Friedrich Nicolai im Kontext der kritischen Kultur der Aufklärung 9783847099147, 9783899719093, 9783862349098

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Friedrich Nicolai im Kontext der kritischen Kultur der Aufklärung
 9783847099147, 9783899719093, 9783862349098

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Schriften des Frühneuzeitzentrums Potsdam Herausgegeben von Cornelia Klettke, Andreas Köstler, Ralf Pröve, Stefanie Stockhorst und Dirk Wiemann

Band 2

Stefanie Stockhorst (Hg.)

Friedrich Nicolai im Kontext der kritischen Kultur der Aufklärung

Mit 11 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-89971-909-3 ISBN 978-3-86234-909-8 (E-Book) Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Friedrich Nicolai. Gemälde von Anton Graff (um 1793/95). Ó Bildarchiv Foto Marburg Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Stefanie Stockhorst Einleitung. Friedrich Nicolai und die »Freiheit […] von seiner Vernunft in allen Stükken öffentlichen Gebrauch zu machen« . . . . . . . . . . . .

9

Sektion I: Literarische Kritik Frieder von Ammon Kampfplätze der Literatur. Friedrich Nicolai und die Streitkultur des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Norbert Christian Wolf Der späte Nicolai als Literaturpapst. Zu den Hintergründen der fortschreitenden Verrohung in der literarischen Öffentlichkeit um 1800 .

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Knut Kiesant Sebaldus Nothanker – ein ›Manifest‹ der Berliner Aufklärung . . . . . . .

75

Barbara Becker-Cantarino Nicolais Vertraute Briefe von Adelheid B** an ihre Freundin Julie S**, Fichte und Schlegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

Saskia S. Wiedner Deutsch-italienischer Kulturtransfer in der Berliner Aufklärung am Beispiel von Friedrich Nicolais Goldoni-Übersetzungen . . . . . . . . . . 111

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Inhalt

Sektion II: Zivilisations-Kritik Erdmut Jost »Gerechte Lobsprüche«. Zur positiven Zeitschriften-Rezeption von Friedrich Nicolais Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Kontext einer sich wandelnden Poetik der Reisebeschreibung 1783 – 1796 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Helmut Peitsch »Rec. […] bleibt […] lieber bey dem stehen, wo Hr. Forster in seinem eigentlichen Fache ist«: Forsters Reisebeschreibungen und Übersetzungen in der Allgemeinen deutschen Bibliothek . . . . . . . . . 155 Andrea Ressel »Von den Einwohnern, ihrer allmähligen Vermehrung, jetzigen Anzahl und Eintheilung«: Demographische Reflexionen in Friedrich Nicolais Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam im Vergleich mit Johann Peter Süßmilchs Göttlicher Ordnung . . . . . . . . 173 Ralf Pröve Friedrich Nicolai und die Wahrnehmung militärischer Räume . . . . . . 189 Cem Sengül »Die elegante Simplicität bey einem Bürgerhause«. Baukunst und bürgerliche Identität bei Nicolai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Andreas Köstler Wie man aus Kupfer(n) Geld macht, oder : Aufklärung als Geschäft. Daniel Chodowieckis Illustrationen zu Friedrich Nicolais Sebaldus Nothanker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

Sektion III: Kritische Literatur Anne Fleig »Wahrheitsliebe und Anstand« – Zur Entlarvung Cagliostros durch Elisa von der Recke und Friedrich Nicolai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Kristine Hannak »Heilige Thorheiten« – Pietismus und Satire in Nicolais Sebaldus Nothanker (1773 – 76) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

Inhalt

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Julius H. Schoeps Das Dreigestirn der Berliner Aufklärung. Eine Skizze der Freundschaftsbeziehungen zwischen Moses Mendelssohn, Gotthold E. Lessing und Friedrich Nicolai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Ulrike Schneider Friedrich Nicolais Perspektive(n) auf die Berliner Juden und die jüdische Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Ursula Paintner Aufgeklärter Antijesuitismus? Zur antijesuitischen Argumentation bei Friedrich Nicolai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Stefanie Stockhorst De mortuis et bonum et malum. Friedrich Nicolais Nekrologe auf seine Mit-Streiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Personen- und Sachregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

Stefanie Stockhorst

Einleitung. Friedrich Nicolai und die »Freiheit […] von seiner Vernunft in allen Stükken öffentlichen Gebrauch zu machen«

Immer wieder wird Friedrich Nicolai (1733 – 1811) nach 1800 in günstigen Fällen als Popularphilosoph, meistens jedoch als bornierter Dinosaurier gescholten, der vor allem dadurch in Erinnerung blieb, dass er – so liest man nach wie vor häufig1 – grob vernünftelnd durch die anmutigen Gefilde der Kunstperiode trampelte. Dies hat freilich weniger mit der Qualität seines Œuvres zu tun als vielmehr damit, dass die Wahrnehmung Nicolais durch goethezeitlich geprägte Wertmaßstäbe und Geschmacksvorlieben nachhaltig überschattet wird. »Aber«, so fragte mit gutem Recht Johann Erich Biester (1749 – 1816), der übrigens selbst als befreundeter Mit-Streiter Nicolais dessen Polemik, Weitläufigkeit und mitunter fehlende gedankliche Tiefe bemängelte, am 3. Juli 1812 vor der versammelten Akademie der Wissenschaften zu Berlin, »wer wäre so verblendet, nur auf das letzte Alter seine Blicke zu heften, und nicht zu der kraftvollen Periode hinaufzusehen, wo dies Werk eine Wirksamkeit geäussert hat, die eine wahre Revolution von der heilsamsten Art in allen Theilen der Wissenschaft und Kultur, ja, in der ganzen Denkungsweise des deutschen Volks hervorbrachte?«2 Nachdem grundlegende Revisionsarbeiten am wissenschaftlichen NicolaiBild bereits vor rund zwei Jahrzehnten namentlich durch Horst Möller und Paul Raabe in Gang gesetzt wurden,3 ist inzwischen offenbar ein Punkt erreicht, an dem die Nicolai-Forschung nicht nur aus ihrer apologetischen Phase in eine analytische übertritt, sondern auch eine systematische Einbindung in die interdisziplinäre Aufklärungsforschung suchen kann. Sichtbare Schritte in diese Richtung unternahmen Rainer Falk und Alexander Kosˇenina 2007 mit der Tagung »Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung«, deren Akten in einem

1 Vgl. z. B. Ego, Aufgeklärt, aufklärend, auskläricht, bes. S. 121 u. S. 136. 2 Biester, Denkschrift auf Friedrich Nicolai, S. 26. 3 Vgl. insbes. Möller, Friedrich Nicolai als Historiker ; ders.: Friedrich Christoph Nicolai – Rehabilitation durch Edition?; ders., Aufklärung in Preußen; sowie Raabe, Friedrich Nicolai. Die Verlagswerke eines preußischen Buchhändlers der Aufklärung 1759 – 1811.

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Sammelband publiziert vorliegen.4 Besonders anregend erscheint darin der bereits von Karl-Heinz Göttert in einer Rezension5 lobend hervorgehobene Artikel von York-Gothart Mix zur Frage »Wie aufgeklärt war Friedrich Nicolai?«,6 die sich dahingehend ausweiten ließe zu fragen, wie aufgeklärt überhaupt die Aufklärung war – und inwiefern Nicolai gerade in seinen Ambivalenzen womöglich sogar charakteristische Züge ›der‹ Aufklärung jenseits ihrer expliziten Programmwerte verkörpert. Einen anderen vielversprechenden Vorstoß unternahm Terence James Reed in seiner 2009 erschienenen Kleinen Geschichte der Aufklärung, die ungeachtet ihrer Kürze ein ganzes Kapitel über Nicolai enthält, überschrieben mit: »Herr Nickel und die Publizität«.7 Mit den gängigen Vorurteilen, welche durch die Weimar-Jenaer Literaturpolitik – Reed nennt sie »pure Siegerjustiz«8 – verbreitet und durch die aus nationalen Gründen etwas klassikfixierte Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts zementiert wurden, wird hier gehörig aufgeräumt, um den Blick freizugeben auf Nicolais Verdienste um die Schaffung einer kritischen Öffentlichkeit bürgerlichen Zuschnitts. Vollständigkeitshalber sei an dieser Stelle angemerkt, dass Nicolai keineswegs der einzige war, dem die spekulativen und metaphysischen Erkenntnisformen, die den deutschen Idealismus kennzeichnen, zutiefst suspekt waren – man denke nur an die nachgerade fassungslosen Reaktionen des englischen Zeitgenossen Henry Crabb Robinson (1775 – 1867) oder an die fundamentale Verurteilung durch Karl R. Popper.9 Unter den neuesten Aktivitäten in Sachen Nicolai ist nicht zuletzt die von Rainer Falk mit großer Sachkenntnis kuratierte Ausstellung zu erwähnen, die unter dem Titel »Sie hören nicht auf, sich um unsre Litteratur, und ihre Freunde, verdient zu machen!« vom 22. Juni bis 2. September 2012 im Gleimhaus Halberstadt gezeigt wurde.10

4 Vgl. Falk/Kosˇenina (Hg.), Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung. – Einige zentrale, aber auch unbekanntere Gesichtspunkte im Werk Nicolais vergegenwärtigen darüber hinaus die Forschungsartikel und Essays zum 200. Todestag Nicolais in Stockhorst/Kiesant/Roloff (Hg.), Friedrich Nicolai (1733 – 1811). 5 Vgl. Göttert, Am dümmsten aber sind die Bayern. – Indes beanstandet Göttert, es werde sonst im Wesentlichen auf beschönigende Weise das »bekannte Bild nachgezeichnet«, was er mit nicht minder bekannten Klischees vom »langweiligen Roman ›Sebaldus Nothanker‹« pariert, der »nichts anderes als: Ignoranz« belege, wobei er bei klarer Tendenz die heuristisch wenige ergiebige Dichotomie fortschreibt, nach der Nicolai entweder als Aufklärer oder eben als Anti-Aufklärer zu sehen ist. 6 Vgl. Mix, Lucri bonus odor oder Wie aufgeklärt war Friedrich Nicolai? 7 Reed, Mehr Licht in Deutschland, S. 109. 8 Ebd., S. 113. 9 Vgl. z. B. Stockhorst, Henry Crabb Robinsons doppeltes Deutschlandbild; sowie Popper, Logik der Forschung, bes. S. 13 ff. 10 Vgl. die schöne Dokumentation durch den Katalog von Falk, »Sie hören nicht auf, sich um unsre Litteratur, und ihre Freunde, verdient zu machen!«.

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Nicolai machte sich durch seine öffentlichkeitswirksamen Polemiken – deren bisweilen recht aggressiver Tonfall freilich im literarischen Leben des 18. Jahrhunderts keine wirkliche Ausnahme bildete – zahlreiche Feinde, darunter vor allem in den späten Jahren Goethe, Schiller, Kant, Fichte sowie die komplette Frühromantik. Was ihm indes als Vergeltung dafür in Goethes und Schillers Xenien-Almanach (1796) im Zuge einer erbosten Abrechnung mit der gesamten Gegenwartsliteratur widerfuhr, kam einer literarischen Hinrichtung gleich,11 wurde er doch in großem Bogen als pedantisch, ungebildet, profitgierig und epigonal diffamiert.12 Etliche der Vorwürfe, die in hitziger Salve gegen ihn abgefeuert wurden, treffen zwar ins Schwarze, zeugen aber zugleich von einer durchaus parteilichen Wertung der Tatsachen: So ließe sich die materielle Gewinnorientierung auch als Gespür für die Interessen und Bedürfnislagen des Publikums deuten, die Vielschreiberei als Fleiß, der Starrsinn als Prinzipientreue, die mangelnde Gelehrsamkeit als Anspruch auf Allgemeinverständlichkeit, die manipulative Unredlichkeit als radikales Engagement für als höherrangig erachtete Ziele. Das Vexierspiel ließe sich noch um einiges fortsetzen, jedoch dürfte bereits aus dem Gesagten deutlich werden, wie stark das Urteil von Standpunkten und Erkenntnisinteressen abhängt. Abgesehen von diesem spezifischen Rezeptionsproblem Nicolais hält sich in der internationalen Forschung der Eindruck, es fehle der deutschen Aufklärung überhaupt an eigenständigem Profil.13 Auch hierzulande beherrschen zumindest außerhalb der DixhuitiÀmistik monolithische Figuren wie Kant und Lessing das Bild, dazu bestenfalls noch Gottsched und Thomasius, die zwar allesamt wichtig sind, aber weder einzeln noch in der Zusammenschau als repräsentativ für die (deutschsprachige) Aufklärung oder gar für das 18. Jahrhundert gelten können. Vor diesem Hintergrund liegt die Herausforderung darin, Nicolai in seinen Funktionen als Protagonist, als ›Macher‹ und Multiplikator der deutschen Aufklärung einschließlich der ihr eigenen Aporien und Friktionen (die Nicolai in bezeichnender Weise verkörpert) statt bloß als Prellbock des deutschen Idealismus zu untersuchen oder in wohlmeinenden, jedoch letztlich kontraproduktiven Beschönigungen zu verharren. Zum literarischen Höhenkamm in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gehört Nicolai trotz seines enormen Publikumserfolgs vielleicht nicht, wenngleich sich die meisten seiner schreibenden Zeitgenossen bei nüchterner Betrachtung in der direkten Gegenüberstellung mit der Brillanz eines Lessing, der Nicolai oft ausgesetzt ist, ein wenig blass ausnehmen. Allerdings zeugt die vornehmlich in der Forschung früherer 11 Vgl. z. B. Berghahn, Maßlose Kritik. 12 Vgl. Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 1, bes. S. 523, S. 525, S. 535 u. S. 588. 13 Vgl. Reed, Mehr Licht in Deutschland, S. 13 et passim; sowie Vierhaus, Die Erforschung des 18. Jahrhunderts, S. 162.

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Zeiten kultivierte Konzentration auf das Meisterwerk – in dem allein die »Interpretationskunst ihren würdigsten Gegenstand«14 finde – von literaturwissenschaftlich kontraproduktiver Eitelkeit. Denn unter dem Aspekt von faktischer Präsenz, Quantität und Wirkung gehört Nicolai allemal zu den Schlüsselfiguren der Aufklärung, und zwar nicht nur in Preußen, sondern im deutschsprachigen Raum insgesamt.15 Dafür lassen sich drei hauptsächliche Gründe nennen. Erstens gehörte er natürlich von Berufs wegen dazu: Nicolai war Verleger und Buchhändler in Berlin, einer wissenschaftlich und kulturell aufsteigenden Metropole, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts zur zweitwichtigsten deutschen Buchhandelsstadt nach Leipzig entwickelte. Dazu trug Nicolai in erheblichem Maße bei. Sein Programm umfasste ein weites Themenspektrum, angefangen von Pädagogik und Schulwesen über die klassischen Fakultäten Theologie, Philosophie, Jura und Medizin bis hin zu Mathematik und Astronomie, Geographie, Staatenkunde und Bergbau sowie Pharmazeutik und Chemie. Neben Arbeiten deutschsprachiger Autoren erschienen bei ihm auch zahlreiche Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen (u. a. von Voltaire, Denis Diderot und Alexander Pope). Insgesamt veröffentlichte er in seinem Verlag einschließlich der Nachauflagen 543 Titel bzw. 1.117 Bände.16 Zweitens erzeugte Nicolai ebenso lange wie erfolgreich einen Brennpunkt der kritischen Diskussionskultur seiner Zeit. Mit der Rezensionszeitschrift Allgemeine deutsche Bibliothek, die er von 1765 bis 1806 (ab 1793 unter dem Titel Neue allgemeine deutsche Bibliothek) herausgab und mit zahlreichen eigenen Artikeln bestückte, beeinflusste er die Prozesse einer kritischen Meinungsbildung in der aufklärerischen Letternrepublik überaus nachhaltig.17 An der Unternehmung, die Jean Paul bissig als »Rezensierfaktorei«18 schalt, waren insgesamt rund 430 Mitarbeiter beteiligt, davon mitunter bis zu 150 gleichzeitig. Es erschienen nicht weniger als 225 Bände einschließlich der Register sowie 30 Supplementbände, in denen über 60.000 internationale Neuerscheinungen aus allen Wissensgebieten besprochen wurden. Dass er dabei nicht zuletzt kommerzielle Interessen verfolgte, steht der Natur aufklärerischer Publizistik keineswegs entgegen, waren doch auch andere verlegerische Großunternehmungen 14 Haug, Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft?, S. 69. 15 Vgl. z. B. Möller, Aufklärung in Preußen, passim. 16 Vgl. Raabe, Friedrich Nicolai. Die Verlagswerke eines preußischen Buchhändlers der Aufklärung 1759 – 1811; ders., Der Verleger Friedrich Nicolai; ders., Zum Bild des Verlagswesens in Deutschland in der Spätaufklärung; Selwyn, Everyday Life in the German Book Trade; sowie Beuermann, Nicolai als Verleger. 17 Vgl. ausführlich Schneider, Friedrich Nicolais ›Allgemeine Deutsche Bibliothek‹ als Integrationsmedium der Gelehrtenrepublik; sowie Zelle, Nicolais ›Allgemeine deutsche Bibliothek‹ und ihre Bedeutung für das Kommunikationssystem der Spätaufklärung. 18 Jean Paul, Leben des Quintus Fixlein, S. 20.

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der Aufklärung wie das von Johann Heinrich Zedler herausgegebene Grosse vollständige Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste (1732 – 54) oder die von Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d’Alembert herausgegebene Encyclop¦die ou Dictionnaire raisonn¦ des sciences, des arts et des m¦tiers (1751 – 80) durchaus auf Rentabilität angelegt.19 Mithin zeugt die jahrzehntelang anhaltende Zahlungsbereitschaft eines Publikums, ohne die alle diese verlegerischen Projekte nicht hätten reüssieren können, von einem aktiven Interesse der Zeitgenossen an den publizistischen Themen, Genres und Umgangsformen, die Nicolai auf den literarischen Markt brachte. Was seine Zeitschrift von anderen aufklärerischen Blättern unterscheidet, ist ihre enorme Durchsetzungskraft, mit der Nicolai ungleich effektiver zu einer ›ästhetischen Erziehung‹ einer breiten Leserschaft beitragen konnte als beispielsweise Friedrich Schiller (1759 – 1805) mit seinen Horen (1795 – 97), die Nicolai für ihren elitären Nimbus verspottete. Dagegen scheiterte Christian Friedrich Daniel Schubart (1739 – 1791), dessen kritische Zeitschriftenprojekte Deutsche Chronik (1774 – 77) und Vaterländische Chronik (1788 – 91) mit ihren im weitesten Sinne literarischen Schwerpunkten der ADB durchaus nahe standen, darüber hinaus jedoch auch politische Themen aufwarfen,20 an einem publizistischen Klima, das Schubart selbst, wie er im Vorbericht zum ersten Heft mitteilt, als außerordentlich repressiv einschätzte: »[D]ie Furchtsamkeit der meisten deutschen Scribenten ist Schuld daran, daß sie von ihrem Lande oft gar nichts, oder doch immer im panegyrischen Thone sprechen und sich vor diesem Zwang mit Strenge am Auslande rächen. Es haben oft die besten Journale das Unglück, daß sie aufhören müssen: Ein Mann, der bemerkt wird, ist in einer weit gefährlichern Lage, als der Kleinmann, den kein Mensch bemerkt.«21

Während Schubart durch den württembergischen Herzog Carl Eugen im Januar 1777 ohne Gerichtsurteil für zehn Jahre auf dem Hohenasperg gefangengesetzt wurde – wo Nicolai ihn 1781 auf seiner Deutschlandreise besuchte – geriet Nicolai als weitgehend unpolitischer, tendenziell königstreuer Publizist kaum jemals mit den Zensurbehörden in Konflikt.22 Vor allem aber gründete der jahrzehntelange Erfolg seiner Zeitschrift ihrer Themenvielfalt, auf ihrer Aktualität und vor allem auf ihrem programmatischen Anspruch, ein kritisches 19 Vgl. Döring, Leipzig als Produktionsort enzyklopädischer Literatur bis 1750; immer noch Quedenbaum, Der Verleger und Buchhändler Johann Heinrich Zedler 1706 – 1751; sowie Darnton, The Business of Enlightenment. 20 Vgl. weiterführend z. B. Myers, Für den Bürger ; Warneken, Schubart. Der unbürgerliche Bürger ; sowie insbes. zum Moment der (Selbst-)Stilisierung Schwarzbauer, Schubart und die ›Deutsche Chronik‹. 21 Schubart, An Chronos, S. 4. 22 Vgl. Nicolai, Verbot der ›Literaturbriefe‹ in Berlin 1762, S. 340 – 359.

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Mitteilungsportal zur Integration des literarischen Lebens im politisch zersplitterten Deutschland zu schaffen. So erklärt Nicolai im ersten Heft: »Diese [sc. die Liebhaber der neuesten Literatur] sind in Deutschland in vielen Städten, zum Theil in kleinen Städten, wo nicht einmal ein Buchladen befindlich ist, zerstreuet, und Jhnen ist also sehr damit gedienet, zuverläßige Nachrichten von den neuen Büchern und von ihrem wahren Werthe zu erhalten […].«23

Drittens engagierte sich Nicolai mit seinen eigenen literaturkritischen und satirischen Schriften als unbeugsamer Gegner von Irrationalität und Schwärmerei mit nachhaltiger Resonanz für eine produktive, lebendige Streitkultur aufklärerischer Prägung. Geradezu mustergültig trat er ein für die »Freiheit […] von seiner Vernunft in allen Stükken öffentlichen Gebrauch zu machen«,24 und das bereits rund zwei Jahrzehnte bevor Kant seinen programmatischen Ruf danach formulierte. Nicolais kritisches Engagement zog weite Kreise – nicht nur durch seine Publizistik, sondern auch durch seine ausgiebige Korrespondenz25 spannte er ein enorm weitreichendes kommunikatives Netzwerk über den gesamten deutschen Sprachraum. Außerdem wirkte er durch die persönliche Einbindung in die ortsansässigen Berliner Gelehrtengesellschaften bis in die Spätaufklärung.26 Was ihn dabei interessierte, war weitaus mehr die intellektuelle Dynamik der europäischen Aufklärung als die bewährte Tradition der humanistischen Gelehrsamkeit. Seine hochgradige Gegenwartsorientierung, gepaart mit erbarmungsloser Beobachtungsschärfe und schöpferischer Vielseitigkeit, macht die besondere Stärke sowohl seiner schriftstellerischen als auch seiner verlegerischen Aktivitäten aus. Auch wenn Nicolais Biographie von Reed emphatisch als ein »aufklärerisches Heldenleben«27 bezeichnet wurde, soll es im vorliegenden Band weder um Heldenverehrung noch um Hagiographie gehen. Vielmehr gilt es, Nicolai kritisch, aber ungefiltert durch die Verurteilungen der Dichter- und Denkergeneration um 1800 zu untersuchen. Deshalb stellen die Beiträgerinnen und Beiträger des vorliegenden Bandes Nicolai mitsamt seinen Unzulänglichkeiten und Meriten in verschiedene thematische Kontexte, um nicht nur seine individuellen Leistungen, sondern auch die Funktionsweisen der deutschen Aufklärung insgesamt im literatur- und diskursgeschichtlichen Zusammenhang genauer er23 Vgl. Nicolai, Vorbericht, S. ii. 24 Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung, S. 484. 25 Die editorische Erschließung seines Briefnachlasses, der mit rund 20.000 Briefen schriftlichen Zeugnisse aus so gut wie allen Lebensbereichen eines umfassend vernetzten Intellektuellen des 18. Jahrhunderts bietet, steht noch immer aus. – Vgl. Falk/Weber, Friedrich Nicolais Nachlass. 26 Vgl. D’Aprile, Friedrich Nicolai und die zivilgesellschaftliche Aneignung von Bildung und Wissenschaft um 1800. 27 Reed, Mehr Licht in Deutschland, S. 112.

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messen zu können. Als übergreifender Leitgedanke für alle Untersuchungen wurde das Moment des Kritischen gewählt, meint doch ›Kritik‹ bei Nicolai durchaus nicht nur rationalistische Literatur- oder Aberglaubenskritik, sondern vielmehr diejenige elementare Kulturtechnik der Aufklärung, die sich auf das rational begründete Unterscheiden, Systematisieren und schließlich auch Beurteilen der kontingenten Erfahrungswirklichkeit richtet. Nicolai selbst stellte sein Schaffen ausdrücklich in den Dienst der Kritik, für die er Nüchternheit und Unparteilichkeit, vor allem aber auch Unerschrockenheit einforderte. Die Grundlegung seines Kritikverständnisses, das er gemeinsam mit den Freunden Mendelssohn und Lessing entwickelte, fasste er in der Formel des »nil admirari und nil timere«28 – nichts bewundern und nichts fürchten. Dabei handelt es sich um einen Grundsatz, dem er – anders als in puncto Nüchternheit und Parteilichkeit – in allen seinen streitbaren Schriften gefolgt ist. Weiter erklärte Nicolai: »Jeder von uns war dogmatisch in seinen Principien, oder wenn ich modischer reden soll, kritisch, denn wahrlich, wir hatten unsere Principien ernstlich untersucht und geprüft.«29 In seinem publizistischen Umfeld etablierte er derart richtungweisende Formen der kritischen Auseinandersetzung mit literarischen Neuerscheinungen, dass Marcel Reich-Ranicki ihn als »Gründer unseres literarischen Lebens«30 rühmte. Das hehre Selbstverständnis der jungen Kritikergeneration um Nicolai, Lessing und Mendelssohn wurde freilich von den Zeitgenossen, die es traf, mitunter ganz anders wahrgenommen. So echauffierte sich beispielsweise Johann Jakob Bodmer über das Berliner Kritikwesen wie folgt: »Es ist ein Complot zwischen Nicolai, Hamann, Kant, Weiße, Klotz, Michaelis, Lessing, daß sie die Zürcher in die Vergessenheit lachen und spotten wollen. Ihr Geschmack ist Gottscheds und ihr Witz Satans.«31 Eines lässt sich dabei indes nicht von der Hand weisen: eine durchschlagende Wirkung. Mit dem Fokus des Kritischen als maßgeblicher kultureller Praxis der Aufklärung gliedert sich der vorliegende Band in drei Sektionen. In der Sektion I: Literarische Kritik geht es sowohl um Nicolais Stellung im als auch um seine Stellungnahmen zum literarischen Leben seiner Zeit, einschließlich des Übersetzungswesens. Die Sektion II: Zivilisations-Kritik umfasst Nicolais Beiträge zu einer Aufklärung, die sich als pragmatisch bezeichnen lässt und nicht nur charakteristische Popularisierungsstrategien, sondern auch Aspekte des selffashioning aufklärerischer Milieus erkennen lässt. In der Sektion III: Kritische Literatur schließlich erfolgen exemplarische Sondierungen von kritischen Einmischungen Nicolais in verschiedene gesellschaftliche Interaktionszusammen28 29 30 31

Nicolai, Nekrolog auf Moses Mendelssohn, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 38. Nicolai, zit. nach Daunicht (Hg.), Lessing im Gespräch, S. 72. Vgl. Reich-Ranicki, Friedrich Nicolai. Der Gründer unseres literarischen Lebens. Bodmer, zit. nach Dvoretzky (Hg.), Lessing. Dokumente zur Wirkungsgeschichte, S. 48.

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hänge, darunter insbesondere die konfessionell geprägten Schauplätze der frühen Haskala um Moses Mendelssohn, des Jesuitismus und des Pietismus. Die von einem systematisierenden Anliegen getragenen Fallstudien zeigen Nicolai unter anderem als Literatur- und Wissenspolitiker, als rigorosen Meinungslenker, als umtriebigen Geschäftsmann, als Integrationsfigur und zugleich als Spalter der Gelehrtenrepublik. Sie zeigen ihn als provokanten Spaßvogel, als polemischen, bisweilen etwas geschwätzigen Kritiker, als oft treffenden Satiriker, der zwar manchmal etwas bemüht wirkt, sich zuweilen jedoch durchaus an den großen angelsächsischen Modellen wie Jonathan Swift oder Henry Fielding messen lassen kann. Sie zeigen ihn auch als Verfechter zentraler aufklärerischer Programmwerte wie dem öffentlichen Vernunftgebrauch, der Anti-Orthodoxie und der Toleranz sowie der Ideale von Tugend und höherer Menschlichkeit – für die er nötigenfalls sogar mit den Mitteln wissenschaftlicher Unredlichkeit und, vor allem in fortgeschrittenem Alter, mit Borniertheit und Dogmatismus zu Felde zog. Und schließlich zeigen sie den enormen Facettenreichtum eines Lebenswerks, das sich nicht nur durch notorischen Widerspruch gegen Autoritäten auszeichnet, sondern auch durch kreativen Esprit und höchst eigensinnige Positionierungen auf den unterschiedlichsten Wissensgebieten. Interessanter als die Frage, wem letztlich in der Sache Recht zu geben ist, erscheinen dabei die Strukturen und Funktionsweisen derjenigen diskursiven Formation, die sowohl mit Nicolai als auch gegen ihn arbeitete: Es geht um die deutsche Aufklärung. *

Mein Dank gilt der Stiftung Preußische Seehandlung für ihre finanzielle Unterstützung der Tagung »Friedrich Nicolai im Kontext der kritischen Kultur der Aufklärung«, dem Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte, in dessen Räumlichkeiten die Veranstaltung vom 24. bis 26. Juni 2011 stattfinden konnte, sowie Dr. Ulrike Wels und Vinzenz Hoppe für ihre unermüdliche Tatkraft bei der redaktionellen Bearbeitung der Manuskripte für die Drucklegung.

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Bibliographie 1.

Quellen

Biester, Johann Erich: Denkschrift auf Friedrich Nicolai. In: Abhandlungen der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1812/13. Berlin 1816. Daunicht, Richard (Hg.): Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen. München 1971. Dvoretzky, Edward (Hg.): Lessing. Dokumente zur Wirkungsgeschichte 1755 – 1968. Teil 1. Göppingen 1971 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik Bd. 38). Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 1: Gedichte 1756 – 1799. Hg. v. Karl Eibl. Frankfurt a. M. 1987. Jean Paul: Leben des Quintus Fixlein, aus funfzehn Zettelkästen gezogen; nebst einem Mußteil und einigen Jus de tablette. In: ders.: Werke. Bd. 4: Kleinere erzählende Schriften 1796 – 1801. Hg. v. Norbert Miller. München u. Tübingen 1974. Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung. In: Berlinische Monatsschrift 12 (1784), S. 481 – 494. Nicolai, Friedrich: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente. Kritische Ausgabe mit Kommentar. Bd. 6/1: Text. Gedächtnisschriften u. philosophische Abhandlungen. Bearb. v. Alexander Kosˇenina. Bern, Berlin [u. a.] 1995. Nicolai, Friedrich: Verbot der ›Literaturbriefe‹ in Berlin 1762. In: Neue Berlinische Monatsschrift 18 (1807), S. 340 – 359. Nicolai, Friedrich: Vorbericht. In: Allgemeine deutsche Bibliothek 1 (1765), 1. St., S. i–iv. Schubart, Christian Friedrich Daniel: An Chronos. In: Deutsche Chronik 1 (1774), 1. St., S. 1 – 6.

2.

Sekundärliteratur

Berghahn, Klaus L.: Maßlose Kritik. Friedrich Nicolai als Kritiker und Opfer der Weimarer Klassik. In: Zeitschrift für Germanistik 8 (1987), H. 1, S. 50 – 60. Beuermann, Dieter : Nicolai als Verleger. In: Stefanie Stockhorst, Knut Kiesant u. HansGert Roloff (Hg.): Friedrich Nicolai (1733 – 1811). Berlin 2011, S. 125 – 137. D’Aprile, Iwan-Michelangelo: Friedrich Nicolai und die zivilgesellschaftliche Aneignung von Bildung und Wissenschaft um 1800. In: Stefanie Stockhorst, Knut Kiesant u. HansGert Roloff (Hg.): Friedrich Nicolai (1733 – 1811). Berlin 2011, S. 139 – 158. Darnton, Robert: The Business of Enlightenment. A Publishing History of the ›Encyclopedie‹, 1775 – 1800. Cambridge u. London 1979. Döring, Detlef: Leipzig als Produktionsort enzyklopädischer Literatur bis 1750. In: Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Seine Welt wissen. Enzyklopädien in der Frühen Neuzeit. Katalog zur Ausstellung der Universitätsbibliothek Leipzig und der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Darmstadt 2006, S. 125 – 134. Ego, Anneliese: Aufgeklärt, aufklärend, auskläricht. Der Nicolaismus am Beispiel der ›Arzneyglahrtheit‹. In: Berliner Aufklärung 1 (1999), S. 121 – 143.

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Stefanie Stockhorst

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Einleitung

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Sektion I: Literarische Kritik

Frieder von Ammon

Kampfplätze der Literatur. Friedrich Nicolai und die * Streitkultur des 18. Jahrhunderts

»Viele Menschen«, – so der Philosophiehistoriker Kurt Flasch im Vorwort seines Buches Kampfplätze der Philosophie aus dem Jahr 2008 – »darunter auch einige Philosophen, stellen sich Philosophie als ruhige Weisheit oberhalb aller Parteiungen vor. Die Philosophie, meinen sie, das seien die großen, gleichbleibenden Themen: Die Wahrheit und das gute Leben, Gott und Mensch, das Einzelne und das Allgemeine. Dieses Buch lädt zu einer anderen Betrachtung ein: Es zeigt die Philosophie als eine Serie von Konflikten. Es geht von gut dokumentierten Streitgesprächen aus, nicht von Begriffen oder Systemen. Philosophie als Polemik – das klingt garstig, kommt aber der geschichtlichen Wirklichkeit näher als die Erwartung harmonisierenden Tiefsinns. Denn wer philosophiert, ist meist unzufrieden mit den Welterklärungen, die er vorfindet. Daher sind Kontroversen der Philosophie immanent. Sie bilden nicht deren Außenseite.«1

Diese Sätze sind überaus treffend, und sie bleiben es auch dann, wenn man, wie ich es jetzt tun möchte, die zentralen Begriffe durch Begriffe aus einer anderen Sphäre ersetzt: ›Philosophie‹ nämlich durch ›Literatur‹, ›Philosophen‹ durch ›Literaten‹ und ›philosophieren‹ durch ›literarische Texte verfassen‹. Denn: Auch wer literarische Texte verfasst, ist meist unzufrieden mit dem, was er vorfindet. Darum sind der Literatur, genauso wie der Philosophie, Kontroversen immanent, darum kann auch Literatur als eine Serie von Konflikten betrachtet werden. Und diejenigen, die die Literatur ausschließlich als Hort des Guten, Wahren und Schönen wahrnehmen wollen und ›Literatur als Polemik‹ dementsprechend lieber ignorieren, gehen genauso an der geschichtlichen Wirklichkeit vorbei wie diejenigen, die sich Philosophie als ruhige Weisheit vorstellen. Kurz: Wie »Kampfplätze der Philosophie« gibt es auch Kampfplätze der Literatur, ja sie sind zahlreich und bevölkert, nicht selten treten dort ganze Generationen gegeneinander an. Man kann sogar den Eindruck gewinnen, dass * Dieser Beitrag basiert auf einem öffentlichen Abendvortrag, der im Rahmen der diesem Band zugrundeliegenden Tagung gehalten wurde. Die Vortragsform wurde beibehalten. 1 Flasch, Kampfplätze, S. [7].

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auf den Kampfplätzen der Literatur mit härteren Bandagen gekämpft wird als auf jenen der Philosophie. Dies legt zumindest eine Bemerkung Heinrich Heines nahe, der sich in der Romantischen Schule folgendermaßen dafür rechtfertigt, so hart mit seinem früheren Lehrer August Wilhelm Schlegel ins Gericht gegangen zu sein: »Aber hat Herr A. W. Schlegel den alten Bürger geschont, seinen literärischen Vater? Nein, und er handelte nach Brauch und Herkommen. Denn in der Literatur wie in den Wäldern der nordamerikanischen Wilden werden die Väter von den Söhnen totgeschlagen, sobald sie alt und schwach geworden.«2

Der Vatermord ist sicherlich eine besonders extreme Form der Kontroverse, doch zweifellos ist er auch ein Grundmuster der Literaturgeschichte, für das es neben Heine und Schlegel unzählige weitere Beispiele gibt. Der letzte mir bekannte Fall liegt nicht lange zurück: Der Mörder heißt Daniel Kehlmann. Als in Österreich lebender Autor von Romanen und neuerdings auch von Theaterstücken hat er es allerdings auch mit einem echten Übervater zu tun: mit Thomas Bernhard, der es aufgrund seines großen, anhaltenden Erfolgs seinen Nachfolgern besonders schwer macht. Insofern ist man nicht überrascht, dass Kehlmann ihn aus dem Weg geräumt oder dies zumindest versucht hat, und zwar gleich zu Beginn seines im Jahr 2010 erschienenen Essaybandes mit dem irreführenden Titel Lob: Über Literatur. Zwar lobt er Bernhard dort anfangs tatsächlich als Schriftsteller, aber nur, um ihn dann als Menschen umso tiefer stürzen zu lassen, indem er ihm nämlich vorwirft, geldgierig, rachsüchtig und verlogen zu sein und seine Literatur in den Dienst seiner privaten Interessen gestellt zu haben.3 Das ist nicht ungeschickt: Steht die literarische Qualität eines Autors außer Frage, muss man ihn eben an einer anderen Stelle packen. Anzumerken bleibt freilich, dass Bernhard zu diesem Zeitpunkt längst schon tot war. Der literarische Vatermord taucht hier also in einer Variante auf: als literarische Leichenfledderei. Doch die Grundstruktur ist dieselbe: Hier wie dort geht es darum, sich den übermächtigen Vorgänger vom Hals zu schaffen, um dann ungehindert dessen Stelle einnehmen zu können. Aber zurück zu Flasch, der seine »neue Betrachtungsweise« der Philosophiegeschichte wie folgt expliziert hat: »Ihre Wahrheitskämpfe [die der Philosophen] lassen sich nicht zu einer einzigen fortlaufenden Erzählung zusammenstellen. Daher suche ich sie an einigen entscheidenden Stellen auf. Ich gehe auf die wichtigsten Argumente ein, die dabei gewechselt wurden […]. Ich wähle aus, verzichte also auf die Illusion von Vollständigkeit oder zielgerichtetem Verlauf. Ich analysiere Dokumente der Wendepunkte, die über die 2 Heine, Romantische Schule, in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 3, S. [407]. 3 Vgl. Kehlmann, Der melancholische Lobbyist.

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weitere Entwicklung entschieden haben, Streitfälle auf hohem Niveau. Sie haben Untergrundspannungen ihrer Jahrzehnte auf den Begriff gebracht.«4

Ich möchte im Folgenden versuchen, diese Methode auf die Literaturgeschichte zu übertragen und sie dementsprechend als eine Geschichte von Streitfällen erzählen. Und wenn es ein Jahrhundert gibt, das für einen solchen Versuch geeignet ist, dann ist es das 18., das Jahrhundert der Aufklärung. Denn dieses Jahrhundert ist ein, wenn nicht das Jahrhundert der Kontroversen in der Literatur, zumindest in der deutschen. Niemals sonst, so scheint es, wurde derart leidenschaftlich, ausdauernd und vor allem so überzeugt gestritten wie in diesem Jahrhundert. Programmatisch formuliert hat dies Lessing in der Vorrede zu seiner Abhandlung Wie die Alten den Tod gebildet, in der er das von seinen anhaltenden Streitigkeiten mit dem Philologen Christian Adolph Klotz irritierte Publikum daran erinnert, »daß es die Aufklärung so mancher wichtigen Punkte dem bloßen Widerspruche zu danken hat, und daß die Menschen noch über nichts in der Welt einig sein würden, wenn sie noch über nichts gezankt hätten«.

Und folgendermaßen fährt er fort: »Es sei, daß noch durch keinen Streit die Wahrheit ausgemacht worden: so hat dennoch die Wahrheit bei jedem Streite gewonnen. Der Streit hat den Geist der Prüfung genähret, hat Vorurteil und Ansehen in einer beständigen Erschütterung gehalten; kurz, hat die geschminkte Unwahrheit verhindert, sich an der Stelle der Wahrheit festzusetzen.«5

Dieses typisch aufklärerische Wahrheitspathos sollte freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Aufklärung nicht weniger als in jeder anderen Epoche auch aus weniger vornehmen Gründen gestritten wurde: aus literaturpolitischem Kalkül beispielsweise oder aus rein persönlichen Motiven. Doch in jedem Fall drängt es sich förmlich auf, die Literaturgeschichte dieses Jahrhunderts anhand seiner Kontroversen erzählen zu wollen. Und wenn es einen Mann gibt, der sich – neben Lessing – als Hauptfigur einer solchen Erzählung eignet, dann ist es Friedrich Nicolai. Denn Nicolai war in so gut wie alle größeren (und viele kleinere) Streitfälle des 18. Jahrhunderts verwickelt, angefangen mit dem die Debatten der Jahrhundertmitte dominierenden deutsch-schweizerischen Literaturstreit bis hin zur größten Kontroverse am Ende des Jahrhunderts, dem ›Xenien-Streit‹. Ob als Subjekt oder Objekt, als Opfer, als Täter, als Anstifter, Drahtzieher, Trittbrettfahrer, Wortführer oder Zaungast – Nicolai war immer dabei. Nicht umsonst hat ihn einer seiner unversöhnlichsten Feinde, Johann Gottlieb Fichte, das »literarische[] Stinktier[]« und die »Natter des achtzehnten 4 Flasch, Kampfplätze, S. [7]. 5 Lessing, Wie die Alten den Tod gebildet, in: ders., Werke, Bd. 6, S. 717.

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Jahrhunderts« genannt.6 Und insofern ist er eben die ideale Hauptfigur eines Vortrags über die Streitkultur jenes Jahrhunderts. Erlauben Sie mir aber, bevor ich beginne, noch eine weitere Bemerkung zum Thema Literaturgeschichtsschreibung. Denn in puncto Nicolai gibt es hier Betrübliches zu berichten. Im Jahr 2004 erschien die unter anderem von David E. Wellbery, dem Doyen der Germanistik in den Vereinigten Staaten, herausgegebene, mehr als tausendseitige New History of German Literature,7 die konzeptionell anspruchsvollste deutsche Literaturgeschichte der vergangenen Jahre. Ihr Konzept sieht vor, dass die Geschichte der deutschen Literatur nicht mehr von einem einzelnen Autor linear-chronologisch erzählt wird, sondern von einer Vielzahl von Autoren, die sich in Kurzessays jeweils signifikanten historischen Ereignissen und Konstellationen zuwenden, ohne dass diese aber in einen anderen Zusammenhang als den zeitlicher Sukzession gebracht würden. Auf diese Weise sollen die bekannten Aporien der Historiographie umgangen werden: das Problem der für einen Einzelnen unüberschaubar gewordenen Wissensfülle, das Problem, vereinfachende narrative Muster verwenden zu müssen, um komplexe historische Prozesse überhaupt darstellbar zu machen etc. Stattdessen wird in dieser Literaturgeschichte bewusst punktuell, polyperspektivisch und in dichter Beschreibung erzählt, so etwa, unter dem Datum des ›Aschermittwoch 1515‹, von der Aufnahme des Hans Sachs in die Würzburger Meistersingergilde, oder, unter dem Datum ›1806‹, von Kleist, der aus Verzweiflung über die Niederlage Preußens gegen Napoleon seine Hermannsschlacht schrieb, oder, unter dem Datum ›September 1912‹, von Kafkas ›Durchbruch als Erzähler‹. Eine innovative historiographische Methode also, die viel Zustimmung gefunden hat, und dies völlig zu Recht. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass die New History of German Literature nicht ganz so »[f]rei von Kanonzwängen« ist,8 wie es auf den ersten Blick erscheint. Denn macht man eine Stichprobe und sucht im Inhaltsverzeichnis nach Friedrich Nicolai, wird man enttäuscht: Er kommt darin nicht vor. Ihm wurde kein Kapitel gewidmet. Nicht berücksichtigt wurden also der epochale Freundschaftsbund mit Lessing und Mendelssohn,9 nicht das Erscheinen des Sebaldus Nothanker, jenes »Musterstück[s] aufklärerischer Prosa«,10 und auch nicht die Gründung der Allgemeinen deutschen Bibliothek, jenes »Integrationsmedium[s] der Gelehrtenrepublik«,11 also für die deutsche Aufklärung allesamt überaus bedeutsame Ereignisse und Konstellationen. Etwas besser sieht es im Register aus: Auf tausend Seiten wird er immerhin dreimal 6 7 8 9 10 11

Fichte, Friedrich Nicolai’s Leben und sonderbare Meinungen, in: ders., Werke, Bd. 3, S. 704. Wellbery, A New History of German Literature. Von Matt, Ein Hauch von fröhlicher Wissenschaft. Vgl. Berghahn, Wagnis. Jung, Nicolai, S. 573. Vgl. Schneider, Integrationsmedium; sowie Zelle, Kommunikationssystem.

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genannt, zweimal allerdings lediglich im Rahmen von Aufzählungen. Beim dritten Mal wird er dann etwas näher charakterisiert, und zwar vom HauptHerausgeber höchstpersönlich, in dessen Essay über Goethes Werther. Zuerst nennt er Nicolai einen »established rationalist writer[]«, was zweifellos zutreffend, aber auch reichlich vage ist. Und noch im selben Satz bezeichnet er ihn dann als einen »shrewd Berlin bookseller« – also als einen ›cleveren Berliner Buchhändler‹ –, der die Überschwänglichkeit des Werther infantil und das ihm fehlende moralische Werturteil unverantwortlich gefunden habe.12 Das ist zwar ebenfalls zweifellos richtig, greift aber natürlich viel zu kurz. Nicolais witzige – und damals überaus erfolgreiche – Werther-Parodie beispielsweise, die Freuden des jungen Werthers, mit der er sich die lebenslange Feindschaft Goethes zugezogen hat, wird nicht einmal erwähnt. Kurzum: Obwohl unzweifelhaft eine Schlüsselfigur der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, kommt Friedrich Nicolai in der New History of German Literature im Grunde nicht vor. Das ist so schwer begreiflich wie bedauerlich, aber leider auch bezeichnend: Nicolai, der Kritiker der klassischen deutschen Literatur und Philosophie, hat mancherorts offenbar noch immer einen schweren Stand. Wenn ich im Folgenden von den Kampfplätzen der Literatur im 18. Jahrhundert anhand von Friedrich Nicolai erzähle, geht es mir somit auch darum, die New History of German Literature zu ergänzen, gewissermaßen also nachzuholen, was dort versäumt wurde. Denn, wie ich meine, hätten sich viele der Kontroversen Nicolais angeboten für die in dieser Literaturgeschichte praktizierte Form der Historiographie. Mein Vortrag gliedert sich in drei Teile, die, die Methoden Flaschs und der New History of German Literature kombinierend, jeweils von einer exemplarischen Kontroverse ausgehen und diese einer möglichst dichten Beschreibung unterziehen. Natürlich können in diesem Rahmen unmöglich alle Streitfälle behandelt werden, in die Nicolai verwickelt war ; ich beschränke mich deshalb auf eine Auswahl seiner im engeren Sinn literarischen Kontroversen, auf den Literaturkritiker Nicolai also. Nicolai hat sich ja auch als Kritiker in anderen Sparten betätigt: in – um nur ein paar zu nennen – Philosophie, Politik und Theologie.13 Doch seine wichtigsten Beiträge hat er sicherlich als Literaturkritiker geleistet. So sah es jedenfalls Marcel Reich-Ranicki, der Nicolai in einem Essay aus dem Jahr 1989 als den »Gründer unseres literarischen Lebens« bezeichnet hat.14 Das trifft den Nagel auf den Kopf: Der ›clevere Berliner Buchhändler‹ hat als »Gründer und Herausgeber von Zeitschriften und als Anthologist, als Verleger und Buchhändler, als Förderer und Vermittler«, kurz: als Kritiker der Literatur in einem umfassenden Sinn Deutschland »zu einem 12 Wellbery, Pathologies, S. 386. 13 Vgl. dazu etwa Habersaat, Verteidigung. 14 Reich-Ranicki, Friedrich Nicolai. Der Gründer unseres literarischen Lebens.

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nationalen literarischen Leben verholfen«,15 das in seinen Grundzügen noch heute besteht.

1.

1753: Friedrich Nicolai veröffentlicht sein erstes Buch und ruft darin zum Vatermord auf

Als Nicolai sein erstes Buch veröffentlicht, ist er zwanzig Jahre alt. Er ist, nach Abschluss seiner Buchhändlerlehre in Frankfurt an der Oder, gerade nach Berlin zurückgekehrt und dort in die renommierte Verlagsbuchhandlung seines Vaters eingetreten, die Nicolaische Buchhandlung, die es bekanntlich heute noch gibt. Bereits Nicolais Debüt als Literaturkritiker ist also – wie alle seine späteren Schriften auch – einem anstrengenden Arbeitsalltag abgetrotzt. Doch das hinderte ihn nicht daran, sich bereits als Anfänger auf eine Kontroverse von nichts weniger als europäischen Dimensionen einzulassen, die indes auch wichtige Implikationen für die deutsche Literatur hatte. Nicolais erster Auftritt auf der Bühne der Literatur war ein echter Coup, der, neben vielem anderem, sein großes Geschick als – um Walter Benjamins berühmte Funktionsbestimmung des Literaturkritikers zu zitieren – »Stratege im Literaturkampf«16 unter Beweis stellte. Worum ging es?17 Zunächst einmal ging es um John Miltons Versepos Paradise Lost, dessen Erscheinen zu diesem Zeitpunkt zwar fast hundert Jahre zurücklag, das aber dennoch alles andere als ein harmloser Gegenstand war. Im Gegenteil: Dieses Epos war im Deutschland des Jahres 1753 ein nachgerade heißes Eisen. Denn seine Übersetzung ins Deutsche durch den Zürcher Philologen Johann Jakob Bodmer hatte den bereits erwähnten deutsch-schweizerischen Literaturstreit ausgelöst, also die seit den frühen 1740er Jahren alles beherrschende Kontroverse, in die auf der einen Seite der Leipziger Literaturtheoretiker und -kritiker Johann Christoph Gottsched und seine Gefolgsleute und auf der anderen Seite der erwähnte Bodmer, der ebenfalls in Zürich wirkende Philologe Johann Jakob Breitinger und deren Anhängerschaft verwickelt waren. In diesem Streit wurden Fragen von zentraler Bedeutung verhandelt. Im Kern ging es um die Ablösung der – von den Leipzigern vertretenen – »aufklärerisch-rationalen Nachahmungs- und Regelpoetik durch eine Poetik, die auch der Phantasie, dem Wunderbaren und Erhabenen Raum zu schaffen suchte.« Insofern markiert der deutsch-schweizerische Literaturstreit einen »literarhistorischen Wendepunkt, von dem aus die Entwicklung hin zu Klopstock, zur Empfindsamkeit und zum 15 Ebd., S. 51. 16 Benjamin, Der Stratege im Literaturkampf, in: ders., Schriften, Bd. IV/1, S. 108. 17 Vgl. dazu Engel, Vivida vis animi, S. 13 – 19; sowie Dehrmann, Kritik, S. 32 – 37.

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Abb. 1: Nicolai, Untersuchung ob Milton sein Verlohrnes Paradies aus neuern lateinischen Schriftstellern abgeschrieben habe […], Titelblatt, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 1/1, Titelblatt.

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Sturm und Drang ihren Anstoß erhielt.«18 Und der Auslöser dieses Streites war eben Miltons Paradise Lost. Jeder, der sich im Deutschland der Jahrhundertmitte über dieses Epos äußerte, mischte sich dementsprechend auch in den Streit zwischen Leipzig und Zürich ein. Für einen Anfänger war dies also eine gewagte Sache. Vielleicht ist das doppeldeutige, der Ars Poetica des Horaz entnommene Motto der Schrift auch auf diesen großen Anspruch bezogen: »Wer solches verspricht, was wird er verkünden, das wert ist, so weit den Mund aufzumachen?«19 Eine solche Selbstironie wäre dem jungen Nicolai durchaus zuzutrauen. In jedem Fall demonstrierte er mit diesem Motto, dass er seinen Horaz gelesen hatte; für einen Buchhändler ohne Universitätsabschluss war dies keine Selbstverständlichkeit. Und er hatte nicht nur seinen Horaz gelesen: Das Zitat spielt auch eine Rolle in der kurz zuvor erschienenen Abhandlung Aesthetica des Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten,20 mit der dieser bekanntlich die Ästhetik als philosophische Disziplin begründet hatte. Der Buchhandelslehrling Nicolai hatte in Frankfurt an der Oder dessen Vorlesungen gehört, ohne immatrikuliert zu sein, und er hatte das, was er hörte, wie alles Geistige, dem er in dieser Zeit begegnete, begeistert in sich aufgesogen. Bereits das Motto des Buches also wies seinen Verfasser als einen sowohl in der antiken Literaturtheorie als auch in der Philosophie der Gegenwart bewanderten, zudem ironisch-witzigen Autor aus. Im ersten Teil des Buches tritt Nicolai selbst noch nicht auf den Kampfplatz, sondern nimmt vorerst eine Beobachter-Rolle ein. Er betätigt sich gewissermaßen als Streit-Analytiker. Als solcher schreibt er : »Nachdem ich die dahin gehörigen Schrifften aus Engelland erhalten, so bin ich im Stande einen Streit zu erläutern, der durch die boshafte Kühnheit Hrn. Lauders, einen [!] Verfasser durch untergeschobene Verse seine Ehre zu rauben und durch die zuversichtlichen und lächerlichen Folgen, die ein deutscher Recensent daraus hat ziehen wollen, wichtiger geworden ist, als er an sich selbst scheinen möchte.«21

Der Streit, von dem hier die Rede ist, wurde durch Plagiatsvorwürfe ausgelöst, die ein unbekannter schottischer Philologe namens William Lauder in einer im Jahr 1750 veröffentlichten Schrift gegen Milton erhoben hatte. Milton habe, so Lauder, aus neulateinischen Werken wie beispielsweise der Tragödie Adamus Exsul von Hugo Grotius oder dem Epos Sarcotis von Jacobus Masenius abgeschrieben, Paradise Lost sei nichts weiter als ein Pastiche aus gestohlenen Textstellen. Ein schwerwiegender Vorwurf also, der nicht nur die Integrität 18 19 20 21

Wilke, Literaturstreit, S. 140 f. Horaz, Ars Poetica, S. 13. Baumgarten, Aesthetica, Bd. 2, § 822, S. 838. Nicolai, Untersuchung ob Milton sein Verlohrnes Paradies aus neuern lateinischen Schriftstellern ausgeschrieben habe, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 8.

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Miltons, sondern auch eines der Hauptwerke der englischen Literatur in Frage stellte. Schon kurze Zeit später musste Lauder diese Vorwürfe aber öffentlich zurücknehmen und zugeben, Milton zu Unrecht beschuldigt, ja sogar Zitate gefälscht zu haben; ein echter »Plagiatsskandal« also.22 Der zwanzigjährige Nicolai nun analysiert diesen Skandal ausführlich, und er demonstriert dabei seine Kompetenzen als ein Kritiker, der nicht nur die deutsche, sondern vor allem auch die englische und sogar die neulateinische Literatur bestens kennt. Dies war wiederum keine Selbstverständlichkeit; man fragt sich, in welchem Tempo dieser junge Mann gelesen hat. Er zeigt ferner, dass er auch über das Handwerkszeug des Philologen verfügt: So prüft und vergleicht er die verschiedenen Texte und so nimmt er in einer detaillierten Übersetzungskritik die barocke Milton-Übersetzung Ernst Gottlieb von Berges auseinander ; dass er selbst es besser kann, stellt er mit seiner eigenen Übersetzung einer zentralen Passage (der ›Klage Evas‹ aus dem elften Buch: »Must I thus leave thee Paradise?«) unter Beweis. Bedenkt man, dass es eine Übersetzung Miltons war, die den deutsch-schweizerischen Literaturstreit ausgelöst hatte, war dies nicht wenig provokativ. Darüber hinaus beweist er seine Kenntnis der Theorie des Epos und der Tragödie seit der Antike sowie seine Kenntnis der literarischen Szene Englands. Ausgestattet mit einem solchen Rüstzeug und darüber hinaus begabt mit einem anschaulichen und flüssigen Stil traktiert er nun die Causa Milton, genau, gründlich und nicht ohne Ironie. Aber wie gesagt: Den Kampfplatz betritt er selbst vorerst nicht. Im ersten Abschnitt seines Buches bleibt er der Beobachter eines Kampfes, der kurz zuvor auf einem zentralen Kampfplatz der englischen Literatur ausgefochten worden war. Dies ändert sich dann aber im zweiten Abschnitt. Hier verlässt er die Tribüne des englischen und betritt den deutsch-schweizerischen Kampfplatz. Und dort beginnt er einen regelrechten Feldzug zu führen: und zwar gegen Gottsched, das Haupt der Leipziger Partei. Allerdings bedeutet das nicht, dass Nicolai sich auf die Seite der Schweizer geschlagen hätte. Im Gegenteil: Er macht von Anfang an deutlich, dass er zu keiner der beiden Parteien gehört, sondern »von einer dritten Position aus« in das Streitgeschehen eingreift.23 Anlass für seinen Feldzug ist der Umstand, dass Gottsched – denn er war jener von Nicolai eingangs erwähnte »deutsche[] Recensent« – die Plagiatsvorwürfe gegen Milton in Deutschland publizistisch verbreitet hatte, und dies, obwohl er genau gewusst haben muss, dass sie längst widerlegt waren. Gottsched aber wollte die polemischen Möglichkeiten, die ihm der Plagiatsskandal zu bieten schien, keinesfalls ungenutzt lassen; in seinem Streit mit den Schweizern war ihm inzwischen offenbar jedes Mittel recht. Doch Nicolai ließ dies nicht zu. Der unbekannte 22 Vgl. Dünnhaupt, Milton-Plagiatsskandal. 23 Dehrmann, Kritik, S. 32.

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junge deckte das unlautere Vorgehen des renommierten älteren Literaturkritikers auf und führte ihn vor, nach allen Regeln der Kunst. Am Ende seines Feldzugs gegen Gottsched steht dann sogar der literarische Vatermord beziehungsweise genauer : der Aufruf dazu. Es liegt auf der Hand, dass es dabei nicht nur um Milton ging, wenngleich Nicolai aus seiner Bewunderung für ihn keinen Hehl machte. Doch das war eben nicht alles: Hier wollte sich auch ein aufstrebender Literaturkritiker Aufmerksamkeit verschaffen und sich so seine Position im literarischen Feld erkämpfen. Und Nicolai wusste, dass dies am besten gelingen würde, wenn er sich mit dem mächtigsten Literaturkritiker seiner Zeit anlegen würde, einem Literaturkritiker, der zudem den Vorzug besaß, durch seinen langwierigen Streit mit den Schweizern bereits geschwächt zu sein. Der Feldzug Nicolais gegen Gottsched beginnt relativ harmlos, um dann nach und nach gesteigert zu werden. Ein paar Etappen möchte ich herausgreifen. Einer der ersten Ausfälle wird noch in einer Fußnote versteckt. Gottsched hatte Milton als »d i e b r i t t i s c h e K r ä h e« bezeichnet, worauf Nicolai ihm folgendes antwortet: »Wie sinnreich ist der Hr. R. [ezensent] nicht! wie wäre es wenn man ihn den deutschen Kukuk nennte? Es ist ihm vielleicht eine Fabel des Hrn. P. Gellerts von diesem Thiere nicht unbekannt, wofern er sich hat überwinden können, ein Buch zu lesen, das ein Schweizer gelobt hat.«24

Um diese kleine Bosheit verstehen zu können, muss man jene Fabel kennen. Sie geht so: »Der Kukuk Der Kukuk sprach mit einem Staar, Der aus der Stadt entflohen war. Was spricht man, fieng er an zu schreyen, Was spricht man in der Stadt von unsern Melodeyen? Was spricht man von der Nachtigall? ›Die ganze Stadt lobt ihre Lieder.‹ Und von der Lerche? rief er wieder. ›Die halbe Stadt lobt ihrer Stimme Schall.‹ Und von der Amsel? fuhr er fort. ›Auch diese lobt man hier und dort.‹ Ich muß dich doch noch etwas fragen; Was, rief er, spricht man denn von mir? Das, sprach der Staar, das weis ich nicht zu sagen; Denn keine Seele redt von dir. So will ich, fuhr er fort, mich an dem Undank rächen, Und ewig von mir selber sprechen.«25 24 Nicolai, Untersuchung ob Milton, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 36. 25 Gellert, Der Kukuk, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 74.

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Dies war eine geistreiche Spitze, aber noch eher zurückhaltend, zumal sie sich ja auch nur dem erschloss, der die Fabel kannte; allerdings waren Gellerts Fabeln damals bekanntlich das nach der Bibel am weitesten verbreitete Buch in Deutschland. Schärfer wird der Ton jedoch bereits zwei Seiten später, wo Nicolai eine Bemerkung Gottscheds folgendermaßen kommentiert: »Der Hr. R. spielt hier eine lächerliche Person; er zeigt es vor der ganzen vernünftigen Welt, daß er, der den Milton einer wenigen Beurtheilungskraft beschuldiget, selbst nicht von dem Himmel so viel Einsehen erhalten hat, daß er seine eigene verwirrten Einfälle von gesunden Vernunftsschlüssen unterscheiden könte.«26

Daraufhin greift Nicolai zu immer drastischeren Mitteln, und dies in immer schnellerer Folge. Sofort nachdem er Gottsched im übernächsten Satz quasi im Vorbeigehen als ›Eunuchen‹ bezeichnet hat, imaginiert er, was eine Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts über ihn schreiben könnte: »›In der Mitten des achtzehenden Jahrhunderts lebte ein Mann, der sich einbildete, daß kein Deutscher ie einen guten Geschmakk gehabt, ehe er daran gedacht, ihnen denselben zu lehren; er war bei sich überzeuget, daß ganz Deutschland seine Werke mit dem grösten Beifall aufgenommen […]. Kurz: es hat seit dem Aristoteles nicht leicht ein Kunstrichter so viel Vertrauen auf seine Machtsprüche gesezt; und es ist iammerschade, daß dieser ehrliche Mann, der in der Orthographie die wichtigsten Entdekkungen gemacht hat, izt, zusammt der wichtigen Mine, die er sich zu geben wuste, ganz vergessen ist.‹«27

Das war nun wirklich boshaft, zumal wenn man bedenkt, dass Gottsched in der Literaturgeschichtsschreibung ja wirklich häufig ungerecht behandelt wurde – bis heute; Nicolai hat mit dazu beigetragen. Zu seinem letzten Stoß oder vielleicht auch Tritt holt er dann aber im Schlussabsatz aus: »Man hat den Hrn. V. bisher immer aus seinem Winkel mit aller Macht über den Verfall des guten Geschmakks schreien lassen, da doch nichts als sein Ansehen verfallen ist. Seine seichte Einwürfe verdienen nichts als eine großmüthige Verachtung; aber weil er von Tage zu Tage durch seinen ohnmächtigen Zorn lächerlicher wird, so wird er vielleicht bald wieder zur Satire reif; da sich Philippi doppelt wieder findet, wird uns ja Apollo wieder einen Liskov schenken.«28

Auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht nicht erkennbar ist: In diesem Absatz verbirgt sich der angekündigte Aufruf zum Vatermord. Denn Nicolai spielt hier auf eine Kontroverse der 1730er Jahre an, die damals großes Aufsehen erregt hatte: die Kontroverse zwischen dem Satiriker Christian Ludwig Liskow und dem Hallenser Rhetorik-Professor Johann Ernst Philippi. Liskow war im 26 Nicolai, Untersuchung ob Milton, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 37. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 50 f.

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Verlauf dieses Streits so weit gegangen, den Tod seines Gegners in Form eines fiktiven ärztlichen Gutachtens öffentlich festzustellen. Philippi hatte darüber Ansehen und Verstand verloren; 1740 wurde er in das ›Allgemeine Zucht-, Armen- und Waisenhaus‹ Waldheim eingewiesen, offenbar in dessen Irrenabteilung.29 Als wolle er sich selbst die Finger nicht schmutzig machen, ruft Nicolai hier also in der Tat zum literarischen Vatermord an Gottsched auf. Vollstreckt hat ihn dann bekanntlich Lessing, sechs Jahre später, im ersten Absatz des 17. Literaturbriefs. Die vier Sätze, die er dazu benötigte, sind – trotz ihrer Ungerechtigkeit – zu brillant, als dass Sie hier nicht noch einmal zitiert werden könnten: »›Niemand‹, sagen die Verfasser der Bibliothek, ›wird leugnen, daß die deutsche Schaubühne einen großen Teil ihrer ersten Verbesserung dem Herrn Professor Gottsched zu danken habe.‹ Ich bin dieser Niemand; ich leugne es gerade zu. Es wäre zu wünschen, daß sich Herr Gottsched niemals mit dem Theater vermengt hätte. Seine vermeinten Verbesserungen betreffen entweder entbehrliche Kleinigkeiten, oder sind wahre Verschlimmerungen.«30

Eine Verbindung zwischen dieser – anders kann man diesen Vorgang nicht nennen – Hinrichtung Gottscheds und der Passage bei Nicolai herzustellen, ist keineswegs abwegig. Denn Lessing hatte Nicolais Untersuchung nicht nur gelesen, sondern sie auch wohlwollend rezensiert. Er schrieb, angesichts dieser Schrift könne es leicht dazu kommen, dass Gottsched sich »mehr darüber schämte, als ein Quartaner, welcher ut mit dem Indicativo construiert hat.« Einen perfiden Zusatz fügte er freilich noch hinzu: »wann er nicht er wäre«.31

2.

1755: Friedrich Nicolai veröffentlicht sein zweites Buch und eröffnet damit einen neuen Kampfplatz

Laut Marcel Reich-Ranicki handelt es sich bei Nicolais zweitem Buch, den Briefen über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland um »eines der Meisterwerke der deutschen Literaturkritik«,32 auch die Forschung spricht von einem »starke[n] Text«.33 Und in der Tat: War die Untersuchung das Gesellenstück Nicolais, sind die Briefe sein Meisterstück. Bestätigt durch die 29 30 31 32

Vgl. dazu die Anmerkungen in: Grimm, Satiren, S. 203 – 214. Lessing, 17. Literaturbrief, in: ders., Werke, Bd. 4, S. 499. Lessing, Rez. zu ›Untersuchung ob Milton‹, in: ders., Werke, Bd. 2, S. 560. Reich-Ranicki, Friedrich Nicolai. Der Gründer unseres literarischen Lebens, S. 36. – Zu den Briefen vgl. auch Martus, Werkpolitik, S. 171 – 177; Dehrmann, Kritik, S. 37 – 43. 33 Dehrmann, Kritik, S. 30.

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positive Resonanz auf sein Debüt tritt er noch selbstbewusster in ihnen auf, gewandter und auch witziger, und vor allem: mit einem »eigene[n] kritische[n] Profil«.34 Kurz: Die Briefe sind die Programmschrift des jungen Literaturkritikers Nicolai. Das Motto ist wieder eine Stelle aus der Horazischen Ars Poetica, die auch Baumgarten zitiert hatte: »corrige sodes, hoc dicet et hoc« (»›Verbessere bitte dies hier und dies.‹«).35 Wieder beruft Nicolai sich also zugleich auf eine antike und eine moderne Autorität und bezieht daraus einen Teil seiner Legitimität als Kritiker ; wieder ist die Selbstironie dabei nicht zu überhören. Ein weiterer bemerkenswerter Paratext ist die Widmung, denn Nicolai hat seine Briefe nicht etwa einem Gönner oder Fürsten dediziert, sondern: der »Nachwelt«. In der Pose eines servilen Skribenten wendet er sich folgendermaßen an sie: »Ich verlange nicht so viel von Euch; Wann Euch mein […] Buch zu Gesichte kommen solte, so könnet Ihr [es] ansehen, als einen alten Stoß Akten, von abgethanenen Processen, die man zuweilen durchlieset, um sich in dem Stilo curiæ zu üben. Ich bin Madame Euer demüthigster Diener Der Herausgeber.«36

Dies ist indes nicht nur als ein witziges Spiel mit der Para-Textsorte Widmung anzusehen. Bei aller Ironie kommt hier auch das große Selbstbewusstsein dieses jungen Kritikers zum Ausdruck, der sich offenbar sicher war, dass sich die Literarhistoriker eines Tages für seine Briefe interessieren würden. In den achtzehn fiktiven Briefen berührt Nicolai eine Fülle von Gegenständen; unmöglich können sie hier alle behandelt werden. Entscheidend ist, dass er insgesamt damit einen neuen Kampfplatz eröffnet. Nachdem er sich mit seinem Debüt noch an dem Streit Leipzig versus Zürich beteiligt hatte, beginnt er nun einen eigenen Kampf zu führen, und zwar gleich an vielen Fronten auf einmal. Das Signal war deutlich: Der deutsch-schweizerische Literaturstreit, hieß das, war eine Angelegenheit von gestern, war Geschichte, jetzt ging es um den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften, also um die Gegenwart mit ihren eigenen Problemen. Dass die entsprechenden Kontroversen nunmehr von Berlin aus geführt wurden, wird an vielen Stellen deutlich gemacht, zuallererst, mit der Angabe des Druckortes, auf dem Titelblatt. Denn es ging Nicolai nicht nur darum, sich selbst als neue Instanz der deutschen Literaturkritik, als Nachfolger Gottscheds neben Lessing, zu etablieren, sondern auch um die Etablierung Berlins als neuen Kampfplatz der Literatur. Und auf diesem – so zeigen die Briefe – ging es hoch her : Neben Gottsched, der auch hier immer wieder attackiert wird, geraten viele weitere Figuren der europäischen, vor allem aber der deut34 Ebd., S. 30. 35 Nicolai, Briefe, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 53; Horaz, Ars Poetica, S. 33. – Vgl. Baumgarten, Aesthetica, Bd. 1, § 103, S. 82 f. 36 Nicolai, Briefe, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 54.

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schen Literaturszene in das Visier dieses jungen, überaus streitlustigen Kritikers. Dafür – aus Platzgründen – nur zwei Beispiele, die zeigen, dass Nicolai in den Briefen teilweise durchaus eigenständige und in die Zukunft weisende Positionen entwickelt hat, und dies auch über die Literatur im engeren Sinn hinaus. Zunächst möchte ich auf den dritten Brief hinweisen, denn in ihm mischt sich Nicolai in die musikästhetischen Debatten der Zeit ein, die in Berlin, einem – wie er schreibt – »Sammelplaz der Musik«,37 ausgiebig geführt wurden. Anlass ist wiederum eine Publikation Gottscheds: In seinem im Jahr zuvor erschienenen Auszug aus des Herrn Batteux […] Schönen Künsten, aus dem einzigen Grundsatze der Nachahmung hergeleitet […] hatte er große Teile der Abhandlung Les beaux-arts r¦duits — un mÞme principe des französischen Ästhetikers Charles Batteux aus dem Jahr 1746 ins Deutsche übersetzt und mit Kommentaren versehen, die er auch dazu nutzte, seine eigenen ästhetischen sowie literatur- und kulturpolitischen Interessen zu verfolgen. Unter diesen waren auch solche musikästhetischer Art, was nicht überrascht, wenn man bedenkt, dass Gottsched der wohl größte Opernkritiker in der Geschichte der deutschen Literatur war. Von ihm stammt der damals wie heute vielzitierte Satz, die Oper sei »das ungereimteste Werk, das der menschliche Verstand jemals erfunden hat.«38 Und: »die Vernunft aber muß man zu Hause lassen, wenn man in die Oper geht […].«39 Wäre es nach ihm gegangen, hätte die Oper verboten werden müssen. Bei Batteux nun fand er Argumente, die gegen die Oper verwendet werden konnten, und dies ließ er sich nicht entgehen. Doch – auch hier gleichsam im Windschatten der französischen Autorität – polemisierte Gottsched ebenso gegen die Instrumentalmusik. Denn – so schreibt er in einem Kommentar zu dem der Musik gewidmeten Abschnitt in Batteux’ Abhandlung – es sei gewiss, »daß die Musik nur zu Unterstützung und Verschönerung der Poesie erfunden worden, und ihr also als eine Aufwärterinn zur Seiten gehen müsse; nicht aber für sich allein als eine Fürstinn prangen könne. Die Poesie versteht man in allen ihren Stücken, auch ohne Musik. Sie besteht also für sich selbst, und brauchet nur zuweilen den Beystand der künstlichen Töne und Tänze, um wie eine Fürstinn mit mehrerem Gepränge zu erscheinen. Die Musik allein aber ist gleichsam unbeseelet, und unverständlich, wenn sie sich nicht an Worte hält, die gleichsam für sie reden müssen; damit man wisse, was sie haben will.«40

37 Ebd., S. 105. – Vgl. dazu Flaherty, Opera, S. 188 – 191; sowie Krämer, Musiktheater, Bd. 2, S. 644 f. 38 Gottsched, Versuch einer critischen Dichtkunst, in: ders., Werke, Bd. VI/2, S. 364. 39 Ebd., S. 369. 40 Gottsched, Auszug aus des Herrn Batteux, S. 207.

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Seine Polemik gipfelt in einem Satz, der merkwürdigerweise selten in den Musikgeschichten zitiert wird, obwohl er die typischen aufklärerischen Vorbehalte gegen die Instrumentalmusik sehr pointiert zum Ausdruck bringt: »Da hören wir, daß eine Musik, ohne Text […] nur ein todtes Ding, nur ein Körper, ohne Geist ist.«41 Dies konnte Nicolai, ein Kenner und Liebhaber der Musik,42 der rege am Berliner Musikleben teilnahm und mit bedeutenden Musikern und Musikschriftstellern Umgang pflegte, nicht so stehen lassen. In ehrlicher Entrüstung fragt er seinen fiktiven Briefpartner : »Könten Sie sich wohl vorstellen, daß der H. P.[rofessor] einen Saz mit der grösten Ernsthaftigkeit behauptet, den sich wohl kein vernünftiger Mensch einfallen lassen kan, der nur ein gutes Instrumentalstük gut hat aufführen hören, und der nicht zu allen Empfindungen musikalischer Schönheiten verwahrloset ist, nämlich daß die Musik ohne untergelegte Texte gar nichts ausdrückke, und unverständlich sei, folglich auch keine Leidenschaften erregen könne, folglich auch zu allen den Wirkungen, die man ihr sonst zuschreibet, ungeschikt sei, und daß die W o r t e d e s D i c h t e r s e r s t e r k l ä r e n m ü s s e n , w a s d e r C o m p o n i s t s a g e n w i l l .«43

Und daraufhin holt er aus zu einer ausführlichen – so die Überschrift des Briefs im Inhaltsverzeichnis – »Vertheidigung der Musik«: »[…] der Hr. P. scheuet sich nicht, ohne alles Nachdenken und wider alle Erfahrung zu behaupten. ›D a ß k e i n e I n s t r u m e n t a l m u s i k , auch von den b e s t e n V i r t u o s e n , die Zuschauer vier oder fünf Stunden lang beschäftigen werde; und daß Concerte ohne Singstimmen wenig Beifall finden.‹ Ein Satz, der hier in Berlin wöchentlich, wenigstens viermal, durch die starke Besuchung der öffentlichen Concerte, widerleget wird; Der besondern Concerte nicht zu gedenken, die täglich von Freunden der Musik angestellet werden, und die die Spieler und Zuhörer wohl länger vergnügt beschäftigen, obgleich nicht eben allemahl die b e s t e n V i r t u o s e n , sondern vielmehr nur L i e b h a b e r , die Stimmen besezzen.«44

Nicolai argumentiert also von der musikalischen Praxis her und entlarvt die Argumente Gottscheds auf diese Weise als reine und zudem völlig weltfremde Theorie. Darüber hinaus wirft er Gottsched »die tiefste Unwissenheit der ersten Gründe«45 der Musik vor sowie die Tatsache, dass er sich an veralteten Musiktheoretikern wie Johann Mattheson und Lorenz Christoph Mizler orientiere. Demgegenüber zeigt Nicolai sich als von Baumgarten beeinflusster Parteigänger jüngerer Berliner Komponisten und Musikästhetiker wie Johann Friedrich Agricola, Carl Philipp Emanuel Bach, Christian Gottfried Krause, Friedrich 41 42 43 44 45

Ebd., S. 202. Vgl. Schütz, Art. ›Nicolai, (Christoph) Friedrich‹; sowie dies., Richterstuhl. Nicolai, Briefe, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 73. Ebd., S. 74. Ebd., S. 73.

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Wilhelm Marpurg und Johann Joachim Quantz. Kurz: Es geht ihm auch um die Durchsetzung einer zeitgemäßen Musikästhetik mit dem Zentrum Berlin. Doch Nicolais primäres Ziel ist eine Apologie und Aufwertung der Instrumentalmusik. Dafür tritt er mit verschiedenen weiteren Argumenten ein: So mit dem Primat der Musik bei Opernaufführungen und so mit der kulturhistorischen Anciennität der Musik. In diesem Zusammenhang bezeichnet er die Musik sogar als »die Mutter der Poesie«,46 also als das genaue Gegenteil deren bloßer – wie Gottsched es postuliert hatte – »Aufwärterinn«. Die Tatsache nun, dass Nicolai im Jahr 1755 derart vehement für eine autonome, von der Poesie emanzipierte Instrumentalmusik eintrat, ist bemerkenswert. Denn der Paradigmenwechsel von der Vokal- zur Instrumentalmusik als höchster musikalischer Gattung wurde programmatisch ja erst in der romantischen Musikästhetik vollzogen.47 In den musikästhetischen Debatten der Jahrhundertmitte bildet Nicolai hingegen eine Ausnahme. Insofern war er, ohne dies ahnen zu können, ein Vorkämpfer für die romantische Musikästhetik. So überraschend es klingen mag: Nicolai hat sie in diesem Punkt mit vorbereitet. Aber nun zu meinem zweiten Beispiel: dem elften Brief, der im Inhaltsverzeichnis die Überschrift »Von der Schaubühne der Deutschen« trägt. Dieser Brief ist unter anderem deshalb von Interesse, weil Nicolai in ihm eine literaturgeschichtlich folgenreiche Empfehlung ausspricht. Im Zusammenhang mit der Frage, an welchen Vorbildern die deutschen Dramatiker sich orientieren sollten, schreibt er : »Es wäre überhaupt zu wünschen, daß die engländische Schauspiele bei uns nicht so gering geschäzzet würden.«48 Dies war wieder gegen Gottsched gerichtet, der sich bekanntlich primär für die klassische französische Dramatik als Muster der deutschen ausgesprochen hatte. Der entscheidende Hinweis ist dann aber der folgende: »S h a k e s p e a r e , ein Mann ohne Kenntniß der Regeln, ohne Gelehrsamkeit, ohne Ordnung, hat der Mannigfaltigkeit und der Stärke seiner Charaktere, den grösten Theil des Ruhmes zu danken, den ihm seine und alle andere Nationen, noch bis diese Stunde geben.«49 Alle anderen Nationen – so muss man hinzusetzen – außer der deutschen. Denn Shakespeare war in Deutschland zu diesem Zeitpunkt eben noch keineswegs derart anerkannt. Im Gegenteil: Er war durchaus umstritten. Zumal Gottsched ließ keine Gelegenheit aus, Kritik an Shakespeare zu üben. Anlässlich der ersten Übersetzung des Julius Caesar ins Deutsche hatte er etwa geschrieben: »Sein Julius Cäsar, der noch dazu von den meisten für sein bestes Stück gehalten wird, hat so viel niederträchtiges an sich, daß ihn kein Mensch ohne Ekel lesen 46 47 48 49

Ebd., S. 78. Vgl. Dahlhaus, Idee. Nicolai, Briefe, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 120. Ebd.

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kann.«50 Wenn Nicolai nun derart für Shakespeare eintrat, war dies ein wichtiger Impuls für dessen deutsche Rezeptionsgeschichte. Zwar war Nicolai nicht der erste, der sich für Shakespeare aussprach, Bodmer etwa hatte ihn bereits 1741 in der Vorrede zu seiner Critischen Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie lobend erwähnt, ebenso Lessing 1750 in der Vorrede zu seinen Beyträgen zur Historie und Aufnahme des Theaters. Doch indem Nicolai sein Plädoyer für Shakespeare in seine Programmschrift aufnahm, den englischen Dramatiker also gleichsam auf den Berliner Kampfplatz führte und gegen Leipzig in Stellung brachte, machte er die Nobilitierung Shakespeares zu einem der zentralen literaturpolitischen Ziele der Berliner Aufklärung. Nach dem Erscheinen der Briefe kam die literarische Öffentlichkeit an der Beschäftigung mit diesem Dramatiker gewissermaßen gar nicht mehr vorbei; und tatsächlich häuften sich nun »die Zeitschriftenbeiträge, die sich mit Shakespeare« auseinandersetzten.51 Für die deutsche Shakespeare-Rezeption hatten Nicolais Briefe also eine gleichsam katalysatorische Wirkung. Als Lessing im 17. Literaturbrief vier Jahre später Shakespeare so ungeheuer wirkungsvoll gegen die französischen Klassiker ausspielte, war der Boden dafür somit bestens bereitet. In diesem Punkt war Nicolai also auch ein Wegbereiter für die nächste Generation deutscher Dramatiker, die Stürmer und Dränger – auch wenn diese das dann nicht wahrhaben wollten, und er selber auch nicht. Die Wirkung der Briefe war groß. Sie machten, wie Nicolai an Lichtenberg schrieb, »Aufsehen« und er zog sich damit »den Haß beider Parteien« – also der Leipziger und Züricher – zu. »Aber« – so fügte Nicolai hinzu – »das war eine Kleinigkeit; denn durch sie ward ich zu gleicher Zeit mit Lessing, und durch ihn mit Moses bekannt, welches ich für das größte Glück meines Lebens halte.«52 Kurz: Mit seinen Briefen wurde Nicolai bekannt. Und ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Etablierung Berlins als neuer, zentraler Kampfplatz der deutschen Literatur war getan.

3.

1776: Friedrich Nicolai zieht gegen die Stürmer und Dränger zu Felde und lässt in Verkleidung des deutschen Percy Gespenster sprechen

Zwanzig Jahre später war Nicolai längst einer der einflussreichsten Kritiker der deutschen Literatur, und als solcher hatte er sich den Hass vieler Autoren nicht mehr nur aus Leipzig und Zürich, sondern aus dem gesamten deutschsprachi50 Zit. nach Blinn, Shakespeare, S. 32. 51 Blinn, Shakespeare-Rezeption, Bd. 1, S. 17. 52 Zit. nach Nicolai, Kritik, S. 437.

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gen Raum zugezogen, darunter, wie gesagt, auch Goethe, mit dessen Werther Nicolai einen der zentralen Texte der Sturm-und-Drang-Bewegung angegriffen hatte. Es herrschte nun also auch Krieg zwischen Berlin und Weimar ; und dieser Krieg war auch ein Krieg der Generationen. So wie zwanzig Jahre zuvor Nicolai gegen Gottsched aufbegehrt hatte, begehrten nun die Stürmer und Dränger auf gegen Nicolai. Der Unterschied war nur, dass der ein viel besserer Kämpfer war als Gottsched. Mit ihm fertig zu werden, war dementsprechend schwieriger. Die Stürmer und Dränger aber wehrten sich nicht nur gegen Nicolai, sie begeisterten sich, neben Shakespeare, auch für das Volkslied. Angeregt von Herder, auf den der Begriff ›Volkslied‹ ja auch zurückgeht, hatte beispielsweise der Student Goethe als ein früher Musikethnologe im Elsass nach Volksliedern geforscht, sie aufgeschrieben und dann auch in ihrem Stil gedichtet. Im Mai 1776 veröffentlichte dann ein anderer Sturm-und-Drang-Lyriker, Gottfried August Bürger – also derjenige, der später dann von seinem ›Sohn‹ August Wilhelm Schlegel erschlagen wurde, der dann wiederum von seinem ›Sohn‹ Heinrich Heine erschlagen wurde –, den ebenfalls von Herder inspirierten Aufsatz Herzensausguß über Volkspoesie. Bürger bezeichnet die Volkspoesie in diesem Aufsatz als »das non plus ultra der Kunst«53 und beschreibt, wie sein Ohr öfter »in der Abenddämmerung den Zauberschalle der Balladen und Gassenhauer, unter den Linden des Dorfs, auf der Bleiche, und in den Spinnstuben gelauscht. Selten ist mir ein sogenanntes Stückchen zu unsinnig und albern gewesen, daß nicht wenigstens etwas, und soll es auch nur ein Pinselstrich des magischrostigen Kolorits gewesen sein, poetisch mich erbauet hätte.«54

Wie man hier unschwer erkennen kann, war Bürgers Eloge auf die Volkspoesie überaus überschwänglich im Ton und – wie aus anderen Passagen hervorgeht – grundiert von einem gerüttelt Maß an Bildungsfeindlichkeit. Dies musste Nicolai verdrießen. Er beschloss, gegen die Volkslied-Euphorie der Stürmer und Dränger vorzugehen, und die Art und Weise, wie er dies dann in die Tat umsetzte, hat es in sich. Denn Nicolai entschied sich, wie auch schon im Fall des Werther, für eine Parodie, diesmal aber nicht für die Parodie eines Romans, sondern eines Almanachs; eine durchaus innovative Idee. Das Stichwort hatte ihm Bürger selbst geliefert, der in seinem Aufsatz geschrieben hatte: »Ich hemme meine Herzensergießung mit dem Wunsche, daß doch endlich ein deutscher Percy aufstehen, die Überbleibsel unserer alten Volkslieder sammlen, und dabei die Geheimnisse dieser magischen Kunst mehr, als bisher geschehen, aufdecken möge.«55 Angespielt wurde hier auf den englischen Bischof Thomas Percy, der 1765 die Reliques of Ancient English Poetry veröffentlicht hatte, eine 53 Bürger, Werke, S. 693. 54 Ebd., S. 691. 55 Ebd., S. 693.

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berühmte Anthologie mit alten englischen Balladen und Liedern, die auch in Deutschland großen Anklang fand. Diesen Ruf nach einem deutschen Percy nun nahm Nicolai beim Wort. Er schlüpfte in diese Rolle und begann, deutsche Volkslieder zu sammeln, allerdings eben in polemischer Absicht: Er wollte der Öffentlichkeit demonstrieren, was für ein unwürdiger Gegenstand jene von der jungen Generation so verklärte Volkspoesie in Wahrheit war. Bei der Suche nach entsprechenden Liedern halfen ihm Freunde und Kollegen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum, indem sie ihn auf seine Bitte hin mit Texten und Melodien versorgten.56 Fehlte eine Melodie, wurde sie nachträglich hinzukomponiert, unter anderem von Nicolai selbst, der insgesamt nicht weniger als elf solcher Pseudo-Volkslied-Melodien geschrieben hat. Noch im Jahr 1776, also in demselben Jahr, in dem auch Bürgers Aufsatz erschienen war, konnte der erste Band von Nicolais parodistischem Volkslied-Almanach erscheinen (Abb. 2). Wie man sieht, hatte Nicolai der Sammlung bewusst einen ›altdeutschen‹ Anstrich verliehen, um die Leser damit in die Irre zu führen. Und seine Mimikry war gekonnt: Ein unbedarfter Leser konnte vielleicht tatsächlich den Eindruck gewinnen, hier liege nun endlich die langersehnte Sammlung deutscher Volkslieder vor. Bei genauerem Hinsehen freilich konnten einem die parodistischen Elemente bereits auf dem Titelblatt nicht entgehen: so etwa die ortographische Verfremdung des Titels und – ein untrügliches Satire-Signal – der Druckorte. Und natürlich hätte auch der Name des Verlegers misstrauisch machen müssen. In der Vorrede wird diese Parodie des Altdeutschen fortgesetzt; sie ist einem – auf Bürgers Pseudonym Daniel Wunderlich anspielenden – Schuster namens Daniel Seuberlich in den Mund gelegt und in einem Pseudo-Frühneuhochdeutsch verfasst, also in der Sprachstufe des Deutschen, für die sich die Stürmer und Dränger so sehr begeisterten, ohne sie in der Regel freilich besonders gut zu kennen. Nicolai jedoch scheint Texte des 16. Jahrhunderts geradezu studiert zu haben, um sie so treffend wie möglich parodieren zu können. Als Beispiel diene eine Passage, an der Nicolais Kritik am Genie-Kult des Sturm und Drang deutlich wird: »Zwaren spuret man hin vnndt her, newe Gesellen, nennen sich Genyes, schwetzen d’ Lang vnndt d’ Queer, von Volcksliedern, vom Wurfe und Sprunge; ’s aber eytel Mummerey mit den Kerlen, ’s sind doch Versemacher. Wollen eben wz newes haben, wollen Oren kitzeln, wollen feynen Damen newe Lydlein vormachen, stelen drob, aus Volcksliedern, hir’n Wort, da’n Wort, flicken’s in jre Verse, machen ’n Schnitt queereyn, als wer’s erster Schnitt […]. ’Sind eben vnnder derley Genyes, gar grobe Knollen mit vnnder, meynens feyn naturlich, wenns ungehobelt vnndt plump ist […].«57

56 Vgl. Schütz, Richterstuhl, S. 29 f. 57 Zit. nach Nicolai, Kritik, S. 36.

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Abb. 2: Nicolai, Eyn feyner kleyner Almanach […], Titelblatt, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 4, Titelblatt.

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Das Frühneuhochdeutsche wird hier also nicht ungeschickt imitiert; mit ›Wurf‹ und ›Sprung‹ greift Nicolai gleichzeitig – von Bürger übernommene – Begriffe aus der Volkslieds-Theorie Herders auf, und die Schuster-Metaphorik verweist auf den Schuster-Dichter Hans Sachs, für den sich die Stürmer und Dränger, allen voran Goethe, aufgrund seiner vermeintlichen Volkstümlichkeit begeisterten; eine wirklich anspielungsreiche Passage also.

Abb. 3: Nicolai, Eyn feyner kleyner Almanach […], Eß reyt eyn Herr vnndt auch sein Knecht, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 4, Eyn feyner kleyner Almanach […], S. 120 f.

Für die Lieder selbst sei ebenfalls ein Beispiel angeführt (Abb. 3). Die Parodie beginnt hier schon bei der Vortragsanweisung: »Seer kleglich vnndt stönend«. Dergleichen kann man in Partituren Gustav Mahlers finden, aber kaum in VolksliedSammlungen. Auch die Melodie selbst – sie stammt von Nicolai – weist parodistische Züge auf: Im Volkslied-Kontext gänzlich unvorstellbar ist ihre Tonart, es-Moll. Über sie kann man in Heinrich Christoph Kochs Musikalischem Lexikon lesen: »Es moll, ist eine der vier und zwanzig Tonarten der Musik, aus welcher man aber ordentlicher Weise (es sey denn, daß es bloß zur Uebung geschähe,) kein ganzes Tonstück zu setzen pflegt, weil außer dem Grundtone noch die Töne h, a, d, g und c um einen halben Ton erniedriget, und in b, as, des, ges und ces verwandelt werden müssen.«58

Nicolai hat also eine gewissermaßen unmögliche Tonart gewählt, und er ist sogar noch einen Schritt weitergegangen, indem er auch noch ein fes in die Melodie eingebaut hat. Markant ist schließlich auch die Semantik dieser Tonart. Christian Friedrich Daniel Schubart schreibt in seiner Charakteristik der Töne über es-Moll: 58 Koch, Lexikon, Sp. 545 f.

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»Wenn Gespenster sprechen könnten; so sprächen sie ungefähr aus diesem Tone.«59 Die von Nicolai gewählte Tonart war also nicht nur eine unmögliche, sondern auch eine gespenstische. Vor allem aber sind Melodien in es-Moll aufgrund der vielen Vorzeichen natürlich sehr schwer vom Blatt zu singen. Gespenstern mag dies gelingen, Laien aber müssen daran scheitern. Genau dies jedoch war beabsichtigt, wie aus einem handschriftlichen Vermerk Nicolais zu diesem Lied hervorgeht: »Möge man sich in Weimar und Göttingen die Zungen daran zerbrechen.«60 Eine Bemerkung Herders, der Nicolais Almanach als eine »öffentlich aufgetragene Schüssel voll Schlamm« bezeichnete,61 lässt darauf schließen, dass dieses Kalkül aufgegangen ist. Damit zu der Wirkungsgeschichte des feynen kleynen Almanachs. Um es gleich vorwegzunehmen: Es ist eine unglaubliche Geschichte, die sicher keiner der Beteiligten vorausgesehen hat. Zunächst sei noch einmal Heinrich Heine zitiert, der die Intentionen, die Nicolai mit der Sammlung verfolgte, folgendermaßen beschrieben hat: »Er suchte, wie Odysseus, die Ohren seiner Gefährten zu verstopfen, damit sie den Gesang der Sirenen nicht hörten […].«62 Ein schöner Vergleich, doch offenbar war Heine nicht gut informiert. Denn tatsächlich war die Sache ganz anders verlaufen: Im Gegensatz zu Odysseus hat der deutsche Percy Nicolai seine Reisegefährten nämlich sogar mit weiteren Sirenengesängen versorgt – freilich wider Willen. Ausgangspunkt der erstaunlichen Wirkungsgeschichte des feynen kleynen Almanachs ist die Tatsache, dass offenbar bereits in der nächsten Generation weitgehend vergessen war, dass der Almanach eine Parodie war. Kurz: Man nahm ihn ernst und entnahm ihm dementsprechend Lieder, die man für echt hielt, auch wenn deren Melodien nicht aus dem Volk, sondern zum Beispiel eben von Nicolai stammten. Ein gutes Beispiel ist Des Knaben Wunderhorn: Arnim und Brentano haben etliche Lieder aus Nicolais Almanach in ihre Sammlung übernommen, so auch den Text des erwähnten Es reyt ein Herr vnndt auch sein Knecht;63 dass ihnen der parodistische Charakter ihrer Quelle entgangen sein soll, ist allerdings schwer vorstellbar. In jedem Fall war die Parodie in Des Knaben Wunderhorn nicht mehr erkennbar, und so wurden die Lieder aus dieser Sammlung dann bedenkenlos in andere Sammlungen übernommen. In einer solchen nun stieß fast hundert Jahre später ein berühmter, volksliedbegeisterter Komponist auf sie: Johannes Brahms. Auch er hielt die Lieder für echt. Und nicht nur das: Sie inspirierten ihn. Unter anderem fertigte er eine Bearbeitung von Eß reyt eyn Herr vnndt auch sein Knecht an und nahm sie in seine Sammlung Deutsche Volkslieder für eine Singstimme und Klavier WoO 33 auf. Aus Respekt vor der Überlieferung hat Brahms Nicolais Me59 60 61 62 63

Schubart, Ideen, S. 285. Zit. nach Schütz, Richterstuhl, S. 30. Zit. nach ebd., S. 31. Heine, Romantische Schule, in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 3, S. 582. Arnim/Brentano, Wunderhorn, Bd. 1, S. [267]f.

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lodie so gelassen, wie sie war; selbst die Gespenster-Tonart es-Moll hat er beibehalten. Seine Vortragsanweisung »Lebhaft und schauerlich« scheint sogar auf diese Semantik Bezug zu nehmen. Ein klassischer Fall eines produktiven Missverständnisses also. Sein Irrtum blieb nicht unbemerkt. Der Liedforscher Max Friedlaender war geradezu verzweifelt über diese – wie er sie sehr treffend bezeichnete – »Kuckuckseier«. Er schrieb: »Ueber die wundervolle Bearbeitung, die diese Gesänge durch Brahms gefunden haben, ist hier nicht der Ort zu reden. Festgestellt muß aber werden, daß sich unter ihnen verhältnismäßig nur recht wenige ursprüngliche Volksmelodien befinden. Dagegen rühren viele von Joh. Fr. Reichardt her und, was das Schlimmste ist, drei von dem rationalistischen Berliner Buchhändler, dem frechen Spötter Friedrich Nicolai, der diese Melodien in rein parodistischer Absicht componirt hatte […].«64

Der »Berlin Bookseller« – hier begegnet er einem also wieder. Wenn man den Kummer des wilhelminischen Musikwissenschaftlers über Nicolais »Kuckuckseier« aus seiner Zeit heraus auch verstehen kann, in einem Punkt muss man ihm doch widersprechen. Es ist nämlich nicht so, dass Nicolais Melodien besonders schlecht wären, Brahms hat sie ja auch kaum ohne Grund ausgewählt. Im Gegenteil: Mit einem seiner »Kuckuckseier« ist Nicolai sogar ein echter Ohrwurm gelungen. Es geht um das Lied Wollust in dem Meyen (Abb. 4).

Abb. 4: Nicolai, Eyn feyner kleyner Almanach […], Wollust in dem Meyen, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 4, Eyn feyner kleyner Almanach […], S. 98 f.

64 Friedlaender, Lied, Bd. 1/1, S. 238.

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Die Melodie dieses – »holdselyg« vorzutragenden – Liedes ist schlicht, gesanglich und einprägsam, eben echt volksliedhaft. Sicher wollte Nicolai auch damit die Parodie einer Volksliedmelodie liefern. Unter der Hand und contre cœur ist sie ihm aber zu einer geradezu idealtypischen Volksliedmelodie geworden. Brahms hat sie für vierstimmigen Chor a cappella bearbeitet und damit ein wunderbares Stück deutscher Chormusik geschaffen, ganz im Geiste Herders, Arnims und Brentanos.65 Spätestens damit ist aus der Parodie Ernst geworden – und bewiesen, dass jener ›Berliner Buchhändler‹ nicht nur ›clever‹ und ein »freche[r] Spötter« war, sondern, wenn es sein musste, auch ein nicht unbegabter Komponist.

65 Es findet sich in der Sammlung 14 Volkslieder für gemischten Chor, WoO 34.

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Bibliographie

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Quellen

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Norbert Christian Wolf

Der späte Nicolai als Literaturpapst. Zu den Hintergründen der fortschreitenden Verrohung in der literarischen Öffentlichkeit um 1800

Als der verdiente Heidelberger Aufklärungs- und Klassikforscher Peter Michelsen vor einigen Jahren gebeten wurde, auf einer Tagung über »Jena um 1800« mit dem bezeichnenden Titel Evolution des Geistes einen Vortrag über Friedrich Schlegels Konzept der ›progressiven Universalpoesie‹ zu halten, bekannte er gleich einleitend, um seinen Kritikern zuvorzukommen: »[I]ndem man dieses Thema ausgerechnet mir anvertraute, hat man den Bock zum Gärtner gemacht.«1 Als genuiner Vertreter des »gemeinen Menschenverstand[s]« passe er, Michelsen, wohl kaum »in den Garten der Romantik – wenn es denn ein Garten ist, vielleicht ist es eher eine Wildnis?«2 Analog dazu kann man sich mit einigem Recht die Frage stellen, warum ausgerechnet ich zu einer Konferenz sowie anschließend zur Teilnahme an einem Sammelband anlässlich des 200. Todestags des aufklärerischen Literaturkritikers, Schriftstellers und Zeitschriftenherausgebers Friedrich Nicolai eingeladen wurde. Sicherlich, ich habe vor geraumer Zeit ein paar Aufsätze verfasst, in denen es auch um Nicolai und seine streckenweise militante Berliner Literaturpolitik ging – insbesondere gegenüber den zeitgenössischen Autoren des josephinischen Wien, die er mit besonderer Vehemenz versucht hat, dem gelehrten Spott auszuliefern. Der preußische Präzeptor Germaniae ist daraus allerdings kaum als strahlender Sieger hervorgegangen, ja erwies sich eher als humorloser Don Quijote, der sich zunehmend selber jener Lächerlichkeit preisgab, die er seinen Gegnern auf den Leib schreiben wollte. Mithin muss ich fürchten, dass ich als sein Laudator gänzlich ungeeignet bin, zumal es mir im Unterschied zu anderen Aufklärungsfreunden scheint, dass der ›gemeine Menschenverstand‹ nicht unbedingt der methodische Ansatz, sondern eher ein Gegenstand wissenschaftlicher Forschung sein sollte. Freilich, mit ›gemeinem‹ oder gar ›gesundem Menschenverstand‹, wie er selber nicht unproblematisch formulierte3 (und damit seine Gegner implizit als 1 Michelsen, »Progressive Universalpoesie«, S. 323. 2 Ebd. 3 So etwa in Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre

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›krank‹ erscheinen ließ), konnte Nicolai mehr als die Frühromantiker, ja mehr als alle anderen Zeitgenossen aufwarten, und sein von ihm penibel bestellter Garten war wohl tatsächlich übersichtlicher geordnet als jener der Gebrüder Schlegel. Doch stellt sich mir nicht erst aus dem historischen Abstand des 21. Jahrhunderts die Frage, ob die darin mit aller Akribie des pedantischen Autodidakten angebauten Früchte tatsächlich gern genossen werden oder nicht vielmehr etwas schal und wässrig schmecken. Ich selbst jedenfalls habe bisher noch kaum jemanden kennengelernt, der die literarischen Hervorbringungen des späten Nicolai – im auffallenden Unterschied zu jenen des jungen Kritikers und Schriftstellers – mit ungeteilter intellektueller Zustimmung oder gar mit ästhetischem Genuss gelesen und sich zu ihnen als maßgeblichen Werken der deutschen Aufklärung bekannt hätte. Im Folgenden geht es aber gar nicht primär um die Versuche satirischer Zeitkritik des späten Nicolai, sondern um die literaturpolitische Rolle, die er im deutschen literarischen Feld des späten 18. Jahrhunderts gespielt hat und in der er trotz seiner bis dato ungekannten Machtfülle sukzessive in eine defensive Position geraten ist. Die als Vortragstitel gewählte Bezeichnung Nicolais als Literaturpapst mag vielleicht nicht jedem sogleich einleuchten, gilt er doch bei erklärten Aufklärungsfreunden und Klassikkritikern wie Klaus L. Berghahn vielmehr als passives Opfer ›maßloser Kritik‹4 seitens eines autoritären Weimarer Klassizismus sowie der reichlich intoleranten Jenaer Romantik. Dies ist freilich ein retrospektiver Eindruck, der die tatsächlich herrschenden publizistischen Machtverhältnisse des ausgehenden 18. Jahrhunderts tendenziell auf den Kopf stellt und die Resultate einer mit ungleichen Waffen geführten Auseinandersetzung für deren Voraussetzungen hält. Nicht Goethe oder Schiller, von den noch jungen Idealisten und den Frühromantikern ganz zu schweigen, sondern Nicolai verfügte damals mit seinem ökonomisch äußerst potenten Berliner Verlag, mit seinen überregionalen unternehmerischen Verbindungen und seinem europaweit wirkungsmächtigen Rezensionsorgan Allgemeine deutsche Bibliothek (ADB) über eine hegemoniale Position in der deutschen Gelehrtenrepublik. Sogar sein Verteidiger Berghahn weist darauf hin: »Am Ende des Jahrhunderts, also zur Zeit der großen Kontroverse, war er [Nicolai] einer der angesehensten Buchhändler in Preußen, sowohl was seine Verlagstätigkeit 1781, Bd. 11, S. 241; vgl. auch S. 261 f. u. passim. Zur historischen Situierung und Entwicklung der damit bezeichneten, ursprünglich »programmatisch antispekulative[n]« Haltung, die sich aber zunehmend in »Theoriefeindschaft und Aggression gegen die spezialisierte Philosophie« artikulierte, vgl. Beyer, Der Atheismusstreit um Fichte, S. 195 f.; dazu auch das Kapitel »Kritik im Namen des ›gesunden Menschenverstandes‹« in Otto, Die Auseinandersetzung um Schillers ›Horen‹, S. 399 – 406. 4 So der Titel des unten ausführlicher diskutierten Aufsatzes von Klaus L. Berghahn, Maßlose Kritik.

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wie seinen literarischen Einfluß betraf. Seine Geschäftsverbindungen reichten weit über Preußen bis nach Russland, wo er für die Kaiserin Katharina II. zahlreiche große Bibliotheksaufträge ausführte, nach Frankreich und England, deren Literatur er übersetzen und verbreiten half. In seinem Verlag erschienen in über vier Jahrzehnten 543 Werke (1.117 Bände), wovon auf die Literatur und Schönen Wissenschaften rund ein Fünftel entfiel und auf die Zeitschriften ein weiteres Fünftel.«5 Das wohl wichtigste Journal, die ADB, erschien von 1765 bis 1806 praktisch ohne Unterbrechung, versammelte in den 41 Jahren ihres Bestehens ca. 60.000 Besprechungen – wobei sie auf über 400 Mitarbeiter aus den verschiedensten Disziplinen zurückgriff – und gilt zumindest bis etwa 1785 als wichtigstes »Integrationsmedium« der deutschen Gelehrtenrepublik überhaupt.6 Danach freilich hat Nicolais Macht und Bedeutung allmählich abgenommen, wozu wohl auch die im Folgenden beschriebenen Kontroversen beitrugen, deren letzte sein unaufhörliches Absinken im öffentlichen Ansehen allenthalben sichtbar einleitete. Dennoch ist Nicolai in seiner organisatorischen Bedeutung für den deutschsprachigen Literaturbetrieb der Spätaufklärung kaum zu überschätzen, ja er »okkupierte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts« eine regelrechte »Schlüsselposition im literarischen Leben Deutschlands«.7 Der derzeit amtierende deutsche Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki, seinerseits nicht unumstritten und mittlerweile selbst in die Jahre gekommen, hat diese Einschätzung bestätigt und damit gewissermaßen ex cathedra sanktioniert: Er setzte seinem historischen Vorgänger und gegenwärtigen Vorbild ein Dank- und Denkmal, indem er ihm einen Würdigungsessay mit dem ins ganz Große greifenden Titel »Friedrich Nicolai. Der Gründer unseres literarischen Lebens« widmete, abgedruckt in keinem geringeren Blatt als der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Diesen Aufsatz reihte er dann ein in einen Sammelband namens Die Anwälte der Literatur, womit er den Spätaufklärer zu einem Vorläufer des eigenen Selbstverständnisses machte. Nicolai habe zwar »streng und scharf, doch sachlich« kritisiert und dabei stets »Souveränität und Toleranz« bewiesen.8 Völlig unverdienterweise sei er nach den ungerechten Injurien seitens Goethes, Schillers und Fichtes zum »Prügelknabe[n] der deutschen Literaturgeschichte« geworden, was man etwa an den abschätzigen Bemerkungen 5 Ebd., S. 191. 6 Vgl. dazu Schneider, Friedrich Nicolais ›Allgemeine Deutsche Bibliothek‹ als Integrationsmedium der Gelehrtenrepublik, bes. S. 7 – 13. – Ob es deswegen auch »the most prestigious review journal of its time in Germany« war, das »some of the most distinguished critical voices in the country« versammelt habe, wie Wetzels, The Herder-Nicolai Controversy, S. 87, suggeriert, sei hier zumindest mit Blick auf die späteren Jahre eher angezweifelt. 7 Berghahn, Maßlose Kritik, S. 191. 8 Reich-Ranicki, Friedrich Nicolai. Der Gründer unseres literarischen Lebens, S. 32 f.

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der einflussreichen Literaturhistoriker Gervinus, Erich Schmidt und Paul Rilla erkennen könne. Kein Wunder, dass Reich-Ranicki sich in Nicolai rückblickend wiedererkannte, hatte dieser sich doch selbst als Anwalt des ›gemeinen‹ und ›gesunden‹ Lesers verstanden und etwa in seiner Kritik an Schiller und den Frühromantikern – ähnlich wie sein späterer Nachfolger in den Verrissen von ebenso theorieaffinen Autoren wie Robert Musil9 oder Peter Handke10 – affirmativ auf »die wirkliche Welt« sowie auf das Postulat der ›Einfachheit‹ berufen, die er nicht nur in den polemischen Auseinandersetzungen mit der theoretisch und ästhetisch avancierten, damals noch ganz neuen Transzendentalphilosophie vermisste.11 Ganz anders als der aktuelle Literaturpapst urteilte vor einigen Jahren indes der Kölner Germanist Karl-Heinz Göttert ebenfalls in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, indem er angesichts des Erscheinens eines neuen Sammelbandes über Friedrich Nicolai12 Gegenteiliges zu bedenken gab: »Hinter der Fassade einer Liebe zu Kritik und Selbstdenken verbirgt sich Unausgegorenheit und Missverstehen. Nicolais ›Freuden des jungen Werthers‹, bei der die Protagonisten ihr Leben in den Griff bekommen, um so Jünglinge vom Selbstmord abzuhalten, ist ein hanebüchenes Stück Didaktik. Die Polemik gegen Schillers Horen, die zum frühen Einstellen der Zeitschrift führte, war unfair und töricht. Die Kritik an Kant […] und noch mehr an Fichte […] mag mit der vieler anderer Zeitgenossen zusammenstimmen. Sie belegt trotzdem nichts anderes als: Ignoranz.«13 Die Literaturkritik lässt sich also genauso wie die Literaturwissenschaft auf die historische Konfliktlage ein und bezieht darin gern entweder die eine oder die andere der vorhandenen Positionen. Während etwa Berghahn gegen die seit der Kanonisierung der ›Weimarer Klassik‹ im 19. Jahrhundert gängige Verurteilung des Berliner Literaten, Verlegers und Buchhändlers dezidiert »eine Neubewertung der Kontroverse aus der Perspektive Nicolais«14 unternimmt, diagnostiziert York-Gothart Mix in dessen kritischer Publizistik der 1790er Jahre generell einen eklatanten Mangel an »intellektueller Redlichkeit«: »Seine Strategien in den Konfrontationen mit den katholischen Aufklärern, mit Immanuel Kant und den jüngeren Philosophen, den Weimarer Klassikern und den Frühromantikern weisen Parallelen auf, die Resultate sind ähnlich. […] Mit rabiater Polemik versucht Nicolai über ein Jahrzehnt lang seine Benennungsmacht als Kunstrichter zu behaupten und die Etablierung mißliebiger Konkurrenz zu unterbinden.«15 9 10 11 12 13 14 15

Vgl. dazu Wolf, Kakanien als Gesellschaftskonstruktion, S. 11 – 20. Vgl. dazu Wolf, Autonomie und/oder Aufmerksamkeit?, S. 53 – 55. Vgl. Albrecht, Nicolais Kontroverse mit den Klassikern und Frühromantikern, S. 27. Es handelt sich um Falk/Kosˇenina (Hg.), Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung. Göttert, Am dümmsten aber sind die Bayern. Berghahn, Maßlose Kritik, S. 190. Mix, Lucri bonus odor oder Wie aufgeklärt war Friedrich Nicolai?, S. 357.

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Auf der Basis der Ergebnisse dieser ganz unterschiedlich ausgerichteten und argumentierenden Untersuchungen soll im Folgenden skizzenhaft versucht werden, die historische Konfliktlage weniger aus der Sicht eines der beteiligten Kombattanten, sondern aus einer übergeordneten Perspektive zu beschreiben, die gleichwohl um die Einbeziehung der damaligen Standpunkte sowie um eine konsequente Berücksichtigung der konkreten Machtverhältnisse im seinerzeitigen literarischen Feld bemüht ist.16 Zu diesem Zweck werden ein paar wichtige Stationen der Entwicklung Nicolais zu einer so einflussreichen wie verhassten Figur im literarischen Leben seiner Zeit mit Blick auf seine ›Opfer‹ – so zumindest deren eigene partielle Wahrnehmung – punktuell nachgezeichnet und dabei Beispiele für seine hegemoniale Strategie sowie für die subversiven Taktiken seiner Gegner genauer gemustert.17 Schon bei der Gründung der Allgemeinen deutschen Bibliothek, die ja die zentrale und integrative Informations- und Legitimationsinstanz der deutschsprachigen Gelehrtenrepublik zu sein beanspruchte, traten gewisse strukturelle Mängel und Defizite an den Tag: Genauso wenig, wie es Nicolai auf längere Sicht gelang, zum führenden Verleger der deutschen Aufklärungsliteratur zu avancieren – »Lessing veröffentlichte nur seine Antiquarischen Briefe bei ihm«,18 Wieland gar nichts –, konnte oder wollte er deren wichtigste Köpfe zu einer Mitarbeit am Rezensionsorgan ADB gewinnen. Abgesehen von Herder zählten Johann Joachim Eschenburg, Johann Jakob Engel und Johann Karl August Musäus zu den literaturkritischen Rezensenten19 – also nicht unbedingt die allererste Riege der deutschen Aufklärungsschriftsteller – und selbst von den Verfassern der Literaturbriefe veröffentlichten Mendelssohn nur sporadisch und

16 Hinsichtlich der zuletzt genannten, nicht-diskursiven Aspekte des überindividuellen sozialen Bedingungsgefüges, das den untersuchten Kontroversen zugrunde liegt, geht der vorliegende Versuch methodologisch über die rein diskursimmanent verfahrenden, gleichwohl äußerst anregenden Ansätze einer ideengeschichtlichen ›Konstellationsforschung‹ hinaus, wie sie in einschlägiger Thematik und im Anschluss an Arbeiten des Philosophen Dieter Henrich etwa Gille, »Ein angenehmer Traum eines guten Kopfes«, vorgelegt hat. 17 Die Argumentation stützt sich im Folgenden auf die terminologische Unterscheidung von ›Strategie‹ und ›Taktik‹, wie sie von de Certeau, Kunst des Handelns, S. 85 – 92, entwickelt worden ist. Demnach wird eine Taktik als mobiles »Handeln aus Berechnung« (S. 89) – »[o]hne eigenen Ort, ohne Gesamtübersicht, blind und scharfsinnig wie im direkten Handgemenge, abhängig von momentanen Zufällen« – »durch das Fehlen von Macht bestimmt, während die Strategie durch eine Macht organisiert wird.« (S. 90) Als ›Strategie‹ gilt nämlich »die Berechnung (oder Manipulation) von Kräfteverhältnissen, die in dem Moment möglich wird, wenn ein mit Willen und Macht versehenes Subjekt […] ausmachbar ist. Sie setzt einen Ort voraus, der als etwas Eigenes beschrieben werden […] und somit als Basis für die Organisation von Beziehungen zu einer Exteriorität dienen kann« (S. 87). 18 Berghahn, Maßlose Kritik, S. 191, Anm. 13. 19 Schneider, Friedrich Nicolais ›Allgemeine Deutsche Bibliothek‹, S. 151 f.

