mindestens folgenden Fingerzeig bereit: Wer den gesellschaftlichen Wert von Kunst bestimmen will, muss dies in einem Zug mit der Erläuterung der Spezifik von Kunst tun. Das schließt zum einen aus, dass der Wert der Kunst oder der Zweck der Kunst ein Selbstwert oder ein Selbstzweck ist, denn so werden die Verbindungen zum Gesellschaftlichen gekappt. Es ist aber damit auch impliziert, dass der Wert oder der Zweck der Kunst nicht mit den sonstigen sozialen, politischen oder anderen Werten und Zwecken zu identifizieren ist, denn sonst verlöre Kunst ihre Besonderheit, ihre Spezifik.43

42Schließlich

wird er nicht müde, zu betonen, dass sozial engagierte Kunst keine, „social projects or works of activism“ sind, vgl. noch einmal Simoniti: Assessing Socially Engaged Art, 2018, S. 77. 43Einen überzeugenden Vorschlag dazu, wie die Bestimmungen der Spezifik und des Wertes von Kunst von Grund auf begrifflich zu verbinden sind, macht Georg W. Bertram in ders.: Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik. Berlin 2014. Georg Bertram und den Teilnehmer/innen seines Berliner Forschungskolloquiums zur Gegenwartsästhetik verdanke ich hilfreiche Anregungen zur Weiterentwicklung meiner Überlegungen, ebenso Vid Simoniti, dem eine frühere Version dieses Textes vorlag.

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Literatur Beardsley, Monroe C.: In Defense of Aesthetic Value. In: Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association 52/6 (1979), S. 723–749. Bell, Clive: Art, Oxford 1987. Bertram, Georg: Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik. Berlin 2014. Bishop, Claire: Artificial Hells. Participatory Art and the Politics of Spectatorship. London u. a. 2012. Bohrer, Karl-Heinz: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a.M. 1981. Böhm, Alexandra: Heine und Byron. Poetik eingreifender Kunst am Beginn der Moderne. Berlin 2013. Breton, André: Artificial Hells. Inauguration of the » 1921 Dada Season«. Übers. von Matthew S. Witkovsky. In: October 105 (2003), S. 137–144. Carroll, Noël: Philosophy of Art. London 2009. Davies, Stephen: Definitions of Art. Ithaca/New York 1991. Emmerling, Leonhard: Kunst der Entzweiung. Zur Machtlosigkeit von Kunst. Wien 2017. Evers, Florian u. a. (Hg.): Applied Theatre. Rahmen und Positionen. Berlin 2017. Gaut, Berys: Art and Knowledge. In: Jerrold Levinson (Hg.): The Oxford Handbook of Aesthetics. Oxford 2005, S. 436–449. Iseminger, Gary: The Aesthetic Function of Art. Ithaca/New York 2004. Kwon, Miwon: One Place after Another. Site Specific Art and Locational Identity. Cambridge, Mass./London 2002. Levinson, Jerrold: Defining Art Historically. In: British Journal of Aesthetics 3/1979, S. 232–250. Matarasso, François: Use or Ornament? The Social Impact of Participation in the Arts. London 1997. Misselhorn, Catrin: Gibt es eine ästhetische Emotion? In: Stefan Deines/Jasper Liptow/Martin Seel (Hg.): Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse. Berlin 2013, S. 120–141. Rancière, Jacques: Die Paradoxa der politischen Kunst. In: Ders.: Der emanzipierte Zuschauer [zuerst: Le spectateur émancipé, 2008], Wien 2009, S. 63–99. Simoniti, Vid: Assessing Socially Engaged Art. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 76/1 (2018), S. 71–82. Siegmund, Judith: Zweck und Zweckfreiheit. Zum Funktionswandel der Künste im 21. Jahrhundert. Stuttgart 2019. Simoniti nennt beispielsweise Gaut, Berys: Art, Emotion and Ethics. Oxford 2007. Stecker, Robert: Historical Functionalism or the Four Factor Theory. In: British Journal of Aesthetics 3/1994, S. 255–265. Warstat, Matthias: Ästhetik der Anwendung: Thesen zur gegenwärtigen Relation von Theater und Alltag. In: Paragrana 26/2. Berlin 2017, S. 26–41. Warstat, Matthias u. a. (Hg.): Theater als Intervention. Politiken ästhetischer Praxis. Berlin 2015. Wimsatt, W. K./Beardsley, Monroe C.: The Intentional Fallacy. In: W. K. Wimsatt (Hg.): The Verbal Icon. Studies in the Meaning of Poetry. Lexington 1954, S. 3–20. Wolterstorff, Nicholas: Art Rethought. The Social Practices of Art. Oxford 2015.

Zwingende Systeme Die Funktion der Gegenwartskunst (vor und nach ihrem Ende) Tom Holert

1 Funktionsverlust gleich Autonomiegewinn? In kritischer Ablehnung über die Funktion der Kunst zu sprechen hat Tradition. Es ist dann zumeist von Abhängigkeiten und Instrumentalisierungen die Rede. Diese Rede gründet in der Überzeugung von der Notwendigkeit, die Freiheit der Kunst als Bedingung von Kunst schlechthin zu setzen. Wie viele andere, wenn nicht alle Überzeugungen enthält auch diese einen ideologischen Kern. So ließe sich sagen: Der Kunst ihre Freiheit zu nehmen, indem sie in den Dienst einer vermeintlich kunstfernen Sache gestellt wird, verstößt gegen die ästhetische Ideologie, in deren Zentrum, wie umstritten auch immer, der Begriff der Autonomie, der Zweckfreiheit der Kunst steht.1 Der Autonomiebegriff verhält sich komplementär zu einem offenen, seinerseits ideologisch zu nennenden Bekenntnis zu einem Funktionalismus der Kunst, mit dem seit dem frühen 20. Jahrhundert die Autonomiebehauptung zurückgewiesen werden sollte. Diejenigen, die sich emphatisch zur Funktionalität der Kunst bekannten, argumentierten, die Ideologie der Autonomie sei vor allem dem Ziel verpflichtet, eine falsche Funktionalität der Kunst zu verschleiern. Die Funktion der Kunst in den modernen, industrialisierten Gesellschaften des Westens sei genau genommen Symptom eines gravierenden Funktionsverlusts. Statt, wie 1Siehe

Freee Art Collective (Dave Beech, Andy Hewitt, Mel Jordan): Functions, Functionalism and Functionlessness: On the Social Function of Public Art. In: Malcolm Miles/Melanie Jordan (Hg.): Art and Theory After Socialism. Bristol 2008, S. 113–125; Siegmund, Judith: Zweck und Zweckfreiheit. Zum Funktionswandel der Künste im 21. Jahrhundert. Stuttgart 2019.

T. Holert (*)  Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Eusterschulte et al. (Hrsg.), Funktionen der Künste, Ästhetiken X.0 – Zeitgenössische Konturen ästhetischen Denkens, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04927-8_5

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in vergangenen Zeiten oder in fernen Weltgegenden, ein integraler Bestandteil sozialer und religiöser Vollzüge zu sein, sei Kunst in den kapitalistischen Gesellschaften Europas und Nordamerikas auf ihre Funktion als Ware eingeschränkt und zur Instanz der Legitimierung bürgerlich-liberaler Klassenstandpunkte und Machtinteressen reduziert.2 Der Funktionalismus als kulturelle Tendenz der Zwischenkriegsjahre trat an, diese verlorene soziale Eingebettetheit der Kunst in einer neuen Einheit der Künste – von Architektur, Design, Literatur, bildender Kunst, Musik, Theater, Tanz, Fotografie, Film etc. – unter den Bedingungen moderner Gesellschaften und deren politisch-ökonomischer und technologischer Ordnungen zu fassen.3 Dieses Projekt scheiterte nicht zuletzt, weil die beiden Weltkriege, der Kolonialismus, der nationalsozialistische Holocaust und der Stalinismus einer funktionalistischen Ästhetik, die progressiv-antikapitalistisch motiviert war, ihre Legitimationsgrundlage scheinbar entzogen. Einige Jahrzehnte weiter, um 1970, deuteten Buch- und Ausstellungstitel wie Funktionen bildender Kunst in unserer Gesellschaft, Funktionen der bildenden Kunst im Spätkapitalismus oder Funktionen und Wirkungsweisen der Kunst im Sozialismus darauf hin, wie sehr sich ein soziologischer Funktionsbegriff in den Köpfen breitgemacht hatte. Zudem konnte die kunsttheoretische Berufung auf „Funktion“ bald normativ, bald deskriptiv gemeint sein. Unstrittig war, dass die vorhandene Kunst vielfältige – soziale, politische, ökonomische, psychologische, ästhetische – Funktionen erfüllte. Aber sie konnte eben, je nach Blickwinkel, gewissermaßen besser oder schlechter funktionieren.

2 Kunstgeschichte als Funktionsgeschichte Nochmals etwas über ein Jahrzehnt später wagte das Fach Kunstgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland sogar, sich offiziell als „Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen“ zu positionieren. Für Werner Busch, im Jahr 1987 der Herausgeber eines Funkkollegs Kunst mit diesem Titel, „beinhaltet die Frage nach der Funktion sowohl die Frage nach der Wirkung des Gegenstandes und seiner Rezeption, als auch nach seinem Stellenwert im sozialen Umfeld“.4 Die Anerkennung der Funktionalität der Kunst wurde zur Voraussetzung historischer Forschung: „Immer wieder soll gefragt werden: wozu diente das Kunstwerk, wie wurde es benutzt, wem hat es wie genutzt, wer hat es warum so und nicht anders

2Siehe

Holert, Tom: Funktion. In: Anselm Franke/Tom Holert (Hg.): Neolithische Kindheit. Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930. Berlin/Zürich 2018, S. 125–126. 3Siehe Hirding, Heinz: Funktionalismus. In: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 2001, Bd. 2, S. 588–608. 4Siehe Busch, Werner: Kunst und Funktion – zur Einführung in die Fragestellung. In: Ders.: Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen. München/Zürich 1987, Bd. 1 (von 2), S. 11.

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gemacht, gebraucht oder verstanden. Warum diente es plötzlich neuen Zwecken? Wie änderte sich dadurch sein Aussehen, seine Struktur?“5 Für die Kunstgeschichte war damit tatsächlich ein Programm formuliert, das einen Ausweg aus dem lähmenden Antagonismus zwischen Formanalyse und Inhaltsanalyse zu bieten schien. Diese Weise zu fragen hatte etwas – für die einen angenehm, für die anderen unangenehm – Ernüchterndes, so wie es sich für den Funktionsbezug gehört. Interessanterweise aber war Buschs Ernüchterungsprogramm einer Funktionsgeschichte der Kunst gerade kein Versuch, die formästhetische Dimension von Kunstwerken aus dem Verkehr zu ziehen. Sie war vielmehr ein Angebot, dieser Dimension durch die Befragung der sich wandelnden Funktionen von Kunstwerken zu ihrem Recht und zu ihrer Erkennbarkeit zu verhelfen. Die Betonung allerdings lag dabei stets auf der Kategorie des Kunstwerks. Die Beschäftigung mit dem Kunstwerk sollte weiterhin als Kernkompetenz und -geschäft der Kunstgeschichte gelten, auch dann, wenn es in komplexe Zusammenhänge gestellt und seine formal-materielle Gestalt auf diese Zusammenhänge bezogen wurde. Zu dem Zeitpunkt, an dem die Funktionsgeschichte als Paradigma kunsthistorischer Forschung vorgeschlagen wurde, Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre, waren Künstler/innen und Kurator/innen an vielen Orten der globalen Gegenwartskunst gerade dabei, die Kategorie des Kunstwerks wieder einmal in Frage zu stellen. Die Institutionskritik trat in ihr zweites Stadium, Kontextkunst wurde als Schlagwort lanciert, die Dekolonisierung der Kunstgeschichte und ihrer Institutionen gefordert. Die Krise führte aber nicht zur Abschaffung. Weiterhin werden Künstler/innen ausgebildet und zeigen in Ausstellungen, Installationen, Interventionen und Texten die Ergebnisse ihrer Arbeit in und mit den Institutionen und Kontexten, so wie es bei den Angriffen gegen die Institution Kunst durch Marcel Duchamp zuvor immer noch einen Autor für jedes einzelne Readymade gegeben hatte. Aber die Tendenz, die individuelle Praxis in größere Zusammenhänge einzubetten oder in diese aufzulösen, war zunehmend schwerer mit dem Prinzip der individuellen Autor/innenschaft in Einklang zu bringen, selbst dann, wenn die Individuen sich zu Kollektiven zusammenfanden.

3 Die Funktion der Autor/innen-Funktion Oder vielleicht muss es anders formuliert werden. Denn sind die individuelle Autor/innenschaft und die sich mit ihr verbindenden Wertzuschreibungen nicht die eigentlichen Funktionen der Kunst? Wo auf Gewinne und Verluste des Wertes einer Verknüpfung von Objekt, Person und Bedeutung so intensiv spekuliert wird wie in der Kunst, zumal der bildenden Kunst der Gegenwart, ist die Aufrechterhaltung und Ausweitung der Autor/innen-Funktion notwendig. Aber diese ist

5Ebd.,

S. 25.

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andererseits nur so effektiv, wie das soziale System der Kunst es will. Nicht die konkrete Künstlerin, nicht der konkrete Künstler haben es in der Hand, die Autor/ innen-Funktion im eigenen Interesse zu kontrollieren. Vielmehr werden sie selbst durch die Instanz des Werks gesteuert, durch das Werk entsteht erst die Autorin, der Autor. Die „Autor-Funktion“ wurde von Michel Foucault 1969 in den Diskurs eingeführt, um das transindividuelle funktionelle Prinzip zu bestimmen, das eine „Diskursivität“ begründet. Sie hatte auch den Zweck, von der romantischen Idee des lebendigen Künstler/innen-Individuums abzulenken und womöglich endgültig Abschied zu nehmen: „[Die Autor-Funktion] verweist nicht schlicht und einfach auf ein reales Individuum, sie kann gleichzeitig mehreren Egos Raum geben, mehreren Subjekt-Positionen, die von verschiedenen Gruppen von Individuen eingenommen werden können.“6 Aber, wie Andreas Kablitz wohl zu Recht bemerkt: „Man wird den ‚empirischen Autor‘ durch Nichtbeachtung nicht los. Selbst in den Bemühungen um die Abwehr seiner überkommenen Ansprüche treibt er noch immer, gleichsam spukhaft, ein theoretisches Unwesen […].“7 Die funktionalistische Entfernung des Künstler/innen-Individuums zugunsten der besseren Theoretisierbarkeit des künstlerischen Textes bleibt also ein unvollendetes Projekt. Die Hartnäckigkeit, mit der es einerseits zum Verschwinden gebracht werden soll und andererseits zum Bleiben angehalten wird, lässt auf eine systemische Notwendigkeit schließen, die wiederum unter den Künsten ungleichmäßig verteilt ist. Literatur, Film, Musik, Theater, Tanz und bildende Kunst funktionieren ökonomisch und sozial nun einmal sehr unterschiedlich. Dazu kommen kulturell und historisch bedingte Differenzen, die selbst durch einen ansonsten hemmungslos den abendländischen Kunstbegriff durchsetzenden globalen Gegenwartskunstbetrieb nicht ohne weiteres nivelliert werden können. Die „Autor-Funktion“, betonte Foucault, „wirkt nicht einheitlich und auf dieselbe Weise auf alle Diskurse zu allen Zeiten und in allen Zivilisationsformen.“8 Es treffen inkompatible Kunstverständnisse aufeinander, so dass eine noch so kritische Theorie der Autor/innen-Funktion plötzlich unter bestimmten Bedingungen hoffnungslos provinziell erscheinen kann. Aber gerade weil der für die Gegenwartskunst auch im globalen Maßstab geltende Kunstbegriff weniger von der Kunsttheorie oder Ästhetik als maßgeblich von den Akteuren, Denkweisen und Gesetzmäßigkeiten der Finanzmärkte bestimmt wird, bleibt die Autor/innenFunktion weiterhin eine entscheidende Bedingung jeder mit Kunst zu erzielenden Wertschöpfung. Die Spekulation braucht den Namen dessen, auf was sie sich

6Foucault,

Michel: Was ist ein Autor? [Vortrag, 1969], übers. von Hermann Kocyba. In: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits, Bd. 1 (1954–1969), hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a.M. 2001, S. 1021. 7Kablitz, Andreas: Michel Foucaults Vortrag „Was ist ein Autor?“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.03.2019, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/hoch-schule/michel-foucaults-ueber­ legungen-was-ist-ein-autor-16060217.html (13.01.2020). 8Foucault: Was ist ein Autor? 2001, S. 1021.

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richtet. So scheinen nicht nur die empirische Autorin, der empirische Autor schwer zu beseitigen zu sein, auch die Autor/innen-Funktion erweist sich als resistent, weshalb an ihr anzusetzen wäre, um so etwas wie eine Refunktionalisierung der Kunst zu erreichen.

4 Die Autor/innen-Funktion als „zwingendes System“ Es besteht zum Beispiel die Möglichkeit, neue Verhältnisse zu etablieren, wenn die Künstlerin oder der Künstler ein Partizipationsangebot machen, in dem sie selbst neue Rollen und Funktionen einzugehen gefordert sind. Besonders aussichtsreich ist dies, läuft ein solches Angebot auf die „Anerkennung der Singularität der Teilnehmer/innen“ hinaus; und, wenn die Frage nach den Bedingungen „individuellen Ausdrucks“ mit der nach zeitgemäßen Formen von „Kollektivität“ in Beziehung gesetzt wird. In diese Richtung argumentiert die Kunsthistorikerin Estelle Zhong Mengual in L’art en commun, einer Studie über kollaborative Kunstpraktiken in Großbritannien aus dem Jahr 2018.9 L’art en commun argumentiert für einen differenzierten Begriff von Instrumentalität und Funktionalität der Kunst. Damit folgt das Buch der Performancetheoretikerin Shannon Jackson, die in Social Works. Performing Art, Supporting Public (2011) künstlerische Praktiken, die mit gesellschaftlichen Prozessen arbeiten, als in oft produktiver Weise angewiesen auf die Infrastrukturen des öffentlichen Lebens und der Zivilgesellschaft beschrieben hat. Statt partizipative Kunst oder community art als immer schon „instrumentalisiert“ und deshalb per se als nicht ausreichend oppositionell oder negativistisch zurückzuweisen, wozu etwa Jacques Rancière und Claire Bishop tendieren, plädiert Zhong Mengual für eine differenzierte Untersuchung solcher künstlerischer Strategien, die auf strukturelle Veränderungen von Subjektivität und Individualität und damit implizit auch jener der Autor/innen-Funktion reagieren. Zhong Mengual verweist auf die Folgen der „Mutationen des Individualismus“ für die Kunst: Ein universeller Begriff des Individuums (Grundlage der Demokratie als politischem Regime) werde abgelöst durch den Begriff des Individuums als Singularität (Grundlage einer Demokratie als Gesellschaftsform).10 Vor diesem Hintergrund sei etwa die Arbeit der 1997 in Devon von Gary Winters und Gregg Whelan gegründeten Performancegruppe Lone Twin zu lesen. Für ihr Projekt Speeches (2008) organisierten Winters und Whelan einen Parcours im Londoner Stadtteil Barbican, bei dem Redetexte, die von Anwohner/innen zuvor eingeschickt worden waren, von diesen nach vorheriger dramaturgischer Beratung und Redaktion öffentlich an Redepulten gehalten wurden. Für Zhong Mengual zeigt sich hier die Möglichkeit einer ethischen Reorientierung des Partizipations-

9Zhong Mengual, Estelle: L’art en commun. Réinventer les formes du collectif en contexte démocratique. Dijon 2018, S. 267–278. 10Siehe ebd., S. 267.

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prinzips. In Speeches genügte die individuelle Rede als solche, ohne auf einen staatlich geförderten Apparat kultureller Legitimation angewiesen zu sein. Der Rahmen, den Lone Twin bereitstellten, war ausschließlich auf Ermöglichung und bestmögliche Betreuung ausgerichtet, jede Bewertung der Beiträge anhand eines ästhetisch-kulturellen Kanons wurde vermieden. Dazu komme, dass der Künstler verschwinde, „und mit ihm, in erstaunlicher Weise: sein eigener Individualismus der Singularität; anders gesagt, erlaubt ihm der individuelle Ausdruck der anderen, der Teilnehmer/innen, sich nicht mehr mit seiner eigenen Tendenz, sich für singulär zu halten, arrangieren zu müssen; stattdessen erlebt er, dass sein Ratschlag (avis) es wert sein könnte, ausgedrückt, gehört und anerkannt zu werden.“11 Die Rekomposition der Elemente der ästhetischen Erfahrung in einem künstlerischen Prozess, wie Speeches ihn ausgelöst hat, vollzieht beispielhaft, was Zhong Mengual eine neuartige „Herstellung und Erfahrung von Formen des Politischen“ nennt.12 Britische Künstler wie Lone Twin, Marcus Coates und Jeremy Deller grenzten sich mit ihren Strategien und Methoden partizipativer Kunst von den offiziellen Modellen der community art ab, wie sie in Großbritannien seit den 1970er Jahren staatlich gefördert und in den 1990er Jahren durch die Kulturpolitik von New Labour zu einem neoliberalen „soft social engineering“ (Claire Bishop)13 weiterentwickelt wurden. In einer Gemeinschaft des Handelns von „singulären“, das heißt: durch keine gemeinsame Identität von vorneherein aufeinander bezogenen Personen werden allein die guten oder schlechten Konsequenzen dieses gemeinsamen Handelns beurteilt. Eine freiwillige, selbstbestimmte und im Moment auszuhandelnde und erfahrene Partizipation schafft Voraussetzungen für eine neuartige Konstellation von Funktionalitäten und Subjektpositionen als Erfahrung des Gedankens der Demokratie. Das Apriori des Funktionalen der Kunst wird dadurch nicht überwunden. Aber die Zurückweisung jeder Funktionalität der Kunst zugunsten einer Autonomie genannten Abstinenz von angeblich außerkünstlerischen Sach- und Zwecksphären erweist sich bereits angesichts einer Analyse, die zwischen sozial engagierter Kunst, community art und l’art en commun zu unterscheiden weiß, als zu kurz gegriffen – ebenso wie ein antagonistischer Gestus, mit dem die radikale Unvermittelbarkeit des Ästhetischen gegen die Vereinnahmung der Kunst zur Kompensation sozialpolitischer Verfehlungen gewendet wird. Je hochauflösender die Analyse funktionaler Bindungen und Bedingungen des Künstlerischen, desto größer auch die Wahrscheinlichkeit, solche Interdependenzen und Heteronomien in ihrer historischen, kulturellen und lokalen Spezifik als generative Matrix ästhetischer Produktion und Erfahrung zu erschließen. Bei einer solchen Neujustierung der Funktionalitätskritik können auch Foucaults Überlegungen zur Historizität der Autor/innen-Funktion behilflich

11Ebd.,

S. 269 (Übersetzung TH). S. 323 (Übersetzung TH). 13Bishop, Claire: Artificial Hells. Participatory Art and the Politics of Spectatorship. London/ New York 2012, S. 5. 12Ebd.,

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sein: „Genau in dem Augenblick, in dem unsere Gesellschaft sich in einem Veränderungsprozess befindet, wird die Autor-Funktion auf eine Weise verschwinden, die es der Fiktion und ihren polysemischen Texten möglich macht, erneut nach einem anderen Modus zu funktionieren, aber stets gemäß einem zwingenden System, das nicht mehr das des Autors sein wird, das vielmehr noch zu bestimmen und vielleicht experimentell zu erproben ist.“14 Foucault erschien 1969 also das Verschwinden der Autor/innen-Funktion denkbar, nicht aber die Abwesenheit eines „zwingenden Systems“, das die Funktionsweise ästhetischer Texte steuert. Jede gesellschaftliche Veränderung mündet demnach in einem solchen „System“. Auf dessen Form und Gestalt aber kann, wie die Formulierung nahelegt, eingewirkt werden. Die notwendige theoretische und künstlerische Arbeit wäre danach eine an der Funktionalität. So erweist sich die Autor/innen-Funktion als eine zwar zählebige, aber über größere Zeiträume doch zumindest ansatzweise modulierbare und rekomponierbare Funktion – etwa dort, wo Partizipation tatsächliche AktualKollektive von Singularitäten schafft, in denen Autor/innenschaft eingeklammert beziehungsweise geteilt wird. Die Autor/innen-Funktion zum Gegenstand künstlerischer Reflexion und Produktion zu machen, wäre eine Zugangsmöglichkeit zur Entwicklung einer zeitgenössischen, zeitgemäßen funktionalistischen Kunstpraxis.

5 Funktionalität und Skalierbarkeit der Kunst Funktionalität aber ist eine flexible Kategorie, flexibel vor allem, was ihre Maßstäblichkeit angeht. Eine ästhetische Theorie, die Produktion und Rezeption von Kunst in Bezug auf deren funktionale Reichweite und Integration beschreibt, kommt um die Thematisierung der Skalierung dieses Funktionalismus nicht herum. In der Auseinandersetzung mit der Theorie und künstlerischen Bearbeitung von Funktionen, Systemen, Institutionen oder Infrastrukturen konnten die bildende Kunst und die für sie konstitutiven Diskurse in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten manche Erfahrungen im Umgang mit Größe und Umfang der Bezugsgrößen sammeln: Institutionskritik, Kontextkunst, Infrastructural Critique, Artivism sind nur einige Marken für Versuche, die „zwingenden“ gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen, technologischen und ökologischen Bedingungsrahmen für Kunst, für Kunstbegriffe sowie für das Arbeiten und Leben im Kunstbetrieb auf die Agenda zu setzen. Dabei tendieren diese Bedingungsrahmen dazu, immer weiter und größer zu werden. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass der Funktionsbereich der Gegenwartskunst zunehmend als grenzenlos wahrgenommen und entsprechend behandelt wird. Kein akademischer Kanon regelt, was in der Praxis eines künstlerischen Individuums oder im durch Autor/innen-Funktion oder

14Foucault,

Was ist ein Autor? 2001, S. 1030.

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andere „zwingende“ Systemgrößen strukturierten Feld der Gegenwartskunst zum Gegenstand oder Anlass ästhetischer Bearbeitung (Forschung, Visualisierung, Inszenierung, Kritik …) werden kann. Stattdessen expandiert die Gegenwartskunst und erhöht gleichzeitig ihre potentielle und tatsächliche Funktionalität. Diese Offenheit dafür, sich in Dienst nehmen zu lassen, von der Sozialpolitik hinterlassene Lücken zu stopfen, universitäre Wissensproduktion zu erneuern, ansonsten vernachlässigte journalistische und forensische Aufklärung zu leisten, Schutzräume für marginalisierte Lebensentwürfe zu schaffen oder Umweltprojekte zu entwickeln, lässt das Spektrum der Funktionalitäten förmlich explodieren. „Artists Need to Create on the Same Scale That Society Has the Capacity to Destroy“ – diese Losung der Videokünstlerin Sherrie Rabinowitz aus den 1980er Jahren wurde in jüngerer Zeit zum Motto der Umwelt-Künstlerin Lauren Bon, die in Los Angeles das Metabolic Studio gegründet hat, eine Agentur für künstlerische Interventionen in urbane Ökologien, die „selbsterhaltende und selbstdiversifizierende Austauschsysteme“ (self-sustaining and self-diversifying systems) erforscht.15 Der Anspruch, im Maßstab der Zerstörungsmacht gegenwärtiger Gesellschaften zu operieren, ist natürlich eine gezielte Selbstüberforderung unabhängiger, selbstorganisierter Kunstinitiativen. Aber bereits Unternehmungen wie das Satellite Arts Project ’77, das Rabinowitz gemeinsam mit Kit Galloway zwischen 1975 und 1977 im Rahmen einer Reihe von Projekten unter dem Titel Aesthetic Research in Telecommunications in Angriff nahm, zeugte von einer bewussten Inkaufnahme der überwältigenden Dimensionen, in denen sich künstlerische Praxis angesichts globaler Kommunikationsverhältnisse eigentlich vollziehen sollte. Das erklärte Ziel war es, in einem „space with no geographical boundaries“ eine erdumspannende Live-Performance zu organisieren. Im Mittelpunkt des Satellite Art Project stand eine „ästhetische Forschung“ (aesthetic research) – mit den darstellenden Künsten als Modus der Untersuchung der technologischen Möglichkeiten und Grenzen „neue Kontexte, Umwelten und Maßstäbe für telekollaborative Künste zu schaffen und zu erweitern“.16 Die Technologie der Wahl für diese Erweiterung des Maßstabs künstlerischen Handelns und die Klärung der Frage im Medium „telekollaborativer Tänze“ war die satellitengestützte Kommunikation, das Live-Fernsehen. Etwas mehr als vier Jahrzehnte später knüpfen Lauren Bon und ihr Metabolic Studio an diese Ambition an, inzwischen unter dem Eindruck der Klimakrise und des Anthropozäns. Projekte wie Bending the River Back Into the City (2019), Mules Walking the Los Angeles Aqueduct (2013) oder Not a Cornfield (2005– 2006) greifen unmittelbar an den zerfließenden Kultur/Natur-Nahtstellen urbaner Umwelten ein, bringen die Stadt/Land-Unterscheidung ins Wanken, verweisen auf die enge Verflechtung von sozialen und biologischen Kreisläufen. In einer

15Siehe

https://laurenbon.art (13.01.2020). Telecollaborative Art Projects of Electronic Café International Founders Kit Galloway & Sherrie Rabinowitz. Overview of a Quarter Century of Pioneering Artistic Achievements, 1975– 2000, http://www.ecafe.com/getty/table.html (13.01.2020; Übersetzung TH).

16Siehe

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Selbstbeschreibung des Metabolic Studio heißt es: „Unsere auf große Zeiträume ausgerichteten performativen Aktionen bauen nicht-hierarchische Beziehungen innerhalb der künstlerischen Community und erzeugen Transformation, die wiederum etwas erbauen lässt. Ein Metabolismus besteht aus dem Anabolismus – dem, was aufbaut – und dem Katabolismus – dem, was abbaut. Das Metabolic Studio versucht, in Systeme zu intervenieren, die zum Erliegen gekommen sind und/oder die nicht länger imstande sind, Leben zu erhalten. So wollen wir schaffen und wiedererschaffen, was die Gesellschaft zerstören kann.“17 Was noch vor Kurzem als künstlerische Hybris unter Verdacht gestellt worden wäre, die Anmaßung, in Maßstäben und Dimensionen des Globalen, der Umwelt, des Klimas, des Anthropozäns und anderer Mega-Kategorien zu arbeiten, erscheint inzwischen als durchaus angemessene Antwort auf die Funktionalitätsdebatte in der Kunst. Einerseits hat die Gegenwartskunst als institutionelle, ökonomische und epistemologische Formation eine Bedeutung erreicht, die einen solchen Anspruch unter Umständen rechtfertigen würde – selbst dann, wenn nicht auf der Grundlage hochfinanzialisierter Strukturen wie des globalen Supergalerien-Netzwerks, sondern von den Rändern dieses Betriebs aus, wie bei Lauren Bon und dem Metabolic Studio, eine Legitimität zum Handeln innerhalb derart anspruchsvoller Größenordnungen beansprucht wird. Andererseits ließe sich argumentieren, dass die systemische Ästhetik, die ein künstlerisches Handeln in Mega-Kategorien vorsieht und argumentativ abstützt, einen weitreichenden Funktionalismus der Kunst immer schon vorsieht.

6 Systemästhetik Seit 1966 hat der Bildhauer und Kunsttheoretiker Jack Burnham in Vorträgen und Artikeln für einen Begriff der Systemästhetik (systems aesthetic) geworben, ausgehend von techno-ökologischen Feedbackanordnungen, wie sie in der Kybernetik und Systemtheorie der Nachkriegszeit verhandelt wurden. Für Burnham hatte die Kunst den immer großräumiger vernetzten Infrastrukturen der Spätmoderne immer weniger entgegenzusetzen: „[…] gleich zu Beginn unserer Welt von miteinander verbundenen Systemen bauen wir nichts weiter als eine Serie ungeschützter, äußerst anpassungsunfähiger Organismen. Einer feindlichen oder neutralen Umwelt ausgesetzt, sind diese chancenlos. Es gibt daher eine drängende Notwendigkeit [a pressing need] für eine neue Art von Systemen mit starken Selbstverteidigungstendenzen.“18 Auch in dieser Lesart, in etwa zeitgenössisch mit Foucaults Überlegungen zur „Autor-Funktion“, sind die Systeme „zwingend“.

17Bon,

Lauren: Artists Need to Create on the Same Scale That Society Has to Destroy (2017), https://www.metabolicstudio.org/actions (13.01.2020; Übersetzung TH). 18Burnham, Jack: Sculpture, Systems, and Catastrophe [1966]. In: Ders., Dissolve Into Comprehension. Writings and Interviews, 1964–2004, hg. von Melissa Ragain, Cambridge, Mass./London 2015, S. 88 (hier wie im Folgenden: Übersetzung TH).

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Sie drängen und bedrängen, sie erzeugen Handlungsbedarf in Form einer zunächst sich selbst verteidigenden Kunst. Burnham entwickelt den Ansatz einer systems aesthetic in der Folge weiter. Retrospektiv erweisen sich seine Überlegungen der späten 1960er Jahre als Anthropozän-Kritik avant la lettre. In einem Vortrag, den er im Juni 1968 für die Teilnehmer/innen und das Publikum des Festivals „Experiments in Art and Technology“ (E. A. T.) hielt, bemerkte Burnham: „Welche von Menschen gemachten Systeme müssen angesichts ihrer schädlichen Effekte aufgegeben oder verändert werden? Viele solcher Sorgen scheinen praktische, dabei irgendwie utopische Überlegungen zu sein; aber in Wirklichkeit handelt es sich ebenso um ästhetische Überlegungen von höchster Priorität.“19 Einige Wochen später erschien in Artforum sein programmatischer Artikel „Systems Aesthetics“. In ihm forderte er nicht nur eine „post-formalistische“, sondern vor allem eine post-naive Einstellung gegenüber dem Verhältnis zwischen einer Umwelt, die von „aggressiven elektronischen Medien und zwei Jahrhunderten des industriellen Vandalismus“ geprägt ist, und den traditionellen Erwartungen an die Kunst, dieser unheimlichen Umwelt „verschönernd“ zu begegnen. Burnham schlug vor, sich auf die Funktionalität einer „didaktischen Kunst“ in der Tradition Marcel Duchamps zu besinnen: Deren „spezifische Funktion“ habe darin bestanden zu demonstrieren, „dass Kunst nicht in materiellen Entitäten liegt, sondern in den Beziehungen zwischen Menschen sowie zwischen Menschen und den Komponenten ihrer Umwelt“.20 Für solche Systemkunst hatte Burnham neben Duchamp vor allem Künstler wie László Moholy-Nagy, Victor Vasarely, Ad Reinhardt, Robert Morris, Dan Flavin, Carl Andre, GRAV (Groupe de Recherches d’Art Visuel), Les Levine, Otto Piene, Hans Haacke und Allan Kaprow im Blick. Die Praxis, auf die er sich bezog, war also in verschiedener Hinsicht historisch geprägt und arg eingeschränkt, wofür auch diese rein männliche, weiße Riege aus dem globalen Norden spricht. Aber „das verzweifelte Bedürfnis nach einem Verständnis von Umwelt in einem größeren Maßstab als dem eines Zimmers“ (a desperate need for environmental sensibility on a larger than room scale), das Burnham etwa bei Robert Smithson erkannte,21 verweist auf sein prognostisches Gespür für die sich radikal wandelnden Dimensionen künstlerischer Praxis. Burnham sieht die Aufgabe des (hier: ausschließlich männlichen) Künstlers darin, den systemischen Charakter dieser Umwelt zu analysieren, deren ästhetische Struktur zu entschlüsseln, um so zukunftsweisende Handlungsfähigkeit zu gewinnen: „Indem der Künstler Systeme evaluiert, handelt er als Perspektivist, der Ziele, Grenzen, Struktur, Input, Output und andere relevante Aktivitäten innerhalb und außerhalb des Systems in Betracht zieht.“22

19Burnham,

Jack: „Systems and Art“: A Post-Formalist Design Aesthetic for the Evolving Technology [1968]. In: ebd., S. 102. 20Burnham, Jack: Systems Aesthetics [1968]. In: ebd., S. 117 [im Original kursiv]. 21Ebd., S. 121. 22Ebd., S. 118.

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7 Jenseits von Autonomie/Heteronomie Der technokratische Anstrich, den solche Überführung künstlerischer Praxis in systemanalytische Operationen zweifellos hatte und der letztlich dafür sorgte, dass Burnhams Texte schon wenige Jahre später zum kunsttheoretischen Alteisen geworfen wurden, täuscht aber nicht darüber hinweg, dass der Ansatz zu mehr nützlich sein könnte, als der bildenden Kunst im Einklang mit einem von Kybernetik beseelten und um 1970 auch bereits anhebenden postfordistischen Zeitgeist neue Aufgabenbereiche zu erschließen. Burnham gemahnte geradezu an eine ethische Verpflichtung, sich der Größe der Verantwortung zu stellen, die Künstler/innen ihrer sich verändernden Umwelt gegenüber tragen. Heute scheint es dagegen zumeist so, als müsste die überwältigende Maßstäblichkeit, dieser scale (der Klimakrise, der ökonomischen Ungleichheit, der Migrationsbewegungen etc.) durch die Konkretion der Fallstudie und der Feldforschung kleingerechnet werden – als könne nur die dokumentarische, recherchierende, ethnologische, soziologische oder wissenschaftstheoretische Einhegung der Größe der systemischen Herausforderung in Mikroterritorien und -thematiken einigermaßen gerecht werden. Jedenfalls stehen Lauren Bon und das Metabolic Studio mit dem Motto, nach dem Künstler/innen nichts Geringeres zu tun hätten, als im Maßstab der zivilisatorischen Zerstörung zu agieren, eher allein, obwohl alles dafür spräche, die übliche Skalierung auch kritischer, recherchebasierter, sozial engagierter künstlerischer Praxis drastisch zu verändern. Allerdings fragt sich, wohin sowohl ein derartiger real existierender Funktionalismus der Kunst im Maßstab der globalen Krisen als auch ein funktionalistisches kunsttheoretisches Credo letztlich führen. Auch wenn die Kritik an Instrumentalisierung und Funktionalisierung inzwischen kaum noch greift und rückwärtsgewandt wirkt, ist der grimmige Autonomieabbau ebenso problematisch oder doch zumindest theoretisch unbefriedigend. Aber statt die Dichotomie von Autonomie und Heteronomie aufzulösen, verbleibt auch eine noch so nuancierte Anwendung des Funktionsbegriffs, eine noch so reflektierte Aktivierung bestehender Infrastrukturen oder das mit oft überzeugenden Argumenten vorgetragene Modell einer arte útil in vorgestanzten Bezugssystemen. Wie die Künstlerin und Geografin Cecilie Sachs Olsen zu Recht betont, tragen noch so rigorose ethische Bedenken oder eine sorgfältig gehütete künstlerische Autonomie eher zur Erweiterung als zur Rekonfiguration bestehender Machtverhältnisse bei, solange eine sozial engagierte künstlerische Praxis in den hergebrachten Dualismen und Widersprüchen stecken bleibt.23 Zwar realisiert sich in der Wiederholung der Pendelbewegung zwischen Autonomie und Heteronomie immer auch ein performativer Überschuss, doch ist die

23Siehe

Sachs Olsen, Cecilie: Collaborative Challenges: Negotiating the Complicities of Socially Engaged Art within an Era of Neoliberal Urbanism. In: Environment and Planning D: Society and Space 36/2 (2017), S. 273–293, hier S. 291, und dies.: Socially Engaged Art and the Neoliberal City. Oxon/New York 2019.

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so entstehende Differenz oft auch nur die Garantie dafür, dass es noch eine Weile so weitergehen könnte. Bleibt also lediglich die Radikalisierung der Heteronomie durch die Abschaffung der Kunst als Institution, ihre vollständige Auflösung in der Funktionalität? So wird gelegentlich der Produktivismus, die konsequente Eingliederung der Künste in den gesellschaftlichen Produktionsprozess, als historisch mit der sowjetischen Revolutionskunst der 1920er Jahre begonnene, aber nicht dauerhaft eingelöste Wette auf den Anachronismus eines idealistischromantischen Kunstbegriffs wieder in die Debatte getragen;24 allerdings fällt es im Rahmen einer kapitalistischen Wirtschafts- und Sozialordnung schwer, den Ruf nach einem Produktivismus reloaded anders denn als Ruf nach einem reibungslosen Funktionieren im jeweils avanciertesten techno-politischen Regime zu interpretieren. Aber vielleicht ist die Frage (oder Sehnsucht) nach einem Jenseits von Autonomie und Heteronomie auch nur ein weiterer, obgleich nuancierter Ausdruck einer teleologischen Denkweise – jenes „tief verinnerlichten Drangs, zum nächsten Stadium der ‚Entwicklung‘, wie nebulös auch immer diese definiert sein mag, vorzustoßen“.25 Das System der Gegenwartskunst selbst, als Maßstab, scale von spezieller Wirkmächtigkeit und Systemrelevanz, steht hier zumindest implizit, immer häufiger aber auch explizit zur Debatte. Und zu prüfen wäre, ob der bewusst herbeigeführte Totalausfall dieses Systems – selbst dann, wenn es sich bei diesem Blackout am Ende eher um das Ergebnis einer „nebulösen“ Tradition westlich-kolonialer Entwicklungsepistemologie und weniger um die Folgen einer ungehorsamen Epistemologie des Südens handeln sollte – nicht auch deshalb zu verkraften wäre, weil sich so, nämlich von ihrem Ende her, die Kunst im Allgemeinen wie im Besonderen in ihren vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Funktionalitäten neu und anders konzeptualisieren ließe. Statt über den ontologischen Status der Kunst und dessen Veränderung zu spekulieren, wäre diese Neubegründung der Kunst nach ihrem Ende, diese Reskalierung ihrer Funktionen historisch und materialistisch zu denken und zu praktizieren. Nur in der Durchdringung, Rekomposition und Überwindung der „zwingenden“ ökonomischen, technologischen, politischen und diskursiven Systeme wird eine „environmental sensibility on a larger than room scale“ wahrscheinlich, und so auch eine Funktionalität, in die eine völlig unerwartete Beziehung von Autonomie und Heteronomie von Anfang an eingearbeitet ist.

24Siehe

Holert, Tom: Knowledge Beside Itself. Contemporary Art’s Epistemic Politics. Berlin/ Cambridge, Mass./London 2020. 25Mishra, Pankaj: Age of Anger. A History of the Present. London 2017, S. 205 (Übersetzung TH).

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Literatur Bishop, Claire: Artificial Hells. Participatory Art and the Politics of Spectatorship. London/New York 2012. Bon, Lauren: Artists Need to Create on the Same Scale That Society Has to Destroy (2017), https://www.metabolicstudio.org/actions (13.01.2020). Burnham, Jack: Sculpture, Systems, and Catastrophe [1966]. In: Ders.: Dissolve Into Comprehension. Writings and Interviews, 1964–2004, hg. von Melissa Ragain, Cambridge, Mass./London 2015, S. 81–88. Burnham, Jack: Systems Aesthetics [1968]. In: Ders.: Dissolve Into Comprehension. Writings and Interviews, 1964–2004, hg. v. Melissa Ragain, Cambridge, Mass./London 2015, S. 115–125. Burnham, Jack: „Systems and Art“: A Post-Formalist Design Aesthetic for the Evolving Technology [1968]. In: Ders.: Dissolve Into Comprehension. Writings and Interviews, 1964–2004, hg. v. Melissa Ragain, Cambridge, Mass./London 2015, S. 99–108. Busch, Werner: Kunst und Funktion – zur Einführung in die Fragestellung. In: Ders.: Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen. München/Zürich 1987, Bd. 1 (von 2), S. 5–26. Foucault, Michel: Was ist ein Autor? [Vortrag, 1969], übers. von Hermann Kocyba. In: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits, Bd. 1 (1954–1969), hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a.M. 2001, S. 1003– 1041. Freee Art Collective (Dave Beech, Andy Hewitt, Mel Jordan): Functions, Functionalism and Functionlessness: On the Social Function of Public Art. In: Malcolm Miles/Melanie Jordan (Hg.): Art and Theory After Socialism. Bristol 2008, S. 113–125. Hirding, Heinz: Funktionalismus. In: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 2001, Bd. 2, S. 588–608. Holert, Tom: Funktion. In: Anselm Franke/Tom Holert (Hg.): Neolithische Kindheit. Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930. Berlin/Zürich 2018, S. 125–126. Holert, Tom: Knowledge Beside Itself. Contemporary Art’s Epistemic Politics. Berlin/Cambridge, Mass./London 2020. Kablitz, Andreas: Michel Foucaults Vortrag „Was ist ein Autor?“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.03.2019, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/hoch-schule/michel-foucaultsueberlegungen-was-ist-ein-autor-16060217.html (13.01.2020). Mishra, Pankaj: Age of Anger. A History of the Present. London 2017. Sachs Olsen, Cecilie: Collaborative Challenges: Negotiating the Complicities of Socially Engaged Art within an Era of Neoliberal Urbanism. In: Environment and Planning D: Society and Space 36/2 (2017), S. 273–293. Sachs Olsen, Cecilie: Socially Engaged Art and the Neoliberal City. Oxon/New York 2019. Siegmund, Judith: Zweck und Zweckfreiheit. Zum Funktionswandel der Künste im 21. Jahrhundert. Stuttgart 2019. Zhong Mengual, Estelle: L’art en commun. Réinventer les formes du collectif en contexte démocratique. Dijon 2018.