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Lessing überhaupt nicht in der ADB.20 Dieser Umstand wurde auf bezeichnende Weise dadurch ergänzt, dass die geworbenen Beiträger fast alle mit Nicolai befreundet waren. Er fällt umso mehr auf, als Nicolai doch erklärtermaßen geplant hatte, »die ›besten Köpfe‹ der gelehrten Republik zu versammeln, um dem Leser ein Bild der deutschen Literatur über die Grenzen des jeweiligen Landes hinaus zu vermitteln«.21 Zur Verbesserung dieser eher mediokren Situation bemühte er sich fortgesetzt um eine Ausweitung des Beiträgerkreises22 und griff dabei auf eher zweifelhafte Methoden bei der Mitarbeiterrekrutierung zurück, indem er etwa anonyme Beiträger verschiedener Konkurrenzjournale ausforschte und sie durch Verteilung von Buchgeschenken und Versprechungen aggressiv abzuwerben verstand.23 Ein eher durchwachsenes Bild ergibt sich auch in inhaltlicher Hinsicht: Misst man etwa die von Nicolai aufgestellten kritischen Normen und Maßstäbe24 an der tatsächlichen Rezensionspraxis, dann relativiert sich schnell das Selbstbild einer womöglich ideologiefreien Kritik ohne Ansehen des Verfassers.25 Von besonderer literaturgeschichtlicher Relevanz ist hierbei der Umstand, dass sich gerade im Fach der »Schönen Wissenschaften« Nicolais Suche nach kompetenten »Bibliothekaren« – also nach Rezensenten für die ADB – schwierig gestaltete, wobei die Probleme vor allem darin lagen, »Gelehrte zu finden, die in seinem Sinn dieses Fach rezensierten«.26 Offenbar konnte Nicolai hier kaum ihm

20 Vgl. ebd., S. 133. – Entsprechend klagt Nicolai im Brief an Herder vom 30. Dezember 1766: »Mein Freund Leßing liefert mir gar nichts.« Am 20. November1767 wird er noch deutlicher : »In Absicht auf die wichtigsten Werke in dem Fache der schönen Wissenschaften ist itzt meine Hofnung ganz allein auf Sie gesetzet. Sie sind es allein, dem, [!] ich es wagen darf, die Recension eines wichtigen Buchs in diesem Fache anzuvertrauen; denn von Herrn Moses [Mendelssohn] und Leßing ist nichts mehr zu hoffen.« (Herder’s Briefwechsel mit Nicolai, S. 3 ff., hier S. 4, S. 13 f., u. S. 14) 21 Schneider, Friedrich Nicolais ›Allgemeine Deutsche Bibliothek‹, S. 138. 22 Nicht zuletzt zum Zweck der Werbung neuer Mitarbeiter diente u. a. auch die berühmtberüchtigte Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahr 1781 (vgl. ebd., S. 246). 23 Vgl. ebd., S. 150 f. – Auch in diesem Zusammenhang ist zwischen gewöhnlichen Rezensenten und speziellen Korrespondenten zu differenzieren, die Nicolai aus den verschiedenen deutschen Ländern und auch aus dem benachbarten Ausland Nachrichten über die literarische Produktion, über neue wissenschaftliche Werke, über Übersetzungen deutscher Literatur sowie über personelle Angelegenheiten in dortigen Gelehrtenkreisen zukommen ließen (vgl. ebd., S. 149). Mit seinen gedruckten Zirkularen, in denen er allgemeine Mitteilungen verschickte und die er oft mit persönlichen Anmerkungen versah (vgl. ebd., S. 150), hielt der Verleger und Herausgeber die organisatorisch notwendige Kommunikation zwischen der Berliner Redaktion und den einzelnen Mitarbeitern aufrecht. 24 Vgl. ebd., S. 160 – 164; sowie schon Van der Laan, Nicolai’s Concept of the Review Journal. 25 Schneider, Friedrich Nicolais ›Allgemeine Deutsche Bibliothek‹, S. 165; vgl. ebd., S. 296 – 300. 26 Ebd., S. 151. Dementsprechend klagt Nicolai im Brief an Herder vom 30. Dezember 1766, »daß das Fach der schönen Wissenschaften in der Bibl.[iothek] noch etwas leer ist. Ich befinde mich deshalb in nicht wenig Verlegenheit«, und fügt erläuternd hinzu: »Bloß

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genehme Mitarbeiter gewinnen, die seinem zunehmend rückwärtsgewandten Literaturverständnis entsprachen: Ein recht prominentes und zugleich aussagekräftiges Beispiel dafür ist die relativ kurzzeitige und nicht zu beiderseitiger Zufriedenheit verlaufende Mitarbeit Johann Gottfried Herders, anhand derer gezeigt werden kann, dass Nicolai zwar nicht »die Rezensionen immer selbst verändert[e]«, wie verschiedentlich behauptet worden ist, aber doch »wiederholt Eingriffe vorgenommen hat«27 – und nicht nur unerhebliche. Anders gesagt: Er unternahm eine gezielte inhaltliche Lenkung des von ihm organisierten Rezensionswesens. Der Fall Herders, der als exemplarisch »für die Verärgerung eines Rezensenten«28 gilt und in gewisser Weise den Anfang der Entwicklung Nicolais zum ›Literaturpapst‹ markiert, soll hier deshalb etwas ausführlicher beleuchtet werden. Von Beginn an versuchte Nicolai, den neu geworbenen Kritiker durch Vorgaben direkt zu beeinflussen, wie schon sein drittes Schreiben an Herder vom 2. Mai 1767 bezeugt, worin es hinsichtlich der gewünschten Besprechung von Johann Jacob Bodmers Noachide in zwölf Gesängen (1765) in ziemlich despektierlichem Tonfall heißt: »Bodmer, ob er wohl freilich nicht zu lesen ist, kann doch nicht ganz kurz abgefertigt werden, weil unter seinem Mist, doch hin und wieder ein Goldkörnchen liegt. Sehr lieb wäre es, wenn Sie untersuchen wolten[,] woher es komt, daß diese Gedichte, so unwohlklingend und so unlesbar sind. Diese harte Prosodie und die närrische Epithete u. d. gl. sind freilich eine von den Ursachen mit, aber selbst in den Gedanken liegt[,] wie mich dünkt[,] die Hauptursache. Bodmers Einbildungskraft ist kalt, und er sucht durch locos communes seine Gedichte aufzustyzen.«29

Ob man unter solchen Prämissen eines starken und durch seine gleichzeitige Verlegerstellung ungewöhnlich einflussreichen Herausgebers noch unvoreingenommen an eine Besprechung gehen konnte, scheint eher fraglich. Diese massive Einschränkung des kritischen Objektivitätsgebots gilt überdies nicht allein für Nicolais Auftragserteilung, sondern auch für seinen Umgang mit Herders fertiggestellten Rezensionen, worauf Ute Schneider in ihrer keineswegs Nicolai-kritischen Dissertation hingewiesen hat: »Obwohl Nicolai ihm in Briefen schmeichelte und seine Rezensionen lobte, wurden die Herderschen Kritiken auffallend oft von Nicolai verändert bzw. anderen Rezensenten zur Überarbeitung geschickt.«30 Der mächtige Berliner Buchhändler-Verleger-Herausgeber

27 28 29 30

Männer, deren Einsichten ich trauen kan, darf ich dazu wählen.« (Herder’s Briefwechsel mit Nicolai, S. 5). Ebd., S. 305. – Zu den allerdings bestehenden Grenzen der Sanktionsmöglichkeiten vgl. ebd., S. 307. Ebd., S. 307. Nicolai an Herder, 2. Mai 1767, in: Herder’s Briefwechsel mit Nicolai, S. 8 ff., hier S. 9. Schneider, Friedrich Nicolais ›Allgemeine Deutsche Bibliothek‹, S. 307 f.

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nahm Herders Aufforderung zur Korrektur seiner Rezensionen trotz gegenteiliger Ankündigung überraschend wörtlich.31 So schrieb er dem damaligen Rigaer Hilfslehrer, der gerade seine Besprechung der Oden Karl Wilhelm Ramlers eingeschickt hatte, in einem Brief vom 20. Februar 1768, Herder sei »mit Hrn. R.[amler] zu strenge gewesen«, weswegen Nicolai »eine starke Aenderung« veranlasste: »Ich habe nämlich Hrn[.] Moses [Mendelssohn] vermocht[,] eine neue Recension der Ramlerschen Oden zu machen, unter welche er einen Theil der Ihrigen verwebet hat.«32 Nicolai rechtfertigte diese – gelinde gesagt – unkonventionelle und vom Rezensenten nicht abgesegnete Entscheidung mit dem Verweis auf eine kritische Besprechung Ramlers in Christian Adolph Klotz’ Konkurrenzjournal Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften, verpflichtete Herder zu absoluter Diskretion33 und erklärte sich folgendermaßen: »Ich gestehe diese Aufführung verdreußt mich, und daher vermöchte ich Herrn Moses[,] Ramlers wahre Verdienste (die Sie[,] ohne sie anzuzeigen, bey jedem Kenner vorausgesetzt hatten) in das gehörige Licht zu setzen, und dabey auf die Klotzische Recension, ohne sie eigentlich zu wiederlegen [sic], ein Auge zu haben.«34 Es überrascht jedenfalls nicht, dass die Kritik nach Mendelssohns Überarbeitung merklich milder ausfiel.35 Dergestalt erwies sich Nicolai weniger als zurückhaltender Herausgeber denn als gewiefter Literaturpolitiker. Der junge und damals noch unerfahrene Herder zeigte in dieser Angelegenheit zunächst sogar Verständnis.36 Nach 1769 lieferte er jedoch kaum noch Besprechungen, vertröstete den Herausgeber immer wieder und verließ 1773 aus eigenem Antrieb den Mitarbeiterstab der ADB.37 Schneider kommentiert diese Entwicklung mit folgendem Hinweis: »Obwohl zu vermuten ist, daß Herder die ständigen Einmischungen in seine Rezensionen verärgerten, war dies nicht der einzige Grund für seinen Rückzug. Das gespannte Verhältnis zwischen ihm und Nicolai hatte seine Gründe in kontroversen 31 Vgl. Herder an Nicolai, 19. Februar 1767, wo der Rezensent dem Herausgeber »freie Hand« bei der Vermeidung von offensichtlichen »Localgesichtspunkte[n]« erteilt. Nicolai antwortet darauf am 2. Mai 1767 vorderhand großzügig: »Die Freiheit, die Sie mir geben, etwas zu ändern, werde ich gewiß nur sehr selten, und denn in bloßen Nebendingen zu brauchen nöthig haben« (Herder’s Briefwechsel mit Nicolai, S. 6 ff., hier S. 6 u. S. 8 ff.). 32 Nicolai an Herder, 20. Februar 1768, in: ebd., S. 15 – 18, hier S. 15. 33 Vgl. ebd.: »Ich […] bitte Sie aber[,] so sehr ich bitten kann, gegen Niemand, es sey auch wer es sey, sich davon etwas merken zu laßen.« 34 Ebd., S. 15 f. 35 Vgl. Schneider, Friedrich Nicolais ›Allgemeine Deutsche Bibliothek‹, S. 310. 36 Vgl. Herder an Nicolai, 13. März 1768, in: Herder’s Briefwechsel mit Nicolai, S. 18 f., hier S. 18. 37 Vgl. Herder an Nicolai, 14. August 1773: »[L]aßen Sie mich, Hochgeschätzter Freund, jetzt auf einige Zeit Abschied von Ihrer Bibliothek nehmen. Ich werde ihr von Band zu Band vielleicht unbequemer, da ich in andern Arbeiten gegenwärtig tumle, und mein ästhetisches Urteil vielleicht zu sehr altert und giert« (ebd., S. 102).

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Weltanschauungen und außerdem persönliche Ursachen. Aussagen Nicolais in den Briefen an Hoepfner, Langer und Eschenburg lassen auf grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten schließen.«38

Tatsächlich ist der tiefere Grund für den Dissens wohl in den (von Schneider nicht diskutierten) völlig konträren erkenntnistheoretischen und wissenschaftspolitischen Grundüberzeugungen des Sensualisten Herder und des zunehmend rigorosen Rationalisten Nicolai zu sehen, welche dazu führten, dass just der geistig unkonventionelle und langfristig intellektuelle Maßstäbe setzende spätere Bückeburger Hofprediger und Weimarer Generalsuperintendent dem Berliner Buchhändler »seicht und zugleich impertinent«39 erschien. Die ganz unterschiedliche epistemologische, ideologische und ästhetische Einstellung der beiden Autoren zeigt sich auch im Umstand, dass Nicolai etwa mit Eschenburg grundsätzlich sehr viel milder als mit Herder verfuhr, ja »ihn seine Rezensionen selbst überarbeiten«40 ließ. Sie drückt sich in gegensätzlichen sprachtheoretischen Konzepten aus,41 die auch im Briefwechsel ihren Niederschlag finden, wenn Nicolai etwa im seinem ersten Brief an Herder vom 19. November 1766 seinen noch gar nicht gewonnenen Mitarbeiter, »der so gut schreiben« könne, davor warnt, »sich zu Hamannischen Cant und spitzfindigen Anspielungen herab[zu]lassen«.42 Er beruft sich in diesem Zusammenhang – wie Verleger so oft – auf die Bedürfnisse des gemeinen Lesers, was er im Folgebrief vom 30. Dezember 1766 genauer ausführt: »Meine Anmerkung über Ihre Schreibart war nur beiläufig; übrigens aber meiner natürlichen Offenherzigkeit gemäß – die Verführung zu Allusionen ist dem Witze des Schriftstellers freilich nur gar zu angenehm, aber der Leser[,] der diese Anspielungen entweder nur halb erklären kann oder falsch ausdeutet, leidet darunter. Wie weit die Liebe zu den Anspielungen führen kan, davon ist Hamann ein betrübtes Beispiel.«43

38 Schneider, Friedrich Nicolais ›Allgemeine Deutsche Bibliothek‹, S. 310. 39 So Nicolai in einem unveröffentlichten Brief an Ernst Theodor Langer vom 20. August 1782; zit. nach ebd., S. 310. 40 Ebd., S. 313. 41 Zum Umstand »that in this critical exchange about seemingly personal stylistic preferences, two forms of discourse claim legitimacy : the discourse of rational argumentation, and the discourse of metaphorical evocation« vgl. Wetzels, The Herder-Nicolai Controversy, S. 88 f. – Wetzels verkennt allerdings die keineswegs irrationalistische, sondern begründet antirationalistische, sensualistische Grundlage der Herder’schen Sprachtheorie, wenn er die »basic intellectual concerns« der beiden Kontrahenten als »clarity versus obscurantism« identifiziert und somit einseitig die wenig verständnisvolle Position Nicolais übernimmt: »For Nicolai, rational, enlightened thinking and its public articulation, the very mission of his journal in this Age of Enlightenment, were at stake, and in Herder’s case in danger.« 42 Nicolai an Herder, 19. November 1766, in: Herder’s Briefwechsel mit Nicolai, S. 1 f., hier S. 2. 43 Nicolai an Herder, 30. Dezember 1766, in: ebd., S. 4.

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Gar nicht beiläufig, sondern mit auffallender Beharrlichkeit stößt sich Nicolai an Herders durchaus epistemologisch und ästhetisch begründetem, ja programmatischem Bilder- und Anspielungsreichtum, wie auch der bereits zitierte Brief vom 20. Februar 1768 zeigt: »Darf ich etwas rathen, so wäre es in Ansehung der Schreibart; Es ist nicht zu vermeiden, daß man bey vielen Anspielungen nicht den meisten Lesern oft unverständlich werde, und diese Sucht reißt überhaupt itzt so sehr ein, daß die besten Köpfe sich am meisten dafür hüten solten«.44 Nicolai kann es nicht lassen, auf Herder im Sinne eines rationalistischen Sprachverständnisses einzuwirken, obwohl er ihm doch im selben Atemzug schmeichelt: »Ich kenne niemand, der sich so wie Sie auf die Kürze und Körnigkeit des Styles verstehet, und darauf kommt es hier am meisten an«.45 Seine Argumente bleiben dabei in einer ermüdenden Redundanz stets gleich, was etwa der Brief vom 14. Juni 1768 offenlegt: »[I]hre Schreibart ist noch immer etwas alzu [!] räthselhaft, es wird Ihnen, wie merke etwas Mühe machen[,] sich einen planern Styl anzugewöhnen, welches ich Ihnen doch rathen wolte [!], denn sonst verdammen Sie selbst Ihre Schriften und ehe fünfzig Jahre ins Land gehen, einen Commentator zu bekommen«.46 Während Herder am 21. November 1768 dem Herausgeber der ADB erstmals gesteht, er »finde selbst« immer »weniger Anziehendes« an dem von ihm belieferten spätaufklärerischen Rezensionsorgan, das allzu sehr ins »Allgemeine« tendiere,47 wiederholt Nicolai noch in seinem vorletzten Brief vom 13. Juni 1774, der das finale Zerwürfnis auslöst: »Sie kennen nun seit 10 Jahren meine Grille, daß ich lieber sehe, daß die Sprache sey, wie die Flüsse, die in ihren Betten bleiben, klar Wasser geben und weidliche Schiffe tragen, die uns dieses und jenes zuführen. Der Wandsbecker Bote, ist zwar anderer Meinung, und meint, es wäre besser, sie sey wie die Donau, die alle mit sich fortreist, oder wie ein angeschwollner Strom, der Bette und Damm durchbricht und in reißenden Fluthen über Feld und Wald daherbraust. […] Einer ihrer Freunde, hat an einen andern geschrieben, er soll nicht eher über die [Älteste] Urkunde [des Menschengeschlechts] urtheilen bis er sie siebenmal gelesen hätte! War es denn nicht möglich es so einzurichten, daß sie wengistens beym 3ten und 4ten mahle verständlich wäre! Mein liebster Freund! Sie schreiben orientalisch«.48

Solche und ähnliche verständnislose wie teilweise pedantisch anmutende Insinuationen führten schließlich zu Herders Distanzierung; so macht er in dem Brief vom 23. November 1772 im Anschluss an eine konzessive Formulierung seinem Ärger Luft: 44 45 46 47 48

Nicolai an Herder, 20. Februar 1768, in: ebd., S. 17. Ebd. Nicolai an Herder, 14. Juni 1768, in: ebd., S. 19 – 21, hier S. 20 f. Herder an Nicolai, 21. November 1768, in: ebd., S. 22 – 24, hier S. 22. Nicolai an Herder, 13. Juni 1774, in: ebd., S. 106 – 108, hier S. 107 f.

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»In ihren Anmerkungen über meinen Styl haben Sie leider! zu sehr recht: Sie spannen aber mit mir die Pferde hinter den Wagen. Geben Sie mir mehr Simplicität, Umriß u.[nd] Absatz im Denken: so werden die Worte sich selbst ordnen – jetzt läuft Alles in einander. An Jenem arbeite ich auf alle Weise: was soll mir aber a posteriori Ihr Kram von Grammatik helfen? Dadurch würde Alles nur so dürre u.[nd] blutlos!«49

Trotz aller gebotenen Zurückhaltung deutet Herder hier seine Reserven gegen das rationalistische Sprachverständnis Nicolais erstmals vorsichtig an, ohne damit freilich den Adressaten zu überzeugen.50 In seinem letzten Schreiben an den Berliner Verleger begegnet er dessen totalitärem Wahrheitsanspruch dann mit scharfer Abgrenzung und ungebremster Bitterkeit: »Habe ich je so denken wollen? u.[nd] sollen? u.[nd] dörfen? Und wer sind Sie, m.[ein] H.[err], und all ihre Freunde, daß Sie Ihre Denkart zur Norm alles Wißens u.[nd] Denkens anschlagen?«51 Mit einer sarkastischen Schlussbemerkung bricht Herder den Kontakt von seiner Seite endgültig ab: »Kurz, m[ein] H[ochgeschätzter] H[err] es ist gut, daß das der Erste u.[nd] letzte Brief sei, den wir also wechseln. Denken Sie mit all Ihren Freunden, wie Sie wollen; laßen Sie mich auch denken, wie ich will, warum sollte mir die kleine Freiheit nicht gebühren? Wer hat mich gedungen, um ich weiß nicht, welche Schule, umherzutanzen: – doch was erniedrige ich mich, so auch nur zu fragen? Ich wünschts überhaupt, aus mehr als Einem Betracht, […] daß Ew. Wohlgeb.[oren] mich gütigst vergäßen, weiter thun, anordnen u.[nd] schreiben, was Sie gut finden u.s.f.«52

Nicolai, der es sich nicht nehmen ließ, auch in diesem Fall mit einer ausführlichen Entgegnung das letzte Wort zu behalten,53 traf durchaus ins Schwarze, wenn er zu Herders Mitarbeit nachträglich feststellte: »Seine Grundsätze stimmten mit andern Grundsätzen in der Bibl.[iothek] allzuwenig zusammen«.54 Es spricht jedoch kaum für sein Bemühen um Objektivität und Toleranz und auch nicht für seine Souveränität als Herausgeber, dass er für die ADB lieber auf mittelmäßige, aber linientreue Beiträger zurückgriff und sich über den Abgang 49 Herder an Nicolai, 23. November 1772, in: ebd., S. 87 f., hier S. 88. 50 Vgl. ebd. die Randnotiz aus Nicolais Feder : »Ich glaube doch, daß die Achtsamkeit auf die Grammatik die Gedanken simplificiren könne.« 51 Herder an Nicolai, 29. Juli 1774, in: ebd., S. 108 – 110, hier S. 109. 52 Ebd., S. 110; korrigiert nach Herder, Briefe, Bd. 3, S. 108. 53 Vgl. Nicolais Antwortschreiben vom 9. August 1774, seine letztes an Herder überhaupt, in dem er mit den üblichen Beteuerungen seiner Suche nach »Wahrheit« und seiner »redliche[n] Gesinnung« aufwartet (ebd., S. 111 – 123, hier S. 111 f.). 54 So Nicolai in einem unveröffentlichten Brief an Ludwig Julius Friedrich Hoepfner vom 19. September 1776; zit. nach Schneider, Friedrich Nicolais ›Allgemeine Deutsche Bibliothek‹, S. 311. – Herder gegenüber hatte er schon am 13. Juni 1774 festgestellt: »Da […] unsere Meinungen, je mehr sie sich entwickeln, desto weiter außeinander gehen, so merke ich wohl, dass ich schwerlich von Ihnen ferner Beyträge zur A. D. B. erwarten darf« (Herder’s Briefwechsel mit Nicolai, S. 106).

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eines der wichtigsten Denker der deutschen Spätaufklärung sogar unverhohlen freute: »Da er selbst darauf kam, sah ichs, die Wahrheit zu sagen, nicht ganz ungern.«55 Hier ist nicht die Zeit und der Ort, auf die sich aus der schwierigen Zusammenarbeit für die ADB entspinnende, anhaltende Gegnerschaft zwischen Nicolai und Herder einzugehen.56 Wie sich am beschriebenen Fall indes veranschaulichen lässt, konnte Nicolai aufgrund seiner äußerst selektiven Auswahl von Mitarbeitern das von ihm selbst erhobene und als realisiert beanspruchte Postulat uneingeschränkter Meinungsvielfalt keineswegs umsetzen. Und der zuletzt spürbare Sarkasmus Herders im Umgang mit ihm sollte fortan in jenen Konstellationen Schule machen, wo das publizistische Machtgefälle und die bald sprichwörtliche Sturheit Nicolais keinen anderen Ausweg zuzulassen schienen.57 Ein weiteres Beispiel für die keineswegs so tolerante, ja merklich eingeschränkte Sichtweise Nicolais, auf das ich an anderer Stelle ausführlicher eingegangen bin,58 ist seine Ende 1761 mit dem 200.–203. der (von 1759 bis 1765 gemeinsam mit Lessing und Mendelssohn verfassten) Briefe, die neure Literatur betreffend einsetzende und fast lebenslang anhaltende harsche Polemik gegen sämtliche Formen, Projekte und Hervorbringungen einer katholischen deutschsprachigen Aufklärung, ja der aus katholischen Gebieten des Alten Reichs stammenden Kultur überhaupt.59 Davon zeugt unter anderem die immerhin von 1781 bis 1788 bestehende (polemische) Rubrik »Wiener und andere katholische Schriften«,60 deren meist vernichtende, ja verächtliche Rezensionen augenscheinlich nicht um kritische Objektivität bemüht waren, sondern statt der kulturellen und »ästhetischen Differenzqualität immer nur die konfessionelle Tendenz« bewerteten,61 also in inhaltlicher und argumentativer Hinsicht die nachreformatorische, jedenfalls voraufklärerische Tradition der protestantischen Konfessionspolemik weiterführten.62 Auch hier reagierten die betroffenen Autoren mehr und mehr mit harscher Polemik und ungebremstem Sar55 Nicolai an Hoepfner, 19. September 1776, zit. nach Schneider, Friedrich Nicolais ›Allgemeine Deutsche Bibliothek‹, S. 311. 56 Vgl. dazu Sommerfeld, Friedrich Nicolai und der Sturm und Drang, S. 204 – 210; Wetzels, The Herder-Nicolai Controversy, S. 92– 97; sowie Möller, Aufklärung in Preußen, S. 394 – 407. 57 Zum Umgang der Stürmer und Dränger mit Nicolai vgl. die nach wie vor unersetzte Dissertation von Sommerfeld, Nicolai und der Sturm und Drang; zum jungen Goethe etwa ebd., S. 248 – 271. 58 Vgl. Wolf, Polemische Konstellationen; ders., Konfessionalität, Nationalität und aufgeklärter Patriotismus. 59 Vgl. dazu auch Möller, Aufklärung in Preußen, S. 115 – 120; sowie Schmidt-Biggemann, Vom Altern der Wahrheit, S. 252 – 257. 60 Vgl. dazu Schneider, Friedrich Nicolais ›Allgemeine Deutsche Bibliothek‹, S. 121 ff. 61 Mix, Lucri bonus odor oder Wie aufgeklärt war Friedrich Nicolai?, S. 354. 62 Vgl. Wolf, Konfessionalität, Nationalität und aufgeklärter Patriotismus, bes. S. 38 – 48; sowie Mix, Lucri bonus odor oder Wie aufgeklärt war Friedrich Nicolai?, S. 341 – 348.

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kasmus, die sich in zahllosen Pamphleten, Pasquillen und Spottgedichten Ausdruck verschafften.63 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang überdies, dass der weitaus größte Teil der Mitarbeiter und Rezensenten – entgegen Nicolais anderslautenden Beteuerungen – tatsächlich in Berlin wohnte.64 Dieser Umstand entspricht tendenziell der von Schneider relativierten Behauptung eines besonderen lokalen Bezugs der ADB zur preußischen Hauptstadt.65 Deutsche Protestanten waren im Übrigen auch die (Nicolais Beteuerung zufolge angeblich österreichischen66) anonymen Verfasser der Rezensionen von Wiener Schriften.67 Die Tatsache, dass die Entscheidung über die Auswahl der Beiträger zur ADB letztlich allein in Nicolais Hand lag, verhinderte darin jedenfalls eine Wortmeldung von erklärten Kritikern der Berliner Aufklärung. So ist es auch kaum überraschend (und keinesfalls nur mit der aufklärerischen Programmatik der ADB zu erklären, wie Schneider suggeriert), dass zumindest für den Untersuchungszeitraum von 1765 bis etwa 1785 bei insgesamt 433 verzeichneten Mitarbeitern68 praktisch keine katholischen Rezensenten und kein einziger Professor einer jesuitischen Universität zu verzeichnen sind,69 obwohl an den katholischen Hochschulen um diese Zeit etwa in den Naturwissenschaften, in der Medizin und in der Kameralistik mitunter beachtliche Leistungen erzielt wurden.70 Wenn Schneider in diesem Zusammenhang formuliert, Nicolai habe »seinen Anspruch, aus allen Regionen Deutschlands Gelehrte zu verpflichten, durchsetzen können«,71 dann muss diese Angabe mit starkem Vorbehalt betrachtet werden. Nicolais eigener Ansicht nach zählten ja nicht nur das katholische Bayern, sondern auch die deutschsprachigen Territorien der Habsburgermonarchie damals (noch) zweifellos zu Deutschland, wie der Titel seiner zwölfbändigen Reisebeschreibung 63 64 65 66 67 68

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70 71

Vgl. dazu auch Wolf, Wien gegen Berlin, Blumauer gegen Nicolai. Vgl. Schneider, Friedrich Nicolais ›Allgemeine Deutsche Bibliothek‹, S. 154 f. Vgl. ebd., S. 90. Vgl. den Brief Nicolais an Tobias Philipp Freiherrn von Gebler, 15. Februar 1783, in: Aus dem Josephinischen Wien, S. 108 – 111, hier S. 109. Vgl. Kohrs, Aufklärerische Kritik der ADB Fr. Nicolais an den Wiener Schriften des josephinischen Jahrzehnts, unter Bezug auf Parthey, Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolai’s Allgemeiner Deutscher Bibliothek. Diese Zahl Gustav Partheys bezieht sich freilich auf den gesamten Erscheinungszeitraum der (Neuen) Allgemeinen Deutschen Bibliothek; von 1765 bis 1778 nahmen 177 Kritiker teil, von 1779 bis 1787 kamen 115 neue Rezensenten hinzu (vgl. Schneider, Friedrich Nicolais ›Allgemeine Deutsche Bibliothek‹, S. 153 f. u. S. 157, unter Verweis auf Parthey, Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolai’s ›Allgemeiner Deutscher Bibliothek‹). Vgl. Schneider, Friedrich Nicolais ›Allgemeine Deutsche Bibliothek‹, S. 157. Die wenigen Beiträger aus katholischen Universitätsorten, die Parthey, Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolai’s ›Allgemeiner Deutscher Bibliothek‹, verzeichnet, wurden fast alle erst in der Spätphase der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek angeworben. Vgl. dazu etwa Klueting (Hg.), Katholische Aufklärung. Vgl. Schneider, Friedrich Nicolais ›Allgemeine Deutsche Bibliothek‹, S. 158.

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belegt, deren desintegrative Wirkung auf die gesamte deutschsprachige Gelehrtenrepublik72 nun der abschließende Teil meiner Skizze kurz am Beispiel der Kontroversen um den 11. Band (12. Abschnitt des 3. Buchs) beleuchten soll. Dass Nicolais kritische und theoretische Maximen trotz seiner eminenten ökonomischen und diskursiven Machtposition von der rapiden Beschleunigung der Kultur- und Wissensentwicklung in der ›Sattelzeit‹ um 1800 (Koselleck) strukturell allmählich überholt wurden, erwies sich vollends im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, nämlich anlässlich der unerbittlich geführten Auseinandersetzungen zwischen ihm und den Weimarer Klassikern sowie den Frühromantikern: Im elften Band (1796) seiner berühmt-berüchtigten Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781 rechnet er mit jenen Vertretern der damals avancierten Literatur und Philosophie ab, die heute international zu den wichtigsten deutschsprachigen Autoren und Denkern des ausgehenden 18. Jahrhunderts gezählt werden. Im Abschnitt »Aufenthalt in Tübingen« seines Werks liefert Nicolai – dem der gelehrten Polemik unverdächtigen Titel zum Trotz – »auf 70 Seiten eine mit Injurien durchsetzte Ablehnung von Friedrich Schillers 1795 – 1796 publizierter Zeitschrift Die Horen. Das Stichwort ›Tübingen‹ ist nur der Aufhänger für einen Verriss, in dem in bisweilen vulgärer Manier von unbotmäßigen Machenschaften, ›weitläufig ausgesponnenen Hirngespinsten‹, den ›allerschädlichsten‹ Wirkungen auf die Jugend und ›fieberhaften Zuckungen‹ die Rede ist«.73

Demnach hat Nicolai sogar »seinen Anteil am Misserfolg der Horen«, denn »nach seinen pamphletischen Ausfällen« habe sich »der Leserkreis halbiert.«74 Ob diese (von Götterts Zeitungsartikel aufgegriffene) Unterstellung zutrifft, sei hier dahingestellt, denn es kann im Rückblick auf der Basis der vorhandenen Quellen kaum entschieden werden, inwiefern der Leserschwund des äußerst ambitionierten Journals tatsächlich auf Nicolais Invektiven und nicht doch auf das enorme sprachliche und intellektuelle Anspruchsniveau zurückzuführen ist. Nachvollziehbar aber erscheint jedenfalls Schillers und Goethes gewaltiger Groll, den sie in den wenig später in Schillers Musen-Almanach für das Jahr 1797 publizierten Xenien im antiken Gewand zu einem Ausdruck brachten, dessen Sarkasmus seinerseits kaum als ethisch überzeugend und rhetorisch angemessen, geschweige denn als sonderlich witzig bezeichnet werden kann, wenngleich

72 Hinsichtlich der Konsequenzen für die österreichische Aufklärung vgl. Wolf, Polemische Konstellationen, S. 55 f.; ders., Blumauer gegen Nicolai, Wien gegen Berlin, S. 62 ff. 73 Mix, Lucri bonus odor oder Wie aufgeklärt war Friedrich Nicolai?, S. 355. – In der Originalausgabe handelt es sich sogar um 135 Seiten (vgl. Nicolai, Beschreibung einer Reise, Bd. 11, S. 177 – 312). 74 Mix, Lucri bonus odor oder Wie aufgeklärt war Friedrich Nicolai?, S. 355.

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er gewisse stilistische Eigenheiten der Prosa des späten Nicolai durchaus treffend benennt. Ein paar bekannte Beispiele mögen dies demonstrieren: »Nicolai / Nicolai reiset noch immer, noch lang wird er reisen, / Aber ins Land der Vernunft findet er nimmer den Weg. // Der Wichtige / Seine Meinung sagt er von seinem Jahrhundert, er sagt sie, / Nochmals sagt er sie laut, hat sie gesagt und geht ab. […] // Formalphilosophie / Allen Formen macht er den Krieg, er weiß wohl, zeitlebens / Hat er mit Müh und Not Stoff nur zusammengeschleppt. // Der Todfeind / Willst du alles vertilgen, was deiner Natur nicht gemäß ist, // Nicolai, zuerst schwöre dem Schönen den Tod! // Philosophische Querköpfe / ›Querkopf!‹ schreiet ergrimmt in unsere Wälder Herr Nickel, / ›Leerkopf!‹ schallt es darauf lustig zum Walde heraus. // Empirischer Querkopf / Armer empirischer Teufel! du kennst nicht einmal das Dumme / In dir selber : es ist, ach! a priori so dumm.«75

Liest man diese mehr polemischen als elegischen Distichen aus dem Abstand von gut 200 Jahren, dann erscheinen die meisten davon nur bedingt komisch, manche aber schlagen erheblich über die Stränge, wenn sie etwa – zwar durchaus der rhetorischen Tradition entsprechend – weniger auf die gegnerische Meinung, sondern auf die Person des Gegners, ja auf dessen körperliche Konstitution und Gesundheit abheben: »Verkehrte Wirkung / Rührt sonst einen der Schlag, so stockt die Zunge gewöhnlich, / Dieser, so lange gelähmt, schwatzt nur geläufiger fort.«76 Solche despektierlichen Herabwürdigungen Nicolais und anderer Anhänger der Spätaufklärung sollten Schule machen. Klaus L. Berghahn spricht hinsichtlich der »Anspielung auf Nicolais Schlaganfall« zu Recht von »persönlichen Injurien«77 und diagnostiziert deshalb in Goethes und Schillers polemischen Ausfällen einen »Beigeschmack des Inhumanen«.78 Demgegenüber meint Mix ebenfalls mit gutem Grund, bei »der Bewertung der Xenien« werde »meist übersehen, daß dieser Ton nicht auf Goethe und Schiller, sondern auf Nicolai zurückgeht.«79 Um das ansatzweise zu veranschaulichen, seien im Folgenden auch ein paar Kostproben aus dessen Polemik gegeben. Im Abschnitt zu Tübingen aus seiner Reisebeschreibung hat Nicolai die Horen allein deshalb zum Gegenstand einer ausufernden, ja alle Dimensionen der Gattung sprengenden Polemik gemacht, weil die Zeitschrift zwar »nicht eigentlich […] in Tübingen geschrieben« werde, aber »doch daselbst heraus[komme]«.80 Nach dieser etwas bemühten Begründung für den unüblichen Ort seines Totalverrisses, die Goethe und Schiller 75 76 77 78 79 80

Zit. nach Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 277. Ebd., S. 278. Berghahn, Maßlose Kritik, S. 195. Ebd., S. 200. Mix, Lucri bonus odor oder Wie aufgeklärt war Friedrich Nicolai?, S. 356. Nicolai, Beschreibung einer Reise, Bd. 11, S. 177.

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genüsslich aufs Korn nahmen,81 kündigt Nicolai an, ein Exempel zu statuieren gegen jene »Mißbräuche«, die aufgrund einer »neue[n] gelehrte[n] Mode« »allgemein zu werden anfangen, und unserer kaum aufkeimenden Litteratur sehr schädlich werden können«.82 In der Folge erhebt sich der zürnende Ankläger aus der älteren Literatengeneration zum Richter und gründet diese Aufhebung kritischer Gewaltenteilung auf seine rekurrente83 und mittlerweile topisch gewordene84 eindimensionale Selbsteinschätzung, die in ihrer charakteristischen Machtgefälle- und Betriebsblindheit sowie ihrer eklatanten Selbstgerechtigkeit den Spott der jüngeren Literatengeneration herausfordern musste: »Ich kann unpartheyisch seyn, denn ich bin unabhängig, und habe mit keiner der gelehrten Kabalen zu thun, welche jetzt der deutschen Literatur ein so kleinliches Ansehen geben.«85 Dies schreibt einer der fleißigsten und vor allem wortreichsten Polemiker des 18. Jahrhunderts, der selber verlegerisch tätig ist. Nicolai trifft damit freilich einen wunden Punkt der Horen-Rezeption, auf den noch kurz zurückzukommen sein wird. Er erhebt als Autor provokant den Anspruch, jenen »große[n] Theil der Leser« zu vertreten, dessen in die Horen gesetzte »Erwartungen« enttäuscht worden seien und der »beynahe« mit »Eine[r] Stimme« spreche – ganz offenbar just der Stimme Nicolais. Der selbsternannte Anwalt »einer sehr großen Anzahl der Leser« – auch darin ein Vorfahr des Selbstverständnisses Marcel Reich-Ranickis – hebt nun zum

81 Vgl. das Xenion N. Reisen XI. Band, S. 177: »A propos Tübingen! Dort sind Mädchen, die tragen die Zöpfe / Lang geflochten, auch dort gibt man die Horen heraus.« Zit. nach Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 278. 82 Nicolai, Beschreibung einer Reise, Bd. 11, S. 177. 83 So heißt es anlässlich der Kritik an den Horen im Brustton tiefster und unerschütterlicher Überzeugung: »Ich habe hiebey kein anderes Interesse im Sinne, als das Interesse der Wahrheit und das Wohl der deutschen Litteratur.« Bereits in der ausführlichen »Vorrede« zum 11. Band beklagt Nicolai, der sich stets als mutiger Verteidiger der »Wahrheit« gegen eine Armee von Wahrheitsfeinden begreift, u. a. die Existenz von Lesern, die »nicht mit mir auf dem Wege zur Wahrheit fortgehen, […] sondern die vielmehr zu verhindern suchen[,] daß die Wahrheit gesagt werde.« Beschreibung einer Reise, Bd. 11, S. II u. S. 182. – Schon Goethe und Schiller spotten dementsprechend im Xenion Das Motto: »Wahrheit sag ich euch, Wahrheit und immer Wahrheit, versteht sich: / Meine Wahrheit; denn sonst ist mir auch keine bekannt.« (zit. nach Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 279). – Sie übersehen dabei freilich geflissentlich, dass Nicolai in der »Vorrede« immerhin gefordert hatte, »wo es nöthig ist, mich auf demselben [Weg zur Wahrheit, N.C.W.] zurecht weisen zu wollen« (S. II). Wie sich in seinen Reaktionen auf die tatsächlich geäußerte Kritik erweist, war das aber ein Lippenbekenntnis. 84 Vgl. etwa Albrecht, Nicolais Kontroverse mit den Klassikern und Frühromantikern, S. 13; Wolf, Konfessionalität, Nationalität und aufgeklärter Patriotismus, S. 41 u. S. 48; sowie ders., Blumauer gegen Nicolai, Wien gegen Berlin, S. 48; insbes. aber Schmidt-Biggemann, Nicolai oder vom Altern der Wahrheit, den zentralen Aufsatz über Nicolais problematisches Wahrheitspathos. 85 Nicolai, Beschreibung einer Reise, Bd. 11, S. 178.

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wortgewaltigen Widerspruch an.86 Wie dies im Einzelnen klingt, vermag eine längere kritische Passage über Schillers Zeitschrift Die Horen vor Ohren zu führen: »[D]ie ersten sechs Hefte […] enthalten zum großen Mißvergnügen der meisten Leser eine ziemliche Anzahl philosophisch seyn sollender Abhandlungen, strotzend von dunkeln Schulterminologieen [sic], von leeren Schulspitzfindigkeiten, von unverständlichen Wendungen und Zusammenfügungen, die nothwendig einem großen Theile der Leser[,] welche ein solches Journal voraussetzt, wo nicht unverständlich doch widrig seyn müssen. Diejenigen[,] welche sie wenigstens größtentheils verstehen, haben davon sehr unangenehme Empfindung, weil sie den Verfasser [Schiller, N.C.W.] hochschätzen und doch nur allzuoft bemerken, daß, wenn ganze Seiten aus der scholastischen Wortfülle, und aus der Dunkelheit zusammengesetzter fremdartiger Ausdrücke, in eine andern Menschen gewöhnliche Sprache übersetzt werden, fast nichts als ganz gewöhnliche, schon längst gesagte Dinge übrig bleiben, welche weder den Geist erheben, noch den Verstand erleuchten. Diejenigen, welche in einer glücklichen Unwissenheit mit dem gegenwärtigen Zustande unserer philosophischen Schulzänkereyen stehen, – und dergleichen Leser wird doch ein Journal wie die Horen viel haben – lesen – leere Worte.«87

Die Rede ist hier – wohlgemerkt – von so epochemachenden Texten wie Schillers Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Goethes Essay Literarischer Sanscülottismus, von historischen Arbeiten Schillers und zahlreichen weiteren maßgeblichen Schriften Herders, Wilhelm von Humboldts, August Wilhelm Schlegels und anderen. In einigen Bemerkungen seines so harschen wie redundanten Verrisses, welcher die manche kritisierten Texte tatsächlich prägende Dunkelheit als rekurrentes Merkmal generalisiert, gelingen Nicolai wirklich treffende Einwände oder gar eine überzeugende Pointe.88 Insbesondere dem Widerspruch zwischen Schillers Ankündigung einer allgemein verständlichen Schreibart und dem abstrakt-philosophischen Stil zahlreicher Texte der Horen, der die angestrebte Breitenwirkung erheblich behindern sollte, widmet Nicolai eine beißende Stilkritik, die nicht jeder Plausibilität entbehrt.89 Über weite Strecken aber ergeht er sich in Selbstlob sowie witzlosen Besserwissereien, die an der kritisierten Sache und ihrer theoretischen Durchdringung oft meilenweit vorbeischießen. Sein typisch spätaufklärerischer popularphilosophischer Ansatz erweist sich als den grundstürzenden Neuerungen dieser Jahre in Philosophie und Literatur kaum gewachsen, und dennoch konnte er für seine Berufung auf den »Gemeinsinn« – »worunter doch das zu verstehen seyn wird was auch sonst Sens-commun, Bon-sens, gesunder Menschenverstand genannt zu 86 87 88 89

Ebd., S. 179. Ebd., S. 240 f. Vgl. dazu Gille, »Ein angenehmer Traum eines guten Kopfes«, S. 192 f. Ebd., S. 194 ff.

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werden pflegt«90 – mit dem Beifall all jener rechnen, die damals noch den zahlenmäßig größten Teil des gehobenen Lesepublikums ausmachten und ebenfalls nicht zur Avantgarde von Kunst und Wissenschaft zählten. Ähnlich wie Nicolai begegneten diese aufklärerisch sozialisierten Angehörigen breiterer Bildungsschichten den gedanklich und sprachlich ambitionierten geistigen Hervorbringungen der kritischen Transzendentalphilosophie sowie der klassischen und frühromantischen Ästhetik mir blanker Ablehnung. Dass Goethe und Schiller zu dieser Zeit noch keineswegs selbst eine hegemoniale Position im literarischen Feld innehatten, ja ihr tatsächlich errungenes Ansehen durch die Polemik zunächst sogar gefährdeten, lässt sich etwa an der allgemeinen »Empörung« ablesen, »die die Xenien auslösten«91 und die etwa den aufklärerischen preußischen Pädagogen und Schulreformer Friedrich Eberhard von Rochow in einem Brief an Nicolai vom 7. Februar 1797 feststellen ließ, »die Stimmung« unter den Gelehrten sei »fast durchgehends wohl auf Ihrer Seite.«92 Wie nahezu sämtliche neueren Studien bestätigen, konnte Nicolai »sich mit seiner Kritik breiter Zustimmung der literarischen Öffentlichkeit sicher sein«,93 und das wohl nicht allein hinsichtlich des aus spätaufklärerisch-popularphilosophischer Perspektive perhorreszierten sprachlichen Stils der Horen. Auch seine unsachlich-polemischen Ausfälle waren schulbildend, allerdings nicht bei einer literarisch-philosophischen Elite, sondern bei einem breiter gestreuten Lesepublikum. Noch entschieden weniger Anerkennung und Erfolg als die Vertreter der Weimarer Klassik genossen damals die erst am Anfang ihrer Karriere stehenden Anhänger der kritischen Philosophie und der Frühromantik, die bei Nicolai ebenfalls nicht gut wegkamen, wie Mix betont: »Auch Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, Friedrich Immanuel Niethammer, ja die gesamte neuere Philosophie wird in Nicolais Reisebeschreibung mit seitenlangen Ausfällen bedacht. Nicolai verfolgt vor allem Fichte mit seinem Haß, er intrigiert, versucht ihm in Berlin und Jena beruflich zu schaden, zitiert ihn unter der Überschrift Philosophische Querköpfe im elften Band bewußt ungenau und versichert ihm, daß sein Werk schon jetzt, ehe er ›todt und vergessen seyn wird‹ (Bd. 11, S. 229), niemand interessiere.«94

In der zuletzt indirekt zitierten Prophezeiung Nicolais war wohl eher dessen Wunsch als ein ideengeschichtlich gültiger Befund der Vater des Gedankens, denn aus heutiger Sicht ist Fichte bei aller ideologiekritisch gebotenen Proble90 91 92 93

Nicolai, Beschreibung einer Reise, Bd. 11, S. 241. Albrecht, Nicolais Kontroverse mit den Klassikern und Frühromantikern, S. 24. Zit. nach ebd., S. 24 u. S. 63. So Gille, »Ein angenehmer Traum eines guten Kopfes«, S. 196, unter Berufung auf Otto, Die Auseinandersetzung um Schillers ›Horen‹, S. 399 – 406. 94 Mix, Lucri bonus odor oder Wie aufgeklärt war Friedrich Nicolai?, S. 358.

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matisierung aus der Philosophiegeschichte und Ästhetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts kaum mehr wegzudenken, wohl aber die ausufernden Schriften des späten Nicolai, die allenfalls als zeitgenössischer Kontext noch eine gewisse, über das bloß Doxographische hinausgehende Rolle spielen. Genau dieser Umstand hat dem ›Literaturpapst‹ in der späteren Rezeption gleichsam das Genick gebrochen, zumal maßgebliche seiner Gegner hingegen Epoche zu machen vermochten. Zu Lebzeiten indes konnte sich Nicolai auf die nach wie vor herrschenden Machtverhältnisse im literarischen Feld verlassen, die im staatlichen preußischen Hegemoniestreben und einer geschickten Propaganda eine starke Stütze hatten: So erhält »Fichtes rabiate Replik Friedrich Nicolai’s Leben und sonderbare Meinungen« wohl auch aufgrund der hervorragenden politischen Beziehungen Nicolais, wie Mix nahelegt, »1801 ›in Berlin keine Genehmigung der Zensur‹«.95 Ich komme zum Ende meiner Ausführungen: Durchaus selbst mit polemischer Verve urteilt York-Gothart Mix in seiner Abrechnung, Nicolai sei »nicht nur als Biedermann anzusehen, sondern auch als Provokateur, Pamphletist und Profiteur«, ja er habe »die Aufklärung nicht ›vorbildlich gefördert‹«, wie Paul Raabe einst wohlmeinend formuliert hatte, sondern ihr vielmehr »einen Bärendienst erwiesen«.96 Dieses vernichtende Urteil, zumindest die ihm zugrunde liegende kritische Einschätzung des Spätaufklärers, möchte ich nicht prinzipiell in Frage stellen, aber doch partiell differenzieren. Es handelt sich bei den skizzierten Kontroversen zwischen Nicolai und Herder sowie Nicolai und den Weimarer Klassikern bzw. Frühromantikern um Phänomene eines typischen Generationenkonflikts zwischen den neuen (Friedrich und August Wilhelm Schlegel) sowie den bereits etablierten (Goethe, Schiller) ›Propheten‹ der literarischen Avantgarde und dem in die Jahre gekommenen ›Priester‹ Nicolai97 – einem Literaturpapst, dessen strategisches Verhalten und dessen kritische Urteile viel von dem präfigurierten, was spätere ›Päpste‹ des literarischen Feldes praktizierten, weshalb Reich-Ranickis Identifikation mit ihm nur konsequent ist. Ebenso wurden in den erwähnten Kontroversen um Nicolai auch spätere Gegentaktiken vorweggenommen: Der amtierende ›Papst‹ ließ die jüngeren Prätendenten als unreife, ja bisweilen sogar als gewollt boshafte Bengel erscheinen, die mit ihren Verstößen gegen den ›gemeinen‹ und ›gesunden‹ Menschenverstand eine prinzipielle Unvernunft offenbarten und deshalb auf allen Ebenen und mit sämtlichen Waffen bekämpft werden mussten. Umgekehrt 95 Ebd., S. 356, unter Verweis auf Jacobs, Johann Gottlieb Fichte, S. 92. 96 Mix, Lucri bonus odor oder Wie aufgeklärt war Friedrich Nicolai?, S. 358. 97 Vgl. dazu die von Max Webers Religionssoziologie inspirierte kultursoziologische Modellbildung des distinktiven Verhältnisses zwischen ›Priestern‹ und ›Propheten‹ in den verschiedenen kulturellen Feldern in Bourdieu, Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld, S. 112 ff.; sowie ders., Die Regeln der Kunst, S. 253 f., S. 326 – 329 u. S. 370.

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wurde er selber von ihnen mit viel Sarkasmus als bornierter, unwissender und unfähiger Pedant dargestellt, der von den aktuellen Fragen und Entwicklungen der Literatur nicht die geringste Ahnung, ja nicht einmal irgendein Sensorium dafür habe. An die Stelle eines gesittet-aufgeklärten Disputs zwischen gelehrten Ehrenmännern über das bessere Argument war längst ein erbitterter Kampf um Geltung geworden. Es handelt sich bei den schriftstellerischen Polemiken gegen Nicolai also genauso wenig bloß um Beispiele einer moralisch verwerflichen ›Altersdiskriminierung‹,98 wie dessen vernichtende Urteile über die Werke jüngerer Dichter allein in dem unbegründeten Ressentiment eines hinter der Zeit zurückgebliebenen Autors gegenüber innovativen Denk- und Schreibweisen der nachfolgenden Generation gründen. Beide Sichtweisen sind zumindest einseitig und sollten aus der rückblickenden Distanz des 21. Jahrhunderts nicht mehr umstandslos affirmiert, vielmehr verstärkt analytisch durchleuchtet werden. Ihre historische Signifikanz besteht nämlich darin, dass sie von der fortgeschrittenen Ausdifferenzierung des deutschsprachigen literarischen Feldes im ausgehenden 18. Jahrhundert zeugen, das bereits viele jener Strukturphänomene aufweist, die dann in der Literatur der Moderne charakteristisch sein werden – eben auch das des erbitterten Generationenkonflikts oder der feldstrukturell begründeten Auseinandersetzung zwischen ›Priestern‹ und ›Propheten‹. Die Autorfigur des späten Friedrich Nicolai erscheint aus solcher Optik nicht mehr nur als die eines bereits von seiner eigenen Zeit überholten, rückwärtsgewandten Vertreters der ›absterbenden‹ Spätaufklärung, sondern auch als ein zukunftsweisendes Rollenmuster für den modernen Literaturbetrieb.

98 So Barbara Becker-Cantarino auf der hier dokumentierten Tagung; vgl. ihren Beitrag im vorliegenden Band.

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Bibliographie 1.

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2.

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Knut Kiesant

Sebaldus Nothanker – ein ›Manifest‹ der Berliner Aufklärung

Die Bewertung von Friedrich Nicolais Nothanker-Romans bewegt seit seiner Entstehung und Veröffentlichung (1773 – 1776) bekanntlich die Leser, Kritiker und auch die Literaturwissenschaft bis in die Gegenwart.1 Die z. T. kritisch polemischen Abwertungen des Textes wie aber auch die begeisterten Zustimmungen hatten ja Nicolai bereits dazu bewogen, 26 Jahre nach der Erstausgabe und verschiedenen Nachauflagen »eine umgearbeitete Neuausgabe als 4. Auflage«2 im Jahre 1799 in Berlin und Stettin zu veröffentlichen. Und die Diskussion wurde im 19. Jahrhundert intensiv fortgesetzt, geprägt von den Debatten über die Gattung »Roman«, die sich an den unterschiedlichsten und oft umstrittenen poetologischen Konzepten, aber auch an den konfliktgeladenen Entwicklungen der Literaturverhältnisse entzündeten. Friedrich Schlegels kritisch distanzierte Roman-›Definition‹ ist ein Beispiel für diesen poetologisch geprägten Diskurs: »Und der Roman ist in der Regel, wie ein lockrer Gesell, der unglaublich geschwind lebt, alt wird und stirbt.«3 Und der beim Goethe-Verleger Cotta nachweisbare Begriff »Romanfabrik«4 ist auch als Beleg für die das 19. Jahrhundert prägende Verunsicherung einer traditionsversicherten Poetologie durch die sich stürmisch verändernden Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Literatur in den modernen europäischen Gesellschaften zu begreifen.5 Die kontrovers geführte Debatte um den Nothanker-Roman6 erhielt ja zudem durch die weltanschaulich theologisch geprägte Akzentuierung ihre besondere Brisanz innerhalb der komplexen Aufklärungsdebatte. Die Attacke des Mediziners Johann Heinrich Jung-Stilling7 gegen Nicolai (Frankfurt a. M. 1775) mit dem Titel Die Schleuder eines Hirtenknaben gegen den hohnsprechenden Phi1 2 3 4 5 6 7

Vgl. dazu Nicolai, Sebaldus Nothanker, S. 529 – 600. Nicolai, Sebaldus Nothanker, S. 463 (Anhang). Schlegel, Georg Forster, S. 80. Schmitz, Was geschah mit Schillers Schädel?, Sp. 1205. Vgl. Rietzschel (Hg.), Gelehrsamkeit ein Handwerk? Vgl. Nicolai, Sebaldus Nothanker, S. 529 ff. (Texte zur zeitgenössischen Rezeption). Vgl. Vinke, Jung-Stilling und die Aufklärung.

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lister den Verfasser des Sebaldus Nothanker bringt es auf den Punkt, wenn es einleitend heißt: »Dieses schädliche Buch hab ich mir vorgenommen zu widerlegen und die Ehre der Religion gegen diesen hohnsprechenden Philister zu vertheidigen.«8 Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte Richard Schwinger9 dann in seinem Versuch einer »Ehrenrettung« Nicolais eine Doppelstrategie in der Bewertung des Nothanker-Romans entworfen, die in ihrer Grundorientierung bis in die Gegenwart nachwirkt: »So besteht also der Sebaldus Nothanker eigentlich aus zwei Romanen: aus dem theologischen und dem Liebesroman. Der ästhetische Wert beider Teile, vorzüglich aber des ersteren, ist ein untergeordneter : die künstlerische Idee ist zurückgedrängt hinter die polemischen Zwecke. In dem theologischen Roman, der der umfassendere ist, entwickelt und bewegt sich die Haupttendenz des Werkes. Der Liebesroman dient in erster Linie satirischen Absichten; nebenbei ist er auf den Geschmack der empfindsamen Kreise, namentlich des ›Frauenzimmers‹ berechnet.«10

Schwingers Fazit lautet demnach: »ästhetisch untergeordnet«, das »Tendenziöse« überwiegt, aber dann doch ein Roman, der als »bedeutungsvolle litterarische Erscheinung« bezeichnet werden kann, aber die »Bedeutung« habe ihre Begründung in der »Tendenz« – nicht in der Roman-»Form«.11 Es ist wohl kein Zufall, dass Bernd Witte auf der Rückseite des Einbandes seiner kritischen Ausgabe des Nothanker-Romans 1991 ebenfalls eine ab-(?) wertende ›Roman‹-Definition vornimmt: »Als eine Art gesellschaftskritischsatirisches Gegenstück zu Goethes ›Werther‹ erweist sich der Roman als das bedeutendste Prosabuch der deutschen Aufklärung.«12 Für die nachfolgende Argumentation soll deshalb ebenfalls der programmatische Charakter dieses Romans in das Zentrum gestellt, zugleich aber sollen die ästhetischen Konsequenzen dieser Funktionsbestimmung eines ›Romans‹ in ihren programmatischen und funktionsgeprägten Begründungen mit untersucht werden. Das begründet die These vom Nothanker-Roman als einem ›Manifest der Berliner Aufklärung‹. Ein »Manifest«, so ein etymologisches Wörterbuch des Deutschen aus dem Jahr 1989, bezeichnet eine »öffentliche Erklärung, Programm, Aufruf, Rechtfertigungsschrift«13. Kann man aber einem ›Roman‹ diese Funktion einer Manifestation im Sinne von »Bekanntmachung, Darlegung, öffentlicher Bekun8 Jung, Die Schleuder eines Hirtenknaben gegen den hohnsprechenden Philister den Verfasser des Sebaldus Nothanker, in: ders., Sämmtliche Werke. Bd. 5, S. 628. 9 Vgl. Schwinger, Friedrich Nicolais Roman ›Sebaldus Nothanker‹. 10 Ebd., S. 28. 11 Ebd. 12 Nicolai, Sebaldus Nothanker (Rückentext). 13 Pfeifer [u. a.], Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Bd. 2: H–P, S. 1057 f.

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dung« überhaupt zuschreiben, ohne die Spezifik des Kunstwerks ›Roman‹ dabei zu vernachlässigen? Auf eine eindeutige Definition des ›Romans‹ in der literaturhistorischen Forschung kann man bekanntlich nicht zurückgreifen, ihre jeweils zeitbezogene Programmatik ist unübersehbar. So prägt das ›Realismus‹-Ideal z. B. die Definition des ›Romans‹ in dem etymologischen Wörterbuch von 1989. Dort heißt es nämlich zu dieser »epischen Prosagroßform« ahistorisch verabsolutierend, dass der »Roman […] durch die Gestaltung ausgeprägter Individuen in ihren vielfältigen Beziehungen zu ihrer gesellschaftlichen Umwelt eine umfassende realistische Aussage ermöglicht.«14 Aber der Hinweis auf den Ursprung des Begriffs ›Roman‹ in seiner Orientierung auf das Altfranzösisch im Unterschied zum Latein der Gelehrten ist immerhin zutreffend auf den Stellenwert des Nicolai-Textes in der Entwicklung der deutschsprachigen Romanliteratur. Und es kommt ja noch der nicht unwesentliche Bezug zur Aufklärung in ihrer Berliner Spezifik dazu. Deshalb soll nachfolgend in drei Abschnitten 1. zur Entstehung des Textes, 2. zur Problematik von Religion und Aufklärung sowie 3. zur Rezeption der Versuch unternommen werden, die Orientierung am ›Manifest‹-Charakter des Textes zu belegen.

1.

Anmerkungen zur Entstehung des Romans

Dass Berlin im 18. Jahrhundert in der deutschen und europäischen Kultur- und Literaturentwicklung zunehmend an Bedeutung und Einfluss gewann, ist in der Aufklärungsforschung auf vielfältige Weise belegt. Aber auch schon die Zeitzeugen reflektierten diesen Wandlungsprozess auf vielfältige Weise. So urteilte die Schriftstellerin und Verlagschefin Helene Friederike Unger rückblickend auf diese Entwicklungen 1798: »Berlin hat seit 1740 stark in dem Geruch der Unheiligkeit und Atheisterei gestanden. Ich hörte es in meiner Kindheit von frommen Geistlichen ungescheut mit Sodom und Gomorra vergleichen; die heiligen Eiferer hätten gern dem Himmel den Schwefelregen durch ihr Gebet entrissen, die unheilige Stätte damit zu verzehren.«15

An dieser »unheiligen Stätte« ist nun das Wirken des Autodidakten Friedrich Nicolai angesiedelt, an einem Ort, der in den Jahrzehnten bis zur Jahrhundertwende Veränderungen erlebte, die Friederike Unger folgendermaßen bewertete: 14 Pfeifer [u. a.], Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Bd. 3: Q–Z, S. 1438. 15 Unger, Über Berlin, S. 27.

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»Seit dem haben sich die Begriffe geläutert; was in jenen Zeiten ein schreckenvolles Aufsehen machte, ist jetzt Überzeugung des großen Haufens geworden. […] Was der Andersdenkende auch über Berlins Sittlichkeit urtheilen möge; ich habe schon vorhin gesagt, daß die Masse der reinen und gesunden Begriffe über die wichtigern Angelegenheiten der Menschen daselbst größer ist, als an irgend einem andern Orte. […] Übrigens ist es sehr ausgemacht wahr, daß eine auffallende Kälte gegen alle kirchlichen Gebräuche und den Predigerstand herrscht.«16

Nicolai hatte an diesen von Helene Friederike Unger reflektierten Veränderungen einen nicht zu unterschätzenden Anteil, wie z. B. Horst Möller registriert: »Fest in den Prinzipien der prot., preuß.–berlinisch geprägten Aufklärung verwurzelt, zog N. alle literarischen, publizistischen und verlegerischen Register, um ihr zum Sieg zu verhelfen. In den aufgeklärten Sozietäten der Zeit – der Mittwochsgesellschaft und dem Montagsklub in Berlin und dem Freimaurerorden – sowie durch Zeitschriften und Rezensionen trug er maßgeblich zur Entstehung einer ständeübergreifenden Gelehrtenrepublik und diskutanten Öffentlichkeit bei. In bezug auf den Absatz mancher seiner Werke wesentlich erfolgreicher als seine großen Gegenspieler Goethe, Schiller und Kant, bewertete N. Literatur und Philosophie vornehmlich unter dem Aspekt gesellschaftlicher, politischer und moralischer Wirkung.«17

Dass Nicolai aufklärungsorientiert in der Phase vor der Verabsolutierung der Autonomie der Kunst und Literatur quasi eine immer wieder umstrittene Übergangsposition einnahm, blieb schon den Zeitzeugen nicht verborgen. So teilt Friedrich Schulz in der 1786 in Leipzig gedruckten Schrift Literarische Reise durch Deutschland die Berliner Gelehrten- und Literaturlandschaft fachorientiert wertend ein: »In den preußischen Ländern überhaupt, und in Berlin insbesondere giebt es in allen Fächern der Gelehrsamkeit Männer von Gewichte, wovon einige in der deutschen Litteratur sogar Epoche gemacht haben. Die Namen eines Spalding, Teller, Lüdke, Dietrich, Sack, Wilmsen etc. etc., in der Theologie; eines Mendelssohn, Engel, in der Philosophie […]«18,

eröffnen die Aufzählung von Schulz – dann folgen Vertreter von Geographie, Statistik und Geschichte, anschließend Naturgeschichte, Heilkunde, die mathematischen Wissenschaften, bevor unter den Stichworten »Kritik, Geographie, Geschichte, schöne Wissenschaften, Philosophie des Lebens« nur der Name »Nicolai« vermerkt ist, quasi ein fachübergreifendes Alleinstellungsmerkmal, denn unter den Stichwörtern »Philosophie«, »Ästhetik«, »Sprach-

16 Ebd., S. 27 f. 17 Möller, Art. ›Nicolai‹, S. 201 f. 18 Schulz, Literarische Reise, S. 8.

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kunde«, »Philosophie des Lebens« folgen dann anschließend noch zusätzlich »Gedike«, »Biester«, »Meierotto«, »Moritz« u. a.19 Zusätzlich wird dann noch »Ramler« unter dem Stichwort »Dichtkunst« erwähnt, bevor dann »Brömel, Mylius, von Bonin« als Repräsentanten des »theatralischen Faches« und »Schulz, Benda, Reichardt« für die »Musik« genannt werden. Zusammenfassend heißt es bei Schulz – »alle diese Namen, und noch weit mehrere, sind in der deutschen Litteratur rühmlichst bekannt und machen das hiesige litterarische Commerz außerordentlich lebhaft. Viele darunter, besonders die anfangs genannten, haben ganze Felder der deutschen Literatur angebaut; die übrigen sind sämmtlich gute Schriftsteller, und einige davon können noch vortrefflich werden, weil sie Kräfte und Liebe genug zu ihren Fächern besitzen.«20

Nach der Erwähnung vortrefflicher »Künstler, Kupferstecher, Bildhauer, Maler, Formschneider« folgt eine bemerkenswert differenzierte Beschreibung der durch die Veränderungen der Literaturverhältnisse geprägten Differenziertheit des literarischen Lebens in Berlin: »An den kleinen Männern, die man Dichterlinge, Wochen- und Flugblätter, Uebersetzer, junge Statistiker, Pädagogen, Kraftjungen, Encyklopedisten und Universalköpfe nennt, ist hier auch kein Mangel […]. Im ganzen schreiben hier nur wenige Schriftsteller (Cranz, Wegener und einige andere) ums Brod, die übrigen haben meist öffentliche Aemter, in denen sie freylich für wenig Geld, viel thun müssen; aber dadurch in der goldnen Thätigkeit erhalten werden.«21

Diese wertende Einteilung der Berliner Literaturlandschaft im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, die zur Herausstellung Nicolais und damit zu seiner Abgrenzung von den anderen genannten Gruppierungen führt, ist geprägt von den zeitgenössischen Diskursen, die die deutsche Kultur- und Literaturentwicklung dieses Zeitraums in den Gruppierungen erfassen, die die Germanistik mit den Epochenbegriffen – ›Aufklärung‹, ›Sturm- und Drang‹, ›Empfindsamkeit‹, ›Klassik‹, ›Romantik‹ usw. zu kennzeichnen versucht. Aber das auch den Berliner Raum prägende Mit-, Gegen-, Neben- und vielleicht auch ›Durcheinander‹ wird von dem zeitgenössischen Reiseschriftsteller22 nicht übersehen. Wie komplex diese Entwicklungen sich vollzogen, beschreibt Karl August Böttiger – »weimarnah« – in seinen 1838 erstmals aus dem Nachlass herausgegebenen Notizen über Literarische Zustände und Zeitgenossen, in denen Johann Christoph Friedrich Schulz ebenfalls erwähnt wird: 19 20 21 22

Ebd., S. 8. Ebd. Ebd., S. 9. Johann Christoph Friedrich Schulz (1762 – 1798) war ab 1791 Professor für Geschichte am Akademischen Gymnasium in Mitau.

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»Wieland hatte in einer Recension Nicolai’s Sebaldus Nothanker alle Gerechtigkeit widerfahren lassen, aber doch am Ende hinzugesetzt: Man sehe ihm die Lampe an. Als ferner der mit so vielem Pompe angekündigte Bunkel erschienen und überall für ein sehr mittelmäßiges Product erklärt worden war, auch in Weimar, wo man, durch Nicolai’s Rodomontaden geblendet, häufig darauf subscribirt hatte, allgemeine Unzufriedenheit herrschte, ergrimmte Wieland im Geiste und schrieb einige Aufsätze dagegen im d. Mercur. Dies erwiderte Nicolai durch eine hämische Recension der kleinen Gedichte Wieland’s in der allgem. d. Bibliothek, wo er unter andern einige schlüpfrige Stellen auszog und sie mit dem Epiphonem begleitete: Pfui du Bock! Ueber diese Unbilde entrüstete sich besonders Fr. Schulz, der sich in dem Jahre 1783 grade in Berlin aufhielt. Er schrieb also einen Roman Firlifimini, und da Bertuch eben damals gute Manuscripte für einen seiner Freunde, einen angehenden Buchhändler (Göschen) suchte, so schickte ihm Schulz dies Product, wovon hernach Bertuch in dem Anzeiger des Mercur eine sehr preisende Recension machte, um deren willen Wieland neue Händel befürchtete und daher darüber sehr unzufrieden war. Der Held jenes Romans ist ein sehr armer Autor (Schulz nahm selbst aus seiner eigenen damaligen Erfahrung den Stoff dazu), der zu Nicolai kommt, und von diesem sehr gemishandelt wird. Nicolai rächte sich in der Folge an Schulz dadurch, daß er bei seiner Beförderung nach Mitau in die kleinen Anzeigen am Ende eines Bandes der Bibl. die Nachricht setzte: ›Der durch seine Romane bekannte Friedrich Schulz ist Professor der Geschichte in Mitau geworden.‹ Die Versöhnung zwischen Schulz und Nicolai stiftete Bode, der auch der Friedensherold zwischen Herder und Nicolai wurde.«23

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie komplex Entstehung und Wirkung des Nothanker-Romans zu bewerten sind, weil sowohl die literarischen, publizistischen und verlegerischen Aspekte24 als auch der philosophisch-religionskritisch geprägte Hintergrund und die gattungsgeprägte ästhetische Dimension dieses Literaturexperiments beachtet werden müssen. Dass der Anlass zum Schreiben dieses Romans sich aus den religionskritischen Positionen Nicolais und der Berliner Aufklärer entwickelte, ist in der Forschung umfassend und kontrovers aufgearbeitet worden.25 Vor allem die Attacken des Göttinger Gelehrten Christian Adolf Klotz, der 1767 seine Zusammenarbeit mit der Allgemeinen Deutschen Bibliothek demonstrativ beendete und die Berliner Aufklärung dann in weit verbreiteten Zeitschriften (z. B. Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften) angriff, veranlasste Nicolai, sich mit einem satirischen Roman zur Wehr zu setzen. Diese religionskritische Stellungnahme wird aber durch Nicolai zugleich mit einer literaturspezifischen Intention verbunden, indem Nicolai seinen Roman als Fortsetzung des Erfolgsromans von Moritz August von Thümmel Wilhelmine oder der vermählte 23 Böttiger, Literarische Zustände und Zeitgenossen, Bd. 1, S. 152 f. 24 Vgl. dazu insbes. den »Ersten Abschnitt« des »Zweiten Buches«; Nicolai, Sebaldus Nothanker, S. 59 ff. 25 Vgl. Gombocz, Reiseerlebnis und Gesellschaftskritik, S. 301 – 319.

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Pedant (1764) ausgibt und dies schon im ersten Satz seiner Roman-Vorrede ankündigt, um auf die ›neue‹ Qualität dieses literarischen Produkts zu verweisen: »Obgleich die leidigen Poeten, Komödien- und Romanenschreiber zu glauben pflegen, sie hätten das Leben ihres Helden weit genug beschrieben, wenn sie ihn bis zur Heurath bringen: so sind gründliche Gelehrten der Meinung, daß die Begebenheiten nach der Heurath oft viel merkwürdiger sind, als die Liebesbegebenheiten vor derselben.«26

Orientiert am englischen Predigerroman des 18. Jahrhunderts, beschreibt Nicolai die Fortsetzung der »Liebesgeschichte« in der Kombination von Lebensund Meinungs-Biographie, auf die schon der Romantitel in der Zusammenführung von »Leben« und »Meinungen« verweist und deren komplexe Leserorientierung in der Vorrede rezeptionsorientierend diskutiert wird. Im Grunde entspricht der Roman einer aufklärerischen Grundorientierung, die Nicolai formuliert hat: »Das Völkchen von Lehrern und Lernenden, das etwa 20000 Menschen stark ist, verachtet die übrigen 20 Millionen, die außer ihm deutsch reden, so herzlich, daß es sich nicht die Mühe nimmt, für sie zu schreiben […]. Haben die Gelehrten gar keine Pflichten gegen das übrige menschliche Geschlecht?«27

Nicolai unterzog sich mit dem Nothanker-Roman dieser »Mühe« und errang sogar von Thümmel die Zustimmung zu dieser Fortsetzungs-Fiktion – und dann auch die Zustimmung von Buchhandel und Leserschaft, wie häufig zusammengebundene Exemplare beider Romane in Bibliotheken heute noch beweisen.28

2.

Zur Problematik Religion – Aufklärung

Die religiös-philosophische und weltanschaulich polemische Intention des Romans ist an der Figurengestaltung, dem Handlungsablauf und dem Inhalt der die Handlungsabläufe prägenden Konflikte in vielfältiger Weise nachweisbar. Das beginnt mit den Auseinandersetzungen, die der thüringische Landpfarrer Sebaldus Nothanker mit seiner orthodoxen Obrigkeit über Thomas Abbts patriotische Positionen und deren Konsequenzen für das Handeln von Menschen hat, wie sie in den ›Symbolischen Büchern‹29 festgelegt waren. Fortgesetzt wird dieser Diskurs über alle Lebensstationen des Sebaldus Nothanker, z. B. das Li26 27 28 29

Nicolai, Sebaldus Nothanker, S. 5. Ebd., S. 87. Vgl. Becker, Friedrich Nicolai, S. 60. Die heute ungebräuchliche Bezeichnung ›Symbolische Bücher‹ meint die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche.

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teratur-Zentrum Leipzig, seine Reise-Abenteuer (z. B. Amsterdam) und sein ländliches Idyll Wesel. Die Roman-Abschnitte, die die Lebensgeschichte von Sebaldus Tochter Mariane darstellen, ergänzen und variieren dieses weltanschaulich-ästhetische Panorama der ›Haupt‹-Handlung. Dass Nicolai in der Figuren- und Handlungsgestaltung zudem deutlich erkennbare autobiographische Elemente sowie Figurenporträts zeitbekannter Persönlichkeiten einfügt (z. B. Johann August Eberhard, Johann Melchior Goeze, Friedrich Heinrich Jacobi u. a.) ist umfassend erforscht. So hat Sigrid Habersaat den moralorientierten Grundzug von Figuren- und Handlungsgestaltung des Romans folgendermaßen gekennzeichnet: »Zum Kriterium für die Bewertung der Romanfiguren erhob Nicolai ihre Tugend – Standeszugehörigkeit war nicht mehr entscheidend für den Wert eines Menschen. Die realistische, oft satirische Darstellung sollte nach den Maximen der Aufklärung der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten und dadurch verbessern. Gesellschaftskritik und aufklärerischer Reformwille schufen sich nicht nur in Zeitschriften, sondern auch in der ›schönen Literatur‹ ein öffentliches Podium.«30

Die kontroversen Diskussionen aber, was ›Tugend‹ denn eigentlich sei, prägten die Verläufe und Inhalte der Aufklärungsdiskurse in den unterschiedlichen Fächern und werden somit zu Problemfeldern des Romans. Der Beispielfall ›Thomas Abbt‹ belegt diese von Nicolai mitbestimmte Orientierung der Berliner Aufklärung, deren Komplexität und Vielseitigkeit in unterschiedlichsten gesellschaftlichen, politischen, ästhetischen und religiösen Schwerpunktsetzungen deutlich wird. So bewertet z. B. Christopher Clark in seiner Darstellung der Geschichte Preußens diesen Aspekt: »Der preußische Patriotismus, der zu einem lukrativen Geschäft wurde, war weit mehr als nur die schlichte Liebe zur Heimat. Er war ein komplexes, nach vielen Seiten hin wirksames Phänomen, in dem sich eine zeitgenössische Wertschätzung für extreme Gefühlszustände spiegelte – schließlich war dies ein Zeitalter des Sentimentalen, eine Zeit, in der die Fähigkeit zur emphatischen emotionalen Reaktion als Merkmal eines überlegenen Charakters galt. Ein weiterer Aspekt der Patriotismusbegeisterung war die Vorstellung, die Liebe zum Vaterland könnte die Grundlage für eine neue Form des gesellschaftlichen Miteinanders bilden […].«31

Clarks erstes Argument verweist auf die ›empfindsamen‹ Aufklärungswurzeln des sogenannten ›Sturm und Drang‹, das zweite ist ebenfalls im Roman nachweisbar, wenn z. B. Sebaldus’ Gattin nach der Abbt-Lektüre »Entzückung über die Gedanken« verspürt, »daß auch der Unterthan einer Monarchie nicht eine blosse Maschine sey, sondern seinen eigenthümlichen Werth als Mensch habe, daß die Liebe fürs Vaterland einer Nation eine große und neue Denkungsart gebe 30 Habersaat, Verteidigung der Aufklärung, S. 16. 31 Clark, Preußen, S. 265 f.

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[…].«32 Damit wird auch deutlich, wie sich in dieser Phase der Aufklärung das Klima auch und gerade in Berlin verändert hatte. Denn noch im Sommer 1769 hatte Lessing an Nicolai geschrieben, dass die »einzige Freiheit in Berlin« darin bestehe, »gegen die Religion so viele Sottisen zu Markte zu bringen, als man will […].« Und weiter heißt es in dem Brief vom 25. August 1769: »Lassen Sie es aber doch einmal einen in Berlin versuchen, über andere Dinge so frei zu schreiben, als Sonnenfels in Wien geschrieben hat; lassen Sie es ihn versuchen dem vornehmen Hofpöbel so die Wahrheit zu sagen, als dieser sie ihm gesagt habe; lassen Sie einen in Berlin auftreten der für die Rechte der Untertanen, der gegen Aussaugung und Despotismus seine Stimme erheben wollte, wie es itzt sogar in Frankreich und Dänemark geschieht; und Sie werden bald die Erfahrung haben, welches Land bis auf den heutigen Tag das sklavischste Land von Europa ist.«33

Nicolais Beitrag zur Entwicklung der Berliner Aufklärung besteht deshalb wohl darin, dass er die religiöse Problemlage in ihrer gesellschaftlichen Relevanz im Roman thematisiert. So wird die kritische Auseinandersetzung mit den sogenannten ›Symbolischen Büchern‹ auf der Grundlage der ›Vernunft‹-Orientierung und ihrer progressiven Entwicklungsperspektiven geführt. Aufklärung wird damit ein gesamtgesellschaftlicher Wegweiser. So lässt er seinen Helden Sebaldus wertend urteilen: »Hätte ich doch nimmermehr gedacht, daß man auf diese Art in Berlin von den symbolischen Büchern reden würde. Ein unbetrüglicher Wegweiser! Ich dächte, kein vernünftiger Mensch würde blindlings einem Wegweiser folgen, der vor mehr als zweyhundert Jahren gesetzt worden, er würde bedenken, durch wie viele Vorfälle der Wegweiser seit zweyhundert Jahren könne verrückt, oder der Weg seyn geändert worden. Wenn man diese Trüglichkeit überlegt, so muß man sich sehr wundern, daß die Menschen so großes Verlangen bezeigen, sich nach Lehrformeln, Synodalschlüssen und symbolischen Büchern zu richten.«34

Hier (und an weiteren Episoden) zeigt sich der Versuch der Aufklärung, im Protestantismus durch eine historische Orientierung kirchlich-staatliche Traditionen (z. B. auch der Haar- und Kleidermode35 der unterschiedlichen Stände) und theologische Dogmen zu hinterfragen. Wie brisant diese Vorgehensweise war, verdeutlicht eine kritische Bemerkung Nicolais an Lessing im Vorfeld der Romanentstehung: »Der denkenden Leute sind so wenige, sie haben in den meisten Ländern so viel zu riskieren, und sind daher so furchtsam; die Orthodoxen sind durch Gesetze und Besitz 32 33 34 35

Nicolai, Sebaldus Nothanker, S. 27. Lessing an Nicolai, 25. August 1769, in: ders., Werke, Bd. 11/1, S. 622 f. Nicolai, Sebaldus Nothanker, S. 213. Vgl. ebd., S. 214 ff.

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so mächtig geschützt, daß, wenn sie den geringsten Beystand bekommen, sich die denkenden Leute gar nicht merken lassen werden, daß sie freier denken, als andere.«36

Nicolai benutzt den Konflikt zwischen Sebaldus und dem Superintendenten Stauzius im Roman zur Auseinandersetzung mit dem Hamburger Hauptpastor Goeze, der sich bereits durch seine Angriffe auf Lessings Publikationen zu Religionsfragen antiaufklärerisch positioniert hatte. Die Romanfiguren und die Romanhandlung werden auf diese Weise zum Medium der Aufklärung. Sie sind an deren Idealen orientiert und einer Publikumsorientierung (›Lesepublikum‹) verpflichtet.

3.

Zur Rezeption

Der Aufstieg Berlins in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Verlags- und Buchhandelsbereich ist auch eine Folge der aufklärungsgeprägten Gesellschaftsveränderungen. Der ›Roman‹ wurde zunehmend in deutschen Territorien zum Erfolgsmodell (in gesellschaftlicher und inhaltlicher Hinsicht). Für die Zeit zwischen 1773 und 1796 berechnete die ADB das Erscheinen von mehr als 6.000 Romanen.37 Am Beginn dieser Romanflut steht das Beispiel Sebaldus Nothanker – ein Erfolgsroman sowohl in geschäftlicher, aber auch in inhaltlicher Hinsicht. So bedankte sich z. B. der Geheime Kanzleisekretär Friedrich Arnold Klockenbring 1775 aus Hannover bei Nicolai für diesen Roman mit seiner mutigen Aufklärungsintention: »Heil ihnen daß sie in Berlin so frey schreiben und drucken dürfen! Im Holsteinschen mögte dieser zweyte Theil nur wohl confiscirt werden.«38 Dennoch darf diese Sicht von außen nicht verabsolutiert werden. Die Zensurverhältnisse, aber auch das Verhalten des Lese- und Theaterpublikums werden auch von Nicolai kritisch registriert. So kann man in der Phase der Erstveröffentlichung des Romans in einem Brief Nicolais, der sich auf die Berliner Aufführung von Goethes Götz von Berlichingen am 8. Oktober 1774 bezieht, diese Distanz erkennen: »Das berlinische Publikum ist übrigens (wie fast alle Publica in der Welt) ein vielköpfiges Ungeheuer, davon sich einige Köpfe mit den feinsten Säften der besten Pflanzen nähren, die meisten aber Disteln und Stroh fressen.«39 Als Beispiele für »Disteln und Stroh« werden Voltaire und Goethe und der Wiener Dramatiker Philipp Hafner genannt, zu den »besten 36 37 38 39

Nicolai an Lessing, 8. März 1771, in: Lessing, Werke, Bd. 11/1, S. 173. Vgl. Hettner, Literaturgeschichte der Goethezeit, S. 288. Zit. nach Habersaat, Verteidigung der Aufklärung, S. 15. Nicolai an Tobias Philipp von Gebler, 8. Oktober 1774, zit. nach Arnhold, Goethes Berliner Beziehungen, S. 95.

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Pflanzen« darf wohl der Nothanker-Roman gezählt werden. Diese Epochenwende in der Berliner Aufklärung ist in der Forschung der letzten Jahrzehnte intensiv untersucht worden, so dass sich eine Vielzahl von Belegen dafür findet, was Paul Raabe schon 1983 zusammenfassend formuliert hatte: »Von den schüchternen Äußerungen heute vergessener Prosaisten und Dichter und von der bedeutsamen Gründung der Akademie der Wissenschaften durch Leibniz zu Ende des 17. Jahrhunderts abgesehen, begann die Berliner Literaturgeschichte an einem Herbsttage des Jahres 1743, als der in Dessau geborene und aufgewachsene vierzehnjährige Talmudschüler Moses Mendelssohn durch das Tor, das ›Juden und Vieh‹ vorbehalten war, in die Stadt einzog, wenige Jahre später mit seinen Freunden Lessing und Nicolai das Dunkel, das über der Welt lag, aufhellte und die Pforten zum Reich der Vernunft und Humanität öffnete.«40

Dass und wie der Nothanker-Roman in diese Entwicklung eingeordnet werden kann, hat die Aufklärungsforschung umfassend aufgearbeitet, wobei insbesondere die innovative Wirkung des Textes im Literaturprozess insgesamt hervorzuheben ist. So war schon die Nachfrage nach dem Erscheinen des I. Teils sensationell. Bevor der II. Teil erscheinen konnte, musste der I. Teil etliche Male neu gedruckt und in verbesserter Auflage herausgegeben werden. Die Ausgaben wurden jeweils mit den Kupferstichen von Daniel Chodowiecki und ohne sie angeboten. Leopold Göckingk berichtet von einer Gesamtauflage von 12.000 Exemplaren, einschließlich der 3. Auflage von 1766. Außerdem erschienen zahlreiche Raubdrucke.41 Doch die Reaktion der literarischen Öffentlichkeit in Europa war auch widersprüchlich – einerseits enthusiastisch zustimmend, andererseits distanziert kritisch bis hin zum Verriss (z. B. Johann Gottfried Herder). Insbesondere die Nähe zur Werther-Debatte forderte die Sturm-undDrang-Parteigänger heraus, den Nicolai-Roman kritisch zu kommentieren. Bemerkenswert in diesen Zusammenhängen ist die Stellungnahme von Jakob Michael Reinhold Lenz, der Text und Rezeptionsvorgang in seinem Urteil miteinander verbindet. Seine Distanz gegenüber dem »hochtrabenden Bücherwurm« und damit der Aufklärungs-Gelehrsamkeit ist unüberhörbar, aber der Zustand der deutschen Literaturkritik wird ebenfalls kritisch beurteilt. Lenz versucht den (anfänglich geschätzten) Romanautor Nicolai vom »Kunstrichter« Nicolai zu trennen: »Denn von einigen Seiten Rezension auf die ganze Kenntnis eines Kunstrichters Schlüsse zu machen (wie wohl heutzutage leider!!! von jungen Leuten geschieht), gerechter Himmel, wie betrüglich! Wie gefährlich! Wie leicht sodann der Weg zum gelehrten Manne! Da der Rezensentenstil, wie der stylus curiae, sobald auswendig gelernt ist und man nur mit der Miene der Selbstzufriedenheit seinen Autor (aus dem man 40 Raabe, Friedrich Nicolai, S. 10. 41 Vgl. Becker, Friedrich Nicolai, S. 57.

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doch das in der Stille erst lernen muß, was man wieder ihn sagt) über die Schulter herab ansehen darf, wie der Herr N. (Anmerkung: Ich habe mich geirrt, es gehört auch noch eine gewisse Belesenheit in andern Journalen und irgendein Buch, das von einer ähnlichen Materie handelte, zur Hand dazu, aus denen man denn allenfalls einige Citata nachschlägt und ausschreibt. Siehe die neuesten Rezensionen.) Man messe mir hier nicht zu viele Widrigkeit gegen diesen Mann bei, den ich als Buchhändler und anfänglichen Liebhaber und Beförderer der deutschen Literatur, auch in seinem ›N.‹ als unterhaltenden Romandichter schätze – sobald er aber Kunstrichter und mehr als das, Impressario und Direktor aller Kunstrichter, Herr aller Herren werden will, mit allen seinen aufgeblasenen Anmaßungen verspotte und verlache. Mag er mich rezensieren lassen!«42

Diese Polemik gegen Nicolai (und Wieland) entstand im Zusammenhang mit einem literarischen Gegenangriff des Sturm-und-Drang-Dichters J. M. R. Lenz, der wie Nicolai ein literarisches Werk selbst als Argumentationsinstrument nutzte. Er verfasste die Satire Die Wolken, die an der Jahreswende 1775/76 als Manuskript kursierte und erste Reaktionen der literarischen Parteien erzeugte. Doch dann änderte Lenz seine Strategie. »Unsicherheiten über das Angemessene der Kritik und der Wunsch, mit dem in Weimar ansässigen Wieland freundschaftlich verkehren zu können, veranlaßten Lenz, den Verkauf der ausgedruckten Exemplare zu verbieten und vom Verleger deren völlige Vernichtung zu erbitten. Das geschah so gründlich, daß sich weder ein Druckexemplar noch die Handschrift erhalten hat.«43

Diese Annäherungsstrategie von Lenz veranlasste ihn dann sogar, noch eine Rechtfertigungsschrift mit der Überschrift Verteidigung des Herrn W. gegen die ›Wolken‹ – Von dem Verfasser der ›Wolken‹44 zu veröffentlichen. In der Teutschen Chronik vom 18. Juli 1766 wird dann diese literarische und publizistische Fehde wie folgt kommentiert: »Vor einiger Zeit ging eine Komödie, die ›Wolken‹ betitelt, im Mskt. herum, worinnen Wieland und Nicolai mit aristophanischer Bosheit mißhandelt wurden. Da entschuldigt sich nun desfalls der Verfasser in einem Bogen und legt sein Glaubensbekenntnis von Wieland und mitunter auch von Nicolai ab, so, daß der erste damit zufrieden sein, der letztere aber schreien muß über den harten, schmerzhaften Angriff eines Mannes, der ihm an Genie so weit überlegen ist.«45

Verfasser dieser Parteinahme für den Sturm und Drang war Christian Friedrich Daniel Schubart. An diesem Beispiel kann man die von Nicolai mit dem Noth42 Lenz, Verteidigung des Herrn W. gegen die Wolken, zit. nach Müller (Hg.), Sturm und Drang, Bd. 2, S. 248 f. 43 Müller, Nachwort zu ›Verteidigung des Herrn W. gegen die Wolken‹, in: ebd., S. 561 f. 44 Lenz, Verteidigung des Herrn W. gegen die Wolken, in: Müller (Hg.), Sturm und Drang, Bd. 2, S. 238 – 259. 45 Ebd., S. 561.

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anker-Roman angestoßene Verquickung von Poesie und Publizistik in der deutschen Literatur der zweiten Jahrhunderthälfte nachvollziehen. Und auch andere Zeitgenossen reagierten in Werken und publizistischen Publikationen auf diesen Vorgang, so z. B. auch Johann Gottfried Herder in seiner Streitschrift Über die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten (1777).46 Herders Analyse der Geschichte der deutschen Dichtkunst gipfelt in einer kritischen Bestandsaufnahme der Gegenwart, die (mit einer Vielzahl von Nicolai-Anspielungen versehen) sich vor allem auf die Verabsolutierung des »Äußeren« und der vom Buchhandel gesteuerten »Mode«-Orientierung konzentriert: »Man verzeihe, daß ich bei diesem Äußern verweile; von solchem Äußern hängt das meiste Innere ab. Der Buchhändler kauft und verkauft, erhandelt sich Autor und Rezensenten, bestimmt den Wert seines Meßguts, und nach dem Anklange geht die Stimme fort. Dem lieben Deutschland ist alles gleichviel, wenn’s in den Zeitungen nur gelobt ist, ›Siegwart‹ und ›Agathon‹, ›Messias‹ und den ›Nothanker‹, ›Werthers Leiden‹ und ›Werthers Freuden‹ lieset’s mit gleichem Mute; und das ausländische Gemisch, woher es auch komme und was für Sitten es würke, bleibt billig im Vorrecht.«47

So werden die Folgen der von der Aufklärungsbewegung geprägten Literatur (nicht nur in Berlin) durchaus kritisch diskutiert. Schon im Juli 1784 wird in der von Friedrich Gedike und Johann Erich Biester herausgegebenen Berlinischen Monatsschrift der Erfolg der Berliner Aufklärung differenziert bewertet: »[…] ein Stück wie Lessings ›Minna von Barnhelm‹ (und das gehört Berlin!) wiegt hundert und tausend andere auf; aber ; wenn alle Abend gespielt werden soll, so muß eine Menge da sein … Nationalstücke. Auch die Schriftsteller in andern Arten des Witzes und der Einbildungskraft scheuen sich fast, ihren Mitbürgern zu nahe ans Herz zu reden. Der Verfasser des Nothankers hat rühmlich die Bahn gebrochen, worauf ihm aber noch bei weitem zu wenige folgen. – Vorzüglich müßte dies ein Gegenstand der hiesigen fliegenden Blätter sein, die aber größtenteils wohl nicht diesen edlen Endzweck befördern. Und es wäre doch wahrlich ein würdiger Gegenstand für aufgeklärte und wohlwollende Männer, über ihre Stadt an ihre Stadt zu schreiben. – Die hiesigen Zeitungen sind überhaupt, und auch in diesem Punkte, höchst unbedeutend.«48

Als einzige Ausnahme wird dann Helene Friederike Unger erwähnt, die ohne Verfasserangabe den Roman Julchen Grünthal 1784 veröffentlicht hatte: »[…] Julchen Grünthal ist ein neueres, angenehmes und lehrreiches Produkt dieser Art« – so urteilt Gedike in einer Anmerkung.49 Nicolais bahnbrechende Leistung mit dem Nothanker-Roman hatte eben nur 46 Herder, Über die Wirkung der Dichtkunst, in: Müller (Hg.), Sturm und Drang, Bd. 1, S. 432 ff. 47 Ebd., S. 482. 48 Zit. nach Weber (Hg.), Berlinische Monatsschrift (1783 – 1796), S. 77. 49 Gedike, zit. nach Weber (Hg.), Berlinische Monatsschrift (1783 – 1796), S. 77 (Anm. 1).

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eine Teilantwort auf die in der Mittwochsgesellschaft50 diskutierte Frage geliefert, die ein Grundproblem der Aufklärung (intern) thematisierte: »Warum die aufklärenden Schriften bei dem großen Haufen so wenig gefruchtet haben?«51 Friedrich Nicolai hat aber, im Unterschied zu seinem literarischen Helden Säugling, seine literarischen Aktivitäten nicht zugunsten praktischer bürgerlicher Alltagsmoral nach dem Nothanker-Roman beendet. Säugling wird als pflichtbewusster Ehemann bekanntlich Landwirt und schreibt statt Lyrik die Abhandlung vom Bau der Kartoffeln. Diese »Wandlung« wird von Nicolai als pflichtbewusste Lebensstrategie ironisch und parteinehmend zugleich beschrieben: »Säugling, immer gewohnt, dem Frauenzimmer zu folgen, modelte sich unvermerkt nach Marianen. Er erinnerte sich, daß er, ein Mann, nicht mehr ein Jüngling sey. Er entsagte, freylich nach einigen kleinen Kämpfen, erst seiner allzu genauen Achtsamkeit auf den Kleiderputz, dann seinen zierlichen Gesinnungen, und endlich sogar seinen Gedichten. Er hat selbst an seinen empfindsamen Roman nicht nur nicht weiter gedacht, sondern ist allmählig ein völliger Landwirth geworden. Er steht mit Tagesanbruch auf, theilet seinen Leuten ihr Tagwerk aus, reitet, in aller Witterung, zu ihnen aufs Feld, und hat sich, durch unabläßige Thätigkeit, eine solche praktische Kenntniß des Ackerbaues erworben, daß er auf seines Vaters Gütern die wichtigsten Verbesserungen zu Stande gebracht hat. Indessen, da sich lange angewöhnte Unarten selten ganz ausrotten lassen, so ist er doch, unter der Hand, wieder ein Schriftsteller geworden, denn es wird nächstens von ihm eine Abhandlung vom Bau der Kartoffeln gedruckt werden, welche er, nach einer ihm eignen Methode zu vervielfältigen weiß, und womit er, in den letzten theuern Jahren, die armen Heuerleute seiner Gegend, aus eignem Vorrathe, beynahe ganz erhalten hat.«52

Bernd Witte verortet dieses Romanfinale in den literaturprogrammatischen Kontroversen des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts: »In diesem satirisch überspitzten Schluß, in dem das haushälterische Paar Mariane/ Säugling das wegen seiner ›Unbürgerlichkeit‹ gescheiterte Paar Wilhelmine/Sebaldus ersetzt, kommt – wie in der Satire Freuden des jungen Werthers von 1775 – der praktische Aufklärer Nicolai zu Wort.«53

Eine alltags- und praxisorientierte Aufklärungsstrategie prägt auch Nicolais Wirken als Schriftsteller, Verleger, Buchhändler und Organisator des Berliner Aufklärungsdiskurses, auch wenn die Akzentverschiebungen der sogenannten ›Spätaufklärung‹ die Neuauflagen des Nothanker-Romans und die veränderten Kommentierungen Positionsveränderungen im Detail belegen. Horst Möller hatte bereits 1999 den Stellenwert Nicolais und seines »Mani50 51 52 53

Vgl. Vierhaus, Friedrich Nicolai und die Berliner Gesellschaft, S. 87 – 98. Klenner, Mendelssohns beste Staatsverfassung, S. 15. Nicolai, Sebaldus Nothanker, S. 418 f. Ebd., S. 614 (Nachwort).

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fests« der Berliner Aufklärung definiert – allerdings mit einer kritisch einschränkenden Bewertung der ästhetischen Qualität des Romans: »Von größerer Bedeutung als kultur- und sozialgeschichtliches Zeugnis der Zeit denn als literarisches Werk (das Schriftenverzeichnis nennt 239 Veröffentlichungen) war sein Erfolgsroman ›Das Leben und die Meinungen des Herrn Magisters Sebaldus Nothanker‹ (3 Bde., 1773 – 76), der mit 20 000 Exemplaren bis 1799 vier Auflagen erreichte. Dieses Werk stand mit seiner Thematik Kirche, Theologie und Gesellschaft sowie seiner Kritik an prot. Orthodoxie und am Pietismus im Zentrum aufgeklärter Diskussion. Durch seine Adelskritik und seine Definition bürgerlicher Normen, seine Informationen zu Buchhandel und Verlagswesen sowie zu den aktuellen sozialen Problemen Berlins stellt es einen kultur- und sozialkritischen Schlüsseltext der Aufklärung dar.«54

Die Forschungsdebatten der letzten Jahre haben immer wieder die Frage nach der besonderen ästhetischen Qualität der Aufklärungsliteratur gestellt, und damit wird im Grunde die Diskussion fortgesetzt, die schon die Zeitgenossen Nicolais bewegte. So findet sich in der Allgemeinen deutschen Bibliothek im Jahre 1775 in Heinrich Campes Rezension der zweiten Auflage des ersten und der ersten Auflage des zweiten Bandes des Nothanker-Romans diese Problemstellung. Orientiert an einem konstruktiven Dualismus von »prodesse et delectare« stellt Campe fest: »Bekanntermaßen hat alles, was zum Gebiet der schönen Wissenschafften gerechnet wird, den gedoppelten Zweck, daß es belustigen und belehren, oder durch Belustigung bessern soll. Einige Dichter und Romanschreiber haben, der Würde ihrer eigentlichen Bestimmung uneingedenk, diese beyden unzertrennlich seyn sollende Zwecke voneinander zu trennen gewagt, und mit Vernachlässigung des letztern, ihr ganzes Bestreben ausschließungsweise nach dem erstern gewandt. Diese hatten es daher lediglich mit der Phantasie ihrer Leser zu tun, welche sie durch wunderbare Erdichtungen, durch interessante Verwicklungen, durch künstliche Auflösungen, und durch reizende Gemählde auf eine angenehme Weise zu beschäftigen suchten.«55

Die Kritik an der Verabsolutierung des delectare ist natürlich ein Seitenhieb gegen den ›Sturm und Drang‹. Und den Gegenentwurf entwirft Campe als noch zu lösende Aufgabe der Aufklärungsliteratur: »Andere hingegen haben zwar keinen von beyden Zwecken ganz aus dem Auge verlohren: doch sieht man es ihnen nicht undeutlich an, daß sie dem einen den andern unterordnen, den einen zum Haupt- den andern zum Nebenzwecke machen wollten. Nur sehr wenigen vorzüglichen Genien ist es bißher gelungen, beyde Zwecke zugleich, und in gleich hohem Grade zu erreichen.«56 54 Möller, Art. ›Nicolai‹, S. 202. 55 Campe, ›Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker‹ […], S. 480. 56 Ebd.

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Campe, der vor seiner Aufgabe des geistlichen Amtes im Jahr 1775 Feldprediger beim Regiment des Kronprinzen Friedrich Wilhelm von Preußen war, stellt Nicolais Nothanker-Roman zwischen diese »Fronten«: »Zu welcher von diesen Classen der Verfasser des Lebens und der Meinungen des Hrn. Magisters Sebaldus eigentlich zu zählen sey, mögen andere entscheiden.«57 Geprägt von den eigenen biographisch-publizistischen Erfahrungen hebt er dann in dieser Rezension Nicolais Parteinahme in den nicht nur die Berliner Szene prägenden Religionskontroversen hervor: »Nur ein Wort über den ernsthafteren Zweck dieses Verfassers, in so fern derselbe aus seinem ganzen Werke, so weit es biß jetzt gediehen ist, auf eine nicht unzweydeutige Weise, hervorzuleuchten scheint!«58 Zusammenfassend heißt es dann über diese aufklärungsorientierte Romanstrategie: »Dieser Zweck scheint kein geringerer zu seyn, als der, den an sich ehrwürdigen Orden der Geistlichen auf die Mängel und Gebrechen einzelner unwürdiger Mitglieder desselben aufmerksam zu machen, um diese faulende, die allgemeine Glückseeligkeit vergifftende Glieder eines im Staate nothwendigen Körpers, wo möglich, durch öffentliche Beschämung zu heilen, oder ihnen doch wenigstens, zur nöthigen Warnung für alle, welche mit ihnen unter einem Horizonte leben müssen, ein abschreckendes Brandmal aufzudrücken. Ein heilsames, aber mißliches Unterfangen.«59

Das, was Campe Nicolais Roman noch an Aufklärungs-Potential und eigener Ermunterung zuschreibt, konnte sein Scheitern als Geistlicher in Berlin nicht verhindern. Diesen Schritt vor seinem Einstieg in das Philantropin in Dessau (1776) hat er folgendermaßen gerechtfertigt: »Wie kann ein Biedermann sich glücklich fühlen, wenn er täglich die Rolle eines Heuchlers spielen muss? Und die muss jeder Geistliche spielen, er sei, wer er wolle – nur allenfalls ein Schafskopf ausgenommen […].«60 In Grundzügen trifft die Kennzeichnung Berlins durch Wolfgang Martens (1972) durchaus zu: »Berlin ist damals unter dem alternden Friedrich II. die Stadt Nicolais und Mendelssohns, ein Platz der Aufklärung, des gesunden Menschenverstandes, der Pädagogik, während Sturm und Drang und Empfindsamkeit dort weniger gedeihen.«61 Die Biographien und Schriften von Joachim Heinrich Campe und Karl Philipp Moritz belegen diese von Nicolai mitgeprägte Konfliktsituation in Berlin. Noch 1783 beurteilt J. E. Biester in der Berlinischen Monatsschrift diese Jahrzehnte in seiner polemischen Auseinandersetzung mit Adelung (»Ist Kursachsen das Tribunal der Sprache und Lite57 58 59 60 61

Ebd. Ebd. Ebd., S. 480 f. Campe, zit. nach Leyser, Joachim Heinrich Campe, S. 26 f. Martens (Hg.), Karl Philipp Moritz, S. 546 f. (Nachwort).

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ratur für die übrigen Provinzen Deutschlands?«) in der Kennzeichnung des Zustands der deutschen Literatur als andauernden Entwicklungsprozess, deren regionale Differenziertheit durchaus als positiver Befund registriert wird: »Ich begreife in der Tat nicht, wie Hr. Adelung so oft von der Grenze unserer Literatur, von der schon geendigten schönen Periode bei uns sprechen kann. Wir haben einen guten oder gar vortrefflichen Anfang gemacht: alles ist noch im Gären, im Werden; alle Kräfte sind gespannt. Wer kann itzt schon an Stillstand denken? und wer kann also völlige Ruhe erwarten?«62 Die Polemik (und wohl auch verlegerische Konkurrenz) zwischen den einzelnen Dichtergruppierungen führte aber dazu, dass ihre durchaus aufklärungsgeprägten Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen zeitweise in den Hintergrund gerieten. Das dokumentiert z. B. ein Briefzitat von Nicolai an Johannes Müller vom 2. Juli 1773, das seine durchaus vorhandene ›Nähe‹ zu seinen Gegnern aus der Sturm-und-Drang-Gruppierung belegt: »Wenn man ein nicht ganz schaler Kopf ist, so ist es leicht, durch fremde Sprünge in Gedanken und Verbindung der Gedanken Aufmerksamkeit zu erwecken; aber wie sehr viel schwerer ist es, Moses Mendelssohns edle Einfalt im Raisonnement, Xenophons oder Nepos ungeschmückte Erzählung, Lessings philippische Stärke, Humes Nachdruck und Wielands philosophische Empfindsamkeit (in den besten Stellen seiner prosaischen Schriften) zu erreichen. Wie zusammenhängend und deutlich ist nicht die Schreibart aller dieser Männer! Ich wenigstens ziehe sie Gerstenbergs dunkeln Anspielungen, Klopstocks feierlicher, unaufhaltsamer Nachdrucksbeeiferung (die in seinen prosaischen Schriften so oft des Zwecks verfehlt) und Herders kühn zusammengesetzten, kühn abgebrochenen, noch nicht genug sagenden, und doch noch mehr sagen wollenden Orakelsprüchen weit vor, ob mir gleich Gerstenberg, Klopstock und Herder sehr schätzungswürdige Leute sind.«63

So zeigt sich in der Rezeption des Nothanker-Romans die auch von Nicolai durchaus registrierte und teilweise akzeptierte Gemeinsamkeit in den Entwicklungsprozessen der deutschen Literatur am Ende des Jahrhunderts, deren Grundlagen die (Berliner) Aufklärungsbewegung geschaffen hatte. Diese Gemeinsamkeiten sind vor allem durch den Nothanker-Roman begründet und legitimiert. Das zeigt sich selbst bei entschiedenen Gegnern Nicolais, wie z. B. Johann Gottlieb Fichte, der 1801 in seiner Streitschrift Friedrich Nicolai’s Leben und sonderbare Meinungen64 dessen Lebenswerk als Beispiel einer »radikalen Verkehrung und Zerrüttung des Geistes« verurteilt:

62 Biester, zit. nach Weber (Hg.), Berlinische Monatsschrift (1783 – 1796), S. 20. 63 Friedrich Nicolai an Johannes Müller, 2. Juli 1773, zit. nach Bräuning-Oktavio, Herausgeber und Mitarbeiter der Frankfurter Gelehrten Anzeigen 1772, S. 4. 64 Nicolai, Sebaldus Nothanker, S. 595 ff.

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»Das vollendetste Beispiel einer solchen radikalen Geisteszerrüttung und Verrückung in unserm Zeitalter war mir, seitdem ich ihn gekannt habe – ich lernte ihn in dem Streite zwischen Mendelssohn und Jacobi kennen – Friedrich Nicolai. Sein Bild wollte ich, wenn er seine verkehrte Laufbahn geschlossen haben würde, welches er freilich nur mit seinem Tode tun wird, allen studierenden Jünglingen, in denen ein Hang sein könnte, seine Bahn zu betreten, und allen, die auf die Bildung dieser Jünglinge Einfluß hätten, zum warnenden Beispiele hinstellen.«65

Fichtes Kritik am »industriösen Buchhändler« und »Dilettanten in der Wissenschaft« gipfelt in der Forderung, Nicolai hätte »eigenes Schreiben« unterlassen sollen. Aber : »Unser Held aber schrieb Bücher, dicke Bücher, unter eignem Namen, und dadurch verdarb er alles.«66 Nur dem Nothanker-Roman wird eine Sonderstellung zugestanden: »Sein Sebaldus zwar hätte hingehen mögen. Dieser war dem Zeitalter seiner Erscheinung so angemessen, daß man ihn der Fähigkeit unsers Helden sogar nicht zutrauen wollte.«67 Fichte spielt hiermit auf die Legende an, dass Nicolai gar nicht der Verfasser des Romans sei, sondern »ein immer Geld bedürftiger Gelehrter«. Dennoch trage nach seiner Überzeugung dieser Roman »unverkennbar das Gepräge der Nicolaischen Feder«68, was Lob und Tadel geschickt verbindet. Dem Roman (und damit indirekt auch Nicolai) wird sein historischer Stellenwert in einem Prozess der ›Vernunft‹-Entwicklung zugestanden, was aber die Kritik am ›späten‹ Nicolai einschließt. So zeigt sich das kritisch-produktive Potential eines historischen ›Manifests der Aufklärung‹ auch unter völlig veränderten historischen Bedingungen.

65 66 67 68

Ebd., S. 596. Ebd., S. 600. Ebd. Ebd.

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4.

Bibliographie

4.1

Quellen

93

Böttiger, Karl August: Literarische Zustände und Zeitgenossen. In Schilderungen aus Karl Aug. Böttiger’s handschriftlichem Nachlasse. Bd. 1. Leipzig 1838. Campe, Johann Heinrich: ›Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker‹ […]. In: Allgemeine deutsche Bibliothek 26 (1775), 2. St., S. 479 – 481. Jung, Johann Heinrich: Sämmtliche Werke. Neue vollständige Ausgabe. Bd. 5. Stuttgart 1841 [zuerst 1775]. Lessing, Gotthold Ephraim: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 11/1: Briefe von und an Lessing: 1743 – 1770. Hg. v. Helmuth Kiesel unter Mitwirkung v. Georg Braungart u. Klaus Fischer. Frankfurt a. M. 1987. Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Hg. v. Wolfgang Martens. Stuttgart 1972 [EA 1785/86/90]. Müller, Peter (Hg.): Sturm und Drang. Weltanschauliche und ästhetische Schriften. 2 Bde. Berlin 1978. Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Kritische Ausgabe. Hg. v. Bernd Witte. Stuttgart 1991 [EA 1773 – 76]. Schlegel, Friedrich: Georg Forster. Fragmente einer Charakteristik der deutschen Klassiker. In: ders.: Kritische Ausgabe. Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken (1796 – 1801). Hg. v. Hans Eichner. München, Paderborn, Wien 1967. Schulz, Friedrich: Literarische Reise durch Deutschland. Hg. v. Christoph Weiß u. Reiner Wild. St. Ingbert 1996 [EA 1786] (Kleines Archiv des achtzehnten Jahrhunderts Bd. 25). Unger, Helene Friederike: Über Berlin. Aus Briefen einer reisenden Dame an ihren Bruder in H. In: Jahrbücher der preußischen Monarchie unter der Regierung Friedrich Wilhelms III. Bd. 2 (1798), S. 17 – 33, S. 133 – 143 u. S. 287 – 302.

4.2

Sekundärliteratur

Arnhold, Erna: Goethes Berliner Beziehungen. Gotha 1925. Becker, Peter Jörg: Friedrich Nicolai. Leben und Werk. Ausstellung zum 250. Geburtstag. Berlin 1983 (Ausstellungskataloge. Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz Bd. 21). Bräuning-Oktavio, Hermann: Herausgeber und Mitarbeiter der Frankfurter Gelehrten Anzeigen 1772. Tübingen 1966 (Freies Deutsches Hochstift Bd. 20). Clark, Christopher : Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600 – 1947. München 2008. Gombocz, Istv‚n: Reiseerlebnis und Gesellschaftskritik in Friedrich Nicolais Roman ›Leben und Meinungen des Herrn Magisters Sebaldus Nothanker‹. In: Daphnis 35 (2006), S. 301 – 319. Habersaat, Sigrid: Verteidigung der Aufklärung. Friedrich Nicolai in religiösen und politischen Debatten. Bd. 1. Würzburg 2001 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft Bd. 316). Hettner, Hermann: Literaturgeschichte der Goethezeit. München 1970.

94

Knut Kiesant

Klenner, Hermann: Mendelssohns beste Staatsverfassung. Für Eva J. Engel Holland. In: Wolfenbütteler Bibliotheks-Informationen 34 (2009), Nr. 1 – 4, S. 13 – 21. Leyser, Jakob Anton: Joachim Heinrich Campe. Ein Lebensbild aus dem Zeitalter der Aufklärung. Bd. 1. Braunschweig 1877. Möller, Horst: Art. ›Nicolai, Christoph Friedrich‹. In: Neue Deutsche Biographie Bd. 19: Nauwach–Pagel. Berlin 1999, S. 201 ff. Pfeifer, Wolfgang [u. a.]: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 3 Bde. Berlin 1989. Raabe, Paul: Friedrich Nicolai (1733 – 1811). Die Verlagswerke eines preußischen Buchhändlers. Wolfenbüttel 1983. Rietzschel, Evi (Hg.): Gelehrsamkeit ein Handwerk? Bücherschreiben ein Gewerbe? Dokumente zum Verhältnis von Schriftsteller und Verleger im 18. Jahrhundert in Deutschland. Leipzig 1982 (Röderberg-Taschenbuch Bd. 108). Schmitz, Rainer : Was geschah mit Schillers Schädel. Alles, was Sie über Literatur nicht wissen. Frankfurt a. M. 2006. Schwinger, Richard: Friedrich Nicolais Roman ›Sebaldus Nothanker‹. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung. Weimar 1897 (Literarhistorische Forschungen Bd. 2). Vierhaus, Rudolf: Friedrich Nicolai und die Berliner Gesellschaft. In: Bernhard Fabian (Hg.): Friedrich Nicolai (1733 – 1811). Essays zum 250. Geburtstag. Berlin 1983, S. 87 – 98. Vinke, Rainer : Jung-Stilling und die Aufklärung. Die polemischen Schriften Johann Heinrich Jung-Stillings gegen Friedrich Nicolai (1775 – 76). Stuttgart 1987 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte Bd. 129). Weber, Peter (Hg.): Berlinische Monatsschrift. 1783 – 1796. Leipzig 1986.

Barbara Becker-Cantarino

Nicolais Vertraute Briefe von Adelheid B** an ihre Freundin Julie S**, Fichte und Schlegel

1.

Einleitung

Schon im Oktober 1799 erschien in der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung eine Rezension des Romans Vertraute Briefe von Adelheid B** an ihre Freundinn Julie S**, den Friedrich Nicolai anonym in seinem Verlag zu Ostern 1799 publiziert hatte. Die Rezension beginnt mit einer positiven Stellungnahme1 folgendermaßen: »Wer die Alleinweisheit mancher jungen Philosophen, den gelehrten Egoismus, das stolze Hinwegsetzen über bürgerliche Verhältnisse und Convenienz, kurz, wer die Zeichen der Zeit zu sehen und sich darüber zu ärgern Gelegenheit gehabt hat, der wird bey der Lectüre dieses Romans den Satyr preisen, der sie scharf ins Auge fasste, und mit Witz und Laune solche Thorheiten züchtigt.«2

Diese von Ludwig Ferdinand Huber gelieferte (und vermutlich von Therese Huber verfasste) Rezension veranlasste August Wilhelm Schlegel, um sich mit der Anzeige Abschied von der Allg. Lit. Zeitung im Intelligenzblatt öffentlich von der ALZ zu trennen. Schlegel war über die Parteinahme der Zeitung beleidigt und zugleich eifersüchtig, wie er am 5. November an Goethe schrieb: »Man ist so weit gegangen, während man bedächtig vom Athenäum schweigt, ein eigends [!] dagegen gerichtetes Buch, Adelheids Briefe von Nikolai, mit großem Lobe und den beleidigendsten Seitenblicken auf uns anzuzeigen.«3 Nicolais Roman stellte bekanntlich einen Höhepunkt des Streits zwischen ihm, den Schlegels und Fichte innerhalb der Kontroverse zwischen Spätaufklärung und Frühromantik dar. Wie Wolfgang Albrecht minutiös dargestellt hat, versuchte Nicolai der »Herausforderung durch die frühromantische Poesiekonzeption mit dichterischen Mitteln zu begegnen, die ›abgebrochenen Sentenzen‹ des Athenäums und 1 Die zeitgenössischen Rezensionen waren überwiegend positiv ; sie finden sich auch im Anhang zum Neudruck der Vertrauten Briefe von Günter de Bruyn. 2 [Huber], Berlin u. Stettin, b. Nicolai: Vertraute Briefe, Sp. 246. 3 Zit. nach Gille, Die undialektische Aufklärung, S. 779, Anm. 8.

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des Lyceums mit der Geschlossenheit eines Romans zu konfrontieren.«4 Das macht diesen satirischen Roman in doppelter Weise interessant, zum einen als Parodie auf die literarischen Moden der 1790er Jahre und zum anderen als aufklärerische Polemik gegen die junge Generation der Romantiker, gegen einen kulturellen und generationsbedingten Wandel. Schon mit seinem satirischen Roman Leben und Meinungen Sempronius Gundiberts, eines deutschen Philosophen (1798) hatte Nicolai die philosophischen Systeme von Kant und Fichte einer scharfen Kritik unterzogen. Mit den Vertrauten Briefen parodierte Nicolai die jeunesse dor¦e in Berlin, den »Witzmarkt«5 der jungen Literaten, Intellektuellen und Frauen und ihrer Romane und führte eine Art von Kulturkampf, wie er charakteristisch auch für spätere Generationen werden sollte. Der Roman ist eben auch eine »Apologie gesellschaftlicher Ordnung gegen anomisches Verhalten des geistig führenden Teils der Generation der Zwanzig- bis Dreißigjährigen und ihrer Nachahmer«, und, so resümiert Horst Möller weiter »Nicolais zahllose kritische Reform-Anregungen [belegen], daß er keineswegs alle Fehler der von ihm verteidigten Gesellschaft konservieren, sondern im Gegenteil einer permanenten Verbesserung unterwerfen wollte«.6 Zwar hat die traditionelle Literaturgeschichte bis hin zu dem enttäuschend oberflächlichen Aufsatz Vertraute Briefe. Versuch über Friedrich Nicolai von Günter de Bruyn anlässlich seines Neudrucks der Vertrauten Briefe Nicolai als Schriftsteller negativ abgeurteilt, doch hat die darauf folgende literatursoziologische Beschäftigung mit den Vertrauten Briefen von Klaus Berghahn (1987), Wolfgang Albrecht (1989) sowie Klaus Gille (1990) Nicolais Kontroverse mit der Klassik und Romantik ernst genommen, neu beleuchtet und damit die einseitige Parteinahme für oder gegen die Aufklärung bzw. Klassik/Romantik differenziert und modifiziert. Mich interessieren hier zum einen die Vertrauten Briefe als literarische Parodie, und zum anderen die »literatursoziologische Fragestellung, die den literarischen Disput als Ausdruck eines tiefer liegenden sozialen Strukturwandels, ja letztlich einer Kulturkrise begreift.«7 So werde ich zunächst die Literarizität der Vertrauten Briefe kurz skizzieren und die Briefe als literarischen Text vergegenwärtigen, um dann auf den Literaturstreit Nicolais speziell mit den Schlegels und Fichte aus kultureller Perspektive einzugehen und zu versuchen, diesen als Kulturkampf zu analysieren.

4 5 6 7

Albrecht, Friedrich Nicolais Kontroverse, S. 35. Nicolai, Vertraute Briefe, S. 64. Möller, Aufklärung in Preußen, S. 147. Gille, Die undialektische Aufklärung, S. 778.

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2.

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Die Vertrauten Briefe als parodistischer Roman

Ein zeitgenössischer Leser – Huber, der Rezensent der Allgemeinen LiteraturZeitung, bzw. seine Frau Therese – hat den Inhalt der Vertrauten Briefe 1799 so skizziert: »Ein junger Mensch von Anlagen kommt von der Universität voll philosophischen und belletristischen Dünkels zurück und mit seiner Zurückkunft beginnen diese Briefe, die seine Schwägerin Adelheid, die Witwe seines verstorbenen Bruders, an eine Freundin schreibt, und die unseren Helden zum Gegenstand haben. Adelheid hat auf ihn als Knaben schon vieles gehalten, sie erkennt auch noch jetzt seine glücklichen Anlagen, die nur falsch gelenkt worden sind, wieder, und daher kommt es, dass sie sein ganzes Thun und Treiben so ausführlich beschreibt. Sie beschliesst, ihn zu bessern […] erst an seinem genialischen Aeussern […], [führt] ihn dann in Gesellschaften […] um ihn menschlicher zu machen, [erweckt] dann den Trieb nach bestimmten Geschäften […] und [lässt] ihn endlich auch Geschmack an bürgerlicher Tätigkeit finden. […] Aber unvermerkt hat sich die Liebe beider Herzen bemeistert, die Hochachtung des Schülers gegen seine Lehrerin geht in Liebe über, und auch sie hat aus dem langen Umgang eine Wunde davon getragen. Der Schüler Gustav wirbt förmlich um seiner Lehrerin Hand. […] Sie ist neun Jahre älter als er, und sie sieht voraus, dass nach und nach seine Liebe an diesem ungleichen Verhältniss erkalten würde. […] [S]o beschliesst sie sich aufzuopfern, und ihn durch die Hand der jüngern Geliebten glücklich zu machen. […] Sie wirbt selbst für ihn um Amaliens Hand, nachdem sie ihm vorher zu einer Hofrathsstelle geholfen, und beschliesst mit der edelsten Resignation, bey ihren Freunden zu wohnen, ihre Kinder zu erziehen und ihrer Liebe glücklich zu seyn. Aber das Gewicht dieser Aufopferung drückt sie schwerer, als sie sich selbst gestehen möchte, sie fällt in eine Art von Schwermuth, und stirbt nach einigen Jahren.«8

Der unkomplizierte, gerade Plot greift Elemente des zeitgenössischen Liebesund Eheromans auf, jenes Dreiecksverhältnis aus Liebe und Leidenschaft, Freundschaft und Ehe sowie Entsagung und Tod. Der Verzicht einer Liebenden (Adelheid) auf den Geliebten (Gustav, der neun Jahre jünger ist) ermöglicht dessen glückliche Verbindung mit einer Freundin (Amalie), also ein versöhnliches Ende der Dreiecksbeziehung ähnlich wie in Gellerts Schwedischer Gräfin oder La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Doch endet der Roman mit Adelheids Tod, nachdem sie sich jahrelang aufopferungsvoll der Kinderpflege für Gustavs Sohn gewidmet hat – ein recht unspektakuläres Selbstopfer, ähnlich unheroisch, eben ›weiblich‹ wie der Tod der kinderlosen unverheirateten ›Schönen Seele‹ in Wilhelm Meister, wie Amandas Dahinschwinden in Mereaus Amanda und Eduard (1803) und in anderen zeitgenössischen Frauenromanen. Bei Nicolai hat Adelheid als Frau und Erzieherin ihre Pflicht und Schuldigkeit getan und kann beruhigt abtreten; das ist wohl auch eine pädagogische Er8 [Huber], Berlin u. Stettin, b. Nicolai: Vertraute Briefe, Sp. 247 f.

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mahnung des Autors an zeitgenössische Frauen, sich nicht unschicklich zu verlieben und ihre Gefühle zu beherrschen. Adelheids Tod ist von Nicolai gezielt als ein Gegenstück zu dem sorgfältig vorbereiteten, tabubrechenden Selbstmord im Werther konzipiert: So rät Adelheid ironisch ihrem Gustav : »Ist wirklich in der lebenden Welt für Sie nichts zu thun, so erschießen Sie sich. Werther ermordete sich, Rousseau wahrscheinlich auch. Warum nicht auch Sie?«9 Nicolai zitiert dazu in seiner Anmerkung Madame de StaÚls Bonmot über Rousseau als warnendes Beispiel: »Il [Rousseau] n’¦tait pas fou, mais son imagination ¦tait en demence. A force d’Þtre superieur, il ¦tait pr¦t d’Þtre fou […]. Eine wahre Schilderung vieler neuen deutschen Jünglinge, die Schöngeister und Ichphilosophen zugleich sind, obgleich wahrlich keiner von ihnen ein Rousseau ist.«10

So kritisiert Nicolai die Wirkung der ›Einbildung‹ – Fantasie und Überheblichkeit – als »demence«, als Verlust des Verstandes. Nicolais Roman zielt mit seiner verzerrenden, übertreibenden Darstellung auf die Emotionalisierung der Figuren in den Romanen seiner Zeit, die in den späten 1790er Jahren einen Höhepunkt erreichte, etwa in den Erzählungen, die Sophie Tieck unter Bruder Ludwigs Ägide für die Straußfedern beisteuerte. So lässt Nicolai Gustav, dessen »Verstand und Empfindung im Rausche sind« klagen: »Ich fühle was ich bin, und fühle doch[,] daß ich nicht wirken kann nach meiner Kraft unter Menschen die kalt, fühllos sind, und nur Sinn für das Niedrige und Gemeine haben.«11 Nicolai parodiert hier die Flut der emotionalisierten Romanliteratur, die Herzensergießungen, Verirrungen und Liebestollheiten, besonders unter den weiblichen Roman-Figuren und Autorinnen. Es ist eine generelle Abrechnung mit den sich verändernden Mores der 1790er Jahre bezüglich der Liebschaften, Gefühle und deren Zuschaustellung bei den jungen Literaten und in der Salongesellschaft, jedoch wohl kaum eine direkte Satire auf die Lucinde. Nicolais Vertraute Briefe sind gleichzeitig mit Schlegels Feier der leidenschaftlichen Liebe in Lucinde zur Ostermesse 1799 erschienen und entstanden im Winter 1798/99.12 Nicolai dürfte den Text wohl kaum vorher gekannt haben, war aber von dem Roman-Projekt informiert, wenn er die »neue[] Dorothea« erwähnt, »wovon jetzt den Auserwählten ein paar Seiten handschriftlich herumgegeben werden!«13 Mit Sicherheit spielt Nicolai hier auf Friedrich Schlegels Beziehung zu Dorothea Veit an,14 wie auch generell auf ähnliche, in 9 10 11 12 13 14

Nicolai, Vertraute Briefe, S. 138. Ebd., S. 138 f. Ebd., S. 140 u. S. 138. Vgl. hierzu Albrecht, Friedrich Nicolais Kontroverse, S. 67, Anm. 126. Nicolai, Vertraute Briefe, S. 87. Brendel Mendelssohn, Tochter von Moses Mendelssohn, war 1783 mit dem Kaufmann Simon

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literarisch-bürgerlichen Kreisen bekannte und beklatschte Leidenschaften – Therese Forster, Caroline Schlegel, Sophie Mereau, Rahel Levin, Meta Forkel usw. an. Er kritisiert diese indirekt und parodiert sie, indem er ihnen seine AdelheidFigur als Beispiel vorstellt. Nicolai artikuliert die Liebesauffassung seiner Zeit, die zur Liebesehe führt: »Daher hört auch die Romanliebe mit der Heurath auf; denn in dieser Verbindung ist die höchste Stufe welche liebende Herzen erklimmen können!«15 So sei bemerkt, dass Friedrich Schlegels Affäre ebenfalls schon 1804 in die Ehe mit Dorothea mündet, in eine recht bürgerliche Ehe, wie sie eben auch Goethe 1796 in Hermann und Dorothea gefeiert hatte. Nicolais Adelheid, die wohl als Stimme des Autors gelten kann, vertritt eine klare moral sense-Position, die eines gesunden Menschenverstandes mit einer Portion Gemeinsinn; allerdings wird die Entsagung problematisiert durch Adelheids frühen Tod durch »Abzehrung«,16 das typische Leiden weiblicher Roman-Figuren. Adelheid besitzt ein psychologisch einfühlsames Verständnis für menschliche Beziehungen und für die Gesellschaft und will Gustav zur richtigen, praktischen Lebensanschauung verhelfen: »Werden Sie nüchtern und sehen Sie sich um, so werden Sie in der menschlichen Gesellschaft alles finden, was Ihnen Ihrer Meinung nach fehlt: Muth und Gelegenheit Ihre Kräfte zu brauchen, Sympathie, Freundschaft und Liebe und Glück.«17 Mit leisem Spott entlarvt Adelheid die weltfremde Buchgelehrsamkeit der jungen studierten Männer und belehrt zugleich: »Die Liebe kennt Ihr jungen Herren gewöhnlich nur aus Gedichten oder aus Romanen und Trauerspielen. O ja! die Liebe in den Oden der Sappho kann ein verzehrendes Feuer seyn; dies ist aber weder der Liebe höchster noch ihr edelster Grad. Die Liebe kann aus sehr tiefer Empfindung entspringen und tief ins Herz gehen; und doch eine sehr sanfte Leidenschaft bleiben, welche die ganze Seele erfüllt, ohne sie der Herrschaft der Vernunft zu entziehen. Das Wesentliche der Liebe ist: Herzen zu verbinden, so daß eines durch das Glück des andern glücklich wird.«18

Affektkontrolle durch den Verstand, Altruismus in menschlichen Beziehungen statt Egoismus der Gefühle und unbeherrschter Leidenschaft, das ist die für wünschenswert erachtete und dargestellte Gefühlswelt, die der »Romanliebe«

15 16 17 18

Veit verheiratet worden, lernte Friedrich Schlegel im Juli 1797 im Salon von Henriette Herz kennen, wurde am 11. Januar 1799 vom Rabbinatsgericht geschieden und lebte mit Friedrich in Berlin zusammen, als Nicolais Roman erschien. Wie Nicolais Adelheid (ein Anklang an »Veit«) war Brendel eine geborene M., 10 Jahre älter als der Geliebte und nahm auf Friedrichs Wunsch den Namen Dorothea (»Göttergeschenk«) an, bevor sie mit Friedrich zu August Wilhelm Schlegel nach Jena zog. Nicolais Adelheid besiegt jedoch ihre Liebe und verzichtet. Nicolai, Vertraute Briefe, S. 142. Ebd., S. 241. Ebd., S. 140. Ebd., S. 141.

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und Leidenschaft entgegengestellt wird. Adelheid will »durch Liebe« bilden und es ist ihr »Grundsatz […], daß die Vernunft auch in der Liebe ihre Kraft nicht verlieren muß«.19 Mit der Form des Briefromans und der Wahl einer weiblichen Briefschreiberin, die dazu noch als Lehrerin Gustavs fungiert, hat Nicolai den Entwicklungs- oder Bildungsroman parodiert und in die Ecke des etwa von Goethe und Schiller im Weimar-Jenaer Kunstprogramm als Dilettantismus abgewerteten Frauenromans gestellt. Ausgerechnet eine Frau belehrt den studierten, verwöhnten und weltfremden Gustav. Nicolai hat eine parodistische Inversion der Geschlechterrollen vorgenommen; in dieser Rollenvertauschung, einer Feminisierung der traditionellen Romanstruktur, liegt eine Herabsetzung des von Schlegel favorisierten und im Wilhelm Meister hoch gelobten Bildungsromans, eine ironische Verbildung der literarischen Form. Nicolai geht sogar zum direkten satirischen Angriff auf Schlegels Rezension und dann auf Wilhelm Meister über : »Friedrich der Große und die Amerikanische Republik und – die Kartoffeln – wären ganz andere Tendenzen des Zeitalters, als der arme Meister, der in seinen Lehrjahren nichts gelernt hat, als sich von jedem Geschöpfe regieren zu lassen, das er antraf: von Marianen, von Philinen, von Frau Melina, (welche ein paar Bände durch, guter Hoffnung, herumwatschelt) von dem unerklärlichen Jarno, von dem geheimnißvollen Abb¦ […]. Sogar Barbara und Felix sind klüger als der breyweiche Wilhelm. […] Jetzt steht er [Wilhelm] gewiß unter dem Pantoffel seiner Frau die ihm auch Göthe so zuführt, weil er doch eine Frau haben mußte. Sie wird ihn nun wohl ein wenig schütteln, daß er sich besinne; denn aus sich selbst konnte der unthätige Mensch nie etwas finden.«20

Besonders herabsetzend war Nicolais satirischer Angriff auf die Männlichkeit des Romanhelden Wilhelm, den ausgerechnet eine Frau als Autorstimme als »breyweich« und unter dem »Pantoffel« von Frauen stehend verlacht. Die literarische Parodie greift schärfer an als eine intellektuelle Kritik, sie verweigert diese sogar und macht den Gegenstand – hier besonders Schlegels Bonmot über Goethes Roman und den Romanhelden – kritikunwürdig und substanzlos. Die moraldidaktische Grundfunktion der Vertrauten Briefe liegt in der parodistischen Umkehrung des Bildungsromans, denn die clevere Adelheid kann ihrem Gustav die Augen öffnen, ihn aufklären und bessern, auch wenn sie es mit ihrem Glück und Leben bezahlt. Mit dem Konstrukt der Adelheid-Figur als Autorstimme wird eine ironische Distanz zu dem Geschehen und der Gesellschaft etabliert. Das Format des Briefes bedingt einen Rückblick auf die Ereignisse, die als Bericht an die Freundin erzählt werden, was nicht nur die nötige Distanz schafft, sondern auch eine Reflexion über die Gefühle erlaubt. Nicolai 19 Ebd., S. 167. 20 Ebd., S. 85 f.

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kann so zugleich die Selbstzweifel und Selbstüberwindung seiner Romanfigur thematisieren. In Adelheid verkörpert er einfühlsam und wohlwollend die Probleme und Gefühle einer Frauenfigur seiner Zeit, wobei in der durchweg sympathischen Konstruktion der Adelheid-Figur wohl auch Nicolais eigene Erfahrungen mit seiner Frau und seinen Töchtern21 sowie seine Bekanntschaft mit gebildeten Frauen wie Elisa von der Recke durchscheinen. Nicolai lässt Adelheid über die Gespräche, die Kleidung, das Auftreten der Personen mit spöttisch beobachtendem Abstand und kritischen Überlegungen berichten. Sie bezieht ihre eigene Rolle als Mittlerin und Erzieherin mit ein, nimmt ihre Leidenschaft für Gustav wahr und überwindet sie verstandesmäßig. Nicolai hat in den Vertrauten Briefen eine Art von unzuverlässiger, weil weiblich konnotierter Situation und Erzählerfigur geschaffen, die für eine intellektuell-philosophische Auseinandersetzung, wie sie in anderen satirischen Romanen Nicolais stattfindet, unangemessen ist bzw. diese sogar verweigert. Die Auseinandersetzung wird auf lebensweltlicher, kultureller Ebene geführt. Nicolai benutzt seine Adelheid-Figur auch, um stellenweise satirische Angriffe zu lancieren, auf Fichte, Friedrich Schlegel und die Texte des Athenäums, die er abkanzelt als »hochtrabend und dunkelhell, als hätten sich Kaspar Lohenstein und Jakob Böhme zusammen auf den Dreyfuß der Priesterinn zu Delphi gesetzt.«22 Adelheid verspottet die jeunesse dor¦e, den Spielraum, in dem sich Gustav am liebsten bewegt, das von vorlauten und koketten, aber dümmlichen Frauen besiedelte »Büreaux d’Esprit und der Büreaux de Philosophie, welche die kleinen Weiber und die kleinen Männer halten«, der »wöchentliche[] Witzmarkt«, wo alle »wie im August die Fliegen um eine Mußtorte schwärmen.«23 Besondere Zielscheiben von Nicolais Aggression sind Friedrich Schlegel und Fichte als Professor »Pandolfo«, wohl ein sprechender Name für einen ,ganz dollen Feau (Fälscher)‹: »Wer muß dieser Fichte seyn? […] [D]er auch ein großer Mann seyn soll, […] [ein] ›gestiefelter Kater, der auf dem Dache der dramatischen Kunst herumspaziert‹. […] Ich merke, es gibt jetzt in Deutschland neue Wissenschaften und Künste, die nirgend auf ebener Erde bleiben mögen, eine neue Poesie und Philosophie und Empfindung und Kritik und Lobhudelei die immer auf den obersten Spitzen der Dachfirsten spazieren, wie die Katzen und Störche.«24

21 Nicolais Privatleben ist kaum biographisch gewürdigt worden – lesenswert und informativ sind die Darstellung des Bibliothekars (der Berliner Amerika-Gedenkbibliothek) Gustav Sichelschmidt von 1971 und die Einführung zu dem Ausstellungskatalog Friedrich Nicolai der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz von 1983. 22 Nicolai, Vertraute Briefe, S. 79. 23 Ebd., S. 64 u. S. 80. 24 Ebd., S. 87 f.

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Nicolai kritisiert den Anspruch auf Neuheit, Originalität, die Überheblichkeit, die gegenseitige Lobhudelei, das elitäre Gebare, die Leere und Unverständlichkeit (»dunkelhell«25), die Arroganz, das Hochtrabende, den Egoismus, die Ichbezogenheit, den Dünkel und die Abgehobenheit von der Realität der jungen Literaten, die wie »Katzen und Störche«26 auf Dachfirsten herumspazieren. »Der Doktor warf den Mund auf: Hm! sagte er, ›Arrogant ist, wer Sinn und Charakter zugleich hat, und sich dann und wann merken läßt, daß diese Verbindung gut und nützlich sey. Wer beides auch von den Weibern fordert, ist ein Weiberfeind.‹ […] Du siehest wohl, das hölzerne Geschöpf wollte Ironie affektieren. Das fiel mir ins Lachen, und ich stand auf, als sich noch die Blondinen zu Ehren der Weiber mit dem arroganten Währwolf stritten, und fuhr nach Hause und lachte noch im Wagen und lachte noch im Bette über die Menschen die sich ihre gesunde Vernunft verstudiren, und sich dann einbilden, sie wären wichtige Männer, weil sie sich herausnehmen, mit orakelhaften Concetti, über alles nach Gefallen abzusprechen.«27

Spott und Witz sollen den falschen Ernst, die Heuchelei der literarischen Schwärmer enthüllen und von der echten Lebensweisheit unterscheidbar machen. Eine persönliche, direkte Invektive oder Verunglimpfung namentlich genannter Personen schaltet Nicolai in den Vertrauten Briefen jedoch nicht ein; darin folgte er nicht den groben Ausfällen der persönlichen polemischen Satire in den gegen Nicolai gerichteten Xenien, die Nicolais Denkungsart persiflieren, ihm Vernunft, Verstand, Bildung und jeglichen literarischen Verdienst absprechen.28 Allerdings spottete Nicolai mit den Xenien ähnlichen Distichen in Fünftel-Saft und Apologie der Fichti-schen Appellation, die er 1799 anonym veröffentlichte, über Fichtes ›Ichismus‹ und Idealismus.29 Auch in den wenigen, den narrativen Fluss der Parodie unterbrechenden Anmerkungen weist Nicolai lediglich auf Texte der angegriffenen Autoren hin, Persönliches ließ er außen vor. Seine detaillierte Beschreibung der neumodischen Kleidung, besonders der »gelehrten Koketten« parodiert die Oberflächlichkeit der Personen im »Witzmarkt«, die sich aus »Gefallsucht« ebenso modisch kleiden wie sie modische Worthülsen gebrauchen.30 Nicolais satirische Angriffe in der Form von parodistischer Fiktion in den Vertrauten Briefen richten sich vornehmlich auf Erscheinungen und Verhaltensweisen, die nicht zu seiner Wirklichkeitserfahrung und seinem Wertesystem passten, die nicht der »Wahrheit entsprachen«. 1799 nannte Nicolai in Über meine gelehrte Bildung31 eine Begründung für seinen 25 26 27 28 29 30 31

Ebd., S. 79. Ebd., S. 88. Ebd., S. 79 f. Albrecht, Friedrich Nicolais Kontroverse, S. 20. Neumann-Beyer, Der Atheismusstreit, S. 213. Vgl. Nicolai, Vertraute Briefe, S. 49 – 55. Vgl. hierzu auch Mollenhauer, Friedrich Nicolais Satiren, S. 76.

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Rekurs auf die parodistische Satire: »Weil das Lächerliche zwar nicht der Probierstein der Wahrheit, aber wohl ein sicherer Probierstein solcher Thorheiten ist, welche gegen Wahrheiten anstoßen, die der gesunde Menschenverstand unwidersprechlich erkennt.«32 Spott und Witz sollen den falschen Ernst verlachen und die praktische, lebensweltliche Vernunft zum Vorschein bringen, Nicolais parodistische Vertraute Briefe werden so zum »Probierstein« der Wahrheit, zur »Behauptung der Praxis über die Theorie.«33 Nicolai will beim Leser »Zustimmung erreichen für seine literarisch vermittelte Aggression gegenüber […] Erfahrungen der gemeinsamen oder konkret rekonstruierbaren Lebenspraxis.«34

3.

Nicolais Vertraute Briefe als Kulturkampf für Gemeinsinn und gesunden Menschenverstand

Die unterschiedlichen intellektuellen und literarischen Positionen von Nicolai und der Aufklärung vis-—-vis der Frühromantik und Klassik sind vielfach und breit aus geistesgeschichtlicher Sicht dargestellt worden; das gilt ebenfalls für Nicolais literarische Kontroverse mit den Klassikern und den Frühromantikern,35 mit Jean Paul (ausführlich von Waltraud Beyer), für die Athenäum-Polemiken36 und für die Ästhetischen Prügeleien in Berlin und Weimar 1800 – 1803.37 Klaus Gille hat die Vertrauten Briefe durch die Brille von Habermas und Adorno gelesen und musste Nicolais Aufklärung ›undialektisch‹, Nicolais Vorstellungen von der Gesellschaft zu bürgerlich, zu sehr am status quo orientiert und zu affirmierend finden.38 Schon Friedrich Sengle hatte jedoch differenzierter mit Blick auf die Kontroverse – besonders Goethes und Schillers Xenien – von einem »Generationskampf« gesprochen und darauf hingewiesen, dass der Kontroverse allgemeinere Gegensätze zugrunde liegen, noch heute aktuelle Widersprüche »von Empirismus und Idealismus, heteronomer und autonomer Ästhetik« sowie »von Revolution und Restauration.«39 Hier möchte ich noch einmal ansetzen und aus der Distanz von nunmehr 200 Jahren versuchen, Nicolais Perspektive und Interesse zu analysieren und auf die persönlichen Antipathien und die Differenzen des Lebensstils – denn solche spielten auch eine 32 33 34 35 36 37 38 39

Nicolai, Über meine gelehrte Bildung, S. 80. Mollenhauer, Friedrich Nicolais Satiren, S. 76. Schönert, Theorie der (literarischen) Satire, S. 9. Vgl. Albrecht, Friedrich Nicolais Kontroverse. Vgl. die höchst sachliche Darstellung bei Härtl, ›Athenäum‹-Polemiken. Vgl. Vogel, »Ästhetische Prügeleien«. Gille, Die undialektische Aufklärung, S. 85. Sengle, Die ›Xenien‹ Goethes, S. 56.

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Rolle, nicht nur unterschiedliche Ideen – als kulturelle statt als geistesgeschichtlich-philosophische Streitpunkte mit den Schlegels und Fichte eingehen. Die Differenzen in Persönlichkeit, Lebensstil und Habitus sind markant. Aus den Schilderungen der Geselligkeit in den Vertrauten Briefen wird deutlich, dass Auftreten, Kleidung, Haartracht, Sprache, Lebensstil und Verhalten, Gesten und Art der Konversation der jungen Männer und Frauen bei Nicolai (und in Berlin allgemein) besonderen Anstoß erregten. Friedrich Schlegel und Fichte waren rhetorisch außerordentlich gewandt, dazu begabte Selbstdarsteller und soziale Aufsteiger, die jedoch kein eigenes Einkommen hatten und verschuldet waren. Und die jungen Frauen der jeunesse dor¦e – alle wohlhabend und aus guter Gesellschaft – erscheinen bei Nicolai als etwas zu vorlaute, selbständige, kokette und gefallsüchtige Wesen.40 Ob Nicolais Zeichnung der Adelheid-Figur auf Dorothea Veit gemünzt war und er ihr damit eine Lektion erteilen wollte, nämlich dass Leidenschaft durch Entsagung überwunden werden solle, mag dahin gestellt bleiben. Eher scheint mir die Darstellung des »Witzmarktes«41 auf Friedrich Schlegel, den Kreis der Athenäums-Beiträger, die Salons von Rahel Levin und Henriette Herz, ihr Auftreten, ihre Attitüden und Ansprüche als junge Intellektuelle Frauen zu karikieren, die sich genusssüchtig und leichtlebig über alle gesellschaftlichen Formen hinwegsetzen zu können glaubten. Und vielleicht war Nicolai auch persönlich berührt von dem Habitus seines jüngeren Sohnes, der – so auch die Schilderungen anderer – großspurig auftrat, gegen den Vater opponierte und geschäftlich bankrott machte. Der Generationenkonflikt entzündete sich an der neuen, sich endgültig durchsetzenden Jugendkultur im späten 18. Jahrhundert, die mit einer Herabsetzung, Verachtung und Ausgrenzung des Alten, besonders der alten Generation, einer neuen Altersdiskriminierung einherging. Die Französische Revolution galt Friedrich Schlegel als die größte Errungenschaft des Jahrhunderts, nicht die enorme soziale, kulturelle und ökonomische Aufbauleistung des friderizianischen Preußens, dessen Nutznießer er und seine Generation in Berlin sein konnten. Neue Freiheiten und Umbrüche waren angesagt. Die erworbenen literarischen, buchhändlerischen, sozialen und kulturellen Verdienste Nicolais galten Schlegel nichts mehr. Sicher, 1799, zur Zeit der Abfassung der Vertrauten Briefe, war Nicolai bereits 66 Jahre alt, und er war noch bis etwa 1790 auf der Höhe seines Schaffens gewesen,42 aber er hatte auch in den 1790er Jahren entscheidende Veränderungen verkraften müssen: die Zensur, Aufsicht und Bespitzelung waren viel dichter geworden, das Zeitschriftenwesen war in einer 40 Nicolai hatte seiner eigenen Tochter, die als Sängerin erfolgreich gewesen war, die Heirat mit einem Schauspieler verboten. Sie starb bald darauf an Schwindsucht. 41 Nicolai, Vertraute Briefe, S. 64. 42 Fabian, Nicolai und England, S. 190.

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Krise, Nicolai musste die ADB aus Berlin verlagern und 1792 verkaufen, er erlitt ökonomische Einbußen in den für kommerzielle Unternehmen unsicheren und risikoreichen Revolutions- und Napoleonischen Kriegen.43 Schwere persönliche Schicksalsschläge und Verluste waren zum einen der Tod seiner Frau 1793, zum anderen der 1790 begangene Suizid seines ältesten Sohnes und Verlagsführers – keines seiner sechs Kinder sollte ihn überleben – sowie das unstete, liederliche Leben seines jüngeren Sohnes. Darüber hinaus belasteten ihn Krankheitserscheinungen, Nicolai erblindete auf einem Auge. Seine zeitweilige geistige Umnachtung und Altersdemenz wurde von Goethe als ›Geisterseherei‹ verspottet. Und mit den Worten des Germanisten Ferdinand Josef Schneider gehörte Nicolai damals »zu den Leuten, die ihre eigene Verwesung nicht riechen und denen daher eine um die andere Generation immer wieder sagen muß, daß sie bereits tot sind.«44 Dieses maliziöse Verdikt schrieb lediglich Fichtes infame Insinuation fort, der 1801 in Friedrich Nicolai’s Leben und Meinungen diesen »als einen toten Mann«45 betrachtet und sogar mit einem »Hund« verglichen hatte.46 A. W. Schlegel sprach 1803 in seiner Allgemeinen Übersicht des gegenwärtigen Zustandes der deutschen Literatur von der »Kraftlosigkeit« des »bejahrten Mannes.«47 Die Typisierung Nicolais zum »alternden Literaturpabst«,48 die zur Altersdiskriminierung wurde, begleitete ein Angriff auf seine Person, den Fichte führte, wenn er ihn als einen »gebohrne[n] stumpfe[n] Kopf« und »ein [en] einfältige[n] unstudirte[n] Buchhändler« bezeichnete.49 Die »Priesterherrschaft der Intellektuellen.«50 Mit dem im 18. Jahrhundert spätestens mit der Sturm-und-Drang-Periode sich durchsetzenden Konzept der Originalgenies propagierte die Frühromantik die göttliche Sendung des Dichters. Friedrich Schlegel etwa erhob in seinen »Ideen« im Athenäum die Künstler zu »Braminen« als »höhere Kaste« über die »übrigen Menschen.«51 Es entwickelte sich ein Gegensatz zwischen der jungen, akademisch gebildeten Jugend, indem Fichte den ökonomisch erfolgreichen und auch praktisch, handwerklichkaufmännisch arbeitenden Nicolai als »unstudierte[n] Buchhändler«, als geistlos und dumm hinstellte. In seiner autobiographischen Rechtfertigung Vgl. hierzu ausführlich Selwyn, Everyday Life in the German Book Trade, S. 290 – 297. Schneider, zit. nach Becker, Friedrich Nicolai, S. 139. Fichte, Friedrich Nicolai’s Leben und Meinungen, S. 7. Ebd., S. 81. Zit. nach Gille, Die undialektische Aufklärung, S. 777. Ebd. Fichte, Friedrich Nicolai’s Leben und Meinungen, S. 63 u. S. 53. Vgl. Schelsky, Die Arbeit tun die anderen, S. 12 – 16 u. S. 367 – 376. – Schelsky ging in seiner struktursoziologischen Untersuchung von der These »der Bildung einer neuen Herrschaftsgruppe aus«, die »sowohl als Priesterherrschaft als auch als Klassenkampf verstanden werden kann« (S. 9). 51 Vgl. Härtl, ›Athenäum‹-Polemiken, S. 316.

43 44 45 46 47 48 49 50

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Über meine gelehrte Bildung versucht Nicolai, Fichtes maliziöse Verdrehung der Tatsachen aufzuzeigen. Sicher, Nicolai hatte nie die Möglichkeit gehabt, ein akademisches Studium zu absolvieren,52 was in der jungen Generation der Schriftsteller und Intellektuellen eine selbstverständliche Voraussetzung war, um Reputation und ›Pöstchen‹ zu erlangen und um Freundschaften und Cliquen zu bilden. Nicolai war weitgehend Autodidakt, hatte 1749 als Sechzehnjähriger eine bis 1751 andauernde Buchhandelslehre begonnen und seit der Übernahme der väterlichen und damals schwer verschuldeten Nicolaischen Buchhandlung 1758 über vier Jahrzehnte eine »unglaublich tätige verlegerische Existenz« geführt.53 Zum Ende des 18. Jahrhunderts war Berlin der zweitgrößte Verlagsort nach Leipzig, Nicolai war als Buchhändler, Herausgeber, Kritiker, Verleger und Schriftsteller tätig – das war eine beachtliche Lebensleistung.54 Diese Lebensleistung Nicolais und seiner Generation ermöglichte den enormen sozialen und wirtschaftlichen Aufschwung Preußens und eine Erhöhung des Lebensstandards, der der Generation von Fichte und den Schlegels den sozialen Aufstieg, das gesellige Leben und die rein geistige Betätigung erst erlaubte und ermöglichte. Die junge Generation kreierte den Typ des Intellektuellen, des ›Dichters und Denkers‹, der verächtlich auf den »Handwerker« und den »Kaufmann« herabsah und den »akademischen Dünkel« zu seinem Habitus machte. Mit dieser Auratisierung des Künstlers und Intellektuellen ging nicht nur eine Herabsetzung und Ausgrenzung aller anderen als ungebildete Menge einher, sondern auch eine Abschottung von sozialer Verantwortung und Verachtung von Konvention. Nicolai war einem Ethos von Gemeinsinn, einem Verantwortungsgefühl gegenüber anderen in seiner sozialen Rolle und einer praxisnahen Lebensweise des gesunden Menschenverstandes im Sinne der englischen Lebensauffassung des common sense verpflichtet. Die elitäre Abgrenzung und Arroganz des besserwissenden Friedrich Schlegel musste da ebenso Abscheu erregen, wie der Idealismus (»Ichismus«) und das Systemdenken Fichtes. Nicolai bestand auf Praxis und natürlicher Urteilskraft, wie sein Interesse an England und der Schottischen moral sense-Philosophie zeigen,55 die in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts u. a. von Moses Mendelssohn, Christoph Meiners und dem frühen Kant diskutiert wurde. Nicolai lehnte reine Spekulation sowie die Deduktion ab und stand damit dem Empirismus und der induktiven Methode näher. Nicolai war so ein Vorläufer der Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts, aber kein Verteidiger der Geisteswissenschaft. Ihn lediglich als Eklektizisten abzutun, wie Schmidt-Biggemann es ausführlich, um nicht zu 52 53 54 55

Raabe, Der Verleger Friedrich Nicolai, S. 60. Engel, Vivida vis animi, S. 14. Raabe, Der Verleger Friedrich Nicolai, S. 68. Vgl. Fabian, Nicolai und England.

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sagen: weitschweifig getan hat, führte immerhin dazu, dass Schmidt-Biggemann sich schließlich zum »Altern der Wahrheit«, zum »Prozess der Zeitlichkeit von Gedanken und Interpretationen« bekennen und damit auch den Geltungsanspruch der Philosophie des Idealismus als zeitlich bedingter »Wahrheit« bezeichnen musste.56 Die Post-Moderne und jetzt die Post-Post-Moderne haben den Wahrheitsanspruch der deutschen Schulphilosophie und das Denken in großen Systemen ebenso fraglich gemacht wie den engen Literaturbegriff von Klassik-Romantik. Vielleicht ermöglicht das auch einen eher kritisch-interessierten als kritisch-aburteilenden Blick auf die Lebensleistung Nicolais als Autor, Buchhändler und Mensch in seiner Zeit.

56 Schmidt-Biggemann, Nicolai, S. 247.

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Barbara Becker-Cantarino

4.

Bibliographie

4.1

Quellen

[Huber, Ferdinand]: Berlin u. Stettin, b. Nicolai: Vertraute Briefe von Adelheid B** an ihre Freundin Julie S**. In: Allgemeine Literatur-Zeitung 4 (1799), Nr. 343, Sp. 246 – 248. Fichte, Johann Gottlieb: Friedrich Nicolai’s Leben und sonderbare Meinungen. Ein Beitrag zur Litterargeschichte des vergangenen und zur Pädagogik des angehenden Jahrhunderts. Hg. v. August Wilhelm Schlegel. Tübingen 1801. Nicolai, Friedrich: Vertraute Briefe von Adelheid B** an ihre Freundin Julie S**. Ein Roman. Berlin u. Stettin 1799. Nicolai, Friedrich: Vertraute Briefe von Adelheid B. an ihre Freundin Julie S. Ein Roman. Werther-Parodien, zeitgenössische Rezensionen und Schmähungen. Hg. v. Günter de Bruyn. Frankfurt a. M. 1983. Nicolai, Friedrich: Über meine gelehrte Bildung, über meine Kenntniß der kritischen Philosophie und meine Schriften dieselbe betreffend, und über die Herren Kant, J. B. Erhard, und Fichte. Berlin u. Stettin 1799. Schlegel, August Wilhelm: Abschied von der Allg. Lit. Zeitung. In: Allgemeine LiteraturZeitung. Intelligenzblatt (1799), Nr. 143, Sp. 1179.

4.2

Sekundärliteratur

Albrecht, Wolfgang: Friedrich Nicolais Kontroverse mit den Klassikern und Frühromantikern (1796 – 1802). In: Hans-Dietrich Dahnke u. Bernd Leistner (Hg.): Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Bd. 2. Berlin u. Weimar 1989, S. 9 – 71. Becker, Peter Jörg: Friedrich Nicolai. Leben und Werk. Ausstellung zum 250. Geburtstag. 7. Dezember 1983 bis 4. Februar 1984. Berlin1983 (Ausstellungskataloge. Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz Bd. 21). Berghahn, Klaus L.: Maßlose Kritik. Friedrich Nicolai als Kritiker und Opfer der Weimarer Klassik. In: Zeitschrift für Germanistik 8 (1987), S. 50 – 60. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M. 1999. Bruyn, Günter de: Vertraute Briefe. Versuch über Friedrich Nicolai. In: Sinn und Form 34 (1982), S. 782 – 794. Engel, Eva: Vivida vis animi. Der Nicolai der frühen Jahre (1753 – 1759). In: Bernhard Fabian (Hg.): Friedrich Nicolai 1733 – 1811. Essays zum 250. Geburtstag. Berlin 1983, S. 9 – 57. Fabian, Bernhard: Nicolai und England. In: ders. (Hg.): Friedrich Nicolai 1733 – 1811. Essays zum 250. Geburtstag. Berlin 1983, S. 174 – 197. Gille, Klaus F.: Die undialektische Aufklärung. Bemerkungen zu Friedrich Nicolais Vertrauten Briefen von Adelheid B. In: Weimarer Beiträge 36 (1990), S. 777 – 792. Härtl, Heinz: ›Athenäum‹-Polemiken. In: Hans-Dietrich Dahnke u. Bernd Leistner (Hg.):

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Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Berlin u. Weimar 1989, S. 246 – 357. Möller, Horst: Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai. Berlin 1974 (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin Bd. 15). Mollenhauer, Peter : Friedrich Nicolais Satiren. Amsterdam 1977 (German Language and Literature Monographs Bd. 2). Neumann-Beyer, Waltraud: Der Atheismusstreit um Fichte. In: Hans-Dietrich Dahnke u. Bernd Leistner (Hg.): Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Berlin u. Weimar 1989, S. 154 – 247. Raabe, Paul: Der Verleger Friedrich Nicolai. In: Bernhard Fabian (Hg.): Friedrich Nicolai 1733 – 1811. Essays zum 250. Geburtstag. Berlin 1983, S. 58 – 86. Schelsky, Helmut: Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen. 2., erw. Aufl., Opladen 1975. Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Nicolai oder vom Altern der Wahrheit. In: Bernhard Fabian (Hg.): Friedrich Nicolai 1733 – 1811. Essays zum 250. Geburtstag. Berlin 1983, S. 198 – 256. Selwyn, Pamela E.: Everyday Life in the German Book Trade. Friedrich Nicolai as Bookseller and Publisher in the Age of Enlightenment, 1750 – 1810. University Park 2000 (Penn State Series in the History of the Book). Sengle, Friedrich: Die ›Xenien‹ Goethes und Schillers als Dokument eine Generationskampfes. In: Wilfried Barner, Eberhard Lämmert u. Norbert Oellers (Hg.): Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Stuttgart 1983 (Veröffentlichungen der Deutschen Schillergesellschaft Bd. 42), S. 55 – 78. Sichelschmidt, Gustav : Friedrich Nicolai. Geschichte seines Lebens. Herford 1971. Schönert, Jörg: Theorie der (literarischen) Satire. Ein funktionales Modell zur Beschreibung von Textstruktur und kommunikativer Wirkung. In: Textpraxis. Digitales Journal für Philologie 2 (2011), S. 1 – 43, online verfügbar unter : www.uni-muenster.de/Textpraxis/ausgabe-2 [27. 09. 2012]. Vogel, Lutz: »Ästhetische Prügeleien«. Literarische Fehden in Berlin und in Weimar (1800 – 1803). In: Hans-Dietrich Dahnke u. Bernd Leistner (Hg.): Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Berlin u. Weimar 1989, S. 358 – 418.

Saskia S. Wiedner

Deutsch-italienischer Kulturtransfer in der Berliner Aufklärung am Beispiel von Friedrich Nicolais Goldoni-Übersetzungen

In der großen Zahl deutscher Goldoni-Übersetzer bleibt gemeinhin der Schriftsteller, Kritiker und Herausgeber Christoph Friedrich Nicolai unerwähnt. Zu Recht, muss man an dieser Stelle sagen, denn Nicolai ist der Forschung als einer der ersten Rezensenten des Werkes Carlo Goldonis bekannt, nicht als deren Übersetzer!1 Dennoch ist es nicht unberechtigt, von Nicolai als einem Übersetzer Goldonischer Texte zu sprechen, enthalten doch die Besprechungen, die zwischen 1757 und 1759 in der Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste erschienen, nicht wenige Textpassagen, die sich als Übersetzungen aus der dort besprochenen vierten Auflage der Bettinelli-Ausgabe von 1753 erweisen.2 Obwohl die Besprechungen der Komödien Carlo Goldonis mit dem Kürzel »C« unterzeichnet und damit quasi anonym erschienen sind, geht die Forschung heute von der Autorschaft Friedrich Nicolais aus.3 Neben dem groß angelegten Unternehmen einer kritischen Würdigung von Goldonis Lustspielen sind die darin enthaltenen Übersetzungen nicht nur in der Funktion einer Illustration von Nicolais Ansichten zur Übersetzung zu sehen, wie er sie im ersten Teil seines Romans Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker, der 1773 publiziert wurde, vertreten hatte.4 Die kurzen Passagen reflektieren zugleich das Sprachbewusstsein und den Stand der zeitgenössischen Sprachkritik, den die deutsche (Literatur-)Sprache um 1750 in den Augen eines der wichtigsten Berliner »Kultur-Unternehmer«5 erreicht hatte. 1 Vgl. Maurer, Carlo Goldoni, S. 127: »Aus der großen Zahl von Rezensionen, die Goldonis Komödien behandeln, ragt Nicolais umfangreiche, bereits erwähnte Besprechung der Ausgabe Bettinellis in der Bibliothek der schönen Wissenschaften heraus. Nicolais Rezension machte Goldonis Theater in Deutschland bekannt, als noch nicht viele Übersetzungen seiner Werke erschienen waren, über deren Verbreitung wir zudem bislang wenig wissen […].« 2 Vgl. ebd., S. 124. – Die Rezensionen befinden sich in den Bänden 2 (1757), 1. St., S. 133 – 199; 2 (1758); 2. St., S. 303 – 336; 3 (1758), 1. St., S. 106 – 118; 3 (1758), 2. St., S. 227 – 245; 4 (1758), 1. St., S. 478 – 489; 4 (1759), 2. St., S. 767 – 776. 3 Vgl. Maurer, Carlo Goldoni, S. 124. 4 Vgl. Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker, S. 72– 80. 5 Möller, Art. ›Nicolai, Christoph Friedrich‹, S. 201.

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Saskia S. Wiedner

Weit davon entfernt, mit den Goldoni-Übersetzungen Gotthold Ephraim Lessings oder Justus Heinrich Saals konkurrieren zu können und zu wollen, stellt sich Nicolais Übertragung des italienischen Textes in den kulturellen Dienst um die Entwicklung einer nationalen, d. h. sprachlichen Identität des deutschsprachigen Raumes im 18. Jahrhundert.6

1.

Zur Frage der Übersetzungsfähigkeiten Friedrich Nicolais

Es ist nicht belegt, wann und wo Nicolai Sprachkenntnisse des Italienischen erwarb. Dass er jedoch in vielerlei Hinsicht Autodidakt war und aufgrund seiner schulischen Ausbildung7 sowie des Diktats der Zeit – das sich am kulturellen Vorbild Frankreichs orientierte – sowohl Latein als auch Französisch und Englisch beherrschte, ist bekannt. Im Hinblick auf die von Nicolai beherrschten romanischen Fremdsprachen liegt ein Verständnis des Italienischen durchaus im Rahmen seiner Fähigkeiten. Indes muss an dieser Stelle nicht nur die Frage nach den sprachlichen Grundlagen der Übersetzungsfähigkeiten Nicolais gestellt werden, sondern auch die Frage, inwiefern Nicolai mit der italienischen Theatertradition, der zeitgenössischen Theaterpraxis sowie den Sitten des Landes vertraut war, denn Nicolai selbst ist im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen – wie etwa Goethe, Winckelmann, Herder oder Lessing – nie nach Italien gereist. Zürich war der südlichste geographische Punkt, den er in Europa jemals erreichte. 1783 publiziert er seine Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz,8 die neben den kulturellen Spezifika auch wirtschaftliche, religiöse und ethische Besonderheiten der bereisten Regionen in den 6 Horst Möller verweist in seinem biographischen Abriss auf die gesellschaftliche, politische und moralische Perspektive, in welcher Nicolai Literatur stets verstanden wissen wollte. Es ist diese kulturpolitisch engagierte Lesart der Rezensionen Nicolais, die ihr eigentliches Bezugsund Deutungsfeld ausmachen. 7 Nicolai besuchte die Latein-Schule in Halle. Sie wurde 1697 für Knaben aus bürgerlichen Familien gegründet, die eine akademische Bildung anstrebten. Der dort erteilte Lateinunterricht wird für Nicolai wohl die wichtigste Grundlage für eine umfassende Kenntnis der italienischen Sprache gewesen sein. Zudem ist überliefert, dass sich der allseitig interessierte Verleger darüber hinaus intensiv mit Aspekten der Sprach- und Literaturgeschichte beschäftigte (z. B. seine Forschung über das Keltische), was das etymologische und grammatische Verständnis, welches für das Geschäft des Übersetzens zentral ist, wesentlich beförderte. Vor diesem Hintergrund kann im Falle der Goldoni-Rezensionen für eine eigene Übersetzertätigkeit Friedrich Nicolais plädiert werden, selbst wenn der letzte Beweis für Nicolais Italienischkenntnisse damit noch nicht erbracht ist. 8 Vgl. Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz. – Diese Reise durch Süddeutschland und die Schweiz führte ihn 1781 von Berlin über Leipzig, Nürnberg, Regensburg, Passau, Wien, München, Augsburg, Ulm, Stuttgart, St. Gallen, Zürich, Straßburg, Heidelberg, Frankfurt, Göttingen, Hannover und Magdeburg zurück nach Berlin.

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Blick nehmen. Diese landeskundlichen und kulturellen Kenntnisse über Gebräuche und Gepflogenheiten einer Gemeinschaft fordert er auch für die Tätigkeit des Übersetzers ein. Des Öfteren wird in den Rezensionen auf deren Mangelhaftigkeit hingewiesen und der Autor zeigt auf, wie bedeutend diese für eine adäquate Übertragung sein können.9 Weit davon entfernt eine kohärente Übersetzungstheorie zu postulieren, setzt Nicolai mit einer vorbildlichen Übersetzung ausgewählter Passagen von Goldonis Komödien sein Übersetzungsverständnis gegen das Johann Christoph Gottscheds, auf diese Weise den Diskurs über eine Theorie der Übersetzung im 18. Jahrhundert weiter vorantreibend. Nicolais Übersetzungen erfüllen mehrere Funktionen. Sie sind eingebettet in eine kulturkritische, d. h. kulturrelativistische Perspektive: die italienischen Sitten und Gebräuche bilden für Nicolai einen notwendigen und unverzichtbaren Verstehenshintergrund der Komödien Goldonis. Die Übersetzung beinhaltet immer kulturpolitische Aspekte: Nicolais Übersetzungen illustrieren die literarische Praxis des preußischen Idioms, das im 18. Jahrhundert als allgemein anerkannte deutsche Hochsprache gegen die süddeutschen Dialekte, die sogenannte oberdeutsche Schreibsprache, durchgesetzt werden sollte.10 Die Übersetzung ist vor dem Hintergrund der territorialen Expansion und der Konsolidierung des preußischen Königreiches unter Friedrich II. auch als pädagogisches und identitätsstiftendes Moment im Hinblick auf die Herausbildung des preußischen Selbstbildes zu werten. Ein letzter Aspekt der Übersetzung Friedrich Nicolais ist deren Instrumentalisierung gegen Gottsched. Mit den Besprechungen und Übersetzungen der italienischen Lustspiele bezieht Nicolai Position auf dem Kampfplatz der Dramen- und Übersetzungstheorie der deutschen Aufklärer.

9 Vgl. dazu hier 5. Übersetzungskritik in der Besprechung von La Pamela. 10 Die Lager zwischen den Befürwortern der oberdeutschen Schreibsprache als einer zumindest für den süddeutschen Raum gültigen Norm findet ihre prominenten Vertreter u. a. in Antesperg, Sailer und Dornblüth, dessen Kritik an Gottscheds Vorstellung einer einheitlichen deutschen Sprache bereits unmissverständlich im umfangreichen Titel der von ihm 1755 in Augsburg publizierten Streitschrift zum Ausdruck kommt: Observationes oder gründliche Anmerckungen über die Art und Weise, eine gute Uebersetzung, besonders in die teutsche Sprach zu machen. Wobey die Fehler der bisherigen teutschen Ubersetzungen samt denen Ursachen solcher Fehleren, und daraus erfolgten Verkehrung der teutschen Sprach, aufrichtig entdeckt werden. Nebst einer zu disem Vorhaben unentpärlichen Critic über Herrn Gottschedens sogenannte Red-kunst und teutsche Grammatic, oder (wie er sie nennt) Grundlegung zur teutschen Sprache. Aus patriotischem Eyfer zur Verhütung fernerer Verkehrung und Schändung der ausländischen Bücheren. Darüber hinaus verweist der Titel auf die enge Verbindung von Sprachpflege und Übersetzungstheorie im 18. Jahrhundert.

114

2.

Saskia S. Wiedner

Das Vorwort – Aufruf zum Fremdverstehen und Beginn einer Querelle

Nicolai übernimmt für seine Besprechungen Goldonis Vorwort zum Ersten Band,11 bereitet es aber für die deutsche Leserschaft auf, indem er auf kulturelle Unterschiede sowie unterschiedliche Rezeptionsgewohnheiten verweist: »Es ist ein großer Unterschied, ob man diese Sachen [für das italienische Theater des 18. Jahrhunderts typische Gestalten wie die cavalieri di conversazione, die cavalieri di serventi oder die cicisbei sowie der Tod einer Figur auf der Bühne12] überhaupt und an sich, und in wiefern sie etwa auf dem deutschen Theater eine gute Wirkung thun möchten, und hingegen ob man sie bloß betrachtet, wie sie auf dem italiänischen Theater wirklich befindlich sind, und den Sitten des Landes gemäß, mit Beyfall aufgenommen werden.«13

So geht der Autor an dieser Stelle ausführlich auf die – nach deutschem (und französischem) Ermessen – groben Verstöße gegen die Wohlanständigkeit (frz. biens¦ance) und den guten Geschmack ein, um deutlich zu machen, dass es sich hier um Phänomene der italienischen Theaterkultur handelt, die vom dortigen Publikum durchaus nicht als Unschicklichkeiten betrachtet werden. Im Anschluss daran hebt Nicolai die moraldidaktische Absicht, die den Stücken Goldonis seiner Meinung nach innewohne, hervor und verbindet damit den Appell zur Ausbildung interkultureller Fähigkeiten in Form eines hermeneutischen Verstehens, das auf einem Perspektivenwechsel basiert: »Es ist gewiss, dass unser Goldoni, indem er sich hauptsächlich bemüht hat, die Thorheiten seines Landes auf den Schauplatz zu bringen, und dadurch die Sitten des Volkes zu verbessern, dieselben so genau geschildert hat, dass einem Leser, der zuerst seine Lustspiele lieset, nothwendig alles so fremde vorkommen muss, als einem Reisenden, welcher zuerst nach Italien kommt; im kurzen aber wird man des Eigenen und des Besonderen gewohnt, und lernet es aus dem Ausgangspunkte ansehen, aus welchem es der Verfasser geschildert hat. Ebenso geht es mit den Scenen, welche der Verf. nur bloß seiner Nation zu gefallen, in Lustspielen duldet; weil man sich in seine Stelle setzet, so wird man geneigt, sie auch zu dulden.«14

Seine Hinwendung zum Vorwort Il Mondo e il Teatro rechtfertigt Nicolai mit dem Unternehmen der Theaterreform, die Goldoni dort in Grundzügen zum Ausdruck bringe; hier erkläre Goldoni die »Art und Weise […] wie er das 11 Goldoni, Le Commedie del Dottor Carlo Goldoni, Bd. 1, S. 3 – 16. 12 Letzterer verstößt in besonderem Maße gegen die Regel der biens¦ance und den bon go˜t, die sowohl im französischen als auch im deutschen Kontext des 18. Jahrhunderts zu Leitprinzipien des sozialen Zusammenlebens avancieren. 13 Nicolai, Le Commedie del Dottore Carlo Goldoni […]. Erster Theil, S. 135. 14 Ebd., S. 135 f.

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italiänische Theater zu verbessern gesucht, und welche Ursachen ihn dazu bewogen haben«.15 Von besonderem Interesse ist in diesem Kontext nicht nur die Tatsache, dass Nicolai die Argumentation Goldonis aus Il Mondo e il Teatro zur Reform des italienischen Theaterwesens darstellt, sondern vor allem die Funktion, die Goldonis Vorwort hier zukommt. Nicolai positioniert Goldonis Schaffen mit Blick auf den deutschen Komödiendiskurs und nutzt diese Einschätzung, um subtil, aber dennoch für die Zeitgenossen eindeutig lesbar Kritik an Gottsched und seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730)16 zu üben. Zuerst stellt er fest, dass es Goldoni im Gegensatz zu Francesco Riccoboni17 gelungen sei, die »gesittete Komödie in seinem Lande einzuführen«.18 Nicolai wendet sich damit implizit gegen Riccobonis Forderung eines kontrollierten Schauspiels, das seiner Meinung nach nicht dazu beitrage, die moralischen Unsitten von den Bühnen zu verbannen. In einem zweiten Punkt wendet er sich gegen ein ästhetisches Konzept, das Schönheit in Abhängigkeit von einer sklavischen Einhaltung poetischer Regelhaftigkeit denkt und das darüber hinaus keine »Beautez de detail« anerkennen will.19 Unschwer lässt sich hier die Spitze gegen Gottscheds Vorstellung von Ästhetik (aber auch Ethik) entdecken, die sich in erster Linie über diese poetische Regelhaftigkeit definiert.20 Aus diesem Grund attestiert Gottsched den Übersetzungen zeitgenössischer englischer und 15 Ebd., S. 136. 16 Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst. 17 Francesco Riccoboni hatte 1750 eine Schrift mit dem Titel L’Art du th¦–tre veröffentlicht, in welcher er sich für die Konzeption eines kontrollierten Schauspiels einsetzt, d. h. der Schauspieler ist angehalten, die Empfindungen, die er ausdrückt, nicht selbst zu empfinden. Gotthold Ephraim Lessing übersetzt diese Schrift und publiziert sie unter dem Titel »Die Schauspielkunst«. Über diesen Weg kommt auch Nicolai mit den Ansichten Riccobonis über die darstellende Kunst in Kontakt und flicht sie in seine d¦fense für Carlo Goldoni ein. 18 Nicolai, Le Commedie del Dottore Carlo Goldoni […]. Erster Theil, S. 133. – Nicolai macht damit deutlich, dass es sich bei der gesitteten Komödie nicht um eine Frage der performativen Praxis handeln kann. 19 »Es giebt eine Menge Leute denen die Bekanntschaft mit einigen, vielleicht nicht einmal hinlänglich verstandenen Regeln, anstatt aller Empfindung ist; diese haben sich ein gewisses Vorbild gemacht, nach welchem sie alles in den schönen Künsten beurtheilen, und was damit nicht übereinstimmet, ohne Barmherzigkeit verdammen; sie nehmen es für ausgemacht an, daß die Deutschen wohl gethan haben, genaue Nachahmer der französischen Bühne zu werden, und sie können es den Engländern und Italiänern nicht vergeben, daß sie auf ihren Schauplätzen so viel originales beybehalten. Diese Leute werden ganz zuversichtlich schließen, dass ein Mann, der selten die Einheit der Zeit und des Ortes genau beachtet, ein herzlich schlechter Kopf seyn müsse; wenn sie finden, daß seine Plane [!] fehlerhaft sind, oder auch nur dass dieselben mit dem Begriffe, den sie sich von einem unfehlerhaften Plane gemacht haben nicht übereinstimmen, so werden sie sich zwingen, die Augen für alle Beautez de detail zuzuschließen« (Nicolai, Le Commedie del Dottore Carlo Goldoni […]. Erster Theil, S. 134). 20 Vgl. Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 715; sowie Huber, Studien zur Theorie des Übersetzens, S. 13.

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italienischer Literatur, wie beispielsweise den Übersetzungen der Werke Miltons und Marinos, einen negativen Einfluss auf die deutsche Sprache.21 Im Gegensatz dazu verweist Nicolai auf die Möglichkeit des Verstehens der italienischen Kultur durch die Literatur und betont damit Toleranz und Akzeptanz des kulturell Anderen als ein zentrales Anliegen der (Berliner) Aufklärung. Die Freilegung kulturspezifischer Aspekte eines Dramas durch Rezensionen und Übersetzungen lassen diese Bereiche zu wichtigen Reflexionsräumen europäischen Kulturverstehens und interkultureller Verständigung im 18. Jahrhundert werden.

3.

Nicolais Goldoni-Übersetzungen

Im Zuge der Rezensionen zu Goldonis Komödien fertigt Nicolai Übersetzungen ausgewählter Passagen des italienischen Originals an. Über die der Auswahl zu Grunde liegenden Argumente kann in diesem Rahmen nur spekuliert werden. Augenfällig ist jedoch, dass einige der übersetzten Passagen in ihrem Inhalt an die poetologische Debatte der Berliner Aufklärung anknüpfen. Friedrich Nicolai muss also zumindest für diese Übersetzungen eine – wenn auch subtile – Absicht unterstellt werden. Übersetzungen, bzw. Kritik an Übersetzungen aus Nicolais Feder finden sich in den Besprechungen folgender Lustspiele Goldonis aus der vierten Auflage der Bettinelli-Ausgabe:22 (Vorwort Il Mondo e il Teatro23); La Donna di garbo / dt. Die geschickte Frauensperson;24 I due Gemelli Veneziani / dt. Die zwei venezianischen Zwillinge;25 L’Uomo prudente / dt. Der kluge Mann;26 Il Theatro comico / dt. Das komische Theater ;27 Il Cavaliere e la dama / dt. Der

21 Darüber hinaus kritisiert Gottsched das fremdsprachige Original als nicht vorbildhaft; so beschreibt er z. B. Miltons Verse als »rauh und wild« (vgl. Huber, Studien zur Theorie des Übersetzens, S. 12). 22 Nicolai geht in seinen Besprechungen auch auf die 1761 erschienene Pasquali-Ausgabe ein. Anonym wurde sie im 7. Band der Bibliothek der Schönen Wissenschaften und freyen Künste angekündigt (vgl. [Anonymus]: Venedig. Herr Carl Goldoni, dieser italiänische Moliere […], S. 378 f.). In Band 10 erschien dann 1763 die Rezension der ersten vier Bände der PasqualiAusgabe (vgl. [Anonymus]: Opere di Carlo Goldoni, Avocato Veneto, Tomo I, Tom. II. […]). Hier übersetzt der Autor Auszüge aus Die verheiratete Pamela / Pamela maritata und aus Gli Innamorati / Die Verliebten, um – so der Hinweis – das Kolorit des Stückes zu illustrieren (vgl. ebd., S. 28 – 35). 23 Vgl. Nicolai, Le Commedie del Dottore Carlo Goldoni […]. Erster Theil, S. 142 f. 24 Vgl. ebd., S. 145 – 157. 25 Vgl. ebd., S. 157 – 177. 26 Vgl. ebd., S. 177 – 191. 27 Vgl. Nicolai, Commedie del Dottore Carlo Goldoni […]. Zweyter Theil, S. 303 – 318.

Deutsch-italienischer Kulturtransfer in der Berliner Aufklärung

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Cavalier und die Dame;28 La Pamela / dt. Pamela;29 Il Tutore / dt. Der Vormund;30 La Moglie amorosa / dt. Die zärtliche Gemahlin.31 Die Besprechung der Komödie La Donna di garbo / Die geschickte Frauensperson eröffnet Nicolai mit dem Kommentar, den Goldoni selbst zum Titel des Stückes gibt und dessen wichtigste Auszüge er nicht zuletzt deshalb ins Deutsche überträgt, um die Diskussion um den Titel und die Hauptfigur des Stückes nachzuzeichnen.32 So übersetzt denn auch Nicolai den Titel »La Donna di garbo«33 mit »Die geschickte Frauensperson« (it. donna accorta) und umgeht auf diese Weise die Vorstellung einer moralischen und sittlichen Vollkommenheit der Protagonistin, was weder dem Hauptcharakter des Stückes noch dem sozialen Stand der Kammerjungfer Rosaura entsprechen würde. Stattdessen legt die Übersetzung »Die geschickte Frauensperson« den Fokus auf Rosauras Fähigkeiten und Fertigkeiten, ihre soziale und rhetorische Intelligenz, die ihr letztlich den sozialen Aufstieg ermöglichen. Nicolai nennt zuerst das Personal der Komödie bevor er Aufzug um Aufzug zusammenfasst. Eingebettet in diese Resümees liegen die Übersetzungen. Auf diese Weise über den jeweiligen Kontext des Stückes informiert, lässt die Übersetzung den Leser in den Wortlaut der Szenerie eintauchen. Die erste übersetzte Passage in Die geschickte Frauensperson ist der Monolog Arlequins, der mit dem Kopfputz seiner Herrin Beatrice zugange ist und entzückt feststellt, dass Hauben und Bänder Wunder wirken und ihre Trägerin – sei sie auch noch so hässlich – in eine Schönheit verwandeln können: »Arl. O schön! o vortrefflich! Wessen ist dann das schöne Gesicht? Arlequins? Das kann nicht seyn! und doch bin ich wirklich Arlequin; aber dieß schöne Kopfzeug, diese schönen Galanterien machen, daß ich nicht wie Arlequin aussehe – – Nun merke ich das Ding, warum manche häßliche Weiber manchmal so schön aussehen, das macht das Kopfzeug, das Toppe, die Locken und die andern Possen, darum laufen wir Narren ihnen nach. Ebenso ists; ich bin Arlequin, und sehe nicht wie Arlequin aus: also, wann ein häßlich Thier, mit diesem Zeuge angeputzt ist, scheinet sie nicht mehr häßlich zu

28 Vgl. Nicolai, Le Commedie del Dottore Carlo Goldoni Avvocato Veneto. T. III., S. 107 f. 29 Vgl. Nicolai, Le Commedie del Dottore Carlo Goldoni Avvocato Veneto. Venezia & c. Tomo Quatro, S. 232 ff. 30 Vgl. Nicolai, ebd., S. 234 – 243. 31 Vgl. Nicolai, Le Commedie del Dottore Carlo Goldoni Avvocato Veneto. Venezia & c. Tomo sesto, S. 478 – 485. 32 Goldoni war vorgeworfen worden, dass Rosaura, seine Hauptfigur, nicht in vollem Umfang einer »donna di garbo« – in der Übersetzung Nicolais, einem »Frauenzimmer von Verdiensten, ein vollkommenes Frauenzimmer« – entsprechen würde. Wohl um einer ähnlichen Kritik seitens der deutschen Rezipienten entgegenzuwirken, greift Nicolai an dieser Stelle die Argumentation Goldonis auf. 33 Goldoni, Le Commedie del Dottor Carlo Goldoni, Bd. 1, S. 17.

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seyn. (Er besiehet sich im Spiegel) o welche Schönheit! welche Anmuth! welche Artigkeit! welcher Anstand!«34

Im Original heißt es: »Arl. Oh bello! oh grazioso! de chi À mai sto bel visto! de Arlecchin? oh, no pol esser ; eppur son Arlecchin: ma sta belle scuffia, ste belle galanterie fan che no paro Arlecchin: adess capisso perchÀ tante brutte femene, de quando in quando le comparisce belle; per causa della scuffia, del topÀ, dei rizzi, e de qualqu’altra bagatella, e nu alter gonzi, ghe correm drio: ecco qua. Mi son Arlecchin, e no paro Arlecchin, cos† qualch’brutta diavola co st’imbroi adoss la no par pi¾ brutta: oh, che bellezza! oh che grazia! oh che vezzo! oh che brio! [guardandosi nello specchio]«35

Neben der Übersetzung der Realia des zeitgenössischen weiblichen Kopfschmucks (scuffia – dt. Kopfzeug/Tuchhaube, galanterie – dt. Galanterien/ Schmuck, Bänder, topÀ – dt. Toup¦/Haarteil, rizzi [veralt.] – dt. Locken) wird das Augenmerk des Lesers auf die Goldonische Komik gelenkt, die sich hier im barocken Spiel von Schein und Sein, der dissimulatio, des Sich-Verkleidens und der Maskerade entfaltet, die auch Aspekte des doing gender mit einschließt. Bedeutend ist jedoch an dieser Stelle das subversive cross dressing, welches zugleich eine spielerische, beinahe Marivauxsche Umkehrung der sozialen Rollen möglich macht36 – immerhin ist es der Kopfputz seiner Herrin, mit dem Arlequin sich hier amüsiert. In dieser, wie in allen anderen Besprechungen der Komödien Goldonis spielt Arlequin – ganz im Sinne der im 18. Jahrhundert initiierten Reformbestrebungen an den deutschen Bühnen37 – eine Nebenrolle. 34 Nicolai, Le Commedie del Dottore Carlo Goldoni […]. Erster Theil, S. 149. 35 Goldoni, Le Commedie del Dottor Carlo Goldoni, Bd. 1, S. 37. 36 Vgl. dazu Marivaux Rollenspiele in L’„le des esclaves (UA 5. März 1725 im Hútel de Bourgogne). Arlequin übernimmt in Marivaux’ Komödie für eine Zeit die Rolle seines Herrn Iphicrate. Einen über den Tausch der sozialen Rolle hinausweisenden Wechsel zeigt Goldoni in La donna di garbo, indem Arlequin mit dem sozialen Status auch deren soziale Geschlechtermerkmale übernimmt. 37 Der Harlekin-Streit, der sogenannte ›Hanswurst-Streit‹, der zwischen Johann Christoph Gottsched und dem Übersetzer Marivaux’, Johann Christian Krüger, bzw. der Schauspielerin Friederike Caroline Neuber entbrannt war, drehte sich im Wesentlichen um die Frage der Zulässigkeit jener Spaßmacher, die besonders in den französischen Lustspielen und Harlekinaden von Alain-Ren¦ Lesages, Alexis Piron, Pierre-Carlet de Marivaux, Delisle de la DrevetiÀre zur zentralen Figur wurden. Gegen diese Position argumentiert Nicolai, wenn er den Schauspieler Joseph Stranitzky lobt, indem er dessen Umwandlung der bergamaskischen Arlecchino-Figur in einen salzburgischen Bauerntölpel mit dem Namen Hanswurst beschreibt: »Stranitzky wählte sich den Charakter und die Kleidung eines salzburgischen Bauren, dem er den schon vorher bekannten Namen Hanswurst gab, und damit das bergamaskische goffo [dt. Plumpheit, d. Verf.] des Arlekin, freilich ein groß Theil plumper, auszudrücken suchte. Er fand mit dieser Neuerung viel Beifall, und sie war in der Tat ein Schritt zur Verbesserung, weil wirklich der Charakter eines einfältigen und dabei possierlichen Bauern der Natur gemäß, und also mehreres Interesse fähig ist, als der bloße Charakter eines Narren, der Narrenstreiche macht, um sie zu machen« (Nicolai, Beschreibung

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Seine Possen und Scherze sind reines, zweckfreies Amüsement. Die politische und soziale Sprengkraft dieser Figur, die in der deutschen Aufklärung auf der Bühne besonders von Gottsched ungern gesehenen war, liegt in der Vielfalt ihrer Interpretationsmöglichkeiten. So wurde aus dem bunten, vorlauten, witzigen und immer von Hunger geplagtem Arlecchino der Commedia dell’arte bald eine zentrale und darüber hinaus beim europäischen Publikum beliebte Figur, die einerseits als Inbegriff barocker Freizügigkeit und karnevalesker Komik gilt, andererseits – besonders in den französischen Lustspielen des 18. Jahrhunderts – zum Sprachrohr des aufgeklärten Humanen wurde. Nicolai geht in seinen Besprechungen allerdings nicht auf die subversiven Möglichkeiten der Figur ein; in seiner Perspektive dient Arlequin lediglich dazu, dass Rosaura, der Hauptcharakter, wieder die Szene betreten kann.38 Auffällig ist, dass Nicolai die Figur nicht nach ihrem italienischen Vorbild Arlecchino, sondern nach ihrer französischen Ausprägung Arlequin nennt. Warum hier der französischen Variante der Vorzug vor der italienischen (oder gar der deutschen) gegeben wird, ist mit dem Topos der französischen Literatur und Kultur als Leitkultur des 18. Jahrhunderts zu erklären, die besonders in den zeitgenössischen bürgerlichen Schichten auf eine größere Akzeptanz als die italienische gestoßen ist. So kann daraus der Schluss gezogen werden, dass die Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste ihre Leserschaft in erster Linie aus dem preußischen Bürgertum rekurrierte. Außer in Goldonis Bravourstück Il servitore di due padroni / Der Diener zweier Herren, das Nicolai im Hinblick auf das verwandte französische Lustspiel Arlequin valet des deux Ma„tres (1718) und deren gemeinsame italienische Wurzeln erwähnt, tritt Arlequin wie auch alle anderen Zanni-Figuren der italienischen Theatertradition in den Besprechungen in den Hintergrund. Auf diese Weise wird eine Akzentverschiebung auf das bürgerliche Milieu sichtbar, die sich auch im sprachlichen Register der übersetzten Passagen nachweisen lässt.39 So verzichtet Nicolai nicht selten darauf, den mitunter sehr bildhaften einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 16, S. 568 f.). Die Neuerungen der HanswurstFigur zielen auf eine Wiedererkennungsmöglichkeit im wirklichen Leben, ein Komikkonzept, das auf Nachahmung basiert und das sowohl von MoliÀre als auch in der Folge von Lessing vertreten wurde. 38 »Durch eine lustige Nebenszene giebt der V. Gelegenheit, dass Rosaura wieder auf das Theater kommen muss« (Nicolai, Le Commedie del Dottore Carlo Goldoni […]. Erster Theil, S. 149). 39 Darüber hinaus sei an dieser Stelle angemerkt, dass es gerade das bürgerliche Milieu ist, in welchem sich die empfindsame Komödie entfaltet. Mit der Rücknahme der volkstümlichen Komik-Elemente in den Besprechungen und der Betonung des Bürgerlichen kommt Nicolai nicht zuletzt der Idee Lessings einer »wahren Komödie« nach, in welcher das Rührende der empfindsamen Komödie und volkstümliche Komik sich die Waage halten (vgl. dazu Fick, Lessing Handbuch, S. 72 ff.).

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und bisweilen pathetischen Ausdruck des Italienischen adäquat wiederzugeben, wie folgende Szene aus Die geschickte Frauensperson veranschaulicht: Beatrice und ihr Gatte Ottavio beschimpfen sich gegenseitig ob ihrer Spielsucht. Während Beatrice dem Kartenspiel frönt, vergnügt sich Ottavio mit dem Lotteriespiel und verliert mitunter beträchtliche Summen, die nun von Beatrice zum Anlass genommen werden, ihre eigene Spielsucht indirekt zu rechtfertigen, indem sie dem Gatten seinen Geldverlust vorwirft: »Beat.: In sei anni ch’io sono vostra moglie, m’avete mangiato fedici milla lire; ed ora vorreste consumare questi quattro stracci? Giuro al Cielo… Ott. Zitto: Sei anni, sedici mila lire; quattro stracci: Quattro, sei, e sedici; vado a giocar questo terno. (parte)«40

Nicolai übersetzt wie folgt: »Beat.: In sechs Jahren, daß ich eure Frau bin, habt ihr mir sechszehn tausend Lire verthan, und endlich werdet ihr noch diese vier Wände verzehren wollen. Ottav.: Still! Sechs Jahre; sechszehntausend Lire; vier Wände; vier, sechszehn, giebt eine vortreffliche gedritte Zahl, ich muß gleich gehen, und auf dieselbe in die Lotterie setzen.«41

Der Streit zwischen Beatrice und Ottavio wird von Nicolai nur in Auszügen wiedergegeben. Beatrices Text um den ersten Teil, in welchem sie sich in Rage redet kürzend, verzichtet die Übersetzung auch auf Beatrices pathetisches »Giuro al cielo…« ([Ich schwöre] Beim Himmel…; Übers. d. Verf.). Nicolai verlegt sich in der Auswahl des übersetzten Textes auf die berechtigte Klage der Ehefrau; den Soziolekt sowie ihre Beschimpfungen und Flüche lässt er, gemäß der Forderung nach Reinheit in der deutschen Literatursprache, unübersetzt. Ein weiteres Beispiel für die Unterschlagung der italienischen Kulturpraxis des Fluchens, findet sich in I due Gemelli Veneziani / Die zwey venezianischen Zwillinge. Die Handlung des Stückes bewegt sich um die zu schließende Ehe zwischen dem dummen Zanetto Bisognosi und Rosaura, die im Hause des Doktors Balanzoni aufgewachsen, tatsächlich die Schwester der Zwillinge Zanetto und Tonino Bisognosi ist. Zanetto will Rosaura sogleich an Ort und Stelle zu seiner Frau zu machen, ohne den Gepflogenheiten der ehelichen Werbung zu Ehren der Braut und des Brauthauses nachzukommen. Er wird zudringlich und Rosaura wehrt sich. Unschicklich für deutsche Ohren des 18. Jahrhunderts klingen die Worte der jungen Braut Rosaura: »Ros. Ma che diavolo! Non potete aspettar un giorno?«,42 die Nicolai geschickt ins das angemessene Register 40 Goldoni, Le Commedie del Dottor Carlo Goldoni, Bd. 1, S. 63. 41 Nicolai, Le Commedie del Dottore Carlo Goldoni […]. Erster Theil, S. 151. 42 Goldoni, Le Commedie del Dottor Carlo Goldoni, Bd. 1, S. 120. »Ma che diavolo!« gehört

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überträgt: »Ros. Aber, mein Gott! können Sie denn nicht einen Tag warten?«43 Zugleich verzichtet der Übersetzer darauf, die Signale der gesprochenen Sprache wiederzugeben, sprachliche Wendungen, die wohl nach seiner Ansicht nicht zum Wortschatz einer jungen Dame aus bürgerlichem Hause gehören sollten. Das für seine große Bandbreite an Flüchen bekannte gesprochene Italienisch wird in die zeitgenössische hochdeutsche Schriftsprache, das ObersächsischMeißnische übertragen und diese damit als deutsche Literatursprache postuliert. Die Vitalität der Szenerie und der italienischen Figuren geht somit in Teilen verloren. Auch der Charakter des Unmittelbaren und – für italienische Verhältnisse – Natürlichen, das Goldonis Lustspiele als Erbe des teatro all’improvviso in sich bergen, wird durch diese Glättungen aufgegeben.

4.

Dialekte in den Übersetzungen und Programmtheater

Ein weiterer Aspekt der in Nicolais Besprechungen ausgeblendeten italienischen Spezifika findet sich in der konsequenten Nicht-Übersetzung des von Goldoni vorwiegend verwendeten venezianischen44 und des lombardischen Dialekts. Zanetto Bisognosi, der ungestüme Bräutigam aus I due gemelli veneziani, spricht Venezianisch, durchsetzt mit Lombardischen Einsprengseln. Für den Kontext der Übersetzung bedeutsam ist die kulturelle und soziale Kodierung dieser Koine. Sprachgeschichtlich ist das Venezianische zunächst eng an die Reputation und das Prestige der Signoria gebunden. Als lingua franca übt es in der Frühen Neuzeit einen großen Einfluss auf die Handelssprache aus. In Goldonis Lustspielen ist das Venezianische die Sprache der Handelsleute und der venezianischen Bürger. Das Lombardische gilt (bis heute) als ein Ausdruck schlechter Bildung und niederer sozialer Herkunft. Es wird in der Südschweiz und den angrenzenden norditalienischen Gebieten gesprochen. In Goldonis Komödien sind es die Diener und Zanni-Figuren, die diesen Dialekt sprechen. Im Topos des dümmlichen, einfältigen und gefräßigen Dieners, der aus der Provinz Bergamo stammt, kulminieren die Eigenschaften dieses Typus. Der Dialekt Zanettos macht es dem italienischen Publikum sofort möglich, diese Figur sozial einzuordnen. Zanetto gehört strukturell zu den Zanni-Figuren und ist mit den entsprechenden Eigenschaften ausgestattet: er ist dumm, tölpelhaft und allein auf die Befriedigung seiner vitalen Bedürfnisse bedacht. Im Stück dem gesprochenen Italienisch an und wäre zu übersetzen mit »(Zum) Teufel noch mal!« [Übers. d. Verf.]. 43 Nicolai, Le Commedie del Dottore Carlo Goldoni […]. Erster Theil, S. 163. 44 Vgl. dazu ebd., S. 144: »Die Rollen und ganze Lustspiele, welche er in dem venezianischen Dialekt geschrieben hat, hat er, wo sie einem, der diesen Dialekt nicht völlig inne hat, unverständlich werden, durch kleine Anmerkungen erläutert.«

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stellt sich heraus, dass er der Sohn des wohlhabenden venezianischen Kaufmanns Pantalon ist, der vom Vater weggegeben und in Bergamo bei einem Vetter erzogen wurde. Der Ort verrät sofort alles über das Erziehungsprogramm und die Szene mit Rosaura bestätigt dieses Vorurteil. Auf den venezianischen Dialekt verweist Goldoni (wie auch Nicolai) neben dem Vorwort45 auch ausdrücklich in seinem Stück Il Teatro comico (1750 – 51), einem Metatheater, dessen paratextuelle Funktion im Vorwort unterstrichen wird: »Der Verfasser [Goldoni] sagt in dem seiner Gewohnheit nach vorangesetzten Schreiben an den Verleger, daß dieses Stück nicht so wohl Lustspiel, sondern vielmehr als eine Vorrede zu seinen Lustspielen anzusehen sey. Er habe in demselben alle die Fehler angezeiget, welche er zu vermeiden gesucht, nebst den Gründen, worauf sich seine Art, Lustspiele zu verfertigen, stütze.«46 Einige kulturspezifische Urteile Goldonis lässt Nicolai hingegen weg,47 wie z. B. Orazios Lob der italienischen Theaterkunst in Il Teatro comico. Im Stück entspinnt sich eine Diskussion darüber, ob das Extemporieren – ein Charakteristikum des italienischen Theaters – zu Gunsten der schriftlich fixierten Rolle abgeschafft werden sollte. Nicolai übersetzt zwar den ersten Satz des Monologes 45 »Er [Goldoni] entschuldigt sich zuletzt wegen der lombardischen und anderer untoskanischer Redensarten, welche er öfters hat brauchen müssen; die Rollen und ganze Lustspiele, welche er in dem venezianischen Dialekt geschrieben hat, hat er, wo sie einem, der diesen Dialekt nicht völlig inne hat, unverständlich werden, durch kleine Anmerkungen erläutert« (ebd., S. 144). 46 Nicolai, Commedie del Dottore Carlo Goldoni, Avvocato Veneto […]. Zweyter Theil, S. 303. Mit Il Teatro comico, das als Verteidigung auf die Angriffe seiner Theaterreform entstanden ist, folgt Goldoni dem Vorbild von MoliÀres L’Impromptu de Versailles, mit welchem sich dieser 1663 in der Querelle de l’Êcole des femmes zur Wehr setzte. Im Falle MoliÀres handelte es sich zwar nicht in dem Sinne um eine Theaterreform, wie Goldoni sie anstrebte, doch hat er in der Êcole des femmes den Versuch unternommen, eine weibliche Hauptfigur zu formen, die ihr Recht auf den Gatten ihrer Wahl durchsetzt. Dieses Plädoyer für die Liebesheirat hatte MoliÀre heftige Anfeindungen eingebracht, die er mit dem Stegreifspiel – sehr zum Vergnügen Louis XIV. – zu parieren suchte. 47 Interessant ist dahingehend auch, dass in der vierten Ausgabe der Bettinelli-Ausgabe lediglich die Rollen der Schauspieler aufgelistet werden, andere Ausgaben hingegen sowohl die Figur (sie entspricht dem Schauspieler) als auch die von dieser im Stück übernommene Rolle und gesprochenen Koine angeben. – Vgl. hierzu u. a. die von Giuseppe Ortolani herausgegebene kritische Gesamtausgabe des Goldonischen Œuvres, die in der Reihe »I Classici Mondadori« unter dem Titel Tutte le opere di Carlo Goldoni im Mailänder Verlagshaus Arnoldo Mondadori 1935 – 1956 in vierzehn Bänden erschien. Diese Ausgabe stützt sich in Teilen auf die Edizione Bettinelli (Venedig 1750), nicht ohne die Abweichungen der Ausgaben Paperini (Florenz 1753) und Pasquali (Venedig 1767) zu berücksichtigen; letztere von Goldoni in Frankreich durchgesehen und hernach von Zatta Venedig 1788 – 1795 als Opere teatrali wieder aufgelegt. Hier wird im Hinblick auf die Figuren Tonino (Pantalone), Anselmo (Brighella) und Gianni (Arlecchino) darauf verwiesen, dass »I tre Personaggi segnati colla * parlano il linguaggio veneziano, mescolato di qualque voce lombarda.« Goldoni, Tutte le opere, Bd. II, S. 1047. »Die drei mit * gekennzeichneten Figuren sprechen Venezianisch, durchsetzt mit einigen lombardischen Wörtern« [Übers. d. Verf.].

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Orazios, klammert aber die nachfolgende Franzosenschelte und das darüber gesungene Lob der italienischen Schauspielkunst aus, wie die nachfolgende Passage des italienischen Originals zeigt: »Oraz.: Intieramente no; anzi va bene, che gl’Italiani si mantengano in possesso di far quello, che non hanno avuto coraggio di far le altre Nazioni. I Francesi sogliono dire, che i Comici Italiani sono temerari, arrischiandosi a parlare in pubblico all’improvviso; ma questa, che puý dirsi temerit— nei Comici ignoranti, À una bella virt¾ de’ Comici virtuosi; e ci sono tuttavia de’ Personaggi Eccellenti, che ad onor dell’Italia e a gloria dell’arte nostra, portano in trionfo con merito, e con applauso l’ammirabile prerogativa di parlare a sogetto, con non minore eleganza di quello che potesse fare un poeta scrivendo.«48 »Ottavio [!]: Nein nicht gänzlich, dann sie [die extemporierten Komödien] machten doch einen Vorzug aus, den das Italiänische Theater vor den Theatern anderer Nationen hätte.«49

Nicolai schreibt nicht nur »Ottavio« anstelle von »Orazio«, sondern verzichtet auch darauf, den folgenden Teil des Monologs zu übertragen: »Die Franzosen pflegen zu behaupten, dass die italienischen Schauspieler wagemutig sind. Sie wagen es öffentlich zu improvisieren. Aber was die unwissenden Schauspieler als Kühnheit bezeichnen, ist für die Meister ihres Faches eine schöne Tugend. Und sie [sc. die italienischen Schauspieler] sind dennoch ausgezeichnete Persönlichkeiten, welche zur Ehre Italiens und zum Ruhm unserer Kunst, verdienstvoll und unter Beifall triumphierend, die bewundernswerte Gabe, einen Text zu improvisieren, mit nicht weniger Eleganz zeigen als sie ein Theaterdichter mit der Feder an den Tag legen könnte.« [Übers. d. Verf.].

Nicolai versäumt es am Ende der fünfzehn Seiten langen Besprechung nicht, auf den poetologischen Charakter des Stückes zu verweisen, der, so der Rezensent, in all seinen Feinheiten in der hier gebotenen Kürze nicht wiederholbar sei und der adäquat auch nur dann verstanden werden könne, wenn eine genaue Kenntnis des italienischen Diskurses über das Theater vorliege.50 Dennoch kommt dieser Besprechung, die den Leser über die wichtigsten Neuerungen auf den italienischen Bühnen informiert und ihm Einblicke in den dortigen Diskurs 48 Goldoni, Le Commedie del Dottor Carlo Goldoni, Bd. 2, S. 40 f. 49 Nicolai, Commedie del Dottore Carlo Goldoni, Avvocato Veneto […]. Zweyter Theil, S. 313. 50 »In diesem Stücke hat unser Verfasser [Goldoni] sein Lehrgebäude von der Komödie entwerfen und sich zugleich wider einige Vorwürfe, welche ihm waren gemacht worden, zu vertheidigen gesucht. Er hat noch viele kleine Vertheidigungen, und andere Satiren wider die Fehler der alten extemporirten Lustspiele, und die Fehler der Schauspieler selbst mit einfließen lassen, welche aber theils ohne eine genaue Kenntnis des itzigen Italiänischen Theaters, nicht gänzlich können verstanden, theils sich der Kürze wegen in diesem Auszug nicht haben bringen lassen. Genug, daß man daraus mit Zusammenhaltung der vorigen Stücke meist ganz übersetzten Vorreden zum ersten Theile, dessen Gedanken von der Komödie deutlich wird einsehen können« (ebd., S. 318).

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gewährt, bereits aufgrund ihres Seitenumfangs eine zentrale Position in der Rezension von Goldonis Lustspielen zu.

5.

Übersetzungskritik in der Besprechung von La Pamela

Elf Jahre nach Richardsons Erfolgsroman Pamela (1739 – 40) schreibt Goldoni 1751 eine Bühnenfassung des Pamela-Stoffes und importiert somit einen der wirkungsreichsten Stoffe der empfindsamen Literatur in das kulturelle Feld Italiens des 18. Jahrhunderts.51 Der hohe Bekanntheitsgrad des Stoffes ist für Nicolai Anlass, auf eine ausführlichere Besprechung des Stückes zu verzichten. So findet der Leser unter dem Stichwort La Pamela / Pamela lediglich den kurzen Hinweis: Es ist unnöthig den Inhalt dieses Stückes anzuführen, da die Geschichte der Pamela iedermann bekannt, und von demselben kürzlich eine deutsche Uebersetzung herausgekommen ist, woraus man näher ersehen kann, worinn der Verfasser von der Geschichte abgegangen ist. Das hauptsächlichste ist, daß am Ende Andrews, der Vater der Pamela für einen Grafen erkannt wird, welches aber unsers Erachtens nicht wohl angebracht ist.52

Übersetzungstheorie heißt in der der Aufklärung vor allem Kritik an der vorgefundenen Übersetzungspraxis. In diesem Sinne platziert Nicolai zum Stichwort »Übersetzung« eine Fußnote, die in aller Ausführlichkeit über die eklatanten Mängel der jüngst erschienenen deutschen Übersetzung in Fallbeispielen informiert. Hauptpunkt der Übersetzungskritik Nicolais ist neben einem Mangel an Geschmeidigkeit die mangelnde Sprachkenntnis des Übersetzers: »Es fehlt sehr viel, daß diese Uebersetzung so gut seyn sollte, als die im vorigen Stücke angeführte Uebersetzung des Lustspiels Il Cavaliere e la Dama. Man findet deutliche Spuren, daß der Uebersetzer der Pamela der italiänischen Sprache nicht mächtig genug sey, und er hat auch öfters ziemlich steif und unangenehm übersetzt.«53

Dann folgen Beispiele von Fehlübersetzungen, die z. T. der Unkenntnis des Italienischen geschuldet sind und/oder auf Nichtkenntnis der englischen Kultur beruhen wie folgender Auszug zeigt: »In dem zwanzigsten Auftritte wird Mylord Curbrech genöthiget Thee zu trinken, und antwortet: Il TÀ non si rifiuta (den Thee schlägt man nicht aus); und der Übersetzer schreibt: Der Thee giebt keine 51 Die aktuelle Goldoni-Forschung stellt im Hinblick auf Goldonis Pamela-Adaption die Frage, ob der Autor mit diesem Stück die empfindsame Literatur in Italien etablieren oder sie kritisieren wollte (vgl. dazu Angela Oster, Goldonis ›La Pamela‹, S. 25). 52 Nicolai, Le Commedie del Dottore Carlo Goldoni Avvocato Veneto. Venezia & c. Tomo Quatro, S. 232 f. 53 Ebd.

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Kräfte.«54 Die schlechten Übersetzungen europäischer Werke sind Nicolai generell ein Dorn im Auge.55 So schimpft er wortreich über »[k]ahle Uebersetzungen französischer Trauerspiele, deren Tiraden in lendenlahmen deutschen Versen einherhinkten; höchst steife und holprigte Uebersetzungen französischer, engländischer und italiänischer Lustspiele, worin öfters nicht einmal der Wortverstand richtig war ; höchst elende Originale, wie z. B. die Gräfin Tarnow oder Karl V. in Afrika, mußten notwendig Verdruß und Langeweile erwecken.«56

6.

Gedanken zum Übersetzungsverständnis bei Friedrich Nicolai

Obwohl Nicolai keine kohärenten Aufzeichnungen bezüglich seiner Vorstellung des rechten Übersetzens hinterlassen hat, ist es doch möglich, aus den wenigen übersetzten Passagen der Goldoni-Rezension, seinen kritischen Anmerkungen sowie seinen Ausführungen zum Übersetzen im Roman Sebaldus Nothanker einige wichtige Punkte seines Übersetzungsbegriffs zu skizzieren: Die Übersetzung ist für ihn – entgegen den zeitgenössischen Moden – kein Produkt, das kommerziell hergestellt werden kann. Der Übersetzer muss ein ausgewiesener Kenner nicht nur der fremden Sprache, sondern auch ihrer Kultur sein. Ausgehend von dem, was Doris Bachmann-Medick einen »innereuropäischen Fremdheitshorizont«57 nennt, muss der Übersetzer versuchen, auf fremdkulturelle Spezifika als solche aufmerksam zu machen, bzw. diese zu erklären, wenn sie nicht übersetzt werden können. Dass Nicolai mitunter eben diese Spezifika in seinen Übersetzungen unterschlägt, heißt allerdings auch, dass eine wortgenaue Übertragung des fremdsprachigen Textes nicht nur nicht immer möglich, sondern mitunter gar nicht wünschenswert ist. Der Übersetzer muss folglich eine sprachliche Form wählen, welche die begriffliche Exaktheit und die erzieherische Absicht zu Gunsten einer »regel-rechten«58 Übersetzung nicht aufgibt. Nicolais Übersetzungen sind homogene Texte, die in ihren sprachlichen Qualitäten die Ideale der Sprachreflexion des 18. Jahrhunderts illustrieren: »Deutlichkeit«, »Reichtum« und »Reinigkeit«.59 Aufgabe des Übersetzers ist es, 54 Ebd., S. 233. 55 Besonders die ungelenken und falschen deutschen Übersetzungen italienischer Komödien aus der Feder des gebürtigen Spaniers Salazar für die Deutsche Schaubühne zu Wien werden zur Zielscheibe seines Spotts (vgl. Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 16, S. 573, Anm. 1). 56 Ebd., S. 573. 57 Bachmann-Medick, Von der Poetik und Rhetorik des Fremden, S. 153. 58 Huber, Studien zur Theorie des Übersetzens, S. 48. 59 Vgl. dazu Leweling, Reichtum, Reinheit und Glanz, S. 122.

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die Erkenntnisfunktion der deutschen Sprache in der Übersetzung durch Eindeutigkeit, Grammatizität und die Angemessenheit des sprachlichen Ausdrucks zu zeigen und damit die deutsche Sprache als eine den anderen europäischen Sprachen (und Kulturen) ebenbürtige an die Seite zu stellen. Darüber hinaus sieht Nicolai in den Besprechungen der Komödien Carlo Goldonis auch die Möglichkeit, das deutsche Publikum mit bisher nicht kanonisierten Werken der europäischen Literatur bekannt zu machen. Er trägt damit zu Lessings Versuch bei, das italienische Theater gegen die von Gottsched vorgebrachten Mängel zu verteidigen und die italienische Komödie (wie auch die englische) in den Augen des deutschen Rezipienten zu rehabilitieren.60 Die Perspektivierungen, die Nicolai in seinen Besprechungen vornimmt, welche durch die Betonung gefühlsbetonter Stoffe ein Gleichgewicht zwischen Empfindsamkeit und volkstümlicher Komik anstreben, verhelfen dazu, Goldonis Komödien als Beispiele für die von Lessing postulierte »wahre Komödie« zu etablieren und damit dem Komödienideal einer moralinsauren Erziehungsanstalt, für das Gottsched sich engagierte, die Stirn zu bieten. Nicolais Übersetzertätigkeit ist auf keinen Fall isoliert zu betrachten, sondern muss im Kontext von Lessings Ausführungen zu diesem Thema gesehen und beurteilt werden. Lessing fordert universelle Kenntnisse von einem Übersetzer, wie aus seiner Kritik an den Horaz-Übersetzungen Samuel Gotthold Langes oder an den Übersetzungen des Johann Jakob Dusch herauszulesen ist.61 Die Übersetzung muss, um den Begriff und den Sinn des Originals zu erhalten, über dieses hinausgehen können. Also besteht nach Lessing die Aufgabe des Übersetzers in »der Herstellung einer begrifflichen Analogie von Original und Übersetzung«.62 Kritik an der zeitgenössischen Übersetzungspraxis übt Lessing in seinen Briefen, die neueste Litteratur betreffend: »Unsere Übersetzer verstehen selten die Sprache; sie wollen sie erst verstehen lernen; sie übersetzen, sich zu üben, und sind klug genug, sich ihre Übungen bezahlen zu lassen. Am wenigsten sind sie vermögend, ihrem Originale nachzudenken. Denn wären sie hierzu nicht ganz unfähig, so würden sie es fast immer, aus der Folge der Gedanken abnehmen können, wo sie jene mangelhafte Kenntnis der Sprache zu Fehlern verleitet hat.« (IV, 28)63 60 Lessing, Vorrede zur Theatralischen Bibliothek (1754), in: ders., Werke, Bd. 4, S. 10. – Vgl. dazu auch Fick, Lessing Handbuch, S. 72 f. 61 Vgl. Huber, Studien zur Theorie des Übersetzens, S. 47. – Vgl. dazu Lessings Kritik an Samuel Gotthold Langes Horaz-Übersetzungen: »Lessings Kritik an Lange ist am schärfsten, wenn er sich auf die sachlichen Missverständnisse einlässt, die zu krassen Fehlübersetzungen Anlass geben. Er fordert universale Kenntnisse von einem Übersetzer […]« (zu J. J. Dusch vgl. ebd., S. 49 f). 62 Ebd., S. 48. – Lessing spricht sich mit seiner Forderung nach einer begrifflichen Übersetzung gegen die Position Gottscheds aus, der eine formale Übersetzung befürwortet. 63 Ebd., S. 51.

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Friedrich Nicolai ist aus der Perspektive Lessings als ein vorbildlicher Übersetzer zu bezeichnen. Nicht nur die deutsche (Literatur-)Sprache soll in Nicolais Übersetzungen in ihrer Qualität beispielhaft dargestellt werden, es wird auch eine deutsche Hochsprache öffentlich ausgewiesen, wie aus der breiten Wirkung der Bibliothek der schönen Wissenschaften hervorgeht, auf welche auch Habermas in Strukturwandel der Öffentlichkeit verwiesen hat.64 In Nicolais GoldoniBesprechungen liegen uns adaptierte Versionen der italienischen Lustspiele vor, die nicht nur auf die Belange und Ansprüche des aufstrebenden preußischen Bürgertums zugeschnitten sind, sondern die vor allem das Bemühen um die deutsche Sprache darstellen, diese durch eine aufgeklärte Übersetzungskultur zur universalen Kultur- und Literatursprache zu machen.

64 Bereits Habermas verweist auf die Wirkung der literaturkritischen Journale Nicolais (vgl. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 104, Anm. 33).

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7.

Bibliographie

7.1

Quellen

[Anonymus]: Opere di Carlo Goldoni, Avocato Veneto, Tomo I, Tom. II. p. 307. Tom. III. p. 312. Tom. IV. p. 369. in Venezia 1761. per Giambatista Pasquali. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 10 (1763), 1. St., S. 9 – 40. [Anonymus]: Venedig. Herr Carl Goldoni, dieser italiänische Moliere hat im Monat April des vorigen Jahres 1761. ein Avertissement zu einer neuen sehr vollständigen Ausgabe aller seiner theatralischen Werke, und scherz- und ernsthafter Poesien angekündiget […]. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 7 (1762), 2. St., S. 378 f. Dornblüth, Augustin: Observationes oder gründliche Anmerckungen über die Art und Weise, eine gute Uebersetzung, besonders in die teutsche Sprach zu machen. Wobey die Fehler der bisherigen teutschen Ubersetzungen samt denen Ursachen solcher Fehleren, und daraus erfolgten Verkehrung der teutschen Sprach, aufrichtig entdeckt werden. Nebst einer zu disem Vorhaben unentpärlichen Critic über Herrn Gottschedens sogenannte Red-kunst und teutsche Grammatic, oder (wie er sie nennt) Grundlegung zur teutschen Sprache. Aus patriotischem Eyfer zur Verhütung fernerer Verkehrung und Schändung der ausländischen Bücheren. Augsburg 1755. Goldoni, Carlo: Le Commedie del Dottor Carlo Goldoni. Avvocato Veneto, Fra Gli Arcadi Polisseno Fegejo. 9 Bde. Venedig 1753 – 1757. Goldoni, Carlo: Tutte le opere di Carlo Goldoni. Bd. 2. Hg. v. Giuseppe Ortolani. Verona 1973. Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer kritischen Dichtkunst vor die Deutschen darinnen erstlich die allgemeinen Regeln der Poesie […]. Leipzig 1730. Lessing, Gotthold Ephraim: Werke. Bd. 4. Hg. v. Herbert G. Göpfert. München 1973. Marivaux, Pierre Carlet de Chamblain de: L’£le des esclaves, com¦die. 2 Bde. Paris 1994 f. [EA 1725]. Nicolai, Friedrich: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten. 12 Bde. Berlin u. Stettin 1783 – 96. In: ders.: Gesammelte Werke. Reprintausgabe. Hg. v. Bernhard Fabian u. Marie-Luise Spieckermann. 24 Bde. Hildesheim [u. a.] 1985 – 2006. Nicolai, Friedrich: Le Commedie del Dottore Carlo Goldoni Avvocato Veneto fra gli Arcadi Poliffeno Fegejo […]. Erster Theil. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 2 (1757), 1. St., S. 133 – 199. Nicolai, Friedrich: Commedie del Dottore Carlo Goldoni, Avvocato Veneto […]. Zweyter Theil. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 2 (1758), 2. St., S. 303 – 336. Nicolai, Friedrich: Le Commedie del Dottore Carlo Goldoni Avvocato Veneto. T. III. […]. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 3 (1758), 1. St., S. 106 – 118. Nicolai, Friedrich: Le Commedie del Dottore Carlo Goldoni Avvocato Veneto. Venezia & c. Tomo Quatro 242 Seiten, Tomo Quinto 280 Seiten […]. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 3 (1758), 2. St., S. 227 – 245.

Deutsch-italienischer Kulturtransfer in der Berliner Aufklärung

129

Nicolai, Friedrich: Le Commedie del Dottore Carlo Goldoni Avvocato Veneto. Venezia & c. Tomo sesto, 288 Seiten, Tomo settimo, 287 Seiten […]. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 4 (1758), 1. St., S. 487 – 489. Nicolai, Friedrich: Le Commedie del Dottore Carlo Goldoni, Tomo Ottavo 304 Seiten, Tomo Nono 260 Seiten […]. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 4 (1759), 2. St., S. 767 – 776. Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Kritische Ausgabe. Hg. v. Bernd Witte. Stuttgart 1991 [EA 1773 – 76]. Riccoboni, Francesco: L’art du th¦–tre suivi d’une lettre de M. Riccoboni fils — M***, au sujet de l’art du th¦–tre. Genf 1971 [EA 1751].

7.2

Sekundärliteratur

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Sektion II: Zivilisations-Kritik

Erdmut Jost

»Gerechte Lobsprüche«. Zur positiven Zeitschriften-Rezeption von Friedrich Nicolais Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Kontext einer sich wandelnden Poetik der Reisebeschreibung 1783 – 1796 Lässt man die Forschung zu Friedrich Nicolais zwölfbändiger Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781 der letzten 30 Jahre Revue passieren, so fällt vor allem eines auf: die Dominanz negativer Urteile. Von einem »Monsterwerk«1 ist da die Rede, das seinen Leser durch »monumentale Öde«2 überfordere und zugleich den »Zerfallsprozess«3 des Reiseberichts der Spätaufklärung einläute. Der Autor selbst erscheint als »Aufkläricht«,4 dessen »spezifische Borniertheit«5 und »Verstocktheit«,6 kombiniert mit der »verdriessliche[n] Metaphysik des Besserwissers«,7 verdientermaßen den Hohn und Spott Fichtes, Kants, Schillers und Goethes auf sich ziehe und der insbesondere mit seinen Ausfällen gegen den Idealismus im elften Band der Reisebeschreibung »das Ende seiner Laufbahn als geachteter Publizist«,8 Philosoph und Aufklärer besiegelt habe. Glaubt man der Forschung, dann war es jedoch nicht nur die erste Garde der literarischen Intelligenz, die Nicolai zu Fall brachte, sondern, mit Andreas Bürgi, ein ganzes Heer von »unbekannte[n] Personen«, deren »ungezählte […] Klagen und Beschwerden«9 dazu beitrugen, nach und nach eine breite Front öffentlichen Missfallens zu erzeugen. Die angenommene negative Rezeption der Nicolaischen Reisebeschreibung entbehrt zwar nicht der Grundlage, resultiert aber wesentlich aus dem Faktum, dass von der Forschung bislang ausschließlich jene Literatur untersucht wurde, welche im Kontext der zahlreichen publizistischen Fehden wie der Garve-, der Lavater-Sailer- oder der

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Piechotta, Erkenntnistheoretische Voraussetzungen der Beschreibung, S. 98. Bürgi, Weltvermesser, S. 55. Ebd. Ebd., S. 44. Schmidt-Biggemann, Nicolai oder vom Altern der Wahrheit, S. 243. Ebd., S. 244. Bürgi, Weltvermesser, S. 59. Ebd., S. 43. Ebd.

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Horen-Kontroverse entstand, die Nicolai sowohl inner- als auch außerhalb seiner Reisebeschreibung führte. Tatsächlich aber trifft die Forschungsmeinung, dass es, bis auf wenige Ausnahmen,10 keine positive zeitgenössische Rezeption der Reisebeschreibung Nicolais gegeben habe, nur für die Spätphase der Kritik zu, die zweite Hälfte der 1790er Jahre. Davor konnte sich der Autor, was bisher übersehen wurde, auf die allgemeine Zustimmung gerade des Feldes verlassen, dessen prominentester Vertreter er war : die Zeitschriftenöffentlichkeit der Epoche. Im Folgenden möchte ich versuchen, diesen positiven Rezeptionsstrang nachzuzeichnen. Es wird zu zeigen sein, dass der Erfolg der Nicolaischen Reisebeschreibung bei der aufklärerischen publizistischen Kritik entscheidend darin begründet lag, dass Nicolai – zumindest für eine knappe Dekade – in der Lage war, den neuen Typus eines aufgeklärten Deutschlandreisenden idealiter zu verkörpern, wobei er gleichzeitig für einen steten Fluss marktgängiger, sensationeller Nachrichten sorgte. Mit dem Aufkommen einer neuen, subjektiven Reisebeschreibung und, in deren Gefolge, der Ablehnung des absoluten Wahrheitsanspruches, wie ihn Nicolai vertreten hatte, geriet sein Projekt jedoch mehr und mehr ins Kreuzfeuer der Kritik.

1.

Nicolais Reise-Programmatik im Kontext des Diskurses der Deutschlandreise

Anfang der 1780er Jahre entwickelt sich in Zeitschriften wie z. B. der Deutschen Monatsschrift, dem Teutschen Merkur oder dem Reisenden ein Diskurs über das ›richtige‹ Reisen innerhalb Deutschlands. Er beruht wesentlich auf der Tradition der Apodemik und des gelehrten, enzyklopädisch-statistischen Reiseberichts, allerdings mit dem Unterschied, dass er die Reisetätigkeit der Deutschen, die sich bis dato in erster Linie auf Frankreich, England und Italien richtete, auf die eigene Nation umlenken will. Reisen, im aufklärerischen Sinne verstanden als das zentrale Mittel der Welt- und Menschenkenntnis, soll nicht mehr der Erforschung fremder Völker, sondern dem Kennenlernen der eigenen Kultur dienen. Der neue Reisediskurs ist Teil der seit den 1750er Jahren virulenten Debatte um einen deutschen Nationalcharakter, die v. a. in den literarisch-kulturellen und gelehrten Zeitschriften der Epoche geführt wurde11 und deren Protagonisten z. B. Justus Möser, Johann Gottfried Herder und Christoph Martin Wieland waren. Seit der zweiten Hälfte der 1770er Jahre hatte diese Auseinandersetzung eine entscheidende Wende genommen: Wurde vordem die Rück10 Ebd., S. 44 u. S. 179. 11 Vgl. Jost, Auf der Suche nach einer »Nationallehre der Deutschen«.

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ständigkeit Deutschlands gegenüber seinen westeuropäischen Nachbarn auf den sozialen, politischen und kulturellen deutschen Partikularismus, auf das Fehlen zentraler Kulturinstanzen zurückgeführt, so deutete man nun gerade diesen Partikularismus oder Provinzialismus zum entscheidenden Kulturvorteil um.12 »Aber alle diese Nachtheile unserer Staatsverfassung«, notiert etwa Wieland 1795 in seinem Patriotischen Beytrag zu Deutschlands höchstem Flor, »werden […] durch den einzigen unschätzbaren Gewinn weit überwogen: dass, so lange wir sie erhalten, kein grosses policiertes Volk in der Welt einen höhern Grad menschlicher und bürgerlicher Freyheit geniessen [wird] als die Deutschen. […] Alle Talente werden sich mit grösserer Freyheit, Mannigfaltigkeit und Originalität entfalten; wir werden uns weniger an einander reiben und abschleifen, aber den Stempel, den die Natur jedem aufgedrückt hat, desto schärfer erhalten.«13

Diesem Ideal einer Identität durch kulturelle Vielfalt jedoch stand der in Deutschland vorherrschende »Provinzialgeist«14 entgegen, der die Ausbildung eines »Gemeinsinns« wie einer umfassenden nationalen Öffentlichkeit verhinderte und die »wechselseitige Kenntnisnahme der deutschen Regionen untereinander« unterband.15 Es fehlte, nochmals mit Wieland, ein »allgemeines Nationalinteresse«, ein »Band«, um »so viele ungleichartige und in so mancherlei Rücksicht dissonirende Theile« zusammenzuhalten.16 Hier nun konnte die »ethnographische Bestandsaufnahme im deutschen Binnenraum« mittels Reise und Reisebeschreibung Abhilfe schaffen,17 wie dies z. B. auch ein Autor der Zeitschrift Der Reisende 1782 konstatiert. Ein jeder deutsche Reisende solle, so heißt es dort, anstatt sich »zur dummen Bewundrung fremder Länder und Völker hinreissen«18 zu lassen, »Teutschland selbst« durchreisen und müsse danach trachten, »das ganze grosse Volk« kennen zu lernen, »dessen Denkarten und Sitten so verschieden als dessen Mundarten sind, [und] das so sehr gekannt zu werden verdient, weil es nicht nur unser gemeinschaftliches Vaterland, sondern auch dasjenige der nützlichsten Erfinder ist«.19 Denn in Deutschland könne man, so bemerkt er weiter, viel »mehr Nützliches und Schönes« sehen und lernen, als »in Paris und London«.20 Im Gefolge des neuen Reisediskurses entstand die spätaufklärerische 12 Vgl. Schmidt, Fremde Heimat, S. 395. 13 Wieland, Patriotischer Beytrag zu Deutschlands höchstem Flor, in: ders., Sämmtliche Werke, Bd. 15, S. 357 ff. 14 Wekhrlin, Reise durch Oberdeutschland, S. 141. 15 Schmidt, Fremde Heimat, S. 398. 16 Wieland, Vorrede zu Schillers Werken, S. 25 u. S. 23. 17 Schmidt, Fremde Heimat, S. 399. 18 [Anonymus], Ueber das Reisen der Teutschen, S. 10. 19 Ebd., S. 10 f. 20 Ebd., S. 11.