Politische Dynamiken des Gegenwartstheaters Funktionen einer Selbstmobilisierung Matthias Warstat

Die Frage danach, was politisches Theater ist bzw. was das Politische am Theater ist, wird in den letzten Jahren wieder mit gesteigerter Dringlichkeit gestellt.1 Das deutschsprachige Theater hat im 20. Jahrhundert Perioden einer vehementen Politisierung erlebt, so etwa in der Spätphase der Weimarer Republik oder in den Jahren um 1968. Jedoch lässt sich schnell Einigkeit darüber herstellen, dass ein politisches Theater heute unter ganz anderen sozialen, kulturellen und medialen Bedingungen operieren muss als damals. Eine besonders wichtige Differenz ergibt sich aus der Entwicklung potenter medialer Dispositive, die einer politischen Mobilisierung andere und auf den ersten Blick wirksamere Instrumentarien zur Verfügung stellen können als das Theater. Wenn jemand heute politische Forderungen verbreiten, Anhängerschaften mobilisieren oder öffentliche Konflikte anzetteln möchte, eignen sich die internetbasierten sozialen Medien dafür vermutlich mehr als Theateraufführungen mit ihren begrenzten Öffentlichkeiten und ihrer grundsätzlichen Bindung an ein lokales Hier und Jetzt. Wer eine politische Kampagne zu organisieren hat, versichert sich der Aufmerksamkeit von Instagram, Twitter und Co. und denkt sicher nicht zuerst an die performativen Künste. Unter solchen Umständen muss das Theater seinen politischen Standort neu bedenken:

1Vgl. etwa Gilcher-Holtey, Ingrid/Kraus, Dorothea/Schößler, Franziska (Hg.): Politisches Theater nach 1968. Regie, Dramatik und Organisation. Frankfurt a.M./New York 2006; Marschall, Brigitte: Politisches Theater nach 1950. Köln/Weimar/Wien 2010; Deck, Jan/Sieburg, Angelika (Hg.): Politisch Theater machen. Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten. Bielefeld 2011; Lehmann, Hans-Thies: Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten. Berlin 2012.

M. Warstat (*)  Institut für Theaterwissenschaft, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Eusterschulte et al. (Hrsg.), Funktionen der Künste, Ästhetiken X.0 – Zeitgenössische Konturen ästhetischen Denkens, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04927-8_6

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Kann Theaterarbeit in der Gegenwart noch sinnvoll mit politischem Engagement verbunden werden? Welche politischen Funktionen erfüllt das Theater heute? Gäbe es Möglichkeiten, diese Funktionen wieder zu beleben und auszubauen? Vielen Theatermacher/innen scheint Letzteres ein Bedürfnis, denn es ist in der Szene nicht unbemerkt geblieben, dass die politischen Konflikte der Gegenwart (um Themen wie Globalisierung, Klimawandel, Migration und soziale Ungleichheit) gerade in der jüngeren Generation wieder ein verstärktes Interesse an gesellschaftlichem Engagement und öffentlicher Debatte hervorgebracht haben. Als Ausgangspunkt meiner Überlegungen sollen zwei Thesen aus Hans-Thies Lehmanns vielbeachtetem Essay „Wie politisch ist postdramatisches Theater?“ aus dem Jahr 2002 dienen. Die erste dieser beiden Thesen bezieht sich auf das Verhältnis von Theater und Politik bzw. von künstlerischer Praxis und politischer Praxis. Lehmann empfiehlt, diese Bereiche zunächst als voneinander unterscheidbar zu betrachten: Auszugehen ist von der einfachen Feststellung, dass Theater und Kunst zunächst nicht Politik sind, sondern etwas anderes. Genau darum stellt sich ja überhaupt die Frage nach einem möglichen Zusammenhang des Politischen mit seiner ästhetischen Praxis.2

Weil das Theater genauso wenig wie andere Künste per se politisch ist, muss es sich immer wieder fragen, wie es politisch werden kann. Das gilt auch heute. Theater kann in einer durch und durch mediatisierten Gesellschaft nicht mehr darauf setzen, das erstrangige und gleichsam ‚natürliche‘ Forum bürgerlicher Öffentlichkeit im Zentrum der Stadt zu sein. Es kann sich aber auch nicht auf die Behauptung zurückziehen, mit jeder einzelnen Aufführung eine eigene, theaterspezifische Öffentlichkeit – als Begegnung von Akteuren und Publikum – herzustellen, die sogleich und wie von selbst politische Bedeutung gewinnt. Vielleicht muss das Theater das Zentrum der Stadt erst verlassen, um politische Bedeutung gewinnen zu können. Dies behauptet Lehmann in einer zweiten These, der ich in meiner Argumentation nachgehen möchte: Geht es nicht darum, dass Theater sich selbst verändert, indem es das Politische aufnimmt? Oder besser: sich ‚ver-rändert‘? – um eine Bemerkung von Res Bosshart aufzunehmen, dass wir mehr über die Bewegung ‚zu den Rändern hin‘ als über die ‚von den Rändern her‘ sprechen sollten.3

Demnach müsste das Theater seinen angestammten topografischen, institutionellen und gesellschaftlichen Platz aufgeben, um die politischen Konflikte und Bewegungen adressieren zu können, die sich eben gerade an den Rändern der Gesellschaft abspielen. Das Theater müsste sich vom Zentrum an die Peripherie begeben. In den nachfolgenden Abschnitten möchte ich zeigen,

2Lehmann,

Hans-Thies: Wie politisch ist postdramatisches Theater? In: Ders.: Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten. Berlin 2002, S. 11–21, hier S. 16. 3Ebd., S. 14.

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dass eine solche Selbstmobilisierung, die sich auf die Ränder hin richtet, im Gegenwartstheater tatsächlich zu beobachten ist, und zwar oftmals ganz konkret in Gestalt sich bewegender, mobiler oder sich nach außen öffnender Theaterräume.4 Welche politischen Implikationen hat eine solche Bewegung, und welche Konflikte sind an den sogenannten ‚Rändern‘ anzutreffen? Bevor diese Bewegung nachgezeichnet wird, gilt es in Erinnerung zu rufen, dass mobile Theaterräume in Mitteleuropa bis ins 18. Jahrhundert der Normalfall waren. Auch im deutschsprachigen Raum basiert das moderne dramatische Theater auf der ambulanten Theaterpraxis der sogenannten Wandertruppen, die in Spätmittelalter und Früher Neuzeit mit ihren beachtlichen Reisewegen und ihrem flexiblen, improvisatorisch dargebotenen Repertoire das Bühnenleben dominierten. Wandertruppen wie die berühmten Unternehmen von Prinzipalen und Prinzipalinnen wie Schönemann, Schikaneder, Seyler, Velten oder Neuber spielten an Höfen, in Rathaussälen oder Gasthäusern, häufig aber auch in den viel beschworenen ‚Bretterbuden‘, die sie auf Marktplätzen oder Festwiesen in Städten und an den großen Handelsrouten aufschlugen. Bis ins 18. Jahrhundert besaßen die Schauspielerinnen und Schauspieler dieser Truppen zumeist kein Bürgerrecht in einer einzelnen Stadt, sondern zählten zum fahrenden Volk, zu den unterbürgerlichen und unterbäuerlichen Schichten, die ohne festes Hab und Gut, aber eben auch ohne verbriefte Rechte und Sicherheiten reisen und wirtschaften mussten. Die Theaterhistoriografie hat die Lebens- und Arbeitsweise der Wandertruppen insbesondere des 16. bis 18. Jahrhunderts in den letzten Dekaden gründlich erforscht.5 Dieses mobile, ambulante Theater ging den festen Theaterinstitutionen mit ihren repräsentativen Bauten im Zentrum der Städte voraus, ohne später im Zuge der Institutionalisierung und Literarisierung (seit etwa 1750) ganz zu verschwinden. Die mobilen Bühnen kamen ohne komplizierte Aufbauten und Dekorationen aus. Die fiktiven Welten, die dieses vormoderne Theater erschuf, wurden zu erheblichen Teilen sprachlich und gestisch von den menschlichen Akteuren evoziert. Die Schauspieler/innen, die mit Strukturfiguren wie Harlekin, Hanswurst oder Pickelhering komplexe, mehrschichtige Repräsentationen entstehen ließen, dabei mühelos zwischen Ebenen, Rollen und gegensätzlichen Polen changieren konnten, beanspruchten die Bühne fast vollständig für sich.6 Ich erwähne dieses frühneuzeitliche Berufstheater deshalb, weil sich die Frage stellt, inwieweit man die gegenwärtige Tendenz zu einer Mobilisierung von

4Siehe zu diesen offenen Raumstrukturen im Gegenwartstheater auch: Wiens, Birgit: Intermediale Szenographien. Raum-Ästhetiken am Beginn des 21. Jahrhunderts. München 2014, bes. S. 191–270. 5Siehe besonders Baumbach, Gerda: Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs, Bd. 2: Historien. Leipzig 2018. Vgl. auch dies. (Hg.): Theaterkunst und Heilkunst. Studien zu Theater und Anthropologie. Köln/Weimar/Wien 2002; Kotte, Andreas: Hanswurst und Wandertheater. In: Ders.: Theatergeschichte. Köln/Weimar/Wien 2013, S. 281–290. 6Siehe dazu neben Baumbach 2018 auch, am Beispiel des Schauspielers Joseph Felix von Kurz, Kreuder, Friedemann: Spielräume der Identität in Theaterformen des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2010, bes. S. 23–38.

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Theaterräumen, die gleich an Beispielen skizziert werden soll, auch als eine Art Wiederkehr vormoderner Theaterideale interpretieren kann. Die großen Theaterinstitutionen, die Stadt- und Staatstheater im Zentrum der Städte, die als Hoftheater und Nationaltheater mit festen Ensembles im 18. Jahrhundert entstanden sind, geben ihre stabile, zentrale Position auf und machen sich wieder auf den Weg in die urbane Peripherie und in die Fläche. An die Stelle der traditionsreichen, aber eben auch statischen Theatergebäude mit täglichem Programm und fest angestellten Ensembles treten unter anderem die Festivals, kulturelle Marktplätze des 21. Jahrhunderts, wo frei flottierende, immer auf Tour befindliche Gruppen ihre neuesten Kreationen vorstellen. Es gibt in der Theater-Strukturdebatte der Gegenwart tatsächlich Tendenzen, die säkularen Reformbewegungen des 18. Jahrhunderts – Institutionalisierung, Literarisierung und Professionalisierung – rückgängig machen zu wollen: freie Gruppen statt feste Theater, Performancetheater statt Literaturtheater, Arbeit mit Laien und sogenannten ‚Experten des Alltags‘ statt mit professionell ausgebildeten Schauspielern.7 Wenn heute eine Mobilisierung von Theaterräumen beschrieben werden kann, dann scheint es geboten, diese Entwicklung nicht einfach als eine Fortschrittsgeschichte, als einen Aufbruch zu immer neuen technischen, architektonischen und ästhetischen Möglichkeiten aufzufassen. Es könnte sich auch, quasi in umgekehrter historischer Richtung, um eine Wiederbelebung älterer Schauanordnungen und Raumtaktiken des Theaters handeln.

1 Soziale Selbstmobilisierung Hans-Thies Lehmanns Postulat der ‚Ver-ränderung‘ war und ist eine wichtige Facette der anhaltenden Debatte um die Zukunft des Stadttheaters.8 Dahinter steht die Idee, dass das Theater wichtige Themen und ganze Bevölkerungsgruppen weiterhin ausgrenzen wird, wenn es ihm nicht gelingt, seinen angestammten Ort im Zentrum der Stadt und hinter den Schutzmauern einer alten Institution zu verlassen, um sich zu den sozialen Brennpunkten und gesellschaftlichen Randzonen auch ganz buchstäblich – örtlich, physisch, räumlich – hinzubewegen. Einem solchen Konzept folgt die Inszenierung Cargo Sofia von Rimini Protokoll, die 2006 erstmalig am Theater Basel zu sehen war, seither aber auch in vielen anderen Städten im deutschsprachigen Raum gezeigt wurde. Sogenannte Audio-Walks, bei denen sich die Zuschauer/innen selbst mit Kopfhörern auf einer gelenkten Tour durch den Stadtraum bewegen müssen, sind zu einem festen Genre

7Zu

diesem Akteurstyp des Gegenwartstheaters: Malzacher, Florian/Dreysse, Miriam (Hg.): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll. Berlin 2007; Roselt, Jens: Bürger als Experten auf der Bühne. De-/Professionalisierungen im zeitgenössischen Theater. In: Ders./ Stefan Krankenhagen (Hg.): De-/Professionalisierung in den Künsten und Medien. Formen, Figuren und Verfahren einer Kultur des Selbermachens. Berlin 2018, S. 91–106. 8Siehe Anmerkung 3.

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dokumentarischen Theaters geworden. Bei Cargo Sofia sind die Zuschauer/innen aber nicht individuell unterwegs, sondern sitzen gemeinsam auf einer Theatertribüne in einem LKW, mit dem sie durch Industriegebiete und städtische Randzonen gefahren werden. Eine Seitenfront des Laderaumes des LKWs ist durch eine Glaswand ersetzt, so dass das Publikum, wann immer eine blickdichte Jalousie vor der Glaswand aufgezogen wird, nach draußen in den Stadtraum schauen kann. Ist die Jalousie hingegen geschlossen, blicken die ca. 50 Zuschauer/ innen im Laderaum des Lkws auf eine Leinwand, auf die Fahrtszenen von Sofia bis Belgrad sowie Live-Schaltungen aus der Fahrerkabine projiziert werden. Cargo Sofia ist ein Dokumentartheater-Stück, das vom Leben der Fernfahrer erzählt, die tagtäglich auf langen Touren Europa durchqueren und sich dabei vor allem auf Industriegeländen, in Gewerbegebieten, an Raststätten und Imbissbuden und immer wieder in den riesigen Warteschlangen vor den Grenzübergängen der Europäischen Union bewegen. Die Inszenierung evoziert die Illusion einer weiten Reise, wenngleich der Lastwagen mit den Zuschauer/innen tatsächlich nur einige Orte in den Randzonen der jeweiligen Stadt anfährt, wo es zu Konfrontationen des Publikums mit sogenannten ‚Experten des Alltags‘ kommt. Berufstätige, die mehr oder weniger mit dem Transportgewerbe zu tun haben, erzählen von ihrer Arbeit: Spediteure, Logistiker, Kranfahrer und Grossisten. Dazu gehören auch die zwei angeblich bulgarischen Busfahrer Ventzislav und Svetoslav, die als Erzähler und Hauptdarsteller fungieren. In Rezensionen werden sehr verschiedene Bezeichnungen für diese mobile Theateraufführung gefunden: ‚alternative Stadtrundfahrt‘, ‚soziale Plastik‘, ‚rollende Roadshow‘. Ein Rezensent der Kölner Aufführung aus dem Januar 2008 schreibt: Am Ende der Fahrt wissen wir, wie man Zöllner mit Zigaretten abfertigt und wie viel Liter Diesel man im Iran für einen eingeschmuggelten ‚Playboy‘ erhält. Wir haben Industriehäfen und Gewerbeabfallsortierungsanlagen gesehen, Bagger mit Überdruckkabinen auf dampfenden Müllbergen, erleuchtete Container, die zu Zweipersonenwohnungen umfunktioniert wurden. Wir sind von der Autobahnpolizei aus dem Verkehr gezogen worden, haben uns auf verborgenen Wegen durch die Heimatstadt bewegt, die uns auf einmal schrecklich, verzaubert und unvertraut erscheint. In der Mitte des Kreisverkehrs auf der Neusser Landstraße steht eine Sängerin am Mikrofon, ihr Gesang ist, lange bevor wir sie entdecken, in unseren Lkw übertragen worden, eine wehmütige Geisterstimme in der nächtlichen Umschlagzone, am Rande der bekannten Welt.9

Deutlich wird, wie die Bewegung an andere städtische Orte, in scheinbar reale Umgebungen außerhalb des Theaters, die freilich für das Publikum sorgsam inszenatorisch hergerichtet werden, einen exklusiven Zugang zu sonst wenig einsehbaren Bereichen der sozialen Wirklichkeit verheißt. In Genre-Begriffe gefasst könnte man sagen, dass das Theater sich durch eine solche mobile Anordnung mehr oder minder dem Format der Site-Specific Performance

9Bos,

Christian: Drei Tonnen Bildungsbürgertum. In: Kölner Stadt-Anzeiger, 16.01.2008.

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annähert.10 In welchem Verhältnis hier der Anspruch des Dokumentarischen und Realistischen zu den illusionistischen Inszenierungspraktiken rund um den (sich letztlich im Kreis bewegenden) Lkw steht, ist anhand von Cargo Sofia immer wieder kontrovers diskutiert worden. Die Art der Öffentlichkeit, die ein Theater wie Rimini Protokoll erzeugen kann, unterscheidet sich von den vertrauten Öffentlichkeiten des Stadt- und Staatstheaters nicht wesentlich, und doch ist es keine unbedeutende Geste, wenn Zuschauer/innen die gewohnte Umgebung des institutionalisierten Theaters verlassen und sich auf Begegnungen einlassen, die sich von der geübten Konfrontation mit Schauspieler/innen – und zugleich auch von der Alltagskommunikation – signifikant abheben. Eine gewisse innere Mobilisierung ist damit wohl für jede Zuschauerin und jeden Zuschauer verbunden, wenngleich diese nicht eins zu eins mit sozialer Praxis verrechnet werden kann.

2 Mediale Selbstmobilisierung Schaut man auf die Verfahren, mit denen Theaterräume in den letzten Jahrzehnten mobilisiert, d. h. in Bewegung versetzt werden konnten, dann kommen auch Film und Video als Medien des Theaters in den Blick. In ihrem Buch Die Wiederkehr der Illusion von 2016 hat Gertrud Koch diese an audiovisuelle Medien gebundene Form einer Delokalisierung des Theaters präzise beschrieben. Koch unterscheidet eine Vielzahl von Verschränkungen filmischer Räume mit Theaterräumen. Recht klassisch versteht sie Theater als ein „Spiel im Vollzug der Realzeit“ und den Theaterraum als einen Fall von „Realpräsenz“. Der so beschaffene Raum könne nun durch die vom Film „apparativ erzeugte Illusion“ erweitert und transformiert werden.11 Als Beispiel für eine massive Transformation des Theaterraums durch Film führt sie Christoph Schlingensiefs letzte Inszenierung Jeanne d’Arc – Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna an der Deutschen Oper Berlin aus dem Jahr 2008 an. Die Inszenierung dieser modernen, von Walter Braunfels komponierten Oper war geprägt von einem riesigen, nahezu die gesamte Breite und Höhe der Bühne einnehmenden Filmbild. Teils auf transparente Stoffbahnen, teils auf die Körper der Sänger/innen projizierte Schlingensief Ausschnitte aus einem in Indien gedrehten Dokumentarfilm über Feuerbestattung. Koch beschreibt, wie der Film die Aufmerksamkeit des Publikums ganz auf sich zieht, zumal die Blicke der Gefilmten direkt ins Publikum gehen: Die Großaufnahmen der Gesichter, die zum Teil frontal in die Kamera schauen, erweitern auf fast gespenstische Weise Bühne- und Zuschauerraum ins Heterotopische. Ich bin in

10Zu

dieser Form: Kaye, Nick: Site-Specific Art: Performance, Place and Documentation. London/New York 2008; Pearson, Mike: Site-Specific Performance. Basingstoke 2010. 11Siehe Koch, Gertrud: Die Wiederkehr der Illusion. Der Film und die Kunst der Gegenwart. Frankfurt a.M. 2016, S. 230 f.

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der Oper, ich nehme Teil an einem Bühnengeschehen und schaue direkt in eine Welt, die außerhalb liegt, die ich als die eines Dokumentarfilms über indische Feuerbestattungen erkenne und die doch gerade weil sie im Fiktionsgeschehen der Bühne real wirkt, gespenstisch wird. Es ist ein anderes Blickregime, nicht der auf die vierte Wand gerichtete Blick des Schauspielers, der dadurch sowohl an- wie abwesend wirkt, sondern ein direkter Blick, der mich trifft, ohne mich je gemeint zu haben, der Blick eines Anderen, der erscheint, ohne präsent zu sein.12

Was der Film in dieser Inszenierung nach Gertrud Kochs Auffassung also leistet, ist eine Erweiterung, eine Entgrenzung des Aufführungsraumes, die beileibe nicht nur daraus resultiert, dass das Publikum qua Projektion in eine andere Welt hineinschaut. Wirkungsvoller scheint vielmehr das, was aus dieser anderen Welt zurückschaut: Von dort trifft die Zuschauer/innen ein lebendiger, bewegter Blick, der einen unvermittelt erfasst und auf diese Weise, die vierte Wand des Illusionstheaters mühelos überwindend, direkten Kontakt herstellt zu einer anderen, ganz und gar entfernten Welt. Diese räumliche Erweiterung ist klar zu unterscheiden von den noch verbreiteteren Live-Übertragungen mit der Videokamera, durch die vor allem die Grenze zwischen Vorder- und Hinterbühne aufgehoben wird, die ansonsten aber doch im Aufführungsraum verbleiben. Während die Bewegung, die Mobilisierung, das Migrieren in Schlingensiefs Jeanne D’Arc von dem bewegten Blick in der Großaufnahme auf der Leinwand ausgeht, gelingt es Susanne Kennedy in ihrer Inszenierung Die Selbstmord-Schwestern (Berliner Volksbühne 2018), die Zuschauer/innen selbst mit filmischen Mitteln in eine rasante Bewegung zu versetzen. Die Inszenierung ist lose an Jeffrey Eugenides’ Roman The Virgin Suicides angelehnt; sie verfolgt die Geschichte von fünf australischen Mädchen, die sich in kurzem Abstand nacheinander das Leben nehmen. Susanne Kennedy findet dafür eine Ästhetik, die zugleich von fernöstlichen religiösen Ritualen und von populären Manga-Comics inspiriert scheint. Die fünf Schwestern erscheinen als groteske Mädchen-Puppen. Sie werden von Ganzkörper-Masken gespielt, die sich während des insgesamt recht statisch angelegten Abends nur wenig bewegen und in denen – wie sich aber erst beim Schlussapplaus zeigt – fünf männliche Darsteller stecken, deren Stimmen akustisch zu geschlechtslosen Sprechmaschinen verzerrt werden. Der Bühnenraum stellt sich als eine Mischung aus Jahrmarktsbude und ShintoSchrein dar. Es handelt sich um einen sich im Zentrum verjüngenden Guckkasten, der aber auch die Anmutung eines rituellen Triptychons hat und aus vielen einzelnen, viereckigen Segmenten besteht. Teilweise sind diese in leuchtenden Farben gehaltenen Segmente mit Körperteilen bemalt, teilweise sind sie mit Monitoren bestückt, teilweise enthalten sie auch Glasvitrinen, hinter denen verschlungene Gebilde aus Grünpflanzen und Neonröhren sichtbar werden. Dieser im ganzen eng wirkende Bühnenaufbau ist nah an die Rampe gebracht, so dass zum Publikum hin nur eine relativ schmale Spielfläche bleibt, die durch das Stellungsspiel von den meist statisch platzierten Akteuren nicht einmal ganz ausgenutzt wird.

12Ebd.,

S. 234.

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In einem markanten Moment des letzten Drittels der Inszenierung allerdings öffnet sich diese enge Szenerie, und man wird als Zuschauer/in in eine rasante, einzigartige Bewegung versetzt. Ein Filmbild überlagert nun den gesamten Guckkasten, indem es in mehreren der rechteckigen Kompartimente des Bühnenaufbaus zugleich sichtbar wird. Dieses bewegte Bild zeigt eine schnelle Kamerafahrt durch einen hohen, frühlingshaften, vom Wind durchwehten Laubwald. Hat sich das Auge erst einmal an das neue Szenario gewöhnt, dann gerät man in einen Bewegungssog wie in einem Rundum-Kino. Man glaubt, sich in schneller, serpentinenhaft-kurviger Fahrt durch den Wald zu bewegen, oder eher noch: gefahren zu werden oder zu schweben, und dabei wirkt der durchaus weiterhin sichtbare Bühnenaufbau plötzlich wie die segmentierte Windschutzscheibe eines Hubschraubercockpits. Nicht nur der Bühnenraum hat sich also verändert, sondern der gesamte Aufführungsraum scheint in Bewegung geraten, als säße man mit dem gesamten Publikum in einem Flugkörper, der abhebt, sich in das Naturbild, den scheinbar grenzenlosen Außenraum hineinsenkt und im schnellen Flug durch den von Lichtstrahlen durchwirkten Laubwald schwebt. Auch diese, vielleicht fünf- oder zehnminütige Sequenz aus Susanne Kennedys Selbstmord-Schwestern ist ein Beispiel dafür, wie das bewegte Filmbild Theaterräume in Bewegung versetzen kann. Dominiert hier, wie in anderer Weise auch bei Schlingensief, die Bewegungsanmutung selbst, so gibt es andere filmische bzw. audiovisuelle Darstellungsformen auf der Bühne, die eher die Selbstüberschreitung des Theaterraumes in Szene setzen. Ein Beispiel dafür sind die mit Live-Kamera in den Theaterraum übertragenen nächtlichen Szenen auf dem Dach der Berliner Volksbühne, die Frank Castorf gleich in mehrere seiner späten Volksbühnen-Inszenierungen eingebaut hat. In Die Brüder Karamasow, einer Dostojewski-Inszenierung aus dem Jahr 2015, ist es der Schauspieler Alexander Scheer, der als Iwan Karamasow im zweiten Teil des siebenstündigen Abends einen fast traumhaften Auftritt auf dem nächtlichen Volksbühnen-Dach hat. Die Szenografie für diese Castorf-Produktion war die letzte Arbeit des 2015 verstorbenen Bühnenbildners Bert Neumann, der wohl wie kein anderer zu einer Mobilisierung und Erweiterung des Raumes im deutschsprachigen Theater der letzten Jahrzehnte beigetragen hat. Vor der nächtlichen Silhouette Berlins und dem blau leuchtenden Schriftzug OST auf dem Dach der Volksbühne deklamiert Scheer in fahriger Bewegung die Erzählung vom Großinquisitor, die dem Roman eingeschrieben ist: „Christus kommt zurück und stört die Mächtigen, er soll ein weiteres Mal zum Tode verurteilt werden.“13 Während Alexander Scheer das Gleichnis vom sich entfaltenden Totalitarismus in den Berliner Nachthimmel schreit, sieht man auf der Großleinwand unten im Saal seine Gestalt über dem Meer der Dächer von Berlin, man sieht den blauen Nachthimmel, die Rosa-Luxemburg-Straße und das benachbarte Karl-Liebknecht-Haus, den Fernsehturm und den Alexanderplatz, so wie sich dies alles

13Schaper,

Rüdiger: Der Gott der Hysterie. In: Tagesspiegel, 07.11. 2015.

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vom Dach der Volksbühne aus darstellt. Immer wieder fällt der Blick aber auch zurück auf den Baukörper des Theaters selbst, auf den berühmten Neon-Schriftzug OST, und dies alles gilt es in Beziehung zu setzen zu der Großaufnahme des Gesichts von Alexander Scheer als Iwan Karamasow. Besonders markant scheint mir bei einer Dachszene wie dieser, dass das Theater selbst im Aufführungsraum plötzlich von außen sichtbar wird. Man sieht die Fassade, die Außenseite des Theaters und zugleich auch, wie sich das Theater als Ganzes, als Baukörper und mithin in gewisser Weise auch als Einrichtung in Beziehung setzt zu seiner städtischen Umgebung und anderen buchstäblich herausragenden Fixpunkten in der Topografie Berlins. Das Theater als Ganzes und von außen betrachtet wird damit auch zu einem Körper, den der Schauspieler mit seinem Monolog direkt adressieren, angreifen und beklagen kann. Und eben diese szenische Beziehung zwischen Schauspieler, Theater und Stadt kann das Publikum unten im Saal auf der Großleinwand beobachten. Die mit den Beispielen angedeuteten filmischen Mittel einer Mobilisierung des Theaters sind schon nahezu klassisch zu nennen. Insbesondere die filmische Öffnung und Erweiterung des Theaterraums wurde schon in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts verschiedentlich erprobt und seither weiterentwickelt und ausdifferenziert. Neuere Ansätze setzen fast durchweg auf digitale Live-Techniken wie etwa Kay Voges in seiner synchronen, ortsübergreifenden Inszenierung von Die Parallelwelt am Berliner Ensemble und am Schauspiel Dortmund (2018): Hier finden die Aufführungsabende jeweils gleichzeitig an beiden Theatern statt, in digital miteinander verflochtenen Theaterräumen. Das Hier und Jetzt als originärer Ort des Theaters bzw. der Aufführung wird von solchen medialen Erweiterungen in Frage gestellt, spielerisch konterkariert, aber nicht ernsthaft überwunden. Formen der zeiträumlichen Kopräsenz bleiben selbst für eine hochgradig technisierte Inszenierung wie die Voges-Parallelwelt weiterhin unverzichtbar. Unbestreitbar ist allerdings auch, dass die Integration von Bild-, Video- und Filmprojektionen eine Aufführung zeitlich wie räumlich zu öffnen vermögen. Sogar die theatertypische Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Saal und Straße, kann durch den Einsatz audiovisueller Medien überwunden oder zumindest geschwächt werden. Die politische Motivierung, die noch für Piscators dokumentarischen Filmeinsatz auf den Bühnen der Weimarer Republik ausschlaggebend war,14 ist für heutige Kombinationen von Theater und audiovisuellen Medien nicht in jedem Fall gegeben. Politische Effekte ergeben sich aber insbesondere dann, wenn Aufführungsteilnehmer/innen das gewohnte mediale Idiom, das die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen prägt, im Theater plötzlich nicht mehr wiedererkennen oder geradezu außer Kraft gesetzt finden. Audiovisuelle Medien bewirken in Theateraufführungen insofern oft mehr als eine Öffnung. Auf elementare Weise führen

14Vgl.

dazu die Studien von Barton, Brian: Das Dokumentartheater. Stuttgart 1987; Willett, John: The Theatre of Erwin Piscator. Half A Century of Politics in the Theatre. London 1986, S. 46–126.

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sie das Politische ein, weil sie den Raum der Politik heraufbeschwören, der in der Erfahrung der Zuschauer/innen wesentlich von medial formatierten Zugängen und Grenzen geprägt ist.

3 Migration und Mobilisierung Die Themen ‚Theater und Migration‘, ‚Postmigrantisches Theater‘ und ‚Theater mit Geflüchteten‘ zählen seit einiger Zeit zu den vorherrschenden Motiven des Theaterdiskurses in Deutschland.15 In der deutschsprachigen Theaterdebatte kam der Begriff ‚postmigrantisches Theater‘ vor über zehn Jahren auf. Als erstes verwendete ihn das kleine Berliner Theater Ballhaus Naunynstraße unter der künstlerischen Leitung von Shermin Langhoff. Unter ‚postmigrantischem Theater‘ verstand man in diesem Kontext ein Theater, das maßgeblich von Menschen mit Migrationshintergrund der zweiten oder dritten Generation gestaltet wird, die aber nicht einseitig mit diesem Migrationshintergrund identifiziert werden möchten, sondern sich zu einem Synkretismus von Identitätskonstruktionen bekennen (etwa unter Schlagworten wie ‚Patchwork‘-‚oder ‚Bindestrich‘-Identitäten). Das Ballhaus Naunynstraße befindet sich in Kreuzberg, einem Bezirk von Berlin, in dem viele deutsch-türkische Familien seit Jahrzehnten leben (wobei sich allerdings die Bevölkerungsstruktur aufgrund von Gentrifizierungsprozessen gerade erheblich verändert). Die Theaterleitung rund um Shermin Langhoff, die im Jahr 2008 ihre Arbeit aufnahm, verfolgte mit großem Erfolg den Plan, gerade dieses alteingesessene deutsch-türkische Milieu, insbesondere die junge Generation aus diesen Familien, in ihre Theaterarbeit einzubeziehen – sei es durch Projekte mit Jugendlichen aus der Nachbarschaft oder durch einen Spielplan, an dem Stücke und Inszenierungen von deutsch-türkischen Autor/innen und Regisseur/innen einen starken Anteil hatten. Während diese Produktionen von Theatermachern wie Nurkan Erpulat, Ersan Mondtag oder Hakan Savas Miçan ganz überwiegend auf Deutsch präsentiert wurden, existierte in Deutschland zuvor schon seit mehreren Jahrzehnten ein Amateur-Theater von Migrant/innen, die Theaterformen ihrer Herkunftskultur pflegten und sich mit ihren Produktionen vorwiegend an die eigene migrantische Community richteten. In der englischsprachigen Welt gibt es keinen Begriff, der dem deutschen ‚postmigrantischen Theater‘ genau entsprechen würde. Auch die Rede von ‚migrant theatre‘ ist nicht sehr geläufig. Dagegen sind z. B. ‚Black British Theatre‘ oder ‚British Asian Theatre‘ seit Jahrzehnten feste Bestandteile des Londoner Theater-

15Vgl.

u. a. Sharifi, Azadeh: Theater für Alle? Partizipation von Postmigranten am Beispiel der Bühnen der Stadt Köln, Frankfurt a.M. 2011; Schneider, Wolfgang (Hg.): Theater und Migration. Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis. Bielefeld 2011. Zum (umstrittenen) Tragödienbezug vieler Projekte eines Theaters mit Geflüchteten: Menke, Bettine/Vogel, Juliane (Hg.): Flucht und Szene. Perspektiven und Formen eines Theaters mit Geflüchteten. Berlin 2018.

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lebens.16 In den Strukturen solcher Theater gibt es zwischen Deutschland und Großbritannien gleichwohl gewisse Übereinstimmungen: Die Assoziation dieser heterogenen Theaterformen mit Migration ist in beiden Ländern vor allem ein Ergebnis diskursiver Zuschreibung, während sich die sozialstrukturelle Zusammensetzung des Publikums nur wenig von anderen Theatern unterscheidet. Thematisch zeichnet sich migrantisches bzw. postmigrantisches Theater hier wie dort durch eine Fokussierung identitätspolitischer Fragen und eine Betonung von Intersektionalität aus. Mit der neuen Virulenz von Refugee Politics hat sich die Theatersituation in Deutschland seit 2015 noch einmal massiv verändert: Heute fällt es schwer, einzelne Institutionen als besondere Orte eines postmigrantischen Theaters hervorzuheben, wie das früher mit dem Ballhaus Naunynstraße und zeitweise mit dem Gorki Theater möglich war. Stattdessen macht inzwischen eine Mehrzahl der Stadt- und Staatstheater Projekte mit Geflüchteten. Für viele Theater sind das einzelne und kurzfristige Projekte, für die mit in der Flüchtlingsarbeit engagierten Initiativen und nicht selten auch mit Gruppen von Geflüchteten aus den Asylbewerber-Unterkünften kooperiert wird. Manche Häuser, wie etwa das Berliner Gorki Theater, haben dauerhafte Exil Ensembles gegründet, in denen Geflüchtete mit einem professionellen Theaterhintergrund Produktionen für den regulären Spielplan gestalten. Eine Kritik an der Art, wie die Theater besonders in Deutschland sich des Themas Flucht und Migration annehmen, ist mittlerweile ebenfalls weit verbreitet. Man kann drei Grundrichtungen dieser Kritik unterscheiden: 1. Viele Kritiker/innen unterstellen den Theatern, sie nutzen das sogenannte Flüchtlingsthema allzu hemmungslos aus, um für sich selbst bzw. die eigene Institution gesellschaftliche Relevanz zurückzugewinnen. Es ist kein Geheimnis, dass das Theater zuletzt gegenüber der bildenden Kunst und vielleicht sogar gegenüber dem Literaturbetrieb an Bedeutung und an diskursivem Gewicht verloren hatte. Am Rückgang der Theaterberichterstattung und der Theaterkritik in den Tages- und Wochenzeitungen konnte man das besonders deutlich ablesen. Erst das fast ubiquitäre Aufgreifen des Flüchtlingsthemas in den Spielplänen, die vielen Theaterprojekte mit Geflüchteten im öffentlichen Raum, die sogenannten Flüchtlingschöre und biografischen Monologe auf den Bühnen etc. haben den Theatern in Deutschland wieder mehr öffentliche Aufmerksamkeit eingebracht. Manche Beobachter/innen missbilligen, dass das Engagement der Theater vor diesem Hintergrund manchmal recht strategisch und eigennützig anmutet. 2. Befürchtet wird auch eine Instrumentalisierung der Geflüchteten selbst, insbesondere, wenn diese in einschlägigen Theateraufführungen, sozusagen als

16Vgl.

Godiwala, Dimple (Hg.): Alternatives within the Mainstream: British Black and Asian Theatres. Newcastle 2006; Hingorani, Dominic: British Asian Theatre. Dramaturgy, Process and Performance. Basingstoke 2010; Ley, Graham/Dadswall, Sarah (Hg.): Critical Essays on British South Asian Theatre. Exeter 2012.

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Experten für ihr eigenes Schicksal, exponiert werden. Eine solche theatrale Repräsentationspolitik mit Geflüchteten erscheint so oder so problematisch: Wenn die Geflüchteten selbst auf die Bühne geholt werden, scheinen sie als exotisierte Authentizitätsgaranten herhalten zu müssen. Wenn die Geflüchteten aber nicht selbst auf die Bühne kommen, stellt sich sofort die Frage, mit welchem Recht die Schauspieler/innen des regulären Ensembles sich anmaßen, für die Geflüchteten zu sprechen, denen ansonsten ja eine eigene politische Repräsentation in den europäischen Demokratien verweigert wird. 3. Es gibt schließlich eine Richtung der Kritik, die eher ästhetische Fragen an das migrantische Theater der Gegenwart stellt: Warum müssen Geflüchtete immer so oft als Chöre dargestellt werden, als ob ihnen keine je individuelle Stimme zukäme? Wie kommt es zu der formalen Flachheit vieler thematisch einschlägiger Theaterinszenierungen, die oft weit hinter die erreichte ästhetische Komplexität etwa des neuen Dokumentartheaters zurückfallen? Kehrt mit den häufig biografisch konturierten Inszenierungen, die Schicksale von Geflüchteten exponieren, ein schauspielerzentriertes Einfühlungstheater zurück, das mit den postdramatischen Formen der letzten zwanzig Jahre eigentlich schon überwunden geglaubt wurde? Abgesehen von diesen kritischen Einwänden ist zu konstatieren, dass das Theater mit Geflüchteten – wie auch andere der beschriebenen Formen einer sozialen Selbstmobilisierung – zu einer graduellen Annäherung von Kunsttheater und applied theatre geführt hat. Unter applied theatre wird ein Theater verstanden, das in der Regel keinen Kunstcharakter für sich reklamiert, dafür aber umso entschiedener und zweckorientierter in gesellschaftliche Konfliktlagen und konkrete Problemkonstellationen interveniert.17 Ein solches Theater operiert heute, zunehmend professionalisiert, in vielfältigen Projekten und Kampagnen auf den Gebieten der Pädagogik, Sozialarbeit, Psychotherapie, Gesundheitsvorsorge und der politischen Bildung. Es richtet sich mehr an Mitspieler/innen als an Zuschauer/ innen, denn positive Wirkungen erhofft man sich vor allem von der aktiven Theaterarbeit der Teilnehmer/innen in Probenprozessen und Stückentwicklungen. Entsprechend wird die gemeinsame künstlerische Arbeit höher gewichtet als die abschließende öffentliche Aufführung, auf die – zumal in therapeutischen oder gar klinischen Kontexten – nicht selten auch verzichtet werden kann. Die Verwischung der Grenzen zwischen diesem zweckorientierten, angewandten Theater und dem traditionellen Kunsttheater zählt zu den auffallendsten Tendenzen der zeitgenössischen Theaterlandschaft. Die Selbstmobilisierung der gewachsenen Theaterinstitutionen hat wesentlich zu dieser Entwicklung beigetragen – die auf gemischte Reaktionen stößt. Während es die Praktiker/innen des applied theatre zumeist begrüßen, wenn ihre Arbeit in den

17Vgl.

zu dieser Richtung von Theater: Warstat, Matthias/Heinicke, Julius/Kalu, Joy Kristin/ Möbius, Janina/Siouzouli, Natascha (Hg.): Theater als Intervention. Politiken ästhetischer Praxis. Berlin 2015.

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Künsten angesiedelt und anerkannt wird, befürchten andere eine schleichende Instrumentalisierung künstlerischer Praxis: Ist es nicht gerade der alte Autonomieanspruch, so idealistisch er konstruiert sein mag, der den Künsten besondere politische Handlungsspielräume eröffnet?

4 Die andere Öffentlichkeit Die in den Beispielen angedeuteten Mobilisierungen lassen sich auf zwei distinkte Gesten eines Ausbruchs aus dem gesellschaftlich begrenzten Bereich des Theaters zuspitzen: Die mediale Erweiterung des Bühnenraums kann in der Regel als ein Sich-Öffnen für andere Orte beschrieben werden. Andere Lebenswelten werden in den Theaterraum eingelassen, zum Beispiel per Video-Übertragung. Die Aufführungsteilnehmer/innen verlassen den Theaterraum nicht, können aber aus diesem Raum mit Hilfe von technischen Medien einen Blick nach draußen werfen. Die sozial-topografische Erweiterung des Bühnenraums meint dagegen ein tatsächliches Sich-Verlagern an andere Orte. Mitsamt Akteur/innen und Publikum verlässt das Theater sein angestammtes Gebäude und begibt sich in ein anderes Stadtviertel und damit möglicherweise auch in ein anderes soziales Milieu, das dem Theater ferner steht als jenes Milieu, aus dem die Mehrheit des Publikums kommt. Beide Erweiterungen des Theaterraums sind mit politischen Risiken verbunden. Im Falle des rein medialen Sich-Öffnens droht ein Abgleiten in den Voyeurismus. In den Theaterraum ‚eingespielt‘ werden die sozialen Probleme und Konflikte von ‚echten‘ Menschen, um dem Publikum interessante Einblicke zu gewähren, ohne dieses allerdings in einen tatsächlichen Kontakt mit der gezeigten Konfliktlage zu bringen. Man schaut von außen auf die Probleme anderer Milieus, zollt diesen Interesse, greift aber nicht ein. Im Falle des räumlichen Sich-Hineinbewegens in andere Gegenden besteht dagegen die Gefahr des Paternalismus: Das Theater begibt sich zu Menschen, die vielleicht gar nicht um Theater gebeten haben, und macht diesen nun ‚Spielangebote‘, gibt Hinweise, gewährt Einblicke oder erteilt Ratschläge. Man kann sich vorstellen, dass ein solches Theater, das von außen kommt und von niemandem bestellt wurde, als aufdringlich, anmaßend oder bevormundend empfunden werden kann. Paternalismus und Voyeurismus sind die häufigsten Vorwürfe, mit denen politisches Theater heute konfrontiert wird. Es sind aber zugleich Fallstricke, derer sich Theaterleute zumeist selbst sehr bewusst sind, so dass sie der Kritik vorzubeugen versuchen. Der von Rimini Protokoll geprägte Begriff der ‚Experten des Alltags‘ ist dafür ein sprechendes Beispiel: Einen Experten oder eine Expertin zu befragen, ist keine paternalistische Geste. Anders als der ‚Laie‘ ist der ‚Experte‘ niemand, dem man von oben herab begegnen könnte. Eine Expert/innenbefragung hat auch keine voyeuristische Note. Man delektiert sich nicht am Elend anderer, sondern lässt sich informieren und erweitert sein Wissen. Im Kontakt zu Expert/innen wird in der Regel keine Einfühlung angestrebt, vielmehr ein eher dialogisches Verhältnis, aus dem neues Wissen über besondere Praktiken und Positionen der Gesellschaft erwachsen kann.