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Deutschland- oder Provinzialreisebeschreibung von Autoren wie Johann Kaspar Riesbeck, Johann Pezzl, Andreas Georg Rebmann, Ernst Moritz Arndt und eben Nicolai.21 Letzterer ordnet sich 1783 im ersten Band seiner Reisebeschreibung programmatisch in den Diskurs ein. »Wenn die Einwohner der verschiedenen deutschen Länder«, so bemerkt er in seinem Schreiben an Herrn Kriegsrath Dohm, »anstatt bloß zu Hause, und bey den angebohrnen Vorurtheilen zu bleiben, oder durch unüberlegte Reisen ins Ausland noch mehrere zu holen, lieber Deutschland in seinem ganzen Umfange durchreiseten; so würden sie sich besser kennen und richtiger voneinander urtheilen […], würden sich einander ertragen und lieben lernen.«22

Damit erweitert Nicolai das publizistische Projekt seiner Allgemeinen deutschen Bibliothek, dessen Ziel es war, eine gesamtdeutsche Aufklärungsöffentlichkeit zu schaffen, um das Programm einer kulturellen Einheit der Nation, die es zunächst avant la lettre herzustellen gilt.23 Nicolai teilt aber nicht nur die Ziele des neuen Reisediskurses, er stimmt auch mit seinen formalen Vorgaben überein. Auf einen der zentralen Texte verweist er im siebten Band seiner Reisebeschreibung selbst: Wielands Aufsatz Ueber die Rechte und Pflichten der Schriftsteller, in Absicht ihrer Nachrichten, Bemerkungen, und Urtheile über Nationen, Regierungen, und andre politische Gegenstände im Teutschen Merkur von 1785, dessen »Grundsätze«, wie Nicolai bemerkt, ihm »aus der Seele geschrieben« seien.24 Wieland entfaltet dort in 18 Paragraphen eine Programmatik der Reise und der Reisebeschreibung, die bis ins Detail der Nicolais gleicht, wie er sie in den zahlreichen Vorreden seines Reiseberichts entwickelt hat. Besonders deutlich wird dies im neunten Paragraphen über die wesentlichen Eigenschaften eines Reiseschriftstellers.25 Der Reiseautor, so Wieland, müsse 21 Zur Provinzialreise vgl. insbes. Bürgi, Weltvermesser ; Frey, Toleranz und Selektion, S. 124; Jäger, Reisefacetten, S. 72 ff.; Schmidt, Fremde Heimat; sowie Robel, Reisen und Kulturbeziehungen, S. 19. 22 Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 15, S. VIII. 23 Vgl. auch Jäger, Der reisende Enzyklopäd, S. 113; sowie Schmidt, Fremde Heimat, S. 104. 24 Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 18, S. VI. 25 1792 fasste Wieland in seinem Patriotischen Beytrag zu Deutschlands höchstem Flor die führende Rolle der (Reise-)Schriftsteller für die Herstellung multikultureller Einheit noch einmal so zusammen: »Sie – sind gewisser Maßen, die eigentlichen Männer der Nation; denn ihr unmittelbarer Wirkungskreis ist ganz Deutschland; sie werden überall gelesen; ihre Schriften dringen nach und nach bis in die kleinsten Städte, und durch sie fängt es bereits in solchen Gegenden an zu tagen, auf welchen vor fünf und zwanzig Jahren noch die dickste Finsterniß lag. Wenn diese [Männer] erst selbst von ächtem Patriotismus begeistert, von aufgeklärter Schätzung der Vortheile unserer Constitution geleitet, und von reinem Eifer für das allgemeine Beste erwärmt seyn werden: gewiß, dann wird und muß es ihnen durch anhaltende Bestrebungen endlich gelingen, die heilige Flamme der Vaterlandsliebe in jedem

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»den aufrichtigen Willen habe[n] die Wahrheit zu sagen; daß er folglich keiner Leidenschaft, keiner vorgefaßten Meynung, keiner interessierten Privatabsicht wissentlich einigen Einfluß in seinen Nachrichten und Bemerkungen erlaube. Seine erste Pflicht ist Wahrhaftigkeit und Unpartheylichkeit; und da wir zu allem berechtigt sind was eine notwendige Bedingung der Erfüllung der Pflicht ist: so ist auch, vermöge der Natur der Sache, Freymüthigkeit ein Recht das keinem Schriftsteller dieser Classe streitig gemacht werden kann. Er muß die Wahrheit sagen wollen und sagen dürfen. […] Diesem zufolge ist also der Schriftsteller vollkommen berechtigt, von dem Volke, über welches er uns seine Beobachtungen mittheilt, alles zu sagen was er gesehen hat, Gutes und Böses, Rühmliches und Tadelhaftes.«26

Wahrheit, Unparteilichkeit, Freimütigkeit und das Aussprechen »importuner«,27 d. h., unangenehmer Wahrheiten – das sind die Eckpfeiler der Nicolaischen Programmatik, ebenso wie die Gemeinnützigkeit,28 auf welche Wieland im sechsten Paragraphen zu sprechen kommt, wenn es heißt, alle Reisebeschreibung habe dafür zu sorgen, »den Zustand [des Menschen] zu verbessern und seinen Gebrechen abzuhelfen«,29 wobei charakteristischer Weise die Verbesserung deutscher Verhältnisse im Vordergrund steht: Gerade der Zustand der »unsrigen« Nation, »deren Staatskörper eine so sonderbare Gestalt hat«, müsse genau erforscht und durch die umfassende Bereitstellung von beweisbaren Informationen oder Fakta belegt werden, um ein »Emporstreben zum Bessern« zu ermöglichen.30 Dazu gehöre auch – und v. a. – das Studium des »Unterscheidende[n]« und »Charakteristische[n]« einer jeden Volksgruppe.31 Dies gelinge – so Wieland in erstaunlicher Übereinstimmung mit der Nicolai oft vorgeworfenen Praxis einer allzu abwertenden Darstellung von Nationalphysiognomien32 – am ehesten über die Darstellung der negativen Eigenschaften eines Volkes, weil eben dieses Charakteristische sich »gewöhnlich […] stärker und auszeichnender in Fehlern als in Vollkommenheiten« äußere.33 Wie nun muss das Wahrnehmungssubjekt beschaffen sein, das in der Lage wäre, ein solches Programm umzusetzen? Johann Wilhelm von Archenholz bringt es in seinem Artikel Ueber das Reisen aus dem Teutschen Merkur von 1784 auf den Punkt: Es braucht »große Kenntnisse […], gesunde[n] Menschenver-

26 27 28 29 30 31 32 33

Deutschen Herzen anzufachen, und diesen Gemeinsinn zu erwecken.« (Wieland, Patriotischer Beytrag zu Deutschlands höchstem Flor, in: ders., Sämmtliche Werke, Bd. 15, S. 26 f.). Wieland, Ueber die Rechte und Pflichten der Schriftsteller, S. 199. Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 20, S. XVII. Zu Nicolais Kategorien vgl. etwa Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 15, S. VI, S. XI f.; Bd. 16, S. III; Bd. 19, S. VI; Bd. 20, S. II. Wieland, Ueber die Rechte und Pflichten der Schriftsteller, S. 197. Ebd., S. 198. Ebd., S. 200. Vgl. Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 15, S. 136 f. Wieland, Ueber die Rechte und Pflichten der Schriftsteller, S. 200.

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stand, Erfahrung und kaltblütige Beobachtung«.34 Die apodemische Vorstellung eines objektiven Beobachters, dessen Wahrnehmung von subjektiven Faktoren nicht tangiert wird, ist typisch für den ganzen Diskurs: Derjenige »Beobachter, den die Natur mit etwas Scharfsinn und Lebhaftigkeit des Geistes« sowie »der Philosophie mit dem richtigen Maasstabe« ausgestattet habe, notiert Wieland kategorisch, »sieht überall, wo er hinkommt, die Menschen und ihr Thun und Lassen […] in ihrem natürlichen Lichte«.35 So leicht es derart ist, die objektive Wahrheit zu erkennen, so einfach kann sie dann auch in die Reisebeschreibung übertragen werden. Diese bildet dann ein aus wahren Fakten »zusammengruppiertes Gemählde«36 in »simple[r], getreue[r], ungeschmeichelte[r]« Schreibart,37 das sich aber nicht nur auf Beobachtungen stützen darf, sondern, wie Johannes Bürkli 1785 in einem Artikel für das Schweitzersche Museum feststellt, erst durch den Vergleich »von tausend einzelnen Aussagen« und das Abwägen derselben »auf der Goldwage der gesunden Vernunft«38 Vollkommenheit erreiche – eine ziemlich genaue Zusammenfassung dessen, was Nicolai immer wieder als sein Prinzip der »Verification« von Beobachtungen und Fakten beschreibt.39 Analog zu Nicolai gehören auch die Aktualität40 des Berichteten, das Vermeiden von Plagiaten41 sowie die erklärte Bereitschaft zur Korrektur etwaiger Irrtümer und Fehler durch Personen, die eine bessere Kenntnis des Gegenstandes oder Sachverhaltes haben, zum Grundbestand der ›richtigen‹ Reisebeschreibung.42 Nach dem Gehörten mag es dann nicht mehr verwundern, wer für die Autoren den Typus des richtigen Deutschlandreisenden idealiter verköpert: Nicolai. Wenn »solche Männer wie […] Nikolai – Reisebeschreibungen herausgegeben«, heißt es etwa 1785 in der Berlinischen Monatsschrift, »wer kann da nicht etwas wichtiges erwarten, und wer wird da nicht seine Erwartung erfüllt sehn?«43 Denn, mit Bürkli: Dem »Adlerblick des Genius stehts zu, das reine Gepräge der Natur« dem Leser vor Augen zu stellen.44

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Archenholz, An den Hrn. Herausgeber des T.M. ueber das Reisen, S. 152. Wieland, Ueber die Rechte und Pflichten der Schriftsteller, S. 201. Bürkli, Ueber die Reisebeschreibungen, S. 872. Wieland, Ueber die Rechte und Pflichten der Schriftsteller, S. 203. Bürkli, Ueber die Reisebeschreibungen, S. 877. Vgl. z. B. Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 15, S. IX; Bd. 16, S. VIII f. u. a. Vgl. [Anonymus] [X.], Ueber die vielen Reisebeschreibungen in unsern Tagen, S. 323. Vgl. [Anonymus], Anrede an die Leser, S. 4; sowie Archenholz, An den Hrn. Herausgeber des T.M. ueber das Reisen, S. 152. – Vgl. Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 16, S. VIII. Vgl. Wieland, Ueber die Rechte und Pflichten der Schriftsteller, S. 207. Vgl. [Anonymus] [X.], Ueber die vielen Reisebeschreibungen in unsern Tagen, S. 324. Bürkli, Ueber die Reisebeschreibungen, S. 879.

»Gerechte Lobsprüche«

2.

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Die zeitgenössische Rezensionspraxis

Die folgenden Bemerkungen basieren auf einer Untersuchung, die ich an 30 Rezensionen der Reisebeschreibung Nicolais aus 15 Zeitschriften des Zeitraums zwischen 1783 und 1796 durchgeführt habe, darunter das Deutsche Museum, die Allgemeine Literaturzeitung und das Schweitzersche Museum, aber auch die Allgemeine deutsche Bibliothek.45 Vorab lässt sich sagen, dass Nicolai in der Vorrede zum dritten Band durchaus nicht übertreibt, wenn er notiert, er habe »[a]us allen Gegenden Deutschlandes und der Schweiz […] überzeugende Beweise, daß man meine Reisebeschreibung billigt und für sehr gemeinnützig hält«.46 Tatsächlich sind von den 30 Rezensionen ganze drei wirklich kritisch.47 Alles in allem bestätigte sich die Erwartung, dass Nicolai besonders von norddeutsch-protestantischen Zeitschriften positiv besprochen wurde, die in Aufklärungszentren wie Berlin, Halle oder Göttingen erschienen. Allerdings mit drei signifikanten Ausnahmen: Das Wiener Historische Portefeuille äußert sich 1784 lobend und hebt den Nutzen der Wiener Partien der Reisebeschreibung gerade für Österreicher hervor ;48 ähnlich positiv urteilt das Frankfurter Journal von und für Deutschland,49 das von dem katholischen Aufklärer Sigmund von Bibra herausgegeben wurde. Dagegen findet der Rezensent der Göttinger Stats-Anzeigen 1785 vernichtende Worte für Nicolai.50 27 von 30 Rezensionen jedoch feiern die Reisebeschreibung unisono als das ›Beste, was derzeit an Reiseberichten auf dem Markt zu haben ist‹. So heißt es zum Beispiel in einer Rezension der Allgemeinen Literaturzeitung von 1786, es sei allgemein längst bekannt, dass »wenig Reisebeschreibungen so lehrreich, mit so feinem Beobachtungsgeiste, so 45 Das Quellenkorpus kam durch eine Titelsuche in den mehr als 160 elektronisch verfügbaren Zeitschriften des Projektes »Retrospektive Digitalisierung wissenschaftlicher Rezensionsorgane und Literaturzeitschriften des 18. und 19. Jahrhunderts aus dem deutschen Sprachraum« der Universitätsbibliothek Bielefeld zustande. 46 Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 16, S. III f. 47 In den Stats-Anzeigen 1785, der Mainzer Monatsschrift 1787 und den Tübingischen Gelehrten Anzeigen 1795. 48 Vgl. [Anonymus], Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweitz, in: Historisches Portefeuille 3/1 (1784), S. 773. 49 Vgl. [Anonymus] [G.], Berichtigungen des II Bandes der Reisebeschreibung des Herrn Nicolai, S. 385. – Der Titel bezieht sich v. a. auf minutiöse Korrekturen kleiner Fehler sachlicher Art, die katholizismuskritische Haltung Nicolais dagegen begrüßt der Rezensent ausdrücklich (vgl. ebd., S. 389). 50 [Anonymus], Nicolai, F.: Verteidigung von Nürnberg. Der Rezensent moniert eine mangelnde Überprüfung der Quellen, unglaubwürdige Korrespondenten sowie Parteilichkeit (S. 355 u. S. 358), und stellt bei Nicolai einen Hang zur Spötterei, zum Abweichen von der Wahrheit, zu flüchtigem Sehen und vorschnellen Urteilen fest (S. 354), weil der Autor »durch zu große Eilfertigkeit aus falschen Gesichtspuncten beobachtet« habe (ebd.). Das Resümee des Rezensenten fällt dann so aus: Nicolai sei »ein isolirter Kosmopolit, ohne Vaterland und Verhältnisse« (S. 354).

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edler Freymüthigkeit und so unpartheyischer Wahrheitsliebe abgefasst sind, als die Nicolaische«.51 Ebenso äußern sich der Teutsche Merkur 1784 oder das Journal für Prediger 1786.52 Hier deutet sich ein wesentliches Charakteristikum der Rezensionspraxis der Reisebeschreibung an: Die nahezu vollkommen unkritische Übernahme der Nicolaischen programmatischen Positionen wie seiner Urteile und Wertungen. Das Gros der Rezensenten stellt weder Nicolais Kategorien noch seine Techniken des Infomationserwerbs oder seine objektive Beobachterfunktion in Frage – niemand besäße »eine solche […] Genauigkeit«, einen solchen »Beobachtungsgeist« wie Nicolai, heißt es etwa im Journal für Prediger.53 Gerne folgen die Rezensenten auch Nicolais Aufforderung, seine Fehler zu berichtigen,54 wie dies z. B. ein Autor des Journals von und für Deutschland tut, der feststellt, dass trotz der unbestrittenen Qualität der Reisebeschreibung, wie Nicolai sicher selbst wisse, »noch immer sehr viel darin zu berichtigen und zu ergänzen nöthig ist […], und er wird sich daher gewiß [über die Berichtigungen] zuerst freuen, da edle Liebe zur Wahrheit, und nicht hämischer Haß gegen den Verfasser, die Feder darin geführt hat«.55 Die Übernahme der Nicolaischen Positionen nun geschieht in erster Linie über verschiedene intertextuelle Verfahren, von denen das ›Ausheben‹ oder ›Ausziehen‹, eine bewährte Technik der Praxis gelehrter Rezension, sicherlich das prominenteste ist. ›Ausheben‹ bedeutet hier zunächst im traditionellen Sinn das Auflisten von Neuigkeiten, von bislang unbekannten Fakten, die geeignet sind, zum Beispiel Eingang in Enzyklopädien, Erdbeschreibungen oder Lexika zu finden.56 Ausheben bedeutet aber in diesem Fall auch das tendenziöse Zusammenfassen, die nahezu wörtliche Paraphrase oder gar das Plagiat der Vorlage. Indem jedoch die Rezensenten Nicolai abschreiben, zementieren sie seine Darstellung als buchstäbliche Wahrheit. Direktes Plagiat ist vor allem Sache von Nicolais Hausblatt, der Allgemeinen deutschen Bibliothek. Dies sei an einer Passage aus einer Rezension Johann Joachim Eschenburgs von 1786 belegt, der mit Nicolai befreundet war und die 51 [Anonymus], Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, in: Allgemeine Literaturzeitung 4 (1786), Nr. 239, Sp. 33. 52 Vgl. Reinhold, Ueber die neuesten patriotischen Lieblingsträume in Teutschland, S. 182, S. 183; [Anonymus], Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweitz, in: Historisches Portefeuille 3/1 (1784), S. 774; [Anonymus], Pastoralkorrespondenz I, S. 49. 53 Ebd. 54 Vgl. z. B. Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 15, S. IV. 55 [Anonymus] [G.], Berichtigungen des II Bandes der Reisebeschreibung des Herrn Nicolai, S. 385. 56 Vgl. z. B. die Rezensionen in der Handlungszeitung (1786), 3. Qu., in der Allgemeinen Literaturzeitung 4 (1786), Nr. 239 sowie in der Allgemeinen deutschen Bibliothek 73 (1787), 2. St.

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meisten Rezensionen des Reiseberichts für die Zeitschrift verfasste. Dort heißt es: »Schon aus den vorigen Bänden weiß man, daß Bestreitung hierarchischer Unterdrückung, der Bigotterie und des Aberglaubens zu den vornehmsten Zwecken des Verf. gehört. Dazu gab ihm seine Reisebeschreibung durch einen Theil von drey ganz katholischen Ländern, Oesterreich, Ungarn und Baiern nur allzu oft Gelegenheit. Bey aller Vorsicht mußte der Verf. hierüber manchmal Dinge sagen, die hart scheinen aber doch bloß wahr sind.«57

Die entsprechende Passage aus Nicolais Vorrede zum sechsten Band lautet folgendermaßen. »Ich habe«, so notiert er, »besonders auch in dieser Reisebeschreibung es mir zum besonderen Zwecke gemacht, hierarchische Unterdrückung, Bigotterie und Aberglauben unverrückt zu bestreiten […]. Ich habe bey Gelegenheit dieser Reisebeschreibung durch einen Theil von drey ganz katholischen Ländern Oestreich, Ungarn und Baiern nur allzu oft dazu Gelegenheit gehabt. […] Zwar habe ich über eine so delikate Materie mich so vorsichtig auszudrücken gesucht, als es möglich war, […] mußte [aber] mehrmals Dinge sagen, die hart scheinen, aber es nicht sind, denn sie sind bloß wahr.«58

Kaum weniger wirksam im Sinne einer Verifikation der Nicolaischen Positionen aber war ein Verfahren, das besonders die Allgemeine Literaturzeitung anwandte und welches man heute mit dem terminus technicus der Halbsatzflickerei bezeichnen würde: Aus Versatzstücken der Vorlage wird ein neuer Text komponiert; so z. B. in der Bearbeitung der Lavater-Sailer-Kontroverse, die Nicolai im achten Band der Reisebeschreibung abdruckte,59 in einer Rezension aus dem Jahre 1786.60 Hierzu nachstehendes Beispiel: Nicolai geht in einer Fußnote auf eine anonyme Verteidigungsschrift für Sailer ein und fasst deren zentrale Punkte wie folgt zusammen: »Der Verf. des Etwas will es gar listig vertheidigen, daß P. Sailer die Worte Papst, Transsubstantiation, Fegfeuer u. s. w. [in seinem Gebetbuch] vermeidet; und läugnet gar nicht, daß P. Sailer die katholischen Lehren dadurch maskirt. Er giebt aber vor, es geschehe nur um der Katholiken willen, die sich aufgeklärt dünken. Quae! Qualis! 57 Eschenburg, Nicolai, Beschreibung einer Reise, S. 203. 58 Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 17, S. V f. 59 Zur Auseinandersetzung Nicolais mit Johann Kaspar Lavater und Johann Michael Sailer (1786 – 1787) vgl. bes. Habersaat, Verteidigung der Aufklärung, Bd. 1, S. 82 – 124; Frey, Toleranz und Selektion; Kreutz, L’inscription qu’on pourra mettre sur les ruines, sowie Jäger, Der reisende Enzyklopäd, S. 118 f. 60 Der Allgemeinen Literaturzeitung lag zum Zeitpunkt der Rezension (20. April 1786) die Reisebeschreibung noch nicht vor, dafür aber die Separatveröffentlichung des betreffenden Textes, Nicolais Anmerkungen über das zweyte Blatt von Herrn J. C. Lavaters Rechenschaft an seine Freunde, und über Herrn P. J. M. Sailers zu Dillingen Märchen, die er 1786 (mit der Jahreszahl 1787) im eigenen Verlag herausbrachte.

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Quanta! Er sagt: ›Finden sie die Lehren vorgetragen, ohne daß der Titel darüber stehet, so lesen sie selbige ohne Anstoß weg, und wähnen gar nicht, dass da vom Papste, von der Transsubstantiation etc. die Rede sei‹.«61

In der Allgemeinen Literaturzeitung liest sich das dann so: »Die katholischen unterscheidenden Lehrsätze sind [in dem Gebetbuch] nicht allein nicht hart vorgetragen, sondern nicht einmal deutlich; sie sind vielmehr geflissentlich so maskiret, dass sie, ob sie gleich ganz völlig dastehen, dennoch von denen, die das katholische Wesen nicht genau kennen, kaum einmal bemerket werden. Nicht einmal das Wort katholisch kommt, ausser auf dem Titel, in dem ganzen Buche irgendwo vor, sondern der listige Jesuit bedient sich dafür des Worts allgemein. Die Worte Papst, Transsubstantiation, Fegefeuer, Ablaß u. d. gl. findet man in demselben gar nicht, obgleich die Begriffe allenthalben darin anzutreffen sind.«62

Völlig unbekümmert darüber, dass es sich bei der Vorlage um die Paraphrase eines dritten Textes handelt, benutzt sie der Rezensent als ›authentische‹ Quelle, wird die bloße Meinung des anonymen Sailer-Freundes über dessen Gebetbuch als objektives Faktum hingestellt. Dabei übernimmt der Autor die Nicolaische Wertung, überspitzt sie jedoch zugleich (›geflissentlich so maskiret‹, ›der listige Jesuit‹) und erreicht durch das Ausfabulieren nur angedeuteter Fakten (»Nicht einmal das Wort katholisch kommt, ausser auf dem Titel, in dem ganzen Buche irgendwo vor« statt »ohne daß der Titel darüber stehet«) und die typographische Hervorhebung als besonders skandalös betrachteter Umstände ein Höchstmaß an Dramatisierung. Der anonyme Rezensent flickt aber nicht nur zusammen, er frisiert auch die Fakten, wo es seiner Darstellungsintention dienlich ist. Während Nicolai etwa ausführlich und umständlich seine Argumente dafür darlegt, warum er überzeugt sei, dass Lavater selbst die katholikenfreundlichen sogenannten Zirkelbriefe von Zürich aus verbreite, diese Überzeugung aber niemals als Tatsache ausgibt, weil das unter Umständen justitiabel wäre, ist der Anonymus wesentlich weniger skrupulös. Ihm kommt es v. a. auf die sensationelle Meldung an, wenn er lapidar konstatiert: »Der allgemeinen Sage nach führt H.[err] Pfenninger dabey die Feder ; wenigstens werden sie gewiss unter Lavaters unmittelbarem Einfluss geschrieben. Eine feine Erfindung, um den Anhängern Lavaters mehr Eifer zu geben und ihm neue Anhänger zu machen!«63 An dieser Stelle wird ein weiteres Charakteristikum der Rezensionspraxis deutlich: Die Bereitschaft, Nicolai auch bei den zahlreichen Fehden unterstützend zu begleiten, welche er wegen seiner Reisebeschreibung führte. So bemerkt 61 Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 18, S. 137 f. 62 [Anonymus], Untersuchung der Beschuldigungen des Herrn Prof. Garve, Sp. 134. 63 Ebd., Sp. 135. – Vgl. Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 18, S. 10 ff.

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etwa Karl Leonhard Reinhold im Zusammenhang mit der Blumauer-Kontroverse 1784 im Teutschen Merkur,64 dass Nicolais »Nachrichten von Wien […] das Gepräge aller historischen Glaubwürdigkeit« besäßen, »die man bey einem Werke dieser Art nur immer erwarten kann«;65 ein Rezensent des Historischpolitischen Magazins 1787 bedankt sich emphatisch beim Autor dafür, »daß er sich der Schwärmerey, und dem im Finstern schleichenden Katholicismus mit solcher Freymüthigkeit widersetzt[e]«.66 Erkennbar wird so einerseits, dass genau das, was aus heutiger Perspektive so befremdlich wirkt, das Aufschwemmen des Reiseberichts durch die Einbettung von Streitschriften und anderen Materialien, für die damaligen Periodika einen wichtigen Faktor darstellte. Denn hier finden sie genügend aktuelles Material für eine auflagensteigernde Sensationsberichterstattung. Andererseits zeugt die Teilnahme an den Nicolaischen Fehden, die häufig genug auch in eine Apologie des Verfassers übergeht,67 von der Grundüberzeugung der Rezensenten, mit Nicolais Reisebeschreibung ein ganz wesentliches Projekt der Aufklärung verteidigen zu müssen. Wie aber verhalten sie sich zu Nicolais Programm einer geistigen Einigung Deutschlands? Ein Autor der Allgemeinen Literaturzeitung äußert 1789 in einer Rezension der dritten Auflage des ersten und zweiten Bandes generelle Zustimmung, hebt aber in erster Linie auf die bloße Informationsvermittlung über Deutschland ab, wenn er schreibt, Nicolais Werk sei »wohl das wichtigste unter denen […], die seit der Zeit erschienen sind, dass Büsching die Deutschen mit dieser terra incognita zuerst bekannt machte«.68 Gleichzeitig jedoch klingt im Begriff der terra incognita ein Moment an, das schon Jäger als konstitutiv für Nicolais Reisebericht beschrieben hat: Die Tendenz, die Einwohner zumal der katholischen Gebiete der süddeutschen Länder wie Eingeborene exotischer Länder zu betrachten und darzustellen,69 und dabei im Sinne seiner Binäropposition70 von aufgeklärtem, protestantischen Norden und rückständigem, katholischen Süden zu einer im Wesentlichen negativen Darstellung der süddeutschen Volkscharaktere zu greifen. Damit jedoch muss Nicolai sein erklärtes 64 Zur Fehde mit Aloys Blumauer (1783 – 1784) vgl. bes. Wolf, Blumauer gegen Nicolai sowie ders., Konfessionalität, Nationalität und aufgeklärter Patriotismus. 65 Reinhold, Ueber die neuesten patriotischen Lieblingsträume in Teutschland, S. 182. 66 [Anonymus], Nicolai, Beschreibung einer Reise, S. 100, in: Historisch-politisches Magazin 2 (1787), lit. Anhang. 67 Vgl. besonders ebd.; sowie [Anonymus], Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweitz, in: Historisches Portefeuille 3/1 (1784), und Reinhold, Ueber die neuesten patriotischen Lieblingsträume in Teutschland. 68 [Anonymus], Beschreibung einer Reise, in: Allgemeine Literaturzeitung 2 (1789), Nr. 124, Sp. 181. 69 Vgl. Jäger, Der reisende Enzyklopäd, S. 115. 70 Bödeker, Ich wünschte also eine Reise zu thun, S. 326.

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Ziel, nämlich dafür zu sorgen, dass die deutschen Völker »einander ertragen und lieben lernen«,71 verfehlen. Wie schon Harald Schmidt festgestellt hat, erweist sich die Reisebeschreibung derart nicht als »Forum einer polyphonen nationalen Verständigung«, sondern als »aggressives und polemisches Instrument« einer kulturellen »Homogenisierung«, verfolgt das Werk das Programm einer »kulturellen und konfessionellen Hegemonie« im Geiste der norddeutsch-protestantischen Aufklärung.72 Wielands Feststellung in seinem Patriotischen Beytrag, dass zur partikularen Staatsform notwendig auch eine Vielfalt der Konfessionen gehöre,73 wurde von Nicolai ebenso wenig beachtet wie dessen Warnung in dem von ihm so sehr geschätzten Aufsatz über Rechte und Pflichten des deutschen Reiseschriftstellers von 1785, man dürfe zwei Nationen niemals allzu scharf kontrastierend darstellen, da dabei nur herauskäme, dass »das, worin die eine sich besonders hervorthut, gerade nicht die glänzendste Seite der andern ist«.74 Und indem Nicolais Rezensenten nach allem anderen auch seine Charakterstereotype begeistert nachschreiben – »Entschiedener Hang zum Wohlleben, Müssiggange, Spiel, zu rauschenden Lustbarkeiten und Zerstreuungen aller Art – eine natürliche Folge der weichlichen, mangelhaften Kinderzucht – und eine gewisse Selbstgenugsamkeit sind charakteristische Züge der Wiener« –,75 notiert etwa der Rezensent der Allgemeinen Literaturzeitung 1786, tragen sie dazu bei, dass auch dieses vermeintliche Wissen als unumstößliche Wahrheit verbreitet und tradiert wird. Karl Leonhard Reinhold kommt denn auch in seinem bereits zitierten Aufsatz Ueber die neuesten patriotischen Lieblingsträume der Deutschen zu dem Schluss, dass man angesichts der »Aussagen eines Augenzeugens« wie Nicolai die vorherrschenden »überspannten Begriffe von unsrer gegenwärtigen Nationalaufklärung« korrigieren müsse.76

71 Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 15, S. VIII. 72 Schmidt, Fremde Heimat, S. 406. 73 Vgl. Wieland, Patriotischer Beytrag zu Deutschlands höchstem Flor, in: ders., Sämmtliche Werke, Bd. 15, S. 358: »Wir werden, so lange wir [unsere partikulare Staatsform] erhalten, nie eine einzige Religion, aber dafür Gewissensfreyheit und das Recht behalten, aus dem alten oder neuen Kirchengesangbuche zu singen. Wir werden mit männlicher Freyheit untersuchen, reden, lesen und schreiben dürfen. Der einzelne Tyrann […] wird dem Abscheu aller übrigen Theile der Nation ausgesetzt seyn.« 74 Wieland, Ueber die Rechte und Pflichten der Schriftsteller, S. 204. 75 [Anonymus], Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, in: Allgemeine Literaturzeitung 4 (1786), Nr. 239, Sp. 36. 76 Reinhold, Ueber die neuesten patriotischen Lieblingsträume in Teutschland, S. 182 u. S. 174.

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3.

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Nicolai und die ›subjektive‹ Reisebeschreibung

In der zweiten Hälfte der 1780er Jahre beginnt eine neue Tradition der Reiseliteratur immer wichtiger zu werden, welche die inzwischen etablierte mehr und mehr in den Hintergrund drängt. Dieser geht es nicht mehr um die objektive Wahrnehmung und Darstellung bloßer »Fakta und Meinungen […] ohne irgend einen Zusammenhang oder einen Zweck, außer dem, sie zusammenzuraffen und über sie hin und her zu schwatzen« (Fichte über Nicolai),77 sondern vielmehr um die je individuelle, subjektive Perspektive eines Reisenden auf die erfahrene Welt. Wichtigster Protagonist dieser Entwicklung ist Georg Forster mit seinen Reiseliteratur-Rezensionen in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen der 1780er Jahre und dem Reisebericht Ansichten vom Niederrhein von 1791.78 Forster kritisiert die Reisebeschreibungen Nicolaischer Provenienz als »Werke des geschmacklosen Fleißes«, welche von einem »schöpferischen Gepräge nicht die geringste Spur verrathen, sondern todte Zusammensetzungen sind, […] deren einzelne Theile man nach Gutdünkten ausheben kann, ohne den Verlust bemerklich zu machen«.79 Darüber hinaus stellt er klar, dass es weder eine »selbstständige, absolute Wahrheit«80 gäbe noch eine objektive Beobachterinstanz: »Eine ausschließende normalische Ansicht des Erdkreises« sei eine »Beleidigung des Verstandes«, heißt es in einer Rezension von 1789.81 Soll die Vermittlung von Erfahrung, soll das Projekt Aufklärung über den Reisebericht dennoch gelingen, so bleibt, mit Forster, nur ein Weg: die »lehrbegierige Auffassung jeder verschiedenen Modification«, nach welcher sich »das All des Denkbaren in verschiednen Köpfen gestaltet«.82 Erst der Nachvollzug der subjektiven Perspektive eines Autors eröffnet dem Leser einen Zugang zur dargestellten Wirklichkeit. Forster fordert ›Beobachtungen statt Resultate‹; nicht die Dinge oder Fakta selbst sind zu schildern, sondern ein Autor tut besser daran, »das Verhältniß seiner Seelenkräfte zu den Dingen«,83 darzustellen, »durch Mittheilung seiner eigenen jedesmaligen Stimmung den Gesichtspunkt genauer [zu] bezeichne[n], aus welche[m] er die Gegenstände betrachtete«, so dass der Leser in die Lage versetzt werde, »sich alles wahrer zu versinnlichen, als wenn man ihm die dürren Resultate hinstellt, die er auf Treu und Glauben nehmen muss«.84 77 Fichte, Friedrich Nicolais Leben und sonderbare Meinungen, S. 2. 78 Vgl. dazu bes. Jost, Seelenkräfte in der Materie; dies., Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 112 – 126. 79 Forster, FranÅois Le Vaillant, in: ders., Werke, Bd. XI, S. 225. 80 Forster, Über den gelehrten Zunftzwang, in: ders., Werke, Bd. VIII, S. 232. 81 Forster, Matthew Consett: A tour through Sweden, in: ders., Werke, Bd. XI, S. 194. 82 Forster, Über den gelehrten Zunftzwang, in: ders., Werke, Bd. VIII, S. 232. 83 Forster, Charles Marguerite Jean Baptiste Mercier Dupaty, in: ders., Werke, Bd. XI, S. 160. 84 Forster, Ernst Wilhelm Cuhn, in: ders., Werke, Bd. XI, S. 279.

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Mittler zwischen Autor beziehungsweise Text und Leser ist der innere Sinn, die Einbildungskraft, welche in Schwingungen versetzt werden muss. Diese Schwingungen übertragen sich durch das Prinzip der Sympathie, einer angenommenen Verwandtschaft von Autor- und Leserphantasie, auf den Rezipienten: »Die Saite klingt nicht eher«, schreibt Forster, »als bis der verwandte Ton sie durchbebt«.85 Für den Reisediskurs der 1780er Jahre können solche Überlegungen nichts als gefährlicher Unsinn sein, gefährdet doch jegliche subjektive ›Verzerrung‹ aus seiner Perspektive das Gelingen der Vermittlung eines ›wahren‹ und ›richtigen‹ Bildes der Welt. Alles, was über die Mitteilung von Fakta hinausgeht – die Stimmung des Betrachters, seine Gedanken und Empfindungen – wird als überflüssiger Ausdruck einer »übersteigenden Eigenliebe« gewertet, wie der anonyme Autor des Artikels Ueber die vielen Reisebeschreibungen in unseren Tagen in der Berlinischen Monatsschrift von 1784 notiert;86 als bloße »Empfindeley«87 oder Produkt einer »erhitzte[n] Einbildungskraft« abgetan.88 Zumindest bis zum Anfang der 1790er Jahre konnte sich Nicolai im Einklang sowohl mit der Zeitschriftenöffentlichkeit als auch mit dem eingangs geschilderten Diskurs über Reisen und Reisebeschreibung wissen. Selten rekurriert er wohl deshalb in den Vorreden der einzelnen Bände auf ästhetische Aspekte der Darstellung, und wenn doch, dann rühmt er sich seiner eigenen ›Kunstlosigkeit‹. Er habe, so notiert er etwa mit unüberhörbarem Stolz, die »Kunst noch nicht gelernt, unter dem Scheine der Wahrheitsliebe zu schmeicheln, welches manche Schriftsteller so wohl verstehen, und manche Leser so wohl aufnehmen«.89 An den wenigen Stellen, wo er sich mit konkurrierenden Formen der Reiseliteratur auseinandersetzt, sind seine Vorwürfe stets dieselben: mangelnde Sorgfalt, Unvollständigkeit und Fehlerhaftigkeit. »Gewöhnlich giebt jeder [dieser Schriftsteller] was er hat«, bemerkt Nicolai etwa in der Vorrede zum dritten Band, »schreibt sein Tagebuch flüchtig und läßt es, so flüchtig es geschrieben ist, abdrucken, und sieht nicht nach, ob es falsch ist, oder ob etwas fehlt. Auf diese Weise kann man es sich freilich sehr leicht machen, kann anfangen und aufhören, wo und wie man will, kann lang oder kurz schreiben, wie es einem gefällt.«90

Er dagegen habe »den viel schwereren Weg gewählt« – aber dafür eben auch den richtigen, weil gemeinnützigen.91 Auffällig jedoch ist, dass Nicolai, obwohl er an der Konzeption seiner Reisebeschreibung im Laufe von 15 Jahren kaum etwas 85 86 87 88 89 90 91

Forster, Charles Marguerite Jean Baptiste Mercier Dupaty, in: ders., Werke, Bd. XI, S. 162. [Anonymus] [X], Ueber die vielen Reisebeschreibungen in unsern Tagen, S. 326. Bürkli, Ueber die Reisebeschreibungen, S. 871. Reinhold, Ueber die neuesten patriotischen Lieblingsträume in Teutschland, S. 180. Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 15, S. XVI. Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 16, S. XV. Ebd.

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ändert, und trotzdem er von nahezu allen Seiten Zustimmung erfährt, dennoch von der veränderten Poetik der Reiseliteratur nicht unberührt bleibt. Freilich erfolgte dies, wie Bürgi bemerkt hat, auf typisch Nicolaische Weise: Er reflektierte nicht über den Wandel, »[a]ber er spürte [ihn] und schrieb dagegen an«.92 Das wird beispielsweise an seiner Verwendung des Begriffs ›Gesichtspunkt‹ deutlich. In den ersten Jahren ist in der Reisebeschreibung immer wieder von dem »Einen Gesichtspunkt« die Rede, unter dem er sein Material organisieren muss, wobei schon die Großschreibung des ersten ›E‹ des Wortes ›Einen‹ signalisiert, dass es sich um die einzig denkbare, die objektive Perspektive handelt.93 In der Folgezeit ist jedoch immer öfter von mehreren, ja »allen möglichen Gesichtspunkten« die Rede,94 aus der man seinen Gegenstand betrachten müsse. Und auch, wenn Nicolai letztlich nicht davon abgeht, dass es die Pflicht des Lesers sei, eine »Schrift aus dem Gesichtspunkte des Verfassers« zu betrachten,95 so zeigt doch offenbar, neben den neuen, am Beispiel Forsters beschriebenen ästhetischen Positionen auch die Kritik der Gegner wie Sailer oder Garve aus den 1780er Jahren Wirkung,96 die ihm immer wieder eine zweifelhafte, weil nur angemaßte Machtperspektive vorgeworfen hatten.97 Auch andere Muster des neuen Diskurses, zum Beispiel das des ›Resultats‹, tauchen unvermittelt in Nicolais Vorreden auf. Wie Forster fordert er nun ›Beobachtungen statt Resultate‹, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Resultatcharakter haben für ihn nämlich gerade die neuen, die subjektiven Reisebeschreibungen, weil sie sich nicht auf sein komplexes Verfahren der Verifikation einlassen wollen. »Wer schnelle Resultate ohne genaue Rücksicht auf die Wahrheit hinwerfen will«, schreibt Nicolai, »kann viel interessanter scheinen. Er giebt sich die Mine, daß er unendlich viel und dieses gewiß wisse. Dieß glaubt man ihm, weil er so dreist behauptet; und er kann oft nicht widerlegt werden«.98 Er dagegen habe, weil es ihm um die Wahrheit gegangen sei, »nicht so glänzende Antithesen machen [können], als derjenige, der nur zusammengedrängte Resultate halb aus der Einbildungskraft giebt«.99 Nirgendwo aber äußert sich das Nicolaische ›Anschreiben gegen den Wandel‹ deutlicher, als in der Vorrede zum elften Band von 1796. Nicolai versucht, seine Vorstellungen von Reiseliteratur anschlussfähig zu machen an den neuen DisBürgi, Weltvermesser, S. 55. Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 16, S. XVIII. Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 20, S. XXVII. Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 16, S. XI. Zur Auseinandersetzung mit Christian Garve (1785 – 1786) vgl. bes. Habersaat, Verteidigung der Aufklärung, Bd. 1, S. 67 – 78; Heidrich, Protestantische Kirchenmusikanschauungen, S. 124 – 147; sowie Jäger, Der reisende Enzyklopäd, S. 119 f. 97 Vgl. z. B. Sailer, Das einzige Märchen in seiner Art, S. 119. 98 Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 16, S. XVI u. S. XVII. 99 Ebd. 92 93 94 95 96

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kurs – und sie dabei gleichzeitig zu retten. Dazu muss er neue Wege gehen und tut es, indem er seine Positionen scheinbar unvoreingenommen zur Diskussion stellt. Nicolai kreiert einen fiktiven Dialog mit wechselnden Lesern, die Auskunft über wesentliche strittige Punkte von ihm verlangen; so über seine Freimütigkeit gerade beim Aussprechen unangenehmer Wahrheiten,100 seine Urteile über »gelehrte Angelegenheiten«,101 das übertrieben ›Voluminöse‹102 des Werkes sowie dessen mangelnde künstlerische Qualität.103 Während Nicolai den Vorwurf der Freimütigkeit in bewährter Manier durch die objektive Kategorie der Gemeinnützigkeit sowie durch umfangreiche Beweisführungen pariert,104 nimmt er bei der Kritik der Form seines Werkes eine Kehrtwende vor. Diese sei nämlich »nur die Anwendung meiner von Jugend auf gewohnten Art, deutliche und bestimmte Kenntnisse aller Art zu erlangen, auf Gegenstände angewendet, wovon ich glaube daß ihre Erforschung dem Publikum nützlich seyn werde«.105 Auch lasse sich das manchmal Fragmentarische und Unsystematische des Werkes, so Nicolai, auf seinen lebenslangen Spagat zwischen Beruf und Literatur zurückführen, weil er bei der Ausarbeitung seiner Ideen ständig »durch ganz fremde Dinge zerstreut, durch Geschäfte die mir die Pflicht gebot und die fast meine ganze Zeit erforderten, Jahre lang davon zurückgetrieben« worden sei.106 Weil ihm derart jede Muße gefehlt habe, sei es ihm schließlich auch nicht möglich gewesen, die »Kunst zu schreiben« zu erlernen,107 weshalb er schon damit zufrieden wäre, wenn »diese Sammlung von Beobachtungen, Gedanken, Vorschlägen und allenfalls auch von ein Paar nicht sehr nöthigen gelehrten Grillen in Form einer Reisebeschreibung« auch nur für einige Rezipienten »lesenswerth« sei.108 Indem Nicolai psychologisiert, indem er seine vormals objektiven Kriterien nun als subjektive darstellt, versucht er, sich vom aufklärerischen Sitten- und Kulturrichter in einen modernen Schriftsteller zu verwandeln, der, wie er selbst schreibt, imstande wäre, »immer noch […] mit meinen Zeitgenossen fortzugehen«.109 Damit aber führt er seinen eigenen Anspruch nach absoluter Wahrheit bzw. Deutungshoheit über dieselbe ad absurdum. Dass er das Projekt der Reisebeschreibung an genau diesem Punkt aufgab, spricht dafür, dass ihm eben

100 101 102 103 104 105 106 107 108 109

Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 20, S. XIII u. S. XVII. Ebd., S. XXV. Ebd., S. XXXIII. Vgl. ebd., S. XXXV f. Vgl. ebd., S. II u. S. VI ff. Ebd., S. XXIX f. Hervorhebung E.J. Ebd., S. XXX. Ebd., S. XXXIV. Ebd., S. XXXII f. Ebd., S. XI.

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dies bewusst war.110 Das Forstersche Prinzip der Sympathie zwischen Autor und Leser, welches wesentlich auf der Freisetzung des Rezipienten in seiner Wahrnehmung, seiner Phantasie und seinem Urteil beruht, war für Nicolai nicht mehr anwendbar. Bei ihm herrschte, überspitzt formuliert, stattdessen Antipathie vor ; der »spezifische Erfahrungshintergrund des Lesers« kam nur »insofern in Betracht, als er von Vorurteilen geprägt, unaufgeklärt [war und] mithin korrigiert werden« musste.111 Nicht einmal die fiktiven Leser aus dem skizzierten Dialog über die Reisebeschreibung stellt Nicolai als sympathische dar : Durch das ihnen zugeschriebene ›Zischeln‹112 und ›Achselzucken‹113 werden sie eindeutig als übelwollend charakterisiert. 1804 zieht Archenholz in der Minerva ein kritisches Resümee der negativen Nicolai-Rezeption seit den 1790er Jahren. »Je freymüthiger der Reisende, je mehr Selbstdenker er ist«, heißt es da, »je mehr von andern nicht Gesagtes er aufstellt, desto übler und unvermeidlicher ist sein Loos; man beschuldigt ihn der Falschheit, der Ignoranz«.114 Das hämische Etikett des »Mährchenerzählers«,115 welches Sailer Nicolai mit seiner Streitschrift Das einzige Märchen in seiner Art angeklebt hatte, wurde er nicht mehr los.116 Nicolais Standardvorwurf an seine Kritiker, nämlich bloße »Spekulation«117 zu betreiben, anstatt nachweisbare empirische Data zu liefern, hatte sich somit ins Gegenteil verkehrt.

110 Nicolais Neue allgemeine deutsche Bibliothek unterstützte ihn auch bei dieser programmatischen Kehrtwende. »Man ist es dem Verf. schuldig«, schreibt ein anonymer Rezensent 1796, »ehe man über ihn und seine Methode in dieser Reisebeschreibung urtheilt, dasjenige nachzulesen, was er in der Vorrede dieses eilften Bandes über seine Art zu studiren, über seine eigne Weise zu forschen und zu beobachten, und über sein Bestreben sagt, andern nützlich zu werden, und seine Gedanken, Beobachtungen und Vorschläge gelegentlich zur Sprache zu bringen. Hierdurch entschuldigt sich auch das Voluminöse u. Umständliche dieses Werks [wie] der Spott, den [Nicolai] sich aus guten Gründen gegen Querköpfigkeit und Dünkel erlaubt hat«. ([Anonymus], Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, in: Neue allgemeine deutsche Bibliothek 26 (1796), 2. St., S. 353). 111 Bürgi, Weltvermesser, S. 70. 112 Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 20, S. XXV. 113 Ebd., S. XXXIII. 114 Archenholz, Ueber Reise-Werke und Kotzebue’s Erinnerungen aus Paris, S. 357 f. 115 Ebd., S. 358. 116 Mit diesem Vorwurf setzte sich Nicolai z. B. im elften Band anlässlich einer negativen Rezension in den Tübingischen Anzeigen auseinander, die er – samt einem überlangen Kommentar – in der Reisebeschreibung abdruckte: »Der Mann schildert mich […] nicht nur als einen unwissenden Menschen, der über Sachen urtheile, die er gar nicht verstehe und sich Mährchen aufbinden ließe. Freylich sagt er dieß nur, ohne es zu beweisen.« (Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 20, S. IV). 117 Ebd., S. XVII.

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Bibliographie

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Quellen

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Erdmut Jost

genannten. In: ders.: C. M. Wielands Sämmtliche Werke. Leipzig 1795. Bd. 15, S. 335 – 362. Wieland, Christoph Martin: Ueber die Rechte und Pflichten der Schriftsteller, in Absicht ihrer Nachrichten, Bemerkungen, und Urtheile über Nationen, Regierungen, und andre politische Gegenstände. In: Der Teutsche Merkur (1785), 3.Viertelj., S. 193 – 207. Wieland, Christoph Martin: Vorrede. In: Friedrich von Schillers Werke. Vollständige Grätzer-Taschenbuchausgabe. Bd. XXII. Grätz 1824, S. 7 – 30. Erstabdruck unter dem Titel »Der allgemeine Mangel deutschen Gemeinsinnes und Nationalgeistes und Mittel zu deren Erweckung und Belebung« in Schillers Historischem Calender für Damen 1792.

4.2

Sekundärliteratur

Bödeker, Hans Erich: »Ich wünschte also eine Reise zu thun, in welcher ich, nebst den veränderten Scenen der Natur, Menschen und ihre Sitten und Industrie kennen lernen könnte«. Friedrich Nicolai auf Reise. In: Rainer Falk u. Alexander Kosˇenina (Hg.): Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung. Hannover 2008, S. 305 – 337. Bürgi, Andreas: Weltvermesser. Die Wandlung des Reiseberichts in der Spätaufklärung. Bonn 1989 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft Bd. 386). Frey, Manuel: Toleranz und Selektion. Konfessionelle Signaturen zwischen 1770 und 1830. In: Olaf Blaschke (Hg.): Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970. Ein zweites konfessionelles Zeitalter. Göttingen 2002, S. 113 – 153. Habersaat, Sigrid: Verteidigung der Aufklärung. Friedrich Nicolai in religiösen und politischen Debatten. 2 Bde. Würzburg 2001 (Epistemata Bd. 316). Heidrich, Jürgen: Protestantische Kirchenmusikanschauungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Studien zur Ideengeschichte ›wahrer‹ Kirchenmusik. Göttingen 2001. Jäger, Hans-Wolf: Der reisende Enzyklopäd und seine Kritiker. Friedrich Nicolais ›Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781‹. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 26 (1982), S. 104 – 124. Jäger, Hans-Wolf: Reisefacetten der Aufklärungszeit. In: Peter J. Brenner (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt a. M. 1989 (Suhrkamp-Taschenbuch; Materialien Bd. 2097), S. 261 – 283. Jost, Erdmut: Landschaftsblick und Landschaftsbild. Wahrnehmung und Ästhetik im Reisebericht 1780 – 1820. Freiburg i. Br. 2005 (Litterae Bd. 122). Jost, Erdmut: ›Seelenkräfte in der Materie‹. Sophie von La Roches Rezeption Georg Forsters in den ›Briefen über Mannheim‹. In: Miriam Seidler u. Mara Stuhlfauth (Hg.): »Ich will keinem Mann nachtreten«. Sophie von La Roche und Bettine von Armin. Frankfurt a. M. 2012, S. 65 – 75. Jost, Erdmut: Auf der Suche nach einer ›Nationallehre der Deutschen‹. Zur Entwicklung des kulturpolitischen Zeitschriftenessays der Aufklärung [erscheint in einer der nächsten Ausgaben von: Das achtzehnte Jahrhundert. Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts]. Kreutz, Wilhelm: ›L’inscription qu’on pourra mettre sur les ruines des trúnes, […] peut Þtre conÅue dans ces deux mots: L’ouvrage de L’Illuminatisme‹. In: Christoph Weiß in

»Gerechte Lobsprüche«

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»Rec. […] bleibt […] lieber bey dem stehen, wo Hr. Forster in seinem eigentlichen Fache ist«: Forsters Reisebeschreibungen und Übersetzungen in der Allgemeinen deutschen Bibliothek

Georg Forsters Reise um die Welt (1777) stellt in Friedrich Nicolais Allgemeiner deutscher Bibliothek einen Fall dar, von dem Ute Schneider in ihrer Untersuchung des »Integrationsmedium[s] der Gelehrtenrepublik« schreibt: »Offensichtliche, d. h. für den Leser der ADB nachvollziehbare, Sanktionen der Rezensenten bei Verstößen gegen die Norm der objektiven Kritik sind kaum zu finden.«1 Der »einzige […] Fall«, den sie in ihrem Untersuchungszeitraum nachweisen konnte, betraf eine juristische Schrift, deren dritte Auflage für eine »Art Gegendarstellung« zur Rezension der vier Jahre zuvor erschienenen zweiten Auflage diente, die »begründet« wurde »mit der Pflicht gegenüber dem Publikum, ›den Werth dieses vortreflichen Buches richtiger anzuzeigen‹«.2 In der Besprechung des zweiten Bandes von Georg Forsters Reise um die Welt, deren erster Band drei Jahre vorher rezensiert worden war, konnte der Leser der ADB 1781 erfahren, sie sei »nach des diesmaligen Recensenten Einsicht, eins der lehrreichsten Werke, welches die deutsche Literatur dieses Jahrhunderts aufzuweisen hat«, woran sich eine explizite Verurteilung der Rezension des ersten Bandes anschloss: »Nicht anders als ungerecht konnte […] dem jetzigen Recensenten das Urtheil vorkommen, als ob diese Reisebeschreibung für die Naturhistorie nicht so viel leiste, als man von ihr erwartet habe.«3 Die Verurteilung der vorangegangenen Besprechung als »ungerecht« wird doppelt begründet: Der eingeschränkte Bewertungsmaßstab des Rezensenten sei weder den Interessen der Leser der ADB angemessen noch dem Buch. Die erste Begründung setzt die Vielfalt der Leserinteressen in Gegensatz zu einer ›unbillig‹ genannten Einschränkung, wenn es über Forsters ›Jahrhundertwerk‹ heißt: »Wenigstens wird keine Gattung von Lesern dasselbe, ohne reichliche Sättigung seiner Wißbegierde aus der Hand legen, so mannigfaltig auch die Standpunkte seyn mögen, aus welchen ein jeder das Nützliche, Wissenswürdige und Unterhaltende taxirt. Un1 Schneider, Friedrich Nicolais ›Allgemeine Deutsche Bibliothek‹, S. 304. 2 Ebd., S. 304. 3 Kästner, Johann Reinhold Forsters – – Reise um die Welt, S. 504.

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billig aber wäre die Forderung desjenigen, der verlangen wollte, daß die Reisebemerkungen sich allein auf das einschränken sollten, was ihm einer Aufklärung würdig scheint; denn dieses würde die Gemeinnützigkeit gerade zu aufheben.«4

Die zweite Begründung führt das Argument der Allgemeinheit des Wissenswürdigen weiter, indem darauf verwiesen wird, dass die Reise um die Welt nicht allein für ›Kenner‹ des ›Fachs‹ der Naturhistorie bestimmt sei: »der ältere Herr Professor Forster [hatte] die eigentlichen Entdeckungen in diesem Fache für ein den Kennern desselben allein bestimmtes Werk aufbehalten […], welches nun auch bereits erschienen ist. Eine so allgemein wissenswürdige Sache aber, als die Menschenkenntniß, nach allen Gradationen dieses Geschlechts, ist, hat gewiß die herrlichste Erweiterung durch das gegenwärtige erhalten; und es wird wegen der auf der Stelle gemachten Beobachtungen gewiß in diesem Fache zu allen Zeiten höchst schätzbar bleiben.«5

Auch im Fall von Johann Reinhold Forsters Observations on physical Geography, natural History and ethic Philosophy (1781) kam es bei Erscheinen der deutschen, bearbeiteten Übersetzung Georg Forsters, der Bemerkungen über Gegenstände der physischen Erdbeschreibung (1783), zu einer Korrektur des ursprünglich in der ADB publizierten Urteils, allerdings ohne explizite Kritik am ersten Rezensenten. »Auch in seiner Grundsprache verdiente in einer deutschen Bibliothek das Werk eines Deutschen, der seiner Nation so viel Ehre macht und für sie so eifrig ist, eine ansehnliche Stelle, noch mehr da es in unserer Muttersprache auf die angezeigte Art vermehrt erscheint. Es ist aber von der Beschaffenheit, daß niemand, der für so wichtige Gegenstände nur ein wenig Neugier besitzt, es ungelesen lassen kann […].«6

Als diese Gegenstände werden zunächst die sechs »Hauptstücke« der Bemerkungen aufgeführt: Erde, Wasser, Dunstkreis, Veränderungen der Erdkugel, Pflanzen und Tiere sowie Menschen, um dann zu betonen: »Hr. F. vergleicht das Neue das ihm seine Reise gezeigt hat, mit ältern Kenntnissen, und macht darüber philosophische Betrachtungen.«7 Gerade diese waren in der Besprechung der Observations getadelt worden: »Mehr als man in diesen Bemerkungen erwarten sollte, über die allgemeinen Grundsätze der Glückseligkeit, über den Ursprung der Gesellschaften und Regierungsformen.«8 Durch ein »sehr ausführlich« markiert der Rezensent, was seinen Erwartungen nicht entspricht und was er deshalb nicht referiert: »Von den Stufen, nach welchen sich diese Südländer 4 5 6 7 8

Ebd. Ebd., S. 504 f. Kästner, Bemerkungen über Gegenstände der physischen Erdbeschreibung, S. 323 f. Ebd., S. 323. [Anonymus], Observations made during a Voyage, S. 1487.

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immer mehr von ihrem rohen Zustande entfernen, sehr ausführlich.«9 Die Übersetzung des englischen Titels über der Rezension bereits ließ die in ihm annoncierten Gegenstände der Bemerkungen aus: on physical Geography, natural History and ethic Philosophy, und der Einleitungssatz kündigte eine Beschränkung auf das nicht bereits aus der Voyage bzw. Reise Bekannte an: »Da der Sohn des Herrn Verfassers die Bemerkungen seines Hrn. Vaters in seiner von uns angezeigten Reisebeschreibung schon genutzt hat: so wollen wir hier nur das anzeigen, was wir in jener nicht gefunden zu haben uns erinnern.«10 Unter Bezugnahme auf den Verfasser begründet der Rezensent, weshalb er im Weiteren einzelne Beobachtungen nacheinander zu Mineralogie, Botanik, Zoologie und »Natur und Menge der Einwohner« reiht:11 »Hr. F. hat seine Bemerkungen nicht nach der Zeit geordnet, zu welcher er sie gemacht hat, sondern vielmehr nach der Natur der Gegenstände, die sie betreffen.«12 Entsprechend – aber ohne sich auf den Verfasser berufen zu können – war der erste Rezensent der Voyage und der Reise vorgegangen, allerdings in umgekehrter Reihenfolge: Er beginnt mit Menschen (zwölf Seiten), wechselt dann abrupt, mitten im Absatz,13 zu den Tieren (vier Seiten), schließlich heißt es ebenso abrupt: »Und nun die Pflanzen […] ganz kurz.«14 Der Rezensent, der in einer Fußnote auf die unter Cooks Namen erschienene Reisebeschreibung von John Douglas verweist, führt einleitend Forsters »Verheißungen« aus seiner Vorrede an, um sie von vornherein für unerfüllt zu erklären: »so verspricht Hr. F. mit Hinweglassung alles dessen, was nur diesen [den »Seefahrer«] angeht, nur den Naturforscher und Anthropologen zu befriedigen, seine Reisebeschreibung sollte blos eine philosophische Geschichte seyn«.15 Entsprechende »Erwartungen« würden aber widerlegt, denn »manche Begebenheit, die eigentlich nur für diesen [den »Seefahrer«] ist«, werde »oft noch weit schleppender und ausführlicher, als von Cook erzählt, für die Geschichte der Menschheit wenig Neues gesagt, was nicht in den genannten Schriften [sc. Cooks, Furneaux’, des Kapitän der Adventure, im Anhang von Douglas] bereits steht, und der Naturforscher größtentheils auf besondere Werke vertröstet, welche die Hrn. Forster theils schon herausgegeben haben, theils noch herauszugeben im Sinne zu haben scheinen«.16

9 10 11 12 13 14 15 16

Ebd., S. 1486. Ebd., S. 1483. Ebd., S. 1485. Ebd., S. 1483. Gmelin, Voyage round the world, S. 601. Ebd., S. 605; es folgen zwei Seiten. Ebd., S. 589. Ebd.

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Die entscheidende Begründung für die Enttäuschung der Erwartung einer »reiche[n] Erndte für die Geschichte der Menschheit und der Natur« durch die Forsters als »Naturforscher und Weltweiser« formuliert der Rezensent so: »Hr. F. spielt zu sehr, und oft ganz am unrechten Orte den empfindsamen Jüngling, ziert sich zu sehr mit seiner Belesenheit in den Dichtern und andern schönen Schriften aller Nationen, streuet hin und wieder solche Raisonnements ein, die nicht zur Sache gehören, und hat die Gabe, mit vielen Worten wenig zu sagen.«17 Derselbe Rezensent besprach wenig später die Remarks on Forster’s Account of Captain Cook’s last voyage round the world (1778) des Astronomen an Bord der Resolution, William Wales. In einem langen Absatz wird einleitend deren »wesentlichste[r] Inhalt« undistanziert referiert, insbesondere die vom Rezensenten geteilte Voraussetzung, wenn eine »Erzählung treu« wäre, hätte »kein Leser […] Interesse«, zu erfahren, wer der Verfasser sei und »was er sonst für Eigenschaften besitzt«.18 In scheinbarem Widerspruch dazu, letztlich aber in Übereinstimmung mit der Voraussetzung präsentiert der Rezensent den Astronomen als »ein[en] Mann von Einsichten […], ein[en] Mann, der Zeuge von allen erzählten Begebenheiten und Bemerkungen ist, der sich anheischig macht, alles durch mehrere Zeugen zu erweisen […].«19 Dagegen wird aus Forsters Text auf den Charakter des Vaters geschlossen, um »das historische Ansehen dieses Werks sehr leiden« zu lassen:20 »Wenn ein Schriftsteller bloß das erzählt, was er gesehen und bemerkt hat: so mag es seinen Lesern noch so ziemlich gleichgültig seyn, was er sonst für Eigenschaften besitzt, wenn er nur in seiner Erzählung treu ist, aber wenn er auf jeder Seite ohne nahe Veranlaßung Tugend und Menschenliebe predigt, immer über die Hartherzigkeit, über die Trunkenheit, über den Neid, über das Fluchen, über die Unzucht seiner Reisegefährten, und über die wenige Achtung klagt; und doch selbst oft wider die Gebote der Menschenliebe handelt, andern ihre Kenntnisse ablockt, um damit zu seinem Vortheile zu wuchern, und weil sie sich nicht mehr dazu verstehen wollen, sie verläumdet, […] mit allen seinen Reisegefährten sich entzweyt, und […] sich durch seine brausende Hitze zu höchst beleidigenden Handlungen gegen den Kapitain selbst verleiten läßt, und durch einen unerträglichen Stolz verächtlich und lächerlich wird: so kann kein Leser ohne Interesse dabey bleiben.«21

Aus dem so gezeichneten Charakter des Vaters wird abgeleitet, dass der Text, für den der Sohn als Autor zeichnet, »vollends die Treue verletzt, die er dem Publicum schuldig ist, viele Nachrichten in einem ganz falschen Licht vorstellt, 17 18 19 20 21

Ebd. Gmelin, Remarks on Forster’s Account of Captain Cooks last voyage, S. 513. Ebd., S. 514. Ebd. Ebd., S. 513 f.

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Bilder seiner Einbildungskraft wahren Begebenheiten unterschiebt«.22 Von Wales ›dargetane‹ »geographische Fehler und selbst Nachläßigkeit in den Bemerkungen aus der Naturgeschichte«23 sieht der Rezensent durch Georg Forsters Reply to Mr. Wales’s Remarks bestätigt, wenn er aus deren Eingeständnis eine Schlussfolgerung zieht, mit der seine Besprechung beginnt: »Der jüngere Hr. Forster giebt sich hier als den einigen Verfasser jenes Werks aus, und bezeugt also, daß alle Einwürfe, welche gegen die Person seines Vaters gemacht werden, auf sein Werk keinen Einfluß haben. (An beyden Sätzen möchte mancher Leser zweifeln.) Er […] gesteht, […] daß selbst einige geographische Fehler in sein Werk eingeschlichen seyn könnten, und daß er manches […] für die Naturforscher vergessen, weil er seines Vaters Hefte nicht bey der Hand hatte.«24

Die ersten Besprechungen sowohl der Voyage und Reise als auch der Observations beurteilten deren Wert für die Naturgeschichte bzw. die Geographie negativ ; die wissenschaftliche Bewertung rekurrierte in beiden Fällen auf den Charakter des Autors, der in den ›nicht zur Sache gehörenden‹ Elementen der Texte gefunden wurde: in philosophischen, empfindsamen und ›schöne Schriften‹ zitierenden Reflexionen. Die korrigierenden Zweitbesprechungen wiesen den – auf ein oder zwei Fächer und deren Kenner beschränkten – Bewertungsmaßstab zurück, indem sie sich auf das allgemein Wissenswürdige und eine Mannigfaltigkeit von Standpunkten beriefen, das ›Nützliche, Wissenswürdige und Unterhaltende zu taxieren‹. Die Korrekturen können als Hinweis auf den unfesten Ort der Reisebeschreibung in der Systematik des Wissens angesehen werden, wie sie die ADB institutionalisierte. Auf den ersten Blick entsprechen die ursprünglichen Verrisse den Verallgemeinerungen von Tilman Fischer und Winfried Siebers über eine unversöhnlich auf faktizistische Neuigkeit festgelegte dominante,25 nämlich »gelehrte […] Kritik […] der Reisebeschreibung«.26 Für diese sei die in der Rhetorik traditionelle Zuordnung der Reisebeschreibung zur Geschichte verbindlich gewesen, wie sie schon dem Zedler (»zur Ergänzung der Historie«)27 und noch Johann Joachim Eschenburgs bei Nicolai erschienenem Lehrbuch von 1789 zu entnehmen ist.28 In der Rubrizierung der Reisebeschreibungen unter ›Geschichte‹ in der ADB wird aber auch sichtbar, vergleicht man sie mit dem auch in Nicolais Verlag erschienenen Lehrbuch der Wissenschaftskunde, dass 22 23 24 25 26 27 28

Ebd., S. 514. Ebd. Gmelin, Reply to Mr. Wales’s Remains [!], S. 516. Vgl. Fischer, Reisebeschreibungen, S. 578. Siebers, Keyßler, S. 53. Zedler (Hg.), Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 31, S. 361 f. Vgl. Eschenburg, Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften.

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›Geschichte‹ in der ADB »bereits abgetrennte Fächer« enthielt:29 Geographie und Statistik. 1790 wurde die Rubrizierung angepaßt: »Erdbeschreibung, Reisebeschreibung und Statistik« hieß es im Band 94 (1790), dann ab Band 95 (1790) »Erdbeschreibung, Statistik und Reisebeschreibung«, um zur ersten Umbennung mit Band 97 (1790) zurückzukehren, ohne dass damit eine »Ausdifferenzierung von Reiseliteratur und Geographie«,30 wie sie Rainer Baasner behauptet, abgeschlossen gewesen sei. Die Formel von Wissenschaft versus Literarisierung31 schließt an die ältere Rede von Objektivität versus Subjektivierung an,32 doch die systemtheoretisch angelegte These von einer ›Ausdifferenzierung‹ von Wissenschaft und Literatur als Kunst widerspricht ebenso den in der ADB beobachtbaren Veränderungen wie des Anthropologen Michael Harbsmeiers Erklärung des »zu Literarhistorie degradierten oder besser : beförderten Reiseberichts« aus einem »Niedergang des wissenschaftlichen Ansehens« der außereuropäischen Reisebeschreibung:33 Der in den achtziger Jahren von Forster, Herder, Kant und Meiners geführte ›anthropologische Diskurs‹ hätte »in einer allgemeinen Entwertung überseeischer Nachrichten und Erfahrungen kulminier[t]«.34 Was die ADB zeigt, ist der unfeste Ort der Reisebeschreibung. Die bisher behandelten Reisebeschreibungen und Übersetzungen Forsters wurden nämlich keineswegs – der Systematik entsprechend – in der Rubrik, so hieß sie im Jahr 1791: »Mittlere und neuere politische und Kirchengeschichte« besprochen,35 und die Rezensenten waren auch keine Historiker. Der Autor der Verrisse der Voyage und Reise war Johann Friedrich Gmelin, seit 1773 in Göttingen Professor für Medizin, Chemie und Philosophie,36 der hauptsächlich für eine »[d]isziplinäre Rezensionszeitschrift« arbeitete,37 das Chemische Journal.38 Sein Text zur Voyage erschien aber unter »Vermischte Nachrichten« und nur der zum ersten Band der Reise in der Rubrik »Von der Naturlehre und Naturgeschichte«; auch die Zustimmung zu Wales’ Polemik gegen Forster stand wieder in dieser Rubrik. Der Verriss der Observations stammte von Ludwig Johann Friedrich Hoepfner, einem Juristen, der seit 1771 in Gießen Professor, seit 1778 Hessisch-Darmstädtischer Regierungsrat und seit 1780 Oberappellationsrat am Reichskammergericht in Wetzlar war und dem 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38

Schneider, Friedrich Nicolais ›Allgemeine Deutsche Bibliothek‹, S. 316. Baasner, Staatsgeographus, S. 264. Vgl. auch Meier, Textsorten-Dialektik, S. 242 f.; sowie Bödeker [u. a.] (Hg.), Einleitung, S. 21. Vgl. Stewart, Reisebeschreibung, S. 88; sowie Hentschel, Reiseliteratur, S. 20. Harbsmeier, Rückwirkungen, S. 431. Ebd., S. 437. ADB 103 (1791), 1. St., S. 183. Vgl. Schneider, Friedrich Nicolais ›Allgemeine Deutsche Bibliothek‹, S. 298 f. Ebd., S. 334. Ebd., S. 322.

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Nicolai die »Redaktion des juristischen Fachs in der ›ADB‹« fast vollständig überließ,39 aber die negative Besprechung der Observations stand in dem Fach »Von der Geschichte und Geographie«. Beide Korrekturen schrieb der Göttinger Mathematik-Professor Abraham Gotthelf Kästner, der auch Technik, Naturgeschichte und Philosophie besprach;40 Kästners Revision des Urteils über Forsters Reise erschien unter : »Von der Geschichte, Erdbeschreibung, Diplomatik«, die Empfehlung seiner Observations-Übersetzung erschien als nicht in die FachRubriken eingeordneter, und zwar erster, Hauptartikel des Bandes mit »J. R. Forsters Bemerkungen über Erdbeschreibung, Naturgeschichte etc.« als eigenem Header. Die beiden Gegenbesprechungen Kästners fehlen sowohl in der Forster-Bibliographie Horst Fiedlers41 als auch in den Abschnitten zur Rezeptionsgeschichte im Kommentar von Band IV der historisch-kritischen AkademieAusgabe von Forsters Werken,42 wohl nicht nur aufgrund der sowieso bemerkenswerten Wirrnis in der Edition der Schriften zur Weltreise, sondern auch wegen einer literaturgeschichtlichen Konzeption, die Christoph Martin Wielands Auszügen aus Jacob Forsters Reise um die Welt 1778 im Teutschen Merkur eine ›Wende‹ in der Rezeption von Forsters Reise um die Welt zuschreiben will, Wieland habe »das allgemeine Urteil […] stark mitbestimmt«.43 Dagegen erweckt die Akademie-Ausgabe durch extrem selektives Zitieren den Anschein einer durchgängig negativen Besprechung der Forsterschen eigenen und übersetzten Reisebeschreibungen in der ADB durch »Fachwissenschaftler«,44 die vom Standpunkt ihrer Disziplin urteilten. Deshalb ist ein Zitat wie das folgende aus der Besprechung der Neueren Geschichte der See- und Landreisen. Bd. 1. Nachrichten von den Pelew-Inseln in der Westgegend des stillen Ozeans (1789) natürlich nicht zu finden: »Daß wir von Hrn. Hofr. Forster eine fernere Fortsetzung verdeutschter Entdeckungsreisen zu erwarten haben, zeigt uns der doppelte Titel der gegenwärtigen, zu unserm großen Vergnügen.«45 Bei einer Einbeziehung aller Reisebeschreibungen, die Forster schrieb, übersetzte und edierte, ob in einzeln veröffentlichten Büchern, Reihen oder Periodika, erweist sich, dass nicht nur in dem Jahr, in dem die Reisebeschreibung im Rubrikentitel vor die Statistik an die zweite Stelle hinter der Erdbeschreibung aufstieg, besonders viele Publikationen Forsters in der ADB besprochen wurden, und zwar nicht nur in dieser Rubrik, sondern auch schon in 39 40 41 42 43 44 45

Ebd., S. 73. Vgl. ebd., S. 136. Vgl. Fiedler, Bibliographie, S. 144. Vgl. Forster, Schriften, Bd. 4, S. 174. Ebd., S. 181. Ebd., S. 174. [Anonymus], Neuere Geschichte der See- und Landreisen, S. 502.

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den späten achtziger Jahren und besonders in den beiden letzten Lebensjahren Forsters. 1789 rezensierte der Meininger Advokat Wilhelm Friedrich Hermann Reinwald46 im Fach Geschichte »[m]it Entzücken« Forsters Übersetzung von Dupatys Briefe[n] über Italien vom Jahre 1785 mit den Worten: »daß die Uebersetzung von der Hand eines solchen deutschen Schriftstellers sehr gut seyn müsse, war schon zu vermuthen«.47 1790 besprach Reinwald im selben Fach Forsters schon erwähnte Übersetzung von Keates Pelew-Inseln unter Hervorhebung der »erläuternden Anmerkungen« und der »Vorrede, die […] große Blicke in die menschliche Natur enthält, und uns noch manchen Schatz aus seinen Tagebüchern und andern Collektaneen verspricht«.48 1791 empfahl Albrecht Georg Walch, Geheimer Archivar in Meiningen, der bis zum Ende der ADB im Fach Geschichte rezensierte, an Forsters Übersetzung von Moritz August von Benyowskys Schicksale und Reisen, von ihm selbst beschrieben insbesondere die »überaus lesenswürdige […] Vorrede«, weil sie »den inneren Beweis der Glaubwürdigkeit des Grafen aus seinem Charakter und aus dem Buche selbst« führte.49 1792 besprach die im Vorjahr erschienenen Ansichten vom Niederrhein der Gothaer Bibliothekar Georg Schatz, der seit den achtziger Jahren Nicolais stärkster Mitarbeiter in den Fächern der Schönen Wissenschaften und Schönen Künste war50 und der Forsters Beiträge über englische Literatur und Kunst zu Johann Wilhelm von Archenholz’ Brittischen Annalen im Fach Geschichte als »dieses scharfsinnigen und angenehmen Schriftstellers würdig« rezensiert hatte.51 Die Rubrik »Erdbeschreibung, Reisebeschreibung und Statistik« eröffnete Schatz’ Ansichten-Besprechung mit den Sätzen: »Ein Mann von so ausgebreiteten Kenntnissen und einem so thätigen Beobachtungsgeist, wie Hr. HR. Forster, wird immer manche neue und merkwürdige Seite der Dinge erfassen, selbst dann, wenn er durch Gegenden reiset, die oft und viel besucht werden, selbst dann, wenn er nur kurze Zeit auf die Betrachtung der Gegenstände zu wenden hat. Was einem gewöhnlichen Kopf nur nach langem, wiederholten [sic] Beschauen, mühsamen Combiniren und Vergleichen sich entdeckt, das entwickelt er in Augenblicken.«52

46 47 48 49 50 51 52

Vgl. Ost, Bibliothek, S. 58. Reinwald, Briefe über Italien, S. 506. Reinwald, Neuere Geschichte der See- und Landreisen, S. 502. Walch, Magazin von merkwürdigen neuen Reisebeschreibungen, S. 512. Vgl. Ost, Bibliothek, S. 55. [Anonymus], Annalen der brittischen Geschichte des Jahrs 1788, S. 67. [Anonymus], Ansichten vom Niederrhein, S. 246.

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1793 besprach Lessings Nachfolger als Wolfenbütteler Bibliothekar, Ernst Theodor Langer,53 Forsters Übersetzung von William Robertsons Historische[r] Untersuchung über die Kenntnisse der Alten von Indien, und die Fortschritte des Handels mit diesem Lande vor der Entdeckung des Weges dahin um das Vorgebirge der guten Hoffnung.54 Im Spektrum der Fächer der Rezensenten wie der Rubrizierung des Rezensierten zeigt sich nicht nur die Problematik einer verallgemeinernden Rede von ›der gelehrten Kritik‹, sondern deuten sich zwei Revisionen der Position an, von der die ADB ausgegangen war : Abgerückt wurde von der grundsätzlichen Verurteilung der unterhaltenden Lektüre von Reisebeschreibungen ebenso wie von der nicht weniger grundsätzlichen Verurteilung von Reflexionen in einer Reisebeschreibung. Über Johann Georg Gmelins Reise durch Sibirien von dem Jahr 1733 bis 1743 (1751/52) hieß es 1772: »Aber für Leser und Leserinnen, welche nur in der Absicht Reisebeschreibungen lesen, um sich die Langeweile angenehm zu vertreiben, oder, damit wir ihren eigenen Ausdruck brauchen, um sich zu amusiren; für solche schreibt kein gelehrter Reisender, wenigstens kein Deutscher.«55

Und im selben Jahr wurde die Spitze gegen Übersetzungen und vor allem gegen auf diesen beruhende Kompilationen noch deutlicher, anlässlich des zwanzigsten Bandes von Pr¦vosts Allgemeiner Historie der Reisen zu Wasser und zu Lande (1771), als deren neunzehnter Gmelins Reisebeschreibung erschienen war : »Deutsche Leser« wollen »nicht blos die Zeit weglesen«.56 Relativiert wurde, wie die zitierten Forster-Besprechungen zeigen, der Vorbehalt gegen zwei der drei – von Winfried Siebers an der Rezensionspraxis nachgewiesenen – »Grundelemente« der Reisebeschreibung: gegen Erzählung und Betrachtung.57 Seit Anfang der achtziger Jahre standen in der ADB nebeneinander : der Standpunkt des Kenners eines Fachs und der des für viele Klassen von Lesern als allgemein wissenswürdig Erachteten. So verriss im Namen »unsere[r] Leser«, die »nicht verlangen«, »nur sehr magere Erzählungen von den Abentheuern der Seefahrer in unbekannten Meeren« zu lesen, der Rezensent einen Nachdruck von Hawkesworth’ Historischem Bericht von den sämmtlichen durch Engländer geschehenen Reisen um die Welt (1780) folgendermaßen: »Ein Liebhaber der Naturgeschichte, dem es gerade nicht um die Länge und Breite dieser und jener Inseln in unbekannten Welttheilen zu thun ist, findet gar wenig 53 54 55 56 57

Vgl. Schneider, Friedrich Nicolais ›Allgemeine Deutsche Bibliothek‹, S. 52. Langer, Histor. Untersuchung über Kenntnisse der Alten von Indien, S. 325 – 330. [Anonymus], Samuel Georg Gmelins Reise durch Rußland, S. 247 f. [Anonymus], Allgemeine Historie der Reisen zu Wasser und zu Lande, S. 288. Siebers, Keyßler, S. 48.

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Unterhaltung und Nahrung für seinen forschenden Geist, und wenn Recensent seine Excerpten hergeben soll und muß, so wird es in wenigen Zeilen geschehen können.«58

Dagegen begrüßte der Rezensent des ersten Bandes der von Johann Reinhold Forster und Christian Matthias Sprengel herausgegebenen Beyträge zur Völkerkunde (1781) ausdrücklich deren Bestimmung des Programms, »neue, in deutscher Sprache nicht vorhandene Nachrichten« zu bringen: »Ihr Begriff von unbekannten Ländern erstreckt sich […] nicht bloß auf die außer europäischen [sic] Gegenden, vielmehr werden sie hier auch Nachrichten von Ländern und Inseln unsers Welttheils bekannt machen, wenn sie dem Naturforscher, Politiker, Menschenbeobachter und Weltbürger überhaupt […] so wichtig sind«.59

Ein späterer Band von Forsters und Sprengels Beyträgen wurde zwar wieder von einem Rezensenten mit dem dezidierten Standpunkt besprochen, dass »[d]iese beyden würdigen Gelehrten […] vorzüglich für den Kenner […] arbeiten«: »Freylich kann nur der Kenner das Verdienstliche und Mühsame ihrer Arbeiten gehörig schätzen, aber sein Beyfall ist auch nur allein würdige Belohnung für einen Forster und Sprengel.«60 Forsters und Sprengels »höhere Absicht« wird aber auf eine bemerkenswerte Weise von einem anderen »Zweck« unterschieden, nämlich »etwa nur müßigen Lesern eine zeitkürzende Lektüre zu liefern«; bemerkenswert ist die Einschränkung: »ein an sich zwar immer lobenswürdiger Zweck, wenn nur mit mehr Kenntniß und Wahl in den vielen izt gedruckten Sammlungen für ihn gearbeitet würde.«61 Trotz dieser bedingten Anerkennung der Unterhaltungsfunktion der Reisebeschreibung als Erzählung folgt aus dem leitenden Maßstab der Besprechung, der »wahren Bereicherung der Erd- und Menschenkunde«,62 der den Rezensenten an die Herausgeber den »Wunsch« richten lässt, »daß sie es seyn möchten, die uns etwas Ganzes über die vier übrigen Erdtheile lieferten, deren Geographie vom Herrn Büsching doch immer unvollendet bleiben wird«,63 eine Ablehnung von philosophischer Reflexion; diese wird in einer nationalen Wendung anlässlich Sprengels Kompilation aus Dalrymple, Forrest und Anville zu einer »Geschichte und Beschreibung der Philippinischen Inseln« so formuliert:

58 Abendroth, Historischer Bericht von den sämmtlichen durch Engländer geschehenen Reisen, S. 555. 59 Schröckh, Beyträge zur Völker- und Länderkunde, S. 177. 60 [Anonymus], Beyträge zur Völker- und Landeskunde, S. 496 f. 61 Ebd., S. 496. 62 Ebd. 63 Ebd., S. 497.

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»Man darf z. E. nur diese und andere Arbeiten des Hrn. Spr. mit denen über dieselbe Materien des Abt Raynal vergleichen, um den Unterschied zwischen einem denkenden deutschen Geschichtsforscher und einem französischen Declamateur zu fühlen.«64

Unter den seit Beginn des Interventionskriegs gegen die Französische Revolution verschärften Zensurbedingungen ist der Umgang mit dem ›Grundelement‹ Reflexion in den Forster-Besprechungen der ADB besonders bemerkenswert, nicht zuletzt weil sich der nationale Aspekt, der schon in den Korrekturen der ersten Forster-Rezensionen anklang, verstärkt. In der NADB wurde 1793 der Separatdruck einer Reisebeschreibung aus Forsters dreibändiger Geschichte der Reisen, die seit Cook an der Nordwest- und Nordostküste von Amerika und in dem nördlichen Amerika selbst von Meares, Dixon, Portlock, Coxe, Long u. a. m. unternommen worden sind (1791) besprochen, und zwar in einer ausschließlich »Reisebeschreibungen« genannten Rubrik: Reisen eines Amerikanischen Dolmetschers und Pelzhändlers, welche eine Beschreibung der Sitten und Gebräuche der Nordamerikanischen Eingebornen und einige Nachricht von den Posten am St. Lorenz-Flusse, dem See Ontario u. s. w. enthalten. Herausgegeben von J[onathan] Long.65 Die ADB titelte die Besprechung mit einer Verkürzung von Forsters einleitender »vorläufige[r] Schilderung des Nordens von Amerika«.66 Der Rezensent betonte, dass die Reisebeschreibung Longs, der »am Ende selbst Indianer […] wurde«,67 vom Übersetzer »durch eine interessante Abhandlung […] für den deutschen Leser noch wichtiger gemacht« werde, an der »edle […] Sprache« und »Kennerblick« hervorgehoben wurden,68 um dann die nachdrückliche Lektüreempfehlung mit einer Distanzierung zu verbinden: »Wer das nördliche Amerika nach seiner eigenthümlichen Beschaffenheit kennen lernen will, der lese die Abhandlung! Nicht so ganz kann es indessen der Recens. dem Herrn F. verzeihen, daß er bey jeder Gelegenheit Ausfälle gegen die englische Regierungsverfassung zum Vortheil der neuen französischen Constitution thut. Der Rec. hat noch keine Parthie genommen, ist noch ruhiger Zuschauer in der zuversichtlichen Ueberzeugung, daß kein denkender Mann in dieser Sache so lange mit Entscheidung sprechen kann, bis sich der Erfolg der Constitution, als der Wirkung eines leidenschaftlichen Ausbruchs, zum Vortheil des ganzen französischen Reiches selbst dargelegt hat. Bis jetzt ist es noch nicht geschehen!«69

Die Aussetzung des eigenen Urteils über Forsters Reflexionen – die in Mainz eine von Johannes Müller beim Kurfürsten entschärfte Denunziation durch einen 64 65 66 67 68 69

Ebd. Fiedler, Bibliographie, S. 56. [Anonymus], Reisen eines Amerikanischen Dolmetschers und Pelzhändlers, S. 339. Ebd., S. 339. Ebd., S. 345. Ebd., S. 346.

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Geistlichen Rat veranlassten70 – verstärkt letztlich eine Empfehlung, die zusätzlich auf die negative Beurteilung einer konkurrierenden Übersetzung gegründet wird. Auf zwei Seiten werden zwei Stellen aus den Übersetzungen Forsters und Eberhard August Wilhelm Zimmermanns, Mathematik- und Physik-Professor in Braunschweig, parallel gedruckt, »die erstern Anfangsperioden« und die Beschreibung eines Wasserfalls, um »eine Probe selbst entscheiden« zu lassen.71 Im Urteil des Rezensenten erweist sich Zimmermanns Text zwar als »fließend und treu, steht aber als deutsches Produkt der Forsterschen Uebersetzung nach«.72 Der Rezensent verbindet das Lob, dass »Forster die Gabe, den Gedanken des Engländers und ihrer Darstellung die wahre originelle deutsche Form zu geben, vor seinem Nebenbuhler zum voraus hat«, mit dem Tadel an Zimmermann, seine Anmerkungen »schränken sich blos auf […] Naturgeschichte […] ein«.73 Anders löste das Problem die sehr verspätete Besprechung von Forsters Übersetzung Des Capitain Jacob Cook’s dritte Entdeckungs-Reise (1787) durch einen anderen Wolfenbütteler Professor, den Rektor des Carolinums Christian Leiste, der von 1782 bis 1795 ähnlich universal wie Walch im Fach Geschichte der ADB rezensierte.74 Er »übergeht«75 im Jahr 1794 mit vielen Worten Forsters »unnütze oder beleidigende Anmerkung[en], wobey der Leser fragen könnte, warum sie da steh[en]«,76 was er damit begründet, dass die »philosophischmoralische[n] und politische[n] Betrachtungen«, die »Hr. F. […] seiner Gewohnheit gemäß« »bringt«, »keinen genauen Zusammenhang […] weder mit dem eigentlichen Gegenstande, noch auch unter sich« hätten, sondern »blos ein Commentar über das vorangesetzte Motto: nullius in verba« seien.77 Deshalb lobt er den »sachkundigen« Übersetzer einer konkurrierenden Ausgabe, den preußischen Hofrat und Ansbacher Bibliothekar Johann Ludwig Wetzel, dessen Anmerkungen »zur Sache gehören«, während Forster »seinen Egoismus und Verachtung anderer, die nicht so denken, wie er, durch Machtsprüche und Gemeinsätze geäussert, worin man schwerlich allemal Sinn und Zusammenhang finden kann«.78 So griff Leiste eine panegyrische Wendung von Forsters Vorrede auf, um sie jedoch der kurzen Darstellung von Cooks Charakter und Leben zuzuschreiben, die der englische Autor, John Douglas, aus dem Tagebuch des 70 Vgl. den Erstdruck: von Müller, Des Mainzischen Geistlichen Raths und Fiscals T. geschehene Anzeige. 71 [Anonymus], Neuere Geschichte der See- und Landreisen, Fünfter Band, S. 347. 72 Ebd., S. 347. 73 Ebd., S. 348 f. 74 Vgl. Ost, Bibliothek, S. 57. 75 Leiste, Geschichte der Seereisen und Entdeckungen im Südmeer, S. 195. 76 Leiste, Capitain Cooks dritte und letzte Entdeckungsreise, S. 218. 77 Leiste, Geschichte der Seereisen und Entdeckungen im Südmeer, S. 196. 78 Leiste, Capitain Cooks dritte und letzte Entdeckungsreise, S. 218.

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Kapitäns King übernommen hatte: Cook, hieß es, »den man als Weltentdecker mit so vielem Rechte, wie Friedrich den Einzigen nennen könnte«.79 Ausdrücklich angegriffen dagegen wird ein auf Immanuel Kant und Christoph Meiners bezogener Kommentar Forsters; der Rezensent macht sich die von Forster der Kritik unterzogene Ableitung des Schiffsarztes Anderson zum Kannibalismus verallgemeinernd zu eigen, indem er auch Cooks Täuschung über die Insulaner einbezieht: »Cook, der diesmal drittehalb Monat [sic] auf den Freundschaftsinseln zugebracht, […] macht die vortheilhafteste Beschreibung dieser Leute. Das dachte er also wohl nicht, daß eben diese Menschen […] seine Begleiter, den Lieutenant Bligh u. a. […] so kannibalisch behandeln würden! Hrn. Andersons Beobachtungen über diese und die Societätsinseln scheinen zwar das schon zu ergeben. Er entdeckte noch besonders auf letzteren manche Laster und Grausamkeiten an diesem ganz sinnlichen Volke, die den vorigen Beobachtern entgangen waren, und woraus unbefangene Leser leicht ihren verdorbenen Charakter erkennen werden: Hr. F. urtheilt indeß nicht so –.«80

Um so auffälliger ist, dass Leistes Rezensionen von Cooks Dritter Reise zweimal das Problem der Transkription der pazifischen Sprachen behandeln und dabei im Gegensatz zum Tenor der Rezensionen vom Vorzug und Verdienst der Übersetzung Forsters die Rede ist, auch wenn diese »nur sehr eingeschränkt zugestanden« werden: »der Vorzug, daß er [Forster] die zweydeutig geschriebenen Namen des Originals hin und wieder, wo er selbst gewesen ist, richtig im Deutschen schreiben […] konnte«,81 und »das Verdienst, die Namen, welche die englische Orthographie so oft völlig zweydeutig macht, wo es ihm möglich war, für unsere Aussprache richtig zu schreiben«.82 Vor allem aber die einleitende Bewertung von Forsters Buch als »dieses wichtige […] Werk, das […] selbst als Uebersetzung betrachtet, unserm Jahrhundert Ehre macht«, kann als Hinweis darauf genommen werden, dass Leiste wiederum eine »Art Gegendarstellung« liefert.83 Der Rezensent verweist zwar in der Erklärung der Verspätung der Besprechung darauf, dass er »schon die Vorzüge dieser Forsterschen Uebersetzung bey der Anzeige der Wetzelschen im 84sten Bande der A.d.B. dargethan« habe,84 aber er schweigt über die Umkehr der Bewertung der Kommentierung. Gleich der erste Satz der Besprechung des ersten Bandes von Wetzels Übersetzung im Jahr 1788 gab Forster den Vorzug, indem sie dessen Ersetzung der Einleitung des englischen Originals durch seinen Essay Cook, der Entdecker im Namen des Publikums rechtfertigte: »Die 79 80 81 82 83 84

Leiste, Geschichte der Seereisen und Entdeckungen im Südmeer, S. 209. Ebd., S. 203. Leiste, Capitain Cooks dritte und letzte Entdeckungsreise, S. 218. Leiste, Geschichte der Seereisen und Entdeckungen im Südmeer, S. 195. Schneider, Friedrich Nicolais ›Allgemeine Deutsche Bibliothek‹, S. 304. Leiste, Geschichte der Seereisen und Entdeckungen im Südmeer, S. 193.

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Einleitung ist, wie bekannt, vom Engl. Herausgeber, dem Hrn. Dr. Douglas, Domherren zu Windsor, statt deren Hr. Geh. R. Forster eine eigene Abhandlung seiner Uebersetzung vorgesetzt hat, die man freylich lieber lesen wird.«85 Leistes Ausgangspunkt bei der Besprechung der Wetzelschen Übersetzung selbst war, »daß Hr. Wetzel eine Arbeit unternommen, die das Publikum in jeder Rücksicht lieber von Hr. Forster, Cooks Begleiter, und Augenzeugen erwartete«.86 Zwei ›Rücksichten‹ wurden von Leiste besonders betont, aber die Fächer Naturgeschichte und Geographie wurden mit der sprachlichen Qualität von Forsters Text so in Zusammenhang gebracht, dass der Rezensent den Lesern empfahl, den Wetzelschen Text nach dem Forsters zu korrigieren, der »mit der Naturgeschichte dieser Länder weit besser bekannt ist […] und deshalb viele Angaben […] berichtigen, auch welches in der Geographie gewiß von Wichtigkeit ist, die oft höchst zweifelhafte Aussprache der nach englischer Orthographie geschriebenen Namen uns Deutschen richtiger angeben konnte, weil er selbst einer aus der Reisegesellschaft das vorigemal war, und wußte, wie die Namen ausgesprochen werden mußten«.87

Die Empfehlung Leistes lautete 1788, dass »alles, was Hr. W. nach der englischen Orthographie mit deutschen Buchstaben hat drucken lassen, nach unserer Aussprache aus Hrn. F. abgeschrieben werden sollte«.88 Schon ein Jahr vor Wetzels Übersetzung war eine weitere mit der Forsters konkurrierende besprochen worden, die anonym in Frankfurt/Oder vom Verleger Strauß herausgebrachte, Auszüge. Auch diese Rezension der ADB verglich, aber nicht unter dem Aspekt der Reflexion, sondern dem der Erzählung. Die letzten drei Worte lauteten: »sehr gut erzählt«,89 aber dieses Lob folgte aus der Einschränkung eines Tadels der »ausgehobenen Stellen«, die »bey einigen Gegenständen so weitläufig gerathen sey[en], daß auf diese der Name Auszüge nicht einmal paßt«;90 getadelt wurde: »Auf Naturgeschichte und eigentliche Geographie aber ist dabey keine sonderliche Rücksicht genommen. […] Indeß wollen wir das Buch nicht so geradehin tadeln. Wer die Reisebeschreibungen bloß zu seiner Unterhaltung lesen will, dem ist Hrn. Straußens Arbeit vielleicht schätzbarer als die vollständigere Nachricht bey Hr. Forster […] oder wohl gar der Kürze wegen angenehmer«.91

85 86 87 88 89 90 91

Leiste, Capitain Cooks dritte und letzte Reise, S. 174. Ebd., S. 175. Ebd. Ebd. [Anonymus], Reise nach den Stillen Ocean, S. 194. Ebd., S. 193. Ebd.

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Im Gegensatz zu den Besprechungen von 1787/88 erörterte Leiste 1794 nicht das Verhältnis von der Erzählung der »Begebenheiten« zu den »Bemerkungen«92 entweder als Beschreibung oder als Betrachtung, sondern schloss Forsters Kommentierung prinzipiell aus, damit z. B. für die Bewohner der Freundschaftsinseln aus »Andersons Beobachtungen […] unbefangene Leser leicht ihren verdorbenen Charakter erkennen«.93 Insofern waren Leistes Rezensionen der Dritten Reise Cooks auch eine ›Gegendarstellung‹ zu Reinwalds Besprechung von Forsters Übersetzung der Nachrichten von den Pelew-Inseln von George Keate. Reinwald begann seine Rezension mit »falsche[n] Gerüchte[n]« über die Pelewaner, »wegen Unmenschlichkeit und Menschenfresserey«, um dann Erzählung, Beschreibung und Betrachtung zu verknüpfen: »Im August des J. 1783 aber wurde das Englische Ostindische Postschiff, […] die ›Antelope‹, das Kapitän Wilson kommandierte, durch Sturm an die Pelew-Inseln getrieben, wo es Schiffbruch litt, und die Rettung der ganzen Mannschaft bloß der Gutmüthigkeit dieser Wilden verdankte. Diese Eigenschaft, mit Liebe zur Gerechtigkeit und Ordnung verbunden, und die Keime höhern Denkens bey manchen dieser Natursöhne, zeichnen dieses Volk und seine Entdeckung in der Geschichte der Menschheit ganz besonders aus, und gegenwärtige Nachricht muß sich daher von selbst dem empfindsamen Weltbürger und Geschichtsliebhaber empfehlen.«94

Leistes ›Gegendarstellung‹ machte 1794 aus den Südseeinsulanern wieder Kannibalen und belegt jene Koexistenz des unedlen und edlen Wilden, die Karl S. Guthke für »Aufschlüsse zur Mentalität deutschsprachiger Länder« zu nutzen vorgeschlagen hat.95

92 93 94 95

Ebd. Leiste, Geschichte der Seereisen und Entdeckungen im Südmeer, S. 203. Reinwald, Neuere Geschichte der See- und Landreisen , S. 500 f. Guthke, Edle Wilde, S. 341.

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Bibliographie 1.

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Forsters Reisebeschreibungen und Übersetzungen

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Andrea Ressel

»Von den Einwohnern, ihrer allmähligen Vermehrung, jetzigen Anzahl und Eintheilung«: Demographische Reflexionen in Friedrich Nicolais Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam im Vergleich mit Johann Peter Süßmilchs Göttlicher Ordnung 1.

Einleitung

In der Geschichte des intellektuellen Lebens in der preußischen Hauptstadt Berlin gehört Friedrich Nicolai (1733 – 1811) zu den markantesten Gestalten des 18. Jahrhunderts. Durch seine Tätigkeit als Buchhändler und Verleger, aber auch durch seinen zutiefst kritischen Geist, der sowohl in seinem literarischen als auch in seinem publizistischen Œuvre greifbar wird, beeinflusste er die Aufklärung auf eine ganz eigene Weise.1 Einblicke in sein spezifisches Verständnis von Aufklärung, verbunden mit nationalökonomischen und demographischen Überlegungen, gewährt er insbesondere in der Abhandlung Von den Einwohnern, ihrer allmähligen Vermehrung, jetzigen Anzahl und Eintheilung, die sich in seiner Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam findet.2 Erstmals publiziert im Jahre 1769, kommt darin ein historischer Diskurs über die städtische Bevölkerungsentwicklung zum Ausdruck, aus dem sich die Erkenntnisinteressen der frühen Demographie rekonstruieren lassen. In einer Zeit, in der noch keine offiziellen statistischen Ämter eingerichtet waren und die heutzutage als »vorstatistische Zeit«3 bezeichnet wird, bemühte sich Friedrich Nicolai anhand der ihm zur Verfügung stehenden Daten, die Bevölkerungsstruktur sowie auch die Ziele und Erfolge der preußischen Bevölkerungspolitik möglichst systematisch darzustellen und beides im Sinne einer populären, d. h. komplexitätsreduzierten, zugleich instruktiven und unterhaltsamen Aufklärung fruchtbar zu machen. In der Forschung hat man sich in den vergangenen Jahren mit zunehmendem Interesse dieser Frühphase der Demographie zugewandt. Durch die Erschließung und Auswertung von bislang wenig bekannten Datenressourcen aus der 1 Vgl. Mix, Lucri bonus odor oder Wie aufgeklärt war Friedrich Nicolai? 2 Vgl. Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 8/1. 3 Marschalck, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, S. 10.

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zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der Prozess der Bevölkerungsentwicklung in jener Zeit konkreter als bisher nachvollziehbar. Insbesondere besteht seit der Studie von Herv¦ Le Bras aus dem Jahre 2000 mit dem Titel Naissance de la mortalit¦ eine vertiefte Kenntnis über die Entwicklung der Demographie im 18. Jahrhundert.4 Einzuschränken ist allerdings, dass dem Einfluss von Schriftstellern und Publizisten sowohl bei der Verbreitung als auch der Weiterentwicklung von bevölkerungswissenschaftlichen Erkenntnissen aus dem deutschen Sprachraum bisher nur eine geringe Aufmerksamkeit zukam.5 Demzufolge blieben auch die von Friedrich Nicolai ausgehenden Impulse für die Etablierung der Demographie weitestgehend unbeachtet – dabei sind diese nicht nur von wissenschaftsgeschichtlicher Bedeutung, sondern können zugleich auch exemplarisch für prinzipielle Dispositionen aufklärerischer Weltaneignung stehen, aus denen sie hervorgehen. Es soll im Folgenden daher der Frage nachgegangen werden, welche Rolle Friedrich Nicolais Abhandlung Von den Einwohnern, ihrer allmähligen Vermehrung, jetzigen Anzahl und Einteilung innerhalb der Wissenschaftsgeschichte der Demographie zukommt und inwiefern er damit die Erkenntnisse über die Bevölkerungsentwicklung stilisiert, um als Aufklärer historisch neuartige Datenkorpora einer weiteren Leserschaft zugänglich zu machen. Im ersten Abschnitt soll zunächst auf Friedrich Nicolai und Johann Peter Süßmilch (1707 – 1767) als preußische Wegbereiter der Demographie eingegangen werden, um zu verdeutlichen, inwiefern für beide die Statistik zu einem Medium der Aufklärung wurde und welche divergierenden, einander jedoch auch komplementär ergänzenden Diskurse in ihren Publikationen erkennbar sind. Danach soll versucht werden, Nicolais demographische Stadtbeschreibung zum einem in seinem Aufklärungsverständnis und zum anderen im Kontext der preußischen Bevölkerungspolitik zu verorten.

4 Vgl. Le Bras, Naissance de la mortalit¦. 5 Vgl. hingegen zur Wissenschaftsgeschichte der Demographie in Frankreich das Kap. »Voltaire d¦mographe« in Hasquin, Population, commerce et religion au siÀcle des lumiÀres, S. 3 ff.; sowie Brian, Staatsvermessungen. Condorcet, Laplace, Turgot und das Denken der Verwaltung, S. 197 ff., der das damalige Gelehrtennetzwerk und den Austausch zwischen Schriftstellern und Statistikern in Frankreich spezifiziert und bevölkerungswissenschaftliche Aspekte in Voltaires (1694 – 1778) Erzählung Homme aux quarante ¦cus (1768) herausarbeitet (vgl. ebd., S. 259 ff.).

Demographische Reflexionen

2.

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Statistik als Medium der Aufklärung: Friedrich Nicolai und Johann Peter Süßmilch als preußische Wegbereiter der Demographie

In der Etablierungsphase der Demographie als wissenschaftlicher Disziplin gingen im deutschsprachigen Raum entscheidende Impulse von Preußen aus. Besondere Verdienste kommen dem preußischen Pfarrer Johann Peter Süßmilch zu, der in seinem 1741 publizierten Werk Die Göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen6 anhand der ihm zur Verfügung stehenden Kirchenbücher statistische Berechungen durchführte und damit die Bevölkerungsstruktur mittels objektivierbarer Kennzahlen ergründete. In Süßmilchs Werk wurden erstmals bevölkerungswissenschaftliche Phänomene und relative Gesetzmäßigkeiten mit Hilfe eigenständig entwickelter statistischer Methoden umfassend analysiert. Süßmilch hatte den ersten monographischen Beitrag zu einer bis dahin in Deutschland noch weitgehend unbekannten Wissenschaft geschrieben und war damit zu einem Wegbereiter der Demographie geworden.7 Durch die Berechnung der Bevölkerungsstruktur übte Süßmilch einen richtungweisenden Einfluss auf die Entwicklung einer systematischen Bevölkerungswissenschaft aus und avancierte zu einer Schlüsselfigur der frühen Demographie. Seine Erkenntnisse machten nicht nur auf Entwicklungsprozesse in der Bevölkerungsstruktur aufmerksam, sondern sie bewirkten unter den Gelehrten auch eine umfassende Auseinandersetzung mit Aspekten der Bevölkerungswissenschaft – dazu gehörte nicht zuletzt, dass im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Bevölkerungsstatistik zum Bestandteil der universitären Ausbildung wurde. Fortan begannen Historiker, zu denen u. a. Gottfried Achenwall (1719 – 1772) zählte, an deutschen Universitäten die Bevölkerungsstatistik als wichtigste Grundlage der Staatenkunde zu lehren – doch wurde diese Disziplin innerhalb der traditionellen Gelehrsamkeit zunächst weniger als »ernsthafte Wissenschaft«, sondern vielmehr als modischer Zeitvertreib angesehen.8 Achenwall, der erstmals den Fachterminus ›Statistik‹ benutzte, verstand darunter eine Disziplin der »Statsverfassung eines oder mehrerer Staaten«9 und publizierte 1749 sein Werk Staatsverfassung der heutigen vornehmsten euro-

6 Vgl. Süßmilch, Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts. Im Folgenden wird als Kurztitel Die Göttliche Ordnung verwendet. 7 Vgl. Dreitzel, Süßmilchs Beitrag zur politischen Diskussion der deutschen Aufklärung, S. 45. 8 Bonß, Die Einübung des Tatsachenblicks, S. 74. 9 Obermann, Die deutsche Bevölkerungsstatistik und die Bevölkerungsstruktur des Deutschen Bundes in den Jahren um 1815, S. 190.

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päischen Reiche und Völker im Grundriß,10 das der Statistik bzw. der Untersuchung der Zustände in den verschiedenen europäischen Staaten über die Universitäten hinaus große Beachtung verschaffte.11 Der Weg zu einer exakten Beschreibung der Bevölkerungsstruktur war indes mühsam und langwierig, denn für alle Fragen, die in diesem Zusammenhang aufkamen, mussten die Gelehrten überhaupt erst geeignete Berechnungsmethoden entwickeln.12 In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren aber nur äußerst unzureichende Voraussetzungen gegeben, um wirklich genaue Kenntnisse über die zahlenmäßige Größe und die Struktur der Bevölkerung zu erhalten. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass die Publikation von Süßmilchs Werk eine flächendeckende Auseinandersetzung mit der Bevölkerungsentwicklung in den deutschsprachigen Gebieten zur Folge hatte. Angesichts des zunehmenden wissenschaftlichen Interesses an der Analyse der Bevölkerungsstruktur wuchs in den nachfolgenden Jahren auch der Wunsch nach zuverlässigen Daten.13 Dabei war es erneut Süßmilch, der sich in Preußen für eine Aufzeichnung von demographischen Daten aussprach und darauf drängte, die damals bereits seit 14 Jahren eingestellte Anfertigung von Populationslisten wieder aufzunehmen.14 Unterstützung bei seinem Vorhaben erhielt er vom preußischen König, der ihm eine »uneingeschränkte Benutzung des Ministerialarchivs«15 ermöglichte. Begünstigt durch seine Berufung nach Berlin als Mitglied des Oberkonsistoriums im Jahre 1750 und durch die Unterstützung des Königs, setzte er sich dafür ein, die Einrichtung und Führung der Geburts-, Trauungs- und Sterberegister zu verbessern und die allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber den Populationslisten zu bekämpfen.16 Im Jahr 1805 wurde mit der Eröffnung des ersten statistischen Bureaus in Preußen ein Verwaltungsapparat geschaffen, der es fortan ermöglichte, systematisch die Bevölkerungsstruktur zu analysieren.17 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts entstand durch die verbesserten statistischen Methoden auch bei den Staatsoberhäuptern ein immer größeres Interesse an der Bestimmung der genauen Anzahl der Bewohner eines Landes, um daraus die Höhe der steuerlichen Einnahmen ableiten zu können und die Anzahl der für militärische Dienste in Frage kommenden Personen zu ermitteln.18 Die Bevöl10 Vgl. Achenwall, Staatsverfassung der heutigen vornehmsten europäischen Reiche und Völker im Grundriß. 11 Vgl. ebd., S. 191. 12 Vgl. Kaufhold, Quellen zur Gewerbestatistik Deutschlands vor 1850, S. 72. 13 Vgl. Gehrmann, Bevölkerungsgeschichte Norddeutschlands zwischen Aufklärung und Vormärz, S. 37. 14 Vgl. ebd. 15 Dreitzel, J. P. Süßmilchs Beitrag zur politischen Diskussion der deutschen Aufklärung, S. 84. 16 Vgl. ebd., S. 85. 17 Vgl. Marschalck, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, S. 10 ff. 18 Vgl. Pfister, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie, S. 6.

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kerungsentwicklung wurde im 18. Jahrhundert nicht mehr als unabwendbares, willkürliches Schicksal hingenommen, sondern man begann, die Herbeiführung des optimalen Bevölkerungszustandes als zentrale Angelegenheit der Staatsregierung zu begreifen und bediente sich hierfür der Statistik als eines empirischen Hilfsmittels. Die Berechnungen über die Bevölkerungsstruktur fanden zunehmend Eingang in die zeitgenössischen Publikationen – so erscheint es legitim zu behaupten, dass die Veröffentlichung von statistischen Daten als ein genuines Phänomen der Aufklärung zu betrachten ist. Während in älteren Epochen die Auffassung vertreten wurde, dass Angaben über die Anzahl der Bevölkerung ein zu schützendes Staatsgeheimnis seien und die einzelnen Nachbarstaaten keinesfalls die jeweiligen finanziellen und militärischen Möglichkeiten erfahren sollten, rückten einschlägige Datensammlungen nunmehr in den Fokus der Öffentlichkeit. Der französische Mathematiker Antoine Marquis de Condorcet (1743 – 1794) beispielsweise äußert sich daher in seinem Esquisse d’un tableau historique des progrÀs de l’esprit humain (1793)19 über die Geheimhaltung der statistischen Daten durch die Obrigkeit überaus scharf: »Da ihr Ziel nicht Aufklärung, sondern Herrschaft hieß, teilten sie ihr Wissen dem Volk nicht nur unvollständig mit – sie verdunkelten obendrein durch Irrtümer, was sie ihm preiszugeben bereit waren; sie unterwiesen das Volk nicht durch das, was sie für wahr hielten, sondern was ihnen nützlich war.«20

Erst durch die Aufklärungspublizistik kam es im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einer tendenziellen Auflockerung dieser Geheimhaltungspolitik, und es wurden nach und nach Informationen über die wissenschaftlichen Fortschritte auf diesem Gebiet zugänglich gemacht.21 Vor allem im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wurde die Veröffentlichung von statistischen Angaben nachgerade zu einer Art Modeerscheinung.22 Dem interessierten Publikum wurden statistische Beiträge in den verschiedensten Genres dargeboten: in fachwissenschaftlichen Werken, in Topographien, Reisebeschreibungen und Ortsgeschichten, in Briefwechseln, in Monographien über einzelne Gewerbezweige, Produkte und Personengruppen, in technologischen Schriften, in Periodika, Adressbüchern, Fabrikbeschreibungen oder auch in Biographien.23 Statistische Angaben zu wirtschafts- und sozialpolitischen Themen waren gegen Ende des 18. Jahrhunderts

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Vgl. Condorcet, Esquisse d’un tableau historique des progrÀs de l’esprit humain. Zit. nach Brian, Staatsvermessungen, S. 30. Vgl. Sachse, Die publizierte Statistik bis um 1860, S. 4. Vgl. ebd., S. 6. Vgl. ebd.

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auch in Tageszeitungen aufzufinden, was für ein aufkommendes Interesse seitens einer Öffentlichkeit außerhalb der Fachwissenschaft spricht.24 Friedrich Nicolai reagierte prompt auf die gesteigerte Publikumsnachfrage nach statistischen Erkenntnissen. Seine Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam (1769) enthält ebenso wie die Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz (1783 – 1796) einen reichen Fundus an quantitativen Daten über die beschriebenen Gebiete. Vor allem aber sind Nicolais Reisebeschreibungen ungemein ergiebige Quellen zur Kultur- und Geistesgeschichte, da sie eine Fülle von Details und Zustandsschilderungen zu den verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens in den bereisten Gebieten enthalten, natürlich stets gefiltert durch Nicolais Wahrnehmungen und Deutungen.25 Matthias Buschmeier, der in seinem Aufsatz Das rollende Büro. Nicolais Technik des statistischen Reiseberichts detailliert auf die statistischen Aufzeichnungsmethoden in Nicolais Reiseberichten eingeht, konstatiert, dass die darin enthaltenen Daten vordergründig zur Evidenzierung der im Fließtext vorgetragenen Aussagen dienen.26 Aufgrund der in den Reisebeschreibungen enthaltenen demographischen und topographischen Daten gleichen diese beinahe einem enzyklopädischen Inventar und verdeutlichen der Leserschaft die Zustände verschiedener Landstriche.27 Seinem aufklärerischen Selbstverständnis nach machte Nicolai es sich insbesondere zur Aufgabe, die ›Wahrheit‹ aufzudecken, obgleich jüngere Forschungsarbeiten gezeigt haben, dass er es mit der Wahrheit keineswegs immer ganz genau nahm, wenn es um Interessen ging, die er für vorrangig erachtete.28 Jedenfalls nutzte er vordergründig objektive Methoden wie die Statistik für seine Zwecke und Absichten, und so verwundert es nicht, dass auch in seinem Verlagsprogramm etliche Publikationen – oft auch in Übersetzung – mit topographischem, bevölkerungsstatistischem, kameralistischem, nationalökonomischem und kulturgeschichtlichem Inhalt erschienen.29 Das wissbegierige Publikum sollte offenbar nicht nur über die territorialstaatlichen Grenzen hinweg teilhaben können an den unterschiedlichen Lebensverhältnissen im deutschen Sprachraum, sondern auch mit dezidierten Wertungen darüber versorgt werden. Topographie und Statistik fungierten dabei als argumentatives Unterfutter, mit dessen Hilfe nicht nur die Beschreibungen der

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Vgl. ebd., S. 8. Vgl. ebd., S. 12. Vgl. Buschmeier, Das rollende Büro, S. 141 ff. Vgl. Bödecker, Friedrich Nicolai auf Reise, S. 317. Vgl. Wolf, Konfessionalität, Nationalität und aufgeklärter Patriotismus, bes. S. 38 – 48; sowie Mix, Lucri bonus odor oder Wie aufgeklärt war Friedrich Nicolai?, S. 341 – 348. 29 Vgl. Raabe, Der Verleger Friedrich Nicolai, S. 79.

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verschiedenen Gegenden glaubwürdig erscheinen sollten, sondern mit denen auch Überlegenheitsansprüche geltend gemacht wurden.30

3.

Friedrich Nicolai und die Historisierung der Bevölkerungsentwicklung: Kritik als Gegenstand aufgeklärten Denkens

Die Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, die 1769 in erster, 1779 in zweiter und 1786 in dritter Auflage erschien, gehört, wie Horst Möller zeigte, aufgrund der »gründlichen und produktiven Quellenkenntnis ihres Verfassers, der methodisch korrekten Auswertung des Materials sowie der umfassenden Fragestellung […] zu den Meilensteinen der deutschen Geschichtsschreibung«.31 Beginnend mit einer historischen Einleitung, die von den Anfängen der Besiedlung Berlins bis in seine Gegenwart reicht, akzentuiert Nicolai besonders prägnant die Bevölkerungsentwicklung und setzt diese in Beziehung zu dem wirtschaftlichen Aufschwung Preußens. Darin zeigt sich Nicolais geschichtsoptimistisches Interesse an der Statistik sowie an der Entwicklung und am Fortschritt in sämtlichen Lebensbereichen.32 In der Beschreibung der Königlichen Residenzstädte setzt er sich unter anderem mit den historischen Stadtbeschreibungen seiner Vorgänger auseinander. Er nutzte die zur damaligen Zeit noch recht überschaubaren demographischen Quellen als Grundlage für seine Stadtbeschreibung, doch distanzierte er sich oftmals von den bisher verbreiteten Ansichten, da er in etlichen Punkten durch seine eigenen Berechnungsmethoden und Überlegungen zu anderen Auffassungen gelangte. Infolgedessen stellen seine Einlassungen über weite Strecken eine grundlegende Kritik an den vorherigen bevölkerungswissenschaftlichen Arbeiten dar. Obgleich er seine Begeisterung für das Werk des »berühmten Süßmilch«33 bekundet, gibt er ihm gegenüber seinen kritischen Impetus nicht auf und behauptet, dass auch die Angaben in der Göttlichen Ordnung nicht immer zutreffend seien, wie aus dem folgenden Zitat hervorgeht: »Süßmilch, der um 1590 die Mittelzahl der Todten mit 500 zu hoch ansetzt, setzt sie von 1685 bis 1690 wieder mit 500, aber offenbar, viel zu niedrig an; besonders, da, wie eben gezeigt worden, die Anzahl der Todten schon in den nächstvorhergehenden Jahren größer war. Es fällt ohnedieß gleich beym ersten Anblicke in die Augen: es könne, bey 30 31 32 33

Vgl. Martens, Ein Bürger auf Reisen, S. 100. Möller, Friedrich Nicolai als Historiker, S. 142. Vgl. Raabe, Der Verleger Friedrich Nicolai, S. 79. Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 8/1, S. 196.

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der ungemeinen Vergrößerung Berlins unter Kurf. Friedrich Wilhelm, unmöglich die Anzahl der Einwohner 1690 so gering geblieben seyn, wie 1590; welches sich auch bey näherer Untersuchung gar sehr bestätigt.«34

Nicolais historische Stadtbeschreibung wird zu einer Auseinandersetzung mit den bisherigen Werken auf diesem Gebiet. Dabei setzt er sein kritisches Aufklärungsverständnis insofern um, als er die bisherigen Ergebnisse seiner Vorgänger in Zweifel zieht. Diese öffentliche Kritik nutzt er nicht nur zu einer spezifischen Art von Wissensverbreitung, sondern vor allem als Mittel, um eine vernunftgeleitete Diskussionskultur in gebildeten Kreisen zu provozieren – galt doch sein vielzitierter Ausspruch »Kritik ist überall, zumal in Deutschland, nötig«.35 Aus dieser Überzeugung heraus wird für Nicolai die Kritik an den bisherigen demographischen Ergebnissen zum Anlass, auf die Notwendigkeit von weiterführenden Berechnungen hinzuweisen und zugleich neue Erkenntnismöglichkeiten durch verbesserte theoretische Instrumentarien herauszustellen. Wenn man diese Vorgänge als Historisierung der Stadtbeschreibung bezeichnen möchte, so ist diese untrennbar verknüpft mit Fortschritten in der Statistik, mit deren Hilfe seit der Publikation von Süßmilchs Göttlicher Ordnung immer präzisere Methoden zur mathematischen Erfassung der Bevölkerungsstruktur geschaffen wurden. Während in der Mitte des 18. Jahrhunderts Süßmilchs Werk den Ausgangspunkt dafür bildete, das zeitgenössische Klärungsbedürfnis in demographischen Fragen zunehmend zu befriedigen, zeigt sich gegen Ende des Jahrhunderts, dass seine Ergebnisse infolge eines geradezu sprunghaften Anstiegs einschlägiger Kenntnisse mehr und mehr in Frage gestellt werden. Eine Besonderheit der demographischen Einlassungen seines vergleichsweise frühen Kritikers Nicolai besteht darin, dass er sich gezielt an den historischen Zustandsbeschreibungen orientierte, um in Abgrenzung dazu auf die Möglichkeiten des Fortschritts hinzuweisen, da sich erst aus dem Zustand der Vergangenheit der gegenwärtige ableiten lasse.36 Das progressive Streben der Gelehrten nach verbesserten statistischen Berechnungsmethoden geht demzufolge aus dem Bemühen hervor, fehlerhafte Erkenntnisse älteren Datums zu korrigieren, so dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu einem Bestandteil des kritischen Projekts ›Aufklärung‹ wird. Der aufklärerischen Kritik kommt damit eine doppelte Funktion zu: Erstens, die Kritik an der Vergangenheit soll helfen, die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu gestalten.

34 Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 15, S. 221. – Vgl. zur Kritik an Süßmilchs Statistiken auch S. 215, S. 218 u. S. 220. 35 Nicolai, zit. nach Albrecht, Nachwort, in: Friedrich Nicolai. Kritik ist überall, S. 483. 36 Vgl. Bödecker, Friedrich Nicolai auf Reise, S. 323.

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Zweitens, die Kritik soll damit zu einem Antrieb eines fortschrittlichen Denkens werden, um das Gemeinwohl zu befördern.

4.

Friedrich Nicolais statistische Stadtbeschreibung im Kontext der preußischen Bevölkerungspolitik

In der Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam analysiert Friedrich Nicolai bemerkenswert gründlich die Bevölkerungsentwicklung seit dem 16. Jahrhundert und ihre Ursachen. Bei näherer Betrachtung lässt sich erkennen, dass seine historische Stadtbeschreibung zu einem positiven Urteil über die merkantilistische ›Peuplierungspolitik‹ führt – dabei stützt er sich auf statistische Daten, die er aus kirchlichen Eheschließungs-, Geburts- und Sterbelisten erschlossen hat.37 Seine Aufgliederungen berücksichtigen verschiedene Aspekte wie Geschlecht, Konfession, Nationalität und ständische Zugehörigkeit. Die Auswertung erfolgt nach der Methode, die bereits Süßmilch in seinem Werk Die göttliche Ordnung entwickelt hatte.38 Nicolai ergänzt diese Methode, indem er die statistischen Daten vor dem jeweiligen historischen Hintergrund analysiert, dabei die Regentschaft und den Zuwachs der Bevölkerung miteinander in Beziehung bringt – er analysiert aber auch die Auswirkungen von Kriegen, Epidemien, Hungersnöten, Missernten und Teuerungen auf die Bevölkerungszahl.39 Dabei kommt Nicolai zu dem Ergebnis, dass seit »K. Friedrich der Große seine beglückte Regierung antrat«40 und während der nachfolgenden Friedensjahre ein Bevölkerungszuwachs stattfand, wie unter anderem das folgende Zitat belegt: »Man siehet mit großem Vergnügen die wachsende Vermehrung der Bevölkerung in diesen glücklichen Friedensjahren, in welchen alle nützliche Künste und Manufakturen zunahmen, in welchen ein mäßiger Preis der Lebensbedürfnisse die Ehen vermehrte, in welchen die milde Regierung und der Ruhm Friedrichs des Grossen eine große Menge Ausländer herbeyzog.«41

Aufgrund seiner empirisch begründeten Darstellungen kam Nicolai zu dem Schluss, dass eine politisch herbeigeführte Bevölkerungsvermehrung – eine großzügige Aufnahme oder Anwerbung von Gewerbetreibenden, Förderung der Manufakturen – Wohlstand und eine vorteilhafte Ernährungssituation nach sich Vgl. Möller, Friedrich Nicolai als Historiker, S. 140. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 140 f. Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 8/1, S. 200. 41 Ebd., S. 201.

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ziehen könne, und er befürwortet deshalb die merkantilistisch motivierten Peuplierungsbestrebungen Preußens. Bemerkenswert sind dabei ebenso die in seinen Angaben zum Ausdruck kommenden »sozialen und politischen Motivationen der positiven Bewertung Friedrich Wilhelms I. (1688 – 1740) und Friedrichs II. (1712 – 1786)«.42 Die Bevölkerungsentwicklung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam wertet Nicolai gezielt aus, um zu verdeutlichen, welche Faktoren die Bevölkerungsentwicklung begünstigen. Nicolai folgt dabei den Auffassungen Süßmilchs und akzentuiert wie dieser die besondere Bedeutung der Bevölkerung für ein gleichermaßen funktionstüchtiges und florierendes Staatswesen. Bereits im 17. Jahrhundert betonten Staatstheoretiker und Kameralisten die Gefahren, welche ein Bevölkerungsrückgang mit sich brachte – eine Problematik, die im ausgehenden 18. Jahrhundert verstärkt in den Fokus der wissenschaftlichen Demographie rückte. Geschürt wurden entsprechende Bedenken durch Zählungen in Schweden im Jahr 1743, in England im Jahr 1801 sowie durch die beiden umfangreichsten empirischen Untersuchungen aus dem französischen Ancien R¦gime, die zum einen Jean-Baptiste Moheau (1745 – 1794)43 und zum anderen Louis Messance (1734 – 1796)44 in den Jahren 1766 bzw. 1778 in Paris publizierte.45 Auch im deutschsprachigen Raum gab es Gelehrte, die von einem Rückgang der Bevölkerung ausgingen. Ein entscheidender Vertreter dieser Theorie war der Merkantilist Johann Friedrich von Pfeiffer (1718 – 1787). Der seit 1782 an der Universität Mainz tätige Professor für Kameralwissenschaften machte auf die Bedrohungen durch einen akuten Bevölkerungsrückgang aufmerksam.46 Auch Johann Heinrich Gottlob von Justi (1720 – 1771), ein namhafter Nationalökonom und Kameralist, war der Ansicht, dass die Bevölkerung in der Antike und im Mittelalter zahlreicher gewesen sei als zu seiner Zeit.47 Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts glaubt der französische Philosoph Charles de Secondat Montesquieu (1689 – 1755) einen Rückgang der Einwohnerzahl registrieren zu können: »Woher ist die Welt jetzt so schwach bevölkert im Vergleich zu früheren Zeiten? Wodurch hat die Natur jene üppige Fruchtbarkeit verlieren können, die sie ehemals besaß? Sollte sie schon zu altern beginnen und in Erschlaffung versinken?«48 Möller, Friedrich Nicolai als Historiker, S. 144. Vgl. Moheau, Recherches et consid¦rations sur la population de la France. Vgl. Messance, Recherches sur la population des g¦n¦ralit¦s d’Auvergne. Vgl. hierzu auch Dreitzel, J. P. Süßmilchs Beitrag zur politischen Diskussion der deutschen Aufklärung, S. 40. 46 Vgl. Birg, Demographie und Ethik, S. 19. 47 Vgl. Fuhrmann, Volksvermehrung als Staatsaufgabe, S. 34. 48 Montesquieu, zit. nach Fuhrmann, Volksvermehrung als Staatsaufgabe, S. 35.

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Nach heutigen Berechnungen handelte es sich bei der Annahme eines Bevölkerungsrückgangs im 18. Jahrhundert um eine falsche Einschätzung, die im Wesentlichen auf dem Fehlen fundierten demographischen Zahlenmaterials beruhte, denn die numerische Erfassung der Bevölkerung befand sich noch in den Anfängen.49 Konträr zu diesen Auffassungen standen gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Erkenntnisse von Thomas Malthus (1766 – 1834), der in seinem Essay on the Principle of Population (1798) darauf hinweist, dass eine ständig anwachsende Bevölkerung und eine infolgedessen drohende Überbevölkerung die allgemeine Lebensqualität verschlechtern würde. Mit dem Erscheinen des zunächst anonym publizierten Hauptwerks des englischen Geistlichen Thomas Malthus setzte im theoretischen Bevölkerungsdiskurs – zunächst in England, später auch in Deutschland – eine grundlegende Wende ein.50 Aufgrund der veränderten Sichtweise der Bevölkerungsentwicklung entstand eine völlig neue Bevölkerungslehre, die bewirkte, dass Süßmilchs Werk in der Folgezeit im Wesentlichen nur noch als Materialiensammlung von Bedeutung war.51 Trotz divergierender Vorstellungen lässt sich aus beiden Werken ableiten, dass sowohl Süßmilch als auch Malthus um das Wohlergehen der Bevölkerung bemüht waren. Auch Friedrich Nicolai, der Süßmilch prinzipiell weitaus näher steht als Malthus, stellt in seiner historischen Stadtbeschreibung diejenigen Faktoren heraus, die zur Verbesserung der Lebensqualität in der Bevölkerung führen. Durch seine öffentliche Auseinandersetzung mit den Daten und Thesen Süßmilchs ebnete Nicolai den Weg für sozialpolitische Diskussionen, in der die Lebenslagen der Bewohner eines Staates zunehmende Aufmerksamkeit erhielten. Aus den verbesserten statistischen Methoden und der Publikation von Bevölkerungsstatistiken erwuchs allerdings auch ein argumentativer Fundus für die öffentliche Kritik an der absolutistischen Staatsräson – eine Entwicklung, die zu den wesentlichen Errungenschaften der Aufklärung gehört und die Nicolai, als bekennender Verehrer Friedrichs II. womöglich partiell ungewollt, mit publizistischen Mitteln vorantrieb.

49 Vgl. ebd. 50 Vgl. ebd., S. 284. 51 Vgl. Dreitzel, J. P. Süßmilchs Beitrag zur politischen Diskussion der deutschen Aufklärung, S. 47.

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5.

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Schluss

Im 18. Jahrhundert entwickelte sich die Demographie zu einer Wissenschaft, deren Ausgangspunkt in Deutschland die Analysen zur Bevölkerungsentwicklung in Johann Peter Süßmilchs Werk Die göttliche Ordnung bildeten. Die von Süßmilch aufgestellten Theorien stehen am Anfang der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Bevölkerungsvorgängen und wurden durch verschiedene Gelehrte komplementiert – einer von ihnen war Friedrich Nicolai. In der Beschreibung der Königlichen Residenzstädte benutzt Nicolai statistisches Material in historischer Perspektive, um seinen Aussagen Überzeugungskraft zu verleihen. Im Unterschied zu seinen früheren faktographischen Abhandlungen sowie auch zu seiner Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz (1783 – 96) dient die demographische Methode hier zwar auch zur Erforschung der Vergangenheit, verfolgt aber zugleich die zutiefst gegenwartsbezogene Absicht, die Erfolge einer merkantilistischen Wirtschafts- und Bevölkerungspolitik herauszustellen.52 Nicolai unterstreicht in seinen Schriften stets die besondere Bedeutung der Bevölkerung für den Staat – eine Auffassung, die er mit Süßmilch teilt. Doch während Süßmilch in der Mitte des 18. Jahrhunderts im Wesentlichen von einer religiösen Frage geleitet war und sich darum bemühte, durch seine demographischen Berechnungen den Beweis zu erbringen, dass der Bevölkerungsstruktur ein göttlicher Plan zugrunde liege, der sich in der Bevölkerungsentwicklung verdeutliche, so war Nicolai gegen Ende des Jahrhunderts von der säkular begründeten Vorstellung fasziniert, anhand der Bevölkerungszahlen die historische Entwicklung und damit den Fortschritt der Gegenwart nutzbringend beeinflussen zu können. Süßmilch hatte durch seine Herangehensweise die »Theologie zu einer Hilfswissenschaft der Demographie«53 gemacht und unterschied sich demzufolge von den Vorstellungen Nicolais, der allein mit empirischen Daten arbeitete, um damit bevölkerungspolitische und wirtschaftliche Aspekte in seiner Abhandlung zu besonderer Geltung zu bringen. Beide leisteten durch ihr Schaffen innerhalb der Demographie insbesondere auf preußischem Gebiet verdienstvolle Beiträge hinsichtlich einer systematischen Berechnung der Bevölkerung und der öffentlichen Darlegung dieser Ergebnisse. Gleichwohl war es Süßmilch, dem ein besonderes Renommee zukam, weil er entsprechende Daten nicht nur popularisierte, sondern sie auch erhob und das nötige theoretische Rüstzeug dafür selbst aufbereitet hatte. Nicht von ungefähr gilt er auch international als die bedeutendste Persönlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte der Bevölkerungsstatistik im 18. Jahrhundert. 52 Vgl. Möller, Friedrich Nicolai als Historiker, S. 140. 53 Birg, Demographie und Ethik, S. 12.

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Vor diesem Hintergrund stellt sich berechtigterweise die Frage, welchen eigenen Beitrag denn nun Friedrich Nicolai mit seinen statistischen Ausführungen zur Entwicklung der Demographie leistete. Nach Ansicht von Horst Möller hat Nicolai durch seine Abhandlung »keine Pionierarbeit in der Bevölkerungsstatistik geleistet«,54 doch hat er – »in konsequenter Anwendung der zu seiner Zeit bekannten Methoden und unter Auswertung des irgend erreichbaren Materials – bevölkerungswissenschaftliche Erkenntnisse für die Geschichtsschreibung genutzt und ihr damit eine für wirtschafts- und sozialgeschichtliche Forschungen unentbehrliche Grundlage erschlossen.«55 Ein grundlegendes Verdienst Nicolais besteht darüber hinaus auch darin, dass er einem gebildeten Publikum sowohl durch seine Kritik an Süßmilch als auch durch seinen interessengeleiteten und damit seinerseits kritikwürdigen Umgang mit statistischen Daten verdeutlichte, dass die Zuverlässigkeit ebenso wie die Aussagekraft von Bevölkerungszahlen durchaus zu hinterfragen ist. Geschickt setzte Nicolai außerdem die historische Bevölkerungsentwicklung in Berlin und Potsdam so in Szene, dass die Regentschaft Friedrichs II. als Blütezeit erscheinen musste. Alles dies gibt Grund zur Annahme, dass Nicolais Stärken eher auf publizistischer als auf fachwissenschaftlich-demographischer Ebene lagen – jedoch gelang es ihm, demographische Problemhorizonte in eine diskursive Öffentlichkeit hineinzutragen, die weit über die preußische Metropole hinausreichte.

54 Möller, Friedrich Nicolai als Historiker, S. 141. 55 Ebd.

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6.

Bibliographie

6.1

Quellen

Achenwall, Gottfried: Staatsverfassung der heutigen vornehmsten europäischen Reiche und Völker im Grundriß. Göttingen 1752. Condorcet, Antoine Marquis de: Esquisse d’un tableau historique des progrÀs de l’esprit humain. Paris 1793. Messance, Louis: Recherches sur la population des g¦n¦ralit¦s d’Auvergne, de Lyon, de Rouen, et de quelques provinces. Paris 1766. Moheau, Jean-Baptiste: Recherches et consid¦rations sur la population de la France. Paris 1778. Nicolai, Friedrich: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten. 12 Bde. Berlin und Stettin 1783 – 1796. In: ders.: Gesammelte Werke. Reprintausgabe. Hg. von Bernhard Fabian u. Marie-Luise Spieckermann. 24 Bde. Hildesheim [u. a.] 1985 – 2006. Nicolai, Friedrich: Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam. In: ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente. Kritische Ausgabe mit Kommentar. Bd. 8/ 1: Historische Schriften 1. Bearb. v. Ingeborg Spriewald. Bern [u. a.] 1995. Süßmilch, Johann Peter : Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus Geburt, Tod, und Fortpflanzung desselben. Düsseldorf 2001 [EA 1741] (Die Handelsblatt-Bibliothek »Klassiker der Nationalökonomie«).

5.2

Sekundärliteratur

Albrecht, Wolfgang: Nachwort. In: ders. (Hg.): Friedrich Nicolai. Kritik ist überall, zumal in Deutschland, nötig. Satiren und Schriften zur Literatur. Leipzig [u. a.] 1987 (Bibliothek des 18. Jahrhunderts), S. 477 – 516. Birg, Herwig: Demographie und Ethik – Das Werk von Johann Peter Süßmilch mit einem Blick auf David Hume und Thomas R. Malthus. In: Herwig Birg (Hg.): Ursprünge der Demographie in Deutschland. Leben und Werk Johann Peter Süßmilchs (1707 – 1767). Frankfurt a. M. [u. a.] 1986 (Forschungsberichte des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik (IBS) Bd. 11), S. 9 – 29. Bödecker, Hans Erich: »Ich wünschte also eine Reise zu thun, in welcher ich, nebst den veränderten Scenen der Natur, Menschen und ihre Sitten und Industrie kennen lernen könnte.« Friedrich Nicolai auf Reise. In: Rainer Falk u. Alexander Kosˇenina (Hg.): Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung. Hannover 2008, S. 305 – 338. Bonß, Wolfgang: Die Einübung des Tatsachenblicks. Zur Struktur und Veränderung empirischer Sozialforschung. Frankfurt a. M. 1982. Brian, Êric: Staatsvermessungen. Condorcet, Laplace, Turgot und das Denken der Verwaltung. Wien [u. a.] 2001 (Politische Philosophie und Ökonomie). Buschmeier, Matthias: Das rollende Büro. Nicolais Technik des statistischen Reiseberichts. In: Philip Bracher, Florian Hertweck u. Stefan Schröder (Hg.): Materialität auf Reisen.

Demographische Reflexionen

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Andrea Ressel

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Ralf Pröve

Friedrich Nicolai und die Wahrnehmung militärischer Räume1

Vieles, nahezu alles hat Friedrich Nicolai auf seiner Fahrt durch Deutschland und die Schweiz »in der Tradition der systematischen und enzyklopädischen«2 Reiseautoren wortreich beschrieben und thematisiert. Erstaunlicherweise ist jedoch das Militär mit seinem Personal, seinen Funktionsbauten und Arsenalen, kaum, nur am Rande und beiläufig erwähnt worden. Angesichts der quantitativen und qualitativen Dimensionen der in den Städten mit ihren bunten Uniformen allgegenwärtigen militärischen Präsenz im ausgehenden 18. Jahrhundert wirft diese sektorale Ausblendung allerdings einige Fragen auf.3 Fragen, die noch drängender werden, betrachtet man Nicolais Einlassungen zu diesem Thema abhängig vom zeitlichen Verlauf seiner berühmten Reisebeschreibungen; eine wechselnde Perspektive ist hier unübersehbar. Die Nicolai-Forschung hat vor allem auf der thematischen Ebene Nicolais binäre antikatholische Wahrnehmungsraster von Nord und Süd beleuchtet,4 einzelne detailliert erfasste Gegenstandsbereiche wie Landwirtschaft, Gewerbe, Schulsystem oder generell Kultur und Lebensart der Bewohner erschlossen; auf der analytischen Ebene wurden die zeitgenössischen Beobachtungsmodi und Beschreibungskategorien untersucht und hierbei etwa die Funktion der Nachricht oder die Praxis der Auflistung und Reihung von Informationen und damit die kulturellen Wissensspeicherungen jener Zeit diskutiert.5 Nicolais Beschrei1 Ich bedanke mich bei Julia Wille für tatkräftige Hilfe und wichtige Anregungen. 2 Bödeker, »Ich wünschte also eine Reise zu thun«, S. 317. – Vgl. zum Reisebericht Brenner (Hg.), Der Reisebericht; sowie ders. (Hg.), Der Reisebericht in der deutschen Literatur. 3 Vgl. etwa Kroll, Soldaten im 18. Jahrhundert zwischen Friedensalltag und Kriegserfahrung; sowie Pröve, Lebenswelten. 4 Vgl. hierzu etwa Mix, Lucri bonus odor oder Wie aufgeklärt war Friedrich Nicolai?, S. 339 – 348. 5 Vgl. Bödeker, »Ich wünschte also eine Reise zu thun«, S. 318: »Bei der Erkundung der zeitgenössischen Lebenswelten ging es Nicolai wie allen systematischen Reisebeschreibern nicht zuletzt um das Ausloten der Beiträge der bürgerlichen Mittelschichten«. Hans Joachim Piechotta hat auf den spezifischen Vernunft- und Wahrheitsbegriffs von Nicolai verwiesen, der als »Indiz für die hin- und hertaumelnde Bewegung des Reisenden Nicolai zwischen quasi-

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bung des Militärs und dessen Wahrnehmung militärischer Räume wurden von der Forschung dagegen bisher nur in Ansätzen und nur summarisch in ihren Aufmerksamkeitsfokus gelegt.6 Im Folgenden wird es darum gehen, zunächst in einem ersten Schritt die Belegstellen in den frühen, in den Jahren 1781 bis 1785 publizierten Bänden zu indizieren und einer Wertung zu unterziehen, um anschließend in einem zweiten Arbeitsgang diese Befunde in den größeren ideengeschichtlichen Kontext von Aufklärungskonzept und Militärverfassung zu stellen. Darauf aufbauend werden in einem gleichen Verfahren die späteren, in den Jahren 1795 und 1796 publizierten Bände herangezogen. Betrachtet man die voluminöse Reisebeschreibung von Nicolai sowie dessen Stadtbeschreibung von Berlin und Potsdam, so fällt insgesamt ein lapidarer Beschreibungsduktus auf. So heißt es auf seiner Durchfahrt in Treuenbrietzen: »Hier liegt das Scholtensche Grenadierbataillon in Garnison.«7 Die Passage in Preßburg entlang der Donau wird mit den Worten kommentiert: »An demselben [Ufer] erblickt man sogleich eine 1759 bis 1763 neu gebaute Kasarme [!] für ein Bataillon Infanterie […].«8 In München wird die dortige Kaserne nur noch in einer additiven Reihung mit dem Rathaus erwähnt.9 Diese Haltung von Nicolai spiegelt sich exakt auch in dessen Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam aus dem Jahre 1786 wider. Neben diesen eher touristisch motivierten Anmerkungen wird die Thematik Militär vornehmlich in numerischen Übersichten erfasst und aufgelistet. So erfährt man von Treuenbrietzen, dass der dortige »Militärstand 602 Mann, 340 Frauen, 198 Söhne, 156 Töchter«10 stark ist. Auch in den Stadtbeschreibungen von Berlin und Potsdam finden sich auf vielen Seiten tabellarisch formatierte Informationen zu Regimentern, Männern, Frauen und Kindern des Militärstands gelistet.11 Ebenso wird das Militär im Zusammenhang mit Institutionen und admi-

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rationalistischen Identitätskonstruktionen und Empirismus« dienen kann (Piechotta, Erkenntnistheoretische Voraussetzungen der Beschreibung, S. 103). Lediglich eine Auflistung findet sich bei Martens, Ein Bürger auf Reisen. Nicolai, Beschreibung einer Reise, Bd. 1, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 15, S. 24. Nicolai, Beschreibung einer Reise, Bd. 6, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 17, S. 332. Vgl. ebd., S. 354. – Die Schreibung ›Kasarme‹ anstelle von ›Kaserne‹ verwendet Nicolai bewusst, weil er davon ausging, dass das Wort spanischen Ursprungs sei (vgl. dazu explizit Nicolai, Zweifel und Anmerkungen über Adelung’s und Hrn. Campe’s Wörterbucher, S. 263, Fußnote). Nicolai, Beschreibung einer Reise, Beylage zu Bd. 1, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 15, S. 25. Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 8/1, S. 208 – 212.

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nistrativen Einrichtungen beschrieben. So heißt es zum Amt des Hofkriegsrats in Wien: »Dieses hohe Kollegium hat die Besorgung der ganzen Armee und alles dessen was zum Militärwesen gehört, als die innere Ordnung, Disciplin, Avancement, die Verpflegung und Bekleidung der Armee, die Magazine, Proviant- und Militar-Fuhrwesen, Artillerie und Vestungswesen, die Versorgung der Invaliden u. s. w. [zu besorgen].«12

Weiter werden penibel die einzelnen Kassen und Chargen sowie der Besoldungsumfang der Funktionsträger und der Generäle vermerkt. Die Militärakademie in Wien wird als Haus bezeichnet, in dem »einige Edelleute, die sich dem Militarstande widmen wollten, erzogen wurden […].«13 Beachtung finden auch Erhebungsmodus und Berechnung von Steuern, deren Ertrag dem Militär zugutekommt. So werden der Ertrag der Kontribution in Wien, die an der Erhebung beteiligten Institutionen sowie die Folgen der Ressourcenextraktion beleuchtet.14 Der zum Zeitpunkt der Publikation erst 20 Jahre zurückliegende Siebenjährige Krieg wird weniger moralisch wertend, als Ergebnis militärischen Handelns, sondern als besondere Aufbau-Herausforderung der lokalen Obrigkeiten und Bevölkerung begriffen. So kommentiert Nicolai seinen Besuch in Wittenberg: »So oft ich durchreise, blutet mir das Herz, daß beynahe der vierte Theil der Stadt, nämlich 114 Häuser, die in der Belagerung von 1760 abbrannten, noch eben so in Ruinen liegt, als acht Tage nach der Belagerung. […] Es ist kaum Anstalt gemacht worden, nur den Schutt wegzuräumen, oder die Mauern, welche hin und wieder den Einsturz drohen, ganz abzutragen.«15

Auch in Wien wird beiläufig bemerkt, dass die Kredite aus diesem Krieg noch nicht bedient worden seien.16 Wenn es auch nur signifikant wenige Belegstellen sind, in denen Krieg und Militär diskutiert werden, so offenbaren diese doch die charakteristischen Wahrnehmungsmuster der sich als aufgeklärt empfindenden Alterskohorte von Nicolai. Diese Akteursgruppe verband ihr Lebensgefühl, ihr Selbstverständnis, mit kameralistisch-populärphilosophischen Zielvorstellungen, die bei jedem

12 Nicolai, Beschreibung einer Reise, Bd. 3, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 16, S. 339. 13 Nicolai, Beschreibung einer Reise, Bd. 4, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 16, S. 787. 14 Vgl. Nicolai, Beschreibung einer Reise, Beylage zu Bd. 3, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 16, S. 122 ff. 15 Nicolai, Beschreibung einer Reise, Bd. 1, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 15, S. 27. – Vgl. hierzu auch die Bemerkungen bei Martens, Ein Bürger auf Reisen, S. 567. 16 Vgl. Nicolai, Beschreibung einer Reise, Beylage zu Bd. 3, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 16, S. 131.

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mehr oder weniger ausgeprägt und systematisiert waren. Diese beiden miteinander verwobenen Zielvorstellungen seien hier kurz erläutert: Zentrale Grundidee der Kameralistik ist die Hebung des Wohlstandes einer Nation und die Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit.17 Besonderes Augenmerk lag deshalb auf der Lehre von der öffentlichen Verwaltung, deren einer Teil, die Polizei, von den Maßregeln zur Pflege und Mehrung des allgemeinen Wohlstandes handelt. Der andere Teil der Verwaltungslehre beschäftigt sich mit dem Bereich der Finanzwissenschaft. Somit figuriert die Kameralwissenschaft als geradezu ideales Instrument zur praktischen Umsetzung vieler Aufklärungsideen. Für die Aufklärer sollte jeder Mensch aus seinen Zwängen und seiner (selbstverschuldeten) Unmündigkeit im Sinne eines praktisch gestalteten Daseins sich zu befreien suchen. Mit diesem Ideal war der Anspruch verbunden, die Fähigkeit und Bestimmung zu besitzen, das Leben nach vernünftigen Grundsätzen zu ordnen. Als klassische Betätigungsfelder dienten deshalb vor allem die Rationalisierung von Verwaltung, Rechtsprechung, Strafvollzug und Kriegführung oder die Ausbildung eines öffentlichen Schulwesens. Dahinter verbarg sich die Vorstellung, dass sich die Gesellschaft der vernünftig und rational Handelnden in einem wohlgeordneten Gemeinwesen spiegeln sollte. Nicolais Wissenserfassung und -speicherung in Zahlen und Tabellen,18 seine Technik der Informationserhebung über Argumentation und Schlussfolgerung, aber auch der Verweis auf vorgeblich verlässliche Nachrichten sowie die vehemente Kritik an Müßiggang und Irrationalität, aber auch an als unvernünftig deklariertem Regierungshandeln machen dies deutlich.19 Diese Haltung erklärt sich aus zwei Kontexten: Zum einen stellt das Militärsystem des Stehenden Heeres in den Augen dieser Beobachter einen besonders rational und vernünftig funktionierenden Komplex dar, als hervorstechendes Ergebnis von Planung, Kontrolle und Disziplin. Dies erklärt, dass selbst in den von Nicolai so heftig kritisierten katholischen Ländern das Militär recht glimpflich davon kommt. Zum anderen ergaben sich, auch als Folge des Militärsystems, nur geringe Berührungsflächen mit der soldatischen Lebenswelt. So wurde das Militär als eigener Stand abgeschottet von der Gesellschaft gesehen, es gab wenig innere Anteilnahme der Bevölkerung am Militär oder Kriegsgeschehen, und vor allem galt das Militär letztlich immer noch als semiprivate Angelegenheit der Fürsten und Monarchen. Die große Mehrzahl der Aufklärer 17 Wie Thomas Sokoll in seinem Lexikonartikel über den Kameralismus völlig richtig betont, ging es um die zentrale Förderung aller produktiven Kräfte, »um die Macht des Staates zu befestigen und zu vergrößern« (vgl. Sokoll, Kameralismus, Sp. 294). 18 Vgl. dazu auch Buschmeier, Das rollende Büro. 19 Auch in den Stadtbeschreibungen von Berlin und Potsdam werden Militärbauten als »nützliche und thunliche Projekte« charakterisiert. Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 8/1, S. 62.

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hatte ohnehin kaum direkten Kontakt mit dem Militär ; aufgrund ihrer zumeist sozialständischen Qualität, ihres durch Bildung und Beruf herausgehobenen Sozialkapitals mussten sie weder selbst als Soldat tätig sein noch einem Soldaten das Quartier gewähren. Vor dem Hintergrund des propagierten Leitbildes von der gezähmten Bellona galt der Krieg als eingehegt und berechenbar, als nach vernünftigen Grundsätzen funktionierende Angelegenheit und den Bürger nicht wirklich tangierendes Ereignis.20 Die Kritik am Militär fiel deshalb auch niemals grundsätzlich aus, sondern konzentrierte sich auf das äußere Detail, etwa auf eine Verbesserung der Quartierverordnungen oder eine Optimierung der Rekrutierungspraxis. Die bayerische Handhabung, aufgegriffene Bettler und Vaganten unter das Militär zu stecken, kommentiert Nicolai somit auch relativ gelassen mit den Worten: »Und wie undelikat gegen das Militär, den Stand der Ehre […].«21 Hauptsache, so der Duktus der Aufklärer, der Bürgerfleiß werde nicht gestört. Es ist bezeichnend, dass Nicolai, als er das einzige Mal einen Offizier namentlich erwähnt, dessen Eigenschaften als Aufklärer unterstreicht und somit den Aufklärer vom Soldaten trennt: »Der Herr Oberste von Scholten ist allgemein geschätzt und geliebt. Er ist ein braver Soldat, […] aber er schätzt auch die Wissenschaften. Er hat eine gelehrte Gesellschaft gestiftet, welche sowohl den Officieren seines Regiments, als auch andern Liebhabern der Wissenschaften nützlich und angenehm ist.«22

Diese gleichsam entspannte, unaufgeregte Haltung zum Militär gerät allerdings im zeitlichen Verlauf zunehmend unter Rechtfertigungsdruck. Die Kritik an den bald als veraltet empfundenen kameralistischen Ansätzen wurde vor allem von einer jüngeren Generation getragen, aus deren Mitte einige Jahre später die Meinungsführer des Frühliberalismus kommen sollten. Insbesondere seit den 1770er und 1780er Jahren wurden zunehmend staatliche und gesellschaftliche Angelegenheiten diskutiert und kritisiert. Viel grundsätzlicher als bisher wurden die soziale Ordnung und das geburtsständische Prinzip, die soziale Ungleichheit und die Verteilung des Eigentums, die privilegierte Wirtschaftsverfassung der Zünfte und Gilden und schließlich auch die Praxis der Herrschaftsausübung hinterfragt. Wiederum bildete das Militär in diesem Prozess einen spezifischen Kondensationspunkt. Erstens geriet die bewaffnete Macht sehr schnell in das Visier der Reformer. Die ständische Abschottung der Militärgesellschaft mit ihrer eigenen Gerichtsbarkeit, ebenso wie die Bevorzugung Adliger bei der Vergabe von Offizierspatenten, oder das Rekrutierungssystem mit seinen strukturell bedingten gewalttätigen und illegalen Begleitumständen 20 Vgl. dazu etwa Pröve, Militär, Staat und Gesellschaft, bes. S. 3 – 10. 21 Nicolai, Beschreibung einer Reise, Bd. 6, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 17, S. 567. 22 Nicolai, Beschreibung einer Reise, Bd. 1, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 15, S. 24 f.

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und die brutalen Ausbildungs- und Menschenführungspraktiken rief in zentralen Punkten deren Unwillen hervor. Zweitens galt das Militär als Bastion, als hervorstechendster Ausdruck der alten politischen Ordnung, den es als erstes zu reformieren galt. Drittens schließlich bildeten Krieg und Militär einen genuinen Anknüpfungspunkt für die Umsetzung der Zielvorstellungen der Reformer, galt doch das Axiom, dass derjenige, der mit der Waffe sein Land verteidigt, gleichzeitig das Recht auf politische Partizipation erlangt. Ein argumentatives Einfallstor brachte die Idee vom Patriotismus.23 Die Vorstellung der unmittelbaren Verknüpfung von gesellschaftlich-politischer Ordnung und Militärverfassung wurde in Frankreich vor allem von Jean-Jacques Rousseau entwickelt. Dieser sah in einer sogenannten Volksbewaffnung die einzige Form des Militärdienstes,24 in der der politisch am Gemeinwesen partizipierende Bürger eine selbstverständliche Pflicht und eine Ehre sehen sollte. Diese Ehre, dieses Pflichtgefühl, wurde von den Zeitgenossen auch als Patriotismus bezeichnet. In Deutschland hatte Thomas Abbt während des Siebenjährigen Krieges mit seiner damals aufsehenerregenden, im Jahre 1761 zuerst publizierten Schrift Vom Tod für das Vaterland den militärischen Einsatz zur besonderen Ehre und Pflicht erklärt und daraus eine »einzige politische Tugend«25 gemacht. Abbt verband seine Forderung mit einer deutlichen Kritik an der ständischen Gesellschaftsordnung, forderte Patriotismus als Grundhaltung und – zunächst noch implizit – die Volksbewaffnung. Es waren nach dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg in den 1770er Jahren, der in Deutschland aufmerksam verfolgt wurde, die Ereignisse in Frankreich, die die Zielvorstellung von der neuen Militärverfassung mit konkreten Inhalten füllten. So wurden in Nordamerika nicht nur die professionellen englischen Truppen von schlecht ausgerüsteten, aber hochmotiviert und in Guerillataktik kämpfenden amerikanischen Milizeinheiten besiegt; zugleich wurde der Selbstbewaffnung der Bürger in der Bill of Rights 1776 Verfassungscharakter eingeräumt und dabei ausdrücklich deren Stellung über dem regulären Militär betont. Zu den ersten Maßnahmen im Gefolge der Revolution in Frankreich 1789 zählte die Politisierung und Umgestaltung des Militärs. Die Verfassung von 1791 sah eine spezielle, dem regulären Militär gleichgestellte 23 Dieser Quellenbegriff meinte im Kern einen »zentralen Ausdruck für ein nationales Verhalten. Er wird meist definiert als ›Liebe zum Vaterland’, meint also ein auf das Vaterland hin orientiertes Verhalten« (Dann, Begriffe und Typen des Nationalen in der frühen Neuzeit, S. 57). 24 Vgl. zu diesem semantisch stark aufgeladenen Schlüsselbegriff in den spätaufklärerischen und frühliberalen Debatten Pröve, Volksbewaffnung. 25 Abbt, Vom Tode für das Vaterland, S. 16. – Der Patriotismus verkam dann sehr bald zu einem Modewort und einer Allerweltschiffre. Die semantische Ungenauigkeit und Beliebigkeit des Patriotismus-Begriffes beklagt auch Nicolai selbst (vgl. Nicolai, Untersuchung der Beschuldigungen des Herrn Prof. Garve, S. 7).

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Nationalgarde vor, in die sich alle aktiven Bürger und deren Söhne eintragen konnten. Als sinnbildlicher Ausdruck der rechtlich gleichgestellten Bürgergesellschaft und des Mottos Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wurde die Verteidigung des Landes allen Männern auferlegt. In der Verfassung von 1793 und dem Gesetz über die allgemeine Volksbewaffnung (lev¦e en masse) wurden alle Franzosen zu Soldaten erklärt; damit wurde das politisch-militärische Prinzip demokratischer Staatsauffassung postuliert. Bürgerliche und militärische Nation wurden als identisch angesehen, dem Bürger sollten bürgerliche und militärische Pflichten obliegen. Die Armee war fortan nicht mehr Instrument der Exekutive, sondern sie stellte einen Teil des Staates dar. Eine derartige Entwicklung fand denn auch in den späteren Bänden der Reisebeschreibung von Nicolai ihren Widerhall. Im zehnten Band, der 1795 publiziert wurde, kritisiert er an mehreren Stellen sehr eindrücklich die beginnende Vermengung von Militär und Gesellschaft. Anknüpfungspunkt ist für ihn zum einen die militärische Erziehung von Kindern, ohne dass, etwa im Rahmen einer Kadettenschule, eine berufliche Zukunft als Soldat intendiert wäre: »Aber ganz anders ist es mit jungen Leuten, welche andern Ständen gewidmet sind. Diese sollen dereinst nicht so leben, daß sie bloß militarischen blinden Gehorsam beobachten. Sie verderbt die Kinder physisch und moralisch, und macht sie zu elenden Maschinen.« – »Mir scheint es«, so Nicolai weiter, »nach den Bedürfnissen der jetzigen Zeit, können junge Leute nicht früh genug mit Welt und Menschen bekannt gemacht werden, obgleich freylich unter gehöriger Aufsicht und Leitung.«26 Ebenso vehement kritisiert er zum anderen die ständeübergreifende Uniformierungspraxis: »Der Soldat muß beständig in Uniform gehen: das ist sehr nützlich; vielleicht gar, so wie die militarische Einrichtung der stehenden Heere einmal ist, nothwendig. […] Aber eben deswegen scheint es, sollte außer dem Militar, niemand in militarischer Uniform gehen.«27

Das Dilemma von Nicolai wird hier offensichtlich. Die sukzessive Aufhebung der ständischen Grenzen zum Stehenden Heer und die politische Aufladung, ja Aufwertung des Militärs, bedrohten die funktional ausgerichtete berufsständische Ordnung. Die bisher beschauliche Welt der Aufklärer, die von Rationalität und Bürgerfleiß bestimmt war, geriet ins Wanken. Alte Gewissheiten schwanden, aus dem ruhigen Fluss des Alltags und dem akribisch verfolgten Idealzustand einer aufgeklärten Bürgergesellschaft wurde der reißende Strom der sozialen und politischen Umwälzungen, der neuen Ideen und Konzepte, der Be26 Nicolai, Beschreibung einer Reise, Bd. 10, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 19, S. 58. 27 Ebd., S. 59. – Es ist bezeichnend, dass Martens diese Beschreibung nur isoliert betrachtet (vgl. Martens, Ein Bürger auf Reisen, S. 581).

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wegung und der Revolution. Bereits in den zwanzig Jahren zwischen 1770 und 1790 hatten die Denkschriften und Verlautbarungen der jüngeren Generation diese Entwicklung ahnen lassen. Mit Zuschreibungen wie Schwärmerei oder Patriotismus wurden diese Vertreter zunächst nur belächelt, allenfalls milde kritisiert. Auf lange Sicht aber zeichnete sich eine Bedrohung der detailliert und vernünftig geplanten Lebensführung durch eben jene Schwärmerei ab, die, weil sie als unvernünftig, gefühlsbetont und unbesonnen charakterisiert wird, die Grundideen der Aufklärung konterkarierte. Während in seinen Reisebeschreibungen dieses Spannungsverhältnis nur indirekt zum Tragen kommt, hat sich Nicolai in seinen fiktionalen Texten umso deutlicher dazu geäußert.28 Da die Ansätze der neueren Kulturgeschichte keinen signifikanten Unterschied zwischen realen und fiktionalen Texten erkennen, erscheint eine Erweiterung des empirischen Materials an dieser Stelle geboten. In seinem gesellschaftskritisch-satirischen Roman Sebaldus Nothanker aus den Jahren 1773 bis 1776 hat Nicolai die Problematik erstaunlich offensiv thematisiert. Der Titelheld lebt als Pastor glücklich und zufrieden mit seiner Familie. Der berufliche und gesellschaftliche Niedergang setzt dann ein mit Thomas Abbts Schrift Vom Tode für das Vaterland, also jener real existierenden wegweisenden Publikation, in der Patriotismus und politisches Engagement propagiert werden.29 Es ist Nothankers Frau Wilhelmine, die von den Ideen der Schrift angeregt wird: »Der Tod fürs Vaterland hingegen hatte auf Wilhelmine eine ganz entgegengesetzte Wirkung. Er setzte ihren ohnedis zum romantischen geneigten Geist in ein neues Feuer. Sie fühlte Entzückung über die Gedanken, daß auch der Unterthan einer Monarchie nicht eine blosse Maschine sey, sondern seinen eigenthümlichen Werth als Mensch habe, daß die Liebe fürs Vaterland einer Nation eine große und neue Denkungsart gebe, daß sie eine Nation als ein Muster für andere darstelle.«30

Wilhelmine versuchte nun, ihren Mann dazu zu bewegen, diese Thematik in der kommenden Sonntagspredigt aufzunehmen. »Sebaldus, dessen Geist, ohne Prophezeiung nicht so leicht in Enthusiasmus gerieth […] hatte ihrer feurigen Deklamation hundert kalte Gründe entgegen zu setzen […].«31 Der Pfarrer ließ sich schließlich aber doch überzeugen: 28 Ebenso hat Marcus Twellmann den Roman Sebaldus Nothanker auf gesellschaftliche Kritik des Autors untersucht. – Vgl. etwa zu den kritischen Textpassagen im Sebaldus Nothanker und dem dort thematisierten Konflikt mit der religiösen Orthodoxie Twellmann, Ueber die Eide, S. 144 – 152. 29 Da er mit Abbt auch persönlich bekannt, befreundet, war, ist davon auszugehen, dass Nicolai das Werk sehr intensiv zur Kenntnis genommen hat. 30 Nicolai, Sebaldus Nothanker, S. 27. 31 Ebd., S. 28.

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»[…] so hielt er seine Predigt, vom Tode fürs Vaterland, in einem enthusiastischen Feuer, das seine Gemeinde sonst an ihm nicht gewohnt war. Als er aus der Kirche nach Hause gieng, bemerkte er sogleich die Frucht seines Eifers. Er sahe auf dem Kirchhofe einen ziemlichen Auflauf, und hörte jemand sehr laut reden. Als er näher hinzu kam, hörte er, daß ein im Dorfe liegender Unterofficier, der mit in der Kirche gewesen, zu seiner Predigt einen epanorthotischen Usum hinzu that, und nicht ohne Frucht, denn zehn junge, rasche Bauerkerle, nahmen auf der Stelle Dienste.«32

Am Ende verliert Nothanker aufgrund dieses Vorfalls seine Stellung, und es setzt ein langer beruflicher und privater Abstieg ein. Nicht umsonst hat Nicolai diese viel diskutierte Schrift von Abbt als corpus delicti herangezogen, vereinen sich in ihr doch die ganze Bandbreite der Widersprüchlichkeiten zwischen Beharrung und Bewahrung des Alten auf Basis von Ratio und Vernunft und den bewegenden Elementen der Veränderung auf Basis von Emotion und Schwärmerei. Der Titelheld lässt sich vom Eifer seiner Frau wider besseres Wissen anstecken, liefert sich der Emotion aus und muss diesen leichtsinnigen Schritt bitter bereuen. Der Roman veranschaulicht auf diese Weise über die Folie der Fiktion die dichotomisch und nachhaltig zugespitzten philosophisch-politischen Positionen seiner Zeit. Ich komme zum Resümee. Die spezifische Wahrnehmung und Thematisierung des Militärs in den Schriften und Debatten von Spätaufklärung und Frühliberalismus folgen einem bestimmten Muster. Dieses Muster resultiert aus der zentralen Bedeutung der bewaffneten Macht, die einen Kristallisationspunkt in den politischen Diskursen bildet. Im Militär, und in dieser Komplexität nur im Militär, kommen die grundsätzlichen Fragen der Epoche zum Tragen. Zwischen dem versinnbildlichten Idealzustand eines professionellen, ständisch abgeschiedenen, disziplinierten und nach aufklärerisch-vernünftigen Grundsätzen aufgestellten Instruments auf der einen und einer alle Bereiche von Staat und Gesellschaft durchziehenden revolutionierenden Kraft auf der anderen Seite stehend, dient das Militär in seinem jeweilig wahrgenommenen Zustand als Indikator und Ausdrucksmöglichkeit für die spezifische Position des Autors. Somit sind auch bei Nicolai die unterschiedlichen Zuschreibungen und Charakterisierungen des Militärs ausdeutbar. Wir können an seinem Beispiel die Leistungen und Grenzen des Aufklärungskonzepts und der Ideen der kameralistischen Partei ausloten, das Dilemma zwischen den alten und neuen Ideen tritt lesbar zu Tage. – Hat Nicolai eigentlich Recht behalten? Waren seine Warnungen vor Gefühlsausbrüchen, vor Schwärmerei und damit vor der Auflösung des alten Militärsystems gerechtfertigt? Schaut man auf die bald entfesselte Bellona, auf die Kriege mit ihren nationalistischen, ethnischen, rassistischen Zügen und dem Willen zur physischen Vernichtung des Gegners, die napoleonischen Kriege bis 32 Ebd., S. 29.

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hin zu den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, so muss man bei Nicolai Abbitte leisten. Das spöttische Lächeln seiner Zeitgenossen und vor allem der jüngeren Zeitgenossen über einen alten, umständlich denkenden Kauz erhält dann andere Konturen.

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Bibliographie 1.

Quellen

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2.

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Ralf Pröve

Martens, Wolfgang: Ein Bürger auf Reisen. Bürgerliche Gesichtspunkte in Nicolais ›Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781‹. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 97 (1978), S. 561 – 585. Mix, York-Gothart: Lucri bonus odor oder Wie aufgeklärt war Friedrich Nicolai? Konstituenten kultureller Selbst- und Fremdwahrnehmung in den Reiseberichten über Franken von Nicolai, Wackenroder und Tieck. In: Rainer Falk u. Alexander Kosˇenina (Hg.): Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung. Hannover 2008, S. 339 – 358. Möller, Horst: Wie aufgeklärt war die Aufklärungsforschung? Friedrich Nicolai in historiographischer Perspektive. In: Rainer Falk u. Alexander Kosˇenina (Hg.): Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung. Hannover 2008, S. 7 – 27. Piechotta, Hans Joachim: Erkenntnistheoretische Voraussetzungen der Beschreibung: Friedrich Nicolais Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781. In: ders. (Hg.): Reise und Utopie. Zur Literatur der Spätaufklärung. Frankfurt a. M. 1976, S. 98 – 150. Pröve, Ralf: Lebenswelten. Militärische Milieus in der Neuzeit. Gesammelte Abhandlungen. Hg. von Bernhard R. Kroener u. Angela Strauß. Berlin 2010 (Herrschaft und soziale Systeme in der frühen Neuzeit Bd. 11). Pröve, Ralf: Militär, Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. München 2006 (Enzyklopädie deutscher Geschichte Bd. 77). Pröve, Ralf: Art. ›Volksbewaffnung‹. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen in Verb. mit den Fachwissenschaftlern hg. v. Friedrich Jaeger. Bd. 14: Vater–Wirtschaftswachstum. Stuttgart [u. a.] 2011, Sp. 395 – 398. Sokoll, Thomas: Art. ›Kameralismus‹. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen in Verb. mit den Fachwissenschaftlern hg. v. Friedrich Jaeger. Bd. 6: Jenseits–Konvikt. Stuttgart 2007, Sp. 290 – 299. Twellmann, Marcus: »Ueber die Eide«. Zucht und Kritik im Preußen der Aufklärung. Konstanz 2010.

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»Die elegante Simplicität bey einem Bürgerhause«. Baukunst und bürgerliche Identität bei Nicolai

In seiner berühmten Beschreibung der Residenzstädte Berlin und Potsdam (1769 – 86) geht Nicolai nur selten über kürzere Erwägungen zur Bewertung von Baukunst hinaus. Spätestens seit Beginn der 1770er Jahre verfolgt er jedoch den Gedanken, auch kritische Betrachtungen in einer umfangreicheren Publikation durchzusetzen. Dabei wolle er sich, so offenbart er sich in Briefen an Vertraute, nicht scheuen, auch die königliche Architektur in Berlin und Potsdam zu kritisieren. Oftmals versucht er, seine Korrespondenten zu ebensolcher Offenheit herauszufordern. Zu einer Publikation seiner geplanten Essays sur Berlin ist es nicht gekommen, aber zahlreiche Briefe zeigen den friderizianischen Preußen Nicolai in einem neuen Licht. Als hofkritischen Bürger, der sein Selbstverständnis auch in der Architektur sucht, erkennt man Nicolais Ideale heute noch in der Fassade des Nicolaihauses in der Berliner Brüderstraße.1 Als Johann Erich Biester die von Herder initiierte Gemeinschaftsschrift Von deutscher Art und Kunst (1773) in der von seinem Freund und Kollegen herausgegebenen Allgemeinen deutschen Bibliothek (ADB) rezensiert, verbirgt er seine Enttäuschung über Goethes und Frisis Aufsätze zur deutschen Baukunst nicht. Nachdem Herders Darstellungen ausführlich und zustimmend beurteilt werden, verliert Biester lediglich einen Satz über Goethes Betrachtungen zum Straßburger Münster, Paolo Frisis Versuch über die gotische Baukunst kommentiert er spottend und abkanzelnd: »Schade nur daß das gothische nicht deutsch ist!«2 Während das Interesse, auch der Laien, an gelehrten Abhandlungen zur Baukunst groß ist, ja, im Zuge der Bestimmung deutscher Identität Bezüge zu einer deutschen Baukunst gesucht werden, bleibt die Architektur-

1 1787 erwarb Nicolai das heute als Nicolaihaus bekannte Gebäude in der Brüderstraße 13 und ließ es von Carl Friedrich Zelter als Wohn- und Geschäftshaus umbauen. Die Fassade illustriert Nicolais Verzicht auf die von ihm so kritisierten Colifichets, die in dem vorliegenden Beitrag thematisiert werden. 2 Biester, Von deutscher Art und Kunst, S. 1174. – Goethe hatte in seinem Beitrag Von deutscher Baukunst den französischen Ursprung der Gotik (St. Denis) ›unterschlagen‹.

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publizistik sehr zurückhaltend. Jörg Biesler beschreibt die zeitgenössische Situation wie folgt: »Die Zersplitterung, das Fehlen einer Hauptstadt und die Folgen des 30jährigen Krieges sind einige Ursachen dafür, dass sich im Gegensatz zu Frankreich und Italien erst spät eine akademisch institutionalisierte Architekturtheorie ausbildet. […] Es ist nur eine Hand voll Bücher, die sich im deutschen Sprachraum explizit mit Architektur beschäftigen, und die Zahl der Übersetzungen ist annähernd so groß wie die der eigenständigen Arbeiten.«3

Die hier vorgelegte Skizze soll illustrieren, wie im engeren Umkreis der ADB und vor allem Nicolais die Weichen für die Wahrnehmung einer bürgerlichen deutschen Baukunst gestellt werden. Eine architekturhistorische Untersuchung soll an dieser Stelle nicht erbracht, wohl aber der Zugang eröffnet werden zu zeitgenössischen Diskussionen um (a) die Bedeutung der Architektur für das bürgerliche Selbstverständnis und (b) die Projizierbarkeit nationaler Denkmuster auf eine deutsche Baukunst. Die Intensität, mit der die Baukunst auch unter Zeitgenossen ohne berufliche Bindungen an das Bauwesen wahrgenommen wurde, verdeutlicht die Äußerung Mendelssohns in der Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (BSWFK), die sich die Untersuchung des Zusammenwirkens der Künste, zu der als »Nebenkunst«4 auch die Baukunst gehöre, zum Ziel setzt: »Man kann der Baukunst selbst die Erregung der Leidenschaften nicht ganz absprechen. […] So erregen prächtige und majestätische Gebäude Ehrfurcht und Bewunderung. Lustschlösser ermuntern uns zur Föhlichkeit; einsame Gebäude zu Ernst und Tiefsinn, und ein Grabmaal kann Leidwesen und Traurigkeit erregen.«5

Die beiden ADB-Rezensenten Rudolf Erich Raspe (1736 – 1794) und Friedrich August Krubsacius (1718 – 1789) befinden sich neben Peter Heinrich Millenet (1748 – 1788) und Heinrich Ludwig Manger (1728 – 1790) als Publizisten und Bauräte im unmittelbaren Umfeld Nicolais. Bis auf Raspe und Nicolai stehen alle Genannten in beruflicher Beziehung zur Baukunst. Manger trug neben anderen zu Nicolais Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam (1786)6 bei und veröffentlichte in Nicolais Verlag seine Baugeschichte von Potsdam.7 Nicolai interessiert sich aus zwei Gründen für diese Kontakte. Zum 3 Biesler, BauKunstKritik, S. 9. – Vgl. zur Stellung im europäischen Kontext Lüttichau, Die deutsche Ornamentkritik im 18. Jahrhundert, S. 31. 4 Mendelssohn, Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften, S. 266. 5 Ebd., S. 233. 6 Vgl. die Erwähnung Mangers in Nicolai, Beschreibung der königlichen Residenzstädte, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 8/1, S. 14. 7 Vgl. Manger, Baugeschichte von Potsdam, besonders unter der Regierung König Friedrichs des Zweiten.

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einen möchte er zur Entwicklung von Architekturidealen beitragen, die bürgerlich-aufgeklärten Vorstellungen entsprechen. Zum anderen verfolgt Nicolai ein eigenes Buchprojekt, um die Kritik auf die in den Residenzstädten Berlin und Potsdam vertretene öffentliche Baukultur anzuwenden. Hinter seinen Bemühungen verbirgt sich der Wunsch, als bürgerlicher Stand mit einer bestimmten ästhetischen Architektur in der Öffentlichkeit vertreten zu sein, und nicht in der Beliebigkeit oder mehr noch der Unangemessenheit an Bedeutung zu verlieren – mit anderen Worten: Es geht um bürgerliche Identität im fürstlich geprägten urbanen Raum. In der Baukunst erweist sich die Suche nach einem eigenen Nationalcharakter, nach einem spezifisch deutschen Zug schwieriger als in der Dichtkunst. Die Forderung nach verbindlichen Bezügen zur griechischen Baukunst in deutscher Anpassung bzw. ›Denkungsart‹ verläuft in der gleichzeitigen Wahrnehmung architektonischer Erzeugnisse und der Abgrenzung zu den Nachbarnationen. Krubsacius formuliert in einer Rezension zu Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste für die deutsche Baukunst: »Ob wir gegenwärtig auf dem rechten Wege der schönen Baukunst sind? das ist zu glauben: da wir wieder zur guten griechischen und römischen zurückkehren, nachdem es die Italiäner und Franzosen, wie die Gothen haben ertrotzen wollen, eine weit schönere als diese zu erfinden. Ich wollte hier gar gern einen architektonischen Homer anführen, der die ganze Baukunst aus dem Stegreife in größter Vollkommenheit erfunden haben sollte. Eines solchen Vaters können sich die Baukünstler nicht wie die Dichter rühmen.«8

Die Deutung fällt nicht schwer : Krubsacius sieht die deutschen Baumeister in der Pflicht, einen eigenständigen und gleichzeitig den »rechten«, »schönen« und »guten« Weg in der Architektur zu finden – ganz im Gegensatz bzw. in Abgrenzung zur beanstandeten Architektur der Italiener und Franzosen. Die Wegmarken seien in der Adaption antiker Baukunst zu setzen. Dieser fehle aber aus Mangel an einem Ahnherrn, einem »architektonischen Homer«,9 ein Regelwerk,10 auf das sich Lehrer und Studenten berufen könnten. Somit reiht sich die von Krubsacius mitbegründete Architekturkritik in der ADB in die kunst8 Krubsacius, Allgemeine Theorie der schönen Künste, S. 822. – In seinem Brief an Nicolai vom 4. Mai 1773 lobt Krubsacius anlässlich der Rezension zur Allgemeinen Theorie der schönen Künste »dieses gelehrten Mannes philosophischen Geist in den schönen Künsten«. 9 Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass sich ein stilisiertes Porträt Homers als Patron der deutschen Literatur auf jedem Titelblatt der ADB findet. 10 Interessanterweise wird ein solches Werk bereits händeringend erwartet: »Sollen wirs von Krubsacius oder Langhans hoffen?« fragt 1773 ein Rezensent der Auserlesenen Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur (zit. nach Biesler, BauKunstKritik, S. 206) und Johann Carl August Musäus möchte »gern […] den Hrn. L[andes] B[au] M[eister] Krubsacius in Dresden [dazu, CS] aufmuntern« (zit. nach Musäus, Des Abbts Laugier neue Anmerkungen über die Baukunst, S. 292).

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ästhetischen Diskussionen ein. Dabei zeigen sich übergreifend patriotische Momente. Während ein Literaturkritiker wie Ehrenfried Engelbert Buschmann diskutiert, wie »ein neuerer Dichter […] den epischen Lorbeerkranz erwerben« könne,11 drängt auch Krubsacius auf Eigenständigkeit und Fortschritt beim Architektennachwuchs, wie in seinem Brief an Nicolai vom 19. November 1773 festgehalten ist: »Fehlt es denn also nicht an gründlichen Künstlern in Deutschland? O! wenn doch die Zeit bald kähme, daß wir deren aus unsern Mitteln erhalten möchten. Auf was für Art und Weise aber können sie hervorgebracht werden? und was für ein Ziel sollte man ihnen stecken?«12

Nicolai sucht das Gespräch mit Architekten und Verständigen in der Baukunst. In seiner Beschreibung der Residenzstädte Berlin und Potsdam geht er nur selten über kürzere Erwägungen zur Bewertung von Baukunst hinaus, aber er verfolgt spätestens seit Beginn der 1770er Jahre den Gedanken, auch kritische Betrachtungen in einer umfangreicheren Publikation durchzusetzen. Im Austausch mit seinem Korrespondenten und ADB-Mitarbeiter Rudolf Erich Raspe kommt es zu Annäherungen, bspw. über den von Nicolai geäußerten Vorzug der antiken Baukunst, worauf sich aus Raspes Replik schließen lässt: »Solten denn alle Architekten der Alten geschickter gewesen seyn als die unsrigen? Das kan ich nicht glauben, denn Stümper hat es immer gegeben. Es ist mir aber wahrscheinlich daß die Pläne der Alten als die Entwürffe der Gesetze dem Urtheile des Volkes blos gestellt wurden, ehe man sie ausführte. […] [U]nsere Großen solten es eben so machen wenn sich Nachwelt und Publicum nicht an ihnen rächen sollen.«13

Die Architekturkritik sollte ein verbindendes Thema zwischen Nicolai und Raspe (der bereits 1769 einige Aufsätze Francesco Algarottis als Versuche über die Architectur, Mahlerey und musicalische Opera ins Deutsche übertrug) bleiben. Nach seinem Besuch in Berlin und Potsdam im Sommer 1770 beginnt Raspe, seine Beobachtungen über die preußische Baukultur niederzuschreiben. Sein Biograph Rudolf Hallo hält fest, dass ihn »die Sehnsucht nach der aufblühenden Metropole, nach der Stadt Friedrichs des Großen«14 angetrieben habe, sich die Gunst des preußischen Monarchen zu verdienen und spekuliert mit seiner »Lobschrift«15 auf eine Stelle in der Berliner Akademie. – Ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen, wie Nicolai später einen ähnlich ambitionierten Gelehrten, den schleswig-holsteinischen Gräzisten Johann Bernhard Köhler, warnen wird. Zunächst zirkulierte eine erste handgeschriebene Fassung der 11 12 13 14 15

Buschmann, Kleine Gedichte von G[eorg] H[einrich] A[ugust] Koch, S. 547. Krubsacius an Nicolai, 19. November 1773. Raspe an Nicolai, 4. August 1771. Hallo, Rudolf Erich Raspe, S. 88. Ebd., S. 89.

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Briefe über Berlin und Potsdam, die neben dem Göttinger Professor und Freund Raspes, Christian Gottlob Heyne, auch Nicolai erhielt, spätestens im Juli 1771. Raspe deutet in seinem Brief vom 4. August an, das Manuskript anonym drucken lassen zu wollen. Heyne bekundet nach der Lektüre, die Briefe seien zu gewagt.16 Nicolai aber drängte in einem nicht erhaltenen Brief wohl zu schärferer Kritik über die Potsdamer und Berliner Bauten, worauf Raspe erklärt: »Ich kan den Ton nicht wol ändern.« Nicolais Interesse hingegen ist groß, er drängt darauf, diese noch weiter auszuarbeiten, und »daß Sie auch die Fehler in unserer Architectur besonders die Colifichet17 vom Neuen Schloße nicht übergingen.«18 Bei dem Neuen Schloss handelt es sich um das zwischen 1763 bis 1769 errichtete Neue Palais bei Sanssouci. Nach einem Zerwürfnis mit Johann Gottfried Büring und Heinrich Ludwig Manger im ersten Baujahr beauftragte Friedrich II. Carl von Gontard. Dem König ging es nach Dohmann in den Friedenszeiten um eine effektive und kostengünstige Aufwertung der Residenzstädte – sie blieben hinter älteren Städten wie Hamburg, Dresden und Leipzig zurück, auffallend war der vom italienischen Barock geprägte Fassadenbau in Berlin und Potsdam. Dohmann zufolge »[…] verfiel der König immer mehr auf den Ausweg der Errichtung von Kulissen. Denn nichts anderes sind diese meist recht bescheidenen Wohnhäuser mit den Prachtfassaden, die oft mehrere von ihnen äußerlich vereinen. […] Beliebt war diese Verschönerungswut bei der Bevölkerung nicht, und wenn, wie berichtet wird, die Eigentümer verschiedener auf königlichen Befehl ›unter einer [!] Fassade‹ gebrachten Häuser ihre Fassadenteile verschiedenfarbig anstreichen ließen, so ist dies ein amüsantes Beispiel dafür, wie selbst in Preußen der absolute Herrscher gegen das sich durchsetzende […] Bürgertum letztlich machtlos war«.19

16 Vgl. ebd., S. 90. 17 Das französische Wort ›colifichet‹ lässt sich in der zeitgenössischen Verwendung mit FranÅois Roux’ Nouveau Dictionnaire wie folgt übersetzen bzw. erläutern: »[S]chlechte Sachen; Zierrathen von geringem Werthe […], allerhand kleine Zierrathen, so sich an den Ort nicht schicken oder unordentlich gesetzt sind. F. gewisse Figuren und Auszierungen, die ungereimt in einem gelehrten Werke angebracht sind.« (S. 167) Damit kann es nicht nur in die Nähe des deutschen Wortes ›Zierrat‹ oder ›Zierde‹ gebracht werden, sondern es stellt auch den Gebrauch des französischen Wortes durch Nicolai in den Dienst seiner abwertenden Absicht. 18 Nicolai an Raspe, 10. September 1771. Bei dem in Kassel (Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek) befindlichen Briefwechsel zwischen Nicolai und Raspe handelt es sich um Abschriften von Hand (vermutlich frühes 20. Jahrhundert), einschließlich rotfarbiger Korrekturen von einem zweiten Urheber. Im Fall der Briefe Nicolais ist zu bemerken, dass die typischen Eingangsvermerke sowie die Marginalien Nicolais fehlen. Die Originale gelten bislang als verschollen. 19 Vgl. Dohmann, Zur Berlin-Potsdamer Architektur unter Friedrich II., S. 152 ff.

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Dohmanns Formulierung erscheint zwar sehr zugespitzt, dennoch kann man von einer Opposition bei Bürgern und Baumeistern20 – auch Nicolai ist ein Beispiel für den herrschenden Unmut – sprechen. »Besonders unzeitgemäß war auch die Einrichtung des größten seiner Schlösser, des Neuen Palais in Potsdam. Der Gedanke, mit der Erbauung eines ungewöhnlich großen, nicht benötigten Palastes prunken zu wollen und zu zeigen, daß der König von Preußen auch nach den Verwüstungen des Siebenjährigen Krieges noch über genügend materielle Mittel verfügt, ist um diese Zeit bereits anachronistisch.«21

Auch Raspe muss am 18. Oktober 1771 Nicolais Kritik nach dessen Drängen beipflichten; gleichzeitig scheint es, als wolle Raspe seine karrierebedacht aufgesetzte ›Lobschrift‹ vor allzu freimütiger Kritik an der königlichen Baukunst bewahren: »[M]an muß öffentliche Anstalten gehabt haben der Capricen der Architecten und Bauherrn, die bei uns thun können was sie wollen, Schranken zu setzen […]. Das Abentheuerliche vieler neuen Gebäude zu Potsdam habe ich nur zu sehr bemerkt; ich habe es auch gerügt. In den Umständen und Verhältnißen aber […] konte ich mich nicht wol härter darüber erklähren als ich gethan habe.«22

Ob Nicolai der Hintergrund der Raspe’schen Briefe als Empfehlungsschrift unbekannt war? Hätte er sonst darauf gedrängt, das königliche Bauwerk an seiner empfindlichsten Stelle zu kritisieren? Raspe erklärt sich Nicolai gegenüber nicht über den Zweck seiner Architekturbriefe. Nicolai zieht Raspe ins Vertrauen, schreibt ihm, er könne sich vorstellen, ebenfalls architekturkritische Betrachtungen zu veröffentlichen, Nicolai nennt sie »Essays sur Berlin — la Saintefoix«,23 aber über Potsdam werde er »manches nicht sagen können, was ich über den Geschmack in der dortigen Architektur sagen möchte«.24 Nunmehr wird deutlich, dass Nicolai in Raspe einen potentiellen Verbündeten sieht. Allerdings scheint es, dass Nicolai das, was er selbst öffentlich aussparen wollte oder musste, über Raspe zu forcieren gedachte. Es lässt sich noch mehr über Nicolais Gegenstandpunkte erfahren:

20 »Die natürliche Opposition der an den Bauten beschäftigten Baumeister und Handwerker, die so solide bauen wollten, wie sie es gewohnt waren, erweckte immer wieder den Zorn des absoluten Herrschers, der sich stets betrogen fühlte. Die Erinnerungen des Baumeisters Manger, der selber ein Opfer des Unverständnisses des Königs wurde, geben ein beredtes Zeugnis über diese unerquickliche Situation« (ebd., S. 152). 21 Ebd., S. 153. 22 Raspe an Nicolai, 18. Oktober 1771. 23 Germain FranÅois de Sainte-Foix veröffentlichte die fünfbändigen Essais historiques sur Paris, die in London von 1754 bis 1757 erschienen. 24 Nicolai an Raspe, 1772.

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»Ein Gebäude, das im vorigen Jahre, am Canale der Gewehrfabrik gegenüber, ist aufgeführt worden, ist detestabel und verdiente eine Satire, wenn es ein Palast würde, noch mehr, da Schuster und Schneider darin wohnen; so überladen ist es mit Colifichet.«25

Zum wiederholten Male fällt das Reizwort, mit dem sich nicht nur Nicolais Unverständnis mit Teilen der öffentlichen Baukunst verbindet. Die im Folgenden leicht abweichende orthographische Verwendung lässt vermuten, dass Colifichet/Colifiket nicht zu seinem mündlichen Sprachgebrauch gehört, letztere Form deutet auf eine italienisch eingefärbte statt auf die korrekte französische Aussprache hin.26 »Ich bemerke, Sie spielen den Hofmann mein liebster Freund, und entschuldigen, wo Sie nicht angreifen können. In sofern man einem großen Herrn ein Compliment machen muß, habe ich nichts dawieder. Aber das Colifiket, das sich unter den wirklich großen Parthien unserer Architectur einschleicht, laßen Sie zu sehr durchschlüpfen. Noch dünkt mich, die äußere Facade eines Hauses muß eine Rücksicht auf den Gebrauch und die Bequemlichkeit des Besitzers haben. Daher gefällt mir, die elegante Simplicität bey einem Bürgerhause beßer, als das äußere Ansehen eines Palasts, wodurch das innere unbequem gemacht.«27

Nicolai hält an der repetitiven Wirkung seiner Kritik fest. Längst vermutet er jedoch, dass Raspe sich nicht zu deutlicheren Fronten bewegen lässt, trotzdem spinnt er das Projekt Essays sur Berlin fort. Nichts weniger als den »Geschmack in der Architectur seit 1650« und die »Veränderungen des Geschmacks«, die »Charaktere der vornehmsten Baumeister« möchte er anhand erhaltener Bauwerke veranschaulichen.28 Zwischenzeitlich wird erwägt, dass Raspes Architekturbriefe in Nicolais Verlag erscheinen könnten.29 Ein Jahr nach Raspes Aufsehen erregender Flucht aus Kassel (nachdem seine jahrelangen Diebstähle aus der ihm anvertrauten herzoglichen Münzsammlung bekannt wurden) erscheint 1776 ein kleines Werk in Berlin, das verblüffende Ähnlichkeit mit dem von Raspe und Nicolai diskutierten Gegenstand aufweist: die Kritischen Anmerkungen den Zustand der Baukunst in Berlin und Potsdam betreffend. Von der heutigen historischen Architekturforschung werden diese Anmerkungen als Beginn der Berliner Architekturkritik angesehen.30 Sie erscheinen anonym. Überraschenderweise ist es Nicolai selbst, der 1786 die Identität des Verfassers lüftet und damit der heutigen Forschung die Verfass25 26 27 28 29 30

Ebd. Vorausgesetzt, dass diese Schreibvariante nicht der Abschrift geschuldet ist. Ebd. Ebd. Vgl. Raspe an Nicolai, 10. Juli 1772. Vgl. Giersberg, Nachwort, S. 58. – Nach Biester, Von deutscher Art und Kunst, S. 212, ist dies die »erste eigenständige architekturkritische Schrift« in deutscher Sprache.

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erfrage beantwortet.31 Nicht Raspe ist der Autor, sondern der heute recht unbekannte Magistratsbaumeister und Senator Peter Heinrich Millenet. Die Kritischen Anmerkungen32 verstehen sich, wie in der Vorrede angezeigt, als ein Nachtrag, als eine architekturkritische, aber eigenständige Ergänzung zu Nicolais 1769 erschienener Beschreibung von Berlin und Potsdam (S. 5), aber auch als Lehrschrift in der Tradition von Sulzer und Krubsacius.33 Anhand von »übrig gebliebene[n] Denkmählern« (S. 7) soll das Studium der antiken griechischen Baukunst als Fundament der Ausbildung junger Architekten voranstehen, durchaus vergleichbar mit Nicolais indirekt herleitbaren Auffassungen: »Durch Anschauung dieser Meisterstücke wird er [der Anfänger, CS] einsehen, daß die wahre Schönheit eines Gebäudes […] in einer edlen Einfalt, und in einer dem Ursprung und Gebrauch davon vollkommen angemessenen Anordnung, so wohl im Ganzen als auch in den kleinsten Theilen [besteht].« (S. 10)

Hier findet sich Nicolais von Winckelmann beeinflusstes Verständnis von der »eleganten Simplicität« wieder, wenn nach Millenet »ein Gebäude, dessen Theile ihrer ganzen Bestimmung vollkommen angemessen sind, einzig und allein schön genannt zu werden verdient.« (S. 13 f.) Dagegen wird in der weitverbreiteten Praxis eine Gefahr gesehen, »die Zeit […] durch Kopiren besonders der französischen aufgeputzten Fasaden [also Colifichets, CS] zu verderben.« (S. 10) Tatsächlich wird der neueren Architektur kein schmeichelhaftes Zeugnis ausgestellt: Millenet beklagt »den unendlichen Abfall der meisten neueren Gebäude« (S. 10), sucht diese Distanz zur griechischen Baulehre in Anlehnung an Montesquieus Klimatheorie »durch das entgegengesetzte Klima« (S. 11) des nördlicheren Europa zu erklären und schließlich durch die »Denkungsart der Nation« (ebd.). Millenets Verständnis von zeitgenössischer Baukunst, wie sie idealerweise gelehrt werden sollte, liegt indes in dem »vernünftige[n] Mittel […] zwischen der großen Verschwendung der Italiäner […] und […] der Kargheit der Franzosen.« (S. 11 f.) Freilich bleibt dieses Mittelmaß Auslegungsache. Die Aufforderung, sich vor zu starker Nachahmung zu hüten, vor allem »das viele Alberne einiger französischer Baumeister« zu meiden, mündet in einen Ratschlag, der im Grundsatz an ein weltoffen-patriotisches Credo Raspes aus seinem Casselschen Zuschauer erinnert,34 es lautet schlicht: »[M]an […] nehme bloß das Beste davon.« (S. 12). In der sich anschließenden konkreten Betrachtung einer größeren Auswahl an Berliner und Potsdamer Gebäuden (u. a. das 31 Vgl. Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 8/2, S. 821. 32 Die im Folgenden, in Klammern angegebenen Seitenangaben beziehen sich auf Millenets Kritische Anmerkungen den Zustand der Baukunst in Berlin und Potsdam betreffend. 33 Zur architekturtheoretischen Einordnung vgl. Biesler, BauKunstKritik, S. 212 ff. 34 Vgl. Raspe, »Der Nachahmungsgeist unserer nation […]«, S. 2.

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Potsdamer Stadtschloss, das Schloss Sanssouci, das Königliche Opernhaus, die Berliner Hedwigskirche, die Königliche Bibliothek) macht Millenet kritische Bemerkungen. Zahlreiche Gebäude seien seiner Ansicht nach »nicht tadelsfrey« (S. 13), das Königliche Palais35 könne trotz vieler Vorzüge »nicht als Muster angepriesen werden« (S. 15). Dieses besitze zwar Schönheiten, allerdings auch »Unvollkommenheit« (S. 16). Es sei in der »äußere[n] Anordnung […] durchaus fehlerhaft«, weise »Mangel in der Symetrie [!]« etc. auf, vor allem aber sei es »mit zu vielen kleinen Zierrathen überhäuft. Ein gewöhnlicher Fehler aller Bildhauer.« (ebd.) Ähnlich behandelt Millenet das Charlottenburger und Potsdamer Schloss. Das Neue Palais bei Sanssouci erfährt zunächst Lob. Hier sei die »außerordentliche Pracht« des Palais angemessen, sie versetze den »Zuschauer in Erstaunen« und »[a]lles kündiget die Wohnung eines großen Monarchen an.« (S. 20)36 An dieser Stelle könnten auch Millenets Kritische Anmerkungen als Lobschrift auf die Baumaßnahmen Friedrich II. gelesen werden: Dieser wird als Urheber der ersten Entwürfe genannt, dessen »erhabene Begriffe« und die Ausrichtung, »ein Monument von der Magnifizenz des großen Königes, als auch von seiner eigenen Geschicklichkeit auf die Nachwelt zu bringen« (ebd.). Dem ausführenden Architekten des Neuen Palais sei dies, wie Millenet bedauert, jedoch nur begrenzt gelungen. »Anstatt die großen Ideen seines Königs auszudrücken«, sei er (man denke an Nicolais Kritik) »[…] in das Schwere [verfallen], welches, ohnerachtet der bis zur Verschwendung und nicht immer im bestem Geschmack, angebrachten Zierrathen, sogleich auffällt« (S. 20 f.). Schließlich kommt Millenet auf die Architektur im unmittelbaren bürgerlichen Leben zu sprechen, »[v]on den öffentlichen Plätzen, Straßen, und Bürgerhäusern« (S. 53), und ruft enthusiastisch aus: »Man sehe zu Berlin die ganze Lindenallee herauf, den Opernplatz und bis zum königlichen Schlosse; welch herrlicher Anblick!« (S. 53), ein Enthusiasmus, der bis in die heutigen Zeiten anhält. Bei Betrachtung der neu erbauten Bügerhäuser lobt Millenet das Engagement und den Geschmack Friedrichs II. Aber mit den letzten Sätzen der Kritischen Anmerkungen werden Architekturstudenten bei ihrem Anschauungsunterricht gewarnt: »Einige dieser Häuser sind mit einer Pracht erbauet, welche der Magnifizenz des großen Königs würdig sind; es läßt sich aber unschwer einsehen, daß nicht alle für die eigentlichen jetzigen Bewohner bestimmt waren, sonst könnten sie einen Anfänger auf falsche Grundsätze verleiten. Auch hat man um die Einförmigkeit zu vermeiden, bisweilen in besondere Zierrathen verfallen müssen, welche nicht immer nachzuahmen

35 Gemeint ist das immer wieder zum Wiederaufbau bestimmte Berliner Stadtschloss, dessen markante Fassade von dem Barockarchitekten Andreas Schlüter geschaffen wurde. 36 Friedrich II. konzipierte das Neue Palais jedoch als Schloss für Gäste des königlichen Hofes.

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sind. Bestimmte allegorische Zierrathen sind besonders bey Bürgerhäusern, selten anzurathen, wegen der beständigen Abwechselung der Besitzer.« (S. 55)

Parallelen zu Nicolais Standpunkten sind unübersehbar. In der Tat lässt sich dessen Kritik an Colifichets mit Millenets Kritik an »Zierrathen« zusammen bringen, die »edle Simplicität« findet sich in der »edlen Einfalt« wieder, und auch die ökonomisch-funktionale Regel, nach der es ein ausgewogenes Mittel zwischen Äußerem und Innerem eines Gebäudes, sowie einen angemessenen architektonischen Hinweis zu den Bewohnern desselben geben soll, wird von beiden geteilt. Kam Millenet, über dessen näheres Wirken und möglichen Austausch mit Nicolai nichts überliefert ist, den architekturkritischen Ideen Nicolais entgegen, unterbot er sie, wie zuvor Raspe, oder ging er darüber hinaus? Es darf hier erstmals der Nachweis geboten werden, dass die positive Rezension der ADB zu den Anmerkungen von Nicolai selbst stammt.37 Er bescheinigt Millenet, »ein Mann von vieler Einsicht in die Baukunst« zu sein und mit »großer Aufmerksamkeit […] meist sehr richtig und mit vieler Freymüthigkeit« geurteilt zu haben.38 Ein tiefergehendes Werk mit stärkeren Details und »Zeichnungen der vornehmsten Parthieen« wäre ihm nützlicher erschienen, auch mit Blick »auf das Historische der Gebäude, und auf die verschiedenen Zeiten, wo die Baumeister gelebt, und gearbeitet haben« (S. 811). Die Architekten müssten in ihren Zeiten und Rahmenbedingungen betrachtet werden, sonst könne man »leicht ungerecht gegen einen verdienten Mann werden«. Leicht erinnern die Vorschläge des Rezensenten an Nicolais Brief an Raspe fast ein Jahrzehnt zuvor. Den Wunsch seiner Architekturbeschreibung — la Sainte-Foix hegt Nicolai noch immer. 1780 erscheint die Wirkliche Baupraktik der Bürgerlichen Baukunst39 des Mathematikers und Schriftstellers Lukas Voch. Im gleichen Jahr erscheint auch 37 Der von Biesler ermittelte »Müller aus Kassel« (Biesler, BauKunstKritik, S. 212) ist falsch hergeleitet, da bei der Entschlüsselung der Sigle Fraktur und Antiqua verwechselt wurden. Aber auch die Lösung, die bei Gustav Parthey unter der 1780 aufgeführten Sigle Antiqua »A« angeboten wird, ist irreführend (vgl. Parthey, Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolai’s ›Allgemeiner Deutscher Bibliothek‹, S. 54). Diese führt zwar zu Albrecht Georg Walch, allein es findet sich im Briefwechsel mit Nicolai kein Hinweis darauf, dass dieser ein ihn freilich sehr interessierendes Buch an einen thüringischen Rezensenten schickt, um über eine Berliner und Potsdamer Angelegenheit zu schreiben. Vielmehr könnte man annehmen, dass die für den Nachtragsband 1780 bestimmte Rezension mit der Sigle des vorangegangenen Bezugszeitraumes (1773 – 1778, Bd. 19 – 36) versehen war. Da solcherart Bestimmungsschwierigkeiten bei der Entschlüsselung von ADB-Rezensionen keine Seltenheit sind, wäre eine längst überfällige Handreichung zum Umgang mit Partheys Siglenverzeichnis zu wünschen (ganz zu schweigen von einer Revision Partheys). 38 Vgl. Nicolai, Kritische Anmerkungen den Zustand der Baukunst, S. 810 f. 39 Voch, Wirkliche Baupraktik der Bürgerlichen Baukunst.

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der erste Band seiner vierbändigen Abhandlung von der Bürgerlichen Baukunst, die er 1782 vollendet.40 Beide Werke wurden von dem Mathematik- und Philosophieprofessor Albrecht Ludwig Friedrich Meister (1724 – 1788) rezensiert,41 wenngleich recht knapp. Zu Recht beschäftige sich Voch nun mit bürgerlichen Wohnhäusern, da »diese im gemeinen Leben mehr als andere vorkommen«. Voch biete eine nützliche Auswahl an praktischen Beispielen bürgerlicher Baukunst, »aus denen Lehrbegierige sich […] helfen können«.42 Dabei konzentriere er sich sowohl auf die Technik, sog. Zwischengebäude, »die in Städten am meisten gebauet werden«, zu entwerfen, als auf die Standesgemäßheit der Bauentwürfe: Voch habe »Personen von allerley Stand und Lebensart dabey vorausgesetzt, Rathsherren, Hofräthe, Gelehrte, Kaufleute, Gastgeber, Brauer und andere Bürger.« Dieser Ausdifferenzierung begegnet Meister mit Skepsis: Der Baumeister »muß also zeigen können, warum sein Entwurf eher einem Hofrathe, als einem Gelehrten […] angemessen ist.«43 Besser wäre es, Anfängern bereits existente Gebäude zur Anschauung nahezubringen. Ein Vorschlag, der an die Grundidee von Nicolais Essays sur Berlin erinnert. Vochs Bürgerliche Baukunst wird in den nächsten Bänden zwar mit Interesse betrachtet, allerdings resümiert Meister bei der Besprechung des dritten Bandes: »Sehr großen Einfluß auf das Architektonische scheint es gleichwohl nicht gehabt zu haben.«44 Nicolais Interesse an der Architektur bleibt bestehen. Die Entscheidung des Verlags für die 1789 und 1790 erschienene Baugeschichte von Potsdam, besonders unter der Regierung König Friedrichs des Zweiten war nicht nur wegen ihres lokalen Bezuges naheliegend. Heinrich Ludwig Manger hatte bereits an der Darstellung der Potsdamer Baugeschichte in Nicolais 1786 erschienener (überarbeiteter) Neuauflage der Beschreibung der Residenzstädte Berlin und Potsdam entscheidend mitgewirkt.45 Allerdings sind in Nicolais Beschreibung keine kritischen Töne zur Baukunst unter Friedrich II. zu vernehmen, im Gegenteil. Nicolai, der Herausgeber und Verleger dieses Guides, hebt die Sorge des Regenten »zur Verbesserung seiner Länder« und der »Verschönerung seiner Hauptstadt« hervor und führt Bauprojekte an, die Friedrich II. auf ›eigene Kosten‹ bestritt (S. LXI). »In den ersten Jahren nach geschloßenem Frieden war dieser wahre Landesvater aufs eifrigste beschäftigt, seine ausgesogene und zum 40 Voch, Bürgerliche Baukunst. 41 Die beiden Werke wurden nacheinander rezensiert in: ADB, Anhang 37 – 52 (1783), 1. Abt., S. 431 – 434; ADB, Anhang 37 – 52 (1783), 1. Abt., S. 434 – 436; ADB, Anhang 37 – 52 (1783), 1. Abt., S. 436 f.; ADB 58 (1784), 2. St., S. 550 f.; ADB 58 (1784), 2. St., S. 551 f. 42 Meister, Lukas Vochs – wirkliche Baupraktik der bürgerlichen Baukunst, S. 434. 43 Meister, Lukas Vochs – Bürgerliche Baukunst, darin gezeigt wird, wie die innerliche Einrichtung, S. 435. 44 Meister, Lukas Vochs – bürgerliche Baukunst. Dritter Theil […], S. 551. 45 Vgl. dessen Briefe an Nicolai bis einschließlich vom 5. Dezember 1785.

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Theil verwüstete Länder, wieder in guten Stand zu setzen.« (S. LXII) Nicolai beziffert die Ausgaben für die Bauprojekte Friedrichs II. auf 40 Millionen Reichstaler, von den zahlreichen Projekten nennt er die Erbauung von 149 Bürgerhäusern auf königliche Kosten. Kein Wort über die grassierende Verzierungswut, keine Kritik an Bürgerhäusern oder an der Fassade des Neuen Palais in Potsdam. Freilich bleibt zu bedenken, dass die Beschreibung der Residenzstädte Berlin und Potsdam als Guide, als Stadtführer meist nur deskriptiven, anpreisenden Charakter hat und sich offener Kritik verschließt. Anzunehmen ist vor diesem Hintergrund, dass auch die Essays sur Berlin für eingehende Kritik hochproblematisch waren. Nicolai räumte in seinem Brief an Raspe ein: »[F]reilich kann man über diese Materie nicht alles sagen, was man denkt.«46 Nicolai wusste Mangers Kenntnisse zu schätzen: 1763 wurde dieser zum Bauinspektor, 1775 zum Baudirektor ernannt. 1786 folgte die Inhaftierung nach einem Untreuevorwurf seitens Friedrichs II., 1787 ernennt Friedrich Wilhelm II. ihn zum Oberhofbaurat. Manger baute u. a. Kasernen und Bürgerhäuser und war an der Erneuerung des Potsdamer Stadtkanals beteiligt. Trotz des heiklen Hintergrundes der Baugeschichte von Potsdam – sie basiert nicht zuletzt auf Bauakten, die Manger entgegen einem ausdrücklichen Befehl Friedrichs II. nicht vernichtet hatte47 – ermöglich(t)en seine Ausführungen den Zeitgenossen und Nachgeborenen wertvolle Einblicke in das Wirken des Regenten als Bauherr und Wirtschafter.48 Als Manger am 5. Dezember 1785 erwähnt, eine Baugeschichte Potsdams »unter der Feder«49 zu haben, notiert sich Nicolai, dass er den Verlag zu dem Projekt angeboten habe »und den Vorschlag gethan eine Baukunst für bequeme Bürgerhäuser zu schreiben.«50 Ein letzter Versuch? Tatsächlich lassen sich Mangers und Nicolais Interessen teilweise zur Deckung bringen, bspw. wenn Manger allgemein schreibt: »Deutsche und französische Baumeister handeln insgemein nur von Pracht- und publiken Gebäuden; an die welche sie selbst am nöthigsten gebrauchen denken sie nicht.« Nicolais Anfrage lehnt Manger jedoch – diplomatisch – ab: »Ich traute mir zu in Ansehung der Bürgerhäuser etwas leisten zu können, wenn ich bei zunehmenden Jahren nicht noch so viel andere Arbeiten vor mir sähe. Doch soll es mir ein Wink seyn!«51 Und so stechen die drei 1789 und 1790 erscheinenden Bände weniger durch Seitenblicke auf Bürgerhäuser hervor, sondern vielmehr durch kritische Be46 Nicolai an Raspe, 1772. 47 Vgl. Manger an Nicolai, 5. Dezember 1785. 48 Götz Eckardt nennt die Baugeschichte »die wichtigste zeitgenössische Quelle, die über das baukünstlerische Schaffen in der preußischen Residenzstadt im 18. Jahrhundert Kunde gibt.« (Eckardt, Die ersten Entwürfe zur Terrassenanlage und zum Schloß, S. 155). 49 Manger an Friedrich Nicolai, 5. Dezember 1785. 50 Marginalie Nicolais in: ebd. 51 Manger an Nicolai, 26. Juni 1786.

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merkungen zur Architektur unter der Ägide Friedrichs II. Manger hat noch alte Rechnungen zu begleichen und sich gegenüber den rufschädigenden Handlungen des verstorbenen Monarchen zu verteidigen. In der ADB erfährt Mangers Baugeschichte eine würdigende Besprechung,52 jene möge auf den Zeitraum bis ins 13. Jahrhundert ausgeweitet werden. Lob erfährt Manger für seine Darstellung Friedrichs II. und seiner Sparmaßnahmen. Die kritischen Anmerkungen gegen den vormaligen Regenten werden jedoch in wenigen Worten auf »Empfindlichkeiten wegen einiger Härten« seitens des »großen Königs« heruntergespielt.53 Das Aufkommen der ersten Architekturzeitschrift, des Magazins für die bürgerliche Baukunst, wird von der ADB begrüßt.54 Ihre Grundsätze sind nicht unverwandt: In dem Beitrag Gedanken über wahre Schönheit in der Baukunst wirbt der Herausgeber Gottfried Huth für einen maßvollen und rationalen Gebrauch des Colifichet: »[E]in einziger sicherer Grundsatz wahrer Schönheit. Kein wesentlicher Theil darf und kann als bloße Zierde angesehen werden. Keine Säule, kein Pilaster, der nichts träget, oder gar nichts tragen kann.«55 Etwas später heißt es präziser : »Vorzüglich ist darauf zu sehen, daß die Zierrathen auf die Bestimmung des Gebäudes anspielen.«56 Während Nicolais Essays sur Berlin unvollendet, ja, unbekannt blieben und keiner seiner Mitarbeiter oder Korrespondenten aus dem Baukunstbereich seine Anregungen aufnahm, gewannen Architektur und Architekturkritik in den 1790er Jahren mehr und mehr Aufmerksamkeit. Durch die ständig anwachsende Bevölkerung bestand Bedarf an architektonischen Antworten. Die Ansprüche individualisieren sich, die Baukunst sucht nach Lösungen. 1799 fällt mit der Gründung der Bauakademie durch den jungen König Friedrich Wilhelm III. der Startschuss für eine lang anhaltende Architekturepoche. Jene hielt Nicolai in seinen letzten Lebensjahren für »eine vortreffliche und in ihrer Art einzige Anstalt«.57

52 Sell, Rezension zu Heinrich Ludwig Manger, ADB 93 (1790), 2. St., S. 426 f. u. S. 551 ff.; sowie ADB 98 (1791), 1. St., S. 201. 53 Sell, H. Ludw. Mangers Baugeschichte […]. Dritter Band, S. 201. 54 Eine Rezension des Allgemeinen Magazins für die bürgerliche Baukunst findet sich in der ADB 113 (1793), 1. St., S. 129 – 133. – Die Architekturforschung übergeht leicht dieses Magazin und sieht indes die erstmals 1797 erschienene Sammlung nützlicher Aufsätze und Nachrichten, die Baukunst betreffend als älteste deutsche Architekturzeitschrift an. – Vgl. Strecke, Auf dem neuesten Stand der Forschung, S. 27. 55 [H. v. C.], Gedanken über wahre Schönheit in der Baukunst, S. 34. 56 Ebd., S. 36. 57 Nicolai an Reuß, 14. Februar 1810.

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7.

Bibliographie

7.1

Quellen

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Sekundärliteratur

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Wie man aus Kupfer(n) Geld macht, oder: Aufklärung als Geschäft. Daniel Chodowieckis Illustrationen zu Friedrich Nicolais Sebaldus Nothanker

Bei aller Kritikfreudigkeit war die Aufklärung doch merkwürdig bilderfreundlich gesonnen. In dem Überschuss an Bebilderungen, mit dem aufklärerische Publikationen ausgestattet sind, wird ein Grundvertrauen in die Sprache der Bilder greifbar, über das im SiÀcle des lumiÀres scheinbar nicht räsoniert zu werden brauchte. Diese Beobachtung führt mitten in die Problematik jeder Beschäftigung mit Daniel Chodowieckis Œuvre, insbesondere seinen graphischen Arbeiten für Friedrich Nicolai: Warum vertraute letzterer vorrangig auf die Stecherkünste des ersteren? Welche Rolle spielten die Kupfer Chodowieckis in der Gedankenführung und dem Argument der Publikationen Nicolais? Darf man in beider Zusammenarbeit so etwas wie einen Einklang von literarischem Räsonnement und aufklärerischer Bildsprache erkennen? Gibt es denn eine solche illuminierte, erleuchtete Bildsprache überhaupt, und wenn, wie gestaltet sich diese? So regelmäßig und wie selbstverständlich Daniel Chodowiecki unter die Aufklärer gerechnet wird, so ungeklärt sind diese Fragen geblieben, wenn sie nicht gar kontrovers verhandelt werden. So räumt etwa Willi Geismeier im unbestrittenen Standardwerk zu Chodowiecki unserem Problem ein eigenes Kapitel ein, lässt dort aber vor allem äußere Gründe für die Mitwirkung des Künstlers am Projekt der Aufklärung sprechen.1 Die Bekanntschaft Chodowieckis mit herausragenden Personen der Berliner Aufklärung, etwa Moses Mendelssohn oder Johann Georg Sulzer, und seine wiederholte graphische Mitarbeit an den Veröffentlichungen Nicolais, der mit der Allgemeinen deutschen Bibliothek das wohl verbreitetste und schlagkräftigste literarische Instrument der bürgerlichen deutschen Aufklärung dirigierte, werden hier als Garanten aufklärerischer Neigungen und Aktivitäten Chodowieckis verstanden. Die unausgesprochene Gegenposition findet sich hingegen etwa bei Werner Busch, der Chodowieckis erzieherisch-belehrende Stichfolgen umstandslos in die Tradition der aufgeklärt-absolutistischen Zeremonialwerke, etwa eines Julius Bernhard 1 Vgl. Geismeier, Daniel Chodowiecki, bes. S. 102 – 126.

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von Rohr, zurückverweist – und sie damit der bürgerlichen Aufklärung weitgehend entzieht.2 Die folgenden Überlegungen sind dem Bildeinsatz Chodowieckis in den Publikationen Nicolais auf der Spur, und dies an einem konkreten Fallbeispiel. Der zu seiner Entstehungszeit hoch gehandelte, oft mit Goethes Werther verglichene Roman Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker3 bietet sich hier an, da er zu den Hauptwerken Nicolais mit literarischem Anspruch zählt. Die nach dem Modell von Lawrence Sternes Tristram Shandy4 gestaltete Satire erzählt die über eine unübersehbare Zahl von Stationen führende, scheinbar endlose Leidens- und schließlich doch glücklich endende Überlebensgeschichte eines protestantischen Pastors reformerischer, will sagen aufklärerischer Observanz. Sebaldus Nothanker droht immer wieder am orthodoxen Protestantismus zu scheitern, gegen den Nicolai als pars pro toto aufklärungsfeindlicher Haltung polemisiert. Der Roman eignet sich aber vor allem deshalb für eine Untersuchung der Text-Bild-Beziehung als Ausdruck eines Autor-Illustrator-Verhältnisses, weil er jene Relation für heutige Gewohnheiten recht ungewöhnlich gestaltet. Drei Eigenheiten empfehlen den Nothanker für eine nähere Untersuchung. Zum ersten wurde der so umfang- wie inhaltsreiche Text von über 700 Seiten, der in drei Bänden in den Jahren 1773, 1774 und 1776 erschien, mit lediglich sechzehn Bildern Chodowieckis versehen. Der erste Band enthält nicht mehr als sechs, die beiden folgenden sogar jeweils nur fünf Kupfer im Hochformat. Von kontinuierlicher Textillustration zu sprechen fällt da vorderhand schwer, zumal im ersten und dritten Band das erste und letzte Bild des Zyklus als Vorsatzblatt verwendet wurden und nicht in den Textverlauf eingerückt sind. Zum zweiten erschien anfangs lediglich eine Teilauflage mit diesen Illustrationen, was bei der ohnehin marginalen Bildbestückung sonderbar anmutet, aber offensichtlich mit

2 Vgl. Busch, Das sentimentalische Bild, S. 312; sowie ders., Daniel Chodowieckis »Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens«, S. 78 f. – Diese Feststellung verwundert umso mehr, als sie vor den »Natürlichen und affectirten Handlungen des Lebens« getroffen wird, in denen bürgerliche und adelige Verhaltensweisen dichotomisch einander gegenübergestellt und hier geradezu auf die Spitze getrieben werden. 3 Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker, Bd. 1 (S. 226), 1773; Bd. 2 (S. 284), 1774; Bd. 3 (S. 201), 1776. – Weitere, verbesserte und leicht umfangreichere Auflagen erfuhr der erste Band noch vor Erscheinen der beiden anderen; dazu traten weitere Auflagen aller drei Bände 1776 und 1799. Der Autorenname Nicolai wird erstmals in der englischen Übersetzung von 1798 genannt. Für den vorliegenden Aufsatz wurden vier Exemplare der zweiten und dritten Auflage der Staatsbibliothek Berlin benutzt (die Erstauflage ist Kriegsverlust); allesamt nicht deckungsgleich, mit teils fehlenden, teils auf verschiedene Platten Chodowieckis zurückgehenden Illustrationen mit kleineren, durchaus nicht unwesentlichen Abweichungen. 4 Sterne, The Life and Opinions of Tristram Shandy.

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dem Buchpreis zu tun hatte.5 Der illustrierte Roman erscheint also von vorneherein im Überschuss bebildert, weil der Text in der preiswerteren Variante ja offensichtlich auch allein für sich bestehen konnte. Eine außerordentlich punktuelle Interaktion von Text und Bild, ergo von Nicolai und Chodowiecki, liegt hier vor, die genau deshalb aussagekräftig ist: Die schüttere, rein quantitativ gesehen fast schon kontingente Verteilung der Bilder über den Text lässt sich mit gleichem Recht als Nichtbeziehung von Text und Bild, da der Roman auch ohne auskommt, aber auch als Schwerpunktsetzung der spärlichen Bilder an ausgewählten Textstellen verstehen, als Glanzlichter Chodowieckis auf dem Textkontinuum Nicolais. Und zum dritten kannte Chodowiecki anfangs den Fortgang des Romans gar nicht, da er den ersten Band noch vor dem Erscheinen der beiden folgenden bebilderte. Also auch hier eher Kontingenz statt Stringenz einer etwaige unterstellten Programmatik. Die vorschnelle Festlegung, die Illustrationen seien »integraler Bestandteil des Romans«,6 überzeugt jedenfalls nicht. Was also leisten diese Kupferstiche? Beginnen wir mit dem Gemeinsamen der sechzehn seitengroßen Kupfer. Die Bezeichnung »ganzseitige Illustration« führt etwas in die Irre, denn das Oktavformat erlaubt bestenfalls kleine Hochformate, in diesem Fall von nicht mehr als 12,5 x 7 Zentimetern Größe, die Chodowiecki hier ausschließlich verwendete.7 Die Illustrationen sind auf die Nahsicht einer einzelnen Leserin oder eines Lesers berechnet, sie zeigen mehr Details als etwa die Serien der Handlungen oder der Anekdoten, aber auch der Kalender- und der Geschichtsbilder Chodowieckis, in denen die Hintergründe gerne etwas schwächer angelegt sind, um das Bildpersonal im Vordergrund stärker zu konturieren und hervortreten zu lassen. Bis auf eine einzige bezeichnende Ausnahme8 sind die Stiche im Nothanker nach ein und demselben Muster gefüllt: Vor Landschaften, Staffagebauten oder Interieurs als Hintergrund treten meist bildparallel, wie auf einer Bühne, zwei bis fünf Personen auf. Ihre Interaktion kommt eher einem ruhigen Stehen denn einer bewegten Handlung gleich. Selbst in einer ›action‹-Szene, die im neunten Bild die hinterhältige Ermordung des Majors während seines Duells mit einem Verführer ins Bild setzt, bleiben die Figurinen merkwürdig steif und 5 Der Roman kostete mit Illustrationen zwei Taler zwölf Groschen, ohne Bilder einen Taler weniger. – Vgl. Schwinger, Friedrich Nicolais Roman ›Sebaldus Nothanker‹, S. 154, Anm. 4. Die Illustration schlug sich also mit 40 % in den Gestellungskosten nieder, was weniger mit der Wertschätzung Chodowieckis als mit der relativ kleinen Anzahl von Abzügen bei Kupferstichen und Radierungen zusammenhängt. Trotz des relativ hohen Preises wurden 12.000 Exemplare des Romans abgesetzt; der finanzielle Gewinn am Nothanker wird für Nicolai und – mit Abstrichen – auch für Chodowiecki beträchtlich gewesen sein. 6 Witte, Nachwort, in: Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker, S. 477. 7 Die Größe der Platten differiert minimal, um etwa zwei Millimeter. 8 Es handelt sich um das achte Blatt; dazu später mehr.

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Abb. 1: Daniel Chodowiecki, Bild 9, Duell und Tod des Majors, in: Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker.

aufrecht gestellt; selbst in einem Handlungsbild par excellence wird der parataktischen Anordnung des Personals der Vorzug gegeben. Die Mimik trägt über die Gestik den Sieg davon, kleine lakonische Details triumphieren über bewegtes Pathos. Das nicht gerade erzählfreundliche Hochformat, das sich in Dimension und Zuschnitt natürlich dem Trägermedium Buch verdankt und in dem die Personen sich meist in der unteren Bildhälfte zusammendrängen, bietet durchaus Wi-

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Abb. 2: Daniel Chodowiecki, Bild 1, Die Entlassung des Sebaldus Nothanker vor dem Consistorium, in: Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker.

derstände für eine allzu glatte Lektüre der Bilder im Roman. Merkwürdig erscheint vor allem, wie wenig die ohnehin geringe Bildfläche ausgenutzt wird, etwa im Gegensatz zu vielen Kalenderbildern Chodowieckis, wo die handlungstragenden Personen das zierliche Hochformat möglichst gut ausfüllen, damit die Körpersprache, aber auch die Mimik und die Details der Gestik gut zur Geltung gebracht werden können. Im Nothanker geht dagegen etwa die Hälfte des Bildfeldes, das für die Erzählung an und mit den Personen genutzt werden könnte, zunächst einmal verloren, da die Figurengröße konstant nur die halbe Bildhöhe umfasst, obwohl sie meist reichlicher hätte dimensioniert werden

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können. So entstehen Leerstellen in den oberen Partien der Stiche, die den Rezipienten stutzig machen. Meist gelingt es schnell, sie zu füllen, wenn etwa im ersten Bild, in dem der Pastor seines Amtes entsetzt wird, an der rückwärtigen Wand des Consistoriums zwei Gemälde mehr angedeutet als wiedergegeben werden. Hinter dem Präsidenten der landeskirchlichen Schiedsstelle ist die Darstellung einer Iustitia mit Faszienbündel erkennbar. Chodowiecki erweitert hier den Verwaltungsakt der lutherischen Kirche zu einer Gerichtsdarstellung, die ebenso ironisch zu lesen ist wie die Details des kurzsichtigen Schreiberlings im Entsetzungsverfahren und die darauf nachsichtig herabzublicken scheinende Allegorie der Gerechtigkeit. Das zweite Gemälde, das den demütig vor dem Consistorium verharrenden Nothanker hinterfängt, lässt sich dagegen weniger genau bestimmen. Wohl nicht von ungefähr weit undeutlicher, da in den Schatten gerückt, ist es als Unbestimmtheitsstelle des oberen Bildteils ausgewiesen. Man erkennt jedenfalls schemenhaft mehrere Gestalten in einer Landschaft, darunter neben einer größeren stehenden auch kleinere wie Putten oder Kinder. Nimmt man die von Nicolai miterzählte Rahmenhandlung der Nothankerschen Familie hinzu, möchte man davon ausgehen, das von Sebaldus’ Frau Wilhelmine imaginierte Familienglück, das das Consistorium gerade zerstört, werde hier ins Dunkel gestoßen.9 Chodowiecki illustriert die Nicolaische Vorlage nicht nur, er geht von einem Betrachter aus, der mitdenkt und die von Nicolai gelieferten Fakten und Argumente neu kombiniert und weiterspinnt. Während die ruhig aufgereihten Personenkonstellationen im unteren Teil der Kupferstiche, auf die sich das Interesse zuerst richtet, eher punktuell einen der erzählerischen wie satirischen Höhepunkte der Geschichte wiedergeben, also eher schlaglichtartig die erzählte Szenerie erhellen, erlauben die Leer- und Unbestimmtheitsstellen im oberen Bildteil, das Geschehen zu kommentieren und zu erweitern. Während der Superintendent Stauzius mürrisch seine Anklagen vorbringt und ein eifriger Konsistorialassistent dem ergebenen Nothanker beflissenst den Kragen und Mantel abnimmt, während in der verunglückten Perspektive dieses Gesichts die Zeit im Bild fast schmerzhaft kurz gehalten wird, peroriert die scheinbar leer gehaltene obere Bildhälfte mit Angeboten des Weiterdenkens und Folgerns. Chodowieckis Stichserie erzählt so teils von unten nach oben, liefert den faktischen Bestand in der Figurengruppe unten, den möglichen und erst vom Publikum zu liefernden Kommentar danach im oberen Bildbereich. Die Kommentarfunktion der auf den ersten Blick so verschenkten oberen 9 Dasselbe Motiv in einer anderen Ausgabe, der zweiten Auflage von 1774, lässt sich besser erkennen, aber nicht besser lesen, kommt aber im rechten Gemälde ohne Faszienbündel aus. Der Illustration liegt ein anderes Kupfer zugrunde.

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Stichhälften wird klarer, wenn man sich die Mühe macht, die über 716 Seiten verteilten Stiche untereinander zu vergleichen. So überzieht im zweiten Bild ein riesiger Weinstock die gesamte Fassade des Nothankerschen Pfarrhauses, aus dem die Familie nach Absetzung des Pastors vertrieben wird. Ein ähnlicher Trieb rankt im vorletzten Bild, in dem Nothanker seiner Tochter die Heirat verbieten muss, an der Hausfassade auf. Beide gehen gleichermaßen von den weiblichen Protagonisten aus, und sie münden beide in einem häuslichen Stillleben von Gefäßen und Butzenscheiben im oberen Register. Die genrehaft versteckte Bildparallele hebt auf die drohende Unglücksgeschichte der Familie in beiden Generationen ab, die jeweils den Stammbaum, die radix Sebaldi, abzuwürgen droht. In gleicher Weise interagieren die oberen Bildfelder auch in anderen, thematisch zusammenpassenden Bildpaaren. In die schweren Balkendecken der Interieurs, die im dritten sowie im zwölften Stich auftauchen,10 erscheint die Durchkreuzung und das Ende der Nothankerschen Pläne offensichtlich in krudes Holz gezimmert. Wie es Chodowiecki vermag, die Fluchtlinien des Bildes durch die bedrückenden dunklen Deckenbalken zu fixieren und den Sarg der jüngeren Tochter darunter im rechten Winkel dazu anzuordnen, braucht Nicolai nicht erst in Worte zu fassen. Ebenso hinterfangen im sechsten wie im zehnten Stich – in denen es um überraschende Wendungen in der Geschichte der Tochter und des Schwiegersohns Nothankers geht, die sie wohl nicht grundlos als plötzliche Entdeckungen in Gartenanlagen imaginieren – Treillagen und Treibgestelle die zukünftige Verbindung von Säugling und Mariane.11 In den genreartig gehaltenen oberen Randlagen ist Chodowiecki am freiesten, dort bettet er die zugespitzten Höhepunkte des Romans in ein Ambiente, von dem schon des Öfteren beobachtet worden ist, wie bürgerlich und familiär-individualistisch es sich gibt und wie sehr es so die theologisch-philosophische Stoßrichtung Nicolais zugunsten einer lebensweltlich-charakterlichen Einbettung der Protagonisten verschiebt.12 Dienen dem Autor die verwickelten Handlungsstränge als Ausgangspunkt seines Argumentums, lenkt der Illustrator die Aufmerksamkeit wieder auf diesen Bereich zurück. Damit wäre man bei den Figurenkompositionen Chodowieckis angelangt, dem Hauptcharakteristikum seiner Stiche. Von der relativen Steifheit und Lakonik seiner Figurinen war schon die Rede. Im siebten Stich disputiert ein Pietist mit Sebaldus Nothanker im Berliner Tiergarten; das heißt, der überzeugte Pietist 10 Bild 3 (Tod Wilhelminens und der jüngeren Tochter) und 12 (Prediger und Fischer halten Sebaldus zurück). 11 Bild 6 (Mariane wird mit Säugling in der Gartenlaube überrascht) und 10 (der Oberst beleidigt Säugling vor dem Fräulein von Ehrenkolb). 12 Vgl. Witte, Nachwort, in: Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker, S. 477.