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Das Ideal einer besonderen Art der Wissensgenerierung ist für viele aktuelle Positionen politischen Theaters prägend. Es unterscheidet zugleich die eher dokumentarischen von den eher aktivistischen Formen. Diese Differenz zwischen Dokumentation und Aktivismus tritt stark hervor – sie bildet beim Versuch einer Systematisierung aktuellen politischen Theaters das wohl wichtigste Unterscheidungskriterium. Was in Christoph Schlingensiefs bis heute unübertroffener Wiener Containeraktion Bitte liebt Österreich – Erste österreichische Koalitionswoche (2000) noch verbunden war, die dokumentarische Ausstellung xenophober Haltungen des Publikums mit einem aktivistischen Frontalangriff gegen die rechtsnationalistische ÖVP-FPÖ-Regierung, hat sich heute in zwei gegensätzliche Formen politischen Theaters gespalten. Dokumentarische Arbeiten in der Tradition des Postdramatischen, so etwa die Produktionen von Rimini Protokoll, She She Pop oder Herbordt/Mohren, vermeiden eindeutige politische Setzungen. Dagegen pflegen Formationen wie das Zentrum für politische Schönheit oder das Peng!Kollektiv einen offensiven Aktionismus, der die von Hans-Thies Lehmann beschworenen Unterschiede zwischen künstlerischen und politischen Aktionen kaum mehr erkennen lässt.18 Die Erfolge der AfD, rassistische Übergriffe und die zunehmende Sichtbarkeit einer terroristischen Rechten bilden einen wesentlichen Hintergrund für die Renaissance aktivistischer Formen in der Kunst.19 Mit der Präsenz der AfD in Parlamenten und Kulturausschüssen und der rechten Gewalt auf der Straße werden Konturen einer radikalen und gefährlichen politischen Kraft erkennbar, die unmissverständliche Gegen-Aktionen auch in den Künsten erforderlich macht. Häufig fungiert die Mobilisierung von Theaterräumen im Sinne einer Authentifizierung des Gezeigten: Das Verlassen der angestammten Institution verspricht einen direkteren Zugang zur sozialen Wirklichkeit. Die Verkapselung des Theaters in einem exklusiven und homogenen Theatermilieu scheint überwindbar, wenn man die fernbleibenden Bevölkerungsgruppen in ihrem jeweiligen sozialen Nahraum aufsucht und Aufführungsräume dorthin verlegt. Die demonstrative Annäherung, die Überwindung der räumlichen Distanz muss aber nicht heißen, dass sich das Theater von den vorgefundenen anderen Umgebungen und Akteuren tatsächlich auch transformieren (und in diesem Sinne ‚ver-rändern‘) lässt. Wie so oft kann sich hier der von Heiner Müller Brecht zugeschriebene Satz bewahrheiten: „Das Theater theatert alles ein.“20 Die wirklichen Modalitäten der Aneignung lassen sich nicht allein an der räumlichen Geste ablesen.

18Siehe

Anmerkung 2. Milo Rau wäre womöglich ein Beispiel für die weiterhin auch anzutreffende Verbindung von aktivistischen und dokumentarischen Einsätzen. 19Aktionen des Zentrums für politische Schönheit gehen rechte Organisationen und Politiker zum Teil sehr direkt und kämpferisch an, siehe etwa die Arbeit Das Holocaust-Mahnmal Bornhagen. Bau das Holocaust-Mahnmal direkt vor Höckes Haus! (2017/18). 20Welzel, Klaus/Müller, Heiner: „Wir brauchen ein neues Geschichtskonzept“. Gespräch mit Heiner Müller am 12.12.1992 in Berlin. In: Klaus Welzel (Hg.): Utopieverlust. Die deutsche Einheit im Spiegel ostdeutscher Autoren. Würzburg 1998, S. 200–229, hier S. 212.

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An allen Orten, an denen Rimini Protokoll mit seinem Tross von Dramaturgen, Technikern, Schauspielern und Statisten aufschlägt, wird nach den Regeln von Rimini Protokoll gespielt, ganz gleich wie nah oder wie weit vom Theater entfernt sich diese Orte befinden. Für die Frage nach der politischen Wirksamkeit von Theater, die Lehmann in dem eingangs zitierten Essay mit dem Postulat der Unterbrechung beantwortet hat, ist insgesamt weniger die Mobilisierung selbst von Bedeutung, sondern die Frage, ob und wie sich durch solche Verlagerungen oder Öffnungen des Aufführungsraums das Verhältnis zwischen den verschiedenen Teilnehmenden, Wahrnehmungsmöglichkeiten und Handlungsformen verändert.21 Welche Arten von Unterbrechungen sind im Theater tatsächlich erreichbar? Ist es möglich, die politischen Diskurse der Medien für einen Moment stillzustellen und eigenen Fragen auf neue Weise nachzugehen? Können wir uns vorstellen, dass ein solches Theatererlebnis unsere Art, die Gesellschaft wahrzunehmen, grundlegend verändert? Lassen sich im Zusammenspiel von Akteur/innen und Zuschauer/innen neue Arten des Handelns erproben? Die beschriebenen Formen der Selbstmobilisierung können als Versuche einer Selbstunterbrechung des Theaters verstanden werden. Mit dem angestammten Theaterraum werden der Idee nach eine institutionelle Umgebung und ein etablierter Betrieb verlassen, die für Akteur/ innen und Zuschauer/innen gleichermaßen mit lang eingeübten Routinen verbunden sind. Dieser Ausbruch aus den Routinen kann die Chance eröffnen, neue Wahrnehmungsformen, aber auch neue Formen von Öffentlichkeit zu entwickeln. Legt man die Aufführung als wesentliche Struktur des Theaters zugrunde und versteht man darunter Konstellationen einer zeiträumlichen Ko-Präsenz von Akteur/innen und Publikum, dann bleibt es eine Besonderheit des Theaters, das Publikum als integralen Teil des Kunstwerks zu begreifen. Das theatrale Kunstwerk bringt dann Relationen von Akteur/innen und Publikum hervor. In diesem Sinne verweist Ulrike Haß darauf, dass Theater Formen von Öffentlichkeit generiert.22 Für Theaterformen, die ihren angestammten Ort zu verlassen suchen und sich auf den Weg in konkrete soziale Umgebungen machen, liegt in dieser

21Eine

ähnlich gelagerte Kritik formuliert in aller Schärfe Müller-Schöll, Nikolaus: Die Fiktion der Kritik. Foucault, Butler und das Theater der Ent-Unterwerfung. In: Olivia Ebert u. a. (Hg.): Theater als Kritik: Theorie, Geschichte und Praktiken der Ent-Unterwerfung. Bielefeld 2018, S. 49–56, hier S. 55: „Selten ist deshalb heute jenes Theater kritisch, das in die Tagespolitik oder das Soziale einwirken möchte, das sich als Fortsetzung politischer Interventionen geriert, sich Empowerment oder Emanzipation auf die Fahnen schreibt, Minderheiten integrieren oder Randgruppen zur Anerkennung verhelfen möchte. Mögen seine Absichten integer und sein Anliegen legitim und wichtig sein, so endet es in aller Regel überm schnell Begriffenen, Wohlbekannten nicht nur in schlechter Kunst, sondern auch in einer schlechten Politik. Die unerträglichen Verhältnisse werden instrumentalisiert, um den des konventionellen Theaters überdrüssigen Zuschauer in moralische Geiselhaft zu nehmen.“ 22Siehe Haß, Ulrike: Im Körper des Chores. Zur Uraufführung von Elfriede Jelineks Ein Sportstück am Burgtheater durch Einar Schleef. In: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.): Transformationen. Theater der neunziger Jahre. Berlin 1999, S. 71–81, hier S. 71–73.

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Erkenntnis eine Chance und eine Warnung zugleich. Wo auch immer Theater sich hinbegibt, bleibt es nicht alleine. Auch außerhalb der Grenzen der eigenen Institution wird es Öffentlichkeit herstellen können. Allerdings wird diese Öffentlichkeit, ganz gleich ob sie am Schiffbauerdamm oder in Marzahn entsteht, immer eine selbst hervorgebrachte und mithin theatrale bleiben. Projekte wie X Wohnungen oder Cargo Sofia haben das gezeigt: Sie situieren sich in theaterfernen Umgebungen, in aufgelassenen Peripherien und an den sozialen Brennpunkten der Städte. Aber in diese rauen Gegenden bringen sie das eigene Publikum mit seinen ästhetischen Präferenzen, politischen Vorannahmen und sozialen Distinktionen unweigerlich mit. Darin liegt das Risiko, dass an den viel beschworenen ‚anderen‘ Orten doch wieder ‚nur‘ eine altbekannte Theateröffentlichkeit entsteht – in etwa dieselbe Konstellation von Akteur/innen und Zuschauer/innen, die man auch im heimischen Theatersaal vorfinden würde, den man gerade verlassen zu haben glaubt. Die Hervorbringung einer anderen, besonderen Öffentlichkeit bleibt auch heute, wie im Grunde seit dem mittleren 19. Jahrhundert, die große Hoffnung des politischen Theaters. Ob diese Öffentlichkeit gerade an den Rändern bzw. durch ‚Ver-ränderung‘ erreicht werden kann, ist die zentrale theaterpolitische Frage der Gegenwart. Wenn an den Rändern, zwischen Teilhabenden und Ausgeschlossenen, Rechtinhabern und Rechtlosen, die wichtigsten Kämpfe und Konflikte der Gesellschaft ausgetragen werden, könnte dort der richtige Ort sein. Entscheidend ist dann die Frage, ob das Theater diese Kämpfe und Konflikte aufnehmen und erfahrbar machen kann – und für wen. Die räumliche Mobilisierung als solche, das Sich-Hinbewegen an Plätze oder zu Gruppen, reicht dafür nicht aus. Benötigt wird eine neue Konstellation des Agierens und Wahrnehmens, die reale Konflikte in ein Aufführungsdispositiv überführt und somit neu konfiguriert, ohne dabei diejenigen auszuschließen, die diese Konflikte realiter auszutragen haben.

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Zur Funktion des Tanzes Kirsten Maar

Welche Funktion haben die Künste? Nicht die Frage nach dem „Wert der Kunst“,1 nach der „Politik der Kunst“2 oder nach der ästhetischen Erfahrung der Künste3 soll hier im Mittelpunkt stehen, sondern die Frage nach deren Autonomie und Heteronomie neu perspektiviert werden. Stellt man diese Frage im Plural, ergibt sich daraus sogleich auch die Frage nach den unterschiedlichen Funktionen der Einzelkünste. Ohne an dieser Stelle Paragonedebatten neu aufzurollen, ohne Raum- oder Zeitkunst gegeneinanderzustellen oder umgekehrt die Entgrenzungstendenzen zwischen den Einzelkünsten stark zu machen, soll im Folgenden die Funktion des Tanzes untersucht werden, d. h. nicht allein seine Wirkung oder Wirksamkeit, sondern es soll danach gefragt werden, welche Funktion der Tanz innerhalb des Kanons anderer Künste und innerhalb eines künstlerischen Feldes und gesellschaftlicher Veränderungen einnimmt. Dennoch sind die vorab benannten Fragen implizit adressiert. Eng mit dieser Frage nach der Funktion verbunden sind die von einer jeweiligen Kunstform existierenden Vorstellungen, ihr Selbstverständnis und wie sie jenseits der institutionell und selbstdefinierten Bedingungen gesehen wird, wie sie sich abgrenzt von anderen, verwandten Künsten, wie sie in den entsprechenden, unterschiedlichen Kontexten agiert und wie sie sich auf dem Markt

1Texte

zur Kunst, 22/88 (Dezember 2012): Die Wertfrage – The Question of Value. dazu insbesondere Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Frankfurt a.M. 2002. 3Der DFG-Sonderforschungsbereich 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste, Freie Universität Berlin, hat sich in der Laufzeit von 2004–2014 mit diesen Fragen befasst. 2Vgl.

K. Maar (*)  Institut für Theaterwissenschaft, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Eusterschulte et al. (Hrsg.), Funktionen der Künste, Ästhetiken X.0 – Zeitgenössische Konturen ästhetischen Denkens, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04927-8_7

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oder in der Förderpolitik behauptet. Ebenso wichtig ist, wie sie gesammelt und archiviert wird, wie sich somit ihre Geschichte, Entwicklung und Dokumentation bestimmt, wie sie ihre Weitergabe und damit auch ihre Ausbildung versteht und schließlich, wie sie aus wissenschaftlicher Perspektive, von der Kritik, von den Künstler/innen selbst verstanden wird. In diesen Überlegungen spielt es eine nicht unwesentliche Rolle, welche Erwartungen an eine Kunstform gerichtet werden und mit welchen Zuschreibungen sie versehen wird, ob von Künstler/innen selbst oder durch das Publikum, durch die Wissenschaft oder die Kritik, und wie einzelne Arbeiten schließlich im Kanon der Künste positioniert werden. Für den vorliegenden Beitrag ergeben sich daraus zwei aneinander gekoppelte Fragen. Zum einen: Wozu wird Tanz instrumentalisiert, mit welchen Argumenten und aus welchen Beweggründen? Und zum anderen: Was wären Alternativen, worin könnten andere Funktionen des Tanzes liegen? Dabei muss zunächst eine Voraussetzung dieses Schreibens über die Funktion des Tanzes geklärt werden: Den Tanz gibt es nicht, so wenig wie den Film, das Theater oder die bildende Kunst. Wir können höchstens von einem Feld im soziologischen Sinne sprechen, das selbst jedoch wieder ausdifferenziert ist in mannigfaltige Subkategorien. Für den Tanz, der anders als die meisten anderen Kunstformen sich gerade nicht nur über den Kunstkontext definiert, sondern als ursprünglich rituelles Phänomen beispielsweise über Volkstänze Gemeinschaften konstituiert, im Gesellschaftstanz Gruppierungen ausdifferenziert, in Alltagskulturen eine Rolle spielt oder in spezifischen urban dance cultures dazu beiträgt, alternative communities von bürgerlichen abzusetzen, der Feste begleitet, Kulturen konturiert und spezifiziert, fällt eine übergreifende Einordnung daher schwer. „Jeder Mensch ist ein Tänzer“,4 so äußerte es einer der Tanzpioniere, Rudolf von Laban, bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts, als die Arbeiterchorbewegungen den öffentlichen Raum eroberten und den Tanz in der Natur sowie die Idee eines „Neuen Menschen“ propagierten. Das holistische Grundprinzip, das diesen Gedanken zugrunde lag, ob sie sich nun im rechten oder linken Spektrum verorteten,5 ergab sich aus den damals aktuellen philosophischen Strömungen der Lebensphilosophie von Friedrich Nietzsche über Ludwig Klages bis hin zu Henri Bergson und im Zuge der sich in fast allen Bereichen des gemeinsamen Lebens umsetzenden Reformbewegungen, die nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs die Gesellschaft neu konstituieren sollten.6 Diese ganzheitlich geprägte Idee 4Laban,

Rudolf: Die Welt des Tänzers. Fünf Gedankenreigen. Stuttgart 1920. Tanzwissenschaftlerin Yvonne Hardt führt aus, dass die Formen des Tanzes selbst sich zwischen rechten oder linken Ideologien kaum unterscheiden ließen. In: Dies.: Hardt, Yvonne: Politische Körper, Ausdruckstanz, Choreographien des Protests und die Arbeiterkulturbewegung in der Weimarer Republik. Münster 2004. 6Dass heute wieder an therapeutische Praktiken wie Alexandertechnik oder Feldenkrais, die damals für Veteranen des Ersten Weltkriegs entwickelt wurden oder dem Arbeiterkörper zur Rekreation dienen sollten, angeknüpft wird, ist keinesfalls zufällig, erfüllt jedoch ganz andere Funktionen und Bedürfnisse einer neoliberalen Gesellschaft, in der solche Praktiken der Selbststeigerung und Individualisierung dienen sollen, um einen andauernden Flow zu gewährleisten. Darauf wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. 5Die

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Labans beschreibt ein Paradigma, das sich über andere Kunstformen hinweg von der frühen Avantgarde mit Verschiebungen über die Neo-Avantgarde der 1960er Jahre – Joseph Beuys’ Aussage, jeder Mensch sei ein Künstler, sowie seine Idee der sozialen Plastik seien hier stellvertretend genannt – bis hin zu aktuellen partizipatorischen oder den sogenannten Relational Aesthetics7 immer wieder durchsetzte. Die Verbindung von Kunst und Leben, wie sie beide Avantgarden durchzieht, ist jedoch hinsichtlich einiger Aspekte durchaus zu hinterfragen; als vitalistische, utopistische Idee hat sie in vielen Beispielen eher im Gegenteil dystopische Konstrukte hervorgebracht.8 Die Spiegelungen und Korrespondenzen zwischen Tanz und Alltags- bzw. Massenkultur, die sich aus der Untersuchung der „social choreographies“9 ergeben, sind im Hinblick auf das Verhältnis von Choreographie und einer Verhandlung des öffentlichen Raumes aufschlussreich. Andrew Hewitt untersucht in seiner Studie die gegenseitigen Beeinflussungen von gesellschaftlichem Wandel und kulturellen Verschiebungen. Ausgehend vom 18. Jahrhundert bis hin zu den Tiller Girls, die Siegfried Kracauer 1927 als „Ornament der Masse“ beschrieben hatte, versteht er die „social choreographies“ nicht lediglich als Metapher der Moderne, sondern vielmehr auch als ein Instrument, das Formen sozialer Organisation prägt und hilft ihre jeweilige (oft unbewusste) Agenda zu vermitteln. Gegen eine phänomenologische Lesart und eine damit verbundene romantische Idee, den Körper als metaphorisch oder transzendent zu betrachten, aber auch gegen eine kulturalistische Reduktion und Determinierung, wie sie zum Teil in Performance-Diskursen durchscheint, setzt Hewitt z. B. Kracauers Analyse der Massenkultur und ihrer durch den Kapitalismus geprägten materiellen Bedingungen: Die Hände der taylorisierten Fabrikarbeiter oder der Stenotypistinnen gleichen den Beinen der Chorus Line, die selbst wiederum als Inbild kapitalistischer Re-Produktion gilt. Die in der Entfremdung sowohl des Individuums als auch der Gemeinschaft durch den Konsum endloser ornamentaler Muster aufscheinende Korrespondenz verdeckt das politische Unbewusste nur marginal und kann ihre normativen Strukturen nicht verbergen. Ideologie als immer schon verkörperte Praxis ist insofern keinesfalls nur eine Sache von Diskursen, sondern zutiefst eingelassen in eine jeweilige Kultur, ihre Techniken, Praktiken und Medien. Der interventionistische Charakter von Tanzkulturen zeigt sich entsprechend bereits in diesen Unbestimmbarkeiten, in denen Tanz sich zwischen Massenkultur und ‚Hochkunst‘ definieren und verorten muss. Insofern die Verhältnisse von sozialer, künstlerischer, gesellschaftlicher und politischer Funktion stets im Wandel begriffen sind, verändern sich auch die Formate und Funktionen des

7Bourriaud,

Nicolas: Esthétique relationelle. Dijon, 2001. dazu z. B. Gadanho, Pedra/Laia, Joao/Ventura, Susana (Hg.): Utopia/Dystopia. A Paradigm Shift in Art and Architecture. Mailand 2017. 9Hewitt, Andrew: Social Choreography. Ideology as Performance in Dance and Everyday Culture. Durham/London 2005. 8Vgl.

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Tanzes hin zu partizipativen, aktiv in andere Zusammenhänge eingreifenden Transformationsprozessen, die je neue Gestaltungen formaler, materieller, medialer Impulse, Neuaufteilungen des Sinnlichen und damit je andere Zugänge zu ästhetischer Erfahrung generieren und formulieren. Das kann über die Verlagerung von Aufführungsorten geschehen, über Eingriffe in soziale Kontexte, aber auch in der Einbeziehung von Alltagsbewegungen, in der Arbeit mit nichtprofessionellen/untrainierten Performer/innen, bis hin zu Verflechtungen unterschiedlicher Praktiken in kollaborativen Prozessen. Diese Umschreibungen des bisher Gültigen beinhalten Revisionen eines bestehenden Kanons im Hinblick auf queere oder de-koloniale Aspekte, aber auch grundsätzliche Infragestellungen eines bestehenden Kunstverständnisses. Tanzkulturen besetzen und reklamieren den öffentlichen Raum. Viel grundlegender jedoch ist die Tatsache, dass der öffentliche Raum in einem weitergehenden Sinne ein choreographierter Raum ist. Raum entsteht durch Bewegung und nicht umsonst reden wir von Bewegungen in einem politischen Sinne, auch wenn die Formen des Protests sich heute aus vielen Gründen eher in die Form eines stillstellenden Occupy! verlagert haben, die den kapitalistischen Flow unterbricht. „Public Sphere by Performance“10 – die Frage, inwiefern Öffentlichkeit sich performativ konstituiert und welche Formen des Choreographischen damit einhergehen, ist ein Aspekt, dem nachzugehen das letzte Kapitel sich ausführlicher widmen wird. Ich möchte jedoch im Folgenden zunächst mit Überlegungen zum Bild des Tanzes als Kunstform beginnen und fragen, welches Selbstverständnis, welche Zuschreibungen ihm zugrunde liegen, welche Funktion sie einnehmen, wie und wo sie instrumentalisiert werden. Zugleich wird dabei deutlich werden, dass sich die Eigen- und Fremdbilder oft nicht einfach voneinander trennen lassen. Da Tanz im Kanon der Künste immer noch als marginale Kunstform wahrgenommen wird, haben sich auch in der Wahrnehmung von außen viele Klischeevorstellungen gehalten, die Förderpolitiken durchziehen und die in der Kritik, aber auch im Tanzfeld selbst immer wieder auftauchen, um je bestimmte Ziele, Zwecke, Funktionen zu bedienen.

1 Das Bild vom Tanz, die Rede vom Tanz: Funktionalisierung und alternative Potentiale Tanz als ephemere Kunst Der Tanz als flüchtige, transitorische Kunst, so wurde eines der tiefgreifendsten Urteile immer wiederholt, entbehrt des dauerhaften Objekts, das auf einem Markt zirkulieren oder in einem Museum ausgestellt, das gesammelt und archiviert

10Cvejić,

Bojana/Vujanović, Ana: Public Sphere by Performance. Berlin 2015.

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werden kann. Diese Flüchtigkeit ist einer der Gründe, warum der Tanz lange Zeit aus dem Kanon der Künste verbannt blieb und nur in bestimmten historischen Konfigurationen an Relevanz gewann.11 Ohne geschichtliche Einbettung fällt es schwer, eine Kunstform einzuordnen, ihre ‚Gegenstände‘ zu klassifizieren und ihre Entwicklungen zu konturieren. „Performance’s only life is in the present; it cannot be saved, documented, or otherwise participate in the circulation of representations: once it does so it becomes something other than performance.“12 Diese „Ontology of Disappearance“ wie sie von Peggy Phelan 1993 formuliert wurde, galt lange als unhinterfragbar.13 Doch spätestens mit dem Interesse an re-enactment und dem sogenannten documentary turn14, an Förderstrukturen wie Tanzerbe15 und daran, das Phänomen Tanz im Museum auszustellen, wird auch die Frage nach seiner Sammlung, seiner Archivierung, seiner Bewahrung und letztlich seiner Relevanz neu gestellt.16 Der Fokus verschob sich teilweise vom Dokument, wie der Notation oder anderen Aufzeichnungen, auf die Frage nach dem Körpergedächtnis und dem Körper als Archiv. Die Erfahrung des Flüchtigen ist darüber hinaus jedoch stets Merkmal ästhetischer Erfahrung, insofern als sich die Prozesse und Relationen von Kunst und Wahrnehmung als bewegliche, in Bewegung zeigen. Die „Topographien des Flüchtigen“,17 die Übertragungsbewegungen bzw. Aufzeichnungen von Tanz und Performance, die mit dem Verlust, der Absenz und dem Verschwinden der Spuren befasst sind, können jedoch nicht nur als ein nachgeordnetes Phänomen, als ein nachgeordnetes Medium der Aufzeichnung – als ein

11Als

Beispiele hierfür wären z. B. die Bedeutung des Tanzes am Hof Ludwig XIV., die Ausbreitung des romantischen Balletts in Frankreich und Russland oder die Ausdifferenzierung von Gesellschaftstänzen in den 1920er Jahren zu nennen. 12Phelan, Peggy: Unmarked. The Politics of Performance. New York/London, 1993, S. 146. 13Ein Argument, das der These der Flüchtigkeit entgegensteht, ist aber z.  B. auch die Materialisierung von Techniken in den jeweiligen Tänzer/innenkörpern, die nur schwer wieder zu ‚verlernen‘ oder zu überschreiben sind. 14Giuanachi, Gabriella/Westerman, Jonah (Hg.): Histories of Performance Documentation. Museum, Artistic and Scholarly Practices. London/New York 2018. 15Tanzfonds Erbe wurde 2011–2018 von der Kulturstiftung des Bundes gefördert, einzelne Dokumentationen siehe unter: https://tanzfonds.de/home/ (10.01.2020). 16Mit Rebecca Schneider wurde der Fokus eher auf das gerichtet, was bleibt, denn auf die Art und Weise des Verschwindens, auf die vielen unterschiedlichen Recordings, die ontologischen Attribute von Performance und Tanz als Modi des Bleibens. Philip Auslander hingegen insistiert am Beispiel der Fotografie Leap into the Void von Yves Klein auf den theatralen Eigenschaften des Dokuments selbst, dem nicht notwendigerweise ein theatrales Ereignis vorangegangen sein müsse. Vgl. Schneider, Rebecca: Performance Remains. Art and War in Times of Theatrical Reenactment. London/New York 2011; Auslander, Philip: Liveness. Performance in a Mediatized Culture. London/New York 2008. 17Vgl. das gleichnamige Teilprojekt im Rahmen des SFB 626 sowie die zuletzt daraus hervorgegangene Publikation: Brandstetter Gabriele/Butte, Maren/Maar, Kirsten (Hg.): Topographien des Flüchtigen. Choreographie als Verfahren. Bielefeld 2020 (im Erscheinen).

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‚post-scriptum‘ – genutzt werden. Auch ihre prä-formative Dimension, wie sie in bestimmten choreographischen Verfahren zutage tritt, ist zu berücksichtigen und produktiv zu machen. Die Zeitlichkeit des Tanzes ist folglich eine spezifische, auch wenn der Tanz das Moment des Transitorischen in gewisser Weise mit dem Theater, der Performance und dem Film teilt.18 Die genuine Flüchtigkeit liegt unter anderem darin begründet, dass der Körper und seine individuellen Abweichungen jedes Mal anders zutage treten. Die Unbestimmbarkeit des Körperlichen und dessen Rezeption erscheint verunsichernder als im Theater, wo traditionell der Rückgriff auf ein Narrativ, beruhend auf einer dauerhaften Textgrundlage, andere Deutungsmuster ermöglicht. Die spezifische Qualität, die Bewegung un-teilbar macht und die Choreograph/innen und Tänzer/innen gleichermaßen immer wieder beschäftigt und zu Auseinandersetzungen gezwungen hat, bezieht sich vielfach auf die Reflexionen zur Bewegung von Bergson bzw. den Experimenten von Muybridge und Marey zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, auf die Frage nach der „Übergänglichkeit von Bewegung“, die bereits Laban in seiner Choreutik diskutiert.19 Der einzigartige, nicht reproduzierbare Moment, diese etwas romantisierende Vorstellung, ist es letztlich auch, der immer wieder als Argument angeführt wird, dass sich der Tanz der Kommodifizierung entziehe. Doch das Flüchtige ist nur ein Aspekt einer umfassenderen Ästhetik des Ephemeren, die auch in andere Kunstformen hineinreicht. Das Bild des Tanzes ist nicht nur über seine transitorische Qualität, sondern darüber hinaus vielfach mit einer lange gewachsenen und im Westen durch die spezifische Kunstform des klassischen Balletts geprägten Vorstellung verknüpft: Die schwebende Leichtigkeit der Ballerina ist wohl das bekannteste Bild, das mit dieser Ästhetik verbunden ist und das weit hineinreicht in eine europäisch-amerikanische Entwicklungsgeschichte des Tanzes, an die auch je spezifische Genderkonzepte gebunden sind.20 Jenseits dieser klassischen Vorstellung ist das Ephemere auch ein räumliches Phänomen; das kinästhetische Über-den-Körper-hinaus-Spüren, beruhend auf den Voraussetzungen des von Laban entwickelten Modells der Kinesphäre, die uns mit dem Raum der „Dynamosphäre“ verbindet,21 ist dem Sphärischen, dem Atmosphärischen verwandt, dem Immersiven, das uns in etwas eintauchen lässt. Es betrifft Techniken und Praktiken, die im Tanz oftmals unter dem Begriff der

18Die

Kunst des Films allerdings ist im materiellen Filmstreifen direkt eingefangen, während der Tanz dies nur in der Dokumentation und Aufzeichnung in der filmischen Bewegung erreicht. 19Laban, Rudolf: Choreutik. Grundlagen der Raumharmonielehre des Tanzes. Wilhelmshaven 1991, S. 13. 20Siehe dazu z. B. Burt, Ramsay: The Male Dancer. Bodies, Spectacle, Sexualities, London/ New York 1995; oder weniger tanzspezifisch auch: Grosz, Elizabeth: Volatile Bodies. Toward a Corporeal Feminism. Bloomington u. a. 1994. Andere Tanzkulturen, wie z. B. der Flamenco, der indische Kathak, aber auch die Ausdruckstänzer/innen entwickeln Bewegungen, die in den Boden gehen und die Verbundenheit mit dem Grund betonen, im Gegensatz zum Sich-vomBoden-Lösen, dem Schweben und der Elevation. 21Laban: Choreutik, 1991, S. 28–46.

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somatischen Praktiken gefasst werden, aber auch vielfach darüber hinausgehen. Die Fokussierung auf Vorgänge im Inneren des Körpers, wie sie in den meisten somatischen Praktiken erprobt wird, ermöglicht zugleich eine Schärfung der Aufmerksamkeit auf das Außen, auf die Verbindungen des Körpers und seiner Umgebung vermittelt über die Vorstellung des durchlässigen Körpers – eines Körpers, der mit verschiedenen Zuständen der Affizierung operiert, die den Körper durchqueren und ihn auf seine Umgebung hin öffnen. Angesichts zunehmender Digitalisierung und Ephemerisierung wird diesen Auflösungstendenzen immer wieder das Potential der Affizierung (z. B. in der bereits erwähnten Materialisierung von Praktiken im Hinblick auf den Körper) entgegengestellt, sie markieren letztendlich auch eine ethische Dimension, nämlich die Unverfügbarkeit des Körpers. Im Rückgriff auf Lucy Lippards und John Chandlers Aufsatz „The Dematerialization of Art“ (1968) ließe sich eine weitere Deutung des Paradigmas des Ephemeren formulieren: Jene Entmaterialisierung betrifft deren zunehmende Konzeptualisierung, wie sie auch Benjamin Buchloh in seinem Aufsatz: „Conceptual Art 1962–1969: From the Aesthetics of Administration to Institutional Critique“ beschreibt.22 Nicht mehr die Hand des Künstlers als Autor oder Genie spielt eine wesentliche Rolle, bzw. im Tanz die Virtuosität,23 sondern vielmehr die Idee, das Konzept rückt in den Mittelpunkt. Die Verweigerung des Tanzes selbst, eine Ästhetik der Unterlassung kennzeichnet wiederum seit den 1990er Jahren den sogenannten Konzept-Tanz; die Figur des „Nicht“ steht für eine Form von Choreographie, die sich vornehmlich durch Nicht-Tanz, Abwesenheit, das Unabgeschlossene, Defiguration, exhausting dance, stillness etc. auszeichnet.24 Was in den 1960er Jahren mit der Entgrenzung der Künste sowie der Entgrenzung von Kunst und Alltag als emanzipatorisches und demokratisierendes Projekt gerade im Hinblick auf Fragen der Institutionen begonnen hatte, ist

22Buchloh,

Benjamin H. D.: Conceptual Art 1962–1969: From the Aesthetics of Administration to the Critique of Institutions. In: October 55 (Winter 1990), S. 105–143. 23Diese Fragestellungen reflektiert Yvonne Rainer bereits 1966 in einem Aufsatz, in dem sie die Entwicklungen der Minimal Art denen des Tanzes gegenüberstellt: „Some Retrospective Notes on a Dance for 10 People and 12 Mattresses called Parts of Some Sextets, Performed at the Wadsworth Atheneum, Hartford, Connecticut, and Judson Memorial Church, New York, in March, 1965“, zuerst publiziert in: The Tulane Drama Review 10/2 (Winter 1965). Reprint in: König, Kasper (Hg.): Yvonne Rainer, Work 1961–73. New York 1974, S. 45–51, siehe insbesondere das NO-Manifesto, S. 51, sowie in einem Essay, der ebenfalls ihr berühmtes NOManifesto enthält: A Quasi Survey of Some ‚Minimalist‘ Tendencies in the Quantitatively Minimal Dance Activity Midst the Plethora, or an Analysis of Trio A (1966). In: Roger Copeland/ Marshall Cohen (Hg.): What Is Dance? Readings in Theory and Criticism. New York 1983, S. 325–332, hier S. 328. 24Schellow, Constanze: Diskurs-Choreographien. Zur Produktivität des ‚Nicht‘ für die zeitgenössische Tanzwissenschaft. München 2016, S. 29 f.; die Autorin zitiert hier Konzepte, die von verschiedenen Tanzwissenschaftler/innen entwickelt wurden, um eben jene Verweigerung des Tanzes zu beschreiben.

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mittlerweile ebenfalls zu einem Projekt der Kommodifizierung geworden – auch wenn dem Tanz immer noch ein geringerer Warenwert gegenüber anderen KunstObjekten attestiert wird. Eine Performance der Choreographin Eszter Salamon aus dem Jahr 2011 mit dem Titel Tales of the Bodiless steigert auf den ersten Blick jene Immaterialisierung und Entkörperlichung, insofern auf der Bühne kein bewegter Körper mehr sichtbar ist, sondern vor allem anderen die ephemeren Qualitäten von Stimmlichkeit, Sound und Nebel inszeniert werden, die immer wieder in unterschiedlichsten Formen verschwinden und vergehen oder kaum merklich werden. Tatsächlich aber markiert dieses Stück bereits eine Wende. Damit wird nicht nur die Befreiung der Choreographie vom Körper eingefordert, vielmehr nimmt sie eine andere Art von Materialität, die zunächst nicht mit der Vorstellung von Tanz verbunden ist, an. So ist in jüngerer Zeit mit der Ephemerisierung und Konzeptualisierung vor allem ein Gedankenkomplex verbunden: die Idee einer Expanded Choreography, der Ablösung des Choreographischen vom sich bewegenden Tänzer/innenkörper, wie sie beispielsweise in William Forsythes installativen Choreographic Objects oder in den zahlreichen Choreographien der Dinge zutage tritt, die sich teilweise an der object-oriented philosophy oder der Actor-Network-Theory (ANT) von Bruno Latour orientieren. Ob in Mette Ingvartsens Artificial Nature Project glitzernde Folien zu den eigentlichen Akteuren auf der Bühne werden, die in flirrenden Skulpturen über die Bühne sich verteilen, oder in Clement Layes’ Things that surround us die Widerständigkeit der Dinge sich den Performer/innen immer wieder verweigert, stellen diese Arbeiten die alleinige Handlungsmacht menschlicher Agenten infrage und betonen stattdessen alternative ‚ecologies‘.25 In den letzten Abschnitten haben wir fast unmerklich den Rahmen gewechselt – vom Tanz zur Choreographie, deren immer wieder hierarchisiertes Verhältnis uns in einem späteren Kapitel noch ausführlicher beschäftigen wird. Zunächst jedoch zurück zu einem zweiten Paradigma des Tanzes, das mit der Flüchtigkeit eng verknüpft ist.

2 Ohne Worte: Tanz als sprachlose Körper-Kunst? Das Ephemere ist dem Unbeschreiblichen nah verwandt. Die Flüchtigkeit der Erfahrung von Tanz ist auch darin begründet, dass die Erfahrung von Bewegung einen oft sprachlos macht und sich nur schwer in Worte fassen lässt. Bewegung lässt sich nicht still-stellen, sie entzieht sich und ist stets schon vergangen. Desgleichen lässt sich auch die Bedeutung von Bewegung nicht interpretativ festschreiben. Körper in ihrer Ambivalenz entgehen der Eindeutigkeit, die Erfahrung

25Der

Begriff wird abgelöst von seinem in den 1980er Jahren noch auf Klimabedingungen fokussierten Zusammenhang verwendet, im Sinne eines Zusammenspiels unterschiedlicher Akteure in gegenseitiger Abhängigkeit eines dynamischen Gefüges.

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ist individuell wie andere Kunsterfahrungen auch und der „sprechende“ Körper entzieht sich zunächst der Zuschreibung, auch wenn bestimmte Codices immer wieder nach einer Lesbarkeit verlangen. Die Modelle eines „Reading Dancing“ oder der „Tanzlektüren“,26 die die Tanzwissenschaft in den USA und im deutschsprachigen Raum mit-etabliert haben, entwickeln Möglichkeiten der Analyse und Beschreibung, wie sich diesen Phänomenen in der Umkreisung und in der Entwicklung einer adäquaten Methodologie nahekommen lässt. Auch wenn das Paradigma des sprachlosen Tanzes so nicht mehr gültig erscheint – den Tanz zur Sprache zu bringen war nie nur Aufgabe der Tanzwissenschaft, sind doch Postmoderne und zeitgenössischer Tanz von sprachlich formulierten scores und tasks in den Experimenten der Judson Church bis hin zu Lecture-Performances von Xavier le Roy u. a. vom Einsatz von Sprache durchzogen. Ob im Tanztheater bei Pina Bausch, die den Tänzer/innen in den Proben ihre persönlichen Geschichten ablauschte und daraus Bewegungsmaterial entwickeln ließ, oder bei Mette Ingvartsens Speculations, einem Stück, in dem sie Bewegung nur über ein Narrativ und die Imagination der Teilnehmenden evoziert, wird der Tanz auf ganz unterschiedlichen Ebenen mit Sprache in Verbindungen gesetzt. Dabei wird Sprache in allen Produktionsschritten relevant – um Vorgänge zu beschreiben und sprach-bildlich zu konzipieren oder zu entwerfen: in der Probenarbeit und in Trainingsformaten im postmodernen und zeitgenössischen Tanz, auf der Bühne, z. B. im Einsatz von in Realzeit verlesenen task-orientierten Texten bis hin zur Verwendung von Sprache als Lautqualität, die auch in ihrer Zeit strukturierenden Funktion reflexiv operiert und darüber hinaus den stets intermedialen Status von Choreographie als Kunstform reflektiert. „Diskurs-Choreographien“, so nennt Constanze Schellow nicht umsonst ihre Untersuchung „zur Produktivität des ‚Nicht‘ für die zeitgenössische Tanzwissenschaft“,27 mit der sie eine Studie vorlegt, die die Korrespondenzen zwischen zeitgenössischer Tanzproduktion seit den 1990er Jahren und der Entwicklung der Tanzwissenschaften in den Blick nimmt, deren Diskurse die Tanzproduktion im Wesentlichen mitbestimmt haben. Diese Entwicklung des sogenannten KonzeptTanzes ist nur in diesem Kontext und den entsprechenden Diskursen bestimmbar.28 Doch kommen wir nun zur anderen Seite des Bildes einer sprachlosen Kunst29: Der „beredte Körper“ ist eines der grundlegenden Paradigmen in der Geschichte 26Foster,

Susan Leigh: Reading Dancing. Bodies and Subjects in Contemporary American Dance. Berkeley u. a. 1986, sowie: Brandstetter, Gabriele: Tanzlektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde. Frankfurt a.M. 1995. 27Schellow: Diskurs-Choreographien, 2016. 28Eine genaue Verortung jener Entwicklungen nimmt auch Bojana Cvejić in ihrer Studie Choreographing Problems (London 2015) vor, ebenso widmet sich die Dissertation Choreographing Relations. Practical Philosophy and Contemporary Choreography (München 2010) von Petra Sabisch dem Verhältnis von Sprache und Choreographie. 29Dass Tanz über Grenzen hinweg vermittelnd wirken könne, ist ein immer wieder vorgebrachtes Klischee; eigentlich sind diese Vorurteile und Bilder vom Tanz längst Vergangenheit, wissen wir doch alle um kulturelle Unterschiede und „embodied histories“, doch in welcher Weise wirken diese Urteile latent fort?

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und Entwicklung der Tanzkunst.30 Bewegen und bewegt werden sind nicht nur Grundlage einer Bewegungskunst, wie sie bereits bei Noverre im 18. Jahrhundert formuliert wird, sondern bilden einen zentralen Ausgangspunkt, dessen Grundlage die Anbindung des Tanzes an den Tänzerkörper ist – und sie stehen für eine Tradition des Tanzes, innerhalb derer die Ausdruckskategorie bzw. die Kopplung (auch wenn es sich nicht um Pantomime handelt) eine wesentliche Rolle spielt. Die Vorstellung vom Ausdruck eines Unmittelbaren, Verborgenen, das es nach außen zu bringen gelte, hatten schon die Postmodern Dancers als Absetzung der Nachfolge vom Ausdruckstanz und vom amerikanischen Modern Dance („The Body never lies“, Martha Graham) und auch den Traditionen des klassischen Balletts zurückgewiesen. Jenseits dessen ist es jedoch die Abstraktheit von Bewegung und die Uneindeutigkeit, die ein „Reading D“31 zu einem höchst komplexen Unterfangen werden lassen. Dieses Ausdrucksparadigma wird mit der Objektivierung von Bewegung bei den Judson-Choreograph/innen durch minimalistische, strukturalistische sowie analytische Verfahren unterbrochen, die enge Verbindung zwischen Körper und Bewegung bleibt dabei bestehen.32 Dennoch stellt sich die Frage, „was ein Körper vermag“, für den Tanz mit absoluter Dringlichkeit. Sein Potential zur Affizierung geht, mit Spinoza und Deleuze gesprochen, über die enge Kopplung von Überschreitung und Transformation hinaus, insofern sie die leibliche Fundierung geistiger Tätigkeiten fokussiert.33 „Is the Living Body the Last Thing Left Alive?“, mit dieser Annahme ging eine Konferenz in Hongkong 2014 der Frage nach, inwiefern dem bewegten und damit lebendigen Körper immer noch eine Form von Authentizität oder Widerständigkeit zuerkannt werden kann. André Lepecki, Teilnehmer der Konferenz, sieht die Bilder des Körpers und seiner Inszenierungen sowie ihre spezifische Art und Weise der Verkörperung, die jenseits von Mimesis im Gegensatz zu Fragen der Repräsentationslogik fungieren.34 Im Hinblick auf eine mögliche Funktion schlägt er folgende Konzepte vor: Das Ephemere kann als eine Alternative oder ein Gegengewicht zu den „economies of objecthood“ und der Kommodifizierung (einhergehend mit Fetischisierung und einer zunehmenden Virtualisierung) gelten. Das Potential der Verkörperung, einschließlich des Potentials, andere zu

30Vgl.

Thurner, Christina: Beredte Körper – bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten. Bielefeld 2009; Huschka, Sabine: Moderner Tanz. Konzepte, Stile, Utopien. Reinbek bei Hamburg 2002. 31Foster: Reading Dancing, 1986. 32Cvejić: Choreographing Problems, 2015, S. 19. 33Böhler, Arno/Kruschkova, Krassimira/Granzer, Susanne Valerie (Hg.): Wissen wir, was ein Körper vermag? Rhizomatische Körper in Religion, Kunst, Philosophie. Bielefeld 2014. 34Lepecki, André: Dance, Choreography and the Visual: Elements for a Contemporary Imagination. In: Cosmas Costina/Ana Janevski (Hg.): Is the Living Body the Last Thing Left Alive? Berlin 2017, S. 12–19, hier S. 18.