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will die Müßiggänger vom Spazierengehen im Park abbringen und sie zu einem Besuch des Gottesdienstes anregen – natürlich vergeblich. Dabei ist es aber bezeichnenderweise nicht er, der mit ausladenden Gesten seine Argumente stützt, sondern der angesprochene Passant, ein grober Kerl, der den Pietisten hart desillusioniert, indem er das erwähnte süße Lamm Gottes mit dem Wirtshaus zum Lamm verwechselt, in dem er saures Bier getrunken habe. Chodowiecki verdichtet die Nicolaische Erzählung vor allem in den Gesichtern der Protagonisten. Im Wechselspiel der drei Physiognomien werden die Argumente,

Abb. 3: Daniel Chodowiecki, Bild 2, Die Vertreibung der Familie Nothankers aus dem Pfarrhaus, in: Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker.

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vor allem aber auch die Missverständnisse zwischen dem überzeugten Pietisten, dem zweifelnden Nothanker im Hintergrund und dem ignoranten Berliner Parkbesucher am deutlichsten. Am bewegtesten ist noch die Hirschskulptur im oberen Kommentarfeld geraten, denn nur das Tier, das sich der Szene erstaunt zuwendet, scheint dem Pietisten wirklich zuzuhören. Richard Schwinger wie Willi Geismeier sehen wohl zu Recht einen aufklärerischen Zug der Kupferstiche

Abb. 4: Daniel Chodowiecki, Bild 15, Nothanker muss der Tochter die Heirat verbieten, in: Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker.

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in der bewussten Einfachheit13 der Bildanlage. Sie verleiht der thematischen Ausrichtung etwas Fibelhaftes, Pädagogisches, vor dem sich kleinste Details abheben und dadurch erst interpretieren lassen. In der Ausstattung mit lediglich sechzehn Tafeln konnte die Zielsetzung der

Abb. 5: Daniel Chodowiecki, Bild 7, Theologendisput im Tiergarten, in: Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. 13 Vgl. Schwinger, Friedrich Nicolais Roman ›Sebaldus Nothanker‹, S. 156 – 157, der sogar von »phantasieloser Nüchternheit« spricht, was man – weniger perjorativ gewendet – als absichtsvolle Strategie verstehen mag; sowie Geismeier, Daniel Chodowiecki, S. 9 u. S. 103.

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Bebilderung nicht überblickshaft oder kapitelanzeigend ausfallen. Umso mehr konzentrierte sich Chodowiecki auf die Setzung von Schwerpunkten – die nicht unbedingt mit den Akzenten Nicolais übereinstimmen müssen. So stellen etwa die Hälfte der Stiche Vorfälle aus persönlichen und Familienangelegenheiten Nothankers dar, während die Tendenz des Romans bei aller personalisierten und ironisierten Einkleidung dahin geht, die protestantische Orthodoxie zu attackieren. Nur einmal beugt sich Chodowiecki dieser Tendenz der Nicolaischen Vorlage, wenn auch auf eine für den Stecher charakteristische Art und Weise, und das Resultat bildet die bereits angesprochene bezeichnende Ausnahme in der Stichserie:

Abb. 6: Daniel Chodowiecki, Bild 8, Habit Berliner Prediger, in: Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker.

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In der minuziösen Darstellung von acht Berliner Predigern in ihrer von Nicolai genial interpretierten Tracht durchbricht Chodowiecki zum einzigen Mal die sonst konsequent durchgehaltene Darstellungskonvention seiner sechzehn Bilder. Zwar bleibt er hier sehr nahe an der Textvorlage, die er mittels Ziffern fast wie in einer wissenschaftlichen Abhandlung mit dem Text verzahnt, und er hebt in der bildreichen Insistenz diese zentrale Stelle besonders heraus. Dennoch ist das Blatt das Ausnahme-Bild schlechthin der Serie: Auf zwei Etagen, ganz ohne Hintergrund und räumliche Einbettung, dazu ohne Rahmen, lässt Chodowiecki ein Doppelquartett standesstolzer Berliner Prediger in der Kleidermode des späten 17. bis mittleren 18. Jahrhunderts auftreten. An einem der Höhepunkte des Romans führt Nicolai die Frage der Orthodoxie mit der Kleidertracht der Prediger eng und beweist damit, dass auch die Theologie der Mode folge, also nicht einmal die protestantische Orthodoxie unveränderlich sei. Von Chodowiecki wird dieser Gedankengang, der im Roman etwa neun Seiten umfasst, genüsslich ausgebreitet, kommt sie doch seiner im Œuvre auch sonst gepflegten Konzentration auf die menschliche Figur, insbesondere ihrer Haltung und Mimik, besonders entgegen. Wohl nicht umsonst ist dieses Blatt, so wenig es sich zu den anderen Illustrationen fügen will, das meistreproduzierte der ganzen Serie geworden, und es findet sich auch in heutigen Anthologien zur Epoche der Aufklärung.14 Das Verhältnis des Romans zu seiner Bebilderung ist allerdings damit nicht hinreichend beschrieben; vor allem ist es nicht so statisch wie bisher geschildert zu begreifen. Aus der Publikationsgeschichte geht hervor, dass Chodowiecki parallel zur Entstehung des Romans, also ohne Kenntnis des Gesamtwerks, die ersten Stiche entwerfen musste. Die Entstehungsgeschichte überliefert auch eine Unterbrechung der Arbeit, als der Stecher nach der Kritik an den beiden ersten Bänden seine Mitarbeit zunächst einstellen wollte und erst nach der Zusage Nicolais, seine antikirchliche Polemik etwas zu mäßigen, wieder an die Arbeit ging.15 Für die vierte Auflage 1799 musste Nicolai dann ganz auf Chodowieckis Mitarbeit verzichten und behalf sich mit sechs Blättern Johann Wilhelm Meils. Aber auch die älteren Auflagen der 1770er Jahre waren unterschiedlich ausgestattet; der Katalog der Berliner Staatsbibliothek verzeichnet selbst nach den Kriegsverlusten noch verschiedene Ausgaben, was Zahl und Platzierung der Stiche anlangt.16 Die bibliographischen Differenzen sind großenteils technisch zu erklären, da die Auflage bei Kupferstichen begrenzt ist und Chodowiecki bei 14 Vgl. Zadow, Karl Friedrich Schinkel, S. 22, Abb. 15. 15 Vgl. Schwinger, Friedrich Nicolais Roman ›Sebaldus Nothanker‹, S. 156 – 159. 16 Eine der in der Berliner Staatsbibliothek nachgewiesenen Ausgaben des dritten Bandes enthält die Anmerkung: »Ill. zu S. 136 verbunden zu S. 156«. Das Bild wurde also an der falschen Stelle eingeklebt. Das passierte öfter, ebenso wie die Einklebungen ganz unterschiedlich durchgeführt wurden: Links wie rechts, als recto wie verso.

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höherer Auflage als vorhergesehen zu ständiger Nacharbeit zwang. Sie haben aber vor allem ökonomische Ursachen: Man konnte den Roman auf diese Weise leicht bei unverändertem Textkorpus an ein unterschiedlich zahlungskräftiges oder bildaffines Publikum anpassen. Mit anderen Worten: Die Ausstattung des Nothanker blieb einigermaßen variabel, und dies wohl weniger aus bildstrategischen denn aus wirtschaftlichen Gründen. Dies scheint mir eine bezeichnende Qualität der Zusammenarbeit zwischen Chodowiecki und Nicolai zu sein, und ich möchte dies abschließend mit einer älteren Denkfigur Robert Darntons verknüpfen. Dieser hat am Beispiel der Editionsgeschichte der Encyclop¦die auf die konstitutive Rolle »glänzender Geschäfte« für die Durchsetzung aufklärerischen Gedankenguts hingewiesen.17 Ohne das unternehmerische Denken Nicolais, aber auch Chodowieckis18 wäre das erste gemeinsame Unternehmen der beiden nicht ein so großer kommerzieller Erfolg geworden. Die Text-Bild-Relation ist auch als Ausdruck eines Autor-Illustrator-Verhältnisses zu verstehen, das ständige Abwägungsprozesse, wer auf welche Weise mit den Schriften erreicht werden sollte, mit einschloss. Von daher lassen sich die Teilauflagen ohne Illustrationen verstehen, die heute den Herstellungsprozess verteuern würden, damals aber an ein unterschiedlich zahlungskräftiges Publikum adressiert waren. Aufklärung musste sich auch auszahlen, und den schönsten Ausdruck für dieses Verhältnis hat wohl Johann Wilhelm Ludwig Gleim gefunden, dessen Nachruf auf Chodowiecki die Kooperation von Autoren und Stechern auf den Punkt brachte: »Chodowiecki war! War! Wär’ er nicht gewesen, So blieb wohl einen Schar von unsern Büchern ungelesen!«19 Vielleicht nicht von ungefähr endet Nicolais Roman wie Chodowieckis Bildstrecke mit einer symptomatischen Szene, die alle Kontingenzen der Romanhandlung wie einen gordischen Knoten löst. Ein Lotteriegewinn beseitigt am Ende alle Sorgen, lässt die Heirat von Nothankers Tochter zu und führt das Ganze zu einem erlösenden Ende. Der Ofen im Hintergrund, völlig überflüssig angesichts des Kamins rechts, hält gekrönte Lorbeerkränze im Dutzend bereit, und augenzwinkernd mündet diese Aufklärungsgeschichte am Ende in eine wirtschaftliche Sanierung seines Helden: Hinter Nothanker schwenkt Merkur samt Flügelhelm seinen Caduceus aus dem Rokokorahmen. In diesem symptomatischen Bild kommen alle aufklärerischen Momente noch einmal zu ihrem 17 »Glänzende Geschäfte« lautet die deutsche Übersetzung von Robert Darntons The Business of Enlightenment. A Publishing History of the Encyclop¦die. 18 Keine Monographie Chodowieckis kommt ohne die Selbstaussage, das Publikum habe gewollt, dass er Kupferstecher sei, aus. – Zu Chodowieckis ökonomischem Sachverstand, aber auch zu seinen Preisen und zur Preisentwicklungen im Angebot des Künstlers vgl. Selwyn, Daniel Chodowiecki, S. 14 – 21. 19 Nachruf Gleims 1801, zit. nach Geismeier, Daniel Chodowiecki, S. 9.

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Abb. 7: Daniel Chodowiecki, Bild 16, Das Lottoglück erlöst Sebaldus Nothanker, in: Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker.

Recht: Die Lakonie der Gestaltung, die karikaturhafte Zuspitzung des Geschehens in der Mimik, die Ironie und Doppeldeutigkeit der merkwürdigen Bildanlage, aber auch die Korrektur, die Chodowiecki dem Nicolaischen Konzept angedeihen lässt, indem er das philosophisch-religionskritische Argument des Romans zugunsten einer menschenfreundlicheren Charakterzeichnung seiner Protagonisten verschiebt. Wenn Chodowiecki damit ein humaneres Ziel verfolgte als Nicolai, so ist ebenso bemerkenswert, dass Nicolai dies zugelassen hat: Die Berliner Aufklärung erscheint in beider Zusammenarbeit multiperspekti-

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visch, nicht engstirnig. Und sie weiß um die Verkäuflichkeit ihrer Ideen, wohl auch um die bessere Verkäuflichkeit abwechslungsreicherer Ideen. In der Zusammenarbeit von Friedrich Nicolai und Daniel Chodowiecki wird ein Zusammenspiel von durchaus unterschiedlich ausgerichteten Argumenten der Bilder und des Textes sichtbar, die sich aber durchaus ergänzen. Bestimmend bleibt das aufklärerische Moment, der Impetus, den Nicolai wie Chodowiecki gleichermaßen verfolgten; es sorgte für den Einklang von literarischem Räsonnement und aufklärerischer Bildsprache. Die merkwürdige Bilderfreundlichkeit der Aufklärung ist also nur die Kehrseite ihrer Kritikfreudigkeit, und sie verträgt sich gut mit ihrer Geschäftstüchtigkeit.

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Bibliographie 1.

Quellen

Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Kritische Ausgabe. Hg. v. Bernd Witte. Stuttgart 1991 [EA 1773 – 76]. Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Berlin u. Stettin. 3 Bde. 1773 – 1776. Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 1. 2., verb. Aufl., Berlin u. Stettin 1774. Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 1. 3., verb. Aufl., Berlin u. Stettin 1776. Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. 3 Bde. 2., verb. Aufl., Berlin u. Stettin 1776. Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. 3 Bde. 3., verb. Aufl., Berlin u. Stettin 1799. Sterne, Laurence: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman or, more briefly, Tristram Shandy. 9 Bde. London 1759 – 1767.

2.

Bildnachweis

Alle Abbildungen in diesem Beitrag nach dem Exemplar der Staatsbibliothek zu Berlin: Friedrich Nicolai: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Mit Kupferstichen von Dan. Chodowiedcki gezeichnet und geätzt. 3., verb. Aufl., Berlin u. Stettin 1776. Signatur : Yv 7509-B.1 – 3. Ó Staatsbibliothek zu Berlin. Preußischer Kulturbesitz.

3.

Sekundärliteratur

Busch, Werner : Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne. München 1993. Busch, Werner : Daniel Chodowieckis »Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens«. In: Ernst Hinrichs u. Klaus Zernack (Hg.): Daniel Chodowiecki (1726 – 1801), Kupferstecher, Illustrator, Kaufmann. Tübingen 1997, S. 77 – 99. Darnton, Robert: The Business of Enlightenment. A Publishing History of the ›Encyclop¦die‹, 1775 – 1800. Cambridge 1979. Geismeier, Willi: Daniel Chodowiecki. Leipzig 1993. Schwinger, Richard: Friedrich Nicolais Roman ›Sebaldus Nothanker‹. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung. Weimar 1897. Selwyn, Pamela: Daniel Chodowiecki. Der Künstler als Kaufmann. In: Ernst Hinrichs u. Klaus Zernack (Hg.): Daniel Chodowiecki (1726 – 1801), Kupferstecher, Illustrator, Kaufmann. Tübingen 1997, S. 14 – 21.

Wie man aus Kupfer(n) Geld macht, oder: Aufklärung als Geschäft

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Violet, Robert: Daniel Chodowiecki (1726 – 1801). Eine verschollen geglaubte Autobiographie. Bad Karlshafen 2010 (Geschichtsblätter der Deutschen Hugenotten-Gesellschaft e.V. Bd. 46). Zadow, Mario: Karl Friedrich Schinkel. Ein Sohn der Spätaufklärung. Die Grundlagen seiner Erziehung und Bildung. Stuttgart [u. a.] 2001.

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»Wahrheitsliebe und Anstand« – Zur Entlarvung Cagliostros durch Elisa von der Recke und Friedrich Nicolai

1787 erschien bei Nicolai ein Band mit dem neugierig machenden Titel Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau, im Jahre 1779, und von dessen dortigen magischen Operationen. Verfasserin ist Charlotta Elisabeth Konstantia von der Recke, geb. Gräfin von Medem (1754 – 1833).1 Die Publikation in Nicolais Verlag sicherte der Nachricht über das Wirken des Wunderheilers und Logengründers im kurländischen Mitau besondere Aufmerksamkeit. Darüber hinaus positionierte der Herausgeber und Verleger Nicolai den Text gezielt im breit angelegten Kampf der Berliner Aufklärer gegen Aberglauben und Schwärmerei.2 Dies macht bereits Nicolais Widmung an die Herzogin von Kurland deutlich.3 Wilhelm Kühlmann hat die Veröffentlichung der Nachricht daher zu Recht als »publizistisches Großereignis«4 charakterisiert, das von Nicolai geplant und durch ein Netz weiterer Publikationen unterstützt wurde.5 1 Recke: Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau, im Jahre 1779, und von dessen dortigen magischen Operationen. Berlin u. Stettin, bey Friedrich Nicolai. 1787; wieder abgedruckt in Kiefer, Dokumente, S. 20 – 143. – Der Druck von 1787 lag mir vor; im Folgenden zitiere ich nach der Ausgabe von Kiefer. 2 Nicolai hatte sich durch die Publikation seines satirischen Romans Sebaldus Nothanker und durch die Publikation theologischer Beiträge in der Allgemeinen deutschen Bibliothek schon früh einen Namen als Aufklärer in Fragen der Religion und kirchlichen Orthodoxie gemacht. Dazu trug die unter Friedrich II. gewährte Pressefreiheit in religiösen Fragen bei, um die Nicolai von seinen Korrespondenten durchaus beneidet wurde. Vgl. Habersaat, Verteidigung der Aufklärung, Bd. 1, S. 15. – Zu Aberglauben und Schwärmerei als »Kampfideen« der Aufklärung vgl. Hinske, Die Aufklärung und die Schwärmer, S. 3 – 6. 3 Vgl. Nicolai, Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau [Widmung], S. 20. 4 Kühlmann, Cagliostro in Mitau, S. 115. 5 Hier ist an erster Stelle die Berlinische Monatsschrift zu nennen, die sich seit 1783 Aufklärung und Wahrheit widmete und in der von der Recke 1786 erste Hinweise auf den Betrüger gegeben hatte. Dazu gehören aber auch weitere Publikationen in Nicolais Verlag, wie die deutsche Übersetzung einiger Lustspiele von Katharina II., die 1788 in einem Band mit dem Titel Drey Lustspiele wider Schwärmerey und Aberglauben erschienen. In seiner Vorrede nimmt Nicolai deutlich auf von der Reckes Nachricht Bezug. Von der Reckes Titel wiederum zitiert einen Bericht über Cagliostros Aufenthalt in Warschau, der 1786 in Königsberg als

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Tatsächlich trug diese Veröffentlichung maßgeblich zur Entlarvung und zur kritischen Diskussion über den Hochstapler Alessandro Cagliostro (1743 – 1795) bei. Sie kann damit nicht nur als ein Musterbeispiel für den Nutzen verlegerischen Engagements im Dienst der Aufklärung gelten, sondern macht darüber hinaus Aufklärung als kritische Praxis im Sinne Nicolais kenntlich: Eigenes Nachdenken, Diskussion und Meinungsaustausch gehen dabei mit praktischer Tätigkeit buchstäblich Hand in Hand.6 Als Dokument der Selbstaufklärung und der Veröffentlichung dieses Prozesses durch eine Frau wirkt die Publikation über Cagliostro sogar in mehrfacher Weise aufklärerisch: Die Nachricht von Cagliostro führt zunächst Aufklärung am eigenen Leibe vor, da die Entlarvung des Hochstaplers mit der Selbstentlarvung einer Betrogenen einhergeht. Dabei handelt es sich um die Verfasserin des Textes, die ihre Schwärmerei als Mahnung für andere gewissenhaft aufarbeitet. Mit dieser Aufarbeitung setzen von der Recke und Nicolai die eigene Aufklärung als kritische Praxis effektvoll in Szene. Doch von der Recke liefert nicht nur einen Beitrag zum öffentlich ausgetragenen Religionsdiskurs, sie erscheint auch selbst als Gegenstand der Debatte. Und dies im doppelten Sinn, denn sie ist sowohl betrogene Schwärmerin als auch engagierte Streiterin, die als Frau von Stand unter ihrem Namen publiziert. Sie stilisiert sich als Opfer und handelt doch zugleich. Das für Frauen bestehende Problem schriftstellerischer Veröffentlichungen ist dadurch besonders virulent. Dies bezeugen auch die verschiedenen Paratexte, die den Bericht über Cagliostros Aktivitäten von 1779 einleiten und legitimieren, das Für und Wider der Publikation erörtern und der Autorin gleichzeitig eine Bühne aufklärerischer Selbstinszenierung bieten. Elisa von der Recke kann bis heute als eine der prominentesten Schriftstellerinnen des ausgehenden 18. Jahrhunderts gelten. Bereits durch ihre erste Publikation – die Nachricht über den berüchtigten Grafen Cagliostro – wurde sie weithin bekannt. Diese vieldiskutierte Veröffentlichung brachte ihr Respekt und Anerkennung ein und erwies sich zugleich als Eintrittskarte in die literarische Öffentlichkeit der deutschsprachigen Aufklärung. Von der Recke entstammte der Familie von Medem, einem der ältesten Adelsgeschlechter Kurlands. Sie lebte in der Residenzstadt Mitau des Herzogtums Kurland, dem heutigen Jelgava in Lettland, das unter polnischer Ober-

Übersetzung aus dem Französischen unter dem folgenden Titel erschien: Cagliostro in Warschau, oder Nachricht und Tagebuch über dessen magische und alchymische Operationen in Warschau im Jahre 1780. Die Autorin verweist selbst auf diesen Titel, der aber nicht so bekannt wurde wie ihre Publikation (vgl. Recke, Einleitung, S. 41). 6 Vgl. Palm, Friedrich Nicolai – ein Leben für die Aufklärung, S. 12 f. – Vgl. zu Leben und Werk Nicolais immer noch grundlegend Möller, Aufklärung in Preußen.

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herrschaft stand.7 Mitau spielt im Kontext der Aufklärung nicht nur durch Cagliostros Auftreten eine Rolle. Im Zuge der Anstrengungen des Herzogtums Kurland auf dem Gebiet der Bildung und der Gelehrsamkeit hatten sich schon in den siebziger Jahren Beziehungen zwischen Mitau und den Berliner Aufklärern entwickelt.8 So hatte sich Nicolai auf der Suche nach Rezensenten für die Allgemeine deutsche Bibliothek 1776 an den Mitauer Professor für Physik und Naturgeschichte Johann Jakob Ferber (1743 – 90) gewandt, mit dem ihn in der Folge eine intensive Freundschaft verband. Andere Professoren der Mitauer Akademie folgten diesem Beispiel.9 Von der Recke hatte durch die standes- und geschlechterübergreifende aufklärerische Geselligkeit am Meinungsaustausch teil, selbst aber zu ihrem Leidwesen keine systematische Bildung genossen.10 Nach einer früh geschlossenen, unglücklichen Konvenienzehe, der Trennung von ihrem Mann und dem frühen Tod ihres ersten Kindes reichte von der Recke 1781 die Scheidung ein.11 Verschiedene Reisen führten sie anschließend nach Deutschland, wo sie wichtige Vertreter der Aufklärung kennenlernte, darunter auch Friedrich Nicolai, in dessen Haus sie später zeitweise lebte und mit dem sie eng befreundet war.12 Sie stand nicht zuletzt durch ihre Abhandlung über Cagliostro mit zahlreichen Aufklärern und Gelehrten der Zeit in Kontakt. Ein zentrales Thema dieser Begegnungen bildete die Religion sowie die Auseinandersetzung um die Defizite einer vernünftigen Theologie.13 Weitere Reisen führten von der Recke – aufgrund einer Einladung durch Katharina II., die ihre Entlarvungsschrift ins Russische hatte übersetzen lassen – an den Hof nach St. Petersburg sowie nach Italien. Der Nachricht folgten zahlreiche weitere Veröffentlichungen, wobei Selbstzeugnisse – Aufklärungsschriften, Beschreibungen ihrer Reisen, Briefe, Tagebücher sowie zwei Autobiographien – überwiegen.14 7 Zur Biographie von der Reckes sowie ihrem geistesgeschichtlichen und historischen Hintergrund vgl. Donnert, Schwärmerei und Aufklärung, S. 6 – 68; sowie grundlegend zu Leben und Werk Rachel, Elisa von der Recke, Bd. 1 u. 2. 8 Vgl. Donnert, Schwärmerei und Aufklärung, S. 7. 9 Vgl. ebd. 10 Diesen Umstand hat sie wiederholt beklagt. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter erhielt sie eine äußerst beschränkte Ausbildung im Hause ihrer Großmutter, die ihr immer wieder das Lesen verbot. An ihre Freundin Mademoiselle Stoltz schrieb die bereits verheiratete Siebzehnjährige: »Großmama sagt: ›Weiber werden durch lesen zum Narren, die Bücher sind nur für Männer gemacht!‹ recht als hätten wir keine Seele, als wären die Weiber nur ein Stück Fleisch! Um nicht Lärm zu haben, so lese ich hier nur so lange, als ich mich frisieren lasse« (zit. nach Rachel, Elisa von der Recke, Bd. 1, S. 213). 11 Vgl. Donnert, Schwärmerei und Aufklärung, S. 12. 12 Vgl. Schulz, Elisa von der Recke, S.166 ff. 13 Vgl. Conrad, Religion als Thema aufklärerischer Geselligkeit, S. 203 – 226. 14 Vgl. Rachel, Elisa von der Recke; Träger, Elisa von der Recke: Tagebücher und Selbstzeugnisse; Wurst, ›Begreifst du aber / wie viel andächtig schwärmen leichter, als / Gut handeln ist?‹, S. 97 – 116; Niethammer, Autobiographien von Frauen, S. 175 – 221; sowie Epple, Empfindsame Geschichtsschreibung, S. 256 – 305.

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Die Publikation von 1787 setzt sich aus mehreren Texten zusammen: ihr Zentrum bildet von der Reckes Aufsatz vom Jahre 1779, über Cagliostros magische Experimente in Mitau, den die Verfasserin für die Publikation mit zahlreichen Anmerkungen versehen und sicherlich auch überarbeitet hat, um den Prozess ihrer Aufklärung darzustellen. Dieser Prozess schlägt sich schriftbildlich dahingehend nieder, dass der Bericht jeweils links, die Kommentare rechts gesetzt sind. Gerahmt werden Bericht und Anmerkungen von weiteren Texten der Autorin, zum einen von einer Vorrede An meine Freunde und Freundinnen in Kurland und Deutschland und einer Einleitung, die zu erklären versucht, wie es überhaupt zum Betrug durch Cagliostro kommen konnte, zum anderen durch einen Schluss sowie einen Anhang (Gedicht und Nachschrift), der den Beginn der öffentlichen Entlarvung in der Berlinischen Monatsschrift von Mai 1786 dokumentiert. Diese verschiedenen Texte von der Reckes wiederum werden von Nicolai herausgegeben, der dafür ein Vorwort verfasst, welches das Für und Wider dieser Publikation erörtert.15 Ihm geht eine Widmung an die Herzogin von Kurland, die Schwester der Verfasserin, voran. Der Bericht von 1779 wird also durch eine Reihe unterschiedlicher Paratexte gerahmt. Erst das Zusammenspiel von Bericht und Paratexten verleiht der Publikation von 1787 ihren besonderen Charakter und verknüpft sie gleichzeitig mit dem weit gespannten Netz des Berliner Aufklärungsdiskurses. Vor diesem Hintergrund wird mein Beitrag die wichtigsten Aspekte der Argumentation in den begleitenden Texten von Nicolai und von der Recke untersuchen.16 Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, sind diese Paratexte durch die Spannung von Selbstaufklärung und Veröffentlichung, von Denken und Handeln bestimmt. Sie setzen damit auch zentrale Diskurse der Berliner Aufklärung fort, nämlich Kants programmatische Bestimmung der Aufklärung als Selbstaufklärung, die 1784 in der Berlinischen Monatsschrift erschien,17 sowie die Kritik an der literarischen Empfindsamkeit und der weiblichen Verführung durch Lektüre. Beide sind gleichzeitig mit dem Kampf gegen Aberglauben und Schwärmerei verbunden. Zum entscheidenden Antrieb der Publikation erklärt Nicolai die »Wahr15 Niethammer zufolge lehnte Nicolai mehrfach biographische Publikationen von Frauen ab, da der von ihm proklamierte Zusammenhang von Denken und Handeln nicht immer gegeben gewesen sei. Vgl. Niethammer, Autobiographien von Frauen, S. 89 – 91. 16 Die Analyse des Berichts und der umfangreichen, rückblickenden Kommentare, die den Bericht verdoppeln, muss ebenso wie ihre schriftbildlich interessante Anordnung einer eigenen Untersuchung vorbehalten bleiben. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass auch die Autobiographie von der Reckes in zwei Fassungen vorliegt. Dadurch wird jeweils der Prozess der Wahrheitsfindung, aber auch die eigene Stilisierung im Rahmen dieser Prozesse betont. – Zu von der Reckes Selbststilisierung vgl. Hilmes, »Jetzt bin ich negativ glücklich«, S. 37 – 59. 17 Vgl. Kant, Was ist Aufklärung?, in: ders., Werke, Bd. VI, S. 53 – 61.

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heitsliebe« der Autorin. Diese Formulierung ist auch deshalb aufschlussreich, weil der Herausgeber und Verleger durchaus Bedenken gegen den Schritt der Verfasserin äußert. Meine These lautet, dass in der Figur der »Wahrheitsliebe« Selbstaufklärung und Veröffentlichung zusammentreffen, da sie die Aufrichtigkeit des Denkens ebenso verbürgt wie die Glaubwürdigkeit des eigenen Handelns. Diesem Zusammenhang werde ich in drei Schritten nachgehen: Zuerst werde ich kurz Cagliostros Aufenthalt in Mitau skizzieren, dann werde ich auf Nicolais Widmung und Vorrede sowie schließlich auf Vorrede, Einleitung und Schluss von der Reckes eingehen.

1.

Die »magischen Operationen« von Alessandro Graf von Cagliostro in Mitau

Cagliostro kann als einer der berühmtesten Hochstapler im Europa des 18. Jahrhunderts gelten. Er wurde unter dem Namen Guiseppe Balsamo in Palermo geboren und nannte sich Allessandro Graf von Cagliostro.18 Als Wunderheiler, Logengründer und Magier nutzte er die alchimistischen und magischen Neigungen seiner Zeitgenossen aus, wobei er sich auch Elemente der Freimaurerei dienstbar machte.19 Durch die Verbindungen der Logen untereinander hoffte er, irgendwann an einem großen Hof zu reüssieren. Auf seiner Reise nach St. Petersburg und Warschau machte er in Mitau Station, wo er unter anderem auf von der Recke traf. Die Mitauer Loge unterhielt Beziehungen zu polnischen und russischen Freimaurerkreisen und wartete mit Spannung auf das Erscheinen des Grafen, von dem bereits die merkwürdigsten Geschichten im Umlauf waren.20 Nur drei Tage nach seiner Ankunft gründete er in Mitau eine sogenannte Adoptionsloge, zu der auch Frauen zugelassen waren. Insgesamt zählte die neue Loge aber nur etwa 20 Mitglieder, war also durchaus ein exklusiver Zirkel: Zu ihm gehörten Angehörige der Familie Medem, weitere Adlige ebenso wie bürgerliche Gelehrte und Wissenschaftler, beispielsweise der schon erwähnte Na18 Vgl. grundlegend Kiefer, Dokumente; zum weiteren Umfeld vgl. ders., Hexen-Epoche. 19 Dazu gehörte auch die ägyptische Freimaurerei, die Cagliostro angeblich um orientalische Mysterienkulte bereicherte. Vgl. Donnert, Schwärmerei und Aufklärung, S. 13. – Insgesamt fällt auf, dass Cagliostros Betrug nicht zuletzt auf der Faszination durch exotisch-orientalische Aspekte basiert. So gab er beispielsweise vor, arabisch zu sprechen; erst später fiel jemanden auf, dass die fremde Sprache nicht Arabisch war. Er machte sich den Wunsch nach dem Fremden ebenso zu eigen wie die mangelnde Weltläufigkeit der meisten Menschen, auf die er traf. – Vgl. zur ägyptischen Freimaurerei auch Kiefer, Dokumente, S. 653. 20 Vgl. Donnert, Schwärmerei und Aufklärung, S. 14.

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turforscher Ferber.21 Aufklärerisches Interesse an der Natur und alchimistische Geisterbeschwörung trafen hier aufeinander. Von der Reckes Titel – magische Operationen – bringt diese beiden Aspekte treffend zum Ausdruck. Seine speziellen Fähigkeiten nutzte Cagliostro auch dazu, sich finanziell zu bereichern. Er soll von seinen adligen Gönnern Geldgeschenke, aber auch Schmuck erhalten haben.22 Beispielsweise behauptete Cagliostro, aus kleinen, schlechten Perlen große, wertvolle Perlen schmelzen zu können; auch von der Recke hatte ihm zu diesem Zweck Perlen angeboten.23 Ferner gab er an, ein rotes Pulver zu besitzen, das jedes Metall zu Gold reifen lasse.24 Kritischen Nachfragen begegnete er mit Ausflüchten, notfalls mit seiner Abreise. Der Naturforscher Ferber hielt dies in einem Brief fest und vermerkte zugleich, dass sich ein großer Teil der Mitauer Gesellschaft weigerte, genauer hinzuschauen.25 Auch bei von der Recke erweckte Cagliostro offenbar weniger durch seine obskuren Versuche Misstrauen als vielmehr durch sein als vorlaut und ungebührlich wahrgenommenes Verhalten, das er sich gegen Mitglieder ihrer Familie und andere hochgestellte Personen in Kurland erlaubte.26 Auch dass er auf dem Rückweg der aus seiner Sicht gescheiterten Reise an den Hof von Katharina II. durch Kurland reiste, ohne noch einmal Station zu machen, trug zum Misstrauen gegenüber Cagliostro bei, wie von der Recke in ihrem Bericht festhält.27 So wurde er Teil und Gegenstand der im Entstehen begriffenen, aufklärerischen Geselligkeit, deren Spielregeln er offenbar nicht immer perfekt beherrschte, der es aber vor allem selbst an Aufklärung mangelte. Am Beispiel Mitau zeigt sich insofern auch der gesellschaftliche Umbruch an der Schnittstelle von adliger Kultur und neuen Formen bürgerlich-gelehrter Kommunikation. Insgesamt mehrten sich seit den frühen achtziger Jahren die kritischen Stimmen gegen Cagliostro.28 1786 hatte er sich in Paris durch die sogenannte Halsband-Affäre29 erneut verdächtig gemacht, die schließlich den Anstoß zu 21 22 23 24 25

26 27 28 29

Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 15. Vgl. Recke, Einleitung, S. 42 f. Vgl. Recke, Aufsatz, S. 113 ff. Vgl. Donnert, Schwärmerei und Aufklärung, S. 15. – Ferber hat übrigens nach der Entlarvung Cagliostros durch von der Recke – vermutlich auf Wunsch Nicolais – selbst einen Bericht über Cagliostros Aufenthalt in Mitau verfasst, der 1790 in der Berlinischen Monatsschrift erschien. – Zu Ferbers äußerst kritischer Einschätzung des Mitauer Kreises vgl. Rachel, Elisa von der Recke, Bd. 2, S. 247 – 250; dort auch ein Brief Ferbers an Nicolai von 1787. Vgl. Donnert, Schwärmerei und Aufklärung, S. 15. Vgl. Recke, Schluß der Geschichte, S. 128. Dies dokumentiert auch von der Recke, die einen ausführlichen brieflichen Bericht über Cagliostro aus Straßburg von 1781 in ihre Einleitung einrückt. – Vgl. Recke, Einleitung, S. 44 – 50. Er hielt sich zur Zeit der Entdeckung der zuerst durch Johann Wolfgang Goethe in seinem

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seiner vollständigen Entlarvung durch von der Recke gab. In seiner Verteidigungsschrift hatte sich Cagliostro auf sie berufen, und diesem Zeugnis begegnete die Autorin im Mai 1786 mit einem ersten Aufsatz in der Berlinischen Monatsschrift.30 Im Jahr darauf erschien dann ihre Abhandlung über Cagliostros Aufenthalt in Mitau, die maßgeblich dazu beitrug, dem Betrüger das Handwerk zu legen.

2.

Die Vorrede von Friedrich Nicolai

Nicolai stellt seiner Vorrede, die der Erklärung und Rechtfertigung der Publikation dient, eine Widmung an die regierende Herzogin von Kurland, der Schwester von der Reckes, voran. Diese Widmung enthält bereits den Kern der Argumentation, die Nicolai auf die Formel der »Wahrheitsliebe« bringt. Nachdem er den Text in die »Bemühungen« eingeordnet hat, »Aberglauben und Schwärmerei« zu entlarven und zu vernichten, schreibt er : »Sie billigten daher vorzüglich die unbefangene Wahrheitsliebe, mit welcher Ihre erhabene Schwester Vorfälle, die durch ein angemaßtes Geheimnis verstellt wurden, öffentlich ganz auseinandersetzte, um wohlgesinnte Seelen aufs künftige vor dem Betruge zu warnen, welcher dunkeln und schwärmerischen Erwartungen gar leicht zu folgen pflegt.«31

»Wahrheitsliebe« bildet denn auch die zentrale und mehrfach wiederholte Formel in seiner Vorrede. Generell verfasste Nicolai Vorreden zu verschiedenen Veröffentlichungen seines Verlages.32 Diese Vorreden dienten keineswegs nur dem Lob oder der Präsentation seiner Autorinnen und Autoren, sondern hatten auch die Aufgabe, die Publikation im jeweiligen Diskurs zu platzieren. Als Beweggründe der Verfasserin nennt er schon im ersten Satz ihre »Liebe zur Lustspiel Der Groß-Cophta, später durch Alexandre Dumas literarisch verarbeiteten ›Halsband-Affäre‹ am Pariser Hof auf und wurde des Betrugs verdächtigt, war aber in diesem Fall wohl unschuldig. Im Zentrum dieser Affäre, in die neben Kardinal Rohan und der Comtesse de la Motte auch Marie Antoinette verwickelt war, stand der betrügerische Verkauf eines millionenschweren Diamant-Kolliers (1785/86). – Vgl. Rachel, Elisa von der Recke, Bd. 2, S. 242; zu Cagliostro und Goethe vgl. Müller-Seidel, Cagliostro und die Vorgeschichte der deutschen Klassik, S. 136 – 163. 30 Es handelt sich um einen Text über »Preißler und Darbes«, der neben einem Gedicht auf den dänischen Maler und Professor Preißler eine Bemerkung zu ihren Irrtümern enthält und Cagliostro einen schlauen Betrüger nennt. Vgl. Rachel, Elisa von der Recke, Bd. 2, S. 243 f.; vgl. dazu auch Niethammer, Autobiographien von Frauen, S. 177. – Einen Auszug aus dem Text fügte Nicolai als Nachschrift der Publikation von 1787 bei (vgl. Kiefer, Dokumente, S. 141 ff.). 31 Nicolai, Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau [Widmung], S. 20. 32 Vgl. Antoine, Literarische Unternehmungen der Spätaufklärung, S. 46.

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Wahrheit« und den Wunsch, »der einreißenden Schwärmerei, und der unordentlichen Begierde nach Wundern oder nach sogenannten geheimen Wissenschaften, die so viel versprechen und nichts leisten, Einhalt zu tun.«33 Trotz dieser unbestreitbar edlen Absicht ist die öffentliche Entlarvung Cagliostros durch von der Recke umstritten, worauf Nicolai ausführlich eingeht. Die Vorrede spiegelt damit die Kontroversen und die Meinungsbildung der aufklärerischen Öffentlichkeit wider, an der auch der Verleger selbst beteiligt ist. Er schildert zunächst die verschiedenen Bedenken gegen die Veröffentlichung; so sei Cagliostro bereits bekannt, er sei auch viel zu verachtungswürdig, um sich mit ihm weiter zu befassen.34 Andere hätten hingegen die Sorge geäußert, dass die Anhänger Cagliostros und Anhänger »anderer magischer Künste« gemeinsame Sache machen könnten: »[…] es würde daher gefährlich sein, die Betrügereien Cagliostros aufzudecken.«35 Weitere Bedenken hätten dem Stand und dem Geschlecht der Verfasserin gegolten, die daraufhin einer Reihe von Freunden, »Männern von Einsicht und geprüfter Redlichkeit«36, ihr Manuskript vorgelegt habe, mit der Bitte, ihre Meinung zur Veröffentlichung darzulegen. Unter anderem habe sie auch ihn nach seinem Urteil gefragt. Während die Verfasserin also ausdrücklich als Frau von Stand ins Spiel kommt, erscheint der Herausgeber als Mann geprüfter Redlichkeit. Als solcher räumt Nicolai selbst Bedenken gegen die Publikation ein, denn die öffentliche Bekanntmachung der Vorfälle sei zwar sehr nützlich, doch könne sie auch unangenehme Folgen haben. Dies betrifft insbesondere die weibliche Schriftstellerei, denn: »Ich verhehlte Ihr nicht, daß es für eine Dame immer sehr bedenklich sein müsse, sich literarischen Streitigkeiten auszusetzen, welche jetzt so selten mit Wahrheitsliebe und Anstand geführt werden.«37 Während Nicolai also einerseits Bedenken wiederholt, die mit der Publikation in seinem eigenen Verlag als ausgeräumt gelten müssen, macht er andererseits deutlich, dass von der Recke sich auf das für Frauen umstrittene Gebiet der Literatur vorwagt. Die Vorrede dient auch dazu, diesen Schritt zu legitimieren. Gleichzeitig wird hier aber das bekannte Muster der Vorreden von Autoren zu Romanen von Frauen umgekehrt, wonach die Verfasserin angeblich niemals an eine Veröffentlichung gedacht habe.38 Vielmehr ist es, wie Nicolai deutlich macht, von der Recke selbst, die nach Prüfung aller Bedenken die Veröffentlichung betreibt. Er handelt gewissermaßen in ihrem »Auftrag«. Dieser schließt

33 34 35 36 37 38

Nicolai, Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau [Vorrede], S. 21. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 22. Ebd. Vgl. Fleig, Handlungs-Spiel-Räume, S. 65.

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die Aufforderung ein, ein Vorwort zu verfassen und sich namentlich zu nennen,39 was ihrem eigenen Vorgehen entspricht. Wenn Nicolai in der Folge Wahrheitsliebe, redliche Offenherzigkeit und deutliche Auseinandersetzung als wesentliche Merkmale ihres Berichts rühmt, dann gelten diese Kriterien gleichzeitig für seine Vorrede. Damit akzeptiert er von der Recke als gleichberechtigte Partnerin im aufklärerischen Diskurs – und verwirft offenbar seine eigenen Bedenken, Frauen literarischen Streitigkeiten auszusetzen. Seine Anerkennung gilt der »Stärke des Geistes«, die ernsthaftes Nachdenken und »unparteiische Untersuchung« ermöglicht habe.40 Dabei seien der Verfasserin ihre »unerschütterlichen moralischen Prinzipien, auf die sich Ihre vernünftige Religion gründet«,41 zur Hilfe gekommen. Als »Zeugnis für die Wahrheit«42 soll dieser Text gutmütige Personen vor falschen Erwartungen und schädlichen Wirkungen schützen. Möglicherweise werde ihr Beispiel sogar andere ermuntern, mit »eben so offenherziger Wahrheitsliebe« von ihren Erfahrungen zu berichten, um den »weitverbreiteten schädlichen Einfluß dieser Hirngespinste«43 zu bekämpfen. Und in einer offenkundig an Kants berühmte Definition der Aufklärung als Selbstaufklärung gemahnenden Wendung schreibt Nicolai, dass »selten jemand selbst nachdenken« oder »wenigstens selten offenbaren will, auf welche Art er ist betrogen worden […].«44 Stattdessen wiederhole sich allenthalben »eine in der Tat schon sehr abgenutzte Komödie […].«45 Wenn Nicolai im Folgenden eine ungeordnete oder angespannte Einbildungskraft für das Unheil betrügerischer Schwärmereien verantwortlich macht, zeigt sich die von ihm propagierte Vorstellung von Kritik, die seine eigene Vorrede vorführt: Sie besteht im kontroversen Meinungsaustausch vernünftiger Leute, die der Wahrheit und Unparteilichkeit verpflichtet sind. Darüber hinaus nimmt Nicolai in seiner Vorrede aber auch dezidiert Stellung, indem er den Bericht über Cagliostro in den Kampf gegen Schwärmerei und Aberglauben einordnet. Er stellt sich gegen magische Experimente, mit denen er auch den von Kant bekämpften Swedenborg assoziiert.46 Während Nicolai das vernünftige Christentum unausgesprochen mit dem Protestantismus identifiziert, streut er den Verdacht ein, Cagliostro sei ein katholischer Priester, da er immer wieder 39 40 41 42 43 44 45 46

Vgl. ebd., S. 23. Nicolai, Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau [Vorrede], S. 23. Ebd. Ebd., S. 22. Ebd., S. 25. Ebd. Ebd., S. 25 f. Vgl. ebd., S. 27.

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geschickt an die Bibel anknüpfe, die aber katholische Laien ja gar nicht lesen würden.47 Cagliostro erscheint dadurch als ein Vertreter des sogenannten Kryptokatholizismus, den die Berliner Aufklärer energisch bekämpften.48 Am Ende kommt Nicolai auf das Geschlecht der Verfasserin zurück, indem er es als Argument für die Wahrheit des Textes in die Waagschale wirft, das auch jene überzeugen soll, die den »wohlgemeinten Bemühungen ruhiger Vernunft«49 sonst ablehnend gegenüber stehen. Er identifiziert die Verfasserin mit ihrem Text und greift damit noch einmal auf die Vorreden-Tradition zurück, um ihr zugleich eine eigene Wendung zu geben: während das Geschlecht der Verfasserin zunächst Bedenken auslöste, die schnell beiseite geschafft wurden und eher der Konvention geschuldet erschienen, soll es nun ausgerechnet dem unaufgeklärten Publikum zu Interesse gegenüber dem berüchtigten Inhalt verhelfen, indem die Autorin zum Gegenstand ihrer Veröffentlichung wird. Damit kommt ein weiteres Argument für Nicolais Publikation ins Spiel, nämlich sein ökonomisches Interesse als Verleger. Denn in Kombination mit dem pikanten Inhalt wird das Geschlecht hier auch zu einem Verkaufsargument für jene Teile des Publikums, die er mit reiner Aufklärung noch nicht gewinnen konnte. Die Entlarvung Cagliostros war schließlich ein Thema, das der Aufmerksamkeit eines sensationsheischenden Publikums sicher war. Dafür war 1787 zudem genau der richtige Zeitpunkt. Im selben Jahr erschien auch der erste Teil von Schillers Geisterseher, der sich ebenfalls mit Cagliostro auseinandersetzt. Er wurde zwar nie vollendet, bescherte Schiller aber umgehend Erfolg beim Publikum und wurde zumindest unter ökonomischen Gesichtspunkten sein erfolgreichster Titel.50 Auch Nicolai bewies mit der Nachricht von Cagliostro unternehmerisches Geschick. 1788 – also ein Jahr später parallel zu Schillers Fortsetzung – veröffentlicht er drei Lustspiele von Katharina II. in deutscher Fassung, die die Monarchin nach dem Erscheinen Cagliostros in St. Petersburg verfasst hatte. Es handelt sich um die der frühaufklärerischen Tradition der Typenkomödie verpflichteten Lustspiele Der Betrüger, Der Verblendete und Der sibirische Schaman,51 die alle erfolgreich aufgeführt wurden und auch dem russischen Ver-

47 Vgl. ebd. 48 Vgl. Kühlmann, Cagliostro in Mitau, S. 121. – Diesem Kampf schloss sich von der Recke an, die sich nach ihrer Schrift über Cagliostro ein publizistisches Gefecht mit dem Darmstädter Oberhofpriester Johann August Starck lieferte (vgl. Conrad, Reflexion und Erleben, S. 253 – 274). 49 Nicolai, Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau [Vorrede], S. 28. 50 Vgl. Schiller, Der Geisterseher ; vgl. auch den DKV-Kommentar zu Entstehung und Publikation in ebd., S. 1015 – 1020. 51 Sie erschienen unter diesen Titeln aus dem Russischen übersetzt 1786 zuerst in St. Petersburg.

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leger, wie Nicolai in seiner Vorrede vermerkt, sehr viel Geld eingebracht hätten.52 Nicolai publiziert diese Stücke unter dem Titel Drey Lustspiele wider Schwärmerey und Aberglauben.53 Damit nimmt er den Gehalt der einzelnen Stücke zugunsten des gemeinschaftlichen Kampfes gegen Schwärmerei und Aberglauben zurück, dem er auch schon von der Reckes Nachricht verschrieben hatte.54 Gleichzeitig übt er sich gegenüber Katharina II. zumindest in Distanz, wenn es in seiner Vorrede heißt, dass die »edle Beherrscherin von Millionen, voll heller Einsichten« »die lachende Satire für das beste Mittel« halte, die Torheiten der Schwärmer zu vertreiben.55 Hier klingen zwischen den Zeilen Zweifel an, ob satirischer Spott allein etwas gegen den verbreiteten Aberglauben erreichen könne.56 Hinzu muss die Kritik dieser Phänomene treten, wie nicht nur seine Vorrede zu von der Reckes Bericht zeigt, sondern wie sie vor allem die Selbstaufklärung der Verfasserin mustergültig vorführt.

3.

Vorwort, Einleitung und Schluss von Elisa von der Recke

Auch die Autorin beginnt ihre Ausführungen mit einem Vorwort, welches sich an ihre »Freunde und Freundinnen in Kurland und Deutschland« richtet. Die Verfasserin weist sich damit nicht nur selbst als Teil der gemischtgeschlechtlichen aufklärerischen Geselligkeit aus, die häufig auf freundschaftlichen Beziehungen aufbaute. Die Anrede beansprucht darüber hinaus die Ebenbürtigkeit der Geschlechter im Diskurs der Aufklärung. Zunächst geht auch von der Recke auf die Bedenken gegen diese Veröffentlichung ein. Doch beruhigt sie die Freunde und Freundinnen, dass Spott sie nicht treffen könne, »weil ich es mir vor Gott bewußt bin, daß nur der Wunsch, manche gute Seele vom Verderben zu retten, mir den Mut gab, mich in dieser Zeit, wo Aberglauben und Schwärmerei so allgemein Eingang finden, meinen Zeitgenossen selbst darzustellen, 52 Vgl. Nicolai, Drey Lustspiele wider Schwärmerey und Aberglauben [Vorrede], S. 147. 53 Katharina II. schrieb in diesem Kontext noch ein viertes Lustspiel mit dem Titel Der Familienzwist, durch falsche Warnung und Argwohn, das 1789 ebenfalls bei Nicolai erschien. Sie ist damit die einzige Autorin, deren Dramen Nicolai publizierte. Allerdings rezensierte er einige Dramen von Autorinnen in der ADB (vgl. Fleig, Handlungs-Spiel-Räume, S. 94 u. 307 f.). – Zu Katharinas Lustspielen wider die Freimaurerei vgl. auch Fleischhacker, Mit Feder und Zepter, S. 175 – 180; sowie Donnert, Katharina II., S. 81 – 104. 54 In seiner Vorrede nimmt Nicolai sogar namentlich auf von der Reckes Entlarvung Cagliostros Bezug (vgl. Nicolai, Drey Lustspiele wider Schwärmerey und Aberglauben [Vorrede], S. 145). 55 Ebd., S. 144. 56 Vgl. Antoine, Literarische Unternehmungen der Spätaufklärung, S. 47.

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auf daß jeder, der auf den Weg der Begierde nach Wundern und übernatürlichen Kräften geleitet wird, welchen Weg ich auch einst wandelte, sehen möge, wohin derselbe führet«.57

In von der Reckes Vorrede tritt die Spannung zwischen dem Programm der Selbstaufklärung und der geschlechtsspezifischen Veröffentlichungsproblematik deutlich hervor. Anders als Nicolai verwendet die Autorin nämlich nicht die Formel der »Wahrheitsliebe«, sondern spricht stattdessen vom »Opfer«, das sie der Wahrheit bringt.58 Gleichzeitig bezeichnet sie dieses Opfer für die Wahrheit als Selbstdarstellung, was auf ihre hohe Identifikation mit dem Text verweist.59 Das durch den Betrug erzwungene Opfer wird durch die weiblich codierte Opferbereitschaft positiv umgedeutet und mit Sinn versehen. In diesem Zusammenhang thematisiert sie auch, warum sie den Text nicht anonym veröffentlicht habe. Da es gerade um Vertrauen zu ihren Entdeckungen gehe, habe sie sich entschieden, diese »ohne Hülle« zu publizieren.60 Damit wird sie selbst mit ihren ›Enthüllungen‹ identisch, sie erscheint gleichsam als nackte Wahrheit, die ihr Name beglaubigt: denn »wenigstens alle diejenigen, die mich kennen« werden die Richtigkeit der Geschichte nicht bezweifeln.61 Ihre Selbstdarstellung erscheint als Inszenierung ihrer Selbstaufklärung, für die sie selbst mit ihrem Namen einsteht – und sich dadurch zugleich einen Namen macht. Dennoch bleibt die Namensnennung zwiespältig, denn sie steht zwar für ihren Mut und damit durchaus im Sinne Kants für ihre Mündigkeit. Deutlich wird aber zugleich, dass ihre »Bekenntnisse über Cagliostro«62 auf der Erkenntnis des eigenen Betrogen-Seins basieren. Diese Erfahrung möchte sie anderen ersparen. Ihre Rückkehr »zur Vernunft«63 soll daher jenen zur Warnung dienen, die zu »höhern Geistern«64 gelangen wollen und sie kritischer gegenüber »süßen Verheißungen«65 machen. Darüber hinaus betont von der Recke, dass es ihr keineswegs nur um die Entlarvung Cagliostros gehe, der ja entlarvt sei, sondern insbesondere um die Sensibilisierung für die vielen Wundertaten der »herrschsüchtigen Jesuiten«, mit denen diese die Menschen unterwerfen.66 Sie spitzt hier also die bereits von Nicolai genannte Verbindung zum Katholizismus zu und verdeutlicht, dass sie 57 Recke, An meine Freundinnen und Freunde, S. 30. 58 Vgl. ebd., S. 28 u. S. 30. 59 Es folgt denn auch prompt eine Bescheidenheitsfloskel, wonach nur ungerechtes Lob, nicht jedoch Tadel ihre Stunden trüben könne (vgl. ebd., S. 30). 60 Ebd., S. 31. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 34. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 Ebd. 66 Ebd., S. 31.

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sich nur deshalb so ausführlich mit Cagliostro auseinandersetzt, um auf andere Betrüger aufmerksam zu machen. Über den konkreten Fall hinaus möchte sie neue Einsichten in jenen »Abgrund von Verderben« eröffnen, wo andere »noch verborgene Weisheit« suchen.67 Schließlich sei der christliche Glaube nicht mit mystischen Lehren angefüllt. Vielmehr führten diese Lehren in den »Schlamm des Aberglaubens […], aus welchem der große Luther uns zu befreien anfing.«68 Damit kommt ihrer Veröffentlichung ebenso wie ihrer Namensnennung doppelte Bedeutung zu: sie veröffentlicht ihre eigene Geschichte, aber sie beansprucht mit dieser Veröffentlichung gleichzeitig, einen eigenständigen Beitrag zum Kampf gegen Schwärmerei und Aberglauben zu leisten. Während das Vorwort von der Reckes vor allem der Auseinandersetzung mit dem Für und Wider der Veröffentlichung gilt, widmet sich die dann folgende Einleitung der Frage, wie es geschehen konnte, dass sich Cagliostro von Anfang an derartigen Einfluss auf sie und die Angehörigen ihrer Familie verschaffen konnte. Dafür macht sie bei den männlichen Logenmitgliedern, namentlich ihrem Vater und seinem Bruder, vor allem das Interesse an chemischen bzw. alchemistischen Experimenten verantwortlich, mit denen sie sich schon seit ihrer Jugend intensiv befasst hätten.69 Für sich selbst macht sie zunächst ihre schwierigen Lebensumstände geltend. Sie habe als junge verheiratete Frau in einer Einsamkeit gelebt, die sie nur durch unsystematische Lektüre habe füllen können, wodurch sie in eine »religiösschwärmerische Stimmung«70 geraten sei. Zu den von ihr bevorzugten Texten gehörten – dem empfindsamen Repertoire der Zeit entsprechend – Wielands frühe Schriften, Cronegks Einsamkeiten-Gesänge, Youngs Nachtgedanken sowie Lavaters Schriften.71 Als ihr geliebter Bruder, mit dem sie den Wunsch nach einer Gemeinschaft höherer Geister geteilt habe, plötzlich gestorben sei, habe sich ihr »Hang zur Mystik außerordentlich vermehrt«72. In dieser Stimmung begegnete ihr Cagliostro, der Anfang 1779 in Mitau auftauchte und sich als Freimaurer ausgab. Dass er sogleich eine Loge gründete, in der auch Frauen zugelassen wurden, war für von der Recke attraktiv. Auch seine medizinischen Tätigkeiten sprachen zunächst für ihn. Insgesamt verband

67 Ebd., S. 35. 68 Ebd. – Mit Luther nennt sie zugleich den Begründer des Schwärmerei-Diskurses (vgl. Schröder, Schwärmerei, S. 372). – Dass sie Katholizismus unterschwellig mit Aberglauben gleichsetzt, sei hier nur am Rande vermerkt. 69 Vgl. Recke, Einleitung, S. 37. 70 Ebd., S. 38. 71 Vgl. ebd. 72 Ebd., S. 39.

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Cagliostro, wie es in der Einleitung heißt, »Religion, Magie und Freimaurerei sehr genau miteinander«.73 Fragen der Religion waren zweifellos von besonderem Interesse für von der Recke, die sich als Orientierung suchende junge Frau darstellt und dafür auf empfindsame Lektüre zurückgreift. In diesem Zusammenhang kommt den Schriften Lavaters »über die Kraft des Gebets«74 besondere Bedeutung zu, die sie als ihre »liebste Lektüre«75 bezeichnet. Sie bereitet den Weg zu den »mystischen Phantasieen«76 der Verfasserin, die freimütig bekennt, die Religion als »Leidenschaft«77 empfunden zu haben. Mit ihrem Geständnis greift von der Recke auf diskursive Muster zurück, die insbesondere die zeitgenössische Debatte um die weibliche Lesesucht im Anschluss an die ersten Romane von Frauen bereitgestellt hatte. Von hier aus wird auch die Rede vom Opfer noch einmal in ein anderes Licht gerückt, da die Betrogene zugleich als verfolgte Unschuld erscheint, die dem Spiel der Verführung durch fehlgeleitete Lektüre nicht gewachsen ist. Dass ausgerechnet Lavater die Verfasserin auf den falschen Weg gebracht hat, ist insofern aufschlussreich, als er auch im Streit um Cagliostro eine Rolle spielt, von dem er anders als der mit ihm befreundete Goethe noch lange fasziniert war.78 Mit dem Aufkommen der Romane entwickeln sich Argumentationsmuster, die die Grenze zwischen Leben und Schreiben beständig verwischen. Dagegen ist die Betrogene traditionell eine Komödienfigur, die dem Spott des Publikums ausgesetzt ist.79 Darauf rekurriert von der Recke selbst, wenn sie in der Einleitung schreibt, dass aufgrund der Umstände das »Theater«80 in Mitau gut vorbereitet gewesen sei, auf welchem Cagliostro gespielt habe. Auch Nicolais Vorrede greift – wie schon erwähnt – auf das Muster der Romanvorreden zurück. Zwar kehrt er es um und erkennt damit von der Reckes Text als Beitrag zum aufgeklärten Diskurs an, dennoch wird der folgende Bericht auf diese Weise beiläufig mit romanhaften Zügen versehen. Mit Blick auf den literarischen Diskurs der Aufklärung ist vor allem von der 73 74 75 76 77 78

Ebd., S. 43. Ebd., S. 38. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Müller-Seidel, Cagliostro und die Vorgeschichte der deutschen Klassik, S. 139 f.; sowie Kühlmann, Cagliostro in Mitau, S. 130 f. 79 Dies gilt insbesondere für falsch verstandene Frömmigkeit, wie sie schon Luise Adelgunde Gottsched in der Pietisterey im Fischbein-Rocke (1736) scharf angegriffen hatte. Im Zuge der Entlarvung Cagliostros setzt Katharina II. diese Tradition mit mehreren Lustspielen fort, die dem Aberglauben mit beißendem Spott begegnen. Dagegen setzen Nicolai und von der Recke auf (Selbst-)Kritik als aufklärerische Praxis. 80 Recke, Einleitung, S. 37.

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Reckes »Schluß der Geschichte von Cagliostros Aufenthalt in Kurland« bemerkenswert, der das allmähliche Aufkommen von Zweifeln an Cagliostros Experimenten und Verhaltensweisen zusammenfasst. Darüber hinaus wird hier nicht nur die Verfasserin endlich zur Einsicht gebracht, sondern auch das literarische Feld ›aufgeräumt‹. Die Autorin schildert, wie der Hofrat Schwander, der schon in der Einleitung als fürsorglicher Freund eingeführt wurde, mit ihr Lessings Schauspiel Nathan der Weise (1779) gelesen habe. Angeblich sei sie durch die Szene I,2, in der Recha von einem rettenden Engel schwärmt und Nathan ihr zu bedenken gibt: »Begreifst du aber, wieviel andächtig schwärmen leichter, als Gut handeln ist?« endlich wach geworden.81 Mit dem Lessing-Zitat bezieht von der Recke im Hinblick auf den literarischen Diskurs der Aufklärung – Cagliostro und Lavater vs. Luther, Lessing und Nicolai – eindeutig Position.82 Gleichzeitig übernimmt sie damit die Prämisse der Berliner Aufklärung vom Zusammenhang zwischen Nachdenken und Handeln. Dieses Handeln ist ihre Publikation des Berichts über Cagliostro. In der Figur der »Wahrheitsliebe« treffen Selbstaufklärung und Veröffentlichung zusammen. Beide werden in den Paratexten von Nicolai und von der Recke jeweils selbst thematisch. Dennoch betont Nicolai den Prozess der Selbstaufklärung stärker, während von der Recke auf den literarisch vorgeprägten Opferdiskurs zurückgreift, um das Geschehene zu erklären. Die Glaubwürdigkeit ihrer Veröffentlichung, ihres Handelns, bindet sie an ihre Namhaftigkeit, womit sie den Status der Betrogenen benennt, aber auch durchbricht. Die Figur der Wahrheitsliebe bleibt bis zuletzt an ihr Geschlecht gebunden, das sich zwischen Empfindsamkeit und Erkenntnis bewegt. Die Inszenierung der Entlarvung Cagliostros in den Paratexten von Nicolai und von der Recke macht darüber hinaus deutlich, dass gerade die Suche nach der Wahrheit immer wieder einer Überprüfung unterzogen werden muss. Im Kontext der kritischen Kultur der Aufklärung wird die Kritik, die im Umgang mit Cagliostro 1779 gefehlt hat, durch die Publikation von 1787 eingeholt und ausgestellt.

81 Lessing, Nathan der Weise, in: ders., Werke, Bd. 9, S. 497 (I/2, V. 359 – 361). 82 Vgl. dazu auch Kühlmann, Cagliostro in Mitau, S. 131.

250

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4.

Bibliographie

4.1

Quellen

Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: ders.: Werke in sechs Bänden. Bd. VI: Schriften zur Anthropologie. Geschichtsphilosophie. Politik und Pädagogik. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983, S. 53 – 61. Lessing, Gotthold Ephraim: Nathan der Weise. In: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 9: 1778 – 1780. Hg. v. Klaus Bohnen u. Arno Schilson. Frankfurt a. M. 1993, S. 483 – 627. Nicolai, Friedrich: Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau, im Jahre 1779, und von dessen dortigen magischen Operationen [Widmung]. In: Klaus H. Kiefer (Hg.): Cagliostro. Dokumente zu Aufklärung und Okkultismus. München 1991, S. 20. Nicolai, Friedrich: Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau, im Jahre 1779, und von dessen dortigen magischen Operationen [Vorrede]. In: Klaus H. Kiefer (Hg.): Cagliostro. Dokumente zu Aufklärung und Okkultismus. München 1991, S. 21 – 28. Nicolai, Friedrich: Drey Lustspiele wider Schwärmerey und Aberglauben [Vorrede]. In: Klaus H. Kiefer (Hg.): Cagliostro. Dokumente zu Aufklärung und Okkultismus. München 1991, S. 144 – 148. Recke, Charlotta Elisabeth Konstantia von der : Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau, im Jahre 1779, und von dessen dortigen magischen Operationen. In: Klaus H. Kiefer (Hg.): Cagliostro. Dokumente zu Aufklärung und Okkultismus. München 1991, S. 20 – 143. Recke, Charlotta Elisabeth Konstantia von der : An meine Freunde und Freundinnen in Kurland und Deutschland [in: Recke, Nachricht]. In: Klaus H. Kiefer (Hg.): Cagliostro. Dokumente zu Aufklärung und Okkultismus. München 1991, S. 28 – 35. Recke, Charlotta Elisabeth Konstantia von der : Einleitung [in: Recke, Nachricht]. In: Klaus H. Kiefer (Hg.): Cagliostro. Dokumente zu Aufklärung und Okkultismus. München 1991, S. 35 – 50. Recke, Charlotta Elisabeth Konstantia von der : Aufsatz vom Jahre 1779 [in: Recke, Nachricht]. In: Klaus H. Kiefer (Hg.): Cagliostro. Dokumente zu Aufklärung und Okkultismus. München 1991, S. 51 – 115. Recke, Charlotta Elisabeth Konstantia von der : Schluß der Geschichte von Cagliostros Aufenthalt in Kurland [in: Recke, Nachricht]. In: Klaus H. Kiefer (Hg.): Cagliostro. Dokumente zu Aufklärung und Okkultismus. München 1991, S. 115 – 138.

4.2

Sekundärliteratur

Antoine, Annette: Literarische Unternehmungen der Spätaufklärung. Der Verleger Friedrich Nicolai, die »Straußfedern« und ihre Autoren. Teil 1. Würzburg 2001 (Epistemata; Reihe Literaturwissenschaft Bd. 365). Conrad, Anne: »Wir verplauderten die Zeit recht angenehm, sprachen von Geistersehen,

Zur Entlarvung Cagliostros durch Elisa von der Recke und Friedrich Nicolai

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Kristine Hannak

»Heilige Thorheiten« – Pietismus und Satire in Nicolais Sebaldus Nothanker (1773 – 76)

1.

Einleitung

»Einmal: es bleibt dabei, in Religionssachen Satyre zu brauchen, ist unmenschlich.«1 Diese harschen Worte fand Johann Heinrich Jung-Stilling als einer der schärfsten Kritiker des Sebaldus Nothanker (1773 – 1776) in seiner Gegenschrift mit dem programmatischen Titel Schleuder eines Hirtenknaben gegen den hohnsprechenden Philister, den Verfasser des Sebaldus Nothanker (1775). Ungeachtet der Beliebtheit des Romans in aufklärerischen Kreisen erfuhr die verhältnismäßig kurze Episode um den Pietisten zu Beginn des zweiten Bandes ein erregtes Echo nicht nur in Jung-Stillings Schleuder, sondern in einem ganzen literarischen Disput zwischen diesem und Engelbert vom Bruck (1739 – 1810), einem Krefelder Freund und Korrespondenten Nicolais, der sich bis ins Jahr 1776 hinzog.2 Die Satire Nicolais auf pietistische Sprache und Habitusformen war ohne Zweifel verstanden worden. Die karikierten Figuren des Pietisten im zweiten Band sowie der beiden Herrnhuterinnen im dritten Band fügen sich in Nicolais aufklärerisches Panorama der Religionssatire nahtlos ein, doch legen sie auch die Frage einer spezifischeren Auseinandersetzung mit dem Pietismus nahe. Ohne dass Nicolais Verhältnis zum Pietismus insgesamt erschöpfend behandelt werden kann, lassen sich doch anhand autobiographischer Zeugnisse und Briefe Nicolais individuelle Erfahrungen mit Vertretern des Pietismus ebenso rekonstruieren wie die Rezeptionsgeschichte des Sebaldus Nothanker. Darüber hinaus weist die narrative Darstellung der Vertreter des Pietismus geradezu topische Elemente der Pietismussatire auf, wie sie lange vor Nicolai sowohl von Frühaufklärern wie auch von abtrünnigen Kindern der pietistischen Bewegung selbst mit spitzen Federn gezeichnet worden sind. In diesen Bezügen soll der Roman im Folgenden 1 Jung-Stilling, Schleuder eines Hirtenknaben, S. 748. 2 Hierzu bereits Gerbeth, Engelbert vom Bruck als Aufklärer und Publizist, S. 25 – 34; sowie Vinke, Jung-Stilling und die Aufklärung.

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kontextualisiert werden. Dabei lässt sich die Zeichnung der Figuren vor diesen Hintergründen ganz im Gegensatz zu Jung-Stillings Verdikt gegen Komik »in Religionssachen«3 gerade mit Nicolais Motto des ridendo dicere verum verknüpfen.4

2.

Stolpersteine und Hirtenschleuder: Biographische und historische Kontextualisierung des Romans »Man thut, in den härteren Urtheylen über dieses Werk, sehr unrecht, zu vergessen, mit welchem Vergnügen man es ehedem gelesen hat, und zu vergessen, daß damals Deutschland durchaus keinen bessern Roman hatte, auch wirklich keinen eben so guten. […] Nothanker ist kein Produkt einer feurigen Phantasie, noch weniger ein zum Idealischen gesteigertes Werk. Dies soll er auch nicht seyn; er ist, wenn man so sagen darf, ein Familienroman in angenehmer Erzählung, mit interessanten Situationen, in treuer Darstellung nicht unmerkwürdiger Charaktere, die dem Leser gerade vorgeführt werden sollen, zur Beherzigung gewisser Seiten oder Fehler des Zeitalters.«5

Nicolais Roman zählt mit einer Auflage von 12.000 Exemplaren zu den erfolgreichsten literarischen Projekten der deutschsprachigen Aufklärung. Neben einem lebhaften literarischen Echo erfuhr der Roman Übersetzungen ins Französische, Dänische, Holländische und Englische in den Jahren 1774 – 1776. Seine Qualität als Bestseller verdankt er auch seiner diskursiven Einbettung in eine Vielzahl an Wissensfeldern und hier nicht zuletzt der selbstbewussten Satire auf eine ganze Reihe zeitgenössischer theologischer Streitpunkte von der Frage nach der Ewigkeit der Höllenstrafen bis hin zum Disput um das Heil Andersgläubiger.6 Nicolais humorvoller Blick auf theologisch-apokalyptische Deutungsdifferenzen wie auf pietistische Habitusformen offenbart jedoch nicht nur eine umfassende Kenntnis theologischer Argumentationsstrukturen und historischen Wissens, sondern vor allem auch eine klare Reflexion der Verschwisterung theologischer Topoi wie die Ewigkeit der Höllenstrafen mit Autorität und Herrschaftsstrukturen. Der teilweise sprühende Spott des Literaten Nicolai lässt sich unmittelbar an jenes Moment des Kritischen rückbinden, das als »rational begründete[s] Unterscheiden, Systematisieren und Beurteilen der kontingenten Erfahrungswirklichkeit«7 gerade als Ausdruck seiner genuin auf-

3 Jung-Stilling, Schleuder eines Hirtenknaben, S. 714. 4 Vgl. entsprechend aus theologischer Perspektive Beutel, Aufklärung und Pietismus auf dem Weg nach Berlin, S. 276. 5 Biester, zit. nach Göckingk (Hg.), Friedrich Nicolai’s Leben, S. 40. 6 Schulte-Sasse, Friedrich Nicolai, S. 331 f. 7 Zur Bedeutung des Kontextes von Kritik und Aufklärung bei Nicolai Stockhorst, Friedrich

»Heilige Thorheiten« – Pietismus und Satire in Nicolais Sebaldus Nothanker

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klärerischen Haltung gilt. Dies gilt umso mehr, wenn diese Haltung der Kritik insbesondere gegenüber religiösen Fragen vor einer literarischen Öffentlichkeit stattfindet und diese mit einbezieht. Als Herausgeber der ADB hatte Nicolai am 8. März 1771 an Lessing geschrieben: »Wollte Gott, ich dürfte an die Deutsche Bibl. gar nicht mehr denken. […] Ich habe oft schon aufhören wollen, wissen Sie, was mich zurückhält? Die theologischen Artikel. Sie haben so eine merkwürdige Revolution in deutschen Köpfen verursacht, daß man sie nicht muß sinken lassen. Sie haben vielen Leuten Zweifel erregt, und dadurch die Untersuchung rege gemacht.«8

Nicolais Wahl eines literarischen Werks als Mittel zur Anregung von »Zweifel« und »Untersuchungen« ist im Kontext seiner Bemühungen um die Entwicklung des kulturellen Lebens in Deutschland naheliegend: Wenn im siebten Buch des Nothanker der Kollegiant Kritik an der Schultheologie zwar zulassen, aber lediglich in der lateinischen Sprache des Gelehrtendiskurses formuliert sehen will,9 so spielt die literarische Figur hier auf eine umkämpfte Schnittstelle zwischen zeitgenössischen gelehrten und publizistischen Interessen, zwischen theologischen und literarischen Diskursen an, an der nicht nur Nicolai selbst mit der Wahl des – unterhaltsamen, allgemeinverständlichen – Mediums des Romans eindeutig Position bezieht. Nur wenige Jahre nach dem Erscheinen des letzten Teils des Nothanker streiten Lessing und Johann Melchior Goeze im Fragmentenstreit erneut darüber, inwieweit die Erörterung theologischer Fragen auf Deutsch sowie in literarischer Sprache überhaupt zulässig ist. Dieser Streit endete nicht nur bekanntlich mit Goezes Erwirken eines Publikationsverbots für den Nicolaifreund Lessing und dessen Ausweichen auf seine ›alte Kanzel, das Theater‹10 mit dem Verfassen von Nathan der Weise, er machte auch das herrschaftskritische Moment transparent, das in der Öffnung theologischer Sachfragen für eine literarische Öffentlichkeit lag.11 Nicolai selbst benannte in seiner Selbstbiographie als Motiv für das Verfassen des Sebaldus Nothanker sein Bestreben, die Verfolgungssucht »hartherziger Orthodoxe[r]« verächtlich zu machen und somit zu »Geistesfreyheit und Toleranz« beizutragen.12 Die Genese dieses Motivs lässt sich bereits früh in Nicolais

8 9 10 11 12

Nicolai, S. 158. Vertiefend mit einem kritischen Blick auf die Forschungsgeschichte Möller, Wie aufgeklärt war die Aufklärungsforschung?, S. 9 – 19. Zit. nach Schulte-Sasse, Friedrich Nicolai, S. 329. Nicolai, Sebaldus Nothanker, S. 350. Vgl. Lessing, Werke und Briefe, Bd. XII, S. 193. Goeze, Etwas Vorläufiges II, S. 36. – Auch der Zedler-Artikel zum Thema ›Streitschriften‹ weist auf die Schutzfunktion des Lateinischen bei sensiblen Themen hin (vgl. [Anonymus], Art. ›Streit-Schrifften‹, Sp. 926). Nicolai, Christ. Fr. Nicolai’s Bildniss und Selbstbiographie, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 14, S. 32 f.

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Schulzeit beobachten, und sie ist eng mit seiner Erfahrung des halleschen Pietismus verbunden.13 Nicolai verbrachte drei Jahre von 1745 – 1748 auf der Latina des Waisenhauses in Halle und wechselte dann auf die neugegründete Heckersche Realschule in Berlin.14 Positiv spricht er allein über seinen Griechischlehrer namens Stein in dieser Zeit,15 und bereits hier hebt er spezifisch dessen Offenheit gegenüber Zweifeln und Einwürfen seiner Schüler, mithin dessen Fähigkeit zum Dialog, hervor.16 Die restlichen Eindrücke von der Zeit pietistischer Erziehung jedoch sind ernüchternd: Dem sanften Herrn Stein folgte ein »heulender pietistischer Pedant«17 sowie eine Erziehung zu »Furcht und Unterwürfigkeit«:18 »Auch das Moralische der dort erzogenen jungen Leute war, bey allem guten Willen der sehr frommen Aufseher, und bey allem, fast stündlichen, Predigen der Religion, so tief gesunken, daß es mir, wenn ich mich jetzt daran erinnere, ein überzeugender Beweis von der Kraft der menschlichen Natur bleibt, die den richtigen Weg, selbst unter den widersinnigsten Einrichtungen, nie ganz verfehlt. Es hätte sonst in dieser Schule beinahe beinahe kein einziger brauchbarer Mensch gebildet werden können. Sowohl Lehrmethode, als Erziehung schienen ausdrücklich darauf angelegt zu seyn, die jugendlichen Seelenkräfte, die entwickelt werden sollten, gänzlich zu unterdrücken. Seelenlose Unthätigkeit und heuchlerisches Kopfhängen hieß Frömmigkeit, und diese allein, nebst einer sclavischen Unterwürfigkeit unter Inspectoren und Lehrer, war das einzige, das bey den jungen Leuten verdienstlich gefunden ward.«19

13 Autobiographische und biographische Zeugnisse zu Nicolais persönlichen Erfahrungen mit dem Pietismus in seiner Jugend liefert auch das 1806 von Johann Michael Siegfried Lowe herausgegebene Werk Nicolais Über meine gelehrte Bildung; sowie der von Göckingk herausgegebene und auf beiden Quellen fußende Band Friedrich Nicolai’s Leben und literarischer Nachlaß. – Vgl. auch Beutel, Aufklärung und Pietismus auf dem Weg nach Berlin, S. 270 – 273. 14 Vgl. ebd., S. 271. 15 Vgl. Nicolai, Sämtliche Werke, Bd. 6/2, S. 207. – In der DBI lässt sich kein Lehrer namens Stein mit passenden Lebensdaten nachweisen. 16 Vgl. Göckingk, Friedrich Nicolai’s Leben, S. 5 f. – In seiner Selbstbiographie reflektiert Nicolai die Position eines »Wahrheitsfreunds« als eine grundsätzlich dialogische, nämlich eines Menschen, »der sich früh schon gewöhnete, keine Meinung bloß einseitig zu betrachten, sondern beständig das Dafür und Dawider in Erwägung zu ziehen, um die Wahrheit zu suchen, wo sie auch sey« (Nicolai, Christ. Fr. Nicolai’s Bildniss und Selbstbiographie, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 14, S. 35). – Diese Haltung ist grundlegend für seine Hochschätzung der kritischen Auseinandersetzung als Medium zur gesellschaftlichen Aufklärung. 17 Nicolai, Über meine gelehrte Bildung, S. 13. Diese wenig schmeichelhafte Wendung bezeichnet Gottlob Anastasius Freylinghausen (1719 – 1785), der 1727 mit Gotthilf August Francke dessen Vater August Hermann Francke als Direktor des Waisenhauses nachfolgte (vgl. Nicolai, Sämtliche Werke, Bd. 6/2, S. 207). – Vgl. weiterführend Brecht, August Hermann Francke und der Hallesche Pietismus, S. 473. 18 Nicolai, zit. nach Göcking (Hg.), Friedrich Nicolai’s Leben, S. 6. 19 Ebd.

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Bezeichnenderweise reflektiert Nicolai bereits anhand seiner Jugenderfahrungen die fundamentale Differenz im Menschenbild, die im Gespräch mit dem Pietisten im Sebaldus Nothanker wiederkehrt und Sebaldus zum Stolperstein in seiner Begegnung mit sämtlichen Religiösen orthodoxer Prägungen wird: der Glaube an die »Kraft der menschlichen Natur« bzw. an eine prinzipielle Anlage des Menschen zum Guten. »Wir besitzen Kräfte zum Guten«, behauptet Sebaldus gegenüber dem Pietisten im Roman, »Ohne den Einfluß einer übernatürlich wirkenden Gnade zu erwarten, können wir Tugenden und edle Taten ausüben.« »Scheintugenden«, kontert der Pietist, »Mit diesen sogenannten Tugenden aber, kann man auf ewig in den Schwefelpfuhl geworfen werden, aus welchem keine Erlösung ist.«20 Diese fundamentale Differenz in der theologischen Anthropologie,21 die Nicolai später literarisch reflektiert, ist in seinen Jugenderinnerungen mit einer seelenlosen Frömmigkeitspraxis verbunden, die dem jungen Nicolai den Blick für die Diskrepanz zwischen frommer Theorie und Praxis schärft. Einzig das heimliche Lesen der ›Bremer‹ Neuen Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes und damit der Kontakt zur weltlichen Literatur erschien dem Schüler als Lichtblick gegenüber der als Heuchelei empfundenen pietistischen Schulkultur : »Die Bremischen Beiträge unterhielten mich so ziemlich, und gaben mir zuerst einen Begriff von deutschen Gedichten. Aber auf der erzpietistischen Schule des Waisenhauses sollte von nichts anderem geredet werden, als vom Durchbruch und vom Herrn Jesus in uns. Alle weltlichen Bücher, besonders deutsche, waren Contrebande. Einigen von meinen jungen Freunden vertrauete ich, daß ich einen unbekannten Schatz, die Bremischen Beyträge, besäße, ließ auch einige hinein blicken. Aber das ward bald verrathen. Man empfahl sich damals den Aufsehern am sichersten durch Kopfhängen und Angeben. Daher traueten wenige Schüler einander, und denen, die sich als die frömmsten auszuzeichnen suchten, trauete man am wenigsten.«22

An anderer Stelle heißt es: »Ob man mir gleich von meiner Kindheit an sehr viel von Religion vorgeredet hatte, und in Halle noch nichts als vom Durchbruch, von Buße und von außerordentlichen Wirkungen des Heil. Geistes sprach, so hatte doch die Art, wie man damals die Religion behandelte, bey mir die Folge, daß sie bey allem meinem Glauben daran, und bey meiner ernsten Aufmerksamkeit auf ihre Lehren, wenig oder keinen Einfluß auf mein Leben hatte. Hierzu trugen die vielen Heuchler, die ich in Halle bemerkte, und der Contrast ihrer schädlichen Handlungen mit ihren fromm klingenden Worten und vermeineten oder vorgegebenen christlichen Gefühlen, nicht wenig bey.«23 20 21 22 23

Nicolai, Sebaldus Nothanker, S. 163. Vgl. Beutel, Pietismus und Aufklärung, S. 265. Nicolai, zit. nach Göcking (Hg.), Friedrich Nicolai’s Leben, S. 10. Ebd., S. 17.

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Bemerkenswert an Nicolais Beobachtungen zu pietistischen Redewendungen, die dreißig Jahre später im Roman karikiert werden, ist deren historische Bedeutungsverschiebung. Während Nicolai die Rede vom Durchbruch und vom inneren Christus als Ausdruck einer explizit pessimistischen Anthropologie kennenlernt, die in der sozialen Realität des Schulalltags eine Kultur der Unterwerfung unter Lehrer, »seufzende[] Inspektoren«24 und hierarchische Strukturen legitimiert, galten diese Topoi wiederum vierzig Jahre früher an der Jahrhundertwende als pietistische Transgressionen der lutherischen Lehre, die gerade ob ihrer anthropologischen Legitimierung eines herrschaftskritischen Sprechens »aus dem Geist« als dem »inneren Christus« soziale Schranken zu unterlaufen und Laien eine Stimme zu geben vermochten.25 Für den Schüler Nicolai sind dagegen nur noch die zu pietistischen Topoi geronnen Redewendungen sichtbar, die er rückblickend als Instrumente einer seelenlosen Hierarchie wahrnimmt und mit den Worten kommentiert: »Außerdem lernte ich in Halle in der Schule des Waisenhauses beten, und würde auch nach damaliger Stimmung das Heucheln gelernt haben, wenn ich die geringste natürliche Anlage dazu gehabt hätte.«26 Auch wenn der Pietismus als gesondertes Thema in Nicolais publizistischen Tätigkeiten keine größere Einzelrolle mehr spielt, lässt sich doch eine Kontinuität zwischen dieser frühen Einschätzung und Nicolais Äußerungen im Kontext der Kontroverse um Sebaldus Nothanker feststellen. Nicolais Äußerungen finden sich in der Korrespondenz mit Engelbert vom Bruck, der Nicolai gegenüber Jung-Stillings Streitschrift gegen den Nothanker verteidigt hatte. An vom Bruck in Krefeld schrieb Nicolai am 23. Dezember 1775:

24 Ebd., S. 7. 25 Wie sehr der Topos des »Jesus in uns« als dem »inneren Wort« eine Transformation vom herrschaftskritischen Diskurs zum Instrument hierarchischer Strukturen durchlaufen hatte zeigen Texte früher Gegner des Pietismus. So schreibt der danziger Prediger Friedrich Christian Bücher in seiner Streitschrift Lutherus Anti-Pietista (1701) zum Glauben der Pietisten an den Geist, der durch sie wirke: »Diese Rotten=Geister aber können bald rathen helffen / daß die Leute bekehret werden / aber nicht zu Gott / sondern zum leidigen Teuffel / darumb wissen sie nicht / die des Schwarm=Geistes so voll sind / wie viel es kostet / eigene Gedancken / guten Dünckel und Meinungen auszuschlagen und zu überwinden. Es kostet Mühe und Arbeit / daß die Leute durch Mittel / die Gott selbst ordnet / als Predigt=Ampt / Absolution / Sacrament beweget werden / daß sie gläuben« (Bücher, Lutherus Anti-Pietista, S. 19). – Insbesondere in nicht kirchlich eingebundenen Kreisen bot die pietistische Frömmigkeit einen Deutungshorizont, vor dem Standesschranken in einer »Bruderschaft in Christus« relativiert werden, sowie – in Erwartung der endzeitlichen Ausgießung des Geistes auf »Knechte und Mägde« (Joel 3, 1 – 2) – theologische Laien und Frauen das eigene Sprechen legitimieren konnten. – Vgl. ausführlich zur sozialen Einbettung Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, S. 397 f.; sowie zu Tradition und literaturhistorischen Einbettung Schrader, Vom Heiland im Herzen zum inneren Wort. 26 Nicolai, Ueber meine gelehrte Bildung, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 448.

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»Ich habe meinen Pietisten nicht aus Büchern studiert, sondern gerade aus der Natur genommen, denn ich habe in meinem Leben mehr als hundert dergleichen Leute gekannt. Glücklich sind die wirklich frommen Pietisten in Ihrer Gegend, wenn sich solche falschen Brüder bey ihnen noch nicht eingeschlichen haben.«27

Im Brief vom 24. Februar 1776 schreibt er : »Mit dem Pietisten meine ich keine Sekte, sondern einen Frömmling, der die Guthmütigkeit anderer Frömmlinge mißbraucht. Derartige Leute sind oft noch viel schlimmer als ich ihn geschildert habe […] ich merke, daß die pietistische Parthey dort in Ihrer Gegend noch sehr zusammenhält und etwas bedeutet. Fast möchte ich mich fürchten, daß Sebaldus im 3. Theil ganz nahe in Ihre Gegend kommt.«28

Die literarische Kontroverse zwischen Jung-Stilling und Nicolais Verteidiger vom Bruck um den Nothanker ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich für die zeithistorische Einbettung des Romans.29 Jung-Stilling, der in den Jahren 1763 – 1770 selbst als Schneider und Hauslehrer in pietistischen Kreisen gelebt hatte,30 nahm an Nicolais Figur des Pietisten Anstoß und verlieh dem literarischen Ausdruck in seiner Streitschrift Die Schleuder eines Hirtenknaben gegen den hohnsprechenden Philister, den Verfasser des Sebaldus Nothanker (1775). Die Anschuldigungen an Nicolai sind zahlreich. Neben den allgemein gehaltenen Vorwürfen, Nicolai leiste mit seinem Roman der Religionsspötterei und der Aufwertung der Vernunft gegenüber der Offenbarung Vorschub,31 richtet sich seine Kritik explizit gegen die Figur des Pietisten.32 Eine »Caricatur« sei der namenlos bleibende Pietist, der in keinster Weise der Realität entsprechend gezeichnet sei:33 »Der Pietist ist ganz und gar nicht wahr ; er ist so wenig Pietist als der Herr Verfasser.«34 In höchstem Maße kritikwürdig erscheint Jung Stilling auch die Ridikülisierung theologischer Axiome wie die Verdorbenheit der menschlichen Natur, das Wirken der Gnade oder die Ewigkeit der Höllenstrafen, 27 Nicolai an Bruck, 23. Dezember 1775, zit. nach Gerbeth, Engelbert vom Bruck als Aufklärer und Publizist, S. 33. 28 Nicolai an Bruck, 24. Februar 1776, zit. nach ebd. 29 Im Detail mit ausführlichen Zitaten ist die Kontroverse aufgearbeitet in Gerbeth, Engelbert vom Bruck als Aufklärer und Publizist, S. 25 – 36; sowie Vinke, Jung-Stilling und die Aufklärung. 30 Vgl. ebd., S. 155. 31 Vgl. Jung-Stilling, Schleuder eines Hirtenknaben, S. 709 u. S. 713. 32 Vgl. ebd., S. 719 – 732. – Zur ausführlichen Deutung siehe unten. 33 »Einen wahren Pietisten lächerlich zu machen, wäre mehr als teuflisch. Also einen falschen Pietisten – und diese Personnage da, die Sie so heißen, ist gar kein Pietist, mehr Sinzendorfianer, und dieses auch noch nicht: das Ende zeigts, es ist ein Phantom, das sich nirgend schickt, als in den Kopf des Herrn Verfassers.« (ebd., S. 719). – Jung-Stillings Kritik ist berechtigt. Nicolai vermengt in dieser Figur geschichtlich Unvereinbares wie Halleschen Pietismus, Herrnhutertum und dem Pietismus wesensfremde Züge. – Vgl. hierzu ausführlich die Analyse in Beutel, Aufklärung und Pietismus auf dem Weg nach Berlin, S. 268 – 270. 34 Jung-Stilling, Schleuder eines Hirtenknaben, S. 728.

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Empörung ernten einzelne Szenen wie der Spaziergang in Berlin, der die Leser zu unpassendem Lachen und Sündigen verführe. Angesichts dieser Angriffe auf Nicolai verfasste Engelbert vom Bruck, der ab 1768 für fast vier Jahrzehnte im Briefwechsel mit Nicolai stand, noch 1775 eine Gegenschrift Anmerkungen über die Schleuder eines Hirtenknaben und schrieb bei der Gelegenheit an Jung: »Sie sehen das Buch des Hr. Nicolai aus dem unrechten Gesichtspunkt an […]. Ein Mann, der den Rest mönchischer Zusätze im Protestantismus, Quietismus usw. die Fehler und Laster der Intoleranz der Geistlichkeit durchzieht, kann man wohl einen Spötter der christlichen Spaltungen, Sekten, Schwärmereyen und des Aberglaubens nennen, aber er ist kein Spötter der christlichen Religion […]. Das Buch des Herrn Nicolai ist ein beitzendes Mittel, das das faule Fleisch wegbeizen soll, so lachend und süß es aussieht […]. Herr Nicolai ist ein Christ, aber ein philosophischer Christ, der deutliche Begriffe liebt.«35

Auch mit Nicolai korrespondierte vom Bruck über Jung-Stillings Schleuder. Nicolai bedankte sich am 23. Dezember 1775 bei vom Bruck für dessen eigene briefliche Rückmeldung zum Roman sowie für dessen Verteidigung. Unbeeindruckt von Jung-Stillings Angriff schrieb er im Hinblick auf die Schleuder : »In unseren Gegenden findet ein so elendes Geschwätz, wie D. Jungs Schrift ist, nicht die geringste Aufmerksamkeit, und selbst Göthe wird es nicht im Ernste wagen, dasselbe öffentlich zu billigen. Indessen glaube ich, daß es in Ihren Gegenden, wo die Schwärmerey noch gar zu sehr die Oberhand hat, eine […] gute Wirkung haben kann, und ich danke Ihnen herzlich.«36

Der literarische Schlagabtausch um den Nothanker zwischen Jung-Stilling und vom Bruck zog sich noch ein Jahr durch verschiedene Abhandlungen und lange Briefwechsel hin.37 Publizistisch gab sich vom Bruck größte Mühe, den Lesern klarzumachen, dass Nicolais Satire nicht der Religion an sich, sondern ihren verhärteten Vertretern wie Stauzius bzw. Goeze gelte, dass die Karikatur des Frömmlings keine frommen Pietisten, sondern nur ihre falschen Brüder ridi-

35 Bruck an Jung-Stilling, 6. Oktober 1775, zit. nach Gerbeth, Engelbert vom Bruck, S. 25. – Die Anmerkungen selbst gelten als verschollen. Gerbeth, Engelbert vom Bruck, S. 28, Anm. 62. Zu ausführlichen Zitaten aus der Korrespondenz um den Nothanker siehe ebd., S. 28 f. 36 Nicolai an Bruck, 23. Dezember 1775, zit. nach Vinke, Jung-Stilling und die Aufklärung, S. 192. 37 Jung-Stilling, Theodicee des Hirtenknaben als Berichtigung und Verheidigung der Schleuder desselben; Große Panacee wider die Krankheit des Religionszweifels; vom Bruck, Abbitte an das einsichtsvolle Publikum, wegen der Anmerkungen über die Schleuder eines Hirtenknaben, und einige dadurch veranlasste Briefe: nebst Beantwortung der Frage: Wer ist ein Christ? – Vgl. weiterführend Gerbeth, Engelbert vom Bruck, S. 30 f.; sowie Vinke, JungStilling und die Aufklärung, S. 199 ff., S. 244 ff. u. S. 281 ff.

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külisiere und dass schließlich die vielen Anspielungen auf zeitgenössische Meinungen keine Verhöhnung der christlichen Religion an sich bedeuteten.38 Die Wogen, die Nicolais Roman in erweckten Kreisen geschlagen hatte, blieben publizistisch sichtbar : Zusammenfassend kommentiert ein anonymer Rezensent im Jahr 1776 in den Frankfurter gelehrten Anzeigen, dass der »famose [] Roman« »allerhand Gutes und Böses gestiftet« habe, wobei das Böse ein »leidige[r] Krieg« sei, der zwischen »guten Leuten« ausgebrochen sei und der »viel Blut (Dinte wollt ich sagen)« gekostet habe.39 Jung-Stillings Vorgehen gegen Nicolai als entzürnter Hirtenknabe wird mit milder Ironie betrachtet: JungStilling hätte gut daran getan, so heißt es, seine zu verschleudernden Steine besser auszuwählen, da er so statt einem einzigen gleich viele »Philister« gegen sich aufgebracht habe, die ihm seine Steine nun unsanft wieder zurückgäben.40 Auf die Fortsetzung des Romans hatte die Kontroverse übrigens keinen Einfluss: Im Jahr 1776 erschien der dritte Teil des Sebaldus Nothanker, den Nicolai in den ersten beiden Monaten des Jahres niedergeschrieben hatte.41 Während er in diesem Band mit der Figur des menschenfreundlichen Predigers von Alkmar einerseits ein durchaus positives Bild eines religiösen Amtsträgers einfügt und damit auch auf die geäußerte Forderung nach Differenzierung seiner Kritik am Priesterstand reagiert, schlägt sich andererseits diese Differenzierung in der Darstellung der beiden herrnhutischen Nebenfiguren im achten und neunten Buch gerade nicht nieder : Die Gertrudinn und ihre Tochter Anastasia sind wieder nach allen Regeln der satirischen Kunst eindeutig als Sektenanhängerinnen gezeichnet.

3.

»nichts als lauter Elend und Unwürde« – Die literarischen Figuren im Roman

»Welcher Unglaube! welche fleischliche Sicherheit! O betrüge dich nicht Mensch! die Ewigkeit wird kommen! Qual ohne Ende für den Sünder!«42 Wenn auch die Figur des Pietisten im Roman allein durch ihre Sprache für Zeitgenossen unschwer als Karikatur zu erkennen war, so entfaltete sie dennoch ihr transgressives Potenzial daraus, dass ihre kulturhistorische Einbettung explizit sichtbar gemacht wurde.43 An keiner anderen Stelle des Romans bemühte sich 38 39 40 41 42 43

Vgl. Gerbeth, Engelbert vom Bruck, S. 33. [Anonymus], Geschichte statt Rezension, S. 629. Ebd. Vgl. Vinke, Jung-Stilling und die Aufklärung, S. 284. Nicolai, Sebaldus Nothanker, S. 164. Vgl. hierzu auch Beutel, Pietismus und Aufklärung auf dem Weg nach Berlin, S. 265 – 268. – Zu einer Zusammenstellung positiver Aussagen Nicolais über einzelne Vertreter des Pie-

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Nicolai um eine transparentere Verortung eines Charakters in intertextuellen Bezügen wie in den Passagen über Sebaldus’ pietistischen Reisebegleiter. Lange Anmerkungen mit Referenzen auf die Quellen seiner Redewendungen (»im Namen Jesu auf den Abtritt gehen«) oder angestimmten Lieder (»Zu spät ists zu erfahren, was Höll und Ewigkeit, ach!«) unterstreichen für die Augen des Lesers, dass es sich bei den entsprechenden Redepassagen gerade nicht um karikierende Überspitzungen, sondern um authentisches Quellenmaterial handelt.44 Auch Sebaldus’ viel zitiertes »Steckenpferd«, sein Interesse an der Apokalypse, stellt im Kontext des Romans nicht nur eine Referenz an Lawrence Sterne dar, sondern hat auch einen zeithistorischen pietistischen Anspielungshorizont. Im Jahr 1740 erschien Johann Albrecht Bengels Erklärte Offenbarung Johannis, die aus einem wörtlichen Verständnis der Johannesoffenbarung und komplizierten Kalkulationen aus den dort genannten Zahlen die Apokalypse für das Jahr 1836 berechnete.45 Bengels über hunderte von Seiten entfalteten Berechnungen und Auslegungen einzelner (Teil-)Sätze des biblischen Textes sind im Anspielungshorizont des Romans ebenso präsent46 wie die mit genauen Quellenangaben und Autorkommentaren versehenen pietistischen Lieder, die die Ewigkeit der Höllenstrafen in drastischer Deutlichkeit ausmalen (»Sie werden ewig fallen / ins Loch, das keinen Grund / und auf einander prallen / zusammen in den Schlund / sich beißen, fressen, nagen / sich fluchen, lästern stets / der Tod wird sie recht plagen / ohn Ende: Seht so stehts«).47 Sebaldus entsetzter Einwand, man könne

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tismus wie etwa über Spener (Nicolai, Sebaldus Nothanker, S. 216) siehe dort S. 273 f. Die hiesige Analyse eruiert ergänzend die literarische Kritik des Publizisten Nicolai am Topos der religiösen Engstirnigkeit, wie sie an der Figur des Pietisten sichtbar gemacht wird. – Vgl. weiterführend zu literarischer Dogmenkritik im Nothanker Twellmann, Klerikalmoden, S. 65 – 78. Nicolai, Sebaldus Nothanker, S. 162 – 167; siehe Wolterdorf, Sämmtliche neue Lieder, oder Evangelische Psalmen; Zinzendorf, Büdingische Sammlung einiger in die Kirchen-Historie einschlagender sonderlich neuerer Schrifften; sowie Porst (Hg.): Geistliche und liebliche Lieder. Bengel, Erklärte Offenbarung Johannis, S. 568 – In Abgrenzung zu möglichen rein allegorischen Deutungen des letzten Buchs der Bibel schrieb Bengel: »Es hält in sich die Huldigung und Unterthänigkeit, die dem Lämmlein von aller Creatur geleistet wird, die Vollendung des Geheimnisses, welches GOTTseinen Knechten und Propheten evangelisiret hat, die vorhin in keiner Weissagung Namhaft gemachten, mit ihrem Namen selbst ein großes von dem ganzen Welt-Alter einnehmenden tausend Jahre, und endlich gar das über den Begriff aller Augen, Ohren und Herzen mit seiner Herrlichkeit gehende auf eine so neue Weise beschriebene NeuJerusalem sammt dem neuen Himmel und der neuen Erden« (S. 138). Nicolai spielt in der Aufzählung apokalyptischer Literatur zu Beginn des Romans darauf an als »Bengels unwidersprechliche Auflösung der apocalyptischen Weissagungen« (Nicolai, Sebaldus Nothanker, S. 15) sowie auf das apokalyptische Reich als in Bengels »Besitze« (S. 78). Nicolai, Sebaldus Nothanker, S. 165 f. – Nicolai kommentiert sichtlich emotional in einer Anmerkung: »Der Leser glaube nicht etwan, daß ein solches Lied zu Behufe dieses Gesprächs erdichtet worden. Er darf auch nicht glauben, daß es etwan ein unbedeutender Schwärmer

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doch nicht in ungerührter Freude die Verdammnis von Millionen Mitmenschen besingen, wird im Roman zum Sprachrohr des Autors, der wiederum in einer langen Anmerkung die Quelle, Johann Cyriacus Hoefers Kurzer und richtiger Himmelsweg (1672, Neudruck Leipzig 1772) anführt. Ausführliche Zitate unter dem Erzähltext belegen gerade den Realitätsbezug der literarischen Darstellung, nämlich wie in authentischen Texten Kindern das Mitleid selbst mit eigenen Verwandten, die in der Hölle schmoren, abtrainiert werden soll, und Nicolai kommentiert spürbar abgestoßen: »Will man denn nicht endlich einsehen, wie unsinnig es ist, bey Kindern, indem man ihnen die Lehren der Religion beybringen will, die edlen Empfindungen der Menschlichkeit zu unterdrücken, und wie abscheulich, sie zu lehren, daß ihr Willen mit dem Willen Gottes übereinstimme, wenn sie die überschwenglichen Leiden anderer Menschen sich nicht zu Herzen gehen lassen.«48

Nicolais Bemühen um Transparenz der intertextuellen Bezüge verrät das Selbstverständnis des Aufklärers, Kritik durch Nachprüfbarkeit zu fundieren; sein Kommentar über die Unterdrückung der Menschlichkeit im Namen einer falsch verstandenen Pietät steht dazuhin in ungebrochener Kontinuität zu seinen Jugenderinnerungen an die Schulzeit in Halle. Die satirischen Züge der literarischen Pietistenfigur lassen sich entsprechend in all ihren Facetten immer wieder auf diesen Grundkonflikt einer Diskrepanz zwischen frommer Theorie und unbarmherziger Praxis zurückführen, der Nicolai bereits in seiner Schulzeit abgestoßen hatte. Die schlichte Betonung dieser Diskrepanz in der Darstellung der Reaktion des Pietisten auf Sebaldus’ Einwurf führt zum satirischen Effekt: »Der Pietist lächelte und sagte mit sanfter Stimme: ›Da siehet man den natürlichen Menschen! Ich verdamme sie ja nicht, sondern (er lächelte nochmals) die Bibel verdammet sie. Da steht es deutlich.‹ […] Der Pietist bewegte den Zeigefinger seiner rechten Hand zweymal auf und nieder und sagte sanftmüthiglich: ›Lieber Bruder, ich beweine deinen erschrecklichen Unglauben; und du kannst noch in ungöttlichen Eifer gerathen! Hier kann man den sichtlichen Unterschied des Standes der Natur und der Gnade sehen. Wer in der Gnade ist, der ist so ruhig, der erträgt alles, der erduldet alles, stellet alles Gott anheim.‹«49

Rezeptionsgeschichtlich vielsagend ist Jung-Stillings Reaktion auf Nicolais schonungslose Verunglimpfung der Lehre von der ewigen Verdammnis. Er kritisiert nicht nur Nicolais Zitat des Liedes als unpassend angesichts verfür den Winkel eines fanatischen Conventikels verfertigt habe. Nein! dieß Lied steht S. 792 eines, in die evangelisch-lutherische Kirchen der Churmark […] eingeführten Gesangbuchs […].« 48 Ebd., S. 167. 49 Ebd., S. 167 f.

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schiedener Bibelstellen, die von der Qual der Verdammten sprechen,50 sondern er spricht – im Kontext seiner Kritik an Nicolais Stauzius-Passagen – auch die sozialdisziplinierende Funktion einer Kultivierung der Furcht vor ewiger Höllenqual unverhohlen an: »Was wird also ein Prediger anrichten, der ihnen die Hölle leicht, erträglich und gar endlich vorstellt, wird der nicht allen Lastern Thür und Thor öffnen? Sehr weislich haben Christus und seine Apostel dieser Meinung sorgfältig vorgebaut. Und gesetzt auch, sie wäre wahr, dieser oder jener wäre davon überzeugt, so rathe ich ernstlich, dieselbe um des Volks willen geheim zu halten.«51

Nicht nur durch die plastischen intertextuellen Bezüge, sondern auch durch ihre Sprache sind die pietistischen Figuren in ein Kommunikationsgefüge eingebettet, das kaum weiterer Zuspitzungen durch den Autor bedarf, um der lachenden Kritik preisgegeben zu werden. Dabei ist insbesondere das Wortfeld des Lammes und seiner Wunden nach Off. 5 Zielscheibe der Ironisierungen, die hier weniger auf Bengel,52 als vielmehr auf die Spezialsemantik der Herrnhuter zielen. »Der Pietist, den die Herzlichkeit zum Heilande ergriffen hatte, fing an, die vorübergehenden zu ermahnen, ihnen die Abscheulichkeit des Spazierengehens an einem schönen Tage vorzustellen, und ihnen dafür das Seitenhöhlchen anzupreisen, in welchem sie recht selige Spaziergänge halten könnten.«53 »[O]! wenn er wüßte, wie wohl dem ist, Der da seine Stunden / In den Wunden / Des geschlacht’nen Lammes verbringt« »Herr, sagte der Kerl mit starren Augen: Was kann mir das helfen, ich bin am vorigen Sonntag im Lamme gewesen, aber das Bier war sauer.«54 »O Stadt! fuhr der Pietist fort, die du bist wie Sodom und Gomorrha, […]. Ja, mein Freund! (hier fieng er an zu weinen,) es gibt hier einige erwählte Seelen, die bis über den Kopf in den Wunden des Lammes sitzen, die zu einem Pünktlein, einem Stäublein, zu 50 Vgl. Jung-Stilling, Schleuder eines Hirtenknaben, S. 726. 51 Ebd., S. 736. – Kulturhistorisch gesehen entspricht Nicolais Darstellung des Pietisten als Anhänger der Lehre von den ewigen Höllenstrafen dem Bild seiner zitierten Quellen. Anzumerken bleibt, dass die in die Aufklärung verweisende Kritik an dieser Vorstellung maßgeblich von (radikalen) PietistInnen wie Johann Wilhelm (1649 – 1726) und Johanna Eleonora Petersen (1644 – 1724) an der Jahrhundertwende zum 18. Jahrhundert artikuliert wurde. – Vgl. Breuer, Origenes im 18. Jahrhundert; sowie ders., ›Der bekräfftigte Origenes‹, S. 413 – 424. 52 Anzumerken bleibt, dass auch Bengel in seinen Ausführungen über das Lamm ebenfalls nur in der Diminutivform, wie sie bei den Herrnhutern üblich war, spricht. »Das Lämmlein hat sieben Hörner und sieben Augen, welche sind die sieben Geister Gottes, gesandt auf die ganze Erde.« (Off. 5, 6); Bengel, erklärte Offenbarung Johannis, S. 156. 53 Nicolai, Sebaldus Nothanker, S. 176. Hervorhebungen im Original. 54 Ebd.

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einem Nichts geworden sind, und sich nur in das blutige Lamm verliebt haben, diese halten noch die verworfene Stadt, daß sie nicht fällt.«55

Diminutiva, expressive Gefühlssprache und vor allem der Topos der Wunden Christi entstammen der Sondersprache der Herrnhuter in ihrer Spätphase, der so genannten Sichtungszeit.56 Die Lieder und Gedichte, die in den Jahren 1742/ 43 – 1750 in der herrnhutischen Gemeinde entstanden,57 zielten ursprünglich auf die Vertiefung gefühlsbetonter Intimität im täglichen Umgang mit Christus, der als blutender Schmerzensmann am Kreuz imaginiert wurde. Die als Intensivierung und Personalisierung des Glaubens gedachte Umgangsform mit dem Heiland entwickelte sich jedoch in einer poetischen und sozialen Eigendynamik zu einem zunehmend erotisierten Wundenkult, in dessen Zentrum die Seitenhöhle des Gekreuzigten stand, die zum Fluchtpunkt aller religiösen wie erotischen Sehnsüchte wurde. In diesem Kontext entstanden Texte, die die Vorlage für die Sprache des Pietisten im Roman boten und einen dankbaren Bezugspunkt für den festen Topos orthodoxer wie aufklärerischer antipietistischer Polemik bildeten, dass nämlich der dunklen und verworrenen »Redens=Art« der Pietisten ein entsprechend schwärmerischer »Geist« entspreche.58 So heißt es etwa in einem Gedicht von Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs Tochter Benigna und ihrem Verlobten Johannes von Wattewille, das immerhin als Sieger aus einem Dichterwettbewerb zum Thema der fünf Wunden Jesu hervorging: »5. Wenn ich in meinem Winkelein umarm und küß mein Lämmelein, sind die fünf Wunden meine; ich leg mich in der hohl vom speer bald in die läng, bald in die quer, als wär sie mein alleine; denn mein bettlein ist die lende, und die hände und die füsse brauche ich zu meinem küssen.«59

Die im Roman ridikülisierte Verliebtheit in die Wunden des Lammes, die ihre Komik in der Erzählung nicht zuletzt durch ihren Kontrast mit dem tatsächlichen Misanthropentum des Pietisten gewinnt, fand im herrnhutischen Liedgut entsprechende Vorbilder : 55 Ebd., S. 178 f. 56 Vgl. zum Soziolekt erweckter Kreise, der für Anhänger wie Gegner ein Erkennungszeichen war Schrader, Die Sprache Canaan; sowie zu Quellen und Wirkungen der pietistischen Sonderterminologie Langen, Der Wortschatz des deutschen Pietimus, S. 390 – 475. – Nicolai verwendet mit seiner Ridikülisierung pietistischer Redeformen durch geschickte Zitatcollagen dieselbe Technik wie bereits die antipietistische Polemik der orthodoxen Lutheraner. Schrader, Die Sprache Canaan, S. 405. 57 Hier und zum Folgenden Kemper, Empfindsamkeit, S. 38 – 49, bes. S. 40 ff. 58 Schrader, Die Sprache Canaan, S. 405; bezeichnend auch die Parodie pietistischer Sprache der Gottschedin in Die Pietisterey im Fischbein-Rocke, Akt 4, Szene 1. Gottsched, Die Pietisterey im Fischbein-Rocke, S. 86 – 90. 59 Herrnhuter Gesangbuch. Christliches Gesang-Buch der Evangelischen Brüder-Gemeinen von 1735, Teil II, S. 1813, hier zit. nach Kemper, Empfindsamkeit, S. 42. – Vgl. auch Schrader, Vom Heiland im Herzen, S. 69 f.

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»Seitenhöhlgen! Seitenhöhlgen! Seitenhöhlgen, du bist mein: allerliebstes Seitenhöhlgen, ich verwünsch mich ganz hinein. Ach mein Seitenhöhlgen! du bist meinem seelgen doch das liebste plätzelein; Seitenschrein! leib und seel fährt in dich nein.«60

»Seitenhöhlchen« und »Lämmelein« – in den Augen einer sich um Öffentlichkeit, rationale Argumentation, Allgemeinverständlichkeit und Kritik bemühten Haltung ließen allein die Anspielungen an die pietistische Sprache im Roman diese als gewogen und zu leicht befunden erscheinen. Eine erzählerische Pointe liegt freilich darin, wenn die von den Pietisten selbst gesuchte sprachliche Separation von den »Weltkindern«61 im Roman dahingehend ridikülisiert wird, dass die mit Bekehrungsaspirationen verbundenen Superioritätsgefühle gerade an ihrer eigenen Unverständlichkeit scheitern. Dies ist zweifellos der Fall, wenn der zu Bekehrende mit dem »Lämmlein« lediglich die namensgleiche Wirtschaft und mit der Qual des Bußkampfes deren saures Bier assoziiert. Nicolai jedoch hatte literarisch sein Argument für Allgemeinverständlichkeit im Kontext einer intendierten Verbesserung des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens platziert.62 Gerade weil sich trotz aller Unterschiede zeitgenössische aufklärerische und pietistische Interessen im Punkt des Bemühens um eine Verbesserung der conditio humana berühren,63 treten die Differenzen in der Wahl ihrer Mittel und im Menschenbild umso deutlicher zutage und bieten entsprechend Stoff für beißende Kritik. Vor dem Hintergrund des von Nicolai selbst mit Hochdruck betriebenen Projekts einer Verbesserung des Geschmacks und damit letztlich des gesellschaftlichen Lebens durch Theater, Publizistik und einen kritischen öffentlichen Diskurs richtet sich sein prüfendes Augenmerk gezielt auf die sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen, die die Inhalte religiöser Überzeugungen evozieren. Und dies gilt nicht nur für alle Facetten vermeintlich religiösen ›Schwärmertums‹: Seine Karikatur des Pietisten trägt dieselbe Handschrift wie seine Parodie auf den jungen Werther, seine unerschrockene 60 Herrnhuter Gesangbuch. XII. Anhang und Zugaben I–IV zum Herrnhuter Gesangbuch. S. 2175, hier zit. nach Kemper, Empfindsamkeit, S. 42. 61 Schrader, Die Sprache Canaan, S. 407. 62 Schulte-Sasse, Friedrich Nicolai, S. 322 f. 63 Bei allen Differenzen schreibt selbst Nicolais größter Kritiker Jung-Stilling zur Frage nach dem Telos des Lebens »Von jeher haben die Verständigsten des menschlichen Geschlechts eingesehen, daß die Verbesserung des Menschen darin bestünde, daß er einen viel höhern Grad der Menschheit erreichen könne« (Jung-Stilling, Schleuder eines Hirtenknaben, S. 763). – Nicolais Verunglimpfung der Wunden des Lammes empfand er freilich als »gräuliche Stelle« (ebd., S. 732). – Eine der tragenden Stimmen der Pietismusforschung, Martin Schmidt, bringt den Pietismus auf die knappe Formel »Weltverwandlung durch Menschenverwandlung« – ein Ansinnen, das bei allen Differenzen den Intentionen aufklärerischer Publizisten nicht fernstand (Schmidt, Teilhabe an der göttlichen Natur, S. 281, Anm. 147).

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Kritik am Goethekult der jungen Romantiker oder seine Einwände gegen das Konzept der autonomen Kunst, die sich alle im gemeinsamen Fluchtpunkt eines unglücklichen Zusammenstoßens von elitärem Selbstverständnis mit dem Scheitern an der gesellschaftlichen Wirklichkeit treffen.64 Cui bono – wem nützt der fromme Diskurs, wenn er durch eine unfromme Praxis konterkariert wird? Auf diese Formel lässt sich die Darstellung der pietistischen Figuren bringen. Der Pietist, der Sebaldus mit hehrer Theorie über seinen sündenfreien Status als Wiedergeborener belehrt hatte, ist nach dem Überfall durch die Räuber nicht gegen Anfälle derben Fluchens gefeit und lässt alle Anzeichen der vorher exakt datierten Wiedergeburt vermissen. Demgegenüber praktiziert Sebaldus – gänzlich ohne Erwählungsbewusstsein, aber mit einer pragmatischen Überzeugung vom Wert guten Handelns – die christliche Gelassenheit und Nächstenliebe, indem er nach dem Überfall seinen Überrock verleiht. Der Kontrast zwischen religiös überspannter Rede und unprätentiös richtigem Handeln wird noch zugespitzt, wenn Sebaldus bei der Ankunft in Berlin von seinem Begleiter umstandslos verlassen wird und in seiner Bitte um ein Nachtlager gerade kein Gehör findet, aber mit wohlklingenden Worten über die »alleinseligmachende Gnade« vertröstet wird.65 Diese Darstellung impliziert eine empfindliche Kritik an der negativen Anthropologie und der Verabsolutierung der Gnadentheologie, die der Pietist vertritt, die lediglich als Ausrede für sein mangelndes praktisches Engagement fungieren. Zu diesem Schluss kommt auch die Darstellung der beiden Herrnhuterinnen, wenn die Gertrudinn in einer heiratspolitisch prekären Lage an nichts weiter als an ein dogmatisches Auftrumpfen gegenüber Sebaldus denken kann, aber blind ist für die Situation ihrer eigenen Tochter. Die Darstellung der dogmatischen Streitlust der Gertrudinn ist sorgfältig im Kreis pietistischen Schriftguts kontextualisiert und – bei aller Komik – als menschliches Versagen gezeichnet, das nicht zufällig in direktem Zusammenhang mit ihrer theologischen Abwertung aller menschlichen Tugenden gezeigt wird. Die bloße Rede von Erwählungsbewusstsein, von Wiedergeburt und Gnade gerinnt ohne eine sichtbare gesellschaftliche Auswirkung zu jenem Topos der Heuchelei, der im zeitgenössischen Diskurs als sprichwörtlich ›pietistisch‹ galt. Der Topos der ›pietistischen‹ Heuchelei bzw. des Widerspruchs zwischen Reden und Handeln, den Nicolai bereits in seinen Jugenderinnerungen an Halle 64 Vgl. Schulte-Sasse, Friedrich Nicolai, S. 336. – Die Diagnose, die Nicolai den Romantikern ausstellt, ließe sich ohne Weiteres auf die Pietistenfiguren übertragen: »Durch diese Philosophie […] wird den jungen Herren die wirkliche Welt so gemein und niedrig vorgestellt, als ob es für ihren hohen Geist so gemein und niedrig wäre […] sie kennen zu lernen. Weil sie aber doch in der Welt leben müssen […] so werden sie mißmütig und unzufrieden, weil sie gern nur in ihrem Ich existieren, und alles danach abmessen möchten.« Nicolai, Vertraute Briefe, in: ders., »Kritik ist überall, zumal in Deutschland, nötig«, S. 148. 65 Nicolai, Sebaldus Nothanker, S. 185.

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kritisiert, war im frühen Pietismus selbst ein Kritikpunkt der Pietisten an der Orthodoxie gewesen. Doch bereits um die Jahrhundertmitte war dieser Topos so prägend für die Fremdwahrnehmung des Pietismus geworden, dass er als erstes Charakteristikum in Zedlers Großem Universal-Lexicon genannt wird.66 Die Gottschedin karikierte ihn ausführlich in ihrer Komödie Die Pietisterey im Fischbein-Rocke bereits im Jahr 1736. Reiche Nahrung erhielt er jedoch insbesondere da, wo Autoren ihre eigene Erfahrung mit erweckten Kreisen rückblickend reflektieren. So zeichnet die Selbstbiographie (1749 – 1752) Johann Christian Edelmanns (1689 – 1767),67 der sich vom Anhänger Buddeus’ zum Pietisten und weiter zum radikalen Aufklärer gewandelt hatte, mit spitzer Feder in verschiedenen Milieustudien ein ganzes Panorama so genannter ›heiligen Thorheiten‹, das Nicolais bissige Beobachtungen zu Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit in pietistischen Kreisen vorwegzunehmen scheint: »Dergleichen verkehrte Verläugnungen habe ich nach der Zeit unter den sogenannten Frommen in Menge angetroffen. Der eine hatte die Leutseeligkeit verleugnet, um einen himmlischen Mops zu agieren, der andere die Freundlichkeit, um einem abgeschiedenen Murmelthiere gleich zu seyen, der dritte die Mildigkeit, damit man ihn nicht vor einen unrechten Haushalter ansehen mögte; der vierte die Sauberkeit der Kleidung, damit Er alles vor Dreck halten möchte; der fünfte die Sparsamkeit, damit er nicht vor den andern Morgen sorgen dürfte; der sechste die Redlichkeit, damit er klug, wie die Schlangen seyn möchte; der siebte die Barmherzigkeit, damit seine Gerechtigkeit besser aussehen möchte, als der Schriftgelehrten und Pharisäer, der achte die Gerechtigkeit, damit kein Ansehen der Person bey ihm Platz haben möchte; der neunte die Sanftmuth, damit Er nicht an fremdem Joche mit den ungläubigen ziehen möchte; der zehnte die Höflichkeit, damit Er sich nicht dieser Welt gleich stellen möchte; der eilffte die Schaamhaftigkeit, damit Er den Kindern gleich werden möchte; der zwölfte die Dienstfertigkeit, damit er mit den Sündern keine Gemeinschaft haben mögte. Und wer kann alle Arten dieser verkehrten Verläugnung erzehlen?«68

Nicolai, der im Sebaldus Nothanker den »bekannten Edelmann« kurz streift,69 schließt mit seiner literarischen Figurenzeichnung an vieles an, was der Frei66 »Pietisten […] werden eigentlich alle diejenigen alten und neuen Fanatici genennet, welche den Schein eines gottseligen Wesens haben, dessen Krafft aber verläugnen. […] Denn ob sie gleich von der Pietät den Namen führen, so haben sie doch nichts weniger, als die That, indem sie vielmehr unter dem Schein der Gottseligkeit allerlei Gottlosigkeit in Lehr und Leben ausüben.« Als weitere Merkmale nennt der Artikel den Eifer für wahre Gottseligkeit, der jedoch in Hass gegen Andersdenkende umschlagen kann, Parteilichkeit, Heuchelei und Bekehrungseifer. [Anonymus], Art. ›Pietisten‹, Sp. 109 – 111. 67 Edelmann galt als einer der radikalsten Freidenker seiner Zeit und bekannte sich als einer der ersten öffentlich zu Spinoza. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in Berlin. Seine Selbstbiographie schildert seinen religiösen Werdegang durch verschiedenste religiöse separatistische Gruppen. Grossmann, Johann Christian Edelmann. 68 Edelmann, Selbstbiographie, S. 235. 69 Er weiß zu berichten, dass diesem der »Pöbel«, nachdem er »eine erbauliche Predigt wider

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denker aus seinen eigenen umfangreichen Erfahrungen berichtet, und dies gilt – bei aller parodistischen Zuspitzung – insbesondere im Hinblick auf die Psychogramme derjenigen Figuren, die zunächst lediglich als prototypische religiös verbrämte Heuchler scheinen und am Anspruch einer gelingenden gesellschaftlichen Existenz scheitern. Die Autobiographie Edelmanns ist ein Dokument, das sich neben einer Vielzahl an sozialhistorischen Beobachtungen im erweckten Milieu vor allem durch eine Ebene der selbstkritischen Reflexion auszeichnet, auf der der gereifte Erzähler teilweise äußerst selbstironisch die Windungen seines eigenen religiösen Wegs reflektiert. Dort ist die Verschränkung von Erwählungsgestus, persönlicher Unsicherheit, die sich in permanentem Sündenbewusstsein spiegelt und einer latenten Aggressivität gegenüber anderen rekurrierend thematisiert: »Ich will meine damalige Aufführung keine Tugend nennen. Denn sie rührete mehr aus einem heimlichen Stolz her, Kraft dessen ich mich, bei der Erblickung der Schwäche meines ehrlichen Pfarrers, beßer zu seyn bedünken ließ, als Er selber war, da ich doch ein Heuchler, Er im Grunde ein ehrlicher Mann war, der sich vor nichts beßers ausgeben wollte, als Er war […] Mit einem Worte, der gute Mann zeigte sich, nach dem Temperamente seiner Natur, ohne Verstellung. Ich aber affectirte einen Heiligen und widergebohrnen und schlug mich mit Denen, von diesen unnatürlichen Wörtern, hin und her gefangenen Grillen meiner Lehrer Tag und Nacht auf eine recht erbärmliche Art herum.«70

Nicolais Figuren sind typenhafter und weniger differenziert gezeichnet, doch lässt sich die psychische Disposition, die Edelmann rückblickend an sich analysiert, unschwer an Nicolais Pietistenfigur entdecken, die zwar über die Wiedergeburt doziert, aber ihre Mitmenschen abwertend behandelt. Diese psychische Dynamik liegt nach Edelmanns Erfahrungen nicht nur sämtlichen Ausprägungen individualpsychologischer ›verkehrter Verleugnung‹ als religiös grundierter Lebensuntüchtigkeit zugrunde,71 sondern sie fungiert vor allem als Motor unter religiös befeuerten Querelen, die trotz ihrer teilweise bizarren und satiretauglichen Sprache ein ernstes, gesellschaftsrelevantes Problem darstelldie Freygeister gehört hatte«, im Jahr 1748 die »Fenster einwarf« (Nicolai, Sebaldus Nothanker, S. 205). 70 Edelmann, Selbstbiographie, S. 124. 71 Zu den selbstironischen Glanzstücken zählt zweifellos die Beschreibung seines Versuchs, durch Verunstaltung seiner Kleidung dem Vorwurf zu entgehen, er mache sein gepflegtes Äußeres zum Abgott: »Nach dieser Beschneidung [sc. seiner Manschettenknöpfe], die endlich ohne Blutvergießen noch ablief, kam ich mir schon als ein kleiner Heiliger vor. Ich hätte zwar nur in den Spiegel sehen dürfen, so würde ich einen großen Narren erblickt haben. Allein die Schwärmerei hatte mir schon eingebildet, daß ich das um Christi Willen seyn müßte, und ich glaube, wenn sich Gott meiner nicht besonders angenommen hätte, so würde ich mich, mit Origine, um des Himmelreichs willen, eben so unbarmherzig, als meine Manchetten verstümmelt haben« (Edelmann, Selbstbiographie, S. 293 f.).

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ten. Und hier gewinnt auch Nicolais Darstellung der pietistischen Figuren bei aller Komik einen ernsten Unterton: »Er [Sebaldus] störte sie [die Gertrudinn] in einer sehr glücklichen Lage, denn da sie ihre heutige Ueberlegenheit über Sebaldus vermerkte, hatte sie ihn warm gehalten und war jetzt eben im Beweise begriffen, daß die dritte Posaune in der Apokalypse, die Indifferentisten bedeute, welche von Erbsünde und Wiedergeburth nichts wissen wollen, und dadurch eine bittere Religionsmengerey verursachen, dagegen Sebaldus, der aber jetzt gar nicht zum Worte kommen konnte, vermeinte, daß dadurch die französischen Atheisten angedeutet würden, welche die ersten Quellen der menschlichen Glückseligkeit vergiften.«72

Vor »Indifferentismus« und »Religionsmengerey« warnen nicht nur Bengels Ausführungen zur Apokalypse, sondern ebenso Jung-Stilling in seiner Kritik an Nicolai.73 Die ins Positive gewendete Kehrseite des Indifferentismus jedoch ist im Kontext der Zeit die religiöse Toleranz und mithin die gesellschaftliche Befriedung, die jeder Verbesserung des Lebens, in deren Dienst der Aufklärer Nicolai immerhin sein Lebenswerk stellte, verschwistert war. In dieses Projekt fügt sich seine unermüdliche Kritik am notorischen (Erb-) Sündenbewusstsein, am Höllendiskurs und an religiös grundierter Rechthaberei nahtlos ein. Diese bestehen nicht vor einer kritischen Haltung der Weltaneignung. Die Waffen der Satire entkleiden die ehrfurchtsheischende Sprache ihrer Autorität und zielen entsprechend auf eine Befreiung von der Angst. Hierin dürfte das eigentlich Aufklärerische der unbekümmert respektlosen, karikierenden Portraits pietistischer Typen liegen: in der Anstiftung zu befreiendem Lachen. Wie ›aufklärerisch‹ dieses Lachen sein kann, hatte Edelmann in seiner Selbstbiographie beschrieben, als er nach einem langen Weg der Emanzipation – ähnlich wie Sebaldus – den Gottesdienst in der Natur entdeckt: »Wir wußten Anfangs nicht, daß das der beste, nützlichste und vergnügenste Gottesdienst sey, lerneten es aber bald aus der angenehmen Empfindung, wodurch bisweilen alle Sinne auf einmal aufs süßeste gerühret, und das Gemüt in der majestätischen Stille, die es umgab zum Lobe des Schöpfers ermuntert wurde. Die Veränderungen, die wir bey diesem uns mehr von Gott, als Ihm von uns erzeigten Dienste genoßen, waren unzehlig, und doch alle so reitzend, daß wir uns gegen einander rechtschafen auslachten, daß wir so lange solche Narren gewesen, das todte, einförmige und abmattende Gewürcke der mancherley Secten vor einen Gott wohlgefälligen Dienst zu halten.«74

72 Nicolai, Sebaldus Nothanker, S. 409. 73 Bengel, erklärte Offenbarung Johannis, S. 195; sowie Jung-Stilling, Schleuder eines Hirtenknaben, S. 743 f. 74 Edelmann, Selbstbiographie, S. 300; sowie Nicolai, Sebaldus Nothanker, S. 347.

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Bibliographie

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Quellen

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272

Kristine Hannak

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4.2

Sekundärliteratur

Beutel, Albrecht: Aufklärung und Pietismus auf dem Weg nach Berlin. Die Figur des »Frömmlings« in Friedrich Nicolais Roman ›Sebaldus Nothanker‹ (1773 – 1776). In: Zeitschrift für Theologie und Kirche (99) 2002, S. 262 – 277. Brecht, Martin: August Hermann Francke und der Hallische Pietismus. In: ders. (Hg): Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Göttingen 1993 (Geschichte des Pietismus Bd. 1), S. 440 – 540. Breuer, Dieter : Origenes im 18. Jahrhundert. In: Seminar 31 (1985), H. 1, S. 1 – 30. Breuer, Dieter : ›Der bekräfftigte Origenes‹ – Das Ehepaar Petersen und die Leugnung der Ewigkeit der Höllenstrafen. In: Hartmut Laufhütte u. Michael Titzmann (Hg.): Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2006 (Frühe Neuzeit Bd. 117), S. 413 – 424. Gerbeth, Alfred: Engelbert vom Bruck als Aufklärer und Publizist. Würzburg 1935. Grossmann, Walter: Johann Christian Edelmann. From Orthodoxy to Enlightenment. Den Haag [u. a.] 1976 (Religion and Society Bd. 3). Kemper, Hans-Georg: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6/I: Empfindsamkeit. Tübingen 1997. Langen, August: Der Wortschatz des deutschen Pietismus. 2. erg. Aufl., Tübingen 1968. Möller, Horst: Wie aufgeklärt war die Aufklärungsforschung? Friedrich Nicolai in historiographischer Perspektive. In: Rainer Falk u. Alexander Kosˇenina (Hg.): Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung. Hannover 2008, S. 7 – 27. Schmidt, Martin: Teilhabe an der göttlichen Natur. In: ders.: Wiedergeburt und Neuer Mensch. Gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus. Bd. 2. Witten 1969 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus Bd. 2), S. 238 – 298. Schneider, Hans: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert. In: Brecht, Martin (Hg): Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Göttingen 1993 (Geschichte des Pietismus Bd. 1), S. 391 – 437. Schrader, Hans-Jürgen: Die Sprache Canaan. Pietistische Sonderterminologie und Spezialsemantik als Auftrag der Forschung. In: Hartmut Lehmann (Hg): Geschichte des Pietismus. Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Göttingen 2004, S. 404 – 427. Schrader, Hans-Jürgen: Vom Heiland im Herzen zum inneren Wort. ›Poetische‹ Aspekte der pietistischen Christologie. In: Pietismus und Neuzeit 20 (2004), S. 55 – 74.

»Heilige Thorheiten« – Pietismus und Satire in Nicolais Sebaldus Nothanker

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Julius H. Schoeps

Das Dreigestirn der Berliner Aufklärung. Eine Skizze der Freundschaftsbeziehungen zwischen Moses Mendelssohn, Gotthold E. Lessing und Friedrich Nicolai

Als »Dreigestirn« der Berliner Aufklärung sind Friedrich Nicolai, Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing in aller Historiker Munde. Dass sie zugleich auch eng befreundet waren, ist nicht selbstverständlich und gleicht einer glücklichen Fügung. Doch wer von den Freunden hat eigentlich wen, zu welchem Zeitpunkt, und an welchem Ort kennen gelernt? Zunächst sind sich wohl Lessing und Nicolai begegnet, und erst dann kam Mendelssohn offenbar hinzu. In der Forschungsliteratur zu Mendelssohn finden sich dazu zwar einige spärliche Hinweise, aber sie sind nur bedingt aussagefähig. Doch wie es scheint, hat Mendelssohn Lessing bereits im Herbst 1753 kennengelernt – und nicht erst im Frühjahr 1754, wie verschiedene Autoren bis heute behaupten.1 Vermittelt hatte die Bekanntschaft zwischen Lessing und Mendelssohn der Arzt Aron Salomon Gumpertz (1723 – 1769), von dem wir wissen, dass er nicht nur der Mentor des jungen Mendelssohn war, sondern dass er auf Grund seiner Verbindungen als Sekretär des Akademiepräsidenten Maupertuis die Möglichkeiten besaß, diesen in die gelehrten Kreise Berlins einzuführen.2 Die Freundschaftsbeziehung, die aus dieser Bekanntschaft erwuchs, ist dann bekanntlich als beispielhaft in die Literaturgeschichte eingegangen. Anlass für die erste Begegnung Mendelssohns mit Lessing, der diesem als »Herr Moses« vorgestellt wurde, war angeblich beider Leidenschaft für das Schachspiel. Gumpertz, der Lessing schon etwas länger kannte, soll diesem Mendelssohn als guten Schachspieler empfohlen haben. Ob das stimmt und ob die beiden sich dann tatsächlich regelmäßig zu Schachpartien zusammengefunden haben, ist allerdings umstritten. Belege dafür gibt es nicht. Es scheint sich wohl eher um eine Legende zu handeln, die sich gleichwohl eignete, der Freundschaft zwischen Lessing und Mendelssohn einen verklärten Sinn zu 1 Vgl. insbes. Kayserling, Moses Mendelssohn, S. 27 ff. und 53 ff.; Altmann, Moses Mendelsohn, S. 65; sowie Engel-Holland, Die Bedeutung Moses Mendelssohns für die Literatur des 18. Jahrhunderts, S. 111 ff. 2 Vgl. Engel-Holland, Einleitung, in: Mendelssohn, JubA, Bd. 4, S. XIf.; sowie dies., The Emergence of Moses Mendelssohn as Literary Critic, S. 61 ff.

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geben. Die Legende, die sich über die Jahrzehnte gehalten hat, fand durch das berühmte Gemälde von Moritz Oppenheim aus dem Jahre 1856, welches Mendelssohn mit Lessing und Lavater beim Schachspiel zeigt, eine Art bildhafter Bestätigung. Ein Beweis für die Authentizität, dass die beiden beim Schachspiel tatsächlich zusammengesessen haben, ist das Gemälde allerdings nicht. Bis heute kann auch nicht mit letzter Bestimmtheit gesagt werden, wann Moses Mendelssohn zum ersten Mal mit Friedrich Nicolai zusammentraf. Das hängt zum einen damit zusammen, dass verschiedene Versionen im Umlauf sind, wie es zur ersten Begegnung gekommen ist. Nach der einen soll Mendelssohn, vermittelt wahrscheinlich durch Lessing, Nicolai im Verlag C. F. Voss angetroffen haben. Zufällig, so heißt es, hätte er dort die Aushängebogen von Nicolais Briefen über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland3 gesehen und bei dieser Gelegenheit deren jungen Verfasser kennen gelernt. Die andere Variante, die sich durch die Literatur zieht, ist jene, dass sich Mendelssohn und Nicolai im ›Montagsclub‹ beziehungsweise in dem von Friedrich Gabriel Resewitz und Johann Georg Müchler begründeten ›Gelehrten Kaffeehaus‹ begegnet sind. Für die letztere Variante spricht, dass in Zirkeln wie dem ›Kaffeehaus‹ Gelehrte wie Gumpertz, Euler und andere Berühmtheiten der Zeit verkehrten, die es gerade als ihre Aufgabe ansahen, junge Begabungen und Talente um sich zu scharen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu fördern. Lessing, Mendelssohn und Nicolai haben zweifellos zum Kreis der Auserwählten gehört.

1.

»Die allmächtige Macht der Freundschaft«

Lessing und Mendelssohn waren gleichaltrig, Nicolai einige Jahre jünger. Sie fanden, nachdem sie sich Mitte der 1750er Jahre kennen gelernt hatten, Gefallen aneinander und waren sehr bald ein unzertrennliches Dreiergespann. Wenigstens zwei- oder dreimal, heißt es, seien sie pro Woche zusammengetroffen, entweder zu morgendlichen Gesprächen im Garten Nicolais oder abends in der ›Baumannshöhle‹, einem damals bekannten Berliner Weinlokal, das nicht weit entfernt von Nicolais Haus in der Brüderstraße lag. Zweck dieser regelmäßigen Zusammenkünfte war es, miteinander zu reden, sich über Gelesenes auszutauschen und sich gegenseitig Texte vorzulesen, an denen man gerade arbeitete. Zu dritt waren die Herren allerdings nur dann, wenn sich Lessing nicht gerade auf Reisen befand. Doch in den Briefen, die sie miteinander wechselten, wird deutlich, dass es relativ gleichgültig war, ob einer der drei mitunter anwesend war oder nicht. Im Geiste war der Abwesende immer anwesend. 3 Nicolai, Briefe, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 53 – 160.

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Die ›Unterredungen‹ zu dritt, die zumeist um metaphysische, ästhetische und ethische Fragen kreisten und von Herbst 1754 bis Herbst 1755 wöchentlich stattfanden, hat Nicolai im Rückblick besonders gewürdigt. »Jeder von uns«, heißt es in seiner Schrift Über meine gelehrte Bildung, »war dogmatisch in seinen Principien, oder wenn ich modischer reden soll, kritisch; denn wahrlich, wir hatten unsere Principien ernstlich untersucht und geprüft, – aber in der Untersuchung aller der Fragen, welche der Gegenstand unserer Unterredungen waren, im höchsten Grade skeptisch.«4 Auch über die speziellen Rollen, die jeder der Freunde bei den Zusammenkünften spielte, hat uns Nicolai, der, wie es heißt, das »organisatorische Zentrum des Freundeskreises« (Willi Jasper)5 bildete, gut ins Bild gesetzt. Mendelssohn lebte damals, so Nicolai, hauptsächlich in einer Welt »spekulativer Ideen«.6 Mit historischem Denken hätte er nur wenig im Sinn gehabt, dagegen sogar so etwas wie »Widerwillen« entwickelt. Stärkere Berührungspunkte habe Nicolai deshalb anfänglich zu Lessing gehabt, was wohl, nach Ansicht Nicolais, mit der »beiderseitigen Liebe zu Literatur und Bücherkenntnis«7 zusammengehangen habe. Andrerseits stand Lessing Mendelssohn vermutlich näher als Nicolai, was mit den von ihm vertretenen Positionen zusammenhing, die nicht so entfernt von denjenigen Mendelssohns waren. Lessings 1749 auf Anregung von Gumpertz entstandenes Lustspiel Die Juden8, das sich für die entrechteten und drangsalierten Juden einsetzte und ihre Gleichberechtigung mit der übrigen Bevölkerung forderte, dürfte Mendelssohn stark für ihn eingenommen haben und wohl auch der Grund dafür gewesen sein, dass er die Nähe zu Lessing bewusst suchte. Wie eng die Freundschaftsbeziehung zwischen Mendelssohn und Lessing war, zeigte sich im Juni 1754, als in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen aus der Feder des Göttinger Orientalisten Johann David Michaelis (1717 – 1791) eine Kritik an Lessings Juden erschien.9 Mendelssohn fühlte sich damals verpflichtet, dem Freund unterstützend zur Seite zu stehen. Er tat dies in Form eines Briefes an Gumpertz, der eine Antwort auf Michaelis’ Besprechung darstellte. Mendelssohn nahm sich im Besonderen die Behauptung von Michaelis vor, es sei unwahrscheinlich, ja geradezu unmöglich, dass sich unter den Juden ein »so edler Charakter« befinde,10 wie er in Lessings Stück vorgestellt werde. Darauf entgegnete Mendelssohn, dass kein Mensch, der noch ein irgendwie geartetes Gefühl der Redlichkeit in sich habe, einer ganzen Nation die 4 5 6 7 8 9 10

Nicolai, Ueber meine gelehrte Bildung, S. 42. Jasper, Lessing, S. 106. Nicolai, Ueber meine gelehrte Bildung, S. 40. Ebd. Lessing, Die Juden, in: ders., Lessings Schriften, Bd. 4, S. 225 – 312. Michaelis, Der vierte Theil von Hrn. Leßings Schriften […], S. 620 – 622. Ebd., S. 622.

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Wahrscheinlichkeit absprechen könne, »einen einzigen ehrlichen Mann aufweisen zu können.« Bei dieser Kritik beließ es Mendelssohn in seiner Entgegnung jedoch nicht. »Ist es nicht genug«, so die Frage, die er sich stellte, »dass wir den bittersten Haß der Christen auf so manche grausame Weise empfinden müssen; sollen auch diese Ungerechtigkeiten wider uns durch Verleumdungen gerechtfertigt werden? Man fahre fort uns zu unterdrücken, man lasse uns beständig mitten unter freyen und glückseligen Bürgern eingeschränkt leben, ja man setze uns ferner dem Spotte und der Verachtung aller Welt aus, nur die Tugend den eintzigen Trost bedrängter Seele, die einzige Zuflucht der Verlassenen, such man uns nicht gänzlich abzusprechen«.11

2.

Das Entstehen einer literarischen Partnerschaft

Aus der sich entwickelnden Freundschaft zwischen Mendelssohn, Lessing und Nicolai erwuchs bald eine literarische Zusammenarbeit oder besser Partnerschaft. Mendelssohn inspirierte Lessing durch kluge Fragen und Stellungnahmen. Lessing wiederum beeindruckte Mendelssohn durch seinen Intellekt und dadurch, dass er dafür gesorgt hatte, dass dessen Philosophische Gespräche12 – wohlgemerkt ohne Mendelssohns Wissen – im Druck erschienen. Nicolai war schließlich derjenige, der für die beiden Freunde Lessing und Mendelssohn zum Ansprechpartner wurde, wenn es galt, irgendwelche kniffligen praktischen Probleme zu lösen. Im Fall der Philosophischen Gespräche war man in der Öffentlichkeit zunächst davon überzeugt, dass Lessing und nicht Mendelssohn der Verfasser der Abhandlung sei, bis Mendelssohn sich dann bekanntlich in seinem Brief vom 7. September 1755 an Michaelis als Verfasser zu erkennen gab. In dem Brief, der unterschrieben war mit »Dero beständiger Verehrer Moses«, bemerkte er, er sei ein Jude, »dessen zeitliche Umstände es erfordern, niemandem außer sehr wenigen Freunden für etwas mehr als ein Buchhalter bekandt zu seyn«.13 Lessing hatte Michaelis zuvor bereits darüber in Kenntnis gesetzt, dass es sich bei dem Autor nicht um irgendjemanden, sondern um einen hoch gebildeten Juden handele, um einen, wie er meinte, »zweyten Spinoza«. Am 16. Oktober 1754 hatte er Michaelis geschrieben: »Er ist wirklich ein Jude, ein Mensch von etlichen zwanzig Jahren, welcher ohne alle Anweisung, in Sprachen, in der Mathematik, in der Weltweisheit, in der Poesie, eine 11 Mendelssohn an Gumpertz, Ende Juni 1754, in: Mendelssohn, JubA, Bd. 11, S. 15. 12 Mendelssohn, Philosophische Gespräche. 13 Mendelssohn an Michaelis, 7. September 1755, in: Mendelssohn, JubA, Bd. 11, S. 15 f.

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große Stärke erlangt hat. Ich sehe ihn im voraus als eine Ehre seiner Nation an, wenn ihn anders seine eigenen Glaubensgenossen zur Reiffe kommen lassen, die allzeit ein unglücklicher Verfolgungsgeist wider Leute seines gleichen getrieben hat«.14

Die Partnerschaft bewährte sich, als Lessing zusammen mit Mendelssohn 1755 Front gegen die Königliche Akademie in Berlin machte. Diese hatte einen Preis für die beste Arbeit zum Thema »Das philosophische System des Alexander Pope« ausgeschrieben.15 Insbesondere sollte auf die Frage eingegangen werden, ob der englische Dichter im Recht gewesen sei, als er in seinem Essay on Man den Ausspruch tat: »Whatever is, is right« und »All is good«. Die Wahl war auf dieses Thema gefallen, weil Maupertuis, Pr¦montval und andere Akademiemitglieder sich von den Einsendungen offensichtlich eine Kritik der Leibnizschen Philosophie und deren Grundlagen erhofften. Sowohl Lessing wie auch Mendelssohn hielten das Thema wie auch den ganzen Wettbewerb für unsinnig. Mendelssohn ärgerte sich, dass man der Schule, zu der er sich bekannte, zu Leibe rücken wollte. Lessing wiederum erblickte in dem Wettbewerb eine Möglichkeit, sich über die Ignoranz der Akademiemitglieder lustig zu machen. Beide beschlossen, das gestellte Thema in einer Schrift unter dem Titel Pope, ein Metaphysiker! satirisch abzuhandeln. Die Schrift, die Lessing und Mendelssohn gemeinsam verfassten, wurde von ihnen jedoch nicht für den Wettbewerb eingereicht. Lessing hielt sie zurück, veröffentlicht wurde sie erst im Herbst 1755 – angeblich weil Mendelssohn nicht wollte, dass sein Name als Mitverfasser genannt werde. Als Lessing im Oktober 1755 Berlin in Richtung Leipzig verließ, hatte er Mendelssohn das Versprechen abgenommen, Rousseaus berühmte Schrift Discours sur l’origine et la fondements de l’in¦galit¦ parmi les hommes (1755) ins Deutsche zu übersetzen und mit einem kritischen Kommentar zu versehen.16 Bereits Ende Dezember 1755 schrieb dieser an Lessing: »Die Übersetzung vom Rousseau ist bald fertig. Noch 3 Bogen sind ohngefähr zu drucken. Der Schwanz ist nicht so fett, wie sie aus Gefälligkeit glauben wollen. Ich kann in sehr wenigen Stücken mit Rousseau uneins seyn […].«17 Von Bedeutung ist, dass im Anhang zur deutschsprachigen Fassung der Rousseauschen Schrift ein »Sendschreiben« an Lessing abgedruckt war, das nicht nur wegen seiner Kritik am kulturfeindlichen Pessimismus des Genfer Philosophen interessiert, sondern auch deshalb, weil es ein frühes Zeugnis der 14 Lessing an Michaelis, 16. Oktober 1754, in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 17, S. 40. 15 Vgl. hierzu JubA, Bd. 2, S. 46. 16 Sie erschien im Verlag von Christian Friedrich Voß unter dem Titel: Johann Jacob Rousseau, Bürgers zu Genf, Abhandlung von dem Ursprunge der Ungleichheit unter den Menschen, und worauf sie sich gründet: ins Deutsche übersetzt, mit einem Schreiben an den Herrn Magister Leßing und einen Briefe Voltairens an den Verfasser vermehrt. Berlin 1756. 17 Mendelssohn an Lessing, 26. Dezember 1755, in: Mendelssohn, JubA, Bd. 11, S. 27.

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Jahrzehnte andauernden Mendelssohn-Lessingschen Freundschaft ist. Die Anrede »Theuerster Freund« und die Grußformel »Ihr beständiger Freund« belegen die Vertrautheit des Umgangs. »Verzeihen Sie, bester Freund, meine Unachtsamkeit!«, heißt es an einer Stelle des an Lessing gerichteten »Sendschreibens«. »Welch ein Unglück, wenn Sie hieraus die Folge zögen, dass ich der Freundschaft abgestorben sey! Jedoch Sie können dieses nicht. Mein empfindliches Hertz ist Ihnen allzu sehr bekandt, und Sie wissen, wie weit es dem Gefühle der Freundschaft offen steht. Sie haben allzu oft nicht ohne Vergnügen bemerket, wie viel Macht ein freundschaftlicher Blick von Ihnen auf mein Gemüthe gehabt hat; wie er vermögend gewesen ist, allen Gram aus meiner Brust zu verbannen, und mein Gesicht plötzlich mit fröhlichen Mienen zu beziehen. Sollte Ihre kurze Abwesenheit mein Hertz in einen Stein verwandelt haben? Nein, theuerster Leßing! Die allmächtige Macht der Freundschaft hat mich in Verwirrung gesetzt«.18

3.

Das Bemühen um die Schulung der eigenen Denk- und Kritikfähigkeit

Nach dem Weggang Lessings aus Berlin im Herbst 1755 schloss sich Mendelssohn enger an den um vier Jahre jüngeren Friedrich Nicolai an, den er wegen seiner Belesenheit und Bildung sehr schätzte. Wie gut die beiden sich von Anfang an verstanden, darüber existieren verschiedene Belege. »Gegen das Ende des Jahres 1754«, berichtete Nicolai beispielsweise im Rückblick, »lernte ich Lessing und kurz darauf durch ihn Moses Mendelssohn kennen. Ich ward bald mit diesem, in der höchsten Bedeutung des Worts, edlen und vortrefflichen Mann genauer bekannt, und in wenigen Monaten wurden wir vertraute Freunde […].«19 Geradezu bewundernd klingt ein frühes biographisches Zeugnis aus der Feder Nicolais über Mendelssohn im Frühjahr 1759, das in einem Brief an den Dichter Johann Peter Uz nachzulesen ist. »Herr Moses«, heißt es darin, »hält sich zur Synagoge und warum sollte er dies nicht thun? – Er ist eines der grösten Genies, die Deutschland ie gehabt, die Geschichte seiner Zunahme in den Wißenschaften überzeugt mich recht sehr von der unnützl[ich]keit unseres Universitätsstudirens – Herr Moses hat keiner mündlichen Unterweisung etwas zu danken. Er ist aus Deßau gebürtig, und konnte bis in sein vierzehntes Lebensjahr keine Sprache als hebräisch, ia nicht einmahl deutsch lesen«.20 18 Mendelssohn an Lessing, in: Mendelssohn, JubA, Bd. 2, S. 90. 19 Nicolai, Ueber meine gelehrte Bildung, S. 40. 20 Nicolai an Johann Peter Uz, 26. März 1759, in: Engel, Friedrich Nicolai an Johann Peter Uz, S. 26.

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Nicolai genoss den vertrauten Umgang mit Mendelssohn, wie einem Brief an Lessing deutlich zu entnehmen ist: »Herr Moses, der mir Ihre Abwesenheit etwas erträglicher macht, würdigt mich seiner Freundschaft. Ich habe ihm die vergnügtesten Stunden des vergangenen Winters und Sommers zu danken und bin, so oft wir auch zusammengewesen sind, niemals von ihm gegangen, ohne entweder besser oder gelehrter zu werden«.21 Wie sehr sich Mendelssohn und Nicolai damals angenähert haben, darüber sind wir zum einen durch Nicolai, zum anderen aber auch durch Mendelssohn informiert. Im Sommer 1756 schrieb Mendelssohn beispielsweise an Lessing: »Ich besuche Herrn Nicolai sehr oft in seinem Garten […] [Ich liebe ihn wirklich, theuerster Freund! Und ich glaube, dass unsre Freundschaft noch dabey gewinnen muß, weil ich in ihm Ihren wahren Freund liebe]. Wir lesen Gedichte, Herr Nicolai liest mir seine eigenen Ausarbeitungen vor, ich sitze auf meinem kritischen Richterstuhl, bewundre, lache, billige, tadle, bis der Abend hereinbricht. Dann denken wir noch einmal an Sie und gehen, mit unsrer heutigen Verrichtung zufrieden, voneinander.«22

Nicolai erinnerte sich später, dass die »Unterredungen« für beide lehrreich gewesen seien: »Ich hatte dabey den […] Vortheil, dass ich durch solchen Gedankenwechsel früh lernte, mich in die Denkungsart anderer zu versetzen, dass ich früh lernte Widerspruch meiner Gedanken zu ertragen, und dadurch meine eigenen Gedanken zu berichtigen und weiter zu entwickeln«.23 Der Umgang mit Nicolai ist es wohl gewesen, der Mendelssohns Sinn für eigene poetische Versuche weckte. Am 29. April 1757 schickte er Lessing das Fragment eines selbst verfassten »didactischen« Gedichtes (»Jetzt liegt der träge Schwarm, von steten Qualen matt / Nachlässig hingestreckt auf weicher Lagerstatt«),24 das den Freund zu einer kaum verhaltenen Kritik anregte. Lessing sprach nach der Lektüre des zugesandten Gedichtes unverblümt aus, dass Mendelssohn künftig wohl besser beraten sei, seine Zeit anstelle mit Poesie lieber mit der Philosophie zuzubringen. Mendelssohn hat sich diesen Rat zu Herzen genommen, denn er befasste sich von da ab nicht mehr mit eigenen Dichtungen, sondern neben philosophischen Abhandlungen nur noch mit Übersetzungen und dem Schreiben von Predigten und synagogalen Hymnen.

21 22 23 24

Nicolai an Lessing, 31. August 1756, in: Mendelssohn, JubA, Bd. 11, S. 57. Mendelssohn an Lessing, 2. August 1756, in: Mendelssohn, JubA, Bd. 11, S. 55. Nicolai, Ueber meine gelehrte Bildung, S. 41. Mendelssohn an Lessing, 29. April 1757, in: Mendelssohn, JubA, Bd. 11, S. 119.

282

4.

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Der Nicolaische Einfluss auf Mendelssohn

Mendelssohn und Nicolai waren sich einig in dem Bemühen, gemeinsam ihren Bildungshorizont zu erweitern. Bei den »Unterredungen«, zu denen sie sich in regelmäßiger Folge zusammenfanden, versuchten beide, ihre jeweilige Denkund Kritikfähigkeit zu schulen. »Es war ihm […] sehr angenehm«, erinnerte sich Nicolai später, »an mir jemanden zu finden, mit dem er sich über seine Lieblingsmaterien unterhalten konnte. Ich war, so wie er, dem System [gemeint ist hier das Cartesianische System, J. S.] nicht ausschließlich ergeben, also gaben unsere beiderseitige ganz verschiedene Zweifel vom Anfang an viel Gelegenheit zum Disputieren, wodurch uns beiden viele Ideen heller wurden […].«25

Mendelssohn, der sich nicht nur das Hebräische und das Latein, sondern im Selbststudium auch von Gumpertz das Englische und das Französische angeeignet hatte, bemühte sich, angeregt und unterstützt durch Nicolai, ebenfalls Griechisch zu erlernen. Christian Tobias Damm (1699 – 1778), der Direktor des Köllnischen Gymnasiums in Berlin, nahm sich schließlich beider an und brachte ihnen die Grundlagen der griechischen Sprache bei. Unter seiner Anleitung lasen sie zusammen den Homer, aber auch Platon.26 Angeblich, so heißt es, hätte Mendelssohn sich in kürzester Zeit die Fähigkeit angeeignet, die Texte der griechischen Philosophen im Urtext zu lesen. Mendelssohn wiederum war es, der Nicolai an philosophische und mathematische Fragestellungen heranführte und ihn für die Philosopheme Shaftesburys, Humes, Spinozas und Newtons interessierte. »Ein Jahr lang« hätten sie, äußerte sich Nicolai später, »eine fortdauernde Unterhaltung […] über Newton’s Principia philosophiae naturalis mathematica« geführt, eine Unterhaltung, »welche wohl Lehrstunden gleich geschätzt ja vorgezogen zu werden verdienten; denn ich konnte durch meinen Freund alles was mir dunkel war sogleich erläutert, meine Zweifel sogleich aufgelöset sehen«.27 Nicolai berichtet auch, dass es Mendelssohn war, der ihn auf seine Bitten hin in die jüdische Mystik und in die Welt der Kabbala und der Kabbalisten einführte. »Er setzte sehr einleuchtend auseinander«, bemerkte Nicolai im Rückblick, »daß das fremde Ansehen der Sätze dieser orientalischen Philosophen und ihre Dunkelheit, aus der Armuth der hebräischen Sprache im Ausdrucke phi-

25 Ebd. 26 Vgl. Nicolai, Etwas über den verstorbenen Rektor Damm und Moses Mendelssohn, S. 338 – 363. 27 Nicolai, Ueber meine gelehrte Bildung, S. 29.

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losophischer Begriffe, verbunden mit den im Oriente gewöhnlichen Bildern, welche unkultivirten Sprachen so eigen sind, entstanden«.28 Nicolai, der sich sein Leben lang für das Judentum, die hebräische Sprache und die Herkunft und Bedeutung bestimmter hebräischer Wörter interessierte, teilte mit Mendelssohn die Ansicht, nicht verstandene »allegorische[] Bilder« aus der Bibel hätten so manchen christlichen Theologen zum »vollständigen Narren« gemacht.29 Wie sehr er um Kenntnisse auf dem Feld der hebräischen Sprache und der biblischen Etymologie bemüht war, zeigt eine Anfrage, die er an den mit ihm ebenfalls befreundeten Mendelssohn-Schüler David Friedländer viele Jahre nach Mendelssohns Tod richtete. Auf die Anfrage Nicolais, ob die Namen »Dismas« und »Tismas« tatsächlich biblischer Herkunft seien, hatte Friedländer diesem geantwortet: »Hebräisch sind die Nahmen Dismas und Tismas gewiß nicht. Zu den Zeiten Jesu war die ächt hebräische Sprache wahrscheinlich völlig ausgestorben, denn man findet im ganzen Talmud keinen einzigen Nahmen, der in der H. Schrift vorkommt. Die Nahmen, so wie die Sprache überhaupt, sind ein Gemisch von aramäisch-chaldäisch und rabbinisch […].«30

5.

Die Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste

Nicolai ist immer stolz darauf gewesen, Mendelssohn als Mitarbeiter für die von ihm 1756 gegründete Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste angeworben zu haben. »Er [Moses]«, teilte Nicolai Lessing am 31. August 1756 mit, »hat die Gefälligkeit für mich gehabt, ein Mitarbeiter an der Bibliothek seyn zu wollen: eine Gefälligkeit, von der ich immer mehr einsehe, wie nützlich sie mir und dem Publicum seyn wird«.31 Die Bibliothek, die erste der drei von Nicolai gegründeten Zeitschriften, sollte der »Beförderung der schönen Wissenschaften und des guten Geschmacks unter den Deutschen« dienen. Im Gegensatz zu den existierenden und hausbacken anmutenden moralischen Wochen- und Monatsschriften dachte Nicolai daran, mit der Bibliothek nicht nur einen kritischen Blick auf die Gegenwartsliteratur zu werfen, sondern damit auch ein Forum für Malerei, Kupferstich, Bildhauerei, Architektur, Musik und Ballett zu schaffen. 28 Ebd., S. 43. 29 Ebd., S. 44. 30 David Friedländer an Friedrich Nicolai, 13. März 1802, Nachlass Nicolai, Bd. 23, Staatsbibliothek Berlin – Preußischer Kulturbesitz. 31 Nicolai an Lessing, 31. August 1756, in: Mendelssohn, JubA, Bd. 11, S. 57.

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Warum Nicolai sich so stark um Mendelssohn als Mitarbeiter für die Bibliothek bemühte, hat Eva J. Engel ausführlich dargelegt.32 Demnach hat Nicolai Mendelssohn nach der Abreise Lessings nach Leipzig überredet, sich mit ihm zusammen der Literaturkritik zuzuwenden. Das war für Mendelssohn insofern kein Problem, als er schon vorher ein ausgeprägtes Interesse an Neuerscheinungen entwickelt hatte, was seine damalige Mitarbeit an der Schrift Pope, ein Metaphysiker! (1755) und seine Rousseau-Übersetzung (1755) belegen. Es ist sogar behauptet worden, dass die Bibliothek, die unter Aufsicht Lessings in Leipzig erschien, ihr Bestehen und ihren Ruf hauptsächlich Mendelssohn zu verdanken habe, er sei eigentlich die »Seele des literarischen Unternehmens« gewesen.33 Allerdings wäre es verkürzt anzunehmen, Mendelssohn hätte nur aus »Gefälligkeit« Nicolai gegenüber an der Bibliothek mitgearbeitet. Es deutet alles darauf hin, dass es ihm einen gewissen Spaß bereitet hat, Front gegen den herrschenden Literaturbetrieb zu machen. Den Briefen an Lessing lässt sich entnehmen, wie Mendelssohn schließlich Nicolais Drängen nachgab. »Ich bekomme«, heißt es in dem Brief Mendelssohns an Lessing vom 2. August 1756, »einen ziemlichen Ansatz zu einem Belesprit. Wer weiß, ob ich nicht gar einst Verse mache? Madame Metaphysik mag es mir verzeihen. Sie behauptet, die Freundschaft gründe sich auf eine Gleichheit der Neigungen und ich finde, dass sich, umgekehrt, die Gleichheit der Neigungen auch auf die Freundschaft gründen könne. Ihre und Nicolais Freundschaft hat es bis dahin gebracht, dass ich dieser ehrwürdigen Matrone einen Theil meiner Liebe entzogen, und ihn den schönen Wissenschaften geschenkt habe«.34 Die vier Bände der Bibliothek, die in den Jahren zwischen 1757 und 1759 unter der Ägide von Nicolai und Mendelssohn erschienen, enthielten hauptsächlich Texte von Nicolai, Lessing und Mendelssohn. Aus der Feder des Letzteren stammen insgesamt 21 Abhandlungen, zumeist Besprechungen von Neuerscheinungen auf dem Gebiet der Literatur und Ästhetik,35 sowie drei Essays, unter anderen die Betrachtungen über die Quellen und Verbindungen der schönen Wissenschaften und Künste.36 Die Zahl der Veröffentlichungen Lessings in der Bibliothek war im Vergleich zu jener von Mendelssohn kleiner, die von Nicolai hielt sich in ungefähr die Waage mit denen Mendelssohns. Von Nicolai finden sich in der Bibliothek unter anderem einige Besprechungen zu Goldonis Le Comedie, eine Besprechung von Klopstocks Messias, Rezensionen zu einigen Gedichtbänden (J. D. Leyding, 32 33 34 35

Vgl. Engel, Einleitung, in: Mendelssohn, JubA, Bd. 4, S. XXIVff. Kayserling, Moses Mendelssohn, S. 101. Mendelssohn an Lessing, 2. August 1756, in: Mendelssohn, JubA, Bd. 11, S. 55. Vgl. hierzu Engel-Holland, Die Bedeutung Moses Mendelssohns für die Literatur des 18. Jahrhunderts, bes. S. 135 f. 36 Mendelssohn, Betrachtungen über die Quellen.

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Kleist, Dusch, Vergil u. a.) sowie einige Abhandlungen zu Veröffentlichungen, die sich mit Aspekten der Malerei befassten (u. a. C. L. von Hagedorn, J. K. Füßli). Nicolai war mit seinem Mitstreiter Mendelssohn sehr zufrieden, wie aus einigen seiner Bemerkungen geschlossen werden kann, die er gegenüber Lessing in Briefen machte. Mendelssohn sei zwar kein Kenner der zeitgenössischen Literatur und des Theaters, verstehe es aber, in seinen Abhandlungen, die er für die Bibliothek schreibe, aus dem Blickwinkel des Philosophen, der über die »Schönheit«, die »Vollkommenheit« und über die »Kunst als Nachahmung der Natur« nachdenke, Akzente zu setzen. Nicht nur Lessing und Nicolai, sondern auch Schriftsteller und Literaten wie der Halberstädter Aufklärungsschriftsteller Ludwig Gleim und der Dichteroffizier Ewald von Kleist haben sich bewundernd über Mendelssohns Besprechungen geäußert. Sie sahen in ihm den ›Kopf‹ der Bibliothek und hielten dessen Kritiken für bemerkenswert, auch wenn sie in dem einen oder anderen Fall anderer Meinung als Mendelssohn waren. Sie zeigten sich zwar erstaunt darüber, dass es gerade ein Jude war, der dezidiert zu Fragen der Literatur Position bezog. Das hinderte sie aber nicht, seine schriftstellerische Begabung neidlos anzuerkennen.37 Bei aller Wertschätzung, die man ihm entgegenbrachte, dürfte es einige der Leser der Bibliothek aber irritiert haben, dass Mendelssohn dezidiert Kritik an Übersetzungen aus dem Englischen, Französischen, Lateinischen und Hebräischen übte.38 Unverständnis löste es aus, dass ein Jude den Anspruch erhob, das Gefühl für die Schönheiten einer Sprache zu besitzen. So mancher Zeitgenosse empfand deshalb Mendelssohns Einlassungen als Anmaßung und wollte nicht akzeptieren, dass er das »verdorbene Deutsch« und die »ungelenke Prosa« von Autoren und Übersetzern bemängelte.

6.

Der Briefwechsel über den Zweck des Trauerspiels

Seit 1756 entwickelte sich zwischen Nicolai und Mendelssohn in Berlin sowie Lessing in Leipzig der berühmt gewordene Ästhetische Briefwechsel,39 zu der Nicolais in der Bibliothek erschienene Abhandlung über das Trauerspiel den 37 Vgl. Berwin, Moses Mendelssohn im Urteil seiner Zeitgenossen, S. 17. 38 Vgl. Engel-Holland, Die Bedeutung Moses Mendelssohns für die Literatur des 18. Jahrhunderts, S. 142 f. 39 Vgl. Petsch, Lessings Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai über das Trauerspiel, S. XXXVII ff. und S. 43 ff.; sowie Schillemeit, Lessings und Mendelssohns Differenz, S. 79 – 94.

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eigentlichen Anstoß gegeben haben soll.40 Letzteres ist allerdings umstritten geblieben. So behauptet beispielsweise Erich Schmidt, es seien Mendelssohns Briefe über die Empfindungen gewesen, die zu dieser bemerkenswerten Korrespondenz führten.41 Doch ungeachtet ihrer Anfänge und Hintergründe ging es in der Sache nicht um eine x-beliebige Auseinandersetzung, sondern um die Erneuerung des Theaters und darum, wie ein zeitgemäßes Drama aufgebaut sein sollte. Nicolai hatte das in Bezug auf das Trauerspiel in einem Brief an Lessing vom 31. August 1756 markant zusammengefasst. Der Zweck des Trauerspiels, erklärte er, bestehe »in der Erregung der Leidenschaften«.42 Im Einzelnen kann der damals geführte Streit der drei Freunde zum Thema »Trauerspiel« hier nicht nachgezeichnet werden. Dieser Disput, der in die Literaturgeschichte eingegangen ist, hat zweifellos Wegmarken gesetzt. Generationen von Literaturwissenschaftlern und Literaturkritikern haben sich bis in unsere Tage von dem damals verhandelten Thema faszinieren lassen und sich mit immer neuen Interpretationsvarianten zu Wort gemeldet. Uns interessiert in diesem Zusammenhang nur, inwieweit dieser Streit, von dem wir wissen, dass er zu keiner Einigung führte, sich konstitutiv und prägend auf die weitere Entwicklung der Freundschaftsbeziehungen zwischen Lessing, Mendelssohn und Nicolai ausgewirkt hat. Hat es sich um eine Debatte unter Gleichgesinnten gehandelt, die sich der strittigen Erörterung eines ästhetischen Problems voller Leidenschaft verschrieben hatten? Oder war es schlicht eine Auseinandersetzung unter guten Freunden, eine Art intellektuelles Kräftemessen, in dem sich die Beteiligten vor allem deswegen anstrengten, um sich so gegenseitig noch ihre Zuneigung und Hochachtung zu bekunden? Fest steht, dass sowohl Lessing als auch Mendelssohn der Briefwechsel, das Hin und Her der Meinungen, ein großes intellektuelles Vergnügen bereitet hat. »Sie sehen«, schrieb Mendelssohn im Januar 1757 an Lessing, »wie weit ich es zu treiben gedenke. Ich sage, wir hätten den Streit erst angefangen, da Sie ihn vielleicht schon geendigt zu haben glauben. Jedoch metaphysische Streitigkeiten sind nicht so bald entschieden. An logischen Fechterstreichen darf es uns niemahls fehlen«.43 Dass auch Lessing Gefallen an der Auseinandersetzung fand, geht aus mehreren Stellen im Briefwechsel hervor. Wie sehr er Mendelssohn als Freund schon schätzte und seine Ansichten akzeptierte, die bis dahin geführte Auseinandersetzung sah er erst als Anfang der Debatte an. Das macht ein Brief deutlich, den er am 2. Februar 1757 an Mendelssohn schrieb: 40 41 42 43

Nicolai, Abhandlung vom Trauerspiele, S. 17 – 68. Vgl. Schmidt, Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften, Bd. 1, S. 322. Nicolai an Lessing, 31. August 1756, in: Mendelssohn, JubA, Bd. 11, S. 58. Ebd., S. 98.

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»Ich glaube es eben so wenig, als Sie, dass wir bis jetzt in unserem Streite viel weiter, als über die ersten Gränzen gekommen sind. Haben Sie aber auch wirklich so viel Lust, als ich, sich tiefer hinein zu wagen, und dieses unbekannte Land zu entdecken, wenn wir uns auch hundertmahl vorher verirren sollten? Doch warum zweifele ich daran? Wenn Sie es auch nicht aus Neigung thäten, so würden Sie es aus Gefälligkeit für mich thun.«44

Nicolai, der Dritte im Bunde, welcher die Debatte durch ein in der Bibliothek ausgeschriebenes Preisausschreiben und durch seine Abhandlung über das Trauerspiel wesentlich befeuert hatte, spielte dann in der Auseinandersetzung eher eine marginale Rolle. Er war zwar derjenige, der mit der antiquierten Theorie Gottscheds, welcher nur eine Besserung der Sitten als einzigen Zweck der Tragödie gelten lassen wollte, gebrochen hatte. Doch in die eigentliche Debatte zwischen Lessing und Mendelssohn hat er dann inhaltlich nichts weiter eingebracht. Vielmehr schlüpfte Nicolai in die Rolle eines Vermittlers, der seine Aufgabe vor allem darin sah, zwischen den Streitenden auszugleichen. Im Disput der beiden Kontrahenten Mendelssohn und Lessing hielt er sich bewusst zurück. Zu Wort meldete er sich erst wieder (»Ich muß endlich das Stillschweigen brechen«45), als alles gesagt war, die Kontrahenten ihre Positionen bezogen hatten und Mendelssohn und Lessing offenbar nicht in der Lage waren, sich auf ein Ergebnis zu einigen.

7.

Mendelssohns, Lessings und Nicolais Anteile an den Literaturbriefen

Mendelssohn, Lessing und Nicolai gelten als Begründer der modernen Literaturkritik, und das, obwohl sich alle drei zu Lebzeiten nicht unbedingt mit der Rolle des Literaturkritikers identifizieren wollten. Doch berücksichtigen wir, wie die drei Freunde sich selbst gesehen haben, dann kommen wir nicht um die folgende Klarstellung herum: Lessing begriff sich in erster Linie als Dichter und Schriftsteller, Nicolai als Verlagsbuchhändler und Herausgeber, und Mendelssohn wiederum verstand sich als ein Philosoph, der sich vorrangig vom Standpunkt der Philosophie zu ästhetischen Themen und literarischen Neuerscheinungen äußerte. Zu einer noch engeren Zusammenarbeit fanden sich die Freunde nach der Bibliothek bei den Literaturbriefen zusammen – einem Journal, das im Herbst 1758 geplant wurde und ab dem Folgejahr in Briefform die bedeutendsten literarischen Neuerscheinungen einem literaturverständigen Publikum vorstellte. In den Literaturbriefen, wie die in den Jahren zwischen 1759 und 1765 er44 Ebd., S. 105. 45 Nicolai an Lessing, 14. Mai 1757, in: Mendelssohn, JubA, Bd. 11, S. 111.

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schienenen Briefen, die Neueste Litteratur betreffend in Kurzform genannt wurden, waren die Freunde bemüht, nicht nur kritisch Neuerscheinungen im Inund Ausland zu besprechen, sondern auch Einsicht, Skepsis und Objektivität zu fördern. Zweck des Unternehmens war es, allem »Mittelmäßigem den Laufpass zu geben« und die Wahrheit »ganz deutsch« herauszusagen.46 Wie es zum Projekt der Literaturbriefe kam, darüber sind wir hauptsächlich durch Mitteilungen Nicolais informiert. In einem Brief an den Göttinger Professor und Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg am 29. Oktober 1782 erinnerte er an die Begleitumstände: »Lessing dachte über die damalige Litteratur eben so wie ich. Da wir fast täglich beysammen waren, so kamen wir immer wieder auf eben die Gedanken zurück, welche sich durch beständige Erörterung immer mehr entwickelten, besonders durch unsern lieben Moses, der bey uns war, was bey den alten Schauspielen der Chor. Er war gewöhnlich unsrer lebhaften Dispüten kaltblütiger Zuhörer, und zog unvermuthet, und wenn wir noch weit vom Ziele zu seyn glaubten, in wenig Worten ein treffendes Resultat, das uns alle befriedigte […].«47

Über die Zeit des Erscheinens der Literaturbriefe, die später in gebundenen Fassungen in verschiedenen Varianten erschienen, bemerkte Nicolai am 24. Dezember 1768 in einem Brief an Herder : »Lessing war der erste, der die Idee zu diesem Werke hergab. Er wollte auch das Meiste machen […]. Wir anderen [Moses und ich und hernach Abbt] nahmen die äußere Form und schrieben jeder seinem Charakter gemäß, Moses versprach am Anfange nur die philosophischen Briefe zu machen.«48

Wie sich alsbald zeigte, war Lessing jedoch nicht der Hauptmitarbeiter, wie das zunächst wohl angedacht worden war. Von den 333 Briefen, die in den sechs Jahren der Existenz der Literaturbriefe in gedruckter Form erschienen, stammten aus der Feder Lessings nachweislich nur 55 Briefe. Mehr als ein Drittel der veröffentlichten Briefe, insgesamt 120, hat Mendelssohn verfasst.49 65 Briefe hatte Nicolai beigesteuert und 66 Thomas Abbt, der Philosoph und Schriftsteller, den Mendelssohn zur Mitarbeit an den Literaturbriefen gewonnen hatte und der bis zu seinem frühen Tod sein Freund und Vertrauter war.50 Wer von den drei Freunden sich wann und zu welchen Themen in den Literaturbriefen zu Wort gemeldet hat, darauf kann an dieser Stelle nicht weiter 46 Vgl. Engel, Einleitung, in: Mendelssohn, JubA, Bd. 5,1, S. XI. 47 Nicolai an Georg Christoph Lichtenberg, 29. Oktober 1782, in: Lichtenberg, Briefwechsel, Bd. II, S. 457. 48 Meyer, Moses Mendelssohn Bibliographie, S. 66 f. 49 Vgl. Ebell, Moses Mendelssohn und die deutsche Literatur, S. 41 ff.; vor allem aber Engel, Einleitung, in: Mendelssohn, JubA, Bd. 5/1, S. IX–LXXXIII. 50 Engel, Einleitung, in: Mendelssohn, JubA, Bd. 5/1, S. XX.

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eingegangen werden. Stärker als die literaturkritischen Abhandlungen und die Themen, die in diesen behandelt wurden, interessiert uns hier, ob auch politische Aspekte zum Tragen kamen. Inwieweit fanden sich beispielsweise in diesen Texten kritische Anmerkungen zum König und zu den bestehenden politischen Verhältnissen?

8.

Kritik an Friedrich II., Zensurmaßnahmen und die allmähliche Lockerung der Freundschaftsbeziehungen

In diesem Zusammenhang beschäftigt uns die Frage, wer von den drei Freunden es gewagt hat, in seinen Beiträgen subtile Kritik an den herrschenden Verhältnissen zu äußern. Das taten wohl alle drei, jeder auf seine Weise, aber am deutlichsten offenbar Mendelssohn, der beispielsweise in seiner Kritik der Po¦sies diverses51 Friedrichs II. Klage darüber führte, dass der König sich in seinen Schriften der französischen Sprache bediene, anstatt der deutschen (»Welcher Verlust für unsre Muttersprache, dass sich dieser Fürst die französische geläufiger gemacht! Sie würde einen Schatz besitzen, um den ihre Nachbarn Ursache hätten sie zu beneiden«52). Die Kritik Mendelssohns war zwar in ein artiges Kompliment gekleidet, aber der Leser, der zwischen den Zeilen zu lesen verstand, konnte erkennen, dass der Verfasser bemüht war, sich behutsam auszudrücken, um nicht mit den strengen Zensurbestimmungen zu kollidieren. Als ein nur in Berlin geduldeter Jude musste Mendelssohn sehr vorsichtig sein, wenn er sich öffentlich äußerte. Ein falsches Wort, selbst ein falscher Zungenschlag in einem seiner Texte konnte seine sofortige Ausweisung zur Folge haben. Wie Mendelssohn im Fall seiner Kritik der Po¦sies diverses das Kunststück vollbrachte, die Person des Königs von dessen in seinen Gedichten ausgedrückten Ansichten zu trennen, mag hier an einem markanten Beispiel illustriert werden. Zu dem Gedicht Epitre — Maupertuis des Königs bemerkte er : »Was ich davon halte? Das, was ich überhaupt von der Philosophie in Gedichten zu halten pflege. Wenn sich die Dichter eine philosophische Larve vorziehen wollen, so nehmen sie mehrentheils die erste beste: eine cynische, stoische, epikureische oder peripatetische – was liegt daran?«

Die Gründe, die der König wider die Unsterblichkeit der Seele in seinen Gedichten vorbrachte, schienen ihm unerheblich zu sein. Seine Kritik lässt Mendelssohn in Form eines Platonschen Lehrwortes deutlich werden, das so gefasst 51 Mendelsson, 98. Brief, in: ders., JubA, Bd. 5/1, S. 187 ff. 52 Ebd.

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ist, dass die Anspielung auf den König nicht zu übersehen ist: »Mit einem Worte, mich dünkt, ein Friederich, der an der Unsterblichkeit zweifelt, ist eine bloße Chimäre, ein viereckiger Zirkel, oder ein rundes Viereck!«. Das war überaus deutlich, aber Mendelssohn wäre nicht Mendelssohn, wenn er seine Kritik am König nicht auch zugleich in ein Lob verpackt hätte: »Nein! Lassen sie uns immer den Dichter von dem Regenten, von dem Weltweisen, sogar von dem Menschen trennen. Jenem ist es erlaubt, zum Zeitvertreib Gedanken in Reime zu bringen, welche der Regent durch Thaten verläugnet, der Weltweise durch Gründe verspottet, und der Mensch selbst, der sich seines angebohrnen Adels bewusst ist, anzunehmen sich weigern muß.«53

Es war die Kritik Mendelssohns an der Person des Preußen-Königs und sein angebliches Bestreiten der »Gottheit Christi«, das die Zensurmaschinerie gegen die Literaturbriefe ins Rollen brachte. Der Denunziant, dessen Einlassungen zu einem vorübergehenden Verbot der Literaturbriefe im März 1762 führten, war kein Geringerer als der Nationalökonom Johann Heinrich Gottlob von Justi (1720 – 1771), der später wegen zwielichtiger Geschäfte angeklagt und in Küstrin festgesetzt wurde. Justi, den Nicolai im Rückblick abschätzig einen »Vielschreiber« nannte,54 hatte wegen einer kritischen Besprechung eines Buches von ihm, die in den Literaturbriefen erschienen war, offensichtlich auf Rache gesonnen. Seine Denunziation hatte schließlich die beabsichtigte Wirkung. Es sprach sich sehr schnell in der Stadt herum, dass Mendelssohn vor den Generalfiscal Johann Christian von Uhden zum Verhör zitiert worden sei. Jedermann dachte, Mendelsohn selbst wohl auch, dass seine Tage in Berlin gezählt seien. Einen Teil des Gespräches, das sich bei dieser Gelegenheit zwischen Mendelssohn und dem Generalfiscal entwickelte, hat Nicolai nach dem Bericht Mendelssohns niedergeschrieben: »Generalfiscal: Hör’ Er, wie kann er sich unterstehen, wider Christen zu schreiben? Mendelssohn: Wenn ich mit Christen Kegel schiebe, so werfe ich alle Neune, wenn ich kann. Generafiscal: Untersteht Er sich zu spotten! Weiß er wol mit wem Er redet? Mendelssohn: O ja! Ich stehe vor dem Geheimen Rath und Generalfiscal Uhden, vor einem gerechten Manne. Generalfiscal: Ich frage Ihn noch einmal: wer hat Ihm erlaubt, wider einen Christen und dazu noch wider einen Hofprediger [Cramer in Kopenhagen, J.S.] zu schreiben? Mendelssohn: Ich muß nochmals wiederholen und wahrlich ohne 53 Ebd, S. 194. 54 Vgl. Engel, Einleitung, in: Mendelssohn, JubA, Bd 5/1, S, XXXVII.

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Spott: wenn ich mit einem Christen Kegel schiebe, wäre es auch ein Hofprediger, so werfe ich alle Neune, wenn ich kann. Das Kegelspiel ist eine Erholung für meinen Leib, wie die Schriftstellerei eine Erholung für meinen Geist. Jeder, welcher schreibt, macht es so gut, wie er immer kann. Uebrigens wüsste ich nicht, dass ich je wider einen Hofprediger, noch einen anderen Prediger geschrieben hätte. Generalfiscal: O ich merke, Er will leugnen. Man wird Ihm schon seine Künste abfragen. Er hat wider die christliche Religion geschrieben. Mendelssohn: Wer Ihnen dieses gesagt hat, hat Ihnen eine große Unwahrheit gesagt Generalfiscal: Leugne Er nur nicht, man weiß es schon besser. Dies ist wider das Judenprivilegium. Er hat den Schutz verwirkt. Mendelssohn: Ach, ich habe hier keinen Schutz zu verwirken, ich habe kein Privilegium, ich bin Buchhalter beim Schutzjuden Bernhard. Generalfiscal: Desto schlimmer! Die geringste Strafe für Seinen Frevel wird sein, dass man Ihn aus dem Lande verweiset. Mendelssohn: Wenn man mich gehen heißt, so werde ich gehen. Ich habe mich nie den Gesetzen widersetzen wollen und der Gewalt kann ich mich noch weniger widersetzen.«55

Der Verlauf des Gespräches zeigt, dass Mendelssohn sich offenbar nicht vom Generalfiscal und den Zensurmaßnahmen der Behörden hat einschüchtern lassen. Im Gegenteil. Selbst die Drohung der Ausweisung brachte ihn nicht davon ab, sich in spöttisch-sarkastischem Ton zur Wehr zu setzen, aber dabei dennoch offen und ehrlich seine Ansichten zu äußern. Die Formulierung »Wenn man mich gehen heißt, so werde ich gehen«, ist das Bekenntnis, ein gehorsamer Untertan des Königs zu sein, aber nicht um jeden Preis. Nicolai, dem wir den Inhalt des Gespräches und dessen Überlieferung verdanken, notierte, dass es ihn sehr geschmerzt habe, wie Mendelssohn vom Generalfiscal behandelt worden sei. Von Lessing gibt es zu diesem Verhör keine Stellungnahmen oder Kommentare, was wohl damit zu erklären ist, dass er zu dieser Zeit nicht in Berlin war, sondern sich als Sekretär des Generals von Tauentzien während des Siebenjährigen Krieges im schlesischen Breslau aufhielt. Allgemein deutete man damals das zeitweilige Verbot der Literaturbriefe als einen »Anschlag auf die Denkfreiheit«, als einen Angriff auf aufgeklärte Geister wie Mendelssohn und Lessing, was zu entsprechenden Solidaritätsadressen führte. Nicolai, empört über das Verbot, und im Gefühl, dass er in den gelehrten Kreisen zahlreiche Verbündete hatte, protestierte und war bemüht, seinem 55 Malkewitz, Wie Moses Mendelssohn berühmt wurde, S. 9 – 11; sowie Engel, Einleitung, in: Mendelssohn, JubA, Bd. 5/1, S. XXXVI f.

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Freund Mendelssohn beizuspringen. Die Zensurbehörde lenkte dann auch ein, und das Verbot wurde auf Dauer nicht mehr aufrechterhalten. Lessing hat sich, aus welchen Gründen auch immer, zu den Vorgängen in Berlin nicht weiter geäußert. Das könnte durch seine lange Abwesenheit bedingt gewesen sein, so dass er nicht mehr ausreichend über die Vorgänge in der Hauptstadt informiert war. Vielleicht hat es aber auch damit tun, dass es ihm peinlich war, zugeben zu müssen, dass nicht Mendelssohn, sondern er selbst den dänischen Hofprediger Cramer angegriffen hatte. Sich dazu öffentlich bekennen, das wollte Lessing wohl nicht. Aus seiner bewundernden, gleichzeitig aber auch kritisch-distanzierten Einstellung gegenüber dem König und dem Land Preußen hat Lessing nie ein Hehl gemacht. Deutlicher noch als in dem Sinngedicht Unter das Bildnis des Königs von Preußen (»Wer kennt ihn nicht? / die hohe Miene spricht / Dem Denkenden. Der Denkende allein / Kann Philosoph, kann Held, kann Beides sein«)56 wird das in einem an Nicolai gerichteten Brief, in dem Lessing erklärt: »Lassen Sie es aber doch einmal einen in Berlin versuchen […] dem vornehmen Hofpöbel so die Wahrheit zu sagen, als dieser sie ihm gesagt hat; lassen sie einen in Berlin auftreten, der für die Rechte der Untertanen, der gegen Aussaugung und Despotismus seine Stimme erheben wollte, wie es itzt in Frankreich und Dänemark geschieht: und Sie werden bald die Erfahrung haben, welches Land bis auf den heutigen Tag das sklavischste Land von Europa ist […].«57

Die enge Zusammenarbeit der drei Freunde, die bei der Bibliothek und den Literaturbriefen zunächst noch bestanden hatte, begann sich ab Mitte der 60er Jahre zunehmend zu lockern. Ob und inwieweit das mit einem Vorgang zusammenhing, über den die Literaturwissenschaft einen Mantel des Schweigens gebreitet hat, das bedarf noch der weiteren Klärung. Es heißt, dass Lessing als Sekretär Tauentziens seine Finger bei den Münzverschlechterungsaktivitäten des Hofjuweliers Ephraim im Spiel gehabt hätte.58 Lessing hat zwar gegenüber Mendelssohn bestritten,59 dass er in derartige Machenschaften verwickelt gewesen sei, aber er konnte dementieren so viel er wollte: der Verdacht blieb hartnäckig in der Welt. In jedem Fall war es so, dass die drei Freunde nicht mehr in derselben Intensität Umgang miteinander pflegten, wie sie das in der Zeit der beiden Zeitschriftenprojekte Bibliothek und Literaturbriefe noch getan hatten. Über Besprechungen, die in der 1765 durch Nicolai ins Leben gerufenen Allgemeinen 56 Lessing, Unter das Bildnis des Königs von Preußen, in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 1, S. 43. 57 Lessing an Nicolai, 25. August 1769, in: Lessing, Sämtliche Schriften, Bd. 17, S. 298. 58 Vgl. Jasper, Lessing, S. 132 ff. 59 Lessing an Mendelssohn, 7. Dezember 1760, in: Lessing, Sämtliche Schriften, Bd. 17, S. 181.

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deutsche Bibliothek erschienen (im Verlauf der nächsten Jahrzehnte haben angeblich 433 Rezensenten in der ADB über 80 000 Neuerscheinungen besprochen), tauschten sie sich zwar mitunter noch brieflich aus, aber nicht mehr in der Vertrautheit und Unbefangenheit früherer Jahre. Nicolai veröffentlichte in der Allgemeinen deutschen Bibliothek (1765 – 1806) über die Jahre hinweg eine Reihe von Rezensionen, auch Mendelssohn steuerte ab und zu eine Besprechung für die ADB bei – nicht jedoch Lessing, was damit zusammengehangen haben dürfte, dass er seit seinem Fortgang aus Berlin zunehmend anderen Beschäftigungen nachging und nicht mehr die Zeit fand, etwas für Nicolai zu schreiben. Nicolai bedauerte es sehr, dass er Lessing und Mendelssohn nicht zur ständigen Mitarbeit an seinem neuen Projekt gewinnen konnte. In einem Brief an den Schweizer Arzt und Schriftsteller Johann Georg Zimmermann (1728 – 1795) sprach er genau dieses Dilemma an, und er versuchte zu erklären, warum sich weder Lessing noch Mendelssohn für die Mitarbeit an der Allgemeinen deutschen Bibliothek hatten gewinnen lassen: »Sie sagen, ich soll sie [gemeint ist die ADB] Lessing und Moses geben; ja! Wenn’s auf ’s Geben ankäme, so gäbe ich diesen Herren wohl wer weiß was! Ja, ich habe ihnen schon manches zu recensiren gegeben; nur das schlimmste ist, dass sie nichts machen. Lessing ist ein Aufschieber und hat noch gar nichts gemacht. Moses hat sehr viel Handlungsgeschäfte, so dass es fast Sünde ist, ihm die wenigen Stunden, in denen er noch studiren kann, zu rauben.«60

Offensichtlich begannen die Freunde, ab Anfang oder Mitte der 1760er Jahre mehr oder weniger ihre eigenen Wege zu gehen. Sie waren einander zwar nach wie vor freundschaftlich verbunden, tauschten auch noch regelmäßig Briefe aus, aber ihr Verhältnis hatte sich gelockert und war nicht mehr so eng, wie es einst gewesen war. Die Briefe, die sie nun wechselten, lassen in Ansätzen Gefühle der Entfremdung erkennen. »Wir leben«, schrieb Mendelssohn im November 1762 an Thomas Abbt, »in einer düsteren, schwermüthigen Zeit. Freunde vergessen einander, Brüder kennen sich nicht mehr. Zu Wasser und zu Lande, vom Aufgange bis zum Niedergange ist ein Menschenwürgen; Könige gehen zu Fusse [gemeint ist wohl Friedrich II.,], Geldwechsler fahren mit Sechsen [vermutlich eine Anspielung auf Veitel Heine Ephraim, der sich anscheinend in einem Sechsspänner fahren ließ], Dichter belagern Festungen [gemeint ist hiermit wohl Lessing, der an der Belagerung von Schweidnitz teilgenommen hatte] und Weltweise heirathen [gemeint sind hier wohl Nicolai und Mendelssohn]. Alles ist in der größten Unordnung […].«61

60 Ost, Friedrich Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek, S. 10. 61 Mendelssohn an Abbt, November 1762, in: Mendelssohn, JubA, Bd. 11, S. 357.

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9.

Bibliographie

9.1

Quellen

David Friedländer an Friedrich Nicolai, 13. März 1802, Nachlass Nicolai, Bd. 23, Staatsbibliothek Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Lessing, Gotthold Ephraim: Sämtliche Schriften. 23 Bde. Hg. v. Karl Lachmann. 3., durchges. u. verm. Aufl., besorgt durch Franz Muncker. Stuttgart [u. a.] 1886 – 1924. Lessing, Gotthold Ephraim: Schriften. 4 Bde. Berlin 1753 – 1755. Lessing, Gotthold Ephraim, u. Moses Mendelssohn: Pope, ein Metaphysiker! Danzig 1755. Malkewitz, G.: Wie Moses Mendelssohn berühmt wurde. In: Vossische Zeitung, Nr. 17, 23. April 1882. Mendelssohn, Moses: Johann Jacob Rousseau, Bürgers zu Genf, Abhandlung von dem Ursprunge der Ungleichheit unter den Menschen, und worauf sie sich gründet: ins Deutsche übersetzt, mit einem Schreiben an den Herrn Magister Leßing und einen Briefe Voltairens an den Verfasser vermehrt. Berlin 1756. Michaelis, Johann David: Der vierte Theil von Hrn. Leßings Schriften […]. In: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 2 (1754), 70. St., S. 620 – 622. Mendelssohn, Moses: Betrachtungen über die Quellen und Verbindungen der schönen Wissenschaften und Künste. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste 1 (1757), 2. St., S. 231 – 268. Mendelssohn, Moses: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Hg. in Gemeinschaft mit Fritz Bamberger [u. a.], fortgesetzt v. Alexander Altmann. Berlin 1929 ff. [JubA]. Mendelssohn, Moses: Philosophische Gespräche. Berlin 1755. Nicolai, Friedrich: Abhandlung vom Trauerspiele. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 1 (1757), 1. St., S. 17 – 68. Nicolai an Georg Christoph Lichtenberg, 29. Oktober 1782. In: Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel. Bd. II: 1780 – 1784. Hg. v. Ulrich Joost u. Albrecht Schöne. München 1985, S. 457. Nicolai, Friedrich: Etwas über den verstorbenen Rektor Damm und Moses Mendelssohn. In: Neue Berlinische Monatsschrift 1 (1800), S. 338 – 362. Nicolai, Friedrich: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente. Kritische Ausgabe mit Kommentar. Hg. v. Philip Marshall Mitchell, Hans-Gert Roloff u. Erhard Weidl. Berlin [u. a.] 1991 ff. Nicolai, Friedrich: Ueber meine gelehrte Bildung, über meine Kenntnis der kritischen Philosophie und meine Schriften dieselbe betreffend, und über die Herren Kant, J. B. Erhard und Fichte. Berlin u. Stettin 1799.

9.2

Sekundärliteratur

Altmann, Alexander : Moses Mendelsohn. A Biographical Study. London 1973. Berwin, Beate: Moses Mendelssohn im Urteil seiner Zeitgenossen. Berlin 1919. Ebell, Götz: Moses Mendelssohn und die deutsche Literatur. Zürich 1966.

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Engel, Eva J.: Friedrich Nicolai an Johann Peter Uz. Ein frühes Zeugnis zu Moses Mendelssohns ›Lehrjahren‹. In: Mendelssohn-Studien 6 (1986), S. 24 – 40. Engel, Eva J.: The Emergence of Moses Mendelssohn as Literary Critic. In: Leo Baeck Institute Yearbook 24 (1979), S. 61 – 82. Engel-Holland, Eva J.: Die Bedeutung Moses Mendelssohns für die Literatur des 18. Jahrhunderts. In: Mendelssohn-Studien 4 (1979), S. 111 – 159. Jasper, Willi: Lessing. Aufklärer und Judenfreund. Berlin u. München 2001. Kayserling, Meyer : Moses Mendelssohn. Sein Leben und Werk. Leipzig 1888. Meyer, Herrmann M. Z.: Moses Mendelssohn Bibliographie. Mit einigen Ergänzungen zur Geistesgeschichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Berlin 1965. Ost, Günther : Friedrich Nicolais ›Allgemeine Deutsche Bibliothek‹. Berlin 1928 [Nachdruck, Nendeln 1967] (Germanistische Studien Bd. 63). Petsch, Ludwig: Lessings Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai über das Trauerspiel. Leipzig 1910. Schillemeit, Jost: Lessings und Mendelssohns Differenz. Zum ›Briefwechsel über das Trauerspiel‹ (1756/57). In: Gotthardt Frühsorge, Klaus Manger u. Friedrich Strack (Hg.): Digressionen. Wege zur Aufklärung. Festgabe für Peter Michelsen. Heidelberg 1984, S. 79 – 94. Schmidt, Erich: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. 2 Bde. Hildesheim [u. a.] 1983.

Ulrike Schneider

Friedrich Nicolais Perspektive(n) auf die Berliner Juden und die jüdische Aufklärung »Soll ich etwas von dem großen Werthe sagen, den dieser große Gelehrte [Moses Mendelssohn] als Mensch hatte!«1

1.

Verortungen

Der Rosenthaler Platz liegt heute inmitten der Metropole Berlin und bildet eine Verbindungsstelle zwischen den Bezirken Prenzlauer Berg und Mitte. Der Name des Ortes geht auf eines der 17 Berliner Stadttore zurück, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Zuge der neu erbauten Stadtmauer errichtet wurden. Das Rosenthaler Tor – dessen Name von dem Ort Rosenthal stammt, der sich an die Berliner Stadtgrenze anschloss – wurde 1788 fertig gestellt, als hohes Mitteltor im Stil römischer Triumphbögen, versehen mit zwei kleinen Durchgängen und zwei Gebäudeflügeln, in denen die Torwache und preußische Soldaten ihren Wachdienst verrichteten. Für die Juden, die sich im 18. Jahrhundert in Berlin niederlassen wollten, hatte das Rosenthaler Tor eine elementare Bedeutung: Es war das einzige Tor, durch das sie Eintritt erlangen konnten. Hier wurde über Aufnahme oder Ausweisung entschieden. Bereits vor der Errichtung des prachtvollen Tores stand Juden nur dieser Ort zur Einreise offen. Moses Mendelssohn betrat im Herbst 1743 als 14-jähriger die Stadt Berlin durch das alte Tor, nachdem er von der Torwache registriert worden war und einen Passierschein erhalten hatte. Dabei wird es weniger das durch Anekdoten überlieferte Signalwort »Lernen« gewesen sein, das ihm den Weg öffnete, sondern vielmehr der Bürgschaftsverweis auf den Rabbiner David Fränkel, seinen ehemaligen Lehrer in Dessau, der im selben Jahr zum Oberlandesrabbiner von Berlin berufen worden war. Die Jüdische Gemeinde Berlin bestand zu diesem Zeitpunkt aus 1850 Juden. Friedrich Nicolai verweist in seiner Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, aller daselbst befindlicher Merkwürdigkeiten und der umliegenden Gegend von 1769 – 1786 ebenfalls auf das Rosenthaler Tor. Es wird 1 Nicolai, Nekrolog auf Moses Mendelssohn, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 41.

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Ulrike Schneider

als ausschließlich topographischer Ort eingeführt, mit dem Verweis auf die Straßen, die sich an diesem Platz kreuzen. Die Funktionen des Tores als Steuerund Zollgrenze sowie als Grenzübergang für die jüdischen Einwanderer bleiben unerwähnt. Als Grenzübergang hat dieser Ort übrigens noch einmal existiert: Nach dem Mauerfall 1989 war der U-Bahnhof einer der Punkte, an dem man in den westlichen Teil der Stadt gelangen konnte. Die unterschiedlichen Bedeutungen des Rosenthaler Tors – als topographischer Ort für Nicolai, als existentieller Bezugspunkt für die jüdischen Einwanderer – zeigen die differierenden Verortungen im gesellschaftlichen Raum des 18. Jahrhunderts. Während Nicolai 1769 als etablierter und anerkannter Buchhändler, Verleger und Autor auftritt, dessen rechtliche Stellung außer Frage steht und der sich mit der Widmung an Friedrich II. als treuer und ergebener Staatsbürger ausweist,2 gelangte der Philosoph, Buchhalter und spätere Teilhaber der Seidenfabrik Isaak Bernhards, Moses Mendelssohn, Zeit seines Lebens nicht über das Privileg eines »außerordentlichen Schutzjuden«3 hinaus. Das bedeutete gleichzeitig, dass sein Privileg in Berlin zu leben und zu arbeiten, nach seinem Tod für seine Familie erlosch. Allein einem Kind war es gestattet, das Wohnrecht zu erben, wenn es 1.000 Taler aufbringen konnte.4 Aber nicht allein an Mendelssohn, dessen Familie 1787 das Generalprivileg dann doch zugesprochen bekam, wird die problematische Situation der jüdischen Bevölkerung in Preußen im 18. Jahrhundert deutlich. Das im April 1750 von Friedrich II. verabschiedete Revidierte Generalprivilegium enthielt genau festgesetzte Regeln und Pflichten der jüdischen Einwohner, im Gegensatz dazu ein Minimum an Rechten. Trotz der von Hans-Gert Roloff benannten Gemeinsamkeit zwischen Nicolai und Mendelssohn, die auf ihrem »aktiven Unternehmertum« beruhte und für beide weder »höfische, klerikale, administrative oder universitäre«5 Abhängigkeiten beinhaltete, bildete der ungleiche Rechtsstatus den eklatanten Unterschied zwischen ihnen: Er erlaubte Nicolai größere Handlungsoptionen innerhalb der Berliner Gesellschaft als Mendelssohn. Friedrich Nicolai nimmt in seiner Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam auch eine Einordnung der Berliner ›Judenschaft‹ vor. Im Folgenden sollen im ersten Teil des Artikels die Parameter dieser Einordnung 2 »Ich unterstehe mich gegenwärtiges Werk, in welchem die Sehenswürdigkeiten Berlins und Potsdams erzählet werden, Ew. Königl. Majest. allerunterthänigst zu Füßen zu legen. Wie glücklich würde ich mich schätzen, wenn Allerhöchstdieselben dieses Unternehmen zu allerhöchstem Wohlgefallen gereichen sollte. Ich ersterbe mit tiefster Ehrfurcht. Allerunterthänigster Knecht Friedrich Nicolai.« (Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 2, ohne Paginierung). 3 Breuer, Die jüdische Minorität im Staat des aufgeklärten Absolutismus, S. 145. 4 Ebd. 5 Roloff, »Wir, Moses und ich«, S. 28.

Nicolais Perspektive(n) auf die Berliner Juden und die jüdische Aufklärung

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untersucht und zu Nicolais Begriff der Geschichtsschreibung in Beziehung gesetzt werden. Dabei beziehe ich mich auf die dritte Auflage der Beschreibungen von 1786. Im zweiten Teil steht die Bedeutung Nicolais und seines Verlages als Publikationsort für Moses Mendelssohn als führendem Vertreter der jüdischen Aufklärungsbewegung im Zentrum. Mit den Veröffentlichungen in seinem Verlag, so die These, hat Nicolai entscheidend zur Reputation Mendelssohns, aber auch der Berliner Juden im 18. Jahrhundert beigetragen.

2.

Die Darstellung der Berliner ›Judenschaft‹ »Man muß überhaupt von der berlinischen Judenschaft rühmen, daß unter derselben verschiedene Gelehrte, viele Leute vom Geschmacke, und Liebhaber der schönen Wissenschaft angetroffen werden.«6

Die 1769 erstmals, 1779 und 1786 erweiterte Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam veröffentlichte Nicolai im eigenen Verlag. Es war nicht nur das erste größere veröffentlichte Werk Nicolais, sondern es stellte zudem die »erste Stadtbeschreibung der preußischen Hauptstadt«7 dar, womit er nach Raabe gleichzeitig einen »neuen Buchtypus«,8 den des Stadtführers, einführte. Noch zehn Jahre nach der ersten Veröffentlichung hebt Nicolai das Novum seiner Arbeit selbstbewusst hervor und betont, »[daß] ich doch wohl ohne Ruhmredigkeit sagen [darf], daß noch bis jetzt die Geschichte keiner großen Stadt Deutschlands so genau und archivarisch ist untersucht worden, als von mir die Geschichte Berlins«.9 Das umfangreiche, von ihm als »gemeinnützig« verstandene Werk, das von zahlreichen öffentlichen und offiziellen Akteuren sowie von privaten Personen unterstützt wurde, zeichnet sich vor allem durch ausführliche Stadtbeschreibungen und demographische Studien aus. Sowohl in der Widmung an Friedrich II. als auch im Werk selber werden Nicolais Bindung an den preußischen Staat und sein Vorhaben deutlich, eine positive historische Einordnung Preußens vorzunehmen, indem er nach Vierhaus den »Stolz auf den Aufstieg des Staates« betonte und auf »das europäische Ansehen des Monarchen«10 verwies. Das Werk ist nicht als historisch-kritische Monographie einzuordnen, sondern steht vielmehr in der Tradition eines lexikalischen Überblickswerks. Mit der Veröffentlichung und ihren späteren Überar6 Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 8/1, S. 219. 7 Raabe, Friedrich Nicolai 1733 – 1811, S. 42. 8 Ebd. 9 Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 8/1, S. 11. 10 Vierhaus, Friedrich Nicolai und die Berliner Gesellschaft, S. 92.

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beitungen etabliert sich Nicolai als Kenner der preußischen Hauptstadt, der einen detaillierten Überblick über den Aufbau des preußischen Regierungsapparates ebenso bietet wie eine Übersicht über die repräsentativen Orte der Monarchie. Im »zweyten Abschnitt« des Bandes unternimmt der Autor eine Beschreibung der Einwohnerschaft Berlins, die im sechsten Abschnitt durch Verweise auf die Religionsausübung ergänzt wird. Diese Schwerpunktsetzung sowie die gesamte inhaltliche Ausrichtung der Darstellung hebt seine Intention hervor, die Geschichtsschreibung, wie Möller es herausstellte, »von der Fürsten- und Kriegsgeschichte zur Wirtschafts-, Sozial- und Geistesgeschichte«11 zu verlagern. Die »Schicksale[] der Beherrschten«12 sollen neben die Geschichte der Landesherren treten. Die Kapiteleinteilung des Abschnittes entspricht einer nach rechtlichem und gesellschaftlichem Status ausgerichteten Abstufung der Bevölkerungsgruppen, auf deren unterster Stufe die ›Judenschaft‹ angesiedelt ist. Der Vergleich der Darstellungen der französischen, böhmischen und jüdischen Bevölkerung – nach Nicolai lebten 1784 5.168 Franzosen, 971 Böhmen und 3.372 Juden in Berlin13 – verdeutlicht den unterschiedlichen rechtlichen Status, der den drei Gruppen zukam und den Nicolai nicht unerwähnt lässt. Während den »französischen Kolonien« sowohl eine eigene Gerichtsbarkeit als auch eine französische »Civil-Etatskasse«14 zugesprochen wurden, die zum Erhalt der »französischen Kolonien« diente und aus der »Prediger […] Schulmeister, desgleichen Justizpersonen und […] Bediente[]«15 finanziert wurden, unterlag die jüdische Bevölkerung der staatlichen Kontrolle. Neben einem kurzen historischen Überblick über die Ansiedlung der Juden in Preußen, in dem er die Vertreibungen sowie die 1671 aus wirtschaftlichen Gründen erteilte Genehmigung zur Ansiedlung durch Kurfürst Friedrich Wilhelm den Großen erwähnt,16 weist Nicolai vor allem auf das Generalprivilegium von 1750 hin, mit dem die ›Judenschaft‹ auf einen kaum veränderlichen rechtlichen Status festgeschrieben wurde. Weiterhin führt er im Hinblick auf die Gerichtsbarkeit der jüdischen 11 Möller, Friedrich Nicolai als Historiker, S. 144. 12 Nicolai, Voltaire der Reformator, S. 375. 13 Bis auf die böhmischen Einwohner ist im Vergleich zu 1769 ein Bevölkerungszuwachs zu verzeichnen. 14 Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 8/1, S. 259. 15 Ebd. 16 In der ersten Auflage datiert Nicolai die Ansiedlungserlaubnis auf 1691, in den späteren Ausgaben revidiert er diese Zahl (vgl. ebd., S. 218; sowie die erste Ausgabe, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 130). – Zudem nimmt Nicolai Ergänzungen innerhalb der Darstellung der »Berliner Judenschaft« vor, u. a. fügt er den Verweis ein, dass aufgrund »ungerechter Beschuldigungen« die Vertreibungen unternommen wurden (vgl. Nicolai, Sämtliche Werke, Bd. 8/1, S. 218).

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Einwohner die Kriegs- und Domänenkammer an, die Fragen »des Schutzes, wegen ihrer Prästationen, Nahrung, Verheurathung und ihres übrigen Verhaltens«17 verhandelte sowie die »Judenkommission«, die dem Kammergericht unterstellt war. Implizit transportiert Nicolai, was die Anlage der »Judenkommissionen«18 bedeutete: Mit diesen bestand eine Kontrollinstanz über die Einwohnerzahl und die finanziellen Abgaben der jüdischen Bevölkerung. Gleichzeitig wurde eine Haftbarkeit der gesamten jüdischen Gemeinde für ihre Mitglieder eingeführt, deren Einhaltung den Ältesten der Berliner Judenschaft oblag. Durch die Einführung des Generalprivilegiums wurden die Juden unter staatliches Recht gestellt, die Aufhebung des Pariastatus bedeutete aber keineswegs die Einordnung der Judenangelegenheiten in den Regierungsapparat.19 Gerade die »Verschärfung der solidarischen Haftung«20 evozierte starke Eigenkontrollen innerhalb der Gemeinden, womit kollektiven Haftungsstrafen entgegengewirkt werden sollte. Einer offiziellen Kritik an der Bevölkerungspolitik Friedrich II. enthält sich Nicolai. Dies entspricht seiner Forderung einer Objektivität von Geschichtsschreibung,21 der die »Unparteilichkeit« des Forschers unterliegen müsse und die getrennt von der »moralischen Wertung«22 des Individuums zu erfolgen habe, was auch mit dem Paratext der Widmung korrespondiert. Mit der Beschreibung der unterschiedlichen Prämissen der Ansiedlungspolitik und des gegenwärtigen differenten Status der französischen und jüdischen Einwohner verweist er als Aufklärer zwischen den Zeilen gleichwohl auf die divergierende Integrationspolitik des preußischen Staates, die ihm auch durch die Stellung Moses Mendelssohns bewusst war. Die Erlaubnis zur Ansiedlung der Hugenotten und Juden durch Kurfürst Friedrich Wilhelm, die von Nicolai bei beiden Gruppen jeweils als Gegenreaktion zu den Vertreibungsedikten von Österreich (1669) und Nantes (1685) positiv ausgewiesen wird, unterlag rein wirtschaftlichen Überlegungen.23 Während die Ansiedlung beider Gruppen einen wirtschaftlichen Aufschwung bewirkte, wurde nur einer Gruppe die Aufhebung des Fremdenstatus zugesprochen, worauf Nicolai mit seinen Hinweisen auf die rechtliche Stellung der Gruppen aufmerksam macht. Eine eindeutige Forderung zur rechtlichen Gleichstellung der jüdischen Einwohner ist daran jedoch nicht geknüpft. Beachtet man das Erscheinungsdatum der dritten Auflage fällt die Nähe zur Veröffentlichung der von Christian Wilhelm Dohm 17 18 19 20 21 22 23

Ebd. Ebd. Vgl. Breuer, Die jüdische Minorität im Staat des aufgeklärten Absolutismus, S. 146. Ebd., S. 144. Vgl. Möller, Friedrich Nicolai als Historiker, S. 147. Ebd., S. 156. Vgl. dazu Breuer, Mordechai: Anbruch der frühen Neuzeit, S. 100 – 105.

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verfassten Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden 1781 in Nicolais Verlag auf. Im Gegensatz zu Dohm frappiert der von Nicolai sehr zurückhaltend formulierte Standpunkt gegenüber der Statusfrage der jüdischen Einwohner. »Die Juden genießen nicht nur als Unterthanen des Königl. Schutzes, sondern auch einer freyen Religionsübung: haben ihre öffentliche Synagoge [ab 1714 Heidereuthergasse, Nähe Spandauerstraße], Schulen in ihren Häusern, besondere Armenanstalten, und einen Kirchhof [seit 1672: Friedhof Große Hamburger Straße].«24

Auf drei Bereiche des jüdischen Gemeindelebens, die Nicolai anführt, soll kurz eingegangen werden. Mit dem heutigen politischen Vokabular könnte man diese Bereiche als Bildungs- und Sozialsystem – das hier das jüdische Wohltätigkeitsprinzip, die Zedaka, umschreibt – und als Gesundheitssystem bezeichnen. Die beiden letzteren werden explizit als bedeutend und vorbildhaft hervorgehoben. Als wichtige Vertreter der verschiedenen jüdischen Gelehrten und »Liebhaber der schönen Wissenschaften«25 führt Nicolai David Friedländer, Markus Herz und Lazarus Bendavid an. Alle drei Namen sind mit der jüdischen Aufklärungsbewegung verbunden, wobei Friedländer als Gründer der ersten jüdischen Freischule und als »führende[m] politische[m] Kopf«26 der Haskala nach Mendelssohns Tod eine besondere Bedeutung zukam. Die Einordnung der Namen in die Liste »jetztlebende durch Schriften bekannte Gelehrte« bzw. in die Aufzählung der in Berlin abgehaltenen »Privatvorlesungen« in Band drei des Werkes erfolgt nicht unter dem Kriterium der jüdischen Gemeindezugehörigkeit, sondern einzig unter dem Aspekt der Bildung.27 Der Rückbezug zur Haskala scheint dabei eine untergeordnete Rolle zu spielen, vielmehr wird die Bedeutung der Gelehrten hervorgehoben, insbesondere von Herz, der ab 1787 der erste jüdische Professor für Philosophie in Berlin war.28 Allerdings gibt erst die Zugehörigkeit zur Aufklärungsbewegung die Einordnungsparameter vor. Denn die Anführung dieser Namen für ein preußisches Lesepublikum ist vor allem durch die Wahl der Veröffentlichungssprache bedingt: Herz, Friedländer und Bendavid verfassten einen Teil ihrer Schriften in Deutsch. Einzig die Angabe zur deutschsprachigen Übersetzung des Gebetbuches Gebete der Juden (1786) bei David Friedländer29 kann als Indiz für einen jüdischen Kontext gelesen werden, 24 Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 8/1, S. 423. 25 Ebd., S. 219. 26 Vgl. Schulte, Die jüdische Aufklärung, S. 92. 27 In der Erstausgabe von 1769 wird Moses Mendelssohn als einziger jüdischer Gelehrter mit den Worten angeführt: »Er ist wegen seinen philosophischen Schriften berühmt.« (Mendelssohn, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 278). 28 Vgl. Schulte, Die jüdische Aufklärung, S. 163. 29 Vgl. Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 8/2, S. 818.

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vor allem in Verbindung mit dem Verweis auf Friedländers Position als Direktor der ersten Jüdischen Freyschule.30 Da diese Angaben jedoch nicht miteinander verbunden sind, unterliegt es dem Rekonstruktionsvermögen des heutigen Lesers, sie zueinander in Beziehung zu setzen. Hingegen kann davon ausgegangen werden, dass der zeitgenössische Leser mit den Verortungen der Autoren vertraut war. Deutlich wird hier die Position des Chronisten und Aufklärers Nicolai: Grundlage der Gelehrtenzuordnung kann einzig und allein das Kriterium der Bildung sein, jegliche religiöse, durch den Staat vorgegebene Gruppierung tritt dahinter zurück. Nicolais Beschreibung der »Jüdischen Freyschule«, die er nicht in den Abschnitt »Von Akademien, gelehrten Gesellschaften, öffentlichen […] Schulen« (Kapitel Gymnasien und Schulen) und damit in das staatliche preußische Schulsystem einreiht, sondern dem Abschnitt »Von den Religionen der Einwohner« (Kapitel Jüdische Armenanstalten) und so allein dem jüdischen Gemeindeleben zuordnet,31 kann als eine der ersten Veröffentlichungen über das reformierte Schulkonzept der Maskilim gelten. Die Hervorhebung der deutschen und französischen Sprache sowie der Hinweis auf die christlichen und jüdischen Lehrer der »Freyschule« verdeutlichen das umgesetzte säkularisierte Bildungskonzept, welches mit der Gründung der Schule 1778 und ihrer offiziellen Eröffnung 1781 ein Novum innerhalb der jüdischen Gemeinde darstellte und auf den umkämpften Reformprozess hindeutet. Die positive Anführung der »überaus gut[en]«32 Einrichtung der jüdischen Armenanstalt, der verschiedenen Gesellschaften zur Unterstützung von Frauen, Witwen, Waisen und Minderbemittelten sowie der Krankenversorgung dient Nicolai ebenfalls nicht allein zur Beschreibung, sondern vielmehr als Mittel der Aufklärung der christlichen Leser über die jüdische Bevölkerung. Mit der Darlegung des Bildungskonzeptes und den Informationen über die »Gutherzigkeit und edle Wohlthätigkeit«33 der Judenschaft ruft Nicolai zur Toleranz gegenüber der Minderheit auf und formuliert über den Appell an die Vernunft des Lesers die Hoffnung zur Auflösung von bestehenden und überlieferten Vorurteilen: »Man wird hoffentlich mit Vergnügen aus der folgenden Nachricht die Gutherzigkeit und edle Wohlthätigkeit bemerken, mit welcher diese Nation ihre Armen versorgt; wobey nicht zu vergessen ist, daß die Juden zu manchen Almosensammlungen, die den Christen zu gute kommen, das ihrige freywillig und oft sehr freygebig beytragen.«34 30 Vgl. ebd., S. 477. 31 In der ersten Ausgabe fehlt der Verweis auf das jüdische Wohltätigkeitssystem vollständig. Dieser wurde erst in den späteren Überarbeitungen eingefügt. 32 Vgl. Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 8/1, S. 475. 33 Ebd. 34 Ebd.

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Mit seiner Darstellung der Berliner Judenschaft unternimmt Nicolai eine für die damalige Zeit durchaus heterogene Beschreibung, die auf die sich verändernden Gemeindestrukturen verweist. Gleichzeitig transportiert er das »heute selbstverständliche Gedankengut der Aufklärung«35, welches insbesondere in den dargestellten Textsequenzen auf den Emanzipationsprozess der jüdischen Bevölkerung und den Toleranzgedanken ausgerichtet ist. Ausgangspunkt seiner Geschichtsschreibung bildet ein deskriptiver Überblick über den spezifischen historischen Kontext, weniger die offensichtliche kritische Analyse dessen. Er orientiert sich damit an seinen methodischen Richtlinien, die das Quellenstudium als grundlegende Basis setzen und Objektivität als oberstes Prinzip fordern, hinter das die eigene Parteilichkeit zurückzutreten hat.36 Trotz allem enthält die Schilderung der ›Berliner Judenschaft‹ aber auch eine Differenz, die zwischen Autor und behandeltem Objekt besteht. Nicolais Historiografie ist einerseits durch den Aufklärungsgedanken bestimmt, andererseits durch die Außenperspektive. Den Gemeindestrukturen, die der inneren jüdischen Hierarchie unterlagen und die durch die preußische Gesetzgebung kontrolliert wurden, stand der Erneuerungsprozess durch die Aufklärungsbewegung noch bevor. Der Reformierung der jüdischen Tradition arbeitete eine Orthodoxie entgegen, die die eigene Bevölkerung und Zuwanderer kontrollierte, um das traditionelle Lebensumfeld zu erhalten. Mit der 1792/93 von Karl Philipp Moritz herausgegebenen Lebensgeschichte Salomon Maimons steht ein Korrektiv zu Nicolais Darstellung zur Verfügung, das seine Beschreibung nicht negiert, aber um eine nicht unwesentliche Innenperspektive ergänzt. Anhand dieser wird deutlich, dass der eigene Aufklärungsanspruch Maimons auf eine restriktive Gemeindepolitik stieß, die dessen Ausweisung am Rosenthaler Tor zur Folge hatte: »Endlich bemerkte ich einen Menschen, der nach seinem Anzuge zu urteilen ein Rabbiner sein mußte; ich wandte mich also an diesen, und wie groß war nicht meine Freude, als ich von ihm erfuhr, daß er wirklich ein Rabbiner und in Berlin ziemlich bekannt war. Ich unterhielt mich mit ihm […], so erzählte ich ihm meinen Lebenslauf in Polen, eröffnete ihm mein Vorhaben, in Berlin Medizin zu studieren, zeigte ihm meinen Kommentar über den More Nevuchim [»Führer der Unschlüssigen« von Maimonides] […]. Endlich gegen Abend kamen die jüdischen Ältesten. Es wurde ein jeder der Anwesenden vorgerufen und über sein Gesuch gefragt. Die Reihe kam auch an mich, und ich sagte ganz offenherzig, ich wünsche in Berlin zu bleiben, um daselbst Medizin zu studieren. Die Ältesten schlugen mein Gesuch geradezu ab, gaben mir meinen Zehrpfennig und gingen fort. Die Ursache dieses Betragens, gegen mich besonders, war keine andere als diese. Der Rabbiner, von dem ich vorher gesprochen habe, war ein eifriger Orthodoxer. Nachdem er also meine Gesinnungen und Vorhaben 35 Möller, Aufklärung in Preußen, S. 41. 36 Vgl. Möller, Friedrich Nicolai als Historiker, S. 154 f.

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ausgeforscht hatte, ging er in die Stadt, benachrichtigte die Ältesten der Gemeinde von meiner ketzerischen Denkungsart, indem ich den More Nevuchim kommentiert neu herausgeben wolle, und daß mein Vorhaben nicht sowohl sei, Medizin zu studieren und als Profession zu treiben, sondern hauptsächlich mich in Wissenschaften überhaupt zu vertiefen und meine Erkenntnis zu erweitern.«37

Die Diskrepanz zwischen Erneuerung und Traditionsbewahrung innerhalb der jüdischen Gemeindestrukturen, die die Jahrzehnte zwischen 1770 und 1790 prägte, geht aus Nicolais Beschreibung nicht hervor. Die Perspektive auf die ›Berliner Judenschaft‹ ist bei Nicolai durch den der Vernunft verpflichteten, sich durch höchste intellektuelle Fähigkeiten auszeichnenden Mendelssohn geprägt, er gibt das Interpretationsmuster vor. Bereits die Darstellung des edlen Juden in Lessings Lustspiel Die Juden (1749) weist auf die humanistischen und universellen Werte hin, die die Charakterisierung Mendelssohns durch Nicolai prägten. Die Anführung von Mendelssohns Eigenschaften des »Edelmuts, seiner unerschüttlichen Redlichkeit, seiner Wohltätigkeit, seiner Uneigennützigkeit, seiner Menschenliebe, […] seiner Sanftmuth«38 in Nicolais Gedächtnisschrift transportiert das Bildnis des vollkommenen Menschen. Gebunden daran ist sein Verständnis einer Judenschaft, die nicht anders als reformorientiert ausgerichtet sein kann, vor allem aber im Sinne der Aufklärung vernünftig handeln muss.

3.

Die Bedeutung des Verlegers Friedrich Nicolai für die Veröffentlichungen Mendelssohns »Auch Sie, mein lieber Nicolai! Auch Sie vergessen ihre abwesende Freunde, und bedenken nicht, wie verlassen man zu Hamburg ist, und wie sehr man nach dem Vergnügen schmachten muss, eines vernünftigen Freundes Briefe zu lesen. Ich, der ich gewohnt bin in einem Zirkel von Freunden zu leben. In deren Brust ein göttlich Feuer lodert, aus deren Augen Seele strahlt, durch deren Beyspiel ich zum Denken aufgefordert, den Lenz nicht fühle, der die Fluren malt, die Morgensonne nicht, die zwischen Wolken spielt. Und jede Pracht, die auf Billwerder lacht, verachte, wo nicht neben mir ein Freund sie fühlt.«39

Diese lyrische Impression verfasste Mendelssohn im April 1761 in einem Brief an den Berliner Freund Nicolai. Mit dem »Zirkel von Freunden« ist das berühmte Freundschaftsdreieck Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai angesprochen,40 die sich 1754/55 kennenlernten und 1759 das

37 38 39 40

Maimon, Lebensgeschichte, S. 127 f. Nicolai, Nekrolog auf Moses Mendelssohn, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 41. Mendelssohn an Nicolai, April 1761, in: Mendelssohn, Neuerschlossene Briefe, S. 6 f. Vgl. zum Freundschaftsverhältnis Berghahn, Das Wagnis der Freundschaft, S. 271 – 284;

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gemeinsame literarische Projekt Briefe, die neueste Litteratur betreffend begründeten, die Nicolai in seinem Verlag bis 1765 herausgab und die das erste eigene verlegerische Projekt darstellten. Sowohl Mendelssohn als auch Nicolai weisen in autobiografischen Aussagen immer wieder auf die wichtige Bedeutung dieses Freundschaftsverhältnisses hin, das auf dem Grundgedanken der kritischen Auseinandersetzung beruhte und der Verhandlung und Entwicklung von geistesgeschichtlichen und literarischen Positionen diente. Aufbauend auf der Korrespondenz zwischen Lessing, Mendelssohn und Nicolai hat Roloff auf die »Kommunikationsschwerpunkte« der »privaten Freundschaft«41 zwischen Mendelssohn und Nicolai verwiesen. Zentrale Aspekte des Freundschaftsverhältnisses waren »literarische Kooperationen«42, beispielsweise innerhalb der Briefkorrespondenz mit Lessing oder Thomas Abbt, die genau durchgeführte redaktionelle Kritik der Werke und die kommunizierten Maßstäbe ihrer Veröffentlichung, die »Verteidigung« des anderen »gegen Angriffe und Mißverständnisse von außen«43 und vor allem gemeinsam betriebene Studien, die für die beiden Autodidakten mit dem Griechischunterricht begannen und sich im Laufe der dreißigjährigen Freundschaft auf philosophische, historische und literaturtheoretische Bereiche ausdehnten. Konfessionelle Themen spielten meist nur im Hinblick auf öffentliche Äußerungen und Angriffe auf Mendelssohns Judentum eine Rolle, dessen Standpunkt Lessing und Nicolai verteidigten. Ihnen kam zudem eine wichtige Funktion für den Eintritt Mendelssohns in die christlich-bürgerliche Berliner Gesellschaft zu,44 da beide als Unterstützer Mendelssohns auftraten, beispielsweise im Berliner Montagsclub. Im Gegensatz zur deutschen Aufklärungsbewegung verfolgte die jüdische Aufklärung, wie Schulte betonte, ein zweifaches Ziel: Neben die »Aufklärung der Juden als Menschen trat die Aufklärung der Juden als Juden«.45 Dabei fokussierte die erste Generation der jüdischen Aufklärer auf eine Bewahrung des jüdischen Selbstverständnisses, neben das eine rechtliche Gleichstellung als Staatsbürger treten sollte:

41 42 43 44

45

Roloff, »Wir, Moses und ich«, S. 25 – 48; sowie Möller, Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn, S. 97 – 114. Roloff, »Wir, Moses und ich«, S. 27. Ebd. Ebd. In dem Artikel Verbot der Literaturbriefe in Berlin, der 1807 in der Neuen Berlinischen Monatsschrift erschien, schreibt Nicolai dem Verbotsverfahren im März 1762 retrospektiv eine positive Bestimmung zu: »Nebenher hatte dieser Vorfall die Wirkung, daß Moses Mendelssohns Verdienste allgemein anerkannt und geschützt wurden. Seine philosophische Gelehrsamkeit erregte hin und wieder nicht wenig Verwunderung; denn damals gab es noch viele welche der Meinung waren, ein Jude könne zu nichts sonderlich Talent haben, als allenfalls schlechtes Geld zu münzen.« (Nicolai, Verbot der Literaturbriefe in Berlin, S. 456). Schulte, Die jüdische Aufklärung, S. 26.

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»Unter [der] Voraussetzung jahrhundertelanger Diskriminierung und entsprechend großen intellektuellen Nachholbedarfs strebten die Maskilim innerhalb der europäischen Aufklärung nach intellektueller, wissenschaftlicher, sozialer und kultureller Anerkennung: als Mensch. […] [Es ging] der Haskala um gleichberechtigte Teilhabe an der europäischen Aufklärung unter Beibehaltung der Eigenheit, der partikularen jüdischen Identität, Religions- und Volkszugehörigkeit.«46

Dies bedingte eine zweifache Adressatenbestimmung. Während über die Publikation von hebräischsprachigen Texten – Nicolai verweist in den Beschreibungen auf die Existenz zweier Druckereien für hebräische Literatur und weitere semitische Sprachen, wobei eine der Jüdischen Freischule angeschlossen war47 – die Ideen und Ziele der jüdischen Aufklärung an ein jüdisches Lesepublikum verbreitet werden sollten, zielten die deutschsprachigen Publikationen auf eine Beteiligung an den Debatten der Aufklärung, auch im Hinblick auf die Vertretung der spezifischen eigenen Positionen. Hier kam Nicolai als Verleger, zwischen 1764 und 1788 rangierte sein Verlag mit der jährlichen Titelproduktion an dritter Stelle der zehn wichtigsten Verlage Berlins,48 eine wichtige Funktion zu. Seine kritische Haltung gegenüber dem zeitgenössischen Verlagsbetrieb im Hinblick auf die Adressatenausrichtung der veröffentlichten Schriften war durch den Grundgedanken einer »Beförderung der Entwicklung aller Kräfte des Geistes«49 geprägt. Durch eine »Popularisierung von Wissenschaften«50 sollten Publikationen nicht auf die Schicht der Gelehrten beschränkt bleiben, vor allem aber der Zugang zum Wissen für alle Bevölkerungsschichten geöffnet werden. Durch die Veröffentlichung von Schriften zur Frage der rechtlichen Gleichstellung von Juden, von wissenschaftlichen Denkschriften über die jüdische Religion und durch die Aufnahme von Rezensionen zu Werken, in denen sich die Autoren mit jüdischen Thematiken auseinandersetzten, eröffnete Nicolai jüdischen Autoren mit seinem Zeitschriftenprojekt Allgemeine deutsche Bibliothek einen Publikations- und Rezeptionsort im 18. Jahrhundert. Damit etablierte er innerhalb des preußischen Literaturbetriebes einen Diskussionsraum zu historischen, rechtlichen, theologischen und geistesgeschichtlichen Fragen in Bezug auf das Judentum, die sich innerhalb des Verlagsprogramms in die Ka46 Ebd., S. 28 f. 47 Vgl. Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 8/1, S. 218 u. S. 477 f.: »Ferner haben die Direktoren eine Buchdruckerey und Buchhandlung auf Rechnung und zum Nutzen dieser Freyschule angelegt […]. Diese Handlung kann in allen orientalischen Sprachen drucken und verlegen, auch zum orientalischen Texte Uebersetzungen, Anmerkungen, Erläuterungen, u. s. w. in der Sprache und mit der Schrift solche Zusätze drucken, und endlich eine eigene Schriftgießerey von orientalischen Lettern anlegen.« 48 Vgl. Raabe, Der Verleger Friedrich Nicolai, S. 72. 49 Nicolai, Sebaldus Nothanker, S. 90. 50 Möller, Aufklärung in Preußen, S. 191.