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affizieren, ermöglicht es, entsprechende Verbindungen – alignments – einzugehen, die wiederum bestimmte Resonanzen produzieren. Sie bilden „co-compositions“ und sind damit relational und „always more than one“.35 Zudem macht Lepecki eine spezifische Prekarität geltend, ausgehend von einer Position des Subalternen innerhalb der Ökonomie der Künste, wie sie seit dem 18. Jahrhundert existiere. Tanz als Körper-Kunst markiere immer auch das Abjekte, das sich normativen Körperbildern widersetze. Herausforderungen stellen sich daher an jenen Schnittstellen, an denen der Körper in seinen Abweichungen von normativen Sichtweisen die Szene betritt: differente Körper, disabled bodies, minoritäre Praktiken, Ein- und Ausschlüsse. Sichtbarkeit und Sagbarkeit für diese Belange zu schaffen sowie Zugänge zu ästhetischer Erfahrung zu eröffnen, ist insofern eng damit verknüpft, andere Rezeptionsweisen und andere Wahrnehmungsweisen zu fördern, denn im Gegensatz zu dem am meisten trainierten Sehsinn sind wir mit allen anderen Nahsinnen sehr viel weniger geübt. Zudem verunsichern sie uns, insofern sie historisch stets dem Vermögen zur Abstraktion, welche das Sehen impliziert, untergeordnet und damit direkt auch an die binären Zuordnungen von ratio und Irrationalem gebunden wurden.

3 Zur Funktion der Unterscheidung von Tanz und Choreographie: Verlängerungen des Body-MindDualismus Die (Ent-)Kopplung von sprechender und körperbasierter Kunst, gebunden an latent immer noch virulente Körper-Geist-Dichotomien, rührt aus einem der folgenreichsten Dualismen her – der Unterscheidung zwischen Choreographie und Tanz: Während Choreo-graphie, etymologisch abgeleitet vom Griechischen choros – dem Tanzplatz oder Rundtanz – und graphein von schreiben, kritzeln, zeichnen in der Geschichte stets in der Spannung zwischen der Notation als Vorgabe, als das Konzept einer Folge von Tanzschritten in einem vorgegebenen Zeitmaß bestimmt wurde,36 galt Tanz im Verhältnis dazu meist als nachgeordnet, als bloße Ausführung bzw. Interpretation. Ähnlich wie in der bildenden Kunst in der Kopplung von concetto e disegno war jedoch das Konzept keinesfalls unabhängig vom gestalterischen Handwerk. Doch auch im 20. Jahrhundert bleibt die Choreographie eng an Notationsformen gebunden. Choreographie als die Kunst, Schritte zu setzen, weicht im Wesentlichen der Definition von Choreo-

35Manning,

Erin: Always More Than One. Individuation’s Dance. Durham/London, 2013, darin der gleichnamige Aufsatz, S. 16–40. Manning denkt den Körper selbst als „an ecology of operations“, S. 31. 36Brandstetter, Gabriele: Choreographie. In: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart u. a., 2005, S. 52–55.

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graphie als „The Art of Making Dances“37 – der Kreation und Produktion von Tanzstücken. Die Spannung zwischen Choreographie als Notation und Körperbewegung/Ausführung bzw. Choreographie als Prozess und gestaltender Komposition (Organisation von Körpern in Raum und Zeit) bleibt jedoch erhalten.38 Zwischen der Notation – der Partitur – und ihrer Aus- und Aufführung gibt es mannigfaltige Rückkopplungsprozesse. Dies verstärkt sich mit den Scoring-Praktiken der Postmoderne. Mit den Anfängen der Minimal Art, die auf die originäre Behandlung des Materials durch die Hand des Künstlers zugunsten industriell gefertigter Materialien verzichtet und den Status des Originals infrage stellt, sowie dem Beginn der Conceptual Art in den 1960er Jahren und schließlich mit John Cage, der das Verhältnis von score (Partitur) und deren Interpretation durch den Begriff der indeterminacy, der Unbestimmtheit, charakterisiert, werden die Tänzer/innen bzw. Performer/innen zu Co-Autor/innen.39 Insofern ging mit diesen veränderten Herangehensweisen konzeptueller Art parallel zur Entgrenzung der Künste auch eine Demokratisierung der Künste einher; Übung, Talent, Kennerschaft wurden infrage gestellt. Jenseits dieser Öffnung lässt sich über den Begriff des Choreographischen nachdenken, aber auch ein anderer, eher restriktiver Gedanke formulieren: „Choreography as art of command“, wie es William Forsythe u. a.40 beschreiben, betont die Aspekte der ordnenden und aufteilenden Macht von Choreo-graphie, die als eine Praxis der Anordnung41 – und mit Rancière gesprochen einer „Aufteilung des Sinnlichen“ – je unterschiedliche Zugänge zu einer spezifischen ästhetischen Erfahrung eröffnet oder verstellt. Beide Prämissen sind für den Konzept-Tanz und seine Favorisierung der Idee einer expanded choreography von zentraler Bedeutung. Wenn alles ein score sein konnte, dann hatte das weitreichende Folgen für den Tanz – Alltagsbewegungen, minimale Bewegungen, Aufgabenbewältigung, wie etwa eine Matratze über die Bühne zu tragen, konnten plötzlich als Tanz betrachtet werden; die Ideen stellten die Tänzerkörper aber auch vor neue Herausforderungen: Um auf die immer komplexer werdenden scores adäquat reagieren und mit anderen interagieren zu können, wurde Improvisation auf der Bühne und somit eine neue Herangehensweise in den Trainingsformen notwendig. Und dies markiert schließlich wiederum eine Schnittstelle zum frühen Modernen Tanz und seinen

37Humphrey,

Doris: The Art of Making Dances [1958], hg. von Barbara Pollack. Princeton 1991. Choreographie, 2005, S. 52. 39Kotz, Liz: Words to Be Looked At. Language in 1960s Art. Cambridge, Mass./London 2010. 40Lepecki, André: Choreopolice and Choreopolitics, or, the Task of the Dancer. In: TDR. The Drama Review, 57/4 (Winter 2013). 41Vgl. dazu den Band Assign & Arrange. Methodologies of Presentation in Art and Dance, hg. von Maren Butte, Kirsten Maar, Fiona McGovern, Marie-France Raphael, Jörn Schafaff. Berlin 2014. 38Brandstetter:

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Verbindungen zu ursprünglich therapeutischen Praktiken.42 In den 1970er Jahren werden Alexandertechnik, Body Mind Centering, Release Technique und Contact Improvisation etc. weiterentwickelt bis hin zu einem immer noch aktuellen Phänomen, dass jede/r unterrichtende Tänzer/in-Choreograph/in einen eigenen Stil entsprechend der jeweiligen Bedürfnisse aus unterschiedlichen Techniken und Praktiken entwickelt.43 Nicht umsonst sind in den vergangenen Jahren Entwicklungen hin zu einem neuen Praxisbegriff und einer Rückbesinnung auf Reflexionen des Handwerklichen, von Fragen des „de- and reskilling in Art after the Readymade“ virulent.44 Im Hinblick darauf möchte ich jedoch zunächst auf eine spezifische Erfahrungsdimension zu sprechen kommen, die nach den Entwicklungen des Konzept-Tanzes eine andere Fokussierung eröffnet.

4 Experiential turn, participatory turn? Eine Entwicklung der letzten etwa fünfzehn Jahre betrifft die Erfahrung der mehr oder weniger aktiven Partizipation in den Künsten; sie bringt nicht nur alternative Sehgewohnheiten, Rezeptionsweisen und Anordnungen im Gefüge von Performer/ innen und Zuschauer/innen hervor, sondern auch neue Formate, wovon eines, die zunehmende Präsentation von Choreographie bzw. Tanz im Ausstellungskontext, hier kurz diskutiert werden soll: Innerhalb solcher Konfigurationen der Dispositive von Aufführung und Ausstellung über bestimmte Formen des Displays macht es einen entscheidenden Unterschied, ob z. B. Xavier Le Roy seine Retrospektive Expanding Choreography nennt oder ob Boris Charmatz sein Musée de la danse explizit als Museum des Tanzes und gerade nicht unter dem Titel des Choreographischen spielen lässt.45 Die Betonung des Choreographischen zielt auf die im vorigen Kapitel diskutierte Dichotomisierung von Choreographie und Tanz mit einer Betonung auf dem Aspekt des Kuratorischen als quasi-choreographischer Praxis und der Dimension der „art of command“, der raumzeitlichen Anordnung innerhalb der Ausstellungsräume, darauf, wie Besucher/innen durch die Ausstellung ‚choreographiert‘ werden, welcher Zugang sich durch die Aufteilung des Raumes und der jeweiligen ‚Objekte‘ in ihm ergibt und welche Angebote der

42Inspiriert

durch ganzheitliche Konzepte, wie sie in der Programmatik der Lebensreform auftauchen, wurden sowohl in den Arbeiterkultur- und Sportbewegungen wie auch für die aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrenden, verletzten Soldaten Bewegungsprogramme entworfen; die Schnittstellen zwischen Körperertüchtigung und Bewegungskulturen in diesen Jahren sind fließend, worüber etliche Ansätze auch in den Tanz integriert wurden. 43Vgl. dazu den Band Tanztechniken 2010: Tanzplan Deutschland, hg. von Ingo Diehl und Friederike Lampert. Leipzig 2011. 44Roberts, John: The Intangibilities of Form. Skill and Deskilling in Art After the Readymade. London 2007. 45Siehe dazu das von Boris Charmatz verfasste Manifest unter: https://www.moma.org/momaorg/ shared/pdfs/docs/calendar/manifesto_dancing_museum.pdf (10.01.2020).

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Partizipation sich eröffnen. In der Betonung des Tanzes liegt hingegen der Akzent auf der Erfahrungsdimension, die wiederum untrennbar verknüpft ist mit der Frage des Zugangs; sie ist zudem daran gekoppelt, ob es sich, wie in den vergangenen Jahren vielfach diskutiert, um immersive Kunsterfahrungen handelt,46 die die Betrachter/innen vereinzeln oder aber sie in einem oftmals diffusen Gemeinschaftsgefühl umhüllen.47 Die Inszenierung des Atmosphärischen ist dafür in Korrespondenz zum kinästhetischen Empfinden wesentlich. Die Formen der Teilnahme und Teilhabe, die mit den Projekten der Relational Aesthetics48 verbunden sind, wurden wiederum von Claire Bishop im Hinblick auf ihre Unbestimmtheit hinsichtlich eines außerkünstlerischen Anlasses kritisiert, wodurch die Kunst der Begegnung, die doch eigentlich mit so viel Pathos des Gemeinsamen bzw. des Öffentlichen aufgeladen war, zu einer leeren Hülle werde.49 Ob es sich nun um spezifisch partizipatorische Formate als kleine Lecture-Performances, Diskussionsrunden oder kurze Workshops handelt – hier geht es nicht um Können, sondern um körperorientierte Bewegung, um ein Lernen jenseits üblicher Hierarchien. Tänzerische Praktiken des Wiederholens, des Nachahmens, des Erinnerns von Bewegung, der Synchronisierung mit anderen, der Wahrnehmung des Raumes und des Inneren des eigenen Körpers etc. können hier erprobt werden. Insofern überlagern sich in diesen Formaten verschiedene Wissensformen – ein knowing that und ein knowing how, implizites und explizites Wissen als eine Form situierten Kontextwissens. Doch welche Erwartungen genau haben die Institutionen, die Choreographie bzw. Tanz jenseits des Theaterdispositivs präsentieren? Was bedeutet es innerhalb des Museumsdispositivs, wenn der Körper das Ausstellungsobjekt ersetzt? Welchen Unterschied macht es, wenn die Körper als ‚Objekte‘ betrachtet werden oder wenn ihre Praktiken nachvollziehbar werden? Sicher sind, je nachdem, ob man von der Perspektive der Choreograph/innen oder der Kurator/innen oder der Institutionen ausgeht, unterschiedliche ästhetische oder strategische Interessen aufgerufen. Wo geht es um den Versuch einer Erweiterung des Verständnisses von Choreographie, die über die Verbindung mit dem Dispositiv der Ausstellung erreicht werden soll oder indem sie das Museum im Zeichen theatraler Displaystrukturen neu erfindet? In beiden Kunstformen wird das Dispositiv als eine Art multilineare Assemblage bespielt, die gleichzeitig Sichtbarkeit und damit politische Macht verteilt und einen kontinuierlichen Wandel in den Konfigurationen des Wissens und der Subjektivierung initiiert.

46Kolesch, Doris: Theater und Immersion (2016), https://blog.berlinerfestspiele.de/theater-undimmersion/ (10.01. 2020). 47Als ein Beispiel wäre die von Tino Sehgal und Thomas Oberender kuratierte Ausstellung Welt ohne Außen zu nennen, die ein intensives Performance-Programm beinhaltete und im Rahmen des Festivals Immersion der Berliner Festspiele im Martin-Gropius-Bau 2018 stattfand. 48Bourriaud: Esthétique relationelle, 2001. 49Bishop, Claire: Antagonism and Relational Aesthetics. In: October 110 (Herbst 2004), S. 51–79.

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Rosalind Krauss‘ Beschreibung des Übergangs vom diachronen, Wissen vermittelnden Museum hin zu synchronen Erfahrungsräumen, die sie bereits 1990 im Rückgriff auf Entwicklungen der Minimal Art formuliert,50 scheint diese Veränderungen vorzuzeichnen. Was jedoch jenseits ihrer Überlegungen zur Erfahrungsästhetik des Minimalismus und seinem Rückzug aus der Verweigerung des Originals wenig reflektiert bleibt, sind die Umstände und außerkünstlerischen Gründe für eine solche Entwicklung, die jenseits des beschriebenen historischen Paradigmas der Minimal Art zu finden sind. Doch kann der Körper in Bewegung der „Cultural Logic of the Late Capitalist Museum“ tatsächlich etwas entgegensetzen oder trägt er nicht vielmehr dazu bei, sie zu erweitern und zu verstärken? Fragen der Formate, der Vermittlung und der Feedback- und OutreachProgramme zur Steigerung der Besucherzahlen werden in den vergangenen Jahren zunehmend diskutiert, als würde man der auf eine gewisse Unmittelbarkeit abzielenden Erfahrungsästhetik doch nicht trauen.51 Helmut Draxler fragt in seiner Studie Abdrift des Wollens. Eine Theorie der Vermittlung danach, welche künstlerischen und gesellschaftlichen Defizite Vermittlung kompensieren solle.

5 Tanz als Gemeinschaft konstituierende Kunstform Welche Utopien sind mit den Erfahrungsdimensionen des Tänzerischen einerseits, aber auch des Choreographischen andererseits verbunden? Und wofür werden sie instrumentalisiert? Im Zuge eines gerade in neoliberalen Zeiten der Individualisierung und Singularisierung aufkommenden Bedürfnisses nach gemeinschaftlichen Projekten und Strukturen, wie es sich seit dem ‚Ende der Utopien‘ nach 1989 in Ideen wie der „kommenden Gemeinschaft“52 und vor allem in zahlreichen partizipativen Projekten äußert, lässt sich ein gesellschaftliches Desiderat angesichts einer „Gesellschaft der Singularitäten“53 ablesen. Das Über-sich-Hinausgehen jenseits der Grenze des eigenen Körpers, das Mitschwingen im Zusammenspiel einer Gruppe ist nicht nur eine Idee der frühen Avantgarde, wie sie explizit Laban formulierte,54 sondern findet seinen Widerhall auch aktuell in wissenschaftlichen Untersuchungen zu Spiegelneuronen oder

50Krauss,

Rosalind: The Cultural Logic of the Late Capitalist Museum. In: October 54 (Herbst 1990), S. 3–17. 51Draxler, Helmut: Abdrift des Wollens. Eine Theorie der Vermittlung. Wien 2017. 52Agamben, Giorgio: Die kommende Gemeinschaft. Berlin 2003; zeitgleich nehmen viele französische Philosophen, u. a. Jean-Luc Nancy, die Diskussion um die Frage der Gemeinschaft, die sie bereits in den späten 1960ern angesichts der Kontroversen um den Kommunismus geführt hatten, wieder auf. 53Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten, Zum Strukturwandel der Moderne. Frankfurt a.M. 2017. 54Laban: Die Welt des Tänzers. Fünf Gedankenreigen, 1920.

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in Untersuchungen zur De-/Synchronisierung im Schwarmverhalten.55 Tanz als Gemeinschaft stiftende Form, ob im Alltag, bei Festen, Ritualen, in Clubkultur oder partizipativen Kunstereignissen, ereignet sich innerhalb von Wiederholungsstrukturen und trägt sowohl bei zu einer Gemeinschaft stiftenden Erinnerungskultur als auch auf anderer Ebene zu einer Konstituierung eines öffentlichen Verhandlungsraumes. Die kurz beschriebenen Arten der Erfahrung, die Formen der Transindividualität eröffnen und sich mit den Überlegungen zum Singulär-plural-Sein, wie sie Jean-Luc Nancy formuliert, denken lassen, beschreiben Tanz als emanzipatorische Praxis. Doch muss unterschieden werden zwischen unterschiedlichen Formen des Gemeinsamen: Was nach Nancy den Begriff des Singulär-plural auszeichnet, ist gerade nicht eine gemeinsame Idee oder Ideologie, sondern muss über die Formen der Auseinandersetzung und des Dissens verstanden werden. Wie konkret jedoch sich eine „Public Sphere by Performance“ herstellen lässt, wie die Schaffung einer Öffentlichkeit funktionieren kann, wie konkret die Choreographie eines Raumes zu denken ist, innerhalb dessen die Abweichungen konstitutiv sind, kann als eine der Herausforderungen choreographischer Praxis verstanden werden. Die Frage von Teilnahme, Teilhabe und des Teilens stellt sich bezeichnenderweise jedoch nicht erst auf der Ebene der Präsentation von Kunst, sondern bereits in den Formen der Zusammenarbeit. Ein verwandter Aspekt scheint im Vergleich zu anderen Kunstformen jedoch von ganz wesentlicher Bedeutung: die Hinwendung zur kollektiven Arbeit, ebenso von den Avantgarden erprobt, aber mit einem erneuten Fokus und entsprechenden Verschiebungen seit den 2000er Jahren. Ein „Rehearsing Collectivity“56 in einzelnen künstlerischen Arbeiten hat oftmals seinen Grund in den vernetzten Strukturen, die gerade die Tanzszene als eine der marginalsten und nur äußerst prekär geförderten Künste auszeichnen.57 Wie problematisch dieses „Moving Together“ jedoch innerhalb bestehender Produktionsstrukturen sich gestaltet, beschreibt Rudi Laermans aus seiner doppelten Perspektive als Soziologe und Dramaturg.58

55Brandstetter,

Gabriele/Brandl-Risi, Bettina/van Eikels, Kai (Hg.): Schwarm(E)Motion: Bewegung zwischen Affekt und Masse. Freiburg i. Br. 2017. 56Basteri, Elena/Guidi, Emanuele/Ricci, Elisa (Hg.): Rehearsing Collectivity. Choreography Beyond Dance. Berlin 2012. 57Als ein früheres Beispiel sei die Plattform everybodys genannt, als ein später kollektiv organisierter Zusammenschluss ließe sich etwa agora collective anführen. 58Laermans, Rudi: Moving Together. Making and Theorizing Contemporary Dance. Amsterdam 2015.

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6 Tanz und Praxis Dieses Erproben von Kollektivität, das den Akzent auf das Üben und auf das Teilen legt, spiegelt sich in dem seit einigen Jahren verstärkt aufkommenden Praxisbegriff in den Künsten.59 Praxis kann als Vervollkommnung einer Technik und/oder als Zeit für Experiment, Spiel und (künstlerische) Forschung verstanden werden, die disziplinenübergreifend Theorie und Praxis verbindet. Sie kann als zeitweiser Rückzug aus der regulären Performance-Produktion – jenseits von Kommodifizierung, Kontrollverlust oder einem Hintergehen der eigentlichen künstlerischen Intentionen – gelten, denn Praktiken im Bereich des Somatischen, aber auch das Zusammenspiel von Theorie und Praxis oder verschiedenen Formen von (Artistic) Research, bedeuten einen Bruch innerhalb der oft entfremdenden Produktionsprozesse und können daher durchaus als Ort des Widerständigen verstanden werden. Nicht zuletzt tragen sie über die Einbeziehung Anderer und Praktiken des Teilens oftmals dazu bei, einen öffentlichen Raum, einen Verhandlungsraum, einen Austausch zu schaffen. Zugleich wird mit dem Begriff der Arbeit nicht nur auf die Parallelen zur Produktion in der realen Arbeitswelt und der neoliberalen service economy verwiesen, sondern ebenso wird praxis einem Begriff des künstlerischen Schaffens oder der Kreation entgegengesetzt. Einhergehend mit einer zunehmenden Professionalisierung werden social practices oder practice based research als Forderung nach der Transformation sozialen Lebens bzw. einer anderen Wissenschaft formuliert. Welche Veränderungen bedeutet dies für die Kunstproduktion? Zudem rückt der erfahrungsgebundene Begriff der Praxis gegenüber der ‚Arbeit‘ oder dem Werk selbst mehr und mehr in den Vordergrund und liefert auch einen Grund für die zunehmende Aufmerksamkeit des Kunstfeldes gegenüber Choreographie und Performance. Praxis entkommt der omnipräsenten Logik von Kunst-„Projekten“ und bringt eine Form von Kontinuität in die künstlerische Arbeit ein, die ansonsten oft fragmentiert und zerstreut bleibt.60 Somit kann die Opposition zwischen Rückzug und Widerstand innerhalb eines neoliberalen Kapitalismus ebenso wenig überzeugen wie die Rede von Praxis als persönliche Entwicklung des künstlerischen Produkts, als bloßes „investment of the self“.

59Vgl.

dazu speziell im Tanz: Schuh, Anna: Having a Personal (Performance) Practice: Dance Artists’ Everyday Work, Support, and Form. In: Dance Research Journal, 51/1 (April 2019), S. 79–94. Die folgenden Überlegungen sind einem gemeinsam im Rahmen der Jahrestagung „Theater und Technik“ der Gesellschaft für Theaterwissenschaft gehaltenen Vortrag entnommen, die im November 2018 in Düsseldorf stattfand. 60Dies wurde im Rahmen der Arbeitsgruppen zum Runden Tisch Tanz, der in Berlin 2018 zur Verbesserung der Konditionen der Tanzszene Berlins initiiert wurde, immer wieder als ein Mangel innerhalb der Situation freischaffender Choreograph/innen und Tänzer/innen der Berliner Szene geäußert.

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Aristoteles und Platon unterscheiden praxis und poiesis: Während poiesis den Akt der Formgebung meint, impliziert Praxis den Vollzug einer Handlung vor einem Publikum – in der Öffentlichkeit.61 Wo poiesis auf ein jenseitiges Ziel ausgerichtet ist, das sich im Produkt oder Werk manifestiert, hat die Praxis ihr Ziel in sich selbst – als öffentliche Handlung, die soziale Bezüge stiftet; sie hat kein Ziel außerhalb ihrer selbst, sie ist ein „Mittel ohne Zweck“.62 Diese vita activa63 als Szene des Politischen ist weder mit ewigen Wahrheiten befasst, die der vita contemplativa angehören, noch mit den Belangen des oikos – des privaten Lebens (und der dazu erforderlichen Arbeit/labour). Nach Hannah Arendt hat jedoch die moderne Politik immer weniger den Charakter des Praktischen und verkommt mehr und mehr zu einer Art Produktionsmanagement. Wichtig bleibt insofern, dass Praxis auch als Handlung innerhalb des Öffentlichen angesehen wird – sie ist eine ‚Technik‘ der Verbindung; damit sind nicht nur Verbindungen zwischen verschiedenen Praktiken zu einer individuellen adressiert, sondern vor allem ist es von Bedeutung, dass diese Praktiken langfristig im Austausch mit Anderen und nicht als Selbstbespiegelung gefasst werden. Inwiefern werden die Ausübung von Praktiken, aber auch Training und Probe, zu Orten der Selbstbefragung?64 Keineswegs geht es dabei um den alleinigen Rückzug ins Studio, sondern vielmehr um eine andere Art der Selbstorganisation. Praktiken der Wiederholung, der Einübung, des Trainings fordern Subjektivität heraus. Anders jedoch als in der Probe, wird das Subjekt hier nicht in prekärer Weise „auf die Probe“ gestellt.65 Gegen die kommunikativ und auf Selbstpräsentation ausgerichteten Formen immaterieller Arbeit sowie die Überblendung von „leisure time and work time“66 wendet sich praxis gegen Formen eines hierarchisierten Arbeitens, auch wenn die Prozesse kollaborativen Arbeitens zahlreiche Probleme mit sich bringen.

61praxis:

griech. Handlung, die aus gewohnter Tätigkeit hervorgehende Übung und erlangte Fertigkeit, meist in einem engeren Sinne der Anwendung eines in der Theorie gegebenen Wissens gebr. Lemmata: „Arbeit“, „Poetik“, „poietisch“, „praktisch“, Technik“. In: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hg. von Arnim Regenbogen und Uwe Meyer. Hamburg 2013. 62Agamben, Giorgio: Noten zur Geste. In: Georg-Lauer, Jutta (Hg.): Postmoderne und Politik, Tübingen 1992, S. 97–108. 63Arendt, Hannah: Vita activa [1960], Frankfurt a.M. 2006 (The Human Condition, engl. 1958). 64Inwieweit lassen sie jene Praktiken im Hinblick auf Foucaults Technologien des Selbst und deren biopolitische Implikationen verstehen? Und inwieweit tragen Techniken und Praktiken zu Individuation und Relation bei? 65Buchmann, Sabeth/Lafer, Ilse/Ruhm, Constanze (Hg.): Putting Rehearsals to the Test. Practices of Rehearsal in Fine Arts, Film, Theater, Theory, and Politics. Berlin 2016; Matzke, Annemarie: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe. Bielefeld 2012. 66Vgl. dazu auch Rudi Laermans, der aus seiner Perspektive als Dramaturg und Soziologe die Situation der Proben ins Visier nimmt: Moving Together. Making and Theorizing Contemporary Dance. Amsterdam 2015.

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7 Mittel ohne Zweck: Tanz und Medialität In „Noten zur Geste“ widmet sich Giorgio Agamben den verlorenen Gesten und Bewegungen einer Gesellschaft im Umbruch an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Den Tanz fasst er im Rekurs auf Aristoteles und Platon als Bewegung, die ihren Zweck in sich selbst habe – die Geste ist also nicht mittelbar, existiert in der Ausstellung ihres Mediums – als ein Afformativ, das eher eine Ent-setzung ist. Eine Unterbrechung. Zwischen poiesis – dem Hervorbringen – und praxis – dem Handeln – situiert, ein Weder-Noch, hebelt die Geste Techniken bzw. das Technische ihrer selbst aus; als Setzung einer Bewegung ent-setzt sie diese. Die Seinsart der Geste liegt in den Figuren der Stillstellung, der Unterbrechung, der Störung oder Pause. Wenn der Tanz Geste ist, so deshalb, weil er nichts anderes ist als die Austragung und Vorführung des medialen Charakters der körperlichen Bewegung. Die Geste ist die Darbietung einer Mittelbarkeit, das Sichtbar-Werden des Mittels als eines solchen. Sie bringt das In-einem-Medium-Sein des Menschen zur Erscheinung und eröffnet ihm eine ethische Dimension.67

Sie verweist auf etwas und zugleich auf sich selbst und hat daher eine transzendierende Funktion – sie ist also nicht jeglicher Funktion entbunden –, auch wenn dies im Blick auf den vorab dargelegten Praxisbegriff in der Involvierung des Selbst und eines Zwecks in sich selbst bestünde. Im Hinblick auf die Frage nach der Funktion des Tanzes kann diese Schlussfolgerung nach all den vorangegangenen Kapiteln jedoch nicht abschließend sein.

8 Tanz und Performance: Tanz als Arbeit The currency that ‚performance‘ as a technical term had in the 1990s, seems now to be replaced by ‚choreography‘. Comparing their usages, we can infer, that performance denotes competence, ability to execute, and achievement, while choreography designates dynamic patterns of the complicated, yet seamless organization of many heterogeneous elements in motion. Choreography stresses the design of procedures, that regulate a process […].68

Die Regulierung von Prozessen greift aktuell tief in biopolitische Zusammenhänge einer Gestaltung und Optimierung des Selbst ein. Sorgte der performative turn ursprünglich dafür, soziale Prozesse und transitorische Identitäten zu beschreiben, so geht es, wenn wir aktuell von einem neuen performative turn sprechen (und so insistiert Lepecki: vielleicht müsste man diesen sogar ganz wesentlich als einen

67Agamben:

Noten zur Geste, 1992, S. 100. Public Sphere by Performance, 2015, S. 72.

68Cvejić/Vujanović:

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dance oder choreographic turn bezeichnen69), um andere Ebenen von Identitätspolitik. Die Formen der Biopolitik, welche in den neoliberalen gesellschaftlichen Strukturen vor allem mit John McKenzies Perform or Else aus dem Jahr 2001 zu beschreiben wären und zugleich dem tertiären oder Dienstleistungssektor, den Netzwerken und einer Kultur angehören, innerhalb derer die Vermarktung des Selbst im Rahmen der sogenannten „affective labor“ zählt, lassen sich nicht ohne entsprechende Formen der Evaluation kontrollieren. Doch kann das Leben selbst Gegenstand dieser Prozesse werden? Nach McKenzie würde hinsichtlich der Frage nach der Funktion der Kunst ein Schema geltend gemacht, das in der Wirksamkeit die Effizienz von Kultur, als Leistung die Effizienz der „seamless organisation“ und schließlich in der Funktion die Effektivität der Technik ausmacht. Wenn Choreographie als ‚Performance of the Self‘ inzwischen an FeedbackProgamme einer Bewertungsgesellschaft gebunden ist,70 stellt sich die Frage „Wie wollen wir arbeiten?“ erneut mit großer Dringlichkeit. Dann gewinnen demgegenüber Formen z. B. der maintenance work bzw. der kollektiven Arbeit in Zusammenhängen, die über das rein Künstlerische hinausgehen, wie sie von zahlreichen jüngeren Kollektiven, in Berlin beispielsweise agora oder Flutgraben71, geschaffen werden, an Bedeutung, um jenseits der „project based polis“,72 jenseits von Institutionskritik und Evaluierung, eine Form von Kontinuität zu schaffen, die es der sogenannten ‚freien‘ Szene bzw. den ‚freien‘ Künstler/innen, die für gewöhnlich weniger frei zu… als frei von monetären Mitteln sind, erlaubt, innerhalb der bereits erwähnten „ecologies of co-composition“73 zu arbeiten.

Literatur Agamben, Giorgio: Die kommende Gemeinschaft. Berlin 2003. Agamben, Giorgio: Noten zur Geste. In: Georg-Lauer, Jutta (Hg.): Postmoderne und Politik, Tübingen 1992, S. 97–108. Arendt, Hannah: Vita activa [1960], Frankfurt a.M. 2006 (The Human Condition, engl. 1958). Auslander, Philip: Liveness. Performance in a Mediatized Culture. London/New York 2008. Basteri, Elena/Guidi, Emanuele/Ricci, Elisa (Hg.): Rehearsing Collectivity. Choreography Beyond Dance. Berlin 2012. Bishop, Claire: Antagonism and Relational Aesthetics. In: October 110 (Herbst 2004), S. 51–79.

69Lepecki,

André: Dance, Choreography and the Visual: Elements for a Contemporary Imagination. In: Is the Living Body the Last Thing Left Alive?, hg. von Cosmas Costina/Ana Janevski. Berlin 2017. 70Buchmann, Sabeth: „Feed-back: Performance in der Bewertungsgesellschaft“. In: Performance Evaluation, Texte zur Kunst 110 (Juni 2018), S. 35–53. 71https://agoracollective.org/und https://flutgraben.org/about/ (10.01.2020). 72Holert, Tom: Art in the project based polis 2009), https://www.e-flux.com/journal/03/68537/artin-the-knowledge-based-polis/ (10.01.2020). 73Manning: Always More Than One, 2013.

Zur Funktion des Tanzes

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Zum gehaltsästhetischen Ende Trond Reinholdtsens Musik (2012) als Weg aus der Krise Andreas Lang

Seit gut zehn Jahren mehren sich die Stimmen einer – meist in den 1970er oder frühen 1980er Jahren geborenen – Komponist/innengeneration, die eine veritable Krise der Neuen Musik konstatieren. Ein wiederkehrendes Argument für diese These ist die mangelnde gesellschaftliche Relevanz, der mangelnde Weltbezug des Neue-Musik-Genres. Auch der norwegische Komponist Trond Reinholdtsen (geb. 1972) vertritt diese Position. Die Auseinandersetzung mit der Krise der Neuen Musik zieht sich quasi leitmotivisch durch den Großteil seines bisherigen Werks. Der vorliegende Beitrag möchte diese Auseinandersetzung nachvollziehen, und zwar anhand dreier Texte Reinholdtsens über seine eigene Arbeit und anhand der Komposition Musik, die 2012 bei den Donaueschinger Musiktagen zur Uraufführung kam. Das Stück ist ein Werk des Übergangs, in dem Reinholdtsen seinen individuellen Weg aus der Krise inszeniert. Das Ziel dieses Wegs scheint zu sein, nicht nur die Maßgaben der Neuen Musik früherer Prägung, sondern letztlich auch die Kritik daran hinter sich zu lassen. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz des kompositorischen Schaffens neu.

A. Lang (*)  Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Eusterschulte et al. (Hrsg.), Funktionen der Künste, Ästhetiken X.0 – Zeitgenössische Konturen ästhetischen Denkens, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04927-8_8

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1 Die Krise der Neuen Musik aus Sicht des Neuen Konzeptualismus1 Die Kritik bestehender Verhältnisse ist fester Bestandteil der Neuen Musik. Sie trägt den Anspruch auf Erneuerung bereits im (deutschen) Namen und ist spätestens seit den 1950er-Jahren mit dem Begriff der Avantgarde verknüpft. Die Kritik bezieht sich sowohl auf gesamtgesellschaftliche als auch auf innermusikalische Phänomene, zumal die beiden Bereiche in enger Verbindung zueinander verstanden werden. Konsequenterweise wird auch die Neue Musik selbst diesem kritischen Blick unterzogen, weist sie doch inzwischen eine über hundertjährige Geschichte auf, in der sich manche Tradition und Konvention ausprägen konnte. Dies steht offenkundig in einem Spannungsverhältnis zu dem Anspruch, zeitgenössisch und neu zu sein.2 So empfindet ein Großteil der jüngeren Komponist/innengeneration das musikalische Material und somit die klangliche Oberfläche der Werke als ausgereizt. Die in den letzten Jahrzehnten erreichte Ausdifferenzierung des Klangs in den mikrotonalen, elektroakustischen und geräuschhaften Bereich mittels alternativer Spieltechniken und (Live-)Elektronik bzw. Klangsynthese ist kaum zu steigern. Zugleich hat sie, so die Vertreter des Neuen Konzeptualismus, den Großteil ihres horizonterweiternden und auch subversiven Potentials eingebüßt. Diese Position steht – zumindest auf den ersten Blick – im Gegensatz zu einer ‚Tradition‘ der Neuen Musik, die (Adorno folgend) einen „geistigen Gehalt“, der ästhetisch und gesellschaftlich wirksam werden kann, an der konsequenten „Durchbildung“ des musikalischen Klangmaterials festmacht.3 Der Philosoph Harry Lehmann, der den Diskurs über den Neuen Konzeptualismus federführend angestoßen hat, konstatiert an einer Vielzahl neu komponierter Werke, dass sie trotz ihrer differenzierten, ‚hochwertigen‘ Materialbehandlung nicht als neuartig bzw. relevant für den ästhetischen Diskurs oder gar für gesellschaftliche Entwicklungen wahrgenommen werden.4 Ähnlich äußert sich der Komponist Johannes Kreidler, der sich in seinem künstlerischen Schaffen direkt auf Lehmann bezieht. Er sieht in dem selbstbezüglichen, akademisierten Abarbeiten am musikalischen Material mit seinen „hochgezüchteten immanenten Beziehungsgeflechte[n] und abstrakten Formerlebnisse[n]“ einen ans Fin de siècle erinnernden Verfallsprozess im Gange: „Solche Verfeinerung deutet auf

1Ich

verwende diesen Begriff aus pragmatischen Gründen als Sammelbegriff für eine Kritik am Status quo der Neuen Musik, die ein verstärkt konzeptuelles Denken als Lösungsansatz verfolgt. Es ist jedoch wichtig zu erwähnen, dass es sich dabei um keine einheitliche Schule handelt und auch der Begriff Neuer Konzeptualismus teilweise auf Ablehnung stößt. 2Letztlich kann selbst der kritische Blick als eine Traditionslinie aufgefasst und hinterfragt werden. Siehe hierzu die Ausführung zu Reinholdtsen. 3Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1973, S. 195. 4Lehmann, Harry: Die digitale Revolution der Musik – Eine Musikphilosophie. Mainz 2012, S. 9–15.

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Erschöpfung hin […]“.5 Damit einher gehe ein Mangel an Lebensweltbezug in der Neuen Musik und ihr Abdriften in eine für die Gesellschaft irrelevante akademische Nische. Das umso mehr, da die Neue Musik den tiefgreifenden Veränderungen nicht genug Aufmerksamkeit schenken würde, welche durch die Digitalisierung auf das Verlagswesen, die Aufführungspraxis und den eigentlichen Kompositionsprozess einwirken.6 Der Weg, den der Neue Konzeptualismus anbietet, um aus dieser Nische hinauszugelangen, ist die „gehaltsästhetische Wende“.7 Der Fokus liegt demzufolge nicht mehr auf der Ausdifferenzierung des Klangmaterials, sondern auf dem ästhetischen Gehalt eines Werks. (Ob dies überhaupt als Gegensatz angesehen werden muss, ist allerdings durchaus umstritten.) Lehmann und Kreidler setzen hierfür stark auf „fremdreferenzielle[] Bezüge“,8 die einen Gehalt eindeutiger vermitteln und einen Lebensweltbezug leichter herstellen können, als der begriffslose Klang es vermag. Entsprechend nennt Lehmann als grundlegende „Konzeptualisierungsstrategien“ die „Visualisierung, Theatralisierung und die Semantisierung“ (die hier auf die Wortsprache bezogen ist).9 Kreidler erwähnt „die Moderation, die Videoaddition [und] die Partizipation der Kunstkritik“10 als probate Mittel, den konzeptuellen Aspekt eines Stückes zu verdeutlichen. Die klangliche Oberfläche, die bereits bei ‚herkömmlicher‘ Neuer Musik als Ausdruck einer ästhetischen Idee aufgefasst wird, steht hier also stärker im Dienst eines außermusikalischen Gehalts. So kann sie auch stilistisch variabel, „sowohl klassizistisch als auch modernistisch“ sein, solange sie „ein relevantes künstlerisches Konzept ästhetisch zur Präsenz“ bringt.11 Die Thesen Lehmanns und Kreidlers trafen bei ihrem Erscheinen auf fruchtbaren Boden und der Neue Konzeptualismus wurde und wird auch in den Folgejahren kontrovers diskutiert. Als Hauptkritiker trat anfangs der Komponist Claus-Steffen Mahnkopf in Erscheinung, der in erster Linie die Prognosen Lehmanns zur Digitalisierung der Neuen Musik zurückwies. An der Hinwendung zum Konzeptuellen bemängelte er zudem, dass „das Hören marginalisiert wird. […] Man hat den Eindruck, es komme einzig und allein auf das Konzept an.“12

5Kreidler, Johannes: Zum ‚Materialstand‘ der Gegenwartsmusik. In: Musik & Ästhetik 52 (2009), S. 24–37, hier S. 29. 6Vgl. Lehmann, Harry: Die Digitalisierung der Neuen Musik. In: Musik, Ästhetik, Digitalisierung – Eine Kontroverse. Hofheim 2010, S. 9–20. 7Lehmann, Harry: Avantgarde heute – Ein Theoriemodell der ästhetischen Moderne. In: Musik & Ästhetik 38 (2006), S. 5–41, hier S. 25. 8Kreidler: ‚Materialstand‘ der Gegenwartsmusik, 2009, S. 29. 9Lehmann: Die digitale Revolution, 2012, S. 114. 10Kreidler, Johannes: Zweite Antwort auf Claus-Steffen Mahnkopf. In: Musik, Ästhetik, Digitalisierung – Eine Kontroverse. Hofheim 2010, S. 90. 11Lehmann: Die digitale Revolution 2012, S. 94. 12Mahnkopf, Claus-Steffen: Zweite Antwort auf Johannes Kreidler. In: Musik, Ästhetik, Digitalisierung – Eine Kontroverse. Hofheim 2010, S. 112, [Hervorhebung im Original].

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Auf Mahnkopfs Spuren thematisiert Tobias Eduard Schick den ästhetischen Gehalt autonomer, „immanentistischer“,13 d.  h. selbstbezüglicher Musik. Wenn – so die mit Verweis auf Adorno bereits angedeutete Argumentation – die kompositorischen Entscheidungen von einer ästhetischen Idee geleitet werden, wird diese bei konsequenter Durchbildung erfahrbar. Dem Material wächst ein geistiger Gehalt zu, der im Material gründet, jedoch darüber hinausweist. Dass dieser Verweis kein eindeutiger, begrifflich festzumachender ist, wird hier nicht als Manko gesehen, sondern als erwünschte Öffnung, die alternative Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsformen in Gang setzen kann.14 Zudem ist die nicht eindeutige Referenzialität ein Wesenszug von Musik. Ihr „ästhetischer Eigenwert“,15 den sie mit anderen Kunstformen gemein hat, ist in einem historischen Prozess der Differenzierung und Autonomisierung gewachsen und bildet erst die Qualität aus, die sie zu einem Gegenmodell der Verhältnisse und des Faktischen macht. Diesen Eigenwert einer konkreten Botschaft oder eindeutigen Weltbezügen so weit unterzuordnen, dass er zum „bloßen Mittel zum Zweck“ verkäme, würde laut Schick jeglichen „aufklärerischen Impetus der Botschaft Lügen strafen“.16 Bei aller Kritik sieht Schick im Neuen Konzeptualismus dennoch „eine dringend nötige Irritation und Aufrüttelung der Neue-Musik-Szene“ mit großem „Fortschrittspotential“.17 Für diese Einschätzung spricht, dass die von der Bewegung eingeklagte Notwendigkeit einer verstärkten künstlerischen Auseinandersetzung mit unserer medialisierten und technologisierten Lebenswelt sowie der Öffnung gegenüber anderen Kunstformen inzwischen als selbstverständlich gelten darf. Die Kürze der vorliegenden Darstellung kann dem Diskurs nicht in der ihm eigenen Komplexität gerecht werden. Im Sinne des Neuen Konzeptualismus kann man fragen, warum eine konsequente Durchbildung nicht auch mit diversem, unterschiedlichen künstlerischen und medialen Bereichen entnommenem Material möglich sein sollte. Ebenso ist der Einsatz von Wortsprache weder eine Neuerung des Neuen Konzeptualismus noch führt sie zwingend zur restlosen, eindeutigen Erklärbarkeit eines Werks. Des Weiteren kann man anmerken, dass der ästhetische Gehalt autonomer und sogar dezidiert gesellschaftskritischer Neuer Musik des 20. Jahrhunderts nichts am Nischendasein der Szene geändert hat und somit andere Mittel als die bislang gebräuchlichen vonnöten sind. Hier kann allerdings auch die Gegenkritik ansetzen, mit der Frage, ob die Neue Musik durch die gehaltsästhetische Wende tatsächlich dabei ist, an gesellschaftlicher Relevanz zu gewinnen, oder ob die selbstreferenzielle, akademische Ausdifferenzierung nicht einfach in den Bereich des theoretischen Diskurses verschoben wird. Eine weitere Beobachtung der Entwicklung ist nötig, um Aussagen darüber machen zu können,

13Mahnkopf,

zitiert nach Schick, Tobias Eduard: Ästhetischer Gehalt zwischen autonomer Musik und einem neuen Konzeptualismus. In: Musik & Ästhetik 66 (2013), S. 47–65, hier S. 59. 14Vgl. ebd., S. 61 f. 15Ebd., S. 60. 16Ebd., S. 55. 17Ebd., S. 62.

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ob die Themen, die in den Stücken des Neuen Konzeptualismus aufgeworfen werden, eine breitere Rezeption erfahren und ob sie dies auf eine Weise tun, die dem künstlerischen und reflexiven Anspruch der Neuen Musik entspricht.

2 Trond Reinholdtsens Sonderweg Trond Reinholdtsens Ausführungen zum Stand der Neuen Musik machen deutlich, dass er die vom Neuen Konzeptualismus vertretene kritische Sicht teilt. Neue Musik sei „mostly occupied with delicate effects of timbre, subtleties of instrumentation, yet further minute explorations of extended playing techniques“.18 Damit liefert er Beispiele für eine überkommene Materialfixierung, denn: „The 20th century project of inventing ‚new material‘ is over. We don’t even believe in sound!“19 Deshalb sei „the genre of contemporary modernist music not [sic] longer able to contain the pressing issues that the composer eagerly wanted to express“.20 Schlimmer noch, die Szene sei bestimmt von einem „repressive [sic] bureaucratic, overly-academic, sneak-commercialized and conservative elitism“.21 Bei der Auseinandersetzung mit diesem unhaltbaren Zustand bot sich auch Reinholdtsen zuerst das konzeptuelle Denken und die Anwendung einer kritischdekonstruktivistischen Grundhaltung auf die ‚Institution‘ Neue Musik selbst an. In der Tradition Mauricio Kagels, eines Vertreters der ersten konzeptuellen Welle der Neuen Musik, komponierte er mit einem um Ideen und Konzepte erweiterten Materialbegriff. In diesen Werken rücken die zu kritisierenden Aspekte der Szene in den Fokus der Werke, wie beispielsweise das Solo-Konzert, das Machtverhältnis zwischen Komponist und Interpret oder die ökonomischen Zwänge des NeueMusik-Betriebs. Gewissermaßen führte Reinholdtsen damit die Art von Kritik fort, die zuvor ein Komponist wie Helmut Lachenmann mit seinen rein klanglichen Mitteln am Klassikbetrieb geübt hatte. Die Hoffnung, eine Veränderung dieser Verhältnisse zu erreichen, indem man sie künstlerisch dekonstruiert, erfüllte sich für Reinholdtsen jedoch nicht. Auch mit dem erweiterten Materialbegriff und eindeutigen inhaltlichen Referenzen blieben seine Werke für ihn ein „weak institutional criticism aiming to modify the system from the inside“22 und somit ohne erkennbare Auswirkungen. Zudem ist konzeptuelles Denken für ihn heute,

18Reinholdtsen,

Trond: ‚Das Norwegische Opr‘ – das Opernhaus des Trond Reinholdtsen [unveröffentlichtes Manuskript], deutsch erschienen unter demselben Titel in: Positionen 104 (2015a), S. 15–16. 19Reinholdtsen, Trond: Conceptual Art is a subcategory of Music [unveröffentlichtes Manuskript], deutsch erschienen als „Konzeptkunst ist eine Unterkategorie der Musik“. In: Musik-Texte 145 (2015b), S. 62–63. 20Reinholdtsen, Trond: From Demagogue, via narcissist, to the post-human condition [unveröffentlichtes Manuskript], 2017. 21Reinholdtsen: Das Norwegische Opr, 2015a. 22Ebd.

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wo visuelle Konzept-Kunst zu horrenden Preisen verkauft wird und jedes Geschäft sein eigenes (Marketing-)Konzept vorlegt, nicht mehr der Hort des kritischen Geistes, der es in den 1960er Jahren war. Am schwersten wiegt wohl aber ein persönlicher Aspekt, der seine Zeit als „‚music deconstructivist‘“23 beschließt: „In the end I had reached a position of artistic impotence. I was destroyed from within by critique.“24 Mit anderen Worten: Eine kritische Haltung, die keine äußere Veränderung hervorzubringen vermag, lähmt den Dauerkritisierenden mit ihrer Negativität. Somit kommt es bei Reinholdtsen nach dem Bruch mit der Ausdifferenzierung des Klangmaterials zum Bruch mit der gegenwärtigen Ausprägung des Konzeptualismus. Er kündigt die kritische, dekonstruktivistische Grundhaltung auf. Wie außergewöhnlich dieser Schritt ist, wird am im Kontext der Neuen Musik wahrhaft exotisch anmutenden Klang seiner Äußerungen deutlich: „What was needed instead was an AFFIRMATIVE ACTION, a gesture of LOVE AND FIDELITY.“25 Der ‚Reinholdtsen turn‘ Wortwahl und Emphase sind charakteristisch für Reinholdtsens Stil. Er scheut die großen Begriffe nicht, sondern zelebriert sie. Dies kann als Seitenhieb gegen eine auf Sachlichkeit bedachte akademische Kommunikationskultur, jedoch auch als selbstironische Überhöhung verstanden werden. Bereits das Etikett, das Reinholdtsen seinem weiteren Schaffen gibt, weist darauf hin. Er spricht vom „Reinholdtsen turn“,26 der 2009 mit der Gründung der Norwegian Opra (sic) bzw. Norwegischen Opr, einer von ihm im Alleingang initiierten neuen Art von Oper, eingeläutet wird. „From now on, I build my own institutions!“27 Da äußere Sachzwänge keine Rolle spielen sollen, entscheidet er sich für einen radikalen Dilettantismus, indem er seine damalige Osloer Wohnung zum Opernhaus erklärt und jegliche anfallende Arbeit (inklusive Organisation und Ausführung) selbst übernimmt. In seiner typischen ironischen Selbstüberhebung bezeichnet er das, was als verzweifelte Notlösung aufgefasst werden könnte, als „the Marxian dream come true: Total control over the means of production!“28 2015 kauft sich Reinholdtsen ein Haus in den schwedischen Wäldern und richtet seine Opr dort neu ein. Seither arbeitet er dort an einer Serie von Opernepisoden unbegrenzter Anzahl (aktuell liegen sechzehn Episoden vor), die ohne Publikum aufgezeichnet und dann ins Netz gestellt werden. Der Name der Serie, ø, ist zum einen das norwegische Wort für Insel, zum anderen das mathematische Null-Zeichen. Beides deutet auf Abgeschiedenheit und Abkehr hin. Die in der

23Ebd. 24Ebd. 25Ebd. 26Ebd. 27Ebd. 28Ebd.

[Hervorhebung im Original].

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Serie auftretenden Pappmachéfiguren bilden laut Reinholdtsen eine „politicalaesthetical-esoteric post-human community“, die sich auf „an absolute WorldChanging-Act“ vorbereitet.29 In der konkreten Umsetzung wird Reinholdtsen von Darstellern unterstützt, welche die Figuren auf Anweisung des Komponisten zur zuvor eingespielten Musik bewegen. Die Gesangspartien werden von Reinholdtsen eingesungen und meist stark transponiert. Anders als in den ersten Opr-Produktionen tritt er selbst nicht mehr in Erscheinung, er hält jedoch weiterhin alle Fäden in der Hand. Mit der Norwegischen Opr will Reinholdtsen „artistic freedom“30 erreichen, den Konzeptualismus transzendieren, „pure art“31 erschaffen und das „Gesamtkunstwerk“32 wiederbeleben. Vor großen Begriffen und den „big subjects“33 schreckt er nicht zurück. Vielmehr setzt er anrüchige Vokabeln wie total, absolute und pure gehäuft ein und benennt auch offen die erneute Selbstreferenzialität seines Projekts, wenn er von „inbreeding“34 und „semi-incestous centripetal gravity“35 spricht. Mit Lust an der Verletzung von Normen der Neuen Musik lässt er musikästhetische Ideale der Romantik aufleben – und unvermittelt auf marxistische Ideologie treffen. Die tief im kollektiven Bewusstsein der Neuen Musik verankerte düstere Kehrseite des utopischen Strebens romantischer Prägung wird von Reinholdtsen selbstironisch ausgestellt und in die Werke mit hineingenommen. Dies enthebt ihn nicht automatisch der Kritik, ermöglicht ihm aber, aller möglichen Einwände zum Trotz produktiv zu sein. Als jemand, der beim pflichtbewussten Rettungsversuch der Neuen Musik einen „art theoretical infarct“ erlitten hat, erlaubt er sich nun eine Haltung zum kritischen Diskurs, die es ihm ermöglicht, seine persönliche Utopie zu entwickeln.

3  Musik (2012) Das Stück Musik wurde 2012 vom ensemble asamisimasa im Rahmen der Donaueschinger Musiktage uraufgeführt. Weitere Uraufführungen von Johannes Kreidler und Stefan Prins machten die große Aktualität des Neuen Konzeptualismus in diesem Jahrgang deutlich. Musik ist nach der Gründung der Norwegischen Opr und vor deren Umzug nach Schweden und dem Beginn der ø-Werkreihe entstanden. Es ist ein Werk, das die Entwicklung von Reinholdtsens

29Reinholdtsen:

From Demagogue, via narcissist, to the post-human condition, 2017.

30Ebd. 31Reinholdtsen: 32Reinholdtsen:

Conceptual Art is a subcategory of Music, 2015b. Das Norwegische Opr, 2015a.

33Ebd. 34Ebd. 35Reinholdtsen:

From Demagogue, via narcissist, to the post-human condition, 2017.

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Schaffen im Hinblick auf die aktuelle Situation der Neuen Musik und der in diesem Bereich agierenden Musiker/innen thematisiert. Großform Die großformale Anlage des gut dreißigminütigen Stücks lässt sich in drei Hauptteile gliedern. Nach einem Vorspann werden im ersten Großteil Kompositionsverfahren der Neuen Musik in einer Art Schnelldurchlauf vorgeführt. Im zweiten Großteil, einer reinen Ansprache des composer on stage (s. u.), werden die im ersten Teil implizit angelegten Diskurse des Neuen Konzeptualismus expliziert. Diese Ansprache legt dar, was es bei der Krise der Neuen Musik zu überwinden gilt. Der dritte Großteil schließlich inszeniert diese Überwindung als Weg zur Freiheit, d. h. bei Reinholdtsen: zur Norwegischen Opr. Strategien Der Gesamteindruck des Stücks ist durch einige klar erkennbare Grundstrategien und Verfahrensweisen geprägt. Eine dieser Strategien ist das konstante Unterlaufen der Publikumserwartung, also des angenommenen oder zuvor etablierten Referenzrahmens.36 Dabei bedient sich Reinholdtsen wie in seinen Texten der starken Überspitzung und der Ironie, inklusive der Thematisierung von Eigenschaften oder vermeintlichen Schwächen des Stücks auf der Metaebene. Des Weiteren weist das Stück einen hohen Sprachanteil und eine starke Verwendung digitaler Medien auf (beides wird thematisiert), womit es sich deutlich dem Neuen Konzeptualismus zuordnen lässt. Davon unabhängig wird auf der Mesoebene stringent der Weg von der Krise der zeitgenössischen Musik zur Norwegischen Opr verfolgt. Er ist eine Art diskursives Leitmotiv, ein Narrativ, das die disparaten Einzelbausteine zusammenhält. Der composer on stage Reinholdtsen steht bei Musik mit auf der Bühne und spielt die Rolle des Komponisten, der sein Werk vermitteln möchte (in der Partitur und im Folgenden composer on stage genannt37). Dass die Rolle äußerst autobiografisch ist, Reinholdtsen sich also selbst spielt, ändert nichts an ihrem inszenatorischen Charakter. Dadurch ergibt sich ein Spannungsfeld zwischen Wirklichkeit, Performance und Theatralität, das bewusst ausgelotet wird. Im ersten Großteil übernimmt der composer on stage die Funktion, das Stück durch Kommentare zu vermitteln. Er gibt Anweisungen, worauf beim Hören geachtet werden soll. Damit wird auf ironische Weise problematisiert, dass die Hörer/in Neuer

36Natürlich

wird diese Strategie, sobald sie erkannt ist, zur neuen Erwartungshaltung des Publikums. Es beginnt sich zu fragen, auf welche Weise das gerade Etablierte anschließend unterlaufen werden wird. Abendfüllende Spielfilme mit dieser Strategie (z. B. Naked gun) bekommen dadurch in der Regel auch etwas Ermüdendes. 37Vgl. Reinholdtsen, Trond: Musik (2012). Partitur einsehbar auf http://www.thenorwegianopra. no/score3.pdf (09.03.2020).

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Musik bei jedem Stück neu für sich herausfinden muss, womit sich die kompositorische Arbeit auseinandersetzt, da ein konventioneller Zusammenhang in der Regel abgelehnt und vermieden wird. Reinholdtsen tritt also in der Rolle des bestimmenden Komponisten auf, der – bei einem Stück, das als Neue Musik den Anspruch erhebt, kein starres Schema zu bedienen – paradoxerweise sicherstellt, dass sein Werk ‚richtig‘ gehört und verstanden wird.38 Entsprechend beschreibt Reinholdtsen in seinen Texten den composer on stage als „paternal leader“, der mit seinem phallisch konnotierten Mikrofon „control and leadership“ garantiert.39 Seine räumliche Position ist vorerst zurückhaltend, nämlich hinter den Musikern und einem Techniktisch. Dies kann dadurch erklärt werden, dass es eine Steigerung zum zweiten Großteil hin ermöglicht. Dort wird er auch seine Rolle als paternalistischer Führer verlieren bzw. hinter sich lassen. Der erste Großteil Wie bereits erwähnt, stellt der erste Großteil eine Art Schnelldurchlauf durch die Welt der Neuen Musik dar. Abgesehen von Phasen mit Übergangs- oder Trennungsfunktion lassen sich die Teile einzelnen Bereichen zuordnen, die zumeist durch die Höranweisungen oder Kommentare kenntlich gemacht werden. (Ausnahmen sind kursiviert angegeben.) Diese Bereiche sind: 1. Metrik/Rhythmus 2. Motivik 3. Tonhöhen 4. Form 5. Klang, Spieltechnik 6. äußere Rahmenbedingungen 7. Einsatz von Elektronik 8. Licht 9. Improvisation 10. MIDI-Orchester versus Musiker/in 11. Stimme; Technik versus menschliche Kraftanstrengung Diese Abfolge lässt erkennen, dass zu Beginn (1.–5.) musikalische Parameter oder Strukturen thematisiert werden, die in traditioneller und Neuer Musik kompositorisch verarbeitet werden. Sie beziehen sich also auf die konkrete kompositorische Arbeit am musikalischen Material. Danach werden auch die äußeren Rahmenbedingungen, Technologie, ein nicht musikalischer Bereich (das visuelle Medium Licht) und schließlich (10. und 11.) ein Diskurs der Neue-

38Bei

der ersten Höranweisung wird die Ironie gesteigert durch die Bitte, sich auf das musikimmanente Geschehen zu konzentrieren und die Semantik außen vor zu lassen. Hier widerspricht das Gesagte der Handlung, da Reinholdtsen durch seine Ansagen permanent fremdreferenzielle Bezüge herstellt. 39Reinholdtsen: From Demagogue, via narcissist, to the post-human condition, 2017.

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Musik-Szene thematisiert. Mit Letzterem wird ein Übergang zum zweiten Großteil geschaffen. In den Abschnitten 1.–5. des ersten Großteils wird die Arbeit am musikalischen Material im doppelten Sinne ‚vorgeführt‘. Sie wird inszeniert, kommentiert und dadurch ironisiert. Gegenstand dieser Ironisierung sind teilweise auch konzeptuelle Elemente, die bereits im 20. Jahrhundert Verwendung fanden. Hier zeigt sich, dass eine eindeutige Trennung von ‚alter‘ und ‚neuer‘ Neuer Musik nicht möglich ist. Die Ironisierungsstrategien bestehen dennoch in weiteren außermusikalischen und/oder konzeptuellen Elementen: in sprachlichen Kommentaren und Anweisungen, in einer Hervorhebung der körperlichen Ausführung, in musikalischen Stilbrüchen durch tonale Musik und im Einsatz von Medien (z. B. Lichtveränderung und Signaltöne). Als Grundaussage lässt sich ausmachen, dass die Arbeit am musikalischen Material erschöpft ist. Die Vorstellung, durch sie noch etwas Bedeutsames hervorbringen zu können, ist illusionär. Somit lässt sich der erste Großteil sowohl in seiner Aussage als auch in den verwendeten Mitteln klar dem Neuen Konzeptualismus zuordnen. Der zweite Großteil Was sich im ersten Großteil aus dem Zusammenspiel von Musik und Kommentierung als Botschaft herausfiltern lässt, wird im zweiten Großteil (Video-Mitschnitt, ab 17:10) explizit zur Sprache gebracht.40 Dies ist wortwörtlich zu verstehen, denn der Teil besteht aus einem PowerPoint-Vortrag des composer on stage. Hier wird in der großformalen Anlage eine Erwartungshaltung des Publikums unterlaufen, nämlich, dass überhaupt Musik zu hören ist. Außer dem Sprachvortrag sind nur billig klingende Soundsignal-Effekte zur Illustration der PowerPoint-Präsentation zu hören, die Musiker dagegen sind ab sofort unbeschäftigt und verlassen die Bühne. Die Rolle des composer on stage ändert sich, er ist nun der Hauptakteur. Im Laufe des Vortrags steigert er sich in eine Aufregung hinein, die sich in schnellerem, lauterem, höherem Sprechen und in starkem Gestikulieren oder Aufstampfen mit dem Fuß äußert. Reinholdtsen verkörpert die Rolle des am Zustand der zeitgenössischen Musik verzweifelnden Komponisten. Diese Rolle entspricht seinen Texten zufolge seiner tatsächlichen Lage, wird aber erneut durch Überspitzung ironisiert und verzerrt. Die Inhalte des Vortrags werden mit einiger Redundanz und steigender Emphase vorgetragen. Zusammengefasst geht es um diese Themen: 1. Technik versus Mensch 2. freies Hören versus bewusstes/strukturelles Hören 3. neues dialektisches Formdenken 4. klare Wortsprache versus unklare Tonsprache 5. Abhängigkeit des Komponisten von Musikern und Musikbetrieb

40Im

Folgenden werden als Belege die Zeitangaben des verwendeten Video-Mitschnitts angegeben, https://www.youtube.com/watch?v=4rBc9ROLJr4 (14.02.2020).

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6. Erschöpfung des Materials 7. Theorie und Abstraktion 8. ‚weak change‘ versus ‚true change‘ Sie können mehr oder weniger direkt den Diskursen des Neuen Konzeptualismus zugeordnet werden, wodurch der Formteil gewissermaßen zu einer Lecture Performance über diese Strömung und der composer on stage zum Dozenten wird. Durch die Art der Ausgestaltung und eine Reihe ambivalenter, interpretationsbedürftiger Äußerungen bleibt der Kunstcharakter jedoch gewahrt. Einen Vortrag überhaupt zum Teil eines Musikstücks zu machen, ist dabei ein extremes Beispiel für die Semantisierung von Musik im Sinne des Neuen Konzeptualismus. Sie wird im vierten Punkt der Ausführungen auf überspitzte Weise selbst thematisiert. Die geforderte Öffnung für fremdreferenzielles Material wird hier vom composer on stage so weit getrieben, dass die in ihrer Referenz unklare Tonsprache vollkommen durch die Wortsprache ersetzt werden soll, um „klare“ und „reine“ Aussagen zu erlangen (vgl. 19:17). Damit wäre nicht nur jeglicher Rätselcharakter der Kunstform, sondern die Kunstform selbst über Bord geworfen. Ein performativer Kniff auf der Metaebene besteht dabei darin, dass Reinholdtsen während seiner Forderung gerade solch ein Musikstück präsentiert. Der in Reinholdtsens Texten formulierte Wunsch, den Dekonstruktivismus zu überwinden, wird im zweiten Großteil aufgegriffen. Was damit gemeint ist, wird allerdings nicht restlos verständlich. Klar formuliert wird das angestrebte Ziel – „true change“ (21:53) – und dass die „‚weak‘ changes“ (ab 22:05) der musikalischen Materialbehandlung nicht ausreichend seien, zu diesem Ziel zu gelangen. Weniger deutlich ist, worin der zu bevorzugende Weg bestehen soll. Denn was in dem Vortrag als Rettung vor den weak changes vorgeschlagen wird, sind „theory and hardcore abstraction“ (21:20), die zu einer Meta-Musik ohne Klang führen sollen. Dies klingt nach einer weiteren Zuspitzung von Positionen des Neuen Konzeptualismus. Aus Reinholdtsens Texten ist jedoch ersichtlich, dass er den Konzeptualismus mit seiner Theorielastigkeit als Teil der dekonstruktivistischen Kritik empfindet, die ihn als Künstler zerstört. Deshalb ist nicht ganz klar, worauf sich der Dozent bzw. composer on stage bezieht, wenn er vorschlägt, „so schlecht decontructivist musik zu machen bis zum Die Gehalttästhetische Ende“41 (20:25). Mit dieser Musik könnte sowohl die NeueMusik-Tradition als auch der Neue Konzeptualismus gemeint sein. In letzterem Fall könnte man Musik selbst wieder als Beispiel für das gerade Geforderte – nämlich schlechte dekonstruktivistische Musik, die sich selbst abschaffen wird – ansehen. Für diese Deutung spräche der Wortwitz, der die gehaltsästhetische Wende des Neuen Konzeptualismus für bald beendet erklärt. Zudem ist die Deutung denkbar, dass die Hinwendung zur Theorie den letzten Versuch des

41Alle

wörtlichen Zitate aus der Präsentation werden in der originalen Schreibweise angegeben. Die Tippfehler sind bei Reinholdtsen ein bewusst eingesetztes Gestaltungsmittel.

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composer on stage darstellt, die Neue-Musik-Welt zu retten, bevor er sich von ihr abwendet. Die zunehmende Bedeutung des composer on stage und damit der performativen Elemente erreicht ihren Höhepunkt in der Überleitung vom zweiten zum dritten Großteil (ab 23:47). Hier tritt der composer on stage hinter seinem Arbeitstisch hervor und stellt sich vorne an den Bühnenrand. Er ist nun ganz zu sehen und spricht ohne Mikrofon. Dies verstärkt die Körperlichkeit seiner Performance. Weiter hervorgehoben wird sie dadurch, dass er umherspringt, eine Selbststrangulierung mit seiner Krawatte andeutet, sich in die Hose greift und von dort eine kotähnliche Substanz herausholt, mit der er sein weißes Hemd und sein Gesicht beschmiert. Dabei ist kein Realismus angestrebt. Zum einen ist eine irritierende Wirkung auch ohne ihn gegeben, vor allem aber ist diese Performance ein Beispiel für das, was Reinholdtsen zugleich in seiner Ansprache thematisiert: Der Künstler müsse dem Publikum „Unterhaltung“ bieten (vgl. 24:11). Um das zu tun, demütigt er sich; er tut alles, um Aufmerksamkeit zu erlangen. In dieser ‚Szene‘ wird der zuvor bereits berührte Aspekt der Abhängigkeit der Musiker/in von Publikum und Betrieb hervorgehoben. Sich dieser Abhängigkeit zu fügen, kann bis zur Selbsterniedrigung führen. Die konkrete Darstellung dieses Befunds ist ambivalent. Die vorgeführte Unterhaltung ist billig, setzt bewusst auf plumpe Effekte und ist zudem laienhaft ausgeführt. Damit ist ihr die Kritik an dem Versuch zu unterhalten eingeschrieben, wiederum in Form einer Übertreibung. Dennoch sorgt die verstärkte Performativität auch für eine verstärkte Publikumsreaktion, so dass Reinholdtsen trotz der impliziten Kritik an den verwendeten Mitteln von ihnen profitiert. Dessen ungeachtet wirkt die Aktion des composer on stage resigniert. Der an die Komponist/in gestellte Anspruch, gesellschaftlich relevante Werke hervorzubringen, wird durch den Anspruch, dabei auch noch unterhaltend zu sein, endgültig in den Bereich des Unmöglichen gerückt. Egal ob man die Unterhaltung als Teil oder als Gegenentwurf zum akademisierten Neue-Musik-Betrieb versteht, sie bietet keinen Ausweg aus der Krise, da sie an Forderungen von außen hängt und eine Eingliederung in die Gesetze des kapitalistischen Marktes fordert. Somit ist der composer on stage, nachdem er dieses Mittel gewählt hat, erniedrigt und am Ende. Der erwünschte true change ist ihm in der Aufführungssituation weiterhin verwehrt geblieben. Also verlässt er die Bühne (25:32). Der dritte Großteil Mit dieser Aktion, die sowohl den performativen Höhepunkt als auch den Tiefpunkt im Narrativ um den composer on stage darstellt, endet das Live-Geschehen auf der Bühne, nicht jedoch das Stück. Alles Weitere (ab 25:46) spielt sich per Video-Projektion ab. Dies ist der zweite Bruch in der Großform des Stücks, der den Beginn des dritten Großteils markiert. Auf der Bühne wurde die Krise der zeitgenössischen Musik zur Schau gestellt. Was abseits von ihr nun visioniert wird, ist ihre Überwindung. In einer absurden Videosequenz löst sich der zum Freiheitskämpfer Florestan (aus Beethovens Oper Fidelio) mutierte composer on stage von den Sachzwängen

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der Neue-Musik-Branche und errichtet sein eigenes Opernhaus. Dilettantisch gebastelte „Insekten und Waldvögel“ beobachten den sich befreienden Florestan und bezeichnen das Geschehen in Anlehnung an den frühen, Wagner verehrenden Nietzsche als „Geburt der OPR durch die Krise der zeitgenössischen Musik“ (ab 28:56). Der gewandelte composer on stage ist in der Lage, von der selbstzersetzenden Dekonstruktion in eine neue Positivität überzugehen: „Dies ist nicht Institutionskritik, sondern Institutionskonstruktion!“ (29:05). Für die das Werk beschließende Gründungsfeier der Norwegischen Opr greift Reinholdtsen weiterhin tief ins Arsenal der abendländischen Musik- und Geschichtstradition. Kanonenschüsse begleiten einen von allegorischen Pappmachéfiguren – der „Schöpfungskraft“ und der „Unendlichkeit“ – angestimmten Jubelgesang, der das eine Wort „Freiheit“ wieder und wieder erschallen lässt (ab 29:30). Wie in seinen Texten verbindet Reinholdtsen seine romantisch-naiv anmutende Utopie kontrastierend mit den Idealen des Kommunismus und lässt Karl Marx in absurder Puppengestalt neben den allegorischen Figuren auftreten. Auch Jean-Paul Sartre bekommt einen Gastauftritt. Reinholdtsen belässt es nicht dabei, sich von bestimmten geistesgeschichtlichen Strömungen beeinflussen zu lassen, er stellt sie weithin sichtbar aus. Dabei weiß er sehr wohl, dass seine Namedropping-Technik die Absicht verfolgt, etwas von der Größe der zitierten Gestalten auf sich selbst scheinen zu lassen. Deshalb übersteigert er sie ins Maßlose, um sie sowohl verwenden als auch ironisieren zu können. Auch das Heroische und Pathetische, dem Reinholdtsen offenbar zugeneigt ist, wird nie in Reinform, sondern immer gebrochen präsentiert. Dadurch wirkt es auf sympathische Weise zurückgenommen und von Bedeutungsschwere befreit, ohne seine Grundaussage ganz zu verlieren. Dies zeigt sich deutlich im Abschluss des Werks. Ein „mystischer Mann“ fängt den zuvor ausgearteten Jubel auf und appelliert zu ruhigen, sphärischen Klängen an „die Ideale“ (ab 32:30). Die zahlreichen ironisierenden Elemente dabei sind die Benennung der Gestalt, ihre Erscheinung, ihr erhobener Zeigefinger und die hochtransponierte Stimme, des Weiteren die tonale Begleitmusik im hohen Register mit filmmusikreifer Schlusssteigerung in den Pauken.42 Dennoch ist dem ‚mystischen Mann‘ das Schlusswort überlassen, das sich dem Publikum trotz der vermeintlichen Überkommenheit der verwendeten Mittel nachdrücklich einprägt: Bei aller akademischen Bildung und dekonstruktivistischen Denkschulung, und auch bei allem Bemühen um die Karriere – „Vergessen Sie nicht die Ideale“ (33:03).

42Reinholdtsen

spielt den mystischen Mann erst in einem Pappmaché-Kostüm mit Rüsseln, dann legt er es ab und hält stattdessen ein Foto von Conlon Nancarrow vor sein Gesicht. Nancarrow ist der Prototyp des Eremiten in der Neuen Musik, da er sich in aller Zurückgezogenheit seinen Player-Piano-Studien widmete. Dass Reinholdtsen ihn hier als Hüter der Ideale darstellt und 2014 mit der ‚Norwegischen Opr‘ an einen abgelegenen ländlichen Ort umzieht, macht deutlich, dass Reinholdtsen die Abgeschiedenheit vom Betrieb als Voraussetzung für künstlerische Entfaltung ansieht.

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Fazit Als Fazit kann festgehalten werden, dass Musik eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Krise der Neuen Musik und der damit einhergehenden prekären Lage der Komponist/in zeitgenössischer Musik darstellt. Das zugrundeliegende Narrativ ist ein aus der Literaturgeschichte bekannter Topos, nämlich der Weg des Künstlers aus der Krise hin zu neuer Schaffenskraft. Bei der Darstellung dieser Befreiungsgeschichte kommt außermusikalischem Material mit klarer Referenzialität im Allgemeinen sowie dem composer on stage und damit theatralen und performativen Elementen im Besonderen ein großes Gewicht zu. Damit lässt sich Musik klar dem Neuen Konzeptualismus zuordnen. Die Referenzpunkte sind zahlreich und erstrecken sich auf gut zweihundert Jahre Musik- und Geistesgeschichte. Zum Teil sind die Verweise versteckt, der direkt aufs Hauptthema zielende aktuelle musikästhetische Diskurs wird jedoch explizit und ausführlich angesprochen. In einer Art Selbstbetrachtung thematisiert das Stück (bzw. der composer on stage, der zugleich Vermittler und Hauptfigur ist) hier sein eigenes Konzept und benennt seine Zielsetzung. Diese wird im Folgenden erst auf der Bühne verfehlt und anschließend abseits der Bühne in einem utopischen Traumszenario verwirklicht. Die klangliche Oberfläche des Stücks ist keinesfalls beliebig, allerdings in hohem Maße funktional. Die Arbeit am musikalischen Material im Sinne der ‚traditionellen Neuen Musik‘ wird nur so weit durchgeführt, wie es ihrer ‚Vorführung‘ dient. Die Beurteilung der kompositorischen Arbeit muss an einer anderen Stelle ansetzen und das Material in seiner Gänze (also inklusive Text/ Sprache, Performance, Medieneinsatz, musikalischer Zitate oder Stilkopien, Requisiten und Bühnenbild) in den Blick nehmen. Dann zeigt sich, dass die Verwendung der Mittel und die formale Entwicklung konsequent auf das Grundthema des Stücks und die Balance zwischen Bedeutungszuschreibung und Bedeutungsbrechung ausgerichtet sind. Somit verfängt der naheliegende Vorwurf der Beliebigkeit angesichts der Materialschlacht nicht, vielmehr überrascht die traditionelle Zielsetzung, die sich einem Narrativ und der Ausgewogenheit der Darstellung verpflichtet.

4 Schluss Reinholdtsens Texte und sein Stück Musik zeigen seine Auffassung, dass der hohe Anspruch der Neuen Musik, gesellschaftsverändernd zu wirken, sich nicht signifikant in der Wirklichkeit niederschlägt. Mittel und Ziele des Komponierens müssen deshalb neu überdacht werden. Der Ansatz des Neuen Konzeptualismus verspricht eine erhöhte gesellschaftliche Relevanz durch eine deutlichere Formulierung seiner Gehalte. Die mit Konzept-Kunst allgemein verbundene institutionskritische Haltung belässt die Komponist/in jedoch in der Pflicht, sich an der Aufdeckung von Mängeln abzuarbeiten. Diese negative bzw. negierende Position ist für Reinholdtsen ein Hemmschuh für Kreativität und eine Kunst, die durch ihre ästhetische Kraft tatsächlich etwas bewegen kann. So entschließt er

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sich zu einem individuellen Sonderweg, der ihm künstlerische Freiheit ermöglicht. Inwieweit er sich hier vom Neuen Konzeptualismus abwendet, bedürfte einer genaueren Untersuchung. Die Norwegische Opr kann als konzeptuelles Projekt aufgefasst werden, da sie aus der umfassenden Reflexion von ästhetischen Diskursen entstanden ist und diese auch aufgreift. Was sie ablegt, ist die kritische Grundhaltung – wenngleich nach einem Isolationsprozess, den man für sich genommen als Kritik an den herrschenden Verhältnissen im Musikbetrieb interpretieren kann. In ihrer konkreten Ausformung ist Reinholdtsens Kunst höchst subjektiv, sowohl in den Werken mit ihrer Affinität zu Oper, Pathos und absurdem Humor als auch im Rückzug des Komponisten in die Einsiedelei. Insofern scheint sie sich der Gesellschaft inzwischen eher zu entziehen als sie in sich aufzunehmen. Zugleich ist Reinholdtsens Opern-Utopie jedoch entwaffnend unkonventionell, kreativ und frisch. Im Aufeinandertreffen von Absurdität und Pathos, von Romantik und Marxismus übersteigt sie die Beschränkungen dieser Bestandteile und zelebriert ihre Andersartigkeit. So gibt sie Impulse, Kunst und Gesellschaft – frei sowohl von Ideologie als auch von zwanghafter Ideologiekritik – neu zu denken.

Literatur Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1973. Kreidler, Johannes: Zum ‚Materialstand‘ der Gegenwartsmusik. In: Musik & Ästhetik 52 (2009), S. 24–37. Kreidler, Johannes: Zweite Antwort auf Claus-Steffen Mahnkopf. In: Musik, Ästhetik, Digitalisierung – Eine Kontroverse. Hofheim 2010. Lehmann, Harry: Avantgarde heute – Ein Theoriemodell der ästhetischen Moderne. In: Musik & Ästhetik 38 (2006), S. 5–41. Lehmann, Harry: Die Digitalisierung der Neuen Musik. In: Musik, Ästhetik, Digitalisierung – Eine Kontroverse. Hofheim 2010, S. 9–20. Lehmann, Harry: Die digitale Revolution der Musik – Eine Musikphilosophie. Mainz 2012. Mahnkopf, Claus-Steffen: Zweite Antwort auf Johannes Kreidler. In: Musik, Ästhetik, Digitalisierung – Eine Kontroverse. Hofheim 2010. Reinholdtsen, Trond: Musik (2012). Partitur einsehbar auf https://www.thenorwegianopra.no/ score3.pdf (09.03.2020). Reinholdtsen, Trond: ‚Das Norwegische Opr‘ – das Opernhaus des Trond Reinholdtsen [unveröffentlichtes Manuskript], deutsch erschienen unter demselben Titel in: Positionen 104 (2015a), S. 15–16. Reinholdtsen, Trond: Conceptual Art is a subcategory of Music [unveröffentlichtes Manuskript], deutsch erschienen als „Konzeptkunst ist eine Unterkategorie der Musik“. In: Musik-Texte 145 (2015b), S. 62–63. Reinholdtsen, Trond: From Demagogue, via narcissist, to the post-human condition [unveröffentlichtes Manuskript], 2017. Schick, Tobias Eduard: Ästhetischer Gehalt zwischen autonomer Musik und einem neuen Konzeptualismus. In: Musik & Ästhetik 66 (2013), S. 47–65.

To Live Inside the Law Aesthetic Practice as Paralegal Activism Sven Lütticken

Today, the suspension of fundamental rights and the declaration of a state of emergency is almost routine in those Western states that regularly praise themselves as beacons of democracy and human rights. In Britain, children of the “Windrush generation” (post-war migrants from the Caribbean) find that they have lost their “settled” status, and risk being deported to countries they may never have set foot in. In Germany, the government decreed in 2018 that immigrants entering the country via so-called “transit centres” are not on German ground, according to a legal fiction (the Fiktion der Nichteinreise), thus denying them the right to apply for asylum.1 These can be seen as extreme cases of a more diffuse state of emergency that governs in the name of law, and through law, to keep hierarchies and privileges from the colonial era in place. The juridical apparatus works overtime: abolition of the law takes place through the proliferation of laws, as the Invisible Committee has noted: “As paradoxical as this assertion may appear, we’re living in the time of abolition of the Law. The metastatic proliferation of laws is just one aspect of this abolition.”2

1Taylor, Diane: UK removed legal protection for Windrush immigrants in 2014. In: The Guardian, 16 April 2018, https://www.theguardian.com/uk-news/2018/apr/16/immigration-lawkey-clause-protecting-windrush-immigrants-removed-in-2014; Bensch, Karin: “Transitzentren” – kein rechtliches Niemandsland, Deutschlandfunk, 4 July 2018, https://www.deutschlandfunk.de/ fiktion-der-nichteinreise-transitzentren-kein-rechtliches.1773.de.html?dram:article_id=421988. 2Invisible Committee: Now, trans. Robert Hurley. South Pasadena: Semiotext[e], 2017, p. 36.

S. Lütticken (*)  Faculty of Humanities, Vrije Universiteit Amsterdam, Amsterdam, Netherlands E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Eusterschulte et al. (Hrsg.), Funktionen der Künste, Ästhetiken X.0 – Zeitgenössische Konturen ästhetischen Denkens, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04927-8_9

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In his lectures on sovereignty and power, Foucault dryly notes that “in the West, right is the right of the royal command.”3 While aiming to redefine power as something that is passed down to atomized subjects or citizens, in a sovereign chain of hierarchical command, rather than investigating it as something that “circulates,” Foucault largely bypasses the question of what happens when sovereignty is redefined as popular sovereignty, as with the American and French Revolutions, and when the separation of powers is introduced. The judiciary may have its relative independence vis-à-vis the legislative and the executive. But the entire edifice of the law is based on property, and on the property-owning person/ citizen—with artificial persons such as corporations increasingly acting as the real subject of the law, both in the sense that they are transnational sovereigns which can get elected representatives to pass legislation in their interest, and in the sense that these laws are then applied to them and to their human CEOs. Today’s neofascist backlash marks the continuation of neoliberalism by other means. The “return to order” may involve protectionist measures such as tariffs, but the plutocracy’s hold on public policy is only strengthened, as numerous tax cuts show.“Protectionism” also takes the form of an unceasing series of attacks on migrants and minorities. Some people are less than a full person. In this situation, we can observe that many liberal Americans, for instance, have come to see the judiciary as a bulwark against Trump. While “Robert Mueller will save us” fantasies were always naive, there are good reasons for engaging with rather than abandoning the law and its apparatus. Perhaps “[calling] for Justice in the face of this world is to ask a monster to babysit your children,” as the Invisible Committee puts it, but this monster itself is clearly in need of babysitters.4 Consequently, we witness a proliferation of activism that may be called paralegal: a set of “illegitimate” interventions that seek to use the forms and protocols of the legal system against its more monstrous manifestations. Some of these practices emerge from the context of artistic practice and constitute an aesthetic engagement with the juridical production of visibilities and invisibilities, with hierarchies and exclusions, with degrees of personhood and forms of property.

1 Autonomy and Transgression The relationship between modern art and the law is often, and not without reason, seen in antagonistic terms. Within the social division of labour that characterizes modern society, the different fields of human activity drift apart.5 Sociologists and philosophers from Weber to Habermas and Bourdieu have stressed the

3Foucault,

Michel: “Society Must Be Defended”: Lectures at the Collège de France, 1975–1976, trans. David Macey. New York: Picador, 2003, p. 25. 4Invisible Committee: Now, p. 38. 5The pioneering study on the division of labour is Durkheim, Émile: De la division du travail social. Paris: Félix Alcan, 1893.

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autonomization of “the legal, political, religious, artistic or philosophic” components of what Marx called the ideological superstructure of society.6 Weber argued that in the process of modern rationalization, several distinct “valuespheres” emerge, which he identified as religion, the economy, politics, aesthetics, the erotic and the intellectual sphere.7 Reworking and reducing this list, Habermas would later claim that Weber “characterized cultural modernity as the separation of the substantive reason expressed in religion and metaphysics into three autonomous spheres. They are: science, morality and art”.8 Relative though art’s autonomy always was, the habitus of certain bohemian avant-garde was at odds with dominant norms and values and with the laws that enshrine them. Certain nineteenth century aesthetes and decadents flaunted the mores of bourgeois society: from Gautier and Baudelaire to Wilde and Huysmans, the doctrine of art for art’s sake not so much enshrined art in its “area of competence,” as Greenbergian formalism would later have it, as it put art at loggerheads with dominant forms of morality and their legal enforcement.9 It is only in the 1830s and 1840s that the phrase “autonomy of art” is found with any regularity. Heinrich Heine is one of its pioneers. In 1837, in his Letters on the French Stage, he noted that Victor Hugo was under attack from all political quarters, including the Saint-Simonians, who “regard art as a priesthood, and require that every work of the poet, the painter, the sculptor, or musician shall in itself bear witness to its higher consecration and set forth its holy mission, which is the making happy and beautiful of the human race. The works of Victor Hugo indicate no such moral standard, and they sin against all the noble but erroneous laws of the new church. I call them erroneous, because, as you know, I am for the autonomy of art, which should be the handmaid of neither religion nor politics, for it is in itself its own aim, like the world itself.”10 Having experienced the

6Marx, Karl: “Preface” to A Contribution to the Critique of Political Economy (1859), https:// www.marxists.org/archive/marx/works/1859/critique-pol-economy/preface.htm. 7The fullest discussion of Weber’s value-spheres is in “Religious Rejections of the World and Their Rejections” (1915). In: Max Weber: Essays in Sociology, trans./ed. by H. H. Gerth and C. Wright Mills. New York: Oxford University Press, 1946, pp. 323–359. 8Habermas, Jürgen: Modernity – An Incomplete Project (1980). In: Hal Foster (Ed.), The AntiAesthetic. Port Townsend, WA: 1983, p. 9. Intriguingly, Habermas’s triad mirrors that posited by Lukács in Die Seele und die Formen (1911), and quoted by Adorno in his “Der Essay als Form” (1954–1958): „Die Form des Essays hat bis jetzt noch immer nicht den Weg des Selbständigwerdens zurückgelegt, den ihre Schwester, die Dichtung, schon längst durchlaufen hat: den der Entwicklung aus einer primitiven undifferenzierten Einheit mit Wissenschaft, Moral und Kunst.“ See Adorno, Theodor W.: Der Essay als Form. In: Noten zur Literatur. Gesammelte Schriften 11, ed. by Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974, p. 9. 9Greenberg, Clement: Modernist Painting (1960). In: The Collected Essays and Criticism 4: Modernism with a Vengeance, 1957–1969, ed. by John O’Brian. Chicago/London: University of Chicago Press, 1993, p. 85. 10Heine, Heinrich: Letters on the French Stage (1831). In: The Salon, and Some Letters on the French Stage (I), Works Vol. 7, trans. Charles Godfrey Leland. New York: Croscup and Sterling, s. d., pp. 205–206.