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tegorie Zeitfragen und Politik einordnen lassen: »Die Schriften zu Zeitfragen und die Polemiken kann man als eine eigene, freilich auch zentrale Rubrik betrachten […]. Die Bemühungen, das Los der Juden in der Aufklärung zu erleichtern, waren für Moses Mendelssohns Freund eine Herzenssache.«51 Der Verlag Nicolais wurde für Mendelssohn zunehmend zum wichtigsten deutschsprachigen Publikationsort. Seit Beginn der 1760er Jahre veröffentlichte er seine Schriften bei Nicolai, darunter das bedeutende Werk Phaedon oder Ueber die Unsterblichkeit der Seele in drey Gesprächen. Es erschien 1767, erreichte achte Auflagen und wurde in zehn Sprachen übersetzt. Das rechtsphilosophische Hauptwerk Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum publizierte Mendelssohn dagegen 1783 bei Friedrich Maurer. Allerdings erschienen zwei der bedeutendsten Verteidigungsschriften bzw. Stellungnahmen Mendelssohns ebenfalls bei Nicolai, die die Funktion des Verlages als Veröffentlichungsort der Aufklärung unterstreichen. Im Dezember 1769 schloss Mendelssohn seine Entgegnung an Johann Caspar Lavater ab. 1770 druckte Nicolai diese in seinem Verlag. Mit dem Verweis »Ich habe das Glück, so manchen vortrefflichen Mann, der nicht meines Glaubens ist, zum Freunde zu haben. Wir lieben uns aufrichtig, ob wir gleich vermuthen und voraussetzen, daß wir in Glaubenssachen ganz verschiedener Meinungen sind«,52 der sich auf die Freunde Nicolai und Lessing beziehen lässt, eröffnet Mendelssohn seine eindringliche Forderung der religiösen Toleranz und spricht sich eindeutig für seinen Glauben aus. Nicolai unterstützte Mendelssohn in der prekären Angelegenheit nicht allein als Verleger. Sowohl in Briefen an Lavater als auch in Briefen an den gemeinsamen Freund, den Basler Ratsschreiber Isaak Iselin, kritisierte er Lavaters Vorgehen und trat als Verteidiger Mendelssohns auf. Lavaters öffentliche Aufforderung53 zur Konversion widersprach Nicolais Religionsverständnis, nach dem der Glaube dem Bereich des Privaten angehöre, den man »lieber dem Gewissen eines jeden überlassen solte«54 und knüpfte sich an eine umfassende Toleranzforderung für alle Konfessionen.

51 Raabe, Der Verleger Friedrich Nicolai, S. 82. 52 Mendelssohn, Schreiben an den Herrn Diaconus Lavater zu Zürich, S. 13. 53 Lavater, Widmungsschreiben an Moses Mendelssohn. – Die provokante Forderung Lavaters lautete: »Nicht, diese Schrift mit philosophischer Unpartheylichkeit zu lesen […]: Sondern, dieselbe öffentlich zu widerlegen, wofern Sie die wesentlichen Argumentationen, womit die Thatsachen des Christenthums unterstützt sind, nicht richtig finden: Dafern Sie aber dieselben richtig finden, zu thun, was Klugheit, Wahrheitsliebe, Redlichkeit Sie thun heissen; – was Socrates gethan hätte, wenn er diese Schrift gelesen, und unwiderleglich gefunden hätte.« (Lavater, Zueignungsschreiben J. C. Lavater an M. Mendelssohn, in: Mendelssohn, JubA, Bd. 7, S. 1). 54 Nicolai, zit. nach Jacob-Friesen, Profile der Aufklärung, S. 130.

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1781 veröffentlichte Nicolai in seinem Verlag die Abhandlung Über die bürgerliche Verbesserung der Juden55 des preußischen Staatsbeamten Christian Wilhelm Dohm. Veranlasst durch Mendelssohn, der in dieser Angelegenheit nicht in eigener Sache argumentieren wollte, befürwortet durch Nicolai, verfasste Dohm die Schrift zur Unterstützung der elsässischen Juden: »Endlich habe ich das Vergnügen Ihnen hierbey den Schluss meiner Schrift zu schicken. […] Wenn ich die K Bogen heute wieder erhalte, könnte das morgen gedruckt werden. Da eine Schrift doch immer mehr Eindruck macht, wenn sich jemand zu ihr nennt, da in der meinigen nichts enthalten ist, was ich abläugnen dürfte, auch die Censur sie durchaus approbirt hat; ohnedem der Verfasser doch immer bekannt wird; so habe ich beschlossen meinen Nahmen auf den Titel zu setzen, welches H. Nicolai auch sehr lieb seyn wird.«56

Die Argumentation Dohms zielte auf eine »sittliche Verbesserung«57 der Juden durch Erziehung und war am Staatsnutzen orientiert. Die Forderung einer freien religiösen Betätigung, der freien Berufswahl, des freien Zugangs zu öffentlichen Schulen und Universitäten war auf die gesellschaftlich-bürgerliche Integration ausgelegt. Allein durch Aufhebung ihres rechtlosen Zustands konnten sie nach Dohm zu besseren und nützlicheren Untertanen werden. Das Novum von Dohms Positionierung gründete auf der Forderung einer »reformerischen Praxis«, die auf die Beseitigung sozialer Abstufungen, nicht allein auf ein Verständnis für »die Lage der jüdischen Minderheit«58 ausgerichtet war. Ebenfalls bei Nicolai erschien 1782 die Vorrede zu Manasseh Ben Israel Die Rettung der Juden von Moses Mendelssohn. Mit dieser Rede greift Mendelssohn in die von ihm veranlasste Debatte über die ›bürgerliche Verbesserung der Juden‹ ein und positioniert sich öffentlich. Plattform der Debatte ist Nicolais Verlag, den Mendelssohn für die Positionierung seiner Forderungen in der Öffentlichkeit nutzt. Im Gegensatz zu Dohm argumentiert Mendelssohn universalistisch und fordert die politische und rechtliche Gleichstellung der Juden im Namen aller Menschen. Grundlage dieser Gleichstellung stellt für ihn die Trennung von Kirche und Staat dar. Indem er den Staat als allein für die bürgerliche Verfassung zuständig erklärt, hebt er die Unabhängigkeit des rechtlichen Status des Einzelnen von seiner religiösen Orientierung hervor. Partikulare Rechte für die jüdische Gemeinde, die von Dohm durch eine Autonomiezusicherung der jüdischen Gemeinde gefordert werden, wehrt Mendelssohn mit der Begründung ab, dass allein von »obrigkeitlichen Richtern« Entscheidungen zu treffen seien, 55 Dohm, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. 56 Dohm an Mendelssohn, 24. August 1781, in: ders., Briefwechsel der letzten Lebensjahre, S. 23. 57 Bourel, Moses Mendelssohn, S. 323 – 351. 1783 veröffentlichte Dohm einen zweiten Teil der Schrift, in der er soziale und religiöse Assimilationsforderungen formulierte. 58 Heinrich, »Juden müssen sich also gar nicht einmischen…«, S. 50.

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»gleichviel, ob sie der jüdischen oder einer andern Religion anhängen«.59 Denn »sobald die Glieder des Staats, welcher Meinungen in Religionssachen sie auch zugethan sind, gleiche Rechte der Menschheit genießen; so kan auf diesen Unterschied nichts ankommen.«60 Zu beachten ist dabei, wie diffizil diese Äußerungen für Mendelssohn stets waren. Bei der Darlegung von seines Erachtens notwendigen Reformen innerhalb der jüdischen Gemeindestrukturen, die einer rechtlichen Verbesserung innerhalb des preußischen Staates dienen sollten, musste er stets die Balance gegenüber der eigenen jüdischen Lebenswelt wahren. Nicht allein aus der Retrospektive stellen die Jahre 1781/82 mit den Veröffentlichungen und dem Toleranzedikt Josephs II. eine wichtige Zäsur innerhalb des Emanzipationsprozesses der preußischen Juden dar. Für Mendelssohn bildeten Dohms Schrift und das erlassene Edikt die »Vorzeichen einer neuen Epoche«61, der er mit seinen Schriften einen Dienst leisten wollte. Gleichzeitig bedeutete dies die Erweiterung von philosophischen und theologischen Fragen auf rechtspolitische Aussagen. Die Bedeutung Nicolais als Verleger für diese Veröffentlichungsprozesse ist nicht zu unterschätzen. In einem Brief vom Februar 1782 wendet sich Mendelssohn an Nicolai mit der Bitte, das Manuskript Manassah Ben Israel so schnell wie möglich zu publizieren: »Bester Freund! Sie erhalten hierbey einen Theil des Mst., das Sie gütigst zum Drucke zu befördern versprochen, nebst dem Schreiben des Herrn K. R. Dohms, in welchem er anzeigt, wie er es mit der Correctur zu halten wünscht. Ich bitte, diese Broschure, sobald als möglich abdrucken zu lassen. Ich denke, man sollte itzt beständig das Publikum für diese Materie en haleine halten, und immer für und wider die Sachen streiten.«62

Dieser Bitte nachkommend, versucht Nicolai das Druckverfahren für Mendelssohns Text zu beschleunigen und bereits im April 1782 erscheint die Broschüre. Mendelssohns Gespür für die Lancierung wichtiger reformpolitischer Fragen in der Öffentlichkeit zeigte sich am Erfolg von Dohms Schrift. Die erste Auflage von 1.000 Exemplaren war nach sechs Monaten vergriffen, eine Übersetzung ins Französische erfolgte unmittelbar 1782.63 Die Bekanntheit des Nicolaischen Verlages innerhalb Berlins und Preußens trug maßgeblich zur öffentlichen Rezeption der Texte bei. Insbesondere Dohms Text wurde breit dis59 Mendelssohn, Vorrede zu Manasseh Ben Israel Rettung der Juden, in: ders., JubA, Bd. 8, S. 17. 60 Ebd. – Vgl. dazu auch Heinrich, »Juden müssen sich also gar nicht einmischen…«, S. 52. 61 Altmann, Einleitung zu Manasseh Ben Israel Rettung der Juden, in: Mendelssohn, JubA, Bd. 8, S. XIII. 62 Mendelssohn an Nicolai, 8. Februar 1782, in: ders., Briefwechsel der letzten Lebensjahre, S. 31. 63 Vgl. Bourel, Moses Mendelssohn, S. 352.

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kutiert und gilt heute aufgrund der damaligen Rezeption als wegweisende Schrift für die rechtliche Gleichstellung der Juden. Indem Nicolai beiden Autoren seinen Verlag als Publikationsort zur Verfügung stellte, fungiert er nicht allein als Verleger, sondern auch als Aufklärer. Der Kritik »als probates Mittel der Wahrheitsfindung«64 verpflichtet, eröffnet er mit der Publikation der Schriften einen öffentlichen Diskussionsraum und verweist somit seinerseits auf die Forderung sozialer und politischer Reformen innerhalb des preußischen Staates. Es bleibt allerdings festzuhalten, dass Mendelssohn und nicht Nicolai die strategische Planung und Lancierung der Abhandlungen zukam. Nicolai trat in seiner Rolle als angesehener und etablierter Verleger als Vermittlungsinstanz an das vor allem preußische Lesepublikum in Erscheinung. Mendelssohn nutzte das öffentliche Ansehen des Verlages, um die Positionen nichtjüdischer Vertreter, die aufgrund ihrer sozialen und gesellschaftlichen Stellung sowie ihrer »Sachkompetenz und […] kritische[n] Reflexion«65 des gegenwärtigen Prozesses legitimiert waren aufzutreten, in die beginnende Debatte einzuführen. Zugleich verdeutlichte Mendelssohn damit, dass die Frage einer rechtlichen Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung keine innere Angelegenheit der jüdischen Gemeinde, sondern von Bedeutung für das Selbstverständnis Preußens als aufgeklärter und reformorientierter Staat war.66 Als Verleger und Freund unterstützte Nicolai durch den Druck bedeutender Schriften des jüdischen Aufklärers Mendelssohn den Emanzipationsprozess. Diese Unterstützungsleistung blieb jedoch auf die erste Generation der Maskilim, vor allem auf Mendelssohn beschränkt. David Friedländers Akten-Stücke die Reform der jüdischen Kolonien in den Preußischen Staaten betreffend erschienen bei Christian Friedrich Voss 1793. Ein weiterer Vertreter der nachfolgenden Generation, Saul Ascher, publizierte seine Bemerkungen über die bürgerliche Verbesserung der Juden 1788 bei Kunze in Berlin, die religionsphilosophische Schrift Leviathan oder ueber Religion in Rücksicht des Judenthums folgte 1792 in der Frankeschen Buchhandlung. Der besondere Diskussions- und Kommunikationsraum, den Nicolai mit seinen Zeitschriften geschaffen hatte, der aber auch eng an die freundschaftlichen Beziehungen zu Mendelssohn und Lessing gebunden war, hatte mit dem Tod der beiden Freunde sowie den historischen Entwicklungen, wie der Französischen Revolution, erhebliche Änderungen erfahren.67 Die neue Kommunikationssituation innerhalb der ab Mitte der 1780er Jahre sich etablierenden jüdischen Salons war auf andere Interessen ausgelegt, die mit Nicolais Konzept von Geselligkeit nicht mehr überein64 65 66 67

Möller, Aufklärung in Preußen, S. 41. Heinrich, »Juden müssen sich also gar nicht einmischen…«, S. 44. Vgl. ebd., S. 42. Vgl. Möller, Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn, S. 114.

312

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stimmten. Die Perspektive auf die Berliner Judenschaft blieb zeitlebens an einen »der größten Gelehrten […], edelsten und vollkommensten Menschen«68 Moses Mendelssohn gebunden.

68 Nicolai, Nekrolog auf Moses Mendelssohn, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 41.

Nicolais Perspektive(n) auf die Berliner Juden und die jüdische Aufklärung

4.

Bibliographie

4.1

Quellen

313

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314 4.2

Ulrike Schneider

Sekundärliteratur

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Ursula Paintner

Aufgeklärter Antijesuitismus? Zur antijesuitischen Argumentation bei Friedrich Nicolai

1.

Antijesuitismus und Aufklärung – zur Problemstellung »Sagt wie heißt der steife Mann? Er geht mit stolzen Schritten. Er schnopert was er schnopern kann. ›Er spürt nach Jesuiten.‹«1

›Jesuitenriecherei‹ lautet das Schlagwort, unter dem bereits Zeitgenossen den auffälligen Antijesuitismus bei Friedrich Nicolai spöttisch beleuchten. Und tatsächlich entsteht bei einem ersten Blick auf die einschlägigen Texte aus Nicolais Feder der Eindruck, dass Nicolai förmlich auf der Suche nach ›jesuitischen Umtrieben‹ ist, die er mit drastischen Worten als Dunkelmännertum und absichtliche Volksverdummung denunzieren kann. Die Gesellschaft Jesu ist in Nicolais Augen die inkorporierte Gegenaufklärung, der jedes Mittel recht ist, aufklärerischen Fortschritt zu unterdrücken. Dabei zeigt bereits Goethes spöttische Haltung das Problem dieser radikalen Position: Die Konsequenz, mit der Nicolai den ›Jesuitismus‹ grundsätzlich verdammt, scheint in einem deutlichen Widerspruch zu den Idealen der Aufklärung zu stehen. Betrachten wir Aufklärung vor allem unter dem Aspekt der kritischen Reflexion von Vorurteilen, dann kann die pauschale Verurteilung einer ganzen Gruppe von Menschen nur aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem religiösen Orden kaum als aufgeklärt gelten. Andererseits impliziert der Begriff ›Antijesuitismus‹ die Gegnerschaft zu einem religiösen Orden, dessen Methoden und vor allem dessen sprichwörtlich gewordener ›Kadavergehorsam‹ schon sehr bald nach der Ordensgründung im Jahr 1540 als fanatisch und grenzenlos intolerant wahrgenommen wurden.2 Sehen wir die Aufklärung abseits ihrer konkreten Inhalte als geistesgeschicht1 Goethe, Faust, S. 185 (Walpurgisnachtstraum, V. 4319–V. 4322). 2 Zum Problem und zur Wahrnehmung des ›Kadavergehorsams‹ vgl. sehr knapp Hartmann, Die Jesuiten, S. 20 f.

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liches Phänomen, das durch bestimmte Elemente wie Konstitutionalismus, Säkularisierung und bürgerliche Entwicklung geprägt ist, dann sind der Zentralismus der Gesellschaft Jesu, ihre streng hierarchische Struktur, ihre Religiosität und Frömmigkeitspraxis kaum mit den Idealen der Aufklärung in Einklang zu bringen. Der Antijesuitismus der Aufklärung stellt sich also als zweischneidiges Phänomen dar : Zwar liegt Kritik an der Gesellschaft Jesu gewissermaßen im Wesen der Aufklärung begründet. Andererseits jedoch ist die Radikalität, mit der vor allem Nicolai die Gesellschaft nicht nur ablehnt, sondern zugleich für nahezu alle Übel seiner Zeit verantwortlich macht, kaum mehr als aufgeklärt im Sinne von vorurteilsfrei und vernunftgeleitet zu bezeichnen. Die Frage zu entscheiden, ob sich Friedrich Nicolai durch seine intensive Jesuitenkritik als Aufklärer reinsten Wassers oder als unaufgeklärter ›Jesuitenriecher‹ erweist, ist folglich schwierig. Zudem stellt sich dann immer noch die Frage, ob eine solche Beurteilung Nicolais ihrerseits angemessen wäre, oder ob sie nicht vielmehr das eigentliche Problem jeder Art von Antijesuitismus verdeckt. Dieses »eigentliche Problem« möchte ich im Folgenden kurz umreißen, bevor ich näher auf die antijesuitische Argumentation Nicolais eingehe. Die Aufklärung als intellektuelle und soziale Bewegung hat nicht als einzige eine antijesuitische Position hervorgebracht. Zwar fällt die Aufhebung der Gesellschaft Jesu durch das päpstliche Breve Dominus ac Redemptor (1773) mitten in das Jahrhundert der Aufklärung. Allerdings ist für diesen Schritt weniger eine besonders aufgeklärte Gesinnung des Papstes Clemens XIV. verantwortlich zu machen als vielmehr Konflikte des Ordens mit den katholischen Höfen von Portugal, Spanien und Frankreich, die ihrerseits teilweise bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen. Seit seiner Gründung ist der Jesuitenorden immer umstritten gewesen und immer polemisch bekämpft worden, wobei die Gegenposition zu dieser als elitär, obskurantistisch und gefährlich wahrgenommenen Gesellschaft bereits früh die Züge eines irrationalen Antijesuitismus annahm. Die Gesellschaft Jesu hat sich aus unterschiedlichen Gründen als Kristallisationskern erwiesen, an den sich Schichten von Vorwürfen, Beschuldigungen, Verdächtigungen und Vorurteilen angelagert haben. Diese einzelnen ›Schichten‹ werden dabei von den nachfolgenden Generationen von Jesuitengegnern nicht abgetragen, um wieder zum ›wahren Kern‹ vorzudringen, sondern sie bieten neue Anknüpfungspunkte für die Anlagerung von Vorwürfen und Kritik. Dies hat nicht unbedingt damit zu tun, dass die nachfolgenden Generationen zu bequem wären, der Sache auf den Grund zu gehen. Verantwortlich zu machen ist vielmehr die Argumentationsstruktur im antijesuitischen Bereich generell, deren Hauptaugenmerk der Erzeugung von ›Wahrheiten‹ gilt sowie der These, die Gesellschaft Jesu bemühe sich mit aller Kraft, gerade diese Wahrheiten zu verbergen. Vorwürfe gegen die Gesellschaft werden seit den ersten antijesuitischen

Zur antijesuitischen Argumentation bei Friedrich Nicolai

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Texten des 16. Jahrhunderts so verpackt, dass sie eine möglichst große Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen können. Einen ersten Höhepunkt erreicht dieses Phänomen mit der Veröffentlichung der angeblichen Geheiminstruktionen der Gesellschaft, der sogenannten Monita secreta, seit 1614.3 Wiewohl die genaue Herkunft dieser Monita immer noch nicht endgültig geklärt ist, können wir mit Sicherheit davon ausgehen, dass es sich nicht, wie behauptet, um Instruktionen des Ordensgenerals Claudio Aquaviva an die führenden Mitglieder des Ordens handelt. Diese Behauptung wurde bereits von Zeitgenossen bezweifelt und jesuitischerseits auch heftig abgestritten.4 Die Stellungnahmen reichten jedoch nichts aus, um den Verdacht zu entkräften, die Gesellschaft Jesu verfüge über geheime Anweisungen, die ihr ›wahres‹ Wesen enthüllten, vor allem die grenzenlose Habgier, den unbedingten Willen zur politischen Einflussnahme und Methoden von beispielloser Skrupellosigkeit. Spätestens seit diesem Zeitpunkt wird in der antijesuitischen Publizistik ein Gegensatz konstruiert zwischen der Wahrheit und Publizität der antijesuitischen Argumentation und der Verlogenheit und Geheimhaltung auf jesuitischer Seite. Die wiederholte Publikation von angeblich geheimen ordensinternen Dokumenten und von vorgeblichen Tatsachenberichten ›entkommener‹ Ordensangehöriger sichert die antijesuitischen Vorwürfe gegen mögliche Verteidigungen: Die Geheimdokumente und -berichte beweisen ja die Diskrepanz zwischen Fassade und Kern, die es wiederum erlaubt, jede auch noch so harmlose Handlung eines Jesuiten als heimliche Intrige zu deuten. Auf diese Weise wird das Bild der Gesellschaft Jesu in der Öffentlichkeit Schicht um Schicht ergänzt und erweitert. Jede ›Widerlegung‹, die von jesuitischer Seite publiziert wird, dient nicht etwa der Richtigstellung, sondern wird ihrerseits als Beleg für die antijesuitischen Thesen gelesen: Dass die Jesuiten die gegen sie vorgebrachten Anschuldigungen zurückweisen, dient als Indiz dafür, dass sie nicht bereit seien, die Wahrheit zuzugeben, potenziert also noch die ihnen vorgeworfene Bosheit. Weil diese ›Ablagerungsschichten‹ nicht vom ›wahren Kern‹ der Gesellschaft Jesu zu trennen sind, sind sie an einem bestimmten Punkt auch nicht mehr hintergehbar bzw. werden nicht mehr in Frage gestellt. Eine vorurteilsfreie Betrachtung des Ordens ist folglich, so meine Ausgangsthese, selbst für einen kritischen Denker wie Friedrich Nicolai gar nicht möglich. Vielmehr wird im Folgenden zu zeigen sein, dass Nicolais antijesuitische Argumentation durch die Tradition des Antijesuitismus seit dem 16. Jahrhundert bedingt ist. Ein ›aufgeklärter Antijesuitismus‹, so werde ich deutlich machen, ist insofern unmöglich,

3 Vgl. Pavone, Between History and Myth. 4 Eine frühe Replik ist z. B. Gretser, Contra Famosvm Libellvm.

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als sich die antijesuitische Tradition jeder kritischen Untersuchung im Sinne der Aufklärung unmerklich entzieht.

2.

Zu den Quellen

Um die antijesuitische Argumentation Friedrich Nicolais nachzuvollziehen, ist zunächst seine zwölfbändige Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781 heranzuziehen. Nicolai verfolgte mit dieser Reise neben Bildungsinteressen besonders geschäftliche Ziele und den Zweck, seinen ältesten Sohn »in die Buchhandelswelt des deutschsprachigen Kulturraums«5 einzuführen. Nicolai beobachtet vor allem die Menschen und ihre Lebensumstände und misst an einem inneren, nicht näher spezifizierten Gradmesser den Grad der Aufklärung, der in den von ihm bereisten Gegenden erreicht ist.6 Aufklärung ist das Ziel seiner Reise: Aufklärung seiner selbst durch den Erwerb nützlichen Wissens, Aufklärung seiner Leser durch die Weitergabe dieses Wissens in der Reisebeschreibung und zuletzt Aufklärung der bereisten Gebiete durch die direkte Kritik, die in der Reisebeschreibung ausgesprochen wird.7 Es mag zunächst verwundern, dass Antijesuitismus ausgerechnet in einer Reisebeschreibung zu finden ist. Sind es im 16. und 17. Jahrhundert neben umfangreichen theologischen Traktaten vor allem für den schnellen Gebrauch bestimmte, skandalträchtige Flugschriften, in denen antijesuitische Argumente verbreitet werden, so kommen im 18. Jahrhundert – als Begleiterscheinung der Diskussionen im Vorfeld der Ordensauflösung von 1773 – königliche Erlasse, Parlamentsbeschlüsse und andere offizielle Dokumente als wichtige Textsorten hinzu.8 Diese verleihen der antijesuitischen Argumentation zusätzliches Gewicht, gelten sie doch in Zeiten zunehmender ›Verrechtlichung‹ als Autoritätsbelege ersten Ranges. Eine weitere wichtige Quellengattung sind zu allen Zeiten, wie bereits kurz erwähnt, angebliche Geheiminstruktionen und Augenzeugenberichte aus dem Inneren der Gesellschaft Jesu. Hier sind neben den Monita secreta vor allem die Schriften von Bedeutung, die in den 1590er Jahren erstmals von einem angeblichen Ex-Jesuiten namens Elias Hasenmüller publiziert wurden. In der Historia Iesvitici Ordinis und Jesuiticum Ieiunium (1593 bzw. 1595)9 beschreibt Hasenmüller die Geschichte und die besonderen Fastengebräuche der Jesuiten, wobei in diesen Texten an prominenter Stelle die These vertreten 5 6 7 8 9

Bödeker, Nicolai auf Reise, S. 306. Vgl. ebd., S. 317 – 329, bes. S. 318. Vgl. Martens, Zum Bild Österreichs, bes. S. 46 f. Vgl. Vogel, Untergang der Gesellschaft Jesu, S. 223 f. et passim. Hasenmüller, Historia Iesvitici Ordinis; sowie ders., Jesuiticum Ieiunium. – Die Historia erscheint 1594, Jesuiticum Ieiunium 1596 in deutscher Übersetzung.

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wird, die Jesuiten seien nicht, was sie schienen, unter der frommen Fassade verbärgen sich vielmehr Abgründe an Verderbtheit. Hier wird großer Aufwand betrieben, um die Texte zu beglaubigen: Zum einen birgt die Behauptung, Hasenmüller sei selbst Jesuit gewesen und unter Lebensgefahr der Gewalt des Ordens entronnen, das nur schwer hintergehbare Augenzeugen-Argument. Zum anderen fungiert der bekannte protestantische Theologe Polycarp Leyser als Herausgeber der beiden Texte; zum Augenzeugen tritt also die Autorität, die zusätzlich die Glaubwürdigkeit des Gesagten absichert. Dieser doppelte Aufwand ist an der Schnittstelle zwischen theologischer und moralischer antijesuitischer Argumentation, die Hasenmüllers Texte besetzen,10 auch notwendig: Wenn theologisch gegen die Jesuiten argumentiert wird, dann lassen sich die ›Fehler‹ der Jesuiten in der Regel aus deren eigenen Schriften nachweisen, sie entlarven sich also selbst.11 Unterstellt die moralisch ausgerichtete Argumentation aber eine Diskrepanz zwischen der Selbstdarstellung – dem ›Schein‹ – der Jesuiten und ihrem tatsächlichen Sein, dann steigt der Beglaubigungsbedarf, weil hier ja tatsächlich gegen den Augenschein argumentiert wird. Auch die Logik und Glaubwürdigkeit von Nicolais Argumentation in der Reisebeschreibung beruht zunächst auf dem einfachen Prinzip der Autopsie: Ich habe es selbst gesehen, also muss es wahr sein. Von diesem Prinzip geht der Antijesuitismus der Reisebeschreibung aus, es wird in der Auseinandersetzung mit Christian Garve fortgeführt,12 und das Augenzeugenprinzip bildet auch die Grundlage der 1785 als anonyme Übersetzung aus dem Französischen (wahrscheinlich von Nicolai selbst) publizierten Nachricht von der wahren Beschaffenheit des Instituts der Jesuiten.13 Sigrid Habersaat begründet in ihrer Studie Verteidigung der Aufklärung die Entwicklung einer dezidiert antijesuitischen Position bei Nicolai generell mit der auf der Reise gemachten Erfahrung: »Die äußerliche Manifestation des Katholizismus war dem protestantischen Aufklärer bis zu seiner Reise unbekannt. Deren ausführliche Darstellung und Kommentierung beweist ihre schockierende Wirkung auf Nicolai. […] Bei diesen Gläubigen konnte er Aufklärung nicht einmal ansatzweise feststellen. Sein empiristischer Ansatzpunkt war nicht die theologische Kritik an den kirchlichen Dogmen, sondern deren Auswirkung auf die religiöse Praxis. Die Machtstruktur der Kirche in Kohärenz mit einer spezifisch katholischen Religiosität machte er für den mangelnden Fortschritt der Aufklärung verantwortlich. Im Gegensatz zu einer von ihm konstatierten ›Unmündigkeit‹ der Katholiken erkannte er in der evangelischen Kirche seit der Reformation eine

10 11 12 13

Vgl. Paintner, Des Papsts neue Creatur, S. 404 f. Vgl. ebd., S. 163 – 171. Vgl. Nicolai, Untersuchung der Beschuldigungen des Herrn Prof. Garve. [Nicolai], Nachricht von der wahren Beschaffenheit.

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schrittweise Befreiung von der Hierarchie und damit von der Bevormundung des einzelnen Gläubigen.«14

Die Behauptung, Nicolais antijesuitische Position beruhe allein auf der Begegnung mit den Auswirkungen des Katholizismus im oberdeutschen Raum, hieße ein Problem der gesamten Augenzeugen-Strategie gegen die Jesuiten zu verkennen. Denn diese Strategie wird hauptsächlich dann angewandt, wenn es Dinge zu behaupten gilt, die eben nicht offensichtlich sind. Wenn bei Nicolai der allgemeine Antikatholizismus, den auch Habersaat vorrangig im Blick hat, in einen spezifischen Antijesuitismus übergeht, dann geht es um mehr als um eine hässliche Wahrheit hinter einer schönen Fassade. Denn zu dem Zeitpunkt, zu dem Nicolai sich auf Reise befindet und seine Beobachtungen niederlegt, existiert zumindest offiziell die Gesellschaft Jesu nicht mehr. Vielmehr wurde sie 1773 durch das Breve Dominus ac redemptor aufgehoben; die Ordensmitglieder blieben teils als Pfarrer oder Lehrer tätig, wurden teils aber auch vertrieben oder eingekerkert.15 Was Nicolai in Hinblick auf die Jesuiten beobachtet, ist also, so zumindest der erste Verdacht, eigentlich gar nicht zu beobachten, denn die Gesellschaft Jesu als zusammenhängenden Orden gibt es nicht mehr ; es gibt allenfalls ehemalige Ordensmitglieder, die nach wie vor in kirchlichen Positionen tätig sind. Ist Nicolais Antijesuitismus also tatsächlich das Produkt empirischer Erfahrung, oder beruht er nicht vielmehr auf Vorurteilen bzw. tradierten Denkschemata? Diese Problemstellung ist nicht vollkommen neu. So stellt YorkGothart Mix programmatisch die Frage Wie aufgeklärt war Friedrich Nicolai? und kommt zu einem ernüchternden Ergebnis: »Da Nicolai Protestantismus und Aufklärung synonym setzt, sieht er sich auf der Seite einer teleologisch grundierten, vom Geschichtsoptimismus bestimmten Wahrheit. Der ›zunächst kritische Wahrheitsbegriff der Aufklärung gerinnt solcherart‹, so Norbert Christian Wolf, ›zur totalitären Instanz des Wahrheitsbesitzes.‹«16

Tatsächlich lässt sich durch den Nachweis tradierter Argumente in Nicolais Position zeigen, dass es hier nicht nur um Empirie geht, sondern um eine durchaus polemische Stabilisierung der eigenen, als aufgeklärt wahrgenommenen Position auf Kosten eines ›Anderen‹. Gerade im Fall des Antijesuitismus greift es jedoch zu kurz, die offensichtlichen Vorurteile in Nicolais Position nur auf ein persönliches Defizit Nicolais zurückzuführen. Vielmehr ist zu untersuchen, wie sich eine antijesuitische Argumentation, die immer in der Tradition 14 Habersaat, Verteidigung der Aufklärung, S. 47. 15 Vgl. Hartmann, Die Jesuiten, S. 90. 16 Mix, Lucri bonus, oder Wie aufgeklärt war Friedrich Nicolai? S. 344. – Vgl. auch Wolf, Konfessionalität, Nationalität und aufgeklärter Patriotismus; Schmidt-Biggemann, Friedrich Nicolai oder vom Altern der Wahrheit.

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eines älteren Antijesuitismus steht, unmerklich jedem Versuch einer vorurteilsfreien Herangehensweise entzieht. Dies macht auch den entscheidenden Unterschied zwischen einem allgemeinen Antikatholizismus und einem spezifischen Antijesuitismus aus. In der Regel – und so auch bei Nicolai – findet sich letzterer nie ohne ersteren, sondern antijesuitische Argumente wurzeln auf dem Boden einer allgemein antikatholischen Einstellung; der entscheidende Unterschied scheint mir jedoch in der Argumentationsstruktur selbst zu liegen.

3.

Antijesuitische Argumente

Habersaat konstatiert zurecht, dass Nicolai den Katholizismus grundsätzlich und speziell die Gesellschaft Jesu für aufklärungsfeindlich hält, und zwar in einer so extremen Form, dass die Grenze zwischen aufgeklärten und nicht aufgeklärten Gebieten streng entlang der Konfessionsgrenzen gezogen wird. Im Protestantismus scheint eine gerade Linie von Luther zur Aufklärung zu verlaufen, während es eine katholische Aufklärung in Nicolais Wahrnehmung nicht oder zumindest kaum zu geben scheint: »Die meisten Protestanten sind also nicht geneigt, sich vorzustellen, daß die katholische Hierarchie noch bis jetzt, alle die schrift- und vernunftwidrigen Dogmen behaupte, welche der große Luther schon vor drittehalb hundert Jahren bestritt […].«17

Jedoch ist zu beachten, dass Nicolai hier nicht wirklich eine lutherisch-protestantische Position vertritt – die aufklärerische Dogmenkritik ist definitiv etwas anderes als die Kritik Luthers am Papsttum. Darauf hat bereits Wolfgang Martens hingewiesen.18 Er beschreibt Nicolais »Urteil gegenüber Religion und Frömmigkeitsformen, denen [er] in Österreich und darüber hinaus im ganzen katholischen Deutschland« begegnet sei, als begrenzt,19 bemerkt die Naivität, mit der Nicolai seine – vorgeblich aufklärerische – Position mit einer allgemein protestantischen Haltung gleichsetzt,20 und kommt zu dem Schluss, Nicolais Kritik an der katholischen Frömmigkeitspraxis besitze »nicht eigentlich konfessionellen, sondern säkular-kulturkämpferischen und antiklerikalen Charakter«.21 Die Gleichsetzung von (gemäßigtem) Protestantismus und Aufklärung sowie Katholizismus und Dunkelmännertum ist insofern verführerisch, als sie an ältere Argumentationsmuster anknüpfen kann. Trotz seiner Hochachtung für die 17 18 19 20 21

Nicolai, Untersuchung der Beschuldigungen des Herrn Prof. Garve, S. 5 f. Vgl. Martens, Zum Bild Österreichs, S. 56 – 61. Ebd., S. 56. Vgl. ebd., S. 59. Ebd., S. 61.

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Reformbemühungen Josephs II. geht Nicolai in seiner Argumentation soweit, den Katholiken eine über Generationen hinweg anerzogene Unfähigkeit zur Aufklärung zu unterstellen. Die Idee, die grundlegende Voraussetzung für die Aufklärung des Einzelnen sei dessen Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, scheint hier außer Kraft gesetzt – der Verstand der Katholiken sei so verkümmert, dass er nicht mehr aufklärungsfähig sei: »Man stelle sich einen jungen Menschen vor, der viele Jahre lang mit lateinischer Wortkenntniß geplagt, von der ersten Jugend an durch die Dornen der katholischen Theologie geschleppt, von der ersten Jugend an zur Ohrenbeichte, gedankenlosem Rosenkranzbeten und zu allen Arten mechanischer Religionsübungen angehalten worden, von der ersten Jugend an den Kopf mit verwirrten ascetischen Begriffen, mit verwirrten Begriffen von Bußen und Abtödtungen, ja mit Heiligenlegenden und Wallfahrtswundern vollgefüllt bekommen hat; ists Wunder, wenn seine Geisteskräfte gelähmt werden? Man nehme noch hinzu, weichliche Erziehung, und allgemeine Gewohnheit übermäßig viel Genuß und wenig Applikation zu lieben; man nehme hinzu, daß der größte Theil der nützlichen protestantischen Bücher verboten und unbekannt war, daß man nur höchstmittelmäßige innländische in Händen hatte, mit denen man wohl zufrieden war, besonders Gebetbücher in Menge; man nehme hinzu, daß die Oestreicher auch durch Reisen den bessern Zustand der deutschen protestantischen Länder nicht kennen […]: man überlege dieß alles, und man wird begreifen, daß die Hierarchen freyes Spiel hatten, Länder, wo es so finster aussah, nach ihrem Gefallen zu leiten.22

Der Passus kann beispielhaft für Nicolais allgemeine Katholizismuskritik stehen: Schlechte Erziehung und Bildung, abergläubische Elemente in der Frömmigkeitspraxis, allgemeine Neigung zu Müßiggang und Wohlleben, die sich sogar in der Physiognomie der Katholiken niederschlägt,23 restriktive Buchzensur und fehlende Eindrücke von außen prägen, so Nicolais Wahrnehmung, die süddeutschen katholischen Länder und führen zu einem grundsätzlich aufklärungsfeindlichen Klima. Dem ›gemeinen Katholiken‹ nun wirft Nicolai allenfalls geistige Trägheit vor, die ihn aber angesichts der über Generationen erfolgten Abstumpfung der Katholiken wenig zu wundern scheint. Die katholische Frömmigkeitspraxis, die in Nicolais Augen grundsätzlich beim rein äußerlichen Ableisten von Verpflichtungen stehenbleibt, ohne jemals den Status echter Religiosität erlangen zu können, ist es, die die Menschen im Bann der 22 Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 16, S. 887 f. 23 Vgl. z. B. Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 15, S. 400: »Der Bayerische Dialekt ist in Regenspurg gewöhnlich. Es ist aber sonderbar, daß, so wie man die Protestanten von den Katholischen an der Physiognomie unterscheidet, man sie so, besonders beym gemeinen Manne, auch am Dialekte verkennen kann, welcher bey weitem nicht so hart ist.« – Das Problem einer spezifisch katholischen Physiognomie beschäftigt Nicolai öfter (vgl. Mix, Lucri bonus oder Wie aufgeklärt war Friedrich Nicolai?, S. 343).

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Hierarchie hält und damit letztlich auch die Regierenden unter das Joch der katholischen Geistlichkeit und vor allem der Jesuiten zwingt. Hierin liegt der grundsätzliche Unterschied zwischen Antikatholizismus und Antijesuitismus bei Nicolai. Während das Gros der Katholiken als zwar unterentwickelt, aber zumindest ohne eigenes Verschulden in diese Situation geraten gelten darf, werden die Jesuiten als diejenigen dargestellt, die an diesem Zustand maßgeblich die Schuld tragen, indem sie aktiv die Verdummung ihres gesamten Einflussbereichs betreiben. Mit diesem inhaltlichen Unterschied zwischen Antikatholizismus und Antijesuitismus geht ein struktureller Unterschied einher. Zwar beruht Nicolais Argumentation auf den ersten Blick immer auf dem Augenschein. So identifiziert er nicht nur eine katholische Physiognomie, sondern behauptet auch, einen Jesuiten nur aufgrund seines Äußeren von jedem anderen Ordensgeistlichen unterscheiden zu können: »Selbst verschiedene Orden haben ganz völlig verschiedene Physiognomien. Benediktiner sehen ganz anders aus, als regulirte Augustiner Chorherren, ob sie gleich sonst, da beide zu dem aufgeklärtern Theile der Religiosen gehören, etwas ähnliches haben. Welch ein unbeschreiblicher Unterschied ist zwischen Dominikanern und Kapuzinern, ungeachtet sie beide etwas stieres und plumpes gemein haben! Will man die äußersten Kontraste haben, so muß man Jesuiten und unbeschuhte Karmeliter gegen einander halten. Zwar der gröste Kontrast ist unter den Jesuiten selbst anzutreffen. Unter ihnen kann man alle Arten von Geschöpfen, die Physiognomie des feinsten Weltmannes col viso sciolto e colla bocca stretta, und das gläserne Auge und den offenen Mund des plattesten Betbruders, nebst allen Nüancen, die dazwischen sind, finden, Gleichwohl wird ein aufmerksamer Beobachter das gemeinsame Charakteristisch-Jesuitische bey allen diesen Leuten nicht leicht verkennen; wenigstens will ich wetten, daß man in keinem Falle einen Karmeliter für einen Jesuiten halten werde.«24

Der argumentative Spagat ist kaum zu übersehen: Zwar scheint kein Jesuit dem andern zu gleichen, da innerhalb der Gesellschaft »der gröste Kontrast« anzutreffen sei; alle Jesuiten verbinde jedoch »das gemeinsame CharakteristischJesuitische«, das Nicolai allerdings nicht näher spezifiziert. Dass hier nicht mehr auf der Grundlage eigenen Erlebens, sondern auf der Basis einer vorgefertigten Meinung argumentiert wird, ist offensichtlich. Die Crux besteht für Nicolai nicht nur hier, sondern in seiner gesamten Argumentation gegen die Jesuiten darin, etwas nicht Sichtbares beschreiben zu müssen. Während die allgemein in den katholischen Territorien herrschenden ›Missstände‹ aus Nicolais Perspektive offensichtlich sind, ist das Charakteristikum der Jesuiten ja gerade, dass sie ihre Umtriebe geheim halten, sich im 24 Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 15, S. 32 f.

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Verborgenen bewegen und aufgrund der Tatsache, dass der Orden offiziell nicht mehr existiert, nur noch dann wahrzunehmen sind, wenn man mit ihrem Vorhandensein vorderhand rechnet. Nicolai geht so weit zu unterstellen, dass selbst ein großer Teil der Jesuiten nicht über die eigentlichen Ziele des Ordens im Bilde sei: »Ihre Politik und ihre Verstellungskunst ist aber so groß, daß die wahre Gestalt dieses Ordens von wenig Katholiken und Protestanten, so wie sie wirklich ist, eingesehen wird. Ihr blinder Gehorsam gegen ihre Obern, der Esprit de Corps, der ihnen von Jugend auf zur andern Natur geworden ist, ihr Zusammenhang von einem Ende der Erde zum andern, ihre vielen öffentlichen und geheimen Verbindungen, die feine Politik und das tiefe Geheimniß mit dem sie ihr Hauptgeschäft die Fortpflanzung ihres Ordens betreiben, machen ihr Institut zum merkwürdigsten, aber zum schädlichsten für die menschliche Gesellschaft. Wollte Gott! ich könnte selbst manchen rechtschaffnen einzelnen Jesuiten, der von Jugend auf durch blinden Enthusiasmus für seinen Orden eingenommen worden, erwecken: über das, was er in seinem Orden gesehen hat, reiflich nachzudenken, und dabey sein Gemüth von Vorurtheilen zu befreyen, um zu erwägen, was nach dem Rechte der Natur jeder vernünftige Mensch der menschlichen Gesellschaft schuldig ist.«25

Noch deutlicher allerdings ist die Beschreibung der Zustände in Bayern, wo Nicolai die »katholischen Missbräuche« noch schlimmer als in Wien in vollem Schwange antrifft. Anlässlich der Feststellung, die Ordensaufhebung habe für die Jesuiten in den katholischen Ländern nicht etwa einen Verlust, sondern vielmehr einen Gewinn an Macht und Einfluss bedeutet,26 schreibt Nicolai in einer Anmerkung: »Gewissermaßen haben sie von ihrer Aufhebung noch Vortheile gezogen. Vorher kannte man wenigstens die Jesuiten, jetzt sind sie unbekannt, verbinden sich immer enger mit Weltleuten in verschiedenen Zweigen geheimer Gesellschaften, und wirken eben so zusammenhängend und eben so mächtig als vorher. Sie sind jetzt wirklich eine geheime Gesellschaft, und machen deshalb noch einen schädlichern Statum in Statu aus, als vorher.«27

Mit dem Stichwort »geheime Gesellschaft« ist hier eines der Reizworte des 18. Jahrhunderts angesprochen. Wie es einerseits gerade in aufklärerischen Kreisen zeitweise nahezu Mode ist, einem oder mehreren Geheimbünden anzugehören,28 ist andererseits die Kritik am vorgeblichen Obskurantismus geheimer Gesellschaften aus der Aufklärungs-Debatte nicht wegzudenken; eine besondere Rolle spielt in der Diskussion immer wieder die Vorstellung, die unterschiedlichen Geheimgesellschaften unterwanderten einander. Allen Geheimgesellschaften 25 26 27 28

Ebd., S. 162 f. Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 17, S. 727. Ebd. Vgl. überblickshalber Füssel, Weishaupts Gespenster.

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gemeinsam ist in der Vorstellung ihrer Gegner das Ziel, unmerklich eine despotische, von den jeweiligen ›geheimen Oberen‹ gelenkte Weltherrschaft einzurichten. Dies ist es letztlich auch, was Nicolai den Jesuiten vorwirft: »Man darf niemals erwarten, daß die Jesuiten allgemeine Aufklärung befördern werden. Sie nehmen zwar oft die Mine an, als ob sie dieses thun wollten; und durch ihr einschmeichelndes schleichendes Wesen, durch ihre glatten Worte lassen sich auch zuweilen ganz vernünftige Leute bethören, welche den wahren Zustand des Katholicismus, und noch die wahre Verfassung des Jesuitismus nicht einsehen, vermöge welcher kein Jesuit anders, als auf Befehl der Obern, und nach den Absichten, die sie durchsetzen wollen, handeln darf. Ihr Interesse wird vielmehr allemal erfordern, die Finsterniß auszubreiten. Ihre Obern wollen das ganze menschliche Geschlecht beherrschen; dieß ist der unabänderliche Zweck des Ordens. Dazu ist erforderlich, daß das ganze menschliche Geschlecht dumm bleibe; denn alsdenn können die Jesuiten ihre Herrschaft viel weiter ausbreiten, und sie können allen Ständen desto leichter einbilden, daß nur sie (die Jesuiten) allein klug wären.«29

Was Nicolai hier liefert, ist nicht mehr Tatsachenbericht und Schilderung eigenen Erlebens, sondern subjektive Interpretation, besonders, wenn es um die angeblichen Ziele des Jesuitenordens geht. Dass diese in der Reisebeschreibung allenfalls angedeutet werden, hängt eng mit dem Genre selbst zusammen. Dennoch ist als Subtext, wenn Nicolai von Jesuiten spricht, konsequent die Nachricht von der wahren Beschaffenheit des Instituts der Jesuiten präsent, an deren Übersetzungen Nicolai vermutlich parallel zur Reisebeschreibung gearbeitet hat. Dass wir es bei der Nachricht nicht mit einer empirisch strukturierten Reisebeschreibung, sondern mit – ich überspitze bewusst – einer frühen Variante von investigativem Journalismus zu tun haben, bewirkt eine von der Reisebeschreibung verschiedene Argumentations- und Beglaubigungsstruktur. Nicht die Beschreibung von Zuständen steht hier im Mittelpunkt, sondern explizit die Enthüllung geheimer Machenschaften: »Wir wollen daher dieses Institut, worüber die weisesten Männer jener Zeit so sehr den Kopf geschüttelt haben, näher beleuchten, und beweisen, daß dasselbe wirklich gegen alle Ordnung, gegen alles obrigkeitliche Ansehn, und gegen alle Rechte policirter Gesellschaften, anläuft; daß es auf nichts geringers abzweckt, als auf die Errichtung einer Universalmonarchie, oder vielmehr eines Universaldespotismus; daß es sich zum Mittelpunkt des Ganzen zu machen, und alles niederzureissen strebt, was ihm einige Hinderung in den Weg legen kann […]. Wir wollen zu dem Ende alle Artikel ihrer Konstitution einzeln durchgehen.«30

29 Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 17, S. 741 ff. 30 [Nicolai], Nachricht von der wahren Beschaffenheit, S. 3 f.

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Die Analogie zu Nicolais Behauptung, die »Obern« der Jesuiten wollten »das ganze menschliche Geschlecht beherrschen«, ist kaum zu übersehen; weitere Beispiele, dass Nicolai in der Reisebeschreibung Argumente aus der Nachricht reproduziert, lassen sich problemlos finden. Interessant ist nun, wie die Nachricht ihre Hauptthese, es gehe um die Errichtung einer jesuitischen Universalmonarchie, belegt. Selbstverständlich lässt sich diese Position nicht aus den Konstitutionen des Ordens herleiten. Die Geheimhaltung des Plans einer Universalmonarchie gehört ja, wie im 2. Abschnitt der Nachricht gezeigt wird, zum Programm des Ordens. Da die Universalmonarchie-These aber doch bewiesen werden muss, werden die Exercitia Spiritualia, die Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola, als Zeugnis bemüht: »Unter andern Entzückungen und Gesichten hatte Ignaz, nach Aussage der Jesuiten, einst eine lange Verzückung, welche acht Tage währte. […] Seine von kriegischen Ideen noch ganz erhizte Einbildungskraft mahlte ihm den Heiland unter dem Bilde eines kriegischen Königs, die Gesellschaft unter dem Bilde eines großen Kriegsheers, dessen Oberhaupt er seyn sollte, und die Stiftung der Gesellschaft unter dem Bilde einer Einladung des Himmelskönigs an alle seine Unterthanen, das heißt ohne Zweifel an alle Christen, in seine Dienste zu treten, und mit ihm in den Krieg zu ziehn, den er gegen seinen Feind, den Teufel, zu führen Willens war. Gott und Satan waren in seinen Augen zween große Monarchen, die sich den Krieg ankündigten, und, jeder für sich, Truppen warben, ihre Fahnen wehen ließen, ins Feld rückten, und die Leute ermahnten, mitzuziehen. Die Gesellschaft Jesu, das heißt die Jesuiten, nebst ihren Bundesgenossen, und allen, welche sie mit der Benennung die Unsern (Nostri) beleget, sollte die Truppen und Soldaten Jesu Christi ausmachen. Das Heer des Teufels bestand aus allen denen welche nicht von der Zahl der ersten seyn wollten, und von denselben mit der Benennung die Fremden belegt wurden.«31

Zunächst ist zu bemerken, dass in der hier zitierten Betrachtung des 4. Tages der 2. Woche der Geistlichen Übungen32 weder von der Stiftung der Gesellschaft Jesu noch von ihrem Generaloberen die Rede ist. Sodann handelt es sich bei den Geistlichen Übungen um einen Andachtstext bzw. präziser, um eine Anleitung für denjenigen, der andere zur Andacht anleitet. Die Schau der zwei Fahnen und zwei Heere, sicherlich eine Schlüsselstelle des Textes, stellt keine Beschreibung eines wie auch immer gearteten Verhältnisses zwischen Jesuiten und NichtJesuiten dar, sondern eine Anweisung zur Meditation. Bekanntlich sollen die ignatianischen Exerzitien für jeden ›Absolventen‹, egal ob Jesuit oder nicht, eine Hilfestellung in Lebenssituationen bieten, die eine existentielle Entscheidung erfordern. Das Bild der zwei Fahnen bzw. Heere geht einfach gesprochen davon aus, dass es in jeder Entscheidungssituation eine richtige und eine falsche Lösung gibt und dass die richtige Entscheidung den Menschen zu Gott, die falsche 31 Ebd., S. 5 ff. 32 Vgl. Ignatius, Geistliche Übungen, S. 73 – 76.

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hingegen von Gott weg und konsequent zum Teufel führt. Nur indem die Nachricht diese spirituelle Metaphorik auf eine politische Ebene überträgt, kann sie ihre These vom Anspruch der Jesuiten auf eine Universalmonarchie erhärten; es handelt sich aber zunächst schlicht um die Fehlinterpretation einer Textsorte, indem nämlich ein Andachtstext als politisches Manifest gelesen wird. Dieses Phänomen lässt sich in der antijesuitischen Argumentation allgemein und speziell bei Nicolai häufiger beobachten. Auch wenn Nicolai in der Reisebeschreibung den jesuitischen Allmachtsanspruch aus einem Theaterzettel herleitet, geht er letztlich fehl in der Interpretation einer Textsorte.33 Gleiches gilt, wenn in der Nachricht die zum hundertsten Jahrestag der Ordensgründung 1640 erschienene Emblemsammlung Imago primi saeculi Societatis Iesu34 als Beleg für die Behauptung herangezogen wird, die Jesuiten versuchten, um ihr Ziel einer Universalmonarchie zu erreichen, überall ein möglichst gutes Bild ihres »Instituts« zu verbreiten.35 Ohne auf die Diskussion auf inhaltlicher Ebene einzugehen, muss schlicht angemerkt werden, dass eine Festschrift nicht der Ort ist, an dem man Manöverkritik erwarten kann. Es geht hier wohlgemerkt nicht darum, die Wahrheit der antijesuitischen Thesen der Nachricht und der Reisebeschreibung zu prüfen, sondern um die Argumentationsstruktur, die den Antijesuitismus immer in die Nähe von Verschwörungstheorien rückt,36 weil sie nicht hintergehbare Argumente bzw. Pseudo-Belege generiert. Dies wird vollends deutlich, wenn es in der Nachricht um die These der angeblich geheimen Konstitutionen der Jesuiten geht: »Indem man aber die Regenten und die Völker zu der Gesellschaft hinzog, war es vor allen Dingen nöthig, dieselben nicht in den Endzweck und die wesentliche Beschaffenheit des Instituts eindringen zu lassen. Daher verbergen auch die Jesuiten dieses Geheimniß auf das sorgfältigste, und dies allein beweist schon, daß es Sachen enthält, die das Licht zu scheuen haben.37

Der Zirkelschluss ist bereits hier sichtbar : Weil die Jesuiten etwas (den »Endzweck« ihres »Instituts«) zu verbergen haben, hüten sie ein Geheimnis, und weil sie ein Geheimnis hüten, haben sie etwas zu verbergen. Zwar konzediert der Verfasser der Nachricht, sowohl die Konstitutionen als auch die »meisten der

33 Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 16, Anlage, Theaterzettel: »Diesen scheinheiligen Spruch [Omnia ad maiorem Dei gloriam] setzen die Jesuiten unter alles was sie schreiben und thun, sogar unter ihre Schauspiele. Dieß muß aber verdollmetscht werden: Alles zu grösserer Ehre des Ordens.« – Vgl. auch [Nicolai], Nachricht von der wahren Beschaffenheit, S. 117 f. 34 Imago Primi Saecvli. 35 [Nicolai], Nachricht von der wahren Beschaffenheit, S. 23 – 30. 36 Vgl. Füssel, Weishaupts Gespenster. 37 [Nicolai], Nachricht von der wahren Beschaffenheit, S. 30.

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Bullen, auf welche sie ihre Vorrechte gründen«, seien »in Druck gegeben«.38 Da aber die Ordensregeln vorschrieben, Außenstehende nicht mit den Konstitutionen vertraut zu machen, müsse es noch geheimere Dokumente geben: »[…] und unter den Verordnungen der Generale ist eine vorhanden, welche vorschreibt, daß der Auszug aus den Privilegien den Fremden nicht gezeigt werden soll. Es ist gar nicht zu glauben, daß dieses Verbot einzig und allein auf die gedruckten Konstitutionen und andere öffentlich herausgekommene Bücher gehen sollte. Denn es bleibt den Fremden immer möglich, sich dieselben zu verschaffen, sollt es auch durch einen Zufall geschehen, trotz allen Maßregeln, welche die Jesuiten immer dagegen genommen haben […]. Ein Beweis davon ist, daß wir selbst ein Exemplar davon in Händen haben. Diese Verbote gehn also hauptsächlich auf einige geheime Konstitutionen, und auf andere versteckte Schriften, welche Niemand kennen darf, als die Unsern.«39

Auch dieser logische Schluss ist in sich so hermetisch, dass er nicht hintergehbar ist: Da die Jesuiten ein Geheimnis zu wahren haben – diese Prämisse wird nicht hinterfragt –, kann die Tatsache, dass die Konstitutionen öffentlich zugänglich sind, nur bedeuten, dass es noch geheimere Dokumente gibt, die nicht zugänglich sind. Implizit wird hier auf die oben erwähnten Monita secreta angespielt, die von den Gegnern der Jesuiten für authentische Geheimdokumente aus dem Innern der Gesellschaft gehalten werden.40 Eine ganz ähnlich hermetische Argumentation liefert Nicolai selbst in der Auseinandersetzung mit Christian Garve, wenn es um eine angebliche Gefährdung von Jesuitengegnern durch die Jesuiten geht: »Ich habe angeführt, daß ein gelehrter Ungar sich nicht trauete, dem Jesuiten Sainovics in einer Frage über die Ungarische Sprache zu widersprechen, aus Furcht vor der Macht der Jesuiten; also muß doch wohl diese Macht da seyn, welche Hrn. G. so übernatürlich vorkommt. Der berühmte Hr. von Born in Wien thut öffentlich das Gelübde, dem Jesuitismus entgegen zu arbeiten; also muß doch wohl Jesuitismus in Oesterreich seyn.«41 38 Ebd., S. 31. 39 Ebd., S. 32 ff. 40 Die Monita wurden 1782 neu gedruckt und ins Deutsche übersetzt und waren Nicolai mit Sicherheit bekannt, denn in der ADB 56 (1783), S. 241 f., erschien eine Rezension, die sich interessanter Weise hinsichtlich der Authentizität der Monita nicht festlegt: »Denn schwerlich kann man aus einer andern Schrift den Geist und die feinen Kunstgriffe dieses gefährlichen Ordens genauer kennen lernen. Gesetzt auch, sie wäre von den Feinden des Ordens erdichtet worden, wie auch bey Erscheinung dieses neuen Abdrucks die Exjesuiten in der Augsburger Zeitung das Publikum versichern wollten: so hat doch der Verfasser alles auf das richtigste getroffen; alles, was darin stehet, kann aus der Geschichte mit Belegen bestätiget werden.« Auch diese Strategie ist nicht hintergehbar : Wenn die Monita auch erfunden sein sollten, so ist ihr Inhalt trotzdem wahr! 41 Nicolai, Untersuchung der Beschuldigungen des Herrn Prof. Garve, S. 67.

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Auch in Bezug auf seine eigene Person argumentiert Nicolai ähnlich: »Vielleicht irrt sich auch ein Mann an ihnen [den Jesuiten], der mir sehr wohl will, und mir folgenden Brief schrieb: ›In der allg. deutschen Bibliothek und in Ihrer Reisebeschreibung wird den Jesuiten bey jeder Gelegenheit die Wahrheit gesagt. Sie, mein Herr! der Sie die Jesuiten so gut kennen, scheinen zu vergessen, wie empfindlich diese Halbmönche jede Beleidigung zu rächen wissen. Freylich leben Sie unter dem Schutze eines großen Königes, und sind zum Glücke ein Privatmann: allein Jesuiten morden nicht allein Könige und Päpste, auch einen jeden andern, der ihren Fortschritten im Wege steht, treten sie zu Boden; sie thun dieses um so viel lieber und leichter, als es weniger Aufsehen macht. Werden Sie, mein Herr! dadurch nicht sicher, daß man gegen Sie nicht öffentlich zu Felde zieht; ein Feind im Hinterhalte ist allezeit gefährlicher.‹«42

Nicolais Vorgehensweise an diesen Stellen macht einem Paranoiker alle Ehre: Wenn die Angst vor etwas Indiz genug ist, dass dieses Etwas existiert, wenn zudem die Tatsache, dass jemand nicht öffentlich angegriffen wird, nicht etwa als Hinweis dafür gedeutet wird, dass keine Gefahr droht, sondern vielmehr als Hinweis dafür, dass die Gefahr um so größer ist, dann bewegen wir uns nicht mehr in rationalen Bahnen, sondern auf dem Terrain irrationaler Ängste und vorurteilsgelenkter Verschwörungstheorien. Dabei deutet die Tatsache, dass antijesuitische Positionen nicht nur im 18. Jahrhundert, sondern generell eine auffällige Nähe zu Verschwörungstheorien aufweisen, darauf hin, dass die Paranoia nicht allein auf Nicolai zurückzuführen, sondern dem Antijesuitismus prinzipiell inhärent ist. Bereits die Monita secreta sichern sich selbst gegen eine eventuelle Interpretation als Fälschung ab, indem sie diese Lesart vorwegnehmen: »Quod si (absit:) in manus externorum haec monita veniant, quoniam sinistre ea interpretabuntur, negentur hoc sensu esse societatis, per istos confirmando À nostris, de quibus certý scitur, eos talia ignorare. Opponantur his privatis monitis generalia monita, & ordinationes impressae aut scriptae, his privatis contrariae: demum inquiratur, an non ab aliquo À nostris prodita sint.«43

Dieser auf den ersten Blick unscheinbare Passus bedeutet bereits 1614 das Ende jeder Diskussion: Jede Verteidigung des Ordens gegen die in den Monita implizierten Vorwürfe, sei es von Ordensmitgliedern oder Anhängern, sei es auch 42 Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 17, S. XIII. 43 Monita secreta, fol. B4v [Übers. d. Verf.]: »Wenn wirklich (das sei fern!) diese Instruktionen in die Hände von Externen geraten sollten, in welchem Fall sie ja doch nur böswillig ausgelegt würden, dann sollen sie [die Oberen] leugnen, dass dies im Sinne der Gesellschaft sei, und das soll durch solche Ordensmitglieder bestätigt werden, von denen sie sicher wissen, dass sie die Instruktionen nicht kennen. Diesen geheimen Instruktionen sind dann die allgemeinen Vorschriften und Regeln entgegenzuhalten, die gedruckt oder veröffentlicht sind und die diesen entgegengesetzt sind; schließlich soll herausgefunden werden, ob sie nicht von einem der Unseren verraten wurden.« – Vgl. Pavone, Between History and Myth, S. 50 f.

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von neutralen Kritikern, führt unweigerlich in eine Sackgasse, da jede Verteidigung hier ja bereits als geheimes Zugeständnis gewertet wird. Wer behauptet, die Monita seien nicht authentisch, beweist damit, dass er diesen Passus kennt und anwendet; wer als Jesuit behauptet, er kenne die Monita nicht, zeigt nur, dass er nicht wirklich zum innersten Kreis des Ordens gehört. Tatsächlich lässt sich zeigen, dass Nicolai auf zwei Ebenen Elemente einer antijesuitischen Tradition übernimmt. Auf der strukturellen Ebene knüpft er an die Tradition der Monita secreta an, indem er zum ersten nicht hintergehbare Argumente konstruiert, zum zweiten auch dort, wo nichts wahrzunehmen ist, »ungezweifelt voraussetzt«,44 dass die Jesuiten aktiv sind, und zum dritten jede Gegenposition von vornherein als parteiisch verwirft.45 Aber auch auf der inhaltlichen Ebene sind weder die in der Reisebeschreibung von Nicolai selbst noch die in der Nachricht vorgebrachten Punkte neu, sie alle lassen sich vielmehr bereits im 16. Jahrhundert nachweisen. Dies soll im Folgenden knapp an einem Beispiel gezeigt werden, das insofern interessant ist, als es selbst in der Tradition der oben erwähnten Schriften Elias Hasenmüllers steht und damit die Kontinuität antijesuitischer Argumentationen bereits in der frühen Phase der Auseinandersetzung mit dem Orden zeigt.46 Ob Nicolai konkret diesen Gründtlichen Bericht47 aus dem Jahr 1596 kannte, ist dabei weniger von Belang als die Tatsache, dass sich die in diesem Bericht vorgetragenen Argumente bei Nicolai wiederfinden und sich damit eine Traditionslinie vom 16. bis ins 18. Jahrhundert nachweisen lässt, die die These eines empirisch begründeten Antijesuitismus bei Nicolai widerlegt.

4.

Zur antijesuitischen Tradition

Fassen wir zunächst knapp zusammen, was Nicolai gegen die Jesuiten einzuwenden hat, so sind es vor allem drei Punkte: Sie halten erstens an vernunftwidrigen und aufklärungsfeindlichen religiösen Lehrmeinungen und Praktiken fest und verbreiten diese. Sie nutzen zweitens ihren v. a. im Schulsystem begründeten Einfluss, um vermittels dieser Praktiken die Menschen dumm zu 44 Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 16, S. 655 f.: »Man kann ungezweifelt voraussetzen, daß die Jesuiten unabläßig thätig sind, und thätiger seyn könnten, als irgend eine andere Gesellschaft. Das bringt die ganze Natur ihres Ordens, die enge Verknüpfung ihrer Glieder in der ganzen Welt mit sich. Man kann ungezweifelt voraussetzen, daß sie bey keiner Sache, die irgend von weitem ihren Orden interessiren könne, gleichgültig und unthätig sein werden, ob sie sich gleich fast beständig so stellen.« 45 So z. B. in der Auseinandersetzung mit Christian Garve über den Antikatholizismus in der Reisebeschreibung; Nicolai, Untersuchung der Beschuldigungen des Herrn Prof. Garve, S. 5. 46 Vgl. Paintner, Des Papsts neue Creatur, S. 299 – 302. 47 Heckelius, Gründtlicher Bericht.

Zur antijesuitischen Argumentation bei Friedrich Nicolai

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halten und damit die Aufklärung aktiv zu behindern. Und sie verfolgen drittens unter dem Deckmantel gemeinnützigen Wirkens nur die geheimen Ziele ihres Ordens, die auf absolute Macht für eben diesen Orden ausgerichtet sind. Vordergründig theologisch motivierte Kritik an Glaubensinhalten und Frömmigkeitspraxis der Katholiken mischt sich hier mit eindeutig politischen Implikationen, die vor allem gegen die Jesuiten gerichtet sind. Ihnen diene das Festhalten an ›vernunftwidrigen‹ Dogmen wie dem der unbefleckten Empfängnis Mariens nicht nur dazu, Irrglauben zu verbreiten, sondern stehe in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrem politischen Einfluss: »Die Jesuiten hatten noch ein Mittel, wodurch sie machten, daß sowohl der Rektor als jedermann der zur Universität gehörte, schlechterdings ihrem Orden, wenigstens äußerlich ergeben seyn mußte. Das war der Eid auf das Schiboleth des Jesuiterordens, der Eid auf eine Lehre, welche zur Ehre des menschlichen Verstandes nie hätte gelehret werden sollen, der Eid auf die Lehre der unbefleckten Empfängniß der Jungfrau Maria. Nicht nur der Rektor und alle Mitglieder der Universität mußten jährlich den 8. Dec. diesen Eid öffentlich ablegen; sondern so unerhört war die Macht der Jesuiten über die Regenten Oestreichs seit dem vorigen Jahrhunderte, daß sie es dahin brachten, daß der Landesherr selbst, jährlich diesen Eid in die Hände des Rektors der Universität öffentlich ablegen mußte. Selbst Kaiser Joseph II. legte noch den 8ten Dec. 1781 diesen Eid öffentlich in die Hände des P. Parhammers als Rektors, und in Gegenwart des Großfürsten von Rußland, zu Wien ab.«48

Die These, die Jesuiten verfolgten mit all ihrem Tun sinistre Ziele, die so geheim seien, dass selbst Eingeweihte nichts davon wüssten, taucht bereits im 16. Jahrhundert auf. Im Gründtlichen Bericht begegnen wir bereits einem großen Teil der Vorwürfe, die sowohl in der Nachricht als auch in Nicolais eigenen Schriften aktualisiert werden. Zwar werden die geheimen Ziele des Ordens im Gründtlichen Bericht nicht so explizit genannt, wie dies bei Nicolai der Fall ist. Dass der Orden geheime, nicht der Religion dienende Ziele verfolgt, in die nicht einmal alle Ordensmitglieder eingeweiht sind, steht aber bereits 1596 außer Frage: »Das erscheinet daher / daß sie auß den zehen Personen / so diesen Orden auffgerichtet / etliche / wie auch andere / die in jren Orden getretten vnd sich verlobt haben / also / daß sie darauß nit mehr kommen können / welche sie mit eim Wort Professos nennen / so doch sonst von jedermänniglich für auffrichtig erkennet werden / zu jhren Rahtschlägen vnd Versam[m]lungen nit zulassen: Ja auch wol als vngeschickte / oder (wie sie zu reden pflegen) gar zu einfältig / gäntzlich davon außschliessen. Auß welchem augenscheinlich / daß all jr Thun vnd Lassen nur beruhe in heimlich verschlagenen Practicken […]. Vnd das bringen mit sich auch jhre eygene Wort vn[d] Reden / deren sie sich gebrauchen. Dan[n] daß sie etliche fromme gelehrte Leut / denen die Religion ein Ernst ist / zu jren heimlichen Sachen nit gebrauchen / noch sie in jren Raht 48 Nicolai, Beschreibung einer Reise, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 16, S. 694 f.

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ziehen / geben sie kein andere Vrsach / dann daß sie gar zu schlecht vnd einfältig seyen.«49

Neben der These von den heimlichen Zielen der Jesuiten finden sich bereits hier einige Punkte, die auch Nicolai aufgreift: Die Binnendifferenzierung des Ordens, nach der gerade die wirklich frommen Jesuiten nicht in den Kern der Gesellschaft vordringen können, ebenso wie die Behauptung, ein großer Teil der Jesuiten wisse gar nichts vom geheimen Tun der Oberen. Der Gründtliche Bericht beschreibt insgesamt in neun Abschnitten, wie die Jesuiten mit dem Papst, dem restlichen Klerus, »Fürsten vnd Herrn«,50 dem einfachen Volk, ihren Schülern und letztlich untereinander umgehen.51 Dass sie gegen jeden Außenstehenden heucheln, dass sie Frömmigkeit und Gehorsam gegen den Papst nur vortäuschen, dass sie den restlichen katholischen Klerus nur umschmeicheln, solange er ihnen nutzt, und ansonsten in maßloser Verachtung auf ihn herabsehen, gehört dabei zu den Kernargumenten, die in der folgenden Diskussion immer wieder aufgegriffen werden. Dass gerade diejenigen Schüler besonders beachtet und an den Orden gebunden werden, die über Reichtum verfügen und deswegen potentiell zum Vermögen des Ordens beitragen können,52 wird in der Nachricht unmittelbar aufgegriffen: »Man hat daselbst sechs oder acht Prüfungen (examens) zu überstehn. Aber es erweckt schon ein günstiges Vorurtheil, wenn man nur oft bey den Jesuiten gebeichtet hat, wenn dieses auch vor langer Zeit geschehn ist. Und vielleicht giebt es noch ein kräftigeres Vorurtheil ab, wenn man mit kostbaren Gaben ausgerüstet ist (z. B. mit Reichthum). Denn alsdann wird man nicht auf immer ausgeschlossen, wenn man auch in dem Falle eines der fünf Hindernisse wäre, welche der Zulassung zur Gesellschaft im Wege stehn.«53

Wie die Nachricht wiederum von Nicolai in der Reisebeschreibung produktiv rezipiert wird, ist oben gezeigt worden. Der Antijesuitismus des 18. Jahrhunderts setzt, aufgrund gewandelter historischer Umstände, andere Schwerpunkte als im 16. Jahrhundert. Nicht mehr protestantische und katholische Theologie werden gegeneinander ausgespielt, sondern protestantische Aufklärung und Heckelius, Gründtlicher Bericht, S. 11. Ebd., S. 37. Vgl. Paintner, Nunmehr allen alten Catholischen, hier S. 312 – 315. Heckelius, Gründtlicher Bericht, S. 55 f.: »Dan[n] es befleissigen sich die Jesuiter / daß sie die hübschsten / reichesten / stattlichsten / vnd die fürnembsten so da reichliche Geschänck / wann es von nöhten / verehren können / auß dem andern gemeinen armen Hauffen jhrer Schüler herauß klauben: […] Dan[n] welche reich seyn / vnd jnen das jhre vbergeben / auch geschwinde Köpff haben / befördern sie zeitlich / vnd helffen denselben / daß sie jhnen den Jesuiten […] gleich werden / vnd ob sie schon nit mit allem / wie wol von nöhten / staffiert seyn / lassen sie doch dieselben leichtlich zur Profession zu.« 53 [Nicolai], Nachricht von der wahren Beschaffenheit, S. 71 f.

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katholischer Obskurantismus. Die Kernargumente beziehen auch der Antijesuitismus des 18. Jahrhunderts und Nicolai als einer seiner exponierten Vertreter jedoch, wie anhand dieses Beispiels gezeigt werden konnte, weniger aus der eigenen Anschauung als aus der antijesuitischen Tradition seit dem 16. Jahrhundert. Schwerer als diese inhaltlichen Parallelen wiegt jedoch eine strukturelle Korrespondenz: Die Diskrepanz zwischen Fassade und Kern der Jesuiten, die seit dem 16. Jahrhundert behauptet wird, bewirkt, dass die ›Wahrheit‹ hinter der Fassade nicht mehr als durch eigenes Ansehen erkennbar gilt; vielmehr hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass man die Wahrheit über die Jesuiten bereits kennen müsse, um sich nicht durch die dem eigenen Erleben zugängliche Fassade täuschen zu lassen. Die Möglichkeit, diese Wahrheit kennen zu lernen, besteht vor allem in der Rezeption der antijesuitischen Tradition, wie sie sich auch für Nicolai nachweisen lässt. Diese Vermischung von Augenschein und Überlieferung immunisiert den Antijesuitismus jedoch gegen rationale Kritik, da sie Argumente generiert, die nicht mehr logisch überprüfbar sind, weil jeder Zweifel zur Bestätigung des Arguments umgedeutet werden kann.

5.

Fazit

Die Wahrnehmung des Katholizismus und speziell der Jesuiten in Nicolais Reisebeschreibung ist vorgeprägt und gesteuert durch das, was Nicolai bereits im Vorfeld seiner Reise weiß bzw. zu wissen glaubt. Hier bestätigt sich die eingangs geäußerte These, dass im Zeitalter der Aufklärung kein ungetrübtes Bild von den Jesuiten mehr besteht, weil sich zu viele Schichten antijesuitischer Argumentation angelagert haben. Bereits in den Quellen der Nachricht von der wahren Beschaffenheit sind »Kern« und »Anlagerungen« antijesuitischer Argumentation untrennbar miteinander verbunden. Neben Schriften, die unmittelbar aus dem Umfeld des Ordens stammen, begegnen immer wieder und an zentraler Stelle Belege aus eindeutig antijesuitisch gefärbten Schriften wie z. B. der Anklageschrift Etienne Pasquiers vor dem Parlement von Paris von 1564 oder aus königlichen Ausweisungsedikten z. B. aus Portugal. Dass es sich hierbei nicht um objektive, sondern um polemisch gefärbte Quellen handelt, ist offensichtlich. Auch Nicolai selbst beruft sich in seiner Reisebeschreibung auf ähnliche Quellen, um die »wahre Beschaffenheit« der Gesellschaft Jesu zu illustrieren. Dass antijesuitische Texte scheinbar bedenkenlos zum Beweis derjenigen Thesen herangezogen werden, die sich aus den ordenseigenen Schriften nicht herleiten lassen, rückt die antijesuitische Argumentation in Nicolais Umfeld in die Nähe verschwörungstheoretischen Denkens.

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Es ist interessant zu beobachten, dass dieser Prozess der Generierung verschwörungstheoretischer Argumente seit dem 18. Jahrhundert für viele angeblich oder tatsächlich geheim operierende Gesellschaften festzustellen ist. Es wäre in weiteren Untersuchungen zu zeigen, dass dabei ab einem bestimmten Punkt die inhaltliche Füllung – sprich die konkrete Geheimgesellschaft – austauschbar wird, solange von einer in irgend einer Weise geheim operierenden Gesellschaft ausgegangen werden kann. Ein Aufklärer kann sehr wohl, und mit guten Gründen, ein Gegner der Jesuiten sein. Einen aufgeklärten Antijesuitismus gibt es jedoch nicht, da Antijesuitismus dem Verschwörungsdenken grundsätzlich zu nahe steht.

Zur antijesuitischen Argumentation bei Friedrich Nicolai

6.

Bibliographie

6.1

Quellen

335

Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 7/ 1: Faust. Texte. Hg. v. Albrecht Schöne. 4., überarb. Aufl., Frankfurt a. M. 1999. Gretser, Jacob: Iacobi Gretseri Societatis Iesv Theologi Contra Famosvm Libellvm, Cvivs Inscriptio Est: Monita Privata Societatis Iesv, etc. Libri Tres Apologetici […]. Ingolstadt 1618 (VD 17 12:114924X). Hasenmüller, Elias: Historia Iesvitici Ordinis, in qva de Societatis Iesvitarvm Avtore, nomine, gradibus […] & c. perspicuÀ solideque tractatur : Conscripta —. M. Elia Hasenmvllero […]. Frankfurt 1593. Deutsche Übersetzung von 1594, online verfügbar unter : http://reader.digitale-sammlungen.de/resolve/display/bsb10163603.html [04. 04. 2012]. Hasenmüller, Elias: Jesuiticum Ieiunium: Siue Commemoratio Historica de Iesvitarvm Ieivnio et Exercitiis […]. Scripta — M. Elia Hasenmvllero Araeflavino. Edita — Polycarpo Lysero […]. Frankfurt 1595. Deutsche Übersetzung von 1596 verfügbar unter : urn:nbn:de:bvb:12-bsb00022073 – 7 [04. 04. 2012]. Heckelius, Georg: Gründtlicher Bericht welcher Gestalt die Jesuiten mit den Bäpsten / Prelaten / Fürsten / gemeinem Volck / der Jugendt / auch mit sich selbst vnter einander / einer gegen dem andern vmbzugehen pflegen. Anfänglichs von einer Catholischen Person / der Warheit zum Besten / verfasset. Vnd jetzt in Druck verfertiget / Durch M. Georgivm Heckelivm. Frankfurt 1596. Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen. Nach dem spanischen Urtext übers. v. Peter Knauer. Würzburg 1998 [EA 1544]. Imago Primi Saecvli Societatis Iesv a Provincia Flandro-Belgica eivsdem Societatis repraesentata. Antwerpen 1640. Monita Privata Societatis Iesu. Edita M. DC. LVII. s.l. 1657. Nicolai, Friedrich: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten. 12 Bde. Berlin u. Stettin 1783 – 1796. In: ders.: Gesammelte Werke. Reprintausgabe. Hg. v. Bernhard Fabian u. Marie-Luise Spieckermann. Bd. 15 – 20. Hildesheim [u. a.] 1994 – 2006. [Nicolai, Friedrich]: Nachricht von der wahren Beschaffenheit des Instituts der Jesuiten. Berlin u. Stettin 1785. Nicolai, Friedrich: Untersuchung der Beschuldigungen des Herrn Prof. Garve wider meine Reisebeschreibung durch Deutschland und die Schweiz. Nebst einigen Erläuterungen die nützlich auch wohl gar nöthig seyn möchten. Berlin u. Stettin 1786.

336 6.2

Ursula Paintner

Sekundärliteratur

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Stefanie Stockhorst

De mortuis et bonum et malum. Friedrich Nicolais Nekrologe auf seine Mit-Streiter

1.

Nekrologe und andere biographische Denkschriften bei Nicolai

Über fünf Jahrzehnte hinweg verfasste Friedrich Nicolai (1733 – 1811) insgesamt elf personale Gedächtnisschriften, von denen sich sieben im engeren Sinne in die Gattung des Nekrologs einordnen lassen, auch wenn Nicolai diesen Terminus nur einmal, im Nachruf auf Moses Mendelssohn (1729 – 1786), verwendet, ansonsten aber die einschlägigen Texte mit ›Ehrengedächtnis‹ oder eben mit ›Gedächtnißschrift‹ überschreibt. Wechselnde und im Zweifel wenig trennscharfe Begrifflichkeiten sind in dieser Gattung durchaus an der Tagesordnung – allein für die protestantische Leichenpredigt der Frühen Neuzeit verzeichnete Maria Fürstenwald rund 130 unterschiedliche Bezeichnungen.1 Im 18. Jahrhundert dominieren zunächst zwei Haupttypen. So meint ›Panegyricus‹ tendenziell eine Abdankungsrede von hohen Würdenträgern, während als ›Parentation‹ meist eine Abdankungsrede auf etwas weniger bedeutsame Persönlichkeiten bezeichnet wurde. Dementsprechend unterscheidet beispielsweise Johann Christoph Gottsched (1700 – 1766) zwischen »grossen Lobreden, oder so genannten Panegyricis« und »Trauerreden oder Parentationen«.2 Ab 1750 wird immer häufiger die Gattungsbezeichnung ›Nachruf‹ im Titel des gedruckten Totenlobs aller Art verwendet, ganz gleich, ob es sich dabei um poetische oder rhetorische Formen handelte.3 Als überaus nützliche Kriterien für die literaturwissenschaftliche Abgrenzung schlug Ralf Georg Bogner vor, dass es sich bei Nekrologen erstens um »sprachlich artikulierte Reaktionen auf den jeweils aktuellen Tod eines Menschen handeln« müsse, und zweitens, dass nur solche

1 Vgl. Fürstenwald, Editorischer Bericht, S. 458. 2 Vgl. Gottsched, Ausführliche Redekunst, bes. S. 453. 3 Vgl. Bogner, Der Nachruf als literarische Gattung, S. 39.

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Texte dazugehören, die »anläßlich eines rezenten Todesfalles in einer wie auch immer gearteten Öffentlichkeit kommuniziert werden«.4 Todesfall Titel Ewald Christi- Ehrengedächtniß Herrn an von Kleist Ewald Christian von Kleist (1715 – 1759)

Publikationsort und Umfang Berlin: Nicolai 1760 (22 S.) 2., verb. u. verm. Aufl., Berlin: Nicolai 1760 (30 S.) dän. Übers., Kopenhagen 1760

Thomas Abbt (1738 – 1766) Moses Mendelssohn (1729 – 1786)

Ehrengedächtniß Herrn Thomas Abbt Nekrolog auf Moses Mendelssohn

Berlin u. Stettin: Nicolai 1767 (34 S.)

Karl Wilhelm Ramler (1725 – 1798) Johann Jakob Engel (1741 – 1802)

Ehrengedächtniß Ramlers

Akademie-Abhandlungen 1798 – 1800, Berlin: Decker 1803 (8 S.) frz. Übers., Berlin 1805 Akademie-Abhandlungen 1803, Berlin: Decker 1806 (28 S.) Berlin u. Stettin: Nicolai 1806 (38 S.) frz. Übers. Berlin 1805

Wilhelm Abraham Teller (1734 – 1804) Johann August Eberhard (1739 – 1810)

Gedächtnißschrift auf Johann Jakob Engel Gedächtnißschrift auf Dr. Wilhelm Abraham Teller Gedächtnißschrift auf Johann August Eberhard

ADB 65 (1786), H. 2 (8 S.)

Berlin u. Stettin: Nicolai 1807 (30 S.) Akademie-Abhandlungen 1804-1811, Berlin: Realschul-Buchhandlung 1815 (12 S.) Berlin u. Stettin: Nicolai 1810 (82 S.)

Abb.: Übersichtsdarstellung von Nicolais Nekrologen

Bei den biographischen Abrissen, die Nicolai zu den postumen Werkausgaben von Justus Möser (1720 – 1794) und Johann Georg Sulzer (1720 – 1779) beisteuerte, handelt es sich demnach ebenso wenig um Nekrologe wie bei seiner allgemeinen Würdigung mit dem Titel Etwas über den verstorbenen Rektor Damm und Moses Mendelssohn (1800), die weder in zeitlichem noch in sachlichem Zusammenhang mit dem Tod der Belobigten steht. Eine Sonderstellung kommt dem mit Einige Blumen auf das Grab Jo h an n He i n r i c h W l ö m e r s (1802) überschriebenen Text zu, den Nicolai selbst in seiner Vorbemerkung aus dem Herkommen des Nachrufs ausklammert. Da Johann Heinrich Wlömer (1726 – 1797), mit dem Nicolai sowohl im Montagsclub als auch in der Mitt4 Ebd., S. 43. – Vgl. auch die systematisierende Begriffsklärung in Bogner, Der Autor im Nachruf, S. 18 – 29. – Während dort der Nachruf als »kasualpoetische Gattung« (S. 20) definiert wird, soll hier vorzugsweise von einer kasualrhetorischen Gattung die Rede sein, um dem Vorherrschen der Prosa im Nachruf als Genre der ars oratorica Rechnung zu tragen und die einengende Verwechslung mit dem Epicedium als Genre der ars poetica zu vermeiden.

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wochsgesellschaft Umgang hatte, kein Gelehrter war, sondern ein preußischer Oberfinanzrat, sei es »gewiß sehr viel schwerer«, einen Nekrolog auf ihn zu schreiben, denn: »Die edelsten Werke des Geschäftsmannes liegen oft verborgen, beziehen sich auf lokale Verhältnisse, welche dem Leser ohne langweilige Auseinandersetzung nicht vor Augen zu bringen sind; und doch kann sehr oft, ohne diese deutliche Einsicht in den Zusammenfluß der Umstände, das eigentliche Verdienst dessen was der Geschäftsmann thut, nicht gehörig und noch weniger richtig gewürdigt werden.«5

Deshalb nimmt er den Anspruch seiner Lebensbeschreibung aus Anlass des Todes, die zudem auf die sonst im Nekrolog gängigen Elemente der lamentatio und consolatio verzichtet, stark zurück: »Nicht ein Denkmaal, seiner Verdienste würdig, kann ich errichten; aber wenige Blumen will ich auf das Grab eines Mannes streuen, den ich, so wie Alle die ihn kannten, innig hochschätzte, und mit welchem über zwanzig Jahre in naher freundschaftlicher Verbindung gewesen zu sein, ich zu den glücklichen Begebenheiten meines Lebens rechne.«6

Auch Nicolais definitionsgemäße Nekrologe brechen mit manchen Konventionen oder setzen zumindest eigenwillige Akzente. Sie markieren, so meine These, als Gedenkschriften auf ausgewählte Literaten der Aufklärung eine richtungweisende Neuorientierung in der Gattungsgeschichte, die im Folgenden in dreifacher Hinsicht – medial, thematisch und rhetorisch – rekonstruiert werden soll.

2.

Der Nekrolog als Integrationsmedium der Gelehrtenrepublik

Für die Verbreitung der Aufklärung als intellektueller Bewegung kann die mediale Bedeutsamkeit der Zeitschrift kaum überschätzt werden. Wenn es im deutschen Sprachraum um 1750 etwa drei- bis vierhundert Neuerscheinungen gab, so wird darin ein grundlegender mediengeschichtlicher Wandel greifbar. Immer größere Bevölkerungsanteile erlangten und nutzten die Möglichkeit, Informationen aus allen Wissensgebieten zu beziehen, sich über öffentlich relevante Angelegenheiten auszutauschen und so an einer kritischen Meinungsbildung im periodisch gedruckten Dialog zu partizipieren.7 Im Zuge dieser mediengeschichtlichen Transformation veränderten sich auch die Bedingungen 5 Nicolai, Einige Blumen auf das Grab Johann Heinrich Wlömers, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 99. 6 Ebd., S. 100. 7 Vgl. Kirchner, Das Deutsche Zeitschriftenwesen, S. 72; sowie Kirchner, Bibliographie der Zeitschriften des deutschen Sprachgebietes bis 1900, Bd. 4.

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für die Distribution von funeralem Gelegenheitsschrifttum ganz erheblich. Während mündliche Formen der Funeralrhetorik wie insbesondere die Leichenpredigt und die Leichabdankung naturgemäß sowohl zeitlich als auch räumlich in engem Zusammenhang mit dem betreffenden Todesfall standen, fanden Trauerschriften aller Art durch Akzidenzdrucke bereits seit dem 16. Jahrhundert mitunter eine Verbreitung von größerer Reichweite. Spätestens mit dem Eingang in die Literaturzeitschriften, wie sie seit der Mitte des 18. Jahrhunderts immer zahlreicher gegründet wurden, bestand keine notwendig enge räumliche oder zeitliche Verbindung von Nekrolog und Todesfall mehr. Der Wirkungskreis des Nekrologs war daher nicht mehr lokal oder regional, sondern mindestens überregional und teils sogar international. Dass allerdings drei von Nicolais Nekrologen sogar in Übersetzung erschienen, verdankt sich nicht einem florierenden Zeitschriftenmarkt, sondern jeweils individuellen Umständen. So hängt die dänische Übersetzung des Nekrologs auf Ewald Christian von Kleist (1715 – 1759) mit dessen verwandtschaftlichen Beziehungen nach Dänemark zusammen, wo er auch für einige Zeit als Offizier diente. Und die französische Übersetzung der Nekrologe auf Karl Wilhelm Ramler (1725 – 1798) und Johann Jakob Engel (1741 – 1802) erfolgte schlichtweg im Rahmen der Abhandlungen der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften, die parallel auch als M¦moires de l’Acad¦mie Royale gedruckt wurden. Die verallgemeinerbaren Tendenzen der Nekrologpraxis in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts arbeitete Bogner in seiner historisch übergreifenden Studie Der Autor im Nachruf beispielhaft anhand der Nachrufe auf Christian Fürchtegott Gellert (1715 – 1769) heraus. Signifikante Veränderungen machte er vor allem an fünf Punkten fest: Erstens habe sich die Autorschaft insofern verändert, als die Gattung des Nachrufs bis zur Jahrhundertmitte von gebildeten Eliten getragen worden war, seither aber auch von Frauen, Jünglingen und anonymen Verehrern gezeichnet wurden, welche sich explizit zu einem geringeren Bildungsstand bekannten.8 Im Falle Nicolais bedarf dieser Befund dahingehend einer Präzisierung, dass Nicolai zwar in der Tat keine akademische, sondern eine autodidaktisch erworbene Bildung besaß. Diese erlaubte es ihm jedoch, mit den Gelehrten seiner Zeit zumindest in Fragen der Literatur, Ästhetik und Philosophie durchaus auf Augenhöhe zu kommunizieren. Wenn er als Verfasser von Nekrologen in Erscheinung trat, deutet das mithin weniger auf eine soziale Ausweitung der Gattung hin als vielmehr auf eine funktionale Verschiebung vom geistlichen oder politischen officium hin zu einer anderweitig motivierten Selbstverständigung, und zwar zu einer literarischen. Zweitens konstatierte Bogner eine Subjektivierung und Emotionalisierung des Tonfalls, die sich drittens kurioserweise zuweilen auch ohne die persönliche Bekanntschaft von 8 Vgl. Bogner, Der Autor im Nachruf, S. 257.

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Autor und Verstorbenem manifestiert.9 Nicolai, der Nekrologe ausnahmslos auf seine Mit-Streiter in gemeinsamen Projekten schrieb, zeigt sich nur bei dem engsten Freund Mendelssohn von einer empfindsam berührten Seite: »Ach! das Herz bricht mir. Ich könnte jetzt, wenn es nöthig wäre, von seinen gelehrten Verdiensten eher noch mehr sagen; aber über diese Gegenstände, welche auf die Empfindung so unmittelbar wirken, kann ich jetzt nichts mehr schreiben. Mein Herz ist noch allzusehr zerrissen und mein Schmerz noch allzuneu!«10 Viertens, so Bogner weiter, erfolge ein »Prozeß der De-Regionalisierung«,11 d. h. die bereits angesprochene raum-zeitliche Entkoppelung von Todesfall und publizistischer Reaktion darauf. Fünftens schließlich wies Bogner auf eine grundlegende Kommerzialisierung des Nekrologwesens hin, das fortan zunehmend von Buchhändlern und Verlegern mit marktwirtschaftlichen Interessen betrieben wurde, wohingegen Funeralschriften zuvor in der Regel von Privatpersonen als Gelegenheitsdrucksachen auf eigene Rechnung in Auftrag gegeben worden waren.12 Dass der Nekrolog nunmehr einen Warenwert auf dem Buchmarkt erlangte, spielt für Nicolai eine nicht zu unterschätzende Rolle, verfasste er doch seine Nekrologe keineswegs nur als Freund der Verstorbenen und ›Netzwerker‹ der deutschsprachigen Letternrepublik, sondern nicht zuletzt auch als Geschäftsmann – immerhin erschienen sechs von sieben seiner Nekrologe entweder ausschließlich oder als flankierende Separatdrucke im eigenen Verlag. Als Publikationsformen für Nachrufe benannte Bogner im 18. Jahrhundert zunächst nach wie vor überwiegend Einzeldrucke und anthologieartige Sammlungen, während sich die Gattung erst seit den 1780er Jahren großflächiger in der periodischen Publizistik nachweisen lasse, und zwar maßgeblich beginnend mit der Berichterstattung über Lessings Tod am 15. Februar 1781 in Tageszeitungen und literarischen Zeitschriften.13 Auffällig sei dabei der »Verzicht auf wertende und resümierende Nachrufe innerhalb der deutschsprachigen Tageszeitungen«,14 in denen sich ein Feuilleton-Nachruf, der eine wertende Summe aus Leben, Werk und zeitgenössischer Rezeption zieht, erst Mitte des 19. Jahrhunderts formiere.15 Diese Beobachtungen geben Grund zur Annahme, dass Nicolais Allgemeiner deutscher Bibliothek eine Vorreiterrolle bei der Etablierung des publizistischen Nekrologs zukommt. Denn in dieser Rezensionszeitschrift erschienen von Anfang an, also bereits seit 1765, in jedem Heft neben überaus zahlreichen, teils 9 10 11 12 13 14 15

Vgl. ebd., S. 258 f. Nicolai, Nekrolog auf Moses Mendelssohn, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 41. Bogner, Der Autor im Nachruf, S. 259. Vgl. ebd., S. 261. Vgl. ebd., S. 303 – 310. Bogner, Der Zeitungs-Nachruf, S. 214. Vgl. ebd., S. 213.

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listenförmig aneinandergereihten Todesanzeigen aus dem Bereich der Künste und Wissenschaften auch mehrseitige Gedächtnisschriften, in denen Werke, Rezeption und Persönlichkeit jüngst verstorbener Autoren kritisch gewürdigt wurden.16 Mit derartigen Nekrologen entspricht die Praxis der Allgemeinen deutschen Bibliothek in geradezu mustergültiger Weise dem Wunsch, den Johann Gottfried Herder (1744 – 1803) rund drei Jahrzehnte später im sechsten seiner Briefe zur Beförderung der Humanität (1793) emphatisch an die Gattung herantrug: »Ein Athanasium, ein Mnemeion Deutschlands! Wahrlich unser Vaterland ist zu beklagen, daß es keine allgemeine Stimme, keine Ort der Versammlung hat, wo man sich sämtlich höret. Alles ist in ihm zerteilt, und so manches schützet diese Zerteilung; Religionen, Sekten, Dialekte, Provinzen, Regierungen, Gebräuche und Rechte. Nur auf dem Gottesacker kann uns etwa eine Stelle gemeinsamer Überlegung und Anerkennung gestattet werden.«17

Somit knüpfte sich an die neuen Formen des literarischen Totengedenkens im ausgehenden 18. Jahrhundert die nicht eben unbedeutende Hoffnung, eine, so Michael Maurer in seiner gewichtigen Studie zur bürgerlichen Biographik im langen 18. Jahrhundert, »Überwindung der Teilung durch publizistische Mittel«18 herbeizuführen. Ein Integrationsmedium der res publica litteraria in politisch zersplitterten Verhältnissen zu schaffen, lag freilich auch in der erklärten Absicht der Allgemeinen deutschen Bibliothek,19 waren doch die »Liebhaber der neuesten Literatur«, wie Nicolai im Vorbericht zur ersten Ausgabe feststellte, »in Deutschland in vielen Städten zerstreuet«.20 Nekrologe leisteten unter diesen Bedingungen, so Franz M. Eybl, die »publizistische Eingemeindung« verstorbener Autoren in ein »Pantheon bürgerlicher Repräsentation«.21 Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum mehr, wenn Nicolais Nekrologe die Verstorbenen nicht nur textförmig charakterisieren, sondern entsprechend der zeitgenössischen Mode des freundschaftlichen und verehrungsvollen Kollegenbildnisses22 sämtlich auch mit einem Kupferstichporträt versehen sind. Nicolai selbst gab indes nur einen einzigen seiner Nekrologe in die Allgemeine deutsche Bibliothek, und zwar den auf Mendelssohn. Auf diese Weise konnte der Text ungemein zeitnah in einem Umfang von acht Druckseiten erscheinen, was 16 Das Verzeichnis bei Schütz, Vor dem Richterstuhl der Kritik, S. 290 f., ist leider höchst unvollständig – möglicherweise werden darin nur musikästhetisch relevante Personen aufgenommen, was aber als Auswahlkriterium nicht erwähnt wird. 17 Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, S. 33. 18 Maurer, Die Biographie des Bürgers, S. 79. 19 Vgl. Schneider, Friedrich Nicolais ›Allgemeine Deutsche Bibliothek‹. 20 Nicolai, Vorbericht, S. ii. 21 Eybl, Nekrolog, Sp. 208. 22 Vgl. Börsch-Supan, Aufklärung und Intimität, bes. S. 25 f.

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für die Verhältnisse der Zeitschrift als eher lang, für Nicolais persönliche Angewohnheiten hingegen als eher kurz zu gelten hat. Offenbar wollte er hier einen Weg finden, um seinen Nachruf möglichst schnell als literaturpolitisches Lenkungsinstrument publik zu machen, denn Mendelssohn war, wie Alexander Kosˇenina treffend feststellte, »auf dem Höhepunkt des Spinozastreites« gestorben und drohte zum »Opfer der Freundschaft für seinen Lessing« stilisiert zu werden.23 Daneben ergibt sich die mediale Spezifik einiger Nekrologe Nicolais aus ihrem primären Verwendungszweck als Akademie-Reden. So gelangte der Nachruf auf Ramler erst ganze fünf Jahre nach dessen Tod in Druck, der auf Engel vier und der auf Teller drei Jahre später. Der Grund dafür liegt darin, dass die Nachrufe auf verstorbene Akademie-Mitglieder zwar üblicherweise gleich in der auf das Ableben folgenden Sitzung verlesen wurden, also für Ramler am 8. August 1799, für Engel am 4. April 1803 und für Teller am 7. August 1806, dann aber erst sehr viel später in den teils über mehrere Jahre gesammelten Akademie-Abhandlungen veröffentlicht wurden. Möglicherweise verlor Nicolai im Falle Tellers über der Wartezeit die Geduld, denn hier geht der um drei Jahre verzögerte Separatdruck in seinem eigenen Verlag der offiziellen Publikation immer noch um ganze acht Jahre voraus. Bei dem Nachruf auf den am 6. Januar 1809 verstorbenen Eberhard handelt es sich ebenfalls ursprünglich um eine Akademie-Rede. Sie wurde auf der Sitzung am 8. Februar gehalten, taucht dann jedoch in den Akademie-Abhandlungen überhaupt nicht auf, vielleicht wegen des enormen Umfangs, vielleicht, weil Nicolai vor dem Erscheinen des Bandes für die Jahre 1804 bis 1811 im Jahr 1815 selbst verstorben war, vielleicht aber auch wegen Nicolais erheblicher Polemik, auf die hier noch gesondert einzugehen sein wird.

3.

Thematische Erweiterungen: Freundeslisten, Literaturkritik und tragische Torten

Zu den obligatorischen Bausteinen des Nekrologs gehören in der Frühen Neuzeit neben der lamentatio und der consolatio vor allem die Personalien, das curriculum vitae sowie die laudatio mitsamt einem Tugendkatalog. Dies alles wird im 18. Jahrhundert weiterhin aufgegriffen, aber dabei gemäß dem Erkenntnisinteresse am herausragenden Einzelschicksal fokussiert. So legt Herder die folgenden Aspekte als Gegenstände des Nekrologs fest:

23 Kosˇenina, Kommentar zum ›Nekrolog auf Moses Mendelssohn‹, in: Friedrich Nicolai, Sämtliche Werke, Bd. 6/2, S. 50.

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»Nur deren Leben gehörte in diese Sammlung, die zum Besten der Menschheit wirklich beigetragen haben; und es wäre Hauptblick des Erzählers, wie sie dies taten? wie sie die wurden, die sie waren? womit sie zu kämpfen, was sie zu überwinden hatten? wie weit sie’s brachten und was sie andern zu tun nachließen? endlich wie sie ihr Geschäft, das Werk ihres Lebens, selbst ansahn?«24

Ein Punkt, den Herder eigens hervorhebt, betrifft die literarischen Meriten der Verstorbenen: »Hieraus folgte, daß bei Männern der Wissenschaft man sich notwendig auf den Wert und die Wirkung ihrer Schriften […] einlassen müßte […].«25 Diesen Vorgaben entspricht Nicolai mit sicherem Gespür für die aktuellsten Bedürfnisse des Lesepublikums schon lange bevor Herder sie schriftlich an die Öffentlichkeit trägt. In seinen Nekrologen berichtet er stets über die geographische und familiäre Herkunft des Verstorbenen, über die Umstände und Widrigkeiten von Bildungsweg und weiterem Werdegang sowie über die Entstehung und Aufnahme seiner wichtigsten Publikationen, um zuletzt eine Gesamtwürdigung vorzunehmen, bei der es, dem Zeitgeschmack entsprechend, nicht mehr um eine schematisierende Zusammenschau der Verdienste geht, sondern um den individuellen Charakter des Verstorbenen, oft in Verbindung mit Hinweisen auf die Physiognomie, wie etwa im Nekrolog auf Thomas Abbt (1738 – 1766): »Er war von mittler [!] und etwas untersetzter Statur. Er hatte schwarz Haar, ein volles Gesicht, Augen, die so viel Geist als Freundlichkeit verriethen. Sein Ansehn konte gleich beym ersten Anblick einnehmen, aber seine trefliche Eigenschaften vermehrten diese Zuneigung, je länger man ihn kannte.«26

Bedient also Nicolai in der Grundstruktur seiner Nekrologe zunächst einmal die erwartungsgemäßen Muster, so finden sich darin auch Besonderheiten, mit denen er die gängigen Schreibweisen in dieser Gattung aufbricht. Erstens führt er in seinen Nekrologen regelmäßig die Lehrer, Gönner und Freunde des jeweiligen Verstorbenen auf. In größter Ausführlichkeit befasst er sich dabei mit der Dreierfreundschaft zwischen ihm selbst, Lessing und Mendelssohn, der er im Nekrolog auf den letzteren einen langen Abschnitt widmet. Ihren Zusammenhalt führt er gleichermaßen auf gemeinsame Überzeugungen wie auf einen überaus produktiven Meinungsaustausch zurück: »Unser Umgang war verschiedene Jahre lang, so innig, so lehrreich! Wir waren in unsern Hauptprincipien über metaphysische, über ästhetische, über sittliche Gegenstände im Grunde so innig einstimmend, und dennoch war bey jedem von uns der nähere Augenpunkt so divergirend, daß jede unserer Betrachtungen jedem von uns so neue Aussichten öffnete, so fruchtbar für das Nachdenken war, und so befriedigende 24 Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, S. 26. 25 Ebd., S. 27. 26 Nicolai, Ehrengedächtniß Herrn Thomas Abbt, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 32.

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Resultate herbey brachte, selbst wenn wir, wie es gemeiniglich geschah, am Ende in manchen Nebendingen verschiedener Meynung blieben.«27

Aber auch in seinen übrigen Nachrufen wird stets ein ganzer Parnass von Dichtern und Denkern vergegenwärtigt, die dem Verstorbenen freundschaftlich zugetan waren. Mitunter geschieht dies sogar in der konzentrierten Form einer Aufzählung, wie z. B. im Nekrolog auf Johann Jakob Engel. Dort liest man zuerst im Lebenslauf: »Er kam bald in Verbindung mit Leipzigs verdientesten Gelehrten und Künstlern, mit einem E r n e s t i , We i ß e , Z o l l i ko f e r, M ü l l e r, Ad e l u n g , P l at t n e r, Hu b e r, O e s e r, H i l l e r, und sie wurden seine wahren Freunde, ob er gleich jünger an Jahren war.«28 In seiner abschließenden Charakteristik der Persönlichkeit Engels rekapituliert Nicolai dann noch einmal: »Er lebte am liebsten im kleinen Zirkel seiner vertrauten Freunde. Diese waren hauptsächlich die edlen Männer : M o s e s M e n d e l s s o h n, Te l l e r, Me r i a n, Eb e rh a r d, Wl ö m e r, Fe r b e r, Kl e i n, Me n ke n, Zö l l n e r, Me i e r o t t o, Da v i d F r i e d l ä n d e r, B i e s t e r, H e r z und F i s c h e r.«29

Mit Inventaren wie diesen dokumentiert Nicolai nicht nur die persönlichen Lebensumstände des Verstorbenen, sondern auch einige Gelehrtennetzwerke seiner Zeit. Allerdings nennt er die Freunde keineswegs nur, um den Verstorbenen durch die Vergegenwärtigung seines illustren Umgangs auszuzeichnen. So begegnet im Engel-Nekrolog neben den beiden Freundes-Listen noch ein recht eigenwilliger locus comparationis. Während üblicherweise der Vergleich mit anerkannten Größen aus der Vergangenheit gebraucht wird, um den Verstorbenen mit ihrem Ruhm gleichzustellen,30 erfolgt hier der Vergleich Engels mit einem seiner Freunde, namentlich mit Christian Garve (1742 – 1798). Zwar schneidet Engel immerhin ein wenig besser ab, aber wirklich schmeichelhaft fällt Nicolais Gegenüberstellung für keinen von beiden aus: »Beide waren von Natur aus beredt, Garve etwas ernsthafter und schwerfälliger, Engel lebhafter und unterhaltender. Beide ließen sich von einer einmal gefaßten Idee durch die Argumentation des Andern nicht leicht abbringen; daher dauerte oft ihr interessanter Disput Stunden lang, auch in Gegenwart eines Dritten und Vierten.«31

Noch um einiges dubioser erscheint der Vergleich mit Garve indes, wenn Nicolai ihn völlig konventionswidrig ein paar Jahre später in seinem Nekrolog auf Jo27 Nicolai, Nekrolog auf Moses Mendelssohn, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 39. 28 Nicolai, Gedächtnißschrift auf Johann Jakob Engel, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 118 f. 29 Ebd., S. 132. 30 Vgl. Bogner, Der Autor im Nachruf, S. 221; sowie ders., Der Nachruf als literarische Gattung, S. 46. 31 Nicolai, Gedächtnißschrift auf Johann Jakob Engel, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 119.

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hann August Eberhard (1739 – 1809) wiederholt, und zwar, ebenfalls konventionswidrig, um dessen Versagen als akademischer Lehrer zu illustrieren: »Doch war es vermuthlich mit ihm eben so wie mit Garve, dessen Vorlesungen in Leipzig nur wenig Beyfall fanden. Auch dieser scharfsinnige Mann war voll von seinen eigenen Forschungen, und konnte diese entweder seinen Zuhörern, welche noch nicht reif genug waren, nicht begreiflich machen, oder er ließ sich, durch das Zuströmen seiner Ideen, von dem Theile des Systems der Elementarkenntnise, den er der Folge gemäß eben vortragen sollte, ableiten, und gerieth auf das, worüber er kurz vorher lebhaft nachgedacht hat.«32

Als zweite Besonderheit der Nekrologe fällt auf, dass Nicolai sich bei der Darstellung literarischer Verdienste nicht auf eine pauschale Anerkennung von Schriften und ihrer Wirkung beschränkt, sondern sich unter Berufung auf gelehrte Rezensionen mit den Vorzügen und Fehlern einzelner Texte auseinandersetzt. Über die herkömmliche Beglaubigung der Qualität durch namhafte auctoritates33 geht seine Abwägung der Kritikpunkte, auf die stets ein eigenes Urteil folgt, deutlich hinaus – im Prinzip betreibt er in weiten Teilen seiner Nekrologe nichts anderes als Literaturkritik. So durchleuchtet er beispielsweise im Nekrolog auf Thomas Abbt dessen das Kriegswesen Friedrichs II. verherrlichende Schrift Vom Tode für das Vaterland (1761), angefangen mit der Frage, ob Preußen überhaupt als Vaterland des gebürtigen Ulmers gelten dürfe. Er sieht in Abbt gewissermaßen einen Landsmann honoris causa, weil er »freiwillig in die wirklichen Dienste des Landesherrn getreten« sei, und »in diesem Lande seine besten Jünglingsjahre zugebracht«, »daselbst die warmste Freunde gefunden« sowie »seinen Geist gänzlich gebildet« habe; außerdem sei ihm, »als einem Bürger einer protestantischen freien Reichsstadt die Neigung für das Haus Brandenburg angebohren«.34 Die ablehnenden Rezipienten der Abbtschen Schrift teilt Nicolai nach ihren Argumenten in zwei Lager : »Die Schrift vom To d e f ü r d a s Va t e r l a n d fand übrigens zweyerley Gegner : Eifrige Republikaner, die durch einen bloßen Wortstreit, dem Unterthanen einer Monarchie kein Vaterland, und keine Liebe für das Vaterland zugestehen wolten; diese widerlegt das erste Hauptstück des Buchs schon so gründlich, daß es keiner weitern Widerlegung bedarf. Zweitens ward diese Schrift von solchen Leuten angetastet, deren tiefe Einsicht in das deutsche Staatsrecht, sie verhindert zu erlauben, daß man das Land, worin man geboren ist, wo man den wohlthätigen Schutz der Gesetze genießet, wo man alles was uns in der Welt lieb seyn kan besitzet, Va t e r l a n d nenne, und deren thätiges Chris-

32 Nicolai, Gedächtnißschrift auf Johann August Eberhard, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 167. 33 Vgl. Bogner, Der Nachruf als literarische Gattung, S. 46 f. 34 Nicolai, Ehrengedächtniß Herrn Thomas Abbt, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 23.

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tenthum von der Entbehrlichkeit aller Tu g e n d sie so sehr überzeugt, daß p o l i t i s c h e Tu g e n d ihnen vollends ein gänzliches Unding scheint.«35

Zeigt dieser Spott ohnehin schon unmissverständlich, wie Nicolai zu diesem Einwand steht, so setzt er – unter rhetorischem Verzicht auf argumentativen Widerspruch – eine Desavouierung als unvernünftig hinzu: »Diese Leute will ich nicht widerlegen, denn für einen unpartheiischen Richter, bedarf es bloß eine kalte und v e r n ü n f t i g e U e b e r l e g u n g , des Zustandes, nicht, in dem sich Deutschland nach dem Herkommen befinden solte – sondern, in dem es sich wirklich befindet, eine billige Rücksicht auf die damaligen Zeitläufte, und vielleicht auch hier ein kleiner Blick, in die, ich darf es sagen – weder rühmliche, noch für das wahre Wohl Deutschlandes vorteilhafte A b s i c h t e n der Gegner.«36

In dieser Äußerung werden mit dem Anspruch auf Unparteilichkeit einerseits und der Gewinnung von Urteilen durch nüchternen Vernunftgebrauch andererseits zwei Prinzipien transparent, auf die sich Nicolai für sein kritisches Verfahren häufig beruft, ohne sie freilich immer einzulösen. Weitere werden erkennbar, wenn er den Text in literarischer Hinsicht bewertet: »Den Inhalt übrigens beiseitegesetzt, ward diese Schrift, von allen Kennern für eine der besten prosaischen Schriften, die seit langer Zeit erschienen, angesehen. Die Schreibart ist, einige kleine Fehler ausgenommen, rein, feurig, edel; die beigefügten Beispiele aus der Geschichte sind auf eine Art eingeführt, die einsichtvolle Leser, bey deutschen Schriften schon oft gewünscht, aber selten gefunden hatten.«37

Im Vordergrund steht hier der Stil, an dem Nicolai drei Merkmale lobt: In ›rein‹ klingen die antiken Stilideale von claritas und perspicuitas an, die auch zur Begründung der aufklärerische Schnörkellosigkeit dienten. Da Abbt in seiner Schrift sowohl mit rationalen Begründungen als auch mit patriotischem Enthusiasmus arbeitet,38 zielt ›feurig‹ womöglich auf die emotionalen Appelle im Text. Als sittliche Kategorie schließlich mag ›edel‹ mit der von Nicolai bereits auf der inhaltlichen Ebene betonten politischen Tugendhaftigkeit korrespondieren. Was Nicolai hingegen an Prosatexten prinzipiell weniger schätzt, lässt sich aus seiner Kritik an Abbts