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censorship of the reactionary German states of the post-Napoleonic era, Heine was equally suspicious of progressive attempts to instrumentalize the arts. Though he agreed to have his polemic poems about the King of Bavaria reprinted in Karl Marx and Arnold Ruge’s Deutsch-Französische Jahrbücher, Heine insisted that art should not be the servant of any particular extraneous cause.11 In The Romantic School (1835), Heine mocked a certain Goethean conception of the autonomous work of art and professed his preference for Schiller’s focus on the aesthetic act. Like a whitewashed Greek statue, the Goethean artwork must appear to inhabit a sphere of its own: “Starting with this idea, the Goetheans viewed art as a separate, independent world, which they would rank so high, that all the changing and changeable doings of mankind, their religions and systems of morality, should surge far below it. I cannot unconditionally endorse this view; but the Goetheans were led so far astray by it as to proclaim art in and of itself as the highest good. Thus they were induced to hold themselves aloof from the claims of the world of reality, which, after all, is entitled to precedence.”12 In this sense, Schiller was Goethe’s dialectical counterpart: he wanted to transform life and society. Goethe could never have written the Letters on the Aesthetic Education of Mankind. Appalled by the Schlegelian romantics‘ reactionary neo-Catholicism and Deutschtümelei, Heine recognized in Schiller’s work a more felicitous attempt to overcome the limits of art’s relative autonomy, to make art beget action. Meanwhile, Goethe’s work remained admirable but also dead in its splendid isolation from life: The example of the master misled the youth, and there arose in Germany that literary epoch which I once designated as the ‘art period,‘ and which, as I then showed, had a most disastrous influence on the political development of the German people. At the same time, I by no means deny the intrinsic worth of the Goethean masterpieces. They adorn our beloved fatherland just as beautiful statues embellish a garden; but they are only statues after all. One may fall in love with them, but they are barren. Goethe’s poems do not, like Schiller’s, beget deeds. Deeds are the offspring of words; but Goethe’s pretty words are childless.13

This prescient autopsy of absolutized artistic autonomy notwithstanding, Heine’s justified concerns over political censorship and repression soon led him to pronounce the autonomy of art in the starkest terms. One example can be found in a 1838 letter to Karl Gutzkow, in which he defended his poems against the charge of immorality: “The autonomy of art is what is at stake here, not the moral needs of a respectable married citizen of a corner of Germany. My motto remains: Art is the purpose of art, just as love is the purpose of love, and even life

11Only

a single issue of the Jahrbücher was ever published, in 1844. Heinrich: The Romantic School, trans. S. L. Fleishman. New York: Henry Holt, 1882, pp. 55–56. Leland’s translation in the aforementioned Works (Vol. 10, pp. 292–293) is inferior by far. 13Heine: The Romantic School, 1882, pp. 59–60. 12Heine,

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that of life itself.”14 In France, Heinian overtones can be discerned in Théophile Gautier’s l’art pour l’art aestheticism, and particularly in his defence of Baudelaire and Les Fleurs du mal in 1862: “Baudelaire’s book had deeply disturbed the kind of critic who, failing to understand the autonomy of art, demands that the poet instruct, demonstrate, moralize, and is useful. He has been called ‘immoral’—a big and vulgar word redolent of Jesuitism, ignorance and bad faith.”15 And again, in 1868: “With these ideas one can well understand that Baudelaire believed in the absolute self-government of Art [l’autonomie absolue de l’art], and that he would not admit that poetry should have any end outside itself, or any mission to fulfil other than that of exciting in the soul of the reader the sensation of supreme beauty—beauty in the absolute sense of the term. To this sensation he liked to add a certain effect of surprise, astonishment, and rarity.”16 Les fleurs du mal, of course, needed defending, Baudelaire having been prosecuted and convicting for offending les bonnes moeurs. It may appear that little changed during the twentieth century, were it not for the fact that the historical avant-garde and neo-avant-garde often went for outand-out provocations of the forces of law and order, even if the participants were not always psychologically of financially equipped to deal with prosecution: one only need think of episodes such as the Reichswehrministerium suing Berlin Dadaists in 1921 for disrespecting the military (the same military that had participated in the butchering of revolutionaries following WWI), George Grosz being prosecuted for offenses against public morality in 1924 and for blasphemy in 1928; of Günther Brus getting arrested for walking around Vienna with face paint (1965), or of Brus and others being prosecuted after the sexually explicit “action” Kunst und Revolution in the University of Vienna’s Neues Institutsgebäude (1968).17 We could place such actions at the tail end of an oppositional and transgressive avant-garde model that sought to shatter the prison-house of “autonomous art.” The artistic avant-garde was both an exacerbation of autonomy and its critique; or rather, it sought to realize forms of autonomous praxis against and beyond the socially sanctioned (and thereby instrumentalized) “autonomy of art.” Reactionaries and fascists lambasted such art variously for being excessively

14Heine,

Heinrich: letter to Karl Gutzkow, 23 August 1838. In: Heinrich Heine's Memoirs: From His Works, Letters, and Conversations, Vol. 2, ed. by Gustav Karpeles, trans. Gilbert Cannan. London: William Heinemann, 1910, pp. 73. Translation adapted by SL on the basis of the original German. 15Gautier, Théophile: Charles Baudelaire (1862), ed. by Guyaux, André: Baudelaire: Un demi-siècle de lectures des Fleurs du mal (1855–1905). Paris: PUPS, 2007, p. 353. Translated from English by SL. 16Gautier, Théophile: Charles Baudelaire: His Life (1868), trans. Guy Thorne. New York: Brentano’s, 1915, pp. 25–27. 17Intriguingly, the 1951 “Notre Dame Affair” staged by radical Lettrists did not ultimately lead to prosecution, probably because the state and the church feared public scrutiny and a PR disaster in the face of a level of intellectual debate and support that was far more intense than anything found in post-war Austria.

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autonomous, by refusing to reflect traditional social values, and for being insufficiently autonomous, by meddling in politics rather than sticking with being “pure art.” Taken together, both lines of critique capture the dialectic of the avantgarde. Whereas the avant-garde was based on the assumption that another autonomy is possible by overcoming art and merging art with life, the Institutional Critique of the 1970s was based on the contention that the avant-garde project had failed: Kaprowian or Debordian attempts to sublate art were unfeasible as long as a total social and cultural revolution was still outstanding. Within the existing society it was futile to try to merge art and life by (somehow) escaping art’s institutions.18 According to the practitioners and partisans of Institutional Critique, to be “political” was not to try to escape or overcome art, but to engage with the compromised and ideological autonomy of art; with sponsorship and the interests of trustees, for instance. Arguably, Institutional Critique gave up on the avant-garde promise of “an aesthetic which is not limited to the sphere of ‘the artistic.’”19 By now, however, the partial and compromised autonomy of the “field” has eroded to such a point that the very notion of “immanent practice” finds itself in a crisis. Aesthetic practice today can neither be content to snugly install itself within the limits of “the field of art” nor attempt to overcome that field. Exploiting the waning, residual autonomy of art while making use of its very erosion in order to gain a foothold in different forums, aesthetic practice must be pragmatic and tactical. Art is now subsumed to capitalist accumulation and integrated into networked communication to such an extent that political groups use social media rather than the law to get institutions or the state to cancel or censor exhibitions or artworks; even during Reagan/Bush era “culture wars,” the 1989 scandal around Serrano’s Piss Christ, which led to a political backlash and the slashing of the NEA’s budget, did not involve the judiciary branch. In France, in 2000, a reactionary group did sue and got a judge to overturn the French Ministry of Culture’s “16” rating of Virginie Despentes’ film Baise-moi. But the transformation of the freedom of artistic expression into a paramount western value after 9/11 has further undermined the justification for legal action. While autocracies such as Putin’s Russia have known their share of show trials against art, the judiciary in the EU and the US does indeed seem to be far more reserved than the neofascist political leaders would care for—though there may be hints of a Politjustiz to

18On

this, see for instance my essay: Neither Autocracy nor Automatism: Notes on Autonomy and the Aesthetic. In: Lütticken, Sven: Cultural Revolution: Aesthetic Practice after Autonomy. Berlin: Sternberg Press, 2017, pp. 59–86. 19Enzensberger, Hans Magnus: Constituents of a Theory of the Media. In: New Left Review 64 (November-December 1970), p. 25.

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come, as in the case of the public prosecutor in Thüringen who started preliminary proceedings against the Zentrum für Politische Schönheit.20 While the destruction of artworks and acts of physical destruction by artists will, of course, often be subject to litigation, artistic projects that are either intended or interpreted as socially transgressive—such as Sun Yuan and Peng Ty’s video Dogs That Cannot Touch Each Other at the Guggenheim or Dana Schutz’ painting of Emmett Till at the Whitney Biennial—are most often subjected to trial by Twitter and Facebook.21 Neofascist politicians also “put art on trial” in this manner, in the court of populist opinion. On the other hand, artists are among those who are discovering the trial as a form that is ripe for intervention and appropriation; not the trial as something inflicted on art by public prosecutors or lawyered-up reactionary groups after intentional or unwitting provocations, but as something actively shaped.

2 Avant-Gardes and Revolutions The avant-garde rejected the division of labour and the division of power that shaped modern society and the modern nation-state. Nonetheless, it still had to contend with the conditions of “actually existing capitalism,” which also meant: with the realities of specialization, differentiation and the division of labour. Reflecting those realities, the avant-garde was internally split: ever since Heine and the Saint-Simonians, the relationship between the artistic and the political avant-garde had been a thorny issue. Heine’s acquaintance Olinde Rodrigues has been credited with writing the Saint-Simonian tract “L’artiste, le savant et l’industriel” (1825), which contains the first use of the term “avant-garde” (a military concept) in relation to art: “It is we, artists, that will serve as your avantgarde.”22 Which is to say: the artists will prophetically announce the coming society and ready the people for a new order to be administered technocratically by scientists and industrialists. Heine was not to keen on playing such a role, and the relation between the various socialist and communist movements and successive (and simultaneous) artistic avant-gardes was to remain difficult. In a 1937 dialogue, Ernst Bloch and Hanns Eisler note that the two avantgardes manifest different forms of “progressive consciousness,” political and aesthetic: “The division of labor in developed capitalism also has the consequence that these two avant-gardes, which certainly travel separately, do not necessarily

20Meisner,

Matthias: Ein Staatsanwalt aus Gera und seine Nähe zur AfD. In: Der Tagesspiegel, 10.04.2019, https://www.tagesspiegel.de/politik/wir-nannten-ihn-nur-den-jura-nazi-ein-staatsanwaltaus-gera-und-seine-naehe-zur-afd/24202498.html. 21Coco Fusco discusses some examples in: Learning the Rules of the Game. In: Texte zur Kunst 109 (March 2018), p. 112. 22Quoted and discussed in Calinescu, Matei: Five Faces of Modernity: Modernism, Avant-Garde, Decadence, Kitsch, Postmodernism. Durham: Duke University Press, 1987, p. 103.

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arrive simultaneously.”23 The result is that “human existence breaks apart into two sharply distinct spheres: social reality and aesthetic appearance.”24 Artists like Eisler and his close collaborator Brecht were interested precisely in overcoming this division, while remaining aware of the obstacles. Brecht, Eisler and Benjamin aligned themselves with the political avant-garde as a bulwark against fascism— even as the Stalinist purges were already underway in Moscow—in the full knowledge that no easy synthesis was possible, and with an awareness that they were laboring under capitalist conditions. Brecht, in fact, sought to foreground those working conditions and their juridical constraints in the famous Dreigroschenprozess: the trial about the film version of the Dreigroschenoper, which Brecht considered a travesty of his play. As Frederic Schwartz notes: While the details of the case are well known, what interests me here is Brecht’s claim that the legal action to assert his authorial rights was carried out not for personal gain but as a ‘sociological experiment’, a stratagem by which Brecht could stage a battle between artistic freedom and capital in the public forum of the court of law. The case showed, he wrote, the inevitable result: that laws protecting artists were mere ideology, and that legal contracts concerning artistic rights would, when push came to shove, be found null and void before the power of big business. Beyond discussing the legal judgement per se, Brecht explored the press coverage to show that the case generated conflicting notions in the public sphere about art, business, and capitalism more generally. Using the seemingly public realms of the courts and the press, Brecht sought to illustrate both how these institutions failed in their task of revealing and properly regulating the relations between subjects and larger social institutions, and also how they might after all do so, even as such relations were becoming increasingly opaque.25

In Habermas’s social philosophy, publicness is the counterpart to functional differentiation; publicness creates a shared discursive world in which developments within the spheres can be articulated, negotiated and contested. Brecht, however, uses the trial as a public forum precisely to critique and undermine the society that created such limited, bourgeois-capitalist publicness and its ideology of universality and transparency (in the service of class interests). Oskar Negt and Alexander Kluge have distinguished between structural revolutions in the productive sphere (such as the Industrial Revolution) and manifest revolutions that respond to the unbearable antinomies produced by an ongoing structural revolution, with collective social action (such as the revolutions of 1789, 1848, 1871, or 1917).26 Brecht believed in the necessity of a communist revolution, and

23Voiced

by the “Sceptic” in Ernst Bloch and Hanns Eisler’s dialogue “Avant-Garde and the Popular Front” (1937). In: Ekaterina Degot/David Riff (Ed.): Volksfronten/Popular Fronts: Art and Populism in an Era of Culture Wars. Berlin: Hatje Cantz, 2019, p. 15. 24Ibid. 25Schwarz, Frederic J.: “Brecht’s ‘Threepenny Lawsuit’ and the Culture of the Case,” in: Oxford Art Journal 41/2 (August 2018), p. 222. 26Negt, Oskar/Kluge, Alexander: Geschichte und Eigensinn. Frankfurt a.M.: Zweitausendeins, 1981, p. 660.

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in an alliance of artistic and political avant-gardes forging a cultural revolution that would both complete the political and social revolution and prepare it under capitalist conditions. The Dreigroschenprozess was designed to use the forum of bourgeois law and the capitalist media to create a form of proletarian and communist counter-publicness. In retrospect, however, we could see Brecht’s trial as an immanent critical intervention in what would increasingly become the vanguard of capitalism’s own permanent revolution: intellectual property law.27 In the early twenty-first century, cultural and intellectual life is radically economized, as universities become corporate machines of debt-driven financialization and art spaces have their policies dictated by the need for mass audiences and sponsorship deals. As the Vidya Ashram collective has written about the contemporary university:“Now the global order is reinventing itself. In the information age, there is not going to be a privileged set of knowledge producers who will be allowed an autonomous space, a safe haven to explore and invent. Knowledge will be harnessed from the whole cultural field and subjected to regimes of cognitive measurement, knowledge management, and information enclosures.”28 With both art and science being progressively integrated into a knowledge economy, the always relative autonomy of those functionally differentiated fields is increasingly little more than a “representational leftover,” as Kerstin Stakemeier has put it.29 This raises the question what “immanent” critique can mean and be under such circumstances. If Weber/Habermas/ Bourdieu-type functional differentiation—with its relative autonomy of spheres or fields, which itself was always functionalized—is now partly rolled back, it becomes problematic to stick with such a (high or late) modernist sociological account.30 What makes more sense, under the circumstances, is to engage anew in “sociological experiments” at the fraying edges of art. Of Habermas’s value-spheres, the juridical sphere seems to be the one that still maintains a degree of modernist autonomy, even if its apparent health may be a symptom of crisis and perversion, and the proliferation of laws may be a form of the law’s sovereign suspension. Part of the law’s strength derives precisely from the use value of its seeming autonomy; from its role in the management of both populations and of digital accumulation. As intellectual property is increasingly administered to the benefit of corporate rather than natural persons, “deregulation”

27See

Schwartz for a detailed unpacking of the Three-Penny Trial in the context of Brecht’s practice and what Schwartz terms the “culture of the case.” 28Ashram, Vidya: The Global Autonomous University. In: The Edu-factory Collective (Ed.), Toward a Global Autonomous University. New York: Autonomedia, 2009, p. 166. 29Stakemeier, Kerstin: (Not) More Autonomy. In: Kerstin Stakemeier/Marina Vishmidt: Reproducing Autonomy: Work, Money, Crisis and Contemporary Art. London: Mute, 2016, p. 28. 30This is the limit of some sociologies of contemporary art that broadly remain within the framework of Bourdieu’s magisterial Les Règles de l’art (1992), translated into English by Susan Emanuel as The Rules of Art: Genesis and Structure of the Literary Field. Stanford: Stanford University Press, 1996.

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turns artworks into financial assets that travel from art fair to freeport; meanwhile, as European countries turn their universities and academies into edu-factories that are designed to attract tuition-paying foreign students, some of those students find themselves barred from entering the country in which they intend to study. Commodities may often travel more freely than many persons—some persons being less equal than others. Even as intellectual and cultural producers seek to commodify their unique cognitive and creative skills, “illegal” immigrants may not have the right to work at all. What was already apparent to Brecht has now become a general condition: art, or aesthetic practice, does not have an external relation to the law, as one autonomous value-sphere to another. Art is being shaped from within by laws and jurisprudence—by juridical reason as an operational logos. This is by no means limited to copyright. Rather, the “legalization” of aesthetic and intellectual practice is due to its manifold engagements in the juridical economy of neoliberal (and increasingly neo-fascist) capitalism, from UN tribunals to free trade agreements or protectionist tariffs, from intellectual property to immigration law. By consequence, the judiciary becomes a key forum for aesthetic activism, and the trial and tribunal become key forms. The model here is not André Breton’s notorious Barrès trial of 1921, when the internally warring Paris Dadaists put the reactionary writer Maurice Barrès “on trial” in the form of a self-organized tribunal. The Barrès trial was invoked as a precedent in the 2007 Trial against Art convened at an art fair in Madrid by Anton Vidolke and Tirdad Zolghadr, in which the initiators placed themselves in the position of the defendants, accused of “collusion with the “new bourgeoisie” and other crimes.31 Such tribunals remain symbolic skirmishes in the context of artistic practice. While Brecht also participated in a mock trial behind closed doors against the writer Johannes R. Becher, in response to an actual political trial against Becher’s recent novel, with the “sociological experiment” of the Three-Penny Trial he took matters to another level—and this is a far more direct antecedent of the contemporary practices I discuss in the following.32

3 Residual Autonomy as Enabling and Delegitimizing Factor Many of today’s most cogent and compelling forms of aesthetic practice use the very forces that shape it as material, as a medium to work with—for instance, in the form of assemblies around copyright disputes, as convened by Agency (Kobe Matthys), or in activist tribunals. Recently, a certain tradition of “people’s tribunals,” perhaps best encapsulated by the Russell Tribunals of the late 1960s

31See

http://www.unitednationsplaza.org/video/58/. Brecht’s ‘Threepenny Lawsuit’, 2018, p. 219.

32Schwartz:

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and early 1970s, or the 1976 International Tribunal on Crimes Against Women, has been reactivated by cultural activists. Such tribunals can be termed paralegal in that their agency is not one of official juridical verdict. Rather, they rely on the performativity of a certain quasi-juridical theatre.33 In contrast to the Barrès trial or the Trial against Art, however, such tribunals are designed as a direct counterpart to a failing judiciary system, critical feedback that aims to help bring about a future justice worthy of the name. This is, in other words, an extended version of the “sociological experiment.” Milo Rau’s Congo Tribunal (2015–2017) was an “authored” version of such a tribunal, while the NSU-Komplex auflösen (Unraveling NSU Complex), a series of tribunals (started in 2017, ongoing), came out of a coalition of grassroots (migrant) organizations in which artists such as Natascha Sadr Haghighian participated, and which invited Forensic Architecture to reconstruct the murder of internet café owner Halit Yozgat in Kassel by the neo-Nazi group NSU. NSUKomplex auflösen challenges the official narrative that the NSU consisted of only a handful of people; with a tribunal in Cologne (as well as later follow-ups) intended to counter the official trial in Munich, they sought to reveal the involvement of state actors in a wider “NSU complex.”34 Forensic Architecture’s reconstruction of the murder of Halit Yozgat was shown at the Documenta in Yoyzat’s home town of Kassel, courtesy of The Society of Friends of Halit (which included Sadr Haghigian), but it was also intended to serve as/be used as/provide evidence in the court of law and in front of parliamentary committees.35 Forensic Architecture is in many respects an exemplary aesthetic practice of the early twenty-first century. Led by Eyal Weizman and based as a research agency at Goldsmiths in London, Forensic Architecture would be hard to imagine without a certain culture of “artistic research” that has been established as the spheres of art and science (in the sense of Wissenschaft) have become blurred. Both are being progressively subjected to performance checks and permanent evaluation—in Europe, in the wake of the Bologna Process, the number of artistic and practice-based PhD programs has skyrocketed. Forensic architecture attempts to “take over the means of production” and develop a counter-forensics in the service of those who have suffered at the hands of the very states to whose legal institutions they appeal, for want of an alternative. In projects that often involve the synchronization and geo-matching of numerous audio and video sources, Forensic Architecture reconstructs the murder of Palestinians by the Israeli Army, of a Greek anarchist by members of Golden Dawn (with police looking on),

33This,

of course, is my detournement of the term paralegal, which usually refer to individuals performing delegated legal work under the supervision of lawyers. 34See the site at https://www.nsu-tribunal.de/. On the occasion of the 2019 fascist murder of a high-ranking civil servant (Walter Lübke) in Kassel, NSU-Komplex auflösen has again insisted on the importance of looking into the broader network: https://www.nsu-tribunal.de/ newsroom/#newsmodal. 35See https://forensic-architecture.org/investigation/the-murder-of-halit-yozgat.

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or of Halit Yozgat’s murder by the NSU (with an agent of the Verfassungsschutz looking on or looking away). Considered an enclosed area of competence, modern “autonomous” art was both a reservation for and a betrayal of the aesthetic. In establishing connections between art school, art space and trial or tribunal, Forensic Architecture also points to the aesthetic dimension of juridical demonstration and decision-making. Whereas science can simply note the measure of probability or its margin of error, law must render its judgment on the basis of relative uncertainty or fussiness. Decision in law and politics, if it is worthy of its name, cannot be undertaken in excess of calculation; otherwise, judgement is simply a mechanical operation. Decision is necessary precisely because calculation cannot (and should not) provide a definitive answer. Decision rests on aesthetic operations—that is, on the way and order in which things appear to us.36

Juridical facts, Thomas Keenan and Eyal Weizman suggest, are artifacts: “The making of facts […] depends on a delicate aesthetic balance, on new images made possible by new technologies, not only changing in front of our eyes, but changing our very eyes—affecting the way that we can see and comprehend things.”37 Forensic Architecture uses the latest technological possibilities, as well as copious labour time, to create artefacts that establish convincing timelines and spatial itineraries.–But convincing for whom, and in which context? Conceiving of truth as practice, not as veritas but as verification, Eyal Weizmann has spoken of the meshing of multiple perspectives: there are aesthetic, political, scientific, juridical practices of truth production that are obviously quite distinct.38 In the context of aestheticism, in fact, art was pitted against any notion of mundane truth: “No artist desires to prove anything. Even things that are true can be proved.”39 That proving true things in a politically charged environment is at times impossible, is borne out by Forensic Architecture’s reconstruction of the murder of Halit Yozgat. When this reconstruction (a video and an accompanying dossier) was presented to the parliamentary inquiry committee (Untersuchungsausschuss) in the state of Hessen, the Christian-Democratic CDU instantly presented a report delegitimizing Forensic Architecture as a mere artist group, and producing new data hitherto unseen in the public domain. Clearly, this must have been a collaboration between the CDU and the security forces or intelligence agency; Forensic Architecture’s reconstruction implicates the Verfassungsschutz via its agent Andreas Temme,

36Keenan,

Thomas/Weizman, Eyal: Mengele’s Skull: The Advent of a Forensic Aesthetics. Berlin/ Frankfurt a.M.: Sternberg Press/Portikus, 2012, p. 23. 37Ibid., p. 24. 38Weizman, Eyal: Counter-Forensics. Lecture at BAK, Utrecht, 18 November 2018, https://www. youtube.com/watch?v=7__KXWkHUP8. 39Wilde, Oscar: The Preface. In: The Picture of Dorian Gray (1891). London etc.: Penguin, 1985, p. 21.

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and this was an almost endearingly blatant case of politico-bureaucratic coalition (or the Deep State, if you prefer) hitting back.40 This sabotage notwithstanding, the Halit Yozgat reconstruction, 77sqm_9:26 min, has taken on a life beyond the Hessian committee (where it was dismissed) and the Munich NSU trial (where it was not admitted as evidence): at the tribunal NSU-Komplex auflösen, at conferences and symposia, at Documenta, online. Forensic Architecture insists on forensis as a critical, public and political practice that cannot be limited to the juridical as a differentiated and autonomous field. The Latin forensis, from which the word forensics is derived, means “pertaining to the forum”; not just to the legal sphere, but to the forum as a hybrid space of oratory and evidence. Like the laboratory, which can sometimes be crowdsourced, the forum is “no longer confined to arenas such as buildings, but [becomes] increasingly diffused across a wide spectrum of channels and media forms.”41 Forensic Architecture tactically appropriates the residual autonomy of both art and academia. In this is it far from alone. Institutional critique increasingly becomes tactical institutional instrumentalization. Artists such as Jonas Staal, who situate their practice in a genealogy of institutional critique, effectively use art spaces as residual forms that offer opportunities for staging various types of assemblies. This is an activist version of neoliberal functionalization—the staging of productive interferences between eroding value spheres, rather than an integration based on economization. The art space becomes a public forum in ways that go beyond or against the white cube as a semi- or quasi-autonomous sphere. In Hessen, the CDU politician Bellino, who appeared to act on behalf of the Verfassungsschutz, attempted to discredit Forensic Architecture by labelling them a mere “artist group,” and hence not qualified as experts. Forensic Architecture responded by insisting that they are a “multidisciplinary research agency.”42 As inadequate as the label artist group may be, it appears that the representational leftover of artistic autonomy can have the effect of discrediting projects and practices: it’s “only art.” Yet in part, it makes possible precisely those projects that it also sabotages. A timeline designed by Forensic Architecture shows the unfolding of the Yozgat/NSU case across “legal forums,” “political forums,” “civil society forums,” “cultural forums” and “media forums.” If Brecht already explored the trial as a public forum from which to disrupt the bürgerliche Öffentlichkeit, Forensic Architecture arrives at a more fully elaborated account of multiple forums of publicness. If the Habermasian bourgeois public sphere

40See

Forensic Architecture: Response to the report presented by the CDU parliamentary group in Hessen on 25 August 2017, 19 September 2017, https://docplayer.net/89579517-Forensicarchitecture-centre-for-research-architecture-department-of-visual-cultures.html. 41Weizman, Eyal: Forensic Architecture: Violence at the Threshold of Detectability. New York: Zone Books, 2017, p. 67. 42Forensic Architecture: Response to the report presented by the CDU parliamentary group in Hessen on 25 August 2017.

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has been buried by social media filters, troll armies and fake news, without any emancipatory alternative gaining much momentum, Forensic Architecture seeks to forge a constellation of forms of publicness, of which each has its own respective limitations, but might function as one another’s corrective. At times, a productive interference between two or more forums does indeed occur, when the Documenta participation leads to more media exposure; at other times, the effects are more ambiguous and even adverse, as with the CDU Hessen’s intervention. Nonetheless: in an age in which semi-autonomous spheres have become their own representational leftovers and in which the law itself shows its lawlessness, such a transversal practice is a highly necessary aestheticsociological experiment. Discrediting it as merely reformist would be to miss the point. While it is imperative to defend zones of exception to the dominant state of exception, such as the Zone à Défendre near Nantes, and create and maintain selforganized forms of life, a “dual power” approach is needed that includes a critical engagement with the state and the legal apparatus. In other words: It is equally necessary to descend into the forums where decisions are made upon which lives count as truly human, and which will be treated as disposable biomatter.

4 Postscript Various European countries and institutions having failed to respond adequately (or at all) during the crucial early phase of Covid-19’s spread, this created the need for a full-on state of exception later on, with enforced quarantines and lockdowns—and closed borders, the need for which was dubious at a moment when the virus was already doing the rounds. While the EU is clinging on to its ideology of free movement for citizens and goods, since 9/11 and even more drastically since the 2015 “refugee crisis” it has intensified its regime of “deterritorialized borders” against immigrants from North Africa to its own inner cities. The border can now be anywhere, if you’re on the wrong side of it. The corona crisis, with its closed Schengen borders, has propelled a further intensification of the existing EU border regime, which now also affects some whom privilege protected so far—including many cultural workers, who also saw their livelihood evaporate as projects were postponed or scrapped. One of many cancelled events was a “pre-trial” event for Jonas Staal and Jan Fermon’s lawsuit against Facebook, which was scheduled for March 26 at HAU in Berlin: Collectivize Facebook. The Berlin event itself had (of course!) been announced on Facebook, but paralegal activism has always depended on trials and tribunals as physical assemblies, even if these can be mediated in different ways. As people’s physical isolation drives them even more into the arms of Facebook, Skype and Zoom, Collectivize Facebook only becomes a more urgent project—and on March 26, the campaign was launched online. Since then, the murder of George Floyd has sparked a new wave of Black Lives Matter protests in the US and beyond.

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Trump has unleashed unidentified troops on protesters, in Portland and elsewhere, performing extrajudicial arrests by pulling them into unmarked vans. As the proliferation of the law culminates in its abrogation, paralegal activism using all available forums will continue to be necessary—and, in itself, insufficient.

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(Politische) Kunst oder (soziale) Praxis? Eine Versuchsanordnung über die 1990er Sabeth Buchmann

1 Praxis auf Probe Der mit dem Mauerfall 1989 einsetzende Umbruch sollte Berlin den bis heute nachwirkenden Status eines Provisoriums verleihen. Immer mehr, vor allem jüngere Leute zog es in eine Stadt, von der man sich versprach, dass sich hier, am Rande eines zu dieser Zeit nicht sonderlich attraktiven Kunstbetriebs, Räume mit wenig Geld und einfachen Mitteln improvisieren ließen. Gerade in dem unweit des neuen Regierungsviertels gelegenen Bezirk „Mitte“, dem buchstäblichen Zentrum Berlins, hatte sich zu Anfang der 1990er Jahre, bevor sich die heute zum größten Teil schon wieder weggezogene Galerienszene dort ansiedelte, eine Vielzahl temporärer Allianzen zwischen Leuten aus der Akademie-, Uni-, Musik-, Kunst- und nicht zuletzt der sich hiermit überschneidenden Autonomenund Hausbesetzer/innenszene gebildet. Nach und nach entstand ein nicht- oder halbkommerzielles Gewebe aus Probe- und Produktionsräumen, Clubs und Veranstaltungsorten, in denen sich in je unterschiedlichen Gewichtungen Kunst, Musik, Film und Politik in unübersichtlicher Weise miteinander vermischten: So waren den Ausstellungen und Veranstaltungen die gelegentlich chaotischen und prekären Bedingungen ihrer Produktion anzusehen – ein Moment, das durchaus programmatischen Charakter hatte. „Soziale Praxis“ handelte schließlich auch von der Lust und Notwendigkeit, von- und miteinander zu lernen, was unter diesem Begriff zu verstehen sein sollte. Es wäre ein Missverständnis zu glauben, dass sich Praxis mit praktischem Handeln und Tun gleichsetzen ließe: Das Ausgehen und

S. Buchmann (*)  Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften, Akademie der bildenden Künste Wien, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Eusterschulte et al. (Hrsg.), Funktionen der Künste, Ästhetiken X.0 – Zeitgenössische Konturen ästhetischen Denkens, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04927-8_10

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Abhängen, nächtelange Kneipen- und Clubsessions waren selbstverständlicher Bestandteil gemeinsamer Lektüren und Aktionsplanungen. Angesichts dieser Gemengelage lässt sich das, was Annette Maechtel in ihrer Dissertation zu der Bedeutung von „Zwischenraumlösungen“1 für die damalige Projektekultur herausgearbeitet hat, als ‚soziale Praxis‘ in dem Sinn verstehen, dass es um situative Konstellationen unterschiedlicher, einem heterogenen Milieu entstammender Akteur/innen ging. So gaben zumeist als gesellschaftsrelevant angesehene Themen den Ton an. Wenn ich in diesem Zusammenhang von sozialer Praxis in Versuchsanordnungen spreche, dann weil temporär besetzte Räume – Clubs wie das Elektro oder Veranstaltungsräume wie der von Botschaft e. V. geführte Friseur oder Klasse Zwei an der Ecke Berg- und Schröderstraße, oder auch von FrauenKollektiven organisierte Galerien wie die All Girls und Art Acker in der Ackerstraße sowie diverse Mischungen aus Büros, Buchläden und Experimentalkino – Quasi-Bühnen bildeten, auf denen noch unbestimmte Formate ausprobiert und zur Aufführung gebracht wurden. Ich denke in diesem Zusammenhang an Judith Hopfs sogenannte „Salons“ im ehemaligen Ladenlokal von b_books in der Kreuzberger Falkensteinstraße. Die Proben zu den Salons, zu denen die Berliner Künstlerin Kulturproduzentinnen aus unterschiedlichen Bereichen einlud, grenzten sich programmatisch von der damals verbreiteten, tendenziell männlich codierten Doit-yourself- und Trash-Ästhetik ab. Für jene, die sich an den diversen Projekten, u. a. an Ausstellungen und Veranstaltungen im Friseur oder in der Klasse Zwei in den Kunst-Werken, bei b_books oder den Innenstadtaktionen in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre beteiligten, bedeutete die anlass- und themengebundene Projektarbeit Aneignung von unvertrautem Wissen, von taufrischen Theorien und von methodischem Know-how: learning by doing ist das, was nicht nur die kollektive Diskussion und Arbeit, sondern auch die Sozialstruktur der Projektekultur ausmachte. Das mag in manchen Ohren nach postfordistischer Just-in-time-Produktion klingen, zielte aber auf das Gegenteil von klar umrissener Produktform: Eher handelte es sich um stationäre Produktionsweisen, die in der Regel neue Themen und/oder das nächste, gelegentlich auch in Kooperation mit Institutionen organisierte Projekt mit sich brachten. Insofern die hierfür erforderlichen Skills nur eingeschränkt mit den an Akademien und Universitäten vermittelten Inhalten und Methoden zu tun hatten, stellt sich in meiner Erinnerung die Projektekultur als ein Dauerlaboratorium dar – das heißt als ein Zustand, in dem sich kaum je ausmachen ließ, ob das, was dargestellt und gezeigt wurde, noch im Produktionsprozess begriffen war oder bereits endgültige Form angenommen hatte. Mischungen aus künstlerisch-kuratorischen, zumeist recherchebasierte Text- und Materialinstallationen kam dabei gelegentlich der Status einer Arbeitsprobe zu: Genau dieses Moment scheint mir hinsichtlich der damaligen Vorliebe für szenografische Settings charakteristisch, welche

1Maechtel,

Annette: Das Temporäre politisch denken. Raumproduktion im Nachwende-Berlin am Beispiel von Botschaft e. V. (1990–1996). Berlin 2020.

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Projekt- und Ausstellungsräume in provisorische Bühnen verwandelte, auf denen zugleich produziert und präsentiert wurde. Dieses Moment eines mehr oder weniger programmatischen ‚In-the-making‘ war indes keine Antizipation des von Klaus Wowereit in den 2000er Jahren lancierten Werbeslogans „Arm, aber sexy“, sondern eher Ausdruck jener für linke Projekte charakteristischen Aversion gegen einen mit hierarchischer Arbeitsteilung assoziierten, auf individuelle Berufskarrieren zugeschnittenen Professionalismus. Zugleich kamen in der Projektekultur unterschiedliche, wenn auch in der Hauptsache, mit einigen wenigen Ausnahmen, weißhäutige (West-)Deutsche bzw. (West-)Europäer/innen zusammen, deren gesellschaftliches Privileg es war, sich nicht über Identität definieren zu müssen. Die mit großer Aufmerksamkeit rezipierten Gender Studies sensibilisierten dabei für die mannigfaltigen Geschlechterkonflikte und die oftmals unter den Teppich gekehrten Spannungen zwischen männlichen und weiblichen Mitgliedern: Diese waren zugleich von immensem Einfluss auf die zunehmend wichtiger werdende Rolle antiessenzialistischer Identitätskritik – so etwa auch im Zuge des durch die Wiedervereinigung forcierten Nationalismus, der bekanntlich mit rassistischen Anschlägen auf Asylbewerberheime und von Häusern von Einwander/innen einherging. Die aus diesem Grund formierten Wohlfahrtsausschüsse und Frauenaktionsbündnisse – Zusammenschlüsse von Leuten aus dem polit-, pop- und kulturlinken Spektrum – waren dabei auch Ausdruck der Spannungen zwischen ‚west‘- und ‚ost‘deutschen Milieus. Entsprechend bildeten Themen wie Rassismus, Sexismus und Klassendifferenzen die roten Fäden einer Projektekultur, die sich im Unterschied zu politischen Kaderbildungen der Post-68er-Jahre eher als performative, sich von Thema zu Thema verändernde Kollektivstruktur beschreiben lässt – auch wenn ihre Inhalte und Ziele, etwa egalitäre Partizipation, klassischen Selbstverständnissen der Politlinken entsprachen. In diesem Sinne war die Generation ‚Projekt‘ sicherlich auch Folge der im Laufe der 1970er und 1980er Jahre zerfaserten sozialen Bewegungen wie der Arbeiter/innen- und Frauenkämpfe, die sich nicht mehr von technokratischen Gewerkschaften und auch nicht mehr von autoritärpatriarchalen Parteien repräsentiert fühlten.2 Dass nun künstlerische Gruppierungen in das politisch fragmentierte Feld drängten, hatte ganz sicherlich mit dem zu tun, was Lea Susemichel und Jens Kastner in ihrem 2018 erschienenen Buch Identitätspolitiken beschreiben, d. h. mit der Überlappung von Sozial- und Identitätspolitik, welche die beiden Autor/innen indes nicht als ein spezifisches Phänomen der 1990er Jahre bestimmen, sondern bis in die frühe Arbeiter/innenbewegung sowie die (Diskurs-)Geschichte von Marxismus und Kommunismus hinein verfolgen.3 Entsprechend wurde der Kunst- und Kulturbetrieb als ein exemplarisches Feld der (Fehl-)Repräsentation von Geschlecht, Hautfarbe und Klasse erkannt: Themen, die mit dem Siegeszug der poststrukturalistischen Cultural Studies

2Eribon,

Didier: Rückkehr nach Reims. Frankfurt a.M. 2016, S. 139 ff. Lea/Kastner, Jens: Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken. Münster 2018. 3Susemichel,

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zugleich ästhetisches und politisches Terrain gewannen und die mit postmodernen Forderungen nach einer Pluralisierung ebenso wie mit der postfordistischen Transformation der Produktionsverhältnisse einhergingen. Dem entsprach das für die Projektekultur maßgebliche theoretische Feld insofern, als nun nicht mehr zwischen Basis und Überbau unterschieden wurde,4 sondern Kunst und Kultur als eine realitätsmächtige Produktionssphäre verstanden wurde. Die Tatsache, dass sich die Projekteteilnehmer/innen nicht mehr als Künstler/innen, sondern als Kulturproduzent/innen bezeichneten, mag in dieser Verschiebung eine Erklärung haben. Hierzu gehörten aus den Gender Studies appropriierte Performancetheorien, die das passivische ‚being‘ durch ein aktivisches ‚doing‘ ersetzten. In diesem Licht betrachtet erscheint es mir als jemand, die Anfang der 1990er Jahre als Mitglied der seit 1983 in München aktiven, zwischen Off-Theater, Kunst, Theorie und Publizistik angesiedelten Gruppe minimal club nach Berlin kam, entscheidend, dass hier ein breit gestreutes Milieu aus feministisch-queeren und schwul-lesbischen Gruppen und Initiativen existierte, die ihrerseits zwischen Uni, Clubs, Off-Spaces, der Hausbesetzer/innen- und Autonomenszene angesiedelt waren. Auch sie verfügten in der Regel über keine in den Arbeiter/innen- oder Studierendenrevolten wurzelnde Geschichte, aus der sie ihre Zugehörigkeit bezogen hätten. Bei allen Interessensunterschieden zeichnete die Projektekultur eine performative (Selbst-)Konstitution eines zugleich auf Identitätspolitik bezogenen und identitätskritischen „Zusammenhangs“5 aus. Der Anspruch auf Veränderung jener Arbeits- und Sozialstrukturen, in denen frau/man/transgender Menschen lebten, zielte nicht, wie noch das klassenkämpferische Proletariat, auf institutionelle Machtübernahme.6 Kollektive Praxis bestand eher in der theoretischen und praktischen Erprobung kritischer Subjektivierung im Rahmen von Themen wie Biomacht respektive Gen- und Reproduktionstechnologien, die Auswirkungen des Neoliberalismus z. B. auf Privatisierung und Kommerzialisierung von urbanen Räumen und Institutionen, und schließlich, wie bereits erwähnt, die Ausweitung von Nationalismus und Rassismus. Vor diesem Hintergrund erschienen künstlerische Autonomieansprüche nur im Kontext von gesellschaftlicher Selbstverortung relevant: Doch im Unterschied zu in Autonomenkreisen populären Konzepten wie der „Temporären Autonomen Zone“ (Hakim Bey) dominierte ein poststrukturalistisch und psychoanalytisch geschultes Bewusstsein um den Nexus aus Subjektwerdung und Unterworfenheit, aus Selbstermächtigung und Anerkennungszwängen. Wenn ich vor diesem Hintergrund Begriffe wie Versuchsanordnung, Improvisation, Provisorium und Probe verwende, dann, um aufzuzeigen, dass hergebrachte Demarkationslinien zwischen

4Siehe

beispielhaft Jameson, Frederic: Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus. In: Andreas Huyssen/Klaus R. Scherpe (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Reinbek bei Hamburg 1986, S. 45–102. 5Ein damals häufig benutzter Begriff. 6Siehe auch Lea Susemichels und Jens Kastners Verweis auf Holloway, John: Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen (2002). In: Dies.: Identitätspolitiken, 2018, S. 36 f.

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Autonomie und Funktion im Rahmen anlass- und themenspezifischer Projekte ihre Trennschärfe verloren, auch weil das damalige geflügelte Wort ‚Freiräume ausloten‘ hieß: Der Begriff des Freiraums implizierte ein Bewusstsein um die temporäre und lokale Bedingt- und Begrenztheit von Autonomie. Dieses Bewusstsein spielte vor allem in der Auseinandersetzung mit dem aus dem Kontext der Institutionskritik erwachsenen Konzept der ‚service culture‘ eine entscheidende Rolle.7 So brachten die Dynamiken kollektiver Kommunikationsformen und Projektverläufe sowie die Adressierung spezifischer Kontexte und Öffentlichkeiten unwägbare Freiheiten und Abhängigkeiten mit sich, so dass die Unterscheidung von Autonomie und Funktion nur indirekte Relevanz hatte – etwa hinsichtlich der regelmäßig heftig debattierten Frage, ob Projekte den nötigen Abstand zu institutionellen oder privatwirtschaftlichen Interessen hielten. Autonomie wurde nicht als eine der Kunst gegebene, sondern als kontingente Positionierung zu gesellschaftlicher, ökonomischer und institutioneller Repräsentation betrachtet. Den übergeordneten Horizont der Projektekultur bildete daher die Frage danach, wie sich auf andere denn ungebrochen repräsentationalistische Weise arbeiten und leben lassen könnte. Insofern die (Selbst-)Politisierung projektorientierten Arbeitsformen immanent war, unterschieden sich diese von klassischen Arbeitskämpfen genauso wie vom bohemistischen Credo eines arbeitsbefreiten Lebens. Zugleich wurde ‚selbstorganisierte Praxis‘ gegen Ende des Jahrzehnts in die Nähe der von Luc Boltanski und Ève Chiapello sogenannten „projektebasierten Polis“ gerückt. Folgerichtig wurde es mehr und mehr zur Pflichtübung, die Unterschiede zwischen ‚sozialer Praxis‘ und ‚neoliberaler Kreativkultur‘ zu betonen, zumal eine mögliche Nähe zu hochmotivierten, autonomie- und sinnproduktionsorientierten Netzwerker/innen nicht von der Hand zu weisen war.8 Doch es wäre gerade angesichts der Inhalte und Verfahren der Projektekultur verfehlt, von einem stummen Zwang zu kreativer Selbstvergesellschaftung zu sprechen und dabei alles und alle in einen Topf zu schmeißen. Niemand der in den Projekten organisierten Akteur/innen, die/der nicht die Überlagerung von Politik durch wirtschaftliche Interessen der mit Thatcherismus und Reaganismus kompatiblen Kohl-Regierung erkannt hätte. Die in der neuen alten Hauptstadt auf besonders drastische Weise spürbare Nachwendepolitik ging bekanntlich mit aggressiver Investorenpolitik im Rahmen von korporatistischer Standortpolitik und globaler Finanzwirtschaft einher. Die sogenannte Politisierung der 1990er Jahre basierte auf einem Bewusstsein um die Erosion des Politischen durch flexible Selbstorganisation und der Fähigkeit der Rechten zur Besetzung des ent-

7Siehe

das von Helmut Draxler und Andrea Fraser 1995 im Kunstraum der Leuphana Universität (damals noch Universität Lüneburg) organisierte Projekt mit dem Titel Services. Hierin ging es nach eigenem Bekunden „um die Bedingungen und Verhältnisse projektorientierter Praktiken“, http://kunstraum.leuphana.de/projekte/services.html. (05.01.2020). 8Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: II. Die Entstehung der projektbasierten Polis. In: Dies.: Der neue Geist des Kapitalismus [1999]. Konstanz 2003, S. 147–210.

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stehenden politischen Vakuums; dies ließ schon damals, angesichts der zugunsten westdeutscher Unternehmen agierenden Treuhand, eine tiefer werdende Spaltung zwischen alten und neuen Bundesländern sichtbar werden: Vom Wiedervereinigungsenthusiasmus konnte jedenfalls keine Rede sein. Das poststrukturalistisch-psychoanalytisch geschärfte Bewusstsein um den phantasmatischen Charakter von Freiheit verschob den Autonomiebegriff daher eher auf die Möglichkeitsbedingungen machtkritischer Subjektivierung. Unter dem Einfluss von Judith Butlers Anfang der 1990er Jahre erschienenem Buch Gender Trouble (dt.: Das Unbehagen der Geschlechter) galt die Erprobung nonbinärer, queerer Geschlechterperformance als eine solche Möglichkeitsbedingung: Das Stichwort der Stunde war „Wiederholung als Differenz“. Der emphatische Autonomiebegriff war folgerichtig systemimmanent gedachter Travestie und Subversion gewichen: Die bedingungslose Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen galt demzufolge als obsolet und stellte in unseren Augen auch kein exklusives Künstler/innenrecht dar. Wesentliches Merkmal kollektiver Arbeits- und Lebensmodelle war also der Anspruch auf non-exklusive Subjektivierung, die sich in den 2000er und 2010er Jahren auch in anderen, weitaus bedeutsameren Bewegungen wie z. B. den spanischen Podemos artikulierte. In diesem Zusammenhang finde ich den Versuch des Philosophen José M. Buesos bezeichnend, den Nexus von künstlerischen, wissenschaftlichen und politischen Bedeutungen der Probe durch vergleichende Etymologie darzulegen. So schreibt er in seinem „The Play’s the Thing: On the Politics of Rehearsal“ betitelten Aufsatz: Thus beneath the Anglo-normativity of rehearsal, there lie the semantic fields afforded by other languages: rehearsal in French is translated as répétition, but in German the term is Probe. In Spanish the corresponding noun is ensayo, which also means “essay” (as in the literary form), “trial” (as in “learning by trial and error”—ensayo y error), “test” (as in “clinical test” – ensayo clínico), or “attempt” (as in “failed attempt” – ensayo fallido). Interestingly, the complementary of ensayo is ‘theatrical rehearsal’; that is, the actual staging of a show, is called representación. So while the English term rehearsal resonates with theatricality, and considering it in isolation seems to confine us to that sphere – limiting our discourse – by contrast taking the rehearsal/répétition/Probe/ensayo semantic constellation as an ensemble offers much more interesting possibilities. To begin with, a laboratory smell comes into the picture alongside the stage lights, with parliamentary politics in the wings. We are talking about both science and art in their modern form – as well as politics – and at least two polarities become immediately apparent: repetition (and closure) versus experimentation (and openness). At stake are knowledge protocols and the site and the performativity of truth.9

Buesos Begriffsdefinition enthält eine Reihe von Aspekten, die auch auf die Projektekultur zutrafen: Versuche, künstlerische und wissenschaftliche Verfahren in essayistischen Formaten zu verknüpfen oder das Politische als Bestandteil eines

9José

M. Bueso: The Play’s the Thing: On the Politics of Rehearsal. In: Sabeth Buchman/Ilse Lafe/Constanze Ruhm (Hg.): Putting Rehearsals to the Test. Practices of Rehearsal in Fine Arts, Film, Theater, Theory, and Politics. Berlin 2016, S. 108–118, hier S. 113.

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performativ verfassten Wahrheitsdiskurses zu verstehen. Die Verbindung von Theater und Politik ist zwar ein hergebrachter Topos, war jedoch in der Linken lange als Spektakelkultur verpönt und erfuhr erst durch den performative turn in den 1990er Jahren eine weitgehende Rehabilitierung. So stellten sich die „selbstorganisierten“ Räume der Projektekultur nicht von ungefähr als zwischen Experiment und Repräsentation oszillierende temporäre ‚Szenen‘ dar. Ein Beispiel hierfür ist die interdisziplinär arbeitende Gruppe Botschaft e. V. (1990–96), die einen Club und Veranstaltungsort namens Friseur betrieb: Ihre Nähe zu Projekten wie Friseur, Elektro (Bar) und WMF-Club trug nach eigenem Bekunden dazu bei, dass „sich Botschaft in unterschiedlichsten Kontexten“ verortete: „Durch den Zusammenschluß ergaben sich neue Möglichkeiten sowohl technisch-infrastruktureller wie auch kommunikativer Art. Die Projektarbeit fand in verschiedenen Gruppenkonstellationen statt, die als Infopool, als Arbeitsund Denkraum zugleich fungierten. Projekte von Botschaft e. V. waren u. a. Dromomania (1990), richtig’92, IG Farben – Performance einer Aktie (1993), Botschaft Praxis (1994), Berlin/NY/Beirut (1995–96).“10 Wenn ich in diesem Zusammenhang auf das mehrteilige Ausstellungs- und Veranstaltungsprojekt IG Farben – Performance einer Aktie eingehe, dann auch, um zu zeigen, dass es sich hierbei um eine performative Versuchsanordnung handelte. Die teils essayistisch aufbereiteten, teils in Vorträgen verhandelten Ergebnisse der künstlerisch-wissenschaftlichen Recherche wurden im Friseur als einem temporären Produktions- und Veranstaltungsort präsentiert und gegen die im Berlin der 1990er Jahre vorherrschende revisionistische Immobilienpolitik in Stellung gebracht. Bekanntlich handelt es sich bei IG Farben um ein tief in den Nationalsozialismus und dessen antisemitisch-rassistisches Vernichtungs- und Zwangsarbeiter/innensystem verstricktes Unternehmen. Nach der sogenannten Wiedervereinigung reklamierte das in den Nürnberger Prozessen zerschlagene und zur Auflösung verurteilte Unternehmen ehemalige Immobilien, während von dessen Machenschaften Betroffene geltend machten, dass es sich bei einem Großteil dieser Immobilien um enteigneten jüdischen Besitz handelte. Bezeichnenderweise befand sich der Friseur in unmittelbarer Nähe der Friedrichstraße und des Checkpoint Charlie und zählte zu den städtischen Grundstücken bzw. Immobilien, die nach dem Fall der Mauer in die Hände von Investor/innen gefallen waren.11 Insofern die unter dem Namen Botschaft e. V. kooperierenden Künstler/innen kritische Wissenschaftler/innen und Journalist/ innen auf die ‚Bühne‘ baten, suchten sie die von ihnen bearbeitete Thematik in einen politischen Kontext mit der politisch hochfragwürdigen und ausschließlich gewinnorientierten Immobilienpolitik der Treuhand und neoliberaler Börsenspekulation zu stellen: Das künstlerische Projekt zielte somit auf die Bildung einer

10http://www.medienkunstnetz.de/werke/botschaft-ev 11Siehe

(06.09.2019). Maechtel: Das Temporäre politisch denken, 2020.

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kritischen und/oder aktivistischen, am politischen Diskurs aktiv teilnehmenden Öffentlichkeit. Wenn ich Projekte wie jene der Botschaft e. V. mit Verfahren der ‚Probe‘ in Beziehung setze, dann nicht, weil ich diese als unausgegorene Formate betrachte, sondern um den Blick auf die Bedeutung zu lenken, die das Experimentelle und Performative für einen Herstellungsprozess hatte, der sich als partizipationsabhängige Versuchsanordnung verstand: So bestimmten nicht allein die präsentierten Materialien und Dokumente, sondern die gemeinsamen, in ihren Verläufen unkalkulierbaren Diskussionen und Interventionen das Projekt. Dies traf auch auf eine Reihe anderer, zwischen künstlerisch-wissenschaftlicher Recherche, performativen Aktionen und Interventionen verortete Projekte zu, die manchmal nur einen Abend, ein Wochenende oder mehrere Tage lang in halb-öffentlichen Off-Spaces12, temporären Clubs13, Buchläden14, Kneipen15, nicht-kommerziellen Galerien16 sowie gelegentlich an Kunstakademien und Universitäten vorgestellt wurden. Sie stellten sich programmatisch als ein work-inprocess dar, in dessen Zuge das Künstlerische gegen eine rein objektivistische Wissensproduktion und Diskurse gegen subjektivistischen Voluntarismus in Anschlag gebracht wurden. Hierzu gehörte, dass in unseren damaligen Augen ästhetisch überdeterminierte, sprich: formalistische Werkformen, die sich der allzu leichten Konsumierbarkeit als marktbefriedete Ware verdächtig machten (und das galt nicht nur für Malerei, sondern auch für das Genre Performance), eher verpönt waren. Ästhetische Werkautonomie war gleichsam das natürliche Feindbild einer von Peter Bürger17 und Pierre Bourdieu18 geprägten Wahrnehmung von Kunst als gesellschaftliche Institution, welche es, so die nicht gerade bescheidene Hoffnung, in ein kollektives Handlungsfeld umzugestalten galt. Entsprechend erinnere ich die Kunst der 1990er Jahre, ob in Berlin oder in anderen Städten, als eine Art kollektiver Erprobung von etwas anderem als ‚Kunstmarkt‘, auch wenn künstlerische Praxis, wollte sie als solche wahrgenommen und wirksam werden, auf diesen bezogen bleiben musste. So lässt sich im Nachhinein sagen, dass eine selbstorganisierte Projektekultur vor allem jene zwischen Kunst, Theorie und Politik verorteten Praktiken der Recherche und Dokumentation forciert hat, die heute mit Ausstellungsagenden wie jenem des Haus der Kulturen der Welt (HKW) oder auch mit akademischen Formaten wie dem Ph.D. in practice oder Postgraduiertenprogrammen assoziiert werden.

12Ich

denke hier an Orte wie Friseur und Klasse Zwei. das Elektro und das E-Werk, 14Ab Mitte der 1990er z. B. b_books in Kreuzberg, später kam pro qm in Mitte dazu. 15Darunter u. a. der Eimer, der Schwarzerabe, das Zosch oder das Mysliwska. 16Zu denken wäre hier an die Galerien und Projekträume All Girls und Art Acker. 17Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde. Frankfurt a.M. 1974. 18Siehe unter anderem Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M. 1982. 13U. a.

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2 Selbstorganisation im Kontext Der Begriff der Selbstorganisation korrespondiert in meinen Augen nur bedingt (wenn überhaupt) mit dem der Autonomie, besagt er doch, dass idealerweise egalitäre Produzent/innen alle im Rahmen eines Projekts anfallenden Aufgaben unter Vermeidung hergebrachter Arbeitsteilung übernehmen. In diesem Sinne ging es in den 1990er Jahren sicherlich nicht mehr darum, kantische oder adornitische Autonomiebegriffe, denen zufolge der Zweck der Kunst in ihrer Zwecklosigkeit sowie in der Zweckentfremdung des Zweckhaften zu liegen habe, ad acta zu legen: Diesen Job hatten bereits die aus 1968 hervorgegangenen Institutionskritiker/innen erledigt. Die Ersetzung ästhetischer Autonomie durch kollektive Praxis im Rahmen selbstorganisierter Projekte vollzog sich allererst durch oftmals langwierige und mühsame Debatten, die einer Erprobung konsensfähiger Kommunikations- und Arbeitsformen gleichkamen. Hierzu passt es, dass Dokumentationen der damaligen Aktivitäten einen sichtbaren Hang zu szenografischen Settings aus gelegentlich im Kreis stehenden Sitzgelegenheiten, Informationsmedien und Displays aller Art erkennen lassen. Das Prinzip der kollektiven Autor/innenschaft ging mit einer Vorliebe für fake identities einher, die – zumal unter dem Einfluss der damals intensiv rezipierten Theorien der Postmoderne – von dem Gedanken fluider Identität geleitet waren: Damit sind auch mehrdeutig-ironische Spiele mit Zeichen und Bezeichnungen gemeint, wie sie in den Selbstlabelisierungen als „Pop- und Musikband“19, „Sammlung“20, „Theoretisches Fernsehen“, „Botschaft e. V“, „Klasse Zwei“ zum Ausdruck kommen: Letztere war aus der freien Klasse an der damaligen Hochschule der Künste/HdK, der heutigen Universität der Künste/UdK hervorgegangen und betonte den programmatischen Zusammenhang zwischen Schule und Selbstorganisation. Bezeichnenderweise – und hier komme ich auf Boltanski und Chiapello zurück – ist die Ende der 1990er Jahre konstatierte Bedeutung von Künstlerkritik in Der neue Geist des Kapitalismus zu diesem Zeitpunkt längst konzeptiver Bestandteil kollektiver (Selbst-)Untersuchung. Auf dem Prüfstand standen dabei die eigenen gesellschaftspolitischen Widersprüche und Komplizenschaften, die unter anderen in der Erkenntnis der Bereitschaft zu engagierter, zeitintensiver Arbeit (ein Projekt produzierte das nächste, man/frau kam nicht aus der Übung) bei gleichzeitiger Akzeptanz prekärer Produktions- und Lebensbedingungen, sprich: zu einer hohen Produktivität für wenig Geld stand. Suchte sich die selbstorganisierte Projektekultur einerseits von der exkludierendhierarchischen Sozialstruktur bestehender Institutionen zu unterscheiden, blieb sie andererseits gegenüber den eigenen, vor allem in Geschlechterverhältnissen und Teilhabe an gesellschaftlich und/oder kulturell privilegierten Milieus zum

19Siehe

die Gruppe minimal club, die 1983 in München gegründet wurden und deren Mitglieder, darunter u. a. Stephan Geene, Elfe Brandenburger und ich, im Laufe de 1990er Jahren nach Berlin zogen. 20Siehe Sammlung Brinkmann in Düsseldorf (u. a. mit Alice Creischer und Andreas Siekmann).

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Ausdruck kommenden Machtgefällen blind. Hinzu kam, dass nicht wenige, die sich vom Kunstbetrieb fernhielten, ob aus anti-institutioneller Haltung oder weil sie sich keine Erfolgschancen ausrechneten, in der damals sich vor allem auch in Berlin ausweitenden nischenökonomischen Kreativindustrie jobbten: Entsprechend bezeichnete die Berliner Künstlerin Judith Hopf, Mitbegründerin der Klasse Zwei, das Prinzip der Selbstorganisation als ‚Vorhölle‘. Damit war die Aussicht auf ein zwischen Projektekultur und Dienstleistung gefangenes Prekariat gemeint. So war dieses augenscheinlich auf dem Weg, in unfreiwillige Komplizenschaft mit jener Corporate Identity zu geraten, mit der Klaus Wowereit, der ehemalige Berliner Oberbürgermeister für ‚seine‘ Stadt warb: „Arm, aber sexy“.

3 „Adieu Vorhölle“21 Die in der Projektekultur der 1990er Jahre zu beobachtende Praxis des Improvisierens und Erprobens kollektiver Kommunikations- und Produktionsweisen manifestierte sich in mehr oder weniger parodistischen Reflexionen auf das eigene sozio-kulturelle Milieu. Die Spannungen zwischen postautonomer Kunstpraxis und Dienstleistungsjobs ließ dabei eine neue, von „zerrissenem Bewusstsein“ (Hegel) geprägte Subjektivität zum Vorschein treten, die zum bevorzugten Gegenstand performativer Selbstuntersuchungen wurde. Ein Beispiel hierfür ist das Performancevideo Bartleby von Judith Hopf und Stephan Geene, einem der Mitbegründer des zwischen Anfang der 1980er und Anfang der 2000er Jahre in München und Berlin aktiven minimal club und des Kreuzberger Buchladen- und Verlagskollektivs b_books: Als die beiden anlässlich der im Frühjahr 1999 von der Berliner Volksbühne organisierten Veranstaltung Mille Plateaux Herman Melvilles 1853 erstmals publizierte Erzählung in einer filmischen Adaption aktualisierten, griffen sie eine Figur auf, der Gilles Deleuze 1989, sprich: zweihundert Jahre nach der Französischen Revolution und zu Beginn der auf den Kalten Krieg folgenden, heute mit Stichworten wie Globalisierung und Neoliberalismus assoziierten Epoche, seine Hymne Bartleby oder die Formel22 gewidmet hatte. Deleuze feiert in seiner Bartleby-Hymne die Entscheidung von Melvilles Protagonisten, einem Büroschreiber, ohne weitere Erklärung die Anordnungen seines Vorgesetzten, einem Anwalt, mit einem notorischen „I would prefer not to …“ zurückzuweisen.23 Hopfs und Geenes Umdeutung der Figur des Bartleby zu einem Mitarbeiter eines Grafikdesignbüros wirft die Frage nach Möglichkeiten des Neinsagens und Unproduktivseins in einem zwischen postautonomer Projektekultur und neoliberaler Kreativindustrie situierten Milieu auf. Im Stile einer Fernsehreportage wurde Bartleby in einem der Flure der Berliner

21In

Anlehnung an Judith Hopfs Ausstellung im Kunstverein Braunschweig, 2001. Siehe auch Hopf, Judith: Adieu Vorhölle, Ausstellungskatalog Kunstverein Braunschweig, 2001. 22Deleuze, Gilles: Bartleby oder die Formel. Berlin 1994. 23Ebd., S. 20.

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Volksbühne gedreht: Der Monolog von Melvilles Ich-Erzähler war nun als Dialog zwischen einem Reporter (Geene) und einer leitenden Büromitarbeiterin (Hopf) gestaltet. So wie sich Melvilles Bartleby als Parabel auf individuellen Widerstand innerhalb einer sich selbst ad absurdum führenden kapitalistischen Subjektivierung liest, so stellt Hopfs und Geenes Montage aus Dialog- und Spielszenen die Möglichkeiten des Neinsagens innerhalb eines selbstinitiativen Mischmilieus aus Projektekultur und Kreativwirtschaft zur Debatte: Bartlebys Formel zeigt sich hier etwa in der hingebungsvollen Beschäftigung mit Topfpflanzen und Joghurtbechern. Während Melvilles selbstgefällig-humanistischer Arbeitgeber die subjektiven Befindlichkeiten seiner Angestellten toleriert, demonstriert die filmische Adaption, dass das postfordistische Arbeitsregime keines Vorgesetzten bedarf, um es am Laufen zu halten. Auch das Prinzip der flachen Hierarchie lässt keinen Zweifel daran, dass optimierte Arbeitskraftabschöpfung mit sichtbar unsichtbarer Hand durchregiert. Gleichwohl scheint die kreativwirtschaftliche Integration des/der „ganzen“ Mitarbeiters/Mitarbeiterin – zumindest im Film – einen systemimmanenten Bartleby-Effekt zu produzieren: Die Vorliebe des Büroteams für das Hin- und Hertragen von Topfpflanzen und das Innere des Firmenkühlschranks spricht offenkundig dafür, dass es sich etwas zu sehr zu Hause fühlt. Geenes und Hopfs Parodie berührt die in den späten 1990er Jahren vieldebattierte Frage des ‚way out‘ aus einer auf permanenter Selbstmotivation und -Ausbeutung beruhenden Produktionsmoral. In diesem Sinne vereint die filmische Adaption von Bartlebys notorischem „I would prefer not to…“ Unvereinbares: die Bejahung des Widerstands gegen sich selbst, sprich: den verinnerlichten Boss. Mit Jacques Rancière betrachtet, besteht die Konsequenz aus Bartlebys Formel in dem auf das eigene Milieu übertragenen Versuch, das „private Prinzip der Arbeit“ auf jene „Bühne“24 zu stellen, die das „öffentliche Prinzip der Arbeit“ repräsentiert. In diesem Sinne lässt sich Bartleby auch als Versuchsanordnung in eigener Sache betrachten, stellt sich doch der Zwang zu permanenter Arbeitsperformance zugleich als konstitutive Bedingung des beschriebenen Problems dar. Bezeichnenderweise kommt der vor laufender Kamera aufgeführte Dialog einer real-fiktiven Sprechprobe gleich, so als ginge es allererst um eine ‚öffentlich‘ ausgetragene Arbeit an den eigenen Kommunikations- und Rollencodes. Das in Hopfs/Geenes Bartleby zutage tretende zerrissene Bewusstsein steht also in programmatischem Widerspruch zu Boltanskis/Chiapellos These, der zufolge künstlerische Kritik Ausdruck des Strebens nach persönlicher Autonomie und Authentizität ist. Vielmehr lässt sich die filmische Adaption als ein Plädoyer für die Externalisierung der verinnerlichten Arbeitsbühne lesen, die sich mit dem Spiel auf ununterscheidbare Weise vermischt: bedingte Autonomie eben.

24Siehe

Rancière, Jacques: Von der Kunst und der Arbeit. Warum die Praktiken der Kunst eine Ausnahme von den anderen Praktiken bilden und warum nicht. In: Ders.: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin 2006, S. 66.

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4 Bühnen der Arbeit Die Projektekultur war alles andere als hocheffizient – nicht wenige Initiativen sind versandet und mehr oder weniger produktiv gescheitert. So ging erhebliche Zeit mit ausschweifenden Erörterungen um die Möglichkeitsbedingungen kritischer Subjektivierung ‚drauf‘ – Aspekte, die in Boltanskis/Chiapellos Der neue Geist des Kapitalismus unberücksichtigt bleiben und die verdeutlichen, dass es weniger um individuelle Selbstfindung als vielmehr um kollektive ‚Entselbstung‘ ging. Wie bereits im ersten Abschnitt dargelegt, gehörte zum Anspruch auf kritische Subjektivierung ein Verständnis kollektiver Praxis, dem die Produktion authentischer Künstlersubjektivität wesensfremd war: Bezeichnend in diesem Zusammenhang der notorische Auftritt von Natascha Sadr Haghighian, einem damaligen Mitglied von Botschaft e. V., unter verschiedenen Pseudonymen und Biografien, so zuletzt als Natascha Süder Happelmann im Deutschen Pavillon der Venedig Biennale 2019. Die Idiosynkrasie gegenüber blauäugigem Authentizitäts- und Autonomieglauben zeigt sich auch in den eher rudimentär überlieferten Artefakten der 1990er Jahre, bestehen diese doch aus Zines und Readern, aus nur mehr bedingt brauchbaren Video- und Audiotapes, zerstreuten Fotos, Filmen und Zeichnungen sowie objekthaften Leftovers zumeist mehr schlecht als recht dokumentierter Themenausstellungen. Vielleicht ist dies der Preis für das, was damals mit dem Begriff der Praxis gemeint war: Arbeiten im Hier und Jetzt und nicht für die Nachwelt oder schon gar nicht fürs Museum. Schließlich galt es, andere Regeln als jene des herrschenden Kunstbetriebs zu erfinden und dem nebulösen ‚Selbst‘ kollektiver Organisation multiple Gesichter und Stimmen entgegenzusetzen. Vielleicht ist es das, was die Projektekultur einen erweiterten Typus der Bühne im Sinne von „mille plateaux“ erzeugen ließ, auf dem auf gleichermaßen lustvoll und anstrengend erlebte Weise mit- und voneinander gelernt wurde – sei es in Bezug auf künstlerisches und handwerkliches oder auf aktivistisches und theoretisches Know-how. Womöglich zeigt sich hier, wenn auch auf einer metaphorisch zu verstehenden Ebene ein Phänomen, das Rancière im Volkstheaters des frühen 19. Jahrhunderts entdeckt: Nämlich die Wahrnehmung der ‚öffentlichen‘ Bühne als ein Ort der Vermischung von all dem, was auch im ‚privaten‘ (Arbeits-)Leben vermischt ist: ein künstlerischer Einfall hier, eine politische Handlung dort, Konflikte und Konkurrenzen, Freundschaften und Liebesdramen etc.25 Der Vergleich mit Rancières dem Autonomiebegriff Schillers verpflichteten Modell der Volksbühne mag hinken: Doch die Idee einer sich auf öffentlicher Bühne erprobenden Gemeinschaft ‚Gleicher‘ schwang zweifelsohne in der Projektekultur mit – nur

25Rancière, Jacques: Das Theater der Gedanken. In: Ders.: Der verlorene Faden. Essays zur modernen Fiktion. Wien 2015, S. 115–136.

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dass diese anders als Rancière nicht von materiellen Produktionsverhältnissen absah, sondern sich als deren Bestandteil betrachtete.26 Die erkannte Heteronomie der Kunst bedeutete indes nicht, dass Zweckund Fremdbestimmtheit zum Horizont kollektiver Praxis erhoben wurde: Rancières Ansatz vergleichbar war es nicht der Glaube an eine unmittelbare Revolutionierung der Gesellschaft durch die Kunst, welcher die Projektekultur antrieb, sondern die Hoffnung, dass sich Kunst auf eine Weise mit anderen Wissens- und ästhetischen Praktiken mischen würde, die imstande wäre, das Prinzip der Kollektivität gegen die hochindividualisierte Arbeitsgesellschaft in Stellung zu bringen.

5 Projektekultur revisited In diesem Sinne lässt sich Rancières Konzept auch auf die sogenannte Besetzung der Berliner Volksbühne im September 2017 beziehen, weil diese sich mit der Behauptung, dass es sich hierbei um eine Performance gehandelt habe, einer authentifizierbaren Politisierung entzog: So nahmen die Besetzer/innen Autonomie im Sinne einer „bühnifizierten“ Vermischung von Kunst und Politik in Anspruch, die dazu diente, einen Raum zu schaffen. Mich erinnert im Nachhinein die Forderung der Besetzer/innen in der Volksbühne, nicht nur diese, sondern die ganze Stadt als Bühne kollektiver Performance zu begreifen, an den eingangs erwähnten Probebühnencharakter der Off-Spaces. Da es bei der Besetzung um eine improvisierte, d. h. die ‚große‘ Bühnenkunst klarerweise nicht erfüllende Performance handelte, hatte die strategisch beanspruchte Autonomie eine an die 1990er Jahre erinnernde Funktion: Weniger Erfolgsoption als vielmehr das Risiko von „trial and error“ in Kauf nehmend, erwies sich die Besetzung als Probe aufs Exempel. Was wäre, wenn die Volksbühne zum öffentlichen und politischen Prinzip kreativer Arbeit würde? Das war, wie wir heute wissen, eine utopische Fiktion, indes eine, die das Problem des Politischen innerhalb herrschender Produktions- und Repräsentationsverhältnisse auf den Punkt brachte. Dass die Besetzer/innen Foyer, Flure und Gänge als Versammlungsräume und Probebühnen nutzten, erinnert vielleicht nicht von ungefähr an Bartlebys Auftritt am Rande der Ende der 1990er Jahre am selben Ort organisierten Mille PlateauxTagung. Dass die Besetzer/innen die desaströsen Folgen der Immobilienspekulation und der Vertreibung nicht zahlungskräftiger Berliner/innen in einen Kontext mit der Deregulierung der Volksbühne zu einem personell abgespeckten Ort für interdisziplinäre Kulturveranstaltungen zum Thema machten, erinnert

26Siehe hierzu auch Die Kamera läuft, das 2004 entstandene Video der Gruppe Kleines postfordistisches Drama (u. a. mit Pauline Boudry, Marion von Osten, Brigitta Kuster, Isabell Lorey Katja Reichard u. a.), die auf der Basis von 15 Interviews mit in Berlin lebenden Kulturproduzent/ innen prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen im Stile eines Castings bzw. einer Probe reflektieren.

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auch in anderer Hinsicht an die zeitweiligen Austauschbeziehungen zwischen der Projekte- und der Hausbesetzer/innenszene der frühen 1990er Jahre: Während Letztere ihre einstigen Domizile hauptsächlich in den westlichen Bezirken Kreuzberg und Schöneberg hatten, sollte sie gleich nach der Öffnung der Mauer in die ehemaligen östlichen Stadtteile expandieren, so auch nach Friedrichshain, wo sie die berühmte Mainzer Straße umgestaltete: In kürzester Zeit waren hier ein Buchladen, Kneipen, ein Haus für Frauen und Lesben und ein Tuntenhaus entstanden. In Teilen überschnitten sich die Orte der ‚autonomen‘ Hausbesetzer/ innen mit der damals noch jungen Techno- und House-Szene; dies war dem Geschehen in Mitte und in Prenzlauer Berg nicht unähnlich. Hier und da konnte man/frau den Eindruck gewinnen, dass eine lose, informelle Interessensgemeinschaft zwischen künstlerischen und politischen Projekten und Gruppen bestand, die beide über Schnittstellen zu Institutionen wie dem Künstlerhaus Bethanien, den Kunst-Werken, der NGBK, dem NBK oder dem Schwulen Museum verfügten. Mit anderen Worten: Es wäre zu diesem Zeitpunkt denkbar gewesen, dem Auseinanderdriften von kulturellen und politischen Milieus in ihre je eigenen Welten einen Raum der gemeinsamen Angelegenheiten entgegenzusetzen – d. h. einen Ort der öffentlichen Verhandlung, wie dies die Volksbühnen-Besetzer/innen buchstäblich ausprobiert haben. Ihnen war bei der Reklamierung ihrer Aktion als Performance selbstredend das traurige Ende der Mainzer Straße bewusst. So wurde auf Veranlassung des damaligen Berliner Innensenators die Hausbesetzer/ innenszene in der Friedrichshainer Mainzer Straße bald schon in einer gewaltsamen Aktion zerstört, während andere ehemals besetzte Orte wie das ehemals von einer Ostberliner Punk- und Kunstszene organisierte Tacheles in Berlin-Mitte in das City Marketing eingebunden wurden. Mitte der 1990er Jahre wurde es zu dessen erster Aufgabe, subkulturelles Flair zu simulieren; so sollte das bunte und kreative Image des Tacheles auch in die Bewerbung Berlins für die Olympischen Spiele 2000 eingespannt werden. Ironischerweise wurde die Volksbühne im Herbst 2017 – auf Veranlassung von Klaus Lederer, Mitglied der Linken und nach wie vor amtierender Kultursenator – unter anderem mit dem Argument geräumt, dass sie für die Proben des Künstlers Tino Sehgal zu dessen Auftragsinszenierung von Samuel Becketts Warten auf Godot gebraucht werde. Das Stück ist bezeichnenderweise eine ganz und gar moderne Allegorie auf die Unmöglichkeit, ein künstlerisches Werk zu vollenden. Somit gibt es trotz diverser Analogien zwischen damaligen und heutigen Projekten einen für meine Argumentation zentralen Unterschied, ist doch das Provisorische und Improvisierte inzwischen zu einer Corporate Identity Berlins avanciert: Wowereits „Arm, aber sexy“ dient dem City Marketing genauso wie der Forcierung von Public-Private-Partnership etc., welche Berlin nicht zuletzt anschlussfähig an den globalisierenden Kunstbetrieb gemacht hat. So klangen die 1990er Jahre bezeichnenderweise mit der von Klaus Biesenbach kuratierten Ausstellung Children of Berlin aus – darunter eine Reihe von Künstler/innen, die der selbstorganisierten Projektekultur angehörten. Biesenbach, einer der Mitbegründer der Kunst-Werke, wurde 1996 zum Chefkurator ans MOMA PS 1 in New York berufen und setzte nun seine Version der 1990er Jahre fort, die 1993

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im Rahmen der von Jochen Becker, Stephan Geene und Renate Lorenz in den Kunst-Werken kuratierten Ausstellung und Veranstaltung TRAP zur Debatte gestellt worden war. Thema war die bereits damals offenkundige Entleerung politischer Diskurse zu Sexismus, Homophobie und Rassismus durch eine rein institutionelle Repräsentation. TRAP stellte eine Kritik der davon unberücksichtigt bleibenden Hierarchien und Ausschlussmechanismen innerhalb der eigenen institutionellen Kontexte dar. Anlass war die zeitgleich in den Kunst-Werken präsentierte Schau Drucksache: Prints & Issues mit politischen Plakaten USamerikanischer Künstler/innen. Die ohnehin schwelenden Spannungen zwischen den Kunst-Werken und Mitgliedern der Projektekultur traten offen zutage. Dabei waren die Kunst-Werke von einer heterogenen Gruppe von Leuten als Bühne für interdisziplinäre Aktivitäten zwischen Kunst, Theater/Performance und Politik gegründet worden. Doch noch stand die Stadt in dem Ruf, vor allem Heimstätte der Neuen Wilden zu sein. Ein weiteres Beispiel dieser provisorischen Allianzen war das Projekt 37 Räume, das sich ein paar Leute ausgedacht hatten, welche zum inneren Kern und zum Umfeld der damals noch völlig unbedeutenden Kunst-Werke gehörten: In leer stehenden Ladenlokalen, Wohnungen und Fabriken in der bzw. rund um die Auguststraße wurden künstlerische Projekte präsentiert. Die Beteiligten waren sich der Ambivalenz von 37 Räume von vorneherein bewusst, denn man kann es wohl nicht anders als einen Akt der Gentrifizierung bezeichnen, wenn sich künstlerische Produzent/innen und kulturelle Unternehmer/innen in Immobilien einnisten, auf welche die Privatwirtschaft sukzessive ihr Auge werfen sollte. Die verbliebenen Mitte-Bewohner/innen, in der Regel ältere Ex-DDRler/innen, sahen es, wie sie den Projektbetreiber/innen unmissverständlich erklärten, keinesfalls als eine Verbesserung ihrer Lebensqualität an, dass geschlossene Läden in Ateliers und Ausstellungsräume umgewandelt wurden. So mag es als Ironie anmuten, dass 37 Räume von den Beteiligten als ein ‚autonomes‘ Format wahrgenommen wurde, da es nicht, wie wenig später Children of Berlin, von einem selbsternannten Repräsentanten, sondern kollektiv organisiert und kuratiert wurde: Vereinsvorsitzende der Kunstwerke e. V. waren neben Klaus Biesenbach Alexandra Binswanger, Philipp von Doering und Alfonso Rutigliano.27 Einladung und Beteiligung folgten dem Schneeball-Prinzip. Alle organisatorischen Fragen wurden gemeinsam geklärt, es galt das Mitspracherecht aller. Niemand sollte nachträglich die Rolle des Kurators/der Kuratorin oder des Sprechers/der Sprecherin übernehmen, ebenso wollte man auf ein repräsentatives Vorwort im

27Bezeichnenderweise

taucht in Wikipedia nur der Name Klaus Biesenbach auf: So heißt es, dass er und ein paar Kommilitonen die Institution in einer ehemaligen Margarinefabrik gegründet hätten. Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Kunst-Werke_Berlin (05.01.2020). Stattdessen wurden die Kurator/innen der Kunstwerke aus den Reihen der Beteiligten des Ausstellungsprojekts 37 Räume gewählt. Hierzu gehörten neben den Vereinsvorsitzenden Peter Funken, Stephan Geene, Bojana Pejić, Brigitte Sonnenschein, Barbara Straka, Sabine Vogel, Wolfgang Winkler, Thomas Wulffen. Später kamen Romy Köcher und Gabriele Muschter dazu. Quelle: Bewerbungsmappe für die Margarinefabrik, Privatarchiv Jutta Weitz.

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Ausstellungskatalog verzichten. Auch hier war es die Idee der provisorischen Bühne, die Rancières Modell der Vermischung im Sinne der unhierarchischen Teilhabe entsprach. Aber die galt unglücklicherweise nur für die Produzent/innen, nicht für die Bewohner/innen: ein Phänomen, das von den Volksbühnenbesetzer/ innen viel klarer und kritischer als von der Projektekultur der 1990er Jahre gesehen wurde. Dem Begehren nach kollektiver Vermischung waren auch von institutioneller Seite Grenzen gesetzt: Denn da war plötzlich jemand, der sich unmissverständlich als der künftige „Leiter“28 der zunächst kollektiv organisierten Kunst-Werke herauszuschälen begann, ein junger Entrepreneur, der sich zum Kurator ernannte und sich über die gemeinsamen Abmachungen hinwegsetzte. Nachdem er sich für den Druck des Ausstellungskatalogs verantwortlich erklärt hatte, hatte dieser plötzlich doch ein Vorwort, nämlich seins. Die offizielle Cool-Kids-Berlin-Szene hatte zu diesem Zeitpunkt bereits jeden Kontakt zu politischen Subkulturen verloren. Aber es war nicht nur die höhere Gewalt des Kulturbetriebs, welche die hypothetischen Allianzen zwischen Subkulturen, Off-Szene, Galerien und Institutionen gekappt hat. Von größerem Einfluss waren an dieser Stelle die selbsternannten Manager/innen des kulturell avancierten City Marketings, die mit der vermeintlich subversiven Kunstszene fusionierten. An der von den Kunst-Werken mitinitiierten Ausstellung Children of Berlin lassen sich die von den 1990er Jahren so leidenschaftlich bekämpften Mechanismen der (Selbst-) Vereinnahmung durchbuchstabieren. Doch geht die Geschichte der Projektekultur hierin keinesfalls auf: Ehemals so wichtige Orte wie der Friseur oder die Klasse Zwei sind zwar verschwunden, transformieren sich jedoch zu immer neuen, mehr oder weniger kollektiven Praxisformen: in Pong Film, pro qm, b_books oder in Silent Green sind einige der damals aktiven Produzent/innen in neuen, mehr oder weniger selbst organisierten Initiativen und Konstellationen aktiv. Diese reichen von Nischenökonomie bis zu Non-Profit Spaces – keine Selbstverständlichkeit in einer Stadt, in der Mieten inzwischen unbezahlbar geworden sind. Seit der Formierung jenes für die frühen 1990er Jahre so charakteristischen Provisoriums aus Räumen, Clubs, Gruppen und Projekten ist inzwischen über ein Vierteljahrhundert vergangen und lange Zeit sah es nicht danach aus, als ob es für sie abermals möglich wäre, gleichberechtigte Kooperationen mit offiziellen Institutionen einzugehen: Die Volksbühnenbesetzung und das von Chris Dercon unterbreitete Angebot einer „Dramaturgie der Koexistenz“ war ein erwartungsgemäß zum Scheitern verurteilter Versuch, etwas Neues, nicht von kreativwirtschaftlich durchtränkter Kulturpolitik Vorgedachtes auszuprobieren. So bestand die mit Rancière verstandene Autonomie der Besetzer/ innen darin, sich nicht erfolgreich institutionalisieren zu müssen: Gerade das hat sie vor einer rein politischen Funktionalisierung geschützt. Es ging interessanterweise bei der Besetzungsperformance gerade nicht um die Ent-, sondern um die Re-Funktionalisierung des „ästhetischen Scheins“ im Namen eines nunmehr

28Siehe Biesenbachs Wikipedia-Eintrag, https://de.wikipedia.org/wiki/Klaus_Biesenbach (05.01.2020).

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fiktiven Raums gemeinsamer Angelegenheiten. In diesem Sinne handelt es sich also um ein Paradebeispiel genau jenes performativen Widerspruchs, auf dem die moderne Funktionstrennung von Institutionen beruht, welche das allgemeine, kollektive Interesse repräsentieren soll(t)en und bei näherer Betrachtung in partikulare, individuelle Interessen zerfallen. Aus diesem Grund erscheinen Institutionen wie die Volksbühne als paradigmatische Orte der Verteidigung eines konstitutiv fiktionalen allgemeinen Interesses, die niemandes Eigentum sein sollte. In diesem Sinne ging es sicherlich nicht um eine authentische Übertragung von Kunst- in Lebenspraxis, die offenbar nach wie vor mit sozial- und/ oder institutionskritischen Künstler/innen assoziiert wird. Der institutionskritische Impuls zielt zwar weiterhin auf eine Infragestellung idealistischer Autonomieansprüche im Rahmen heteronom bestimmter Institutionen: Doch das Schreckbild der Projektekultur der 1990er Jahre, genauso zu enden wie die an ihrer Institutionalisierung gescheiterte, weil angeblich gesellschaftlich folgenlos gebliebene Avantgarde, haben die Volksbühne-Besetzer/innen glücklicherweise abgeschüttelt, verfielen sie doch nicht der Versuchung, politische Wirkungs- gegen künstlerische Autonomieansprüche auszuspielen. Wenn ich abschließend nochmals auf Bartleby zurückkomme, dann, weil das Video wie gesagt 1999 in der Berliner Volksbühne am Rande der Veranstaltung Mille Plateaux gedreht und somit im selben Jahr wie die New Yorker Ausstellung Children of Berlin gezeigt wurde, genau in dem Jahr, in dem Der neue Geist des Kapitalismus in deutscher Übersetzung herausgebracht worden ist: Zeitdiagnostischer hätte Bartlebys „I would prefer not to …“ wohl nicht klingen können.

Literatur Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: II. Die Entstehung der projektbasierten Polis. In: Dies.: Der neue Geist des Kapitalismus [1999]. Konstanz 2003, S. 147–210. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M. 1982. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde. Frankfurt a.M. 1974. Deleuze, Gilles: Bartleby oder die Formel. Berlin 1994. Eribon, Didier: Rückkehr nach Reims. Frankfurt a.M. 2016. Holloway, John: Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen (2002). Jameson, Frederic: Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus. In: Andreas Huyssen/Klaus R. Scherpe (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Reinbek bei Hamburg 1986, S. 45–102. José M. Bueso: The Play’s the Thing: On the Politics of Rehearsal. In: Sabeth Buchman/Ilse Lafe/Constanze Ruhm (Hg.): Putting Rehearsals to the Test. Practices of Rehearsal in Fine Arts, Film, Theater, Theory, and Politics. Berlin 2016, S. 108–118. Maechtel, Annette: Das Temporäre politisch denken. Raumproduktion im Nachwende-Berlin am Beispiel von Botschaft e. V. (1990–1996). Berlin 2020. Rancière, Jacques: Das Theater der Gedanken. In: Ders.: Der verlorene Faden. Essays zur modernen Fiktion. Wien 2015, S. 115–136.

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Rancière, Jacques: Von der Kunst und der Arbeit. Warum die Praktiken der Kunst eine Ausnahme von den anderen Praktiken bilden und warum nicht. In: Ders.: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin 2006. Susemichel, Lea/Kastner, Jens: Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken. Münster 2018.

Performance, Autonomie und mögliche Wirklichkeiten Karen van den Berg und Philipp Kleinmichel

Die Versuche der historischen Avantgarde, die Kunst in den Alltag, die Welt und das Leben zu überführen, galten lange als gescheitert. Gegenwärtig lässt sich nun allerdings eine größere Bewegung erkennen, die mit unterschiedlichen Strategien erneut darauf zielt, Kunst wirkungsvoll mit der alltäglichen Lebenspraxis zu fusionieren. Begriffe wie Useful Art, Social Practice Art, Artivism oder hyperreales Theater wurden für diese unterschiedlichen Tendenzen geprägt.1 Die Frage nach der künstlerischen Autonomie wird damit allerdings keineswegs irrelevant, vielmehr setzt sich das Ringen um Autonomie auf andere Weise fort. Was diese neuen Versuche ausmacht und wie sie sich historisch entwickelt haben, lässt sich besonders gut an der Herausbildung der Performance zu einer eigenen künstlerischen Gattung beobachten. Deshalb möchten wir nachfolgend anhand einer kurzen schlaglichtartigen Geschichte der Performance-Kunst zeigen, inwiefern die Unterscheidung zwischen künstlerisch-politischem Engagement und nichtkünstlerischen politischen Projekten für nicht wenige Künstler/innen ebenso relevant bleibt wie die Berufung auf die künstlerische Autonomie. Die hier behandelten Versuche machen dabei erkennbar, wie gerade die Emanzipation

1Vgl. Bass, Chloë/Sholette, Gregory/Social Practice Queens (Hg.): Art as Social Action. An Introduction to the Principles and Practices of Teaching Social Practice Art. New York 2018; Jordan, Cara/van den Berg, Karen/Kleinmichel, Philipp (Hg.): The Art of Direct Action. Social Sculpture and Beyond. Berlin 2019.

K. van den Berg (*) · P. Kleinmichel (*)  Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis, Zeppelin Universität, Friedrichshafen, Deutschland E-Mail: [email protected] P. Kleinmichel E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Eusterschulte et al. (Hrsg.), Funktionen der Künste, Ästhetiken X.0 – Zeitgenössische Konturen ästhetischen Denkens, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04927-8_11

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von institutionellen Dispositiven teilweise eine Rückkehr zu traditionellen, ästhetischen Mitteln der Theatralisierung zur Folge hat.

1 Episteme des Performativen Eine entscheidende Triebkraft bei der Herausbildung der Performance als eigener künstlerischer Form in den 1960er Jahren scheint zunächst in dem Anliegen zu bestehen, sich von einer ganzen Reihe traditioneller ästhetischer Mittel und Konventionen zu verabschieden: Im Unterschied zum Theater verzichtet die Performance-Kunst etwa auf stringente Narrative, im Vergleich zum Tanz auf überlieferte Choreographien, die aus einem historisch entstandenen Repertoire von festgelegten Bewegungen schöpfen, und im Gegensatz zur bildenden Kunst verzichtet sie zudem auf fetischisierte, künstlerische Objekte. Drei Maßgaben sind dabei entscheidend. Die erste besteht darin, dass an die Stelle des auratisch aufgeladenen Artefaktes und der vorgegebenen narrativen Ordnungen der menschliche Körper trat. Im Zuge dieser Entwicklung versuchten sich Künstler und Künstlerinnen wie Simone Forti, Yvonne Rainer oder das Judson Dance Theater in den 1960er Jahren – und dies kann als zweites zentrales Anliegen der Performance-Kunst gelten – auch aus den institutionellen Rahmen zu lösen. Eine dritte entscheidende Maßgabe der Performance-Künstler/innen dieser Generation bestand darin, eine neue unmittelbare Beziehung zwischen den performativen Praktiken und dem Publikum zu stiften.2 Mit dem Ziel, den menschlichen Körper sowohl aus dem alltagspraktischen Zweck-Mittel-Schema wie auch aus den ästhetischen Schemata der traditionellen Kunstformate zu befreien, um ihn in einen unmittelbaren existentiellen Bezug zum Leben zu stellen, folgt die neo-avantgardistische Performance-Kunst der 1960er Jahre dabei dem eingeschlagenen Weg historischer Avantgarden. Neben künstlerischen Bewegungen wie dem Bauhaus zählte die Lebensreformbewegung zu den Avantgarden, die bereits im 19. Jahrhundert verschiedene Intellektuelle und Künstler/innen anzogen. Sie suchte nach Möglichkeiten, das profane ­Alltagsleben mit ästhetischen Mitteln zu revolutionieren.3 Die verschiedenen Gruppierungen der Lebensreformbewegung, in deren Umkreis unter anderem die theosophischen, anthroposophischen und eurythmischen Denktraditionen und Praktiken entstanden, wurden dabei von reformpädagogischen Vorstellungen getragen, in deren Zentrum der menschliche Körper und die Entfesselung der Sinne stand. Diesen Vorstellungen zufolge kann sich der Mensch nur dann aus den v­erdinglichten Bezügen der modernen Welt lösen, wenn er seine Empfindungswelt gleichsam neu codiert und sich auf diese Weise emanzipiert. Zu den Mitteln der körperlichen

2Vgl.

Buchloh, Benjamin H. D.: Rock Paper Scissors. In: Artforum, 56/1 (September 2017), S. 279–291, hier S. 280. 3Zur Herausbildung der Logik der Avantgarde im 19. Jahrhundert vgl. Kleinmichel, Philipp: Im Namen der Kunst. Eine Genealogie der politischen Ästhetik. Wien 2014.

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Befreiung zählten in dieser Phase Techniken, wie das von dem Tanztheoretiker Rudolf von Laban entwickelte Notationssystem, das die Körperbewegungen einer neuen, aber überaus strengen, logisch begründeten Ordnung unterwarf. Die in politischer Hinsicht schillernden Bewegungen wie die der am schweizerischen Monte Verità lebenden Reformer, Nudisten, Anarchisten und Ökoaktivisten, zu denen neben Laban auch die Tänzerin Mary Wigman und Künstler/innen wie Sophie Taeuber-Arp gehörten, suchten nach neuen, körperlichen Ausdrucksformen, um den Menschen aus den entzauberten und – in ihren Augen – auf entfremdende Art zweckgerichteten Beziehungen der modernen Alltagswelt zu befreien und ihn nach ästhetischen und sinnlichen Kriterien zu transformieren.4 Die Vorstellungen eines von einer als emanzipiert verstandenen Sinnlichkeit bewegten Menschen waren genauso wie die dazugehörigen reformpädagogischen Methoden für eine Umgestaltung der modernen Lebenswelt von einer hoffnungsvollen und revolutionären Kraft getragen, die auch nach der Auflösung der Arbeits- und Lebensgemeinschaft des Monte Verità und der Schließung des Bauhauses 1933 Wege fand, sich weiter zu verbreiten. In der Tat überleben vergleichbare Ansätze beispielsweise in John Deweys berühmter Konzeption einer radikalen Pädagogik, die er als aktiven Humanismus definierte.5 Aus der Sicht Deweys, dessen Denken im Kunstfeld derzeit eine bemerkenswerte Renaissance erfährt, ist Erziehung nur dann wesentlich humanistisch, wenn sie sich nicht einfach am Wissen der Vergangenheit orientiert, sondern die menschliche Vorstellungskraft von den Fesseln dieser Vergangenheit löst. Das Erziehungskonzept Deweys weist dem Individuum daher eine aktive, gestaltende Rolle im Erziehungsprozess zu, weil es die gesellschaftlichen Regeln, Sitten und Gebräuche der Vergangenheit nicht nur passiv empfängt und wiederholt. Vielmehr soll sich das Individuum durch erspürte und durchlebte Erfahrungen, Beobachtungen und Handlungen erst von diesen befreien und in dieser Hinsicht autonom werden, und zugleich unmittelbar an der ständigen Erneuerung der überlieferten gesellschaftlichen Ordnung teilhaben. Diese Form der Pädagogik setzt für Dewey freilich auch eine Befreiung des Körpers aus der schulischen Disziplinierung voraus.6 Nicht zufällig wurden diese Vorstellungen auch am Black Mountain College rezipiert, jener innovativen Kunstakademie, die im Jahr 1933 in der Nähe von Asheville, North Carolina, gegründet wurde und bis 1957 bestand. Denn vom Black Mountain College gingen auch deshalb entscheidende Impulse für die Entwicklung der Performance zu einer eigenständigen Kunst aus, weil dort auf der Grundlage von Deweys reformpädagogischem Ansatz experimentelle Kunst- und

4Vgl. Szeemann, Harald/Agentur für geistige Gastarbeit: Monte Verità. Berg der Wahrheit. Lokale Anthropologie als Beitrag zur Wiederentdeckung einer neuzeitlichen sakralen Topographie. Milano 1978. 5Dewey, John: Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik. Weinheim/Basel, 1993 (engl. 1916), S. 301–304. 6Ebd., S. 188 f.

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Lebensformen erprobt und Handlungsmodi eingeübt wurden, die im erklärten Widerspruch zum deterministischen Zweck-Mittel-Schema der modernen arbeitsteilig bestimmten Gesellschaft standen.7 In diesem Umfeld, das unter anderem von den Arbeiten Richard Buckminster Fullers, John Cages, Robert Rauschenbergs und einer Reihe europäischer Migrant/innen wie Anni und Josef Albers oder Walter Gropius geprägt wurde, inszenierte Cage im Sommer 1952 im Rahmen eines Lehrauftrags unter der Überschrift Untitled Event eines der ersten Happenings.8 Bereits Cages frühere musikalische Performances zeichneten sich durch eine stark abstrahierte Bühnensituation aus und waren durch eine ganz eigene Bedeutung von Objekten bestimmt – ein Phänomen, das der Theaterwissenschaftler Joachim Fiebach als ein „In-Aktion-Bringen-der-Objekte“ beschreibt.9 Aber anders als das vier Jahre vor dem Untitled Event am Black Mountain College aufgeführte Stück The Ruse of Medusa – a lyric comedy in one act, das noch unter dem Einfluss des Bauhauses stand, wurde in dem ersten Happening Untitled Event auch das Bühnensetting ganz aufgelöst. Das Publikum gruppierte sich lose um den Performer herum. Schon an diesem offenen Setting zeigt sich, dass für die Herausbildung neuer Kunstgattungen wie der Performance jene Poetik der Offenheit ausschlaggebend war, die der Philosoph und Schriftsteller Umberto Eco 1962 in seinem wegweisenden Buch Opera aperta als besonderes Merkmal der Kunst der damaligen Zeit beschrieben hatte.10 Cages Inszenierungen waren jedoch nicht nur offen im Hinblick auf ihre Rezeptions- und Deutungsofferten, sondern verwischten als improvisierte Antworten auf soziale Situationen auch die Grenze zwischen künstlerischem und nichtkünstlerischem Handeln. Hierin zumindest öffnete sich das künstlerische Happening auch für das je unmittelbare soziale Umfeld.

2 Performativität und Grenzverletzungen Mit der Abwendung von narrativen Strukturen sowie tradierten Bühnen- und Ausstellungsräumen und mit der Substitution des Objekts durch den Körper der Performer/innen arbeitet die Performance somit zunächst an einer Transformation des intentionalen, zweckrationalisierten und verdinglichten Handelns des modernen

7Ebd.,

S. 410. Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Judith Siegmund, die Deweys dynamischen Handlungsbegriff herausstreicht und ihn von älteren deterministischen Vorstellungen abgrenzt, welche das Handeln als bloße Wirkung von Ursachen verstehen (Siegmund, Judith: Gedanken zu einer sozialen Handlungstheorie der Kunst. In: Daniel Martin Feige/Judith Siegmund (Hg.): Kunst und Handlung. Ästhetische und handlungstheoretische Perspektiven. Bielefeld 2015, S. 129. 8Vgl. Diaz, Eva: The Experimenters: Chance and Design at Black Mountain College. Chicago/ London 2015, S. 57 f. 9Fiebach, Joachim: Performance. In: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart/Weimar 2002, S. 741. 10Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. Frankfurt a.M. 1977 (ital. 1962), S. 22.

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Alltags in ein nicht-kausales, nicht durch Zwecke bestimmtes, freies und insofern autonom verstandenes Agieren.11 Dabei rückte die Performance-Kunst die Präsenz des Performers bzw. der Performerin als handelnden Körper in den Vordergrund. Insbesondere in den späten 1960er und beginnenden 1970er Jahren werden immer öfter ethisch-moralische Grenzüberschreitungen erkennbar, wobei die Zunahme der Tabubrüche zu dieser Zeit darauf hinzuweisen scheint, dass die Performance, in eben dem Maße, in dem sie sich als eigenständige Kunstgattung herausbildet, auch immer direkter in die soziale Wirklichkeit interveniert. Beispielhaft hierfür sind die Aktionen der schillernden und übergriffigen Performance-Künstler Otto Mühl, Hermann Nitsch und Adolf Frohner, die zum Kreis der sogenannten Wiener Aktionisten zählten. In ihren frühen Aktionen, etwa Blutorgel (1962), in denen mit Tierkadavern agiert wurde, steht nicht nur die verwundbare Leiblichkeit im Mittelpunkt, vielmehr kommt auf unangenehme Weise auch „eine sich vollziehende Wirklichkeit“ zur Geltung.12 In den symbolschwangeren Aktionen des sogenannten Orgien-Mysterien-Theaters, in denen Tiere gekreuzigt oder sadomasochistische Handlungen vollzogen wurden, agiert der teilweise nackte mit Blut besudelte Körper in unmittelbarer Nähe zum Publikum. Zentral war dabei die schockierende Erfahrung des Ekels, die auf eine drastische Unterbrechung jeder narrativ organisierten Sinnerwartung zielte. Derart drastische Mittel sollten nicht nur das Setting eines bürgerlichen Kunstevents, sondern auch die damit einhergehende soziale Ordnung der spätindustriellen Gesellschaft – zumindest temporär – erschüttern. Mit diesem Ansatz zählten Mühl und die Wiener Aktionisten zu einer ganzen Reihe von Künstlern und Künstlerinnen, die ihren eigenen Körper – oder auf oft übergriffige Weise auch den Körper anderer – physischen Extremsituationen aussetzten, um ihn aus den rational bestimmten Bezügen und bürgerlichen Konventionen zu lösen. In anderen mit Grenzüberschreitungen operierenden Performances ging es um noch direktere Interaktionen mit dem Publikum und um das Intervenieren in ihren unmittelbaren Alltag. Beispielhaft hierfür ist die berühmte Performance Tapp- und Tastkino, die Valie Export 1968 und 1969 gemeinsam mit Peter Weibel durchführte. Hierbei lud Weibel, ausgestattet mit einem Megaphon, Passanten auf offener Straße dazu ein, für genau 12 Sekunden Valie Exports Busen zu betasten.13 Export maß freundlich lächelnd die Zeit des Tastvorgangs mit einer Stoppuhr und machte so ihren Körper einerseits zum Objekt und zur Projektionsfläche männlichen Begehrens. Zugleich aber führte sie – nicht ohne Ironie und gestützt durch

11Zu

einer Kritik der Möglichkeit als Option für gegenwärtiges künstlerisches Handeln vgl. Siegmund, Judith: Zweck und Zweckfreiheit. Zum Funktionswandel der Künste im 21. Jahrhundert. Stuttgart 2019. 12Fiebach: Performance, 2002, S. 745. 13Vgl. Weibel, Peter: Vortrag bei ‚Kunst und Revolution‘. In: Peter Weibel, Valie Export, Wien: Bildkompendium Wiener Aktionismus und Film. Frankfurt a.M. 1970, S. 261.

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Weibels marktschreierische Ankündigung – das mitmacherische Treiben der Tastenden öffentlich vor. Im Zuge der weiteren Entwicklung der Performance-Kunst wird der menschliche Körper in der Folge ganz anderen Extremen unterworfen. Mit Blick auf die Kunst am Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre gewinnt man den Eindruck, dass die Kunst dieser Zeit alles daransetzt, einen Authentizitätsbeweis dadurch antreten zu wollen, dass sie geradezu ostentativ zeigt, dass nichts mehr vorgetäuscht oder vorgespielt, sondern alles Realfall des Lebens ist. Als unhintergehbarer Beleg wird daher nicht selten der Leib als physischer Träger des individuellen Lebens aufs Spiel gesetzt. Zu den eindrücklichsten Beispielen einer solchen Strategie gehören sicherlich die frühen Performances von Marina Abramović und Ulay. In Relation in Time (1977) knoteten sich die beiden für 16 Stunden mit ihren Haaren aneinander. Wie in vielen ihrer Aktionen ging es auch hier um ihre eigene Paarbeziehung und das Aushalten von Nähe und ein Einanderausgesetztsein bis an die Grenzen des physisch Erträglichen.14 Noch radikaler agierte der Niederländer Bas Jan Ader. In seiner Aktion In Search of the Miraculous (Songs for North Atlantic, July 1975 –) wird die Kunst zum Anschlag auf das eigene Leben, so dass es am Ende kein Als-ob mehr gibt. Ader, der sich in den 1970er Jahren von Häusern oder mit dem Fahrrad in Grachten stürzte, begibt sich in der besagten Aktion auf die romantische Suche nach dem verlorenen Wunderbaren, indem er sich mit dem kleinstmöglichen Segelboot aufmacht, den Atlantik zu überqueren. Diese Suche nach dem Wunderbaren, das es im modernen Alltag nicht mehr zu geben scheint, diese Suche nach der blauen Blume, wie es bei Novalis heißt, gehört zu den bekanntesten Motiven der romantischen Literatur. Indem sich Ader nun tatsächlich – und nicht nur imaginär – auf eine lebensgefährliche Reise begibt, hebt er die romantische Fiktion in die Realität. Ader kehrte von dieser Reise nie zurück. Sein Segelboot wurde zehn Monate nach seiner Abreise vor der Küste Irlands angetrieben. Ein Leichnam wurde nie gefunden.15 Die Versuche der Performance-Kunst, die Kunst durch das Riskieren der körperlichen Unversehrtheit ins Existentielle zu überführen, um dort eine unmittelbare, reale Wirkung zu erzielen, folgt nicht zufällig dem Gesetz der Grenzüberschreitung. Das Publikum wird vielmehr systematisch aus der sicheren, distanzierten und diskreten Position der Kontemplation in die Position des Voyeurs von lebendigen, gegenwärtigen und daher wirklichen Situationen gezwungen, deren Wahrheit und Wirklichkeit sich gerade durch physische Gewalt manifestiert. Indem die Performer/innen ihr Leben und ihren eigenen Leib aufs Spiel setzten,

14Noch

Anfang der 1990er Jahre, nachdem die Performance sich längst als eigenständige Kunstform etabliert hatte, wiederholten Künstler wie der Vorarlberger Wolfgang Flatz solche Überschreitungen: In der Silvesternacht 1990 lässt er sich in der ehemaligen Synagoge von Tiflis wie ein Glockenpendel zwischen zwei Stahlplatten hin und her werfen und wird schließlich ohnmächtig. 15Vgl. Verwoert, Jan: Bas Jan Ader. In Search of the Miraculous. London 2006.

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scheint die von der künstlerischen Avantgarde immer wieder geforderte Auflösung der Grenze zwischen Kunst und Leben realisiert.

3 Politisierung der Performance Spätestens seit Mitte der 1960er Jahre zeichnet sich in der Performance-Kunst zugleich immer deutlicher eine zunehmende Politisierung ab. Diese Politisierung, die nun weniger den Körper ins Zentrum stellt, lässt sich an den Arbeiten von Joseph Beuys beobachten, dessen frühe Performances noch den von der Alltagswirklichkeit getrennten, enklavischen Ausstellungsbetrieb der institutionalisierten Kunst thematisieren. Diese frühen Performances entstehen genauso wie die Idee des „erweiterten Kunstbegriffs“ noch in der Nähe der Fluxus-Bewegung, die ebenfalls versuchte, den bis dahin geltenden institutionellen Rahmen von Ausstellungen und Kunstaufführungen zu sprengen und irritierende Realitätserfahrungen zu evozieren. So hatte George Maciunas in seinem Fluxus-Manifest von 1963 eine Kunst gefordert, die sich von der alten Kunst dadurch unterscheidet, dass sie lebendig ist. Als „Anti-Kunst“ soll sie eine Nicht-Kunst-Realität fördern und sich an alle Menschen, nicht nur an Kritiker und Profis, wenden.16 In einer seiner berühmtesten Aktionen Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt von 1965 geht Beuys mit einem mit Honig und Blattgold überzogenem Gesicht und einem toten Hasen in den Händen durch eine mit seinen Werken bestückte Ausstellung in der Düsseldorfer Galerie Schmela.17 Das Publikum kann das Geschehen über drei Stunden hinweg nur durch die Schaufensterscheibe verfolgen. Beuys adressiert so nicht nur die kunstinstitutionelle Bedeutungsproduktion durch Erklärungs- und Kommentaranstrengungen und die damit verbundene strukturelle Trennung zwischen Künstler/in und Publikum, sondern arbeitet auch an der Erweiterung der Grenzen des bestehenden Kunstverständnisses, indem der Adressat seiner Bildinterpretationen ein Hase ist – und noch dazu ein toter. In der visuellen Symbolik zeigt sich hier schon das ganze Panorama von Beuys’ „erweitertem Kunstbegriff“: So drücken sich in dem mit Honig und Gold bedeckten Gesicht Beuys’ kosmologisch-mystische Vorstellungen stofflicher Umwandlungsprozesse aus, denen zufolge das gesellschaftliche ebenso wie das kulturelle Leben im ökologisch-geistigen Horizont des kosmischen Lebens betrachtet werden müssen. Im gesamten Œuvre reflektiert Beuys durch solche

16Vgl.

zum Manifest van den Berg, Karen: Socially Engaged Art and the Fall of the Spectator since Joseph Beuys and the Situationists. In: Karen van den Berg/Cara Jordan/Philipp Kleinmichel (Hg.): The Art of Direct Action – Social Sculpture and Beyond. Berlin 2019, S. 1–40, hier S. 35. 17Beuys, Eva/Beuys, Wenzel (Hg.): Joseph Beuys – Die Eröffnung 1965. …irgendein Strang … Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt. Göttingen 2011.

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mit Bedeutungshorizonten aufgeladenen Materialien die Idee eines ökologischgeistigen Universums.18 In seinen späteren Arbeiten erkennt man allerdings eine immer eindeutiger werdende Politisierung der Performance-Kunst. Während der Berliner Studentenproteste, die sich 1967 als Reaktion auf den Mord an Benno Ohnesorg entzündeten, gründete Beuys, der die Kunst in zunehmendem Maße als einziges adäquates Medium verstand, um die gesellschaftliche Wirklichkeit grundlegend zu revolutionieren, mit der Deutschen Studentenpartei seine erste politische Organisation.19 1970 folgt die Gründung der Organisation für Direkte Demokratie durch Referendum, 1973 die Freie Internationale Universität für Kreativität und Interdisziplinäre Forschung (FIU) und schließlich ist er 1979 Gründungsmitglied der Partei Die Grünen, für die er später – auf einem aussichtslosen Listenplatz – als Europaabgeordneter kandidiert.20 Beuys’ künstlerisch-politische Bemühungen zielen dabei darauf ab, die Kunst aus ihrer gesellschaftlichen Nischenexistenz zu befreien, um mittels einer alle menschlichen, kreativen Praktiken umfassenden neuen Kunst eine grundlegende Transformation des menschlichen Denkens und Agierens zu bewirken. Zu dieser Transformation gehörte es Beuys zufolge auch, das bestehende Parteiensystem als eine überkommene Ordnung kenntlich zu machen, die in den Grenzen einer rein materialistischen Weltanschauung gefangen bleibt. In diesem Zusammenhang lässt sich auch seine Performance Ausfegen verstehen, die er am 1. Mai 1972 gemeinsam mit zwei Studenten nach den Berliner Mai-Demonstrationen an der Ecke zwischen Karl-Marx-Platz und der KarlMarx-Allee realisierte. Aus Sicht von Beuys’ universalistischer, kosmologischer Perspektive produzieren die Mai-Demonstrationen genauso wie das in seinen Augen obsolet gewordene politische System selbst vor allem Müll, den er mit den beiden Studenten demonstrativ auffegte und in Plastiktüten füllte, die mit dem Logo seiner Organisation der Nichtwähler versehen waren und die wiederum in einer Galerie ausgestellt wurden. Mit dieser – im Verbund mit den eigenen Parteigründungen zu sehenden – Fusion von Kunst und Politik und der nachfolgenden Politisierung der Kunst kündigt sich aber auch eine neue Schwierigkeit an, die darin besteht, künstlerische politische Bewegungen von nicht-künstlerischen politischen Bewegungen zu unterscheiden.21 Denn die Notwendigkeit einer Differenzierung bleibt trotz und vielleicht gerade aufgrund der Bemühungen ihrer Überwindung bestehen. Bedürfen doch auch jene Praktiken, die aus dem Feld der etablierten

18Vgl.

van den Berg: Socially Engaged Art and the Fall of the Spectator since Joseph Beuys and the Situationists, 2019, S. 25 f. 19Vgl. Harlan, Volker: Was ist Kunst? Stuttgart 1986, S. 15. 20Harlan, Volker/Rappman, Rainer/Schata, Peter (Hg.): Soziale Plastik. Materialien zu Joseph Beuys. Achberg 1984, S. 20. 21Zur Notwendigkeit dieser Unterscheidung vgl. Kleinmichel, Philipp: The Symbolic Excess of Art Activism. In: Karen van den Berg/Cara Jordan/Philipp Kleinmichel: The Art of Direct Action: Social Sculpture and Beyond. Berlin 2019, S. 211–237.

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Institutionen heraustreten, eines privilegierten, mit bestimmten Freiräumen, Diskursen, Kommunikationskanälen, Ökonomien und Institutionen ausgestatteten Raumes. Zwar ist es nicht immer relevant, bei öffentlich inszenierten Protesten und politischen sowie sozial engagierten Organisationen zu entscheiden, ob es sich um aktivistische Kunst oder um nicht-künstlerische politische Bewegungen handelt.22 So scheint es zumindest auf den ersten Blick nicht notwendig, festlegen zu können, ob man beispielsweise die grauen Menschen, die sich bei den Protesten gegen den G20-Gipfel 2017 wie Zombies durch die Hamburger Innenstadt bewegten, aufgrund der ästhetischen Mittel dieser Protestform als Kunst begreift. Allerdings bleibt eben selbst dann, wenn – wie der Kunsttheoretiker Helmut Draxler schreibt – die „Gegensätze zwischen Avantgarde und Massenkultur oder zwischen Kunst und Kulturindustrie“ bzw. politischem Aktivismus und Sozialarbeit verblassen, das „ideologische Konstrukt“ der Kunst für die Kommunikation, die Legitimation und die Bewahrung bestimmter künstlerischer Strategien unverzichtbar: „Auch wenn die engagierte Kunst also gegen die distanzierte und institutionalisierte polemisiert, so war sie doch immer schon auf sie angewiesen. Sie zehrt vom Prestige der institutionalisierten Hochkunst“, davon, „Bestandteil jener globalen Privilegien- und Elitekultur“ zu sein.23 So müssen gerade jene Künstler und Künstlerinnen, die außerhalb der Institutionen arbeiten, ihre Aktionen auf bestimmte Weise erneut rahmen, um sie als Kunst erkennbar zu machen oder überhaupt verwirklichen zu können. Wie bei anderen Protestformen richtet sich auch der künstlerische Protest, der sich unmittelbar in das alltägliche Leben einschreibt, vor allem darauf, Aufmerksamkeit zu gewinnen. In der mediatisierten Moderne bedeutet das notwendigerweise auch, die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen. Diese Notwendigkeit hatte Beuys bereits in den 1960er und 1970er Jahren verstanden. Seine Performances, die er als medienwirksames „Vehikel“24 für die Transformation der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit verstand, ließ er von Journalist/innen, Fotograf/innen sowie Film- und Fernsehkameras begleiten, die sich eben gerade deshalb für die Performances interessierten, weil es sich nicht einfach um politische Aktionen, sondern um Aktionen im Namen der Kunst handelte.

22Zur

Rolle des Betrachters vgl. van den Berg: Socially Engaged Art and the Fall of the Spectator since Joseph Beuys and the Situationists. 23Draxler, Helmut: Gefährliche Substanzen: zum Verhältnis von Kritik und Kunst. Berlin 2007, S. 17, 156, 137 und 161. 24Vgl. Beuys in der Paneldiskussion „Wochenendforum: Kunst und Antikunst“ [1970] mit Max Bense, Max Bill und Arnold Gehlen, moderiert von Wieland Schmied, in der Reihe Meinungen gegen Meinungen. Ende Offen, https://www.youtube.com/watch?v=2VLsaY4KGYs (31.01.2020).

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4 Theatralisierung der politischen Wirklichkeit Nachdem die Performance-Kunst der 1960er und 1970er Jahre und künstlerische Bewegungen wie die Institutional Critique und die Konzept-Kunst Anstrengungen unternommen hatten, Institutionen und Traditionen zu durchbrechen und nicht zuletzt eine Dematerialisierung der Künste voranzutreiben, knüpfen in den 1990er Jahren verschiedene künstlerische Bewegungen wie die Kontext-Kunst, die sogenannte „Kunst als Dienstleistung“ und jene Künstler/innen, die unter dem Label Relational Aesthetics geführt werden, an diese Tendenzen an.25 Besonders deutlich lässt sich die Fortführung dieser Tendenz an den Projekten Christoph Schlingensiefs beobachten, dessen Arbeiten sich immer wieder explizit auf Joseph Beuys bezogen haben. Schlingensief, der stets mit einer ganzen Reihe von Kooperationspartner/innen arbeitete, nutzte traditionelle Theaterhäuser, Kunstinstitutionen und deren ästhetische Mittel als Ausgangspunkt für die performative Arbeit, um ihre Wirkung nicht nur in der Galerie, im Theater oder auf der Leinwand zu entfalten, sondern in der Wirklichkeit des medialisierten Alltags selbst. Denn nachdem die Künstler und Künstlerinnen in den Jahrzehnten zuvor bereits zu den Kunstinstitutionen auf Distanz gegangen waren, nutzte Schlingensief diese traditionellen Orte der Kunst, um von hier aus „hinein ins Leben“ zu springen.26 Dabei lassen sich seine Arbeiten dadurch charakterisieren, dass ihre mediale Vermittlung selbst stets Teil der künstlerischen Praxis war. In der Aktion Passion Impossible: Sieben Tage Notruf Deutschland – Eine Bahnhofsmission verwandelte er mit seinem Ensemble 1997 die neben dem Hamburger Schauspielhaus und dem Hauptbahnhof gelegene Polizeiwache unter dem Motto „Raus aus dieser Bude – rein ins Leben!“ für sieben Tage in eine temporäre Bahnhofsmission mit offener Bühne, Suppenküche und Fixerzimmer. Das Projekt erfolgte auf Einladung des Schauspielhauses und begann dort mit einer verstörenden Spendengala, die das Publikum im Unklaren ließ, wie ernst es um die sozialen Absichten des Projektes tatsächlich stand. Ähnlich wie Beuys trat Schlingensief ein Jahr später, 1998, als Mitgründer der Partei Chance 2000 auf, die zunächst in Berlin und dann unter dem Motto „Scheitern als Chance“ auch zur Bundestagswahl antrat. Laut Parteiprogramm bestand das erklärte Ziel der Partei darin, „auf allen Feldern von Politik, Wirtschaft, Arbeitsmarkt, Medien“ die Infrastrukturen der „Kommunikations- und Datenkanäle“ zu befreien und „die Realität unseres Staates“ zu transformieren. Dabei ging es aber zunächst darum, „künstlerische und politische Gestaltungsmöglichkeiten zu erkunden und zu erproben“, und zwar innerhalb einer politischen

25Vgl.

Weibel, Peter (Hg.): Kontext Kunst. Kunst der 90er Jahre. Köln 1994; White, Pae/ Hegewisch, Katharina: Das Ende der Avantgarde: Kunst als Dienstleistung, München 1995; Bourriaud, Nicolas: Relational Aesthetics, Dijon 2002. 26Umathum, Sandra: Christoph Schlingensief. Regisseur der schnellen Reaktion. In: Anja Dürrschmidt, Barbara Engelhardt (Hg.): Werk-Stück. Regisseure im Porträt. Berlin 2003, S. 144– 151, hier S. 146.

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Realität, die selbst als eigentlicher „Spielraum“ der Kunst verstanden wurde.27 Unter der Überschrift „Wille zur Macht“ heißt es im Parteiprogramm explizit, dass diese Erkundungen „Fernsehen, Film, Theater“ genauso einschließen wie die Bereiche der bildenden „Kunst und Pop- und E-Musik sowie der Alltags- und Lebenskunst“.28 Auf diesem Weg sollen die von der Partei „anvisierten Menschen der verschiedenen Minderheiten“ politisch aktiviert werden. Die Menschen sollen sich „von Objekten zu Subjekten der Politik“ verwandeln.29 Mit „Hilfe der Künste, die uns zur Verfügung stehen“, d. h. auch mit Hilfe der traditionellen Künste des Theaters und der bildenden Kunst solle diese Verwandlung realisiert werden.30 So zeigt sich hier eine Positionierung der Kunst, die die politische Wirklichkeit selbst als Handlungsraum der Kunst versteht. In einer derart künstlerisch erweiterten politischen Realität stellt sich aber die Frage, wie es möglich ist, diese noch zur Verfügung stehenden Künste überhaupt noch als Kunst kenntlich zu machen und sie von anderen politischen und ideologischen Propaganda- und Kommunikationsformen zu unterscheiden.31 Schlingensief fand die Antwort auf diese Frage in der Rückkehr zu den alten ästhetischen Mitteln der Theatralisierung. So nutzen seine Aktionen das ganze Repertoire der innerhalb der Performance-Kunst entstandenen Stilmittel der Überschreitung und Grenzverletzung, der gezielten Tabu- und Rahmenbrüche. Dabei erlaubt es gerade die trashige Ästhetik der Bühnensets und Kostümierungen, eine erneute Trennung zwischen Kunst und politischer Realität herzustellen und die Aktionen als Kunst zu betrachten. Dieser Versuch, die Gestaltungskraft von Minderheiten durch ein schillerndes Realtheater zu mobilisieren, das sich einerseits in den gesellschaftlichen Alltag und seine massenmediale Vermittlung integrierte und andererseits dennoch signifikant als Kunst erkennbar blieb, wird in fast allen Schlingensiefschen Performances erkennbar. In der Aktion Passion Impossible: Sieben Tage Notruf Deutschland – Eine Bahnhofsmission waren beispielsweise neben einer offenen Bühne für Obdachlose auch geistig und körperlich beeinträchtigte Schauspieler/innen Teil des Ensembles. Weil diese Integration von Minderheiten, Drogensüchtigen und Schwächeren allerdings nicht darauf zielte, ihnen eine dauerhafte Perspektiven zu geben oder eine nachhaltige Integration in das wirkliche, aber „falsche“ Leben zu bieten, wurden seine Aktionen immer wieder als zynisch kritisiert. Tatsächlich ist es zutreffend, dass Schlingensief seinen Namen, die damit verbundene Aufmerksamkeit der Massenmedien und seinen gesellschaftlichen Erfolg auch der Mitwirkung der Minderheiten verdankte, denen die gleiche Aufmerksamkeit versagt blieb. Daher stand denn auch immer wieder der Vorwurf im Raum, Schlingensief hätte die Minderheiten nur

27Vgl.

Chance 2000 – Parteiprogramm, https://web.archive.org/web/19991104045644/http:// www.chance2000.com/MUSEUM/Parteimuseum/Parteiprogramm.htm. (01.09.2019). 28Ebd. 29Ebd. 30Ebd. 31Vgl. hierzu Hegemann, Carl (Hg.): Ausbruch der Kunst: Politik und Verbrechen II. Berlin 2003.

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ausgebeutet, sie gleichsam für seine Freakshows eingesetzt, um das symbolische Kapital der medialen Aufmerksamkeit zu privatisieren. Allerdings übersehen solche Argumentationen, dass es den Schlingensiefschen Aktionen gar nicht darum ging, die „anvisierten Menschen der verschiedenen Minderheiten“ in die bestehende Alltagswirklichkeit zu integrieren, sondern darum, diese Alltagswirklichkeit selbst wesentlich als unzulänglich und veränderungsbedürftige Wirklichkeit kenntlich zu machen.32 Entsprechend erklärt eine Schauspielerin aus seinem Ensemble, die in der temporären Hamburger Bahnhofmission in der Uniform der Heilsarmee auftrat, den irritierten und empörten Besucher/innen, dass das, was hier stattfinde, Kunst sei, und entzog das Projekt so dem Anspruch, den man an eine nachhaltige Sozialarbeit stellen würde. Mit ähnlichen Mitteln der Theatralisierung operiert auch das Kollektiv Zentrum für Politische Schönheit, deren Mitglieder die gesellschaftliche und politische Realität ebenfalls als Aktionsraum ihrer Kunstpraxis verstehen und mit ihrem Slogan „Kunst muss weh tun“ eine andere Form der Politik einfordern. Philipp Ruch, einem der Gründer des Zentrums, zufolge nutzt das Kollektiv dabei beispielsweise „Nazimethoden“ um gegen Nazis vorzugehen und „Hetzern das Leben zur Hölle zu machen“.33 Angesichts der provokanten medialen Inszenierungen – wie etwa dem Aufstellen einer Arena vor dem Berliner Maxim-Gorki-Theater, in der sich 2016 Geflüchtete Tigern zum Fraß vorwerfen lassen wollten – fällt auf, dass das Kollektiv mit einem aufgeplusterten Vokabular und blutrünstigen Bildern operiert, die selbst die exzentrischen Mittel von Schlingensief-Aktionen überbieten. So geht es bei der spektakulär inszenierten Aktion Flüchtlinge fressen (2016) eben nicht mehr, wie noch in der frühen Performance-Kunst, darum, in der Performance selbst lebendige Körper im Namen der Kunst aufs Spiel zu setzen. Der Tod findet vielmehr andernorts – an den europäischen Außengrenzen – im realen Leben selbst statt. In den theatralischen Spektakeln des Zentrum für Politische Schönheit geht es dagegen vor allem darum, die Aufmerksamkeit der Massenmedien – und hier nicht nur des Feuilletons – zu nutzen, um mit den Mitteln eines „hyperrealen Theaters“ das gespaltene moralische Selbstverständnis der heutigen Gesellschaft sichtbar zu machen. Denn während die theatralischen Aktionen nur das schauerliche Bild der Tötung von Flüchtlingen erzeugen, stellt die Flüchtlingspolitik der europäischen Demokratien diesen Tod durch Unterlassung einer umfassenden Flüchtlingshilfe de facto her. Nun mag man die Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit gerade aufgrund dieser Rückkehr zu einer moralisierenden Theatralisierung sowohl

32Vgl.

Chance 2000 – Parteiprogramm. Jana: Höcke hat Besuch. Zentrum für Politische Schönheit. In: Die Zeit, Nr. 49, 29.11.2017, https://www.zeit.de/2017/49/zentrum-fuer-politische-schoenheit-bjoern-hoecke-holo­ caust-mahnmal (31.01.2020); vgl. auch van den Berg, Karen: Riskante Manöver. Das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) und die politische Wahrheit der Illusion. In: Raimar Stange, Miriam Rummel, Florian Waldvogel (Hg.): Haltung als Handlung – Das Zentrum für politische Schönheit. München 2018, S. 304–320.

33Simon,

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in politischer wie auch in ästhetischer Hinsicht als abstoßenden politischmoralischen Kitsch kritisieren. Tatsächlich ist dies denn auch oft geschehen.34 Allerdings lässt sich die raunende, spektakelhafte Ästhetik auch als eine Maßnahme verstehen, um die Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit überhaupt erst als Kunst identifizierbar zu machen. Denn gerade dort, wo sich die künstlerischen Projekte besonders weit von den traditionellen Institutionen der Kunst entfernt haben und das Feld der Politik selbst als künstlerischen Aktionsraum begreifen, ergibt sich geradezu eine juristische Notwendigkeit für eine solche Markierung. Ein schlagendes Beispiel hierfür ist eine jüngere Aktion, in der die Gruppe unter der Überschrift „Was tun, wenn der Nachbar ein Neonazi ist?“ eine Medienkampagne gegen den AfD-Politiker Björn Höcke lancierte. Nachdem Höcke am 17. Januar 2017 in einer aggressiven Hetzrede eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ forderte und vom Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas als einem „Denkmal der Schande“ sprach, behauptete das Künstlerkollektiv, den Politiker rund um die Uhr zu überwachen.35 Dazu mieteten die Künstler/innen eine Wohnung auf dem Nachbargrundstück von Höcke in Bornhagen, einer kleinen Gemeinde im thüringischen Landkreis Eichsfeld. Dort installierten sie in einer Nacht- und Nebel-Aktion eine Miniaturkopie des Berliner Holocaust-Mahnmals.36 Die Aktion wurde durch slapstickartige Filmausschnitte bekannt, in denen Personen, die als „zivilgesellschaftlicher Verfassungsschutz“ in betont lächerlichen Tarnkostümen in Sichtweite des Hauses des Politikers umhersprangen, vorgaben, den Politiker zu bespitzeln. In einem Video ließen die Köpfe der Gruppe Philipp Ruch, Stefan Pelzer und Cesy Leonard verlauten, dass sich der fingierte „zivilgesellschaftliche Verfassungsschutz“ nur unter der Bedingung auflöse, dass Höcke aufrichtig um Vergebung bitte und vor dem Mahnmal auf die Knie falle wie einst Willy Brandt vor dem Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos.37 Als Folge dieser medial äußerst erfolgreichen Inszenierung, die aufgrund der Theatralik auch leicht als solche zu erkennen war, wurde von der Staatsanwaltschaft in Gera dennoch ein Ermittlungsverfahren nach § 129 des Strafgesetzbuchs wegen der vermeintlichen Bildung einer kriminellen Vereinigung gegen das Kollektiv eingeleitet. Bekannt wurden die Ermittlungen, weil auf einer Liste, die dem Innenausschuss des Thüringer Landtags vorlag, neben Terrororganisationen wie dem sogenannten Islamischen Staat, der syrisch-irakischen Al-Nusra-Front

34Vgl.

etwa Ullrich, Wolfgang: Das Erdbeben der Schönheit. In: Die ZEIT, Nr. 48, 26. 11 2015, https://www.zeit.de/2015/48/philipp-ruch-kunst-politik-manifest-antimodernismus (31.01.2020). 35Zentrum für Politische Schönheit: Das Holocaust-Mahnmal Bornhagen, https://politicalbeauty. de/mahnmal.html (31.01.2020). 36Ebd. 37Ebd.; vgl. auch Kitterer, Alexander: Holocaust-Mahnmal Bornhagen (2017). In: Raimar Stange, Miriam Rummel, Florian Waldvogel (Hg.): Haltung als Handlung – Das Zentrum für politische Schönheit. München 2018, S. 269–283.

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und der islamistischen Bewegung al-Shabaab auch ein Künstlerkollektiv aufgeführt wurde, das sich auf Nachfrage eines Abgeordneten als das Zentrum für Politische Schönheit entpuppte.38 Auf den ersten Blick scheint dieser Umstand, dass das Kollektiv als vermeintlich verfassungsgefährdende Organisation geführt wurde, die nach wie vor bestehende Schwierigkeit zu unterstreichen, zwischen Kunst und Politik zu unterscheiden. Denn im Wesentlichen geht es hier auch um die Frage, ob und unter welchen Bedingungen es möglich ist, sich auf das verfassungsrechtlich gewährte Privileg der Kunstfreiheit berufen zu können.39 Genauer betrachtet verdeutlicht aber gerade die Tatsache, dass das Verfahren – nach Bekanntwerden im April 2019 und der darauffolgenden medialen Empörung – eingestellt und der Staatsanwalt als Sprecher der Staatsanwaltschaft Gera abberufen wurde, dass es weiterhin wichtig bleibt, eine Grenze zwischen Kunst und Politik ausmachen zu können. Gerade vor dem Hintergrund einer Theatralisierung der Politik selbst, wie sie heute am stärksten von Populisten wie Donald Trump betrieben wird, scheint die Möglichkeit einer solchen Differenzierung aber womöglich eine Rückkehr zu den traditionellen Wirkungsmitteln des Theaters und der Kunst notwendig zu machen. Denn indem das Kollektiv mit künstlerischen Mitteln die Differenz zwischen der politischen Wirklichkeit und der theatralischen Kritik an dieser Wirklichkeit exponiert, macht es zugleich diese politische Wirklichkeit – die eben auch eine rechte bis rechtsextreme Unterwanderung der Politik und Jurisprudenz umfasst – als eine nicht-künstlerische und nicht imaginierte Realität kenntlich.40 So lässt die theatrale Semantik des hyperrealen Theaters die politische Wirklichkeit, auf die es sich bezieht, selbst als widersinnig und obszön erscheinen. Die Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit richten den Blick durch ihre gefakten Gegenrealitäten daher stets auf den moralischen Möglichkeitssinn und darauf, wie die Wirklichkeit auch sein könnte. Von den Performances der ersten Stunde unterscheiden sich diese jüngeren theatralen Strategien ganz fundamental. Während die frühen Performances auf eine Erschließung von neuen Formen des Handelns abstellten, auf Deutungsoffenheit, Situations- und Vollzugorientierung setzten und theatrale Inszenierungen mieden, operiert das hyperreale Theater gerade mit einer ostentativen Theatralität. Die komplexe Liaison von Kunst, Politik und politischem Aktivismus, wie sie etwa das Zentrum für Politische Schönheit eingeht, bedarf nicht nur eindeutiger politischer Absichten, sondern auch präzise kalkulierter PR-Strategien. Auch zeigt

38Vgl.

dazu Prantl, Heribert: Es riecht nach Rechtsbeugung aus politischen Gründen. In: Süddeutsche Zeitung, 07.04.2019, https://www.sueddeutsche.de/politik/prantl-afdstaatsanwaltschaft-thueringen-zentrum-fuer-politische-schoenheit-1.4400201 (31.01.2020). 39Auf die Umstände, die zu den Ermittlungen führten, und den dahinterstehenden AfD-nahen Staatsanwalt kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. 40Leipold, André: Das Zentrum für Politische Schönheit schärft die Konturen der Realität. In: Nicole Gronemeyer, Bernd Stegemann (Hg.): Lob des Realismus. Die Debatte. Berlin 2017, S. 42–54.

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sich an diesem Beispiel, dass dort, wo Künstler/innen weitgehend außerhalb des kunstinstitutionellen Rahmens arbeiten und sich dennoch auf die verfassungsrechtlich garantierte Kunstfreiheit beziehen und mit jenen Aufmerksamkeitsprivilegien rechnen wollen, die der Kunst in besonderem Maße zuteilwerden, diese Arbeit eben als Kunst erkennbar bleiben muss. Im Anschluss an das Zentrum für Politische Schönheit und ähnliche Kollektive (wie etwa auch Yes Men), so ließe sich abschließend argumentieren, kann man in der Entwicklung der PerformanceKunst insofern auch eine Rückkehr zu einem traditionelleren Kunstverständnis beobachten: Die im politischen Raum agierende, aber gleichwohl auf den institutionellen Rahmen eines autonomen Kunstfeldes angewiesene aktivistische Kunst operiert mit Mitteln der minutiös geplanten Theatralisierung, mit einem kalkulierten Einsatz einer Wirkungsästhetik, mit der sie sich das Privileg der Kunstfreiheit erkauft. Insofern zeigt sich hier eine Rückkehr zu ästhetischen Mitteln, die viele der avantgardistischen Performer/innen der 1960er und 1970er Jahre gerade hinter sich gelassen hatten.

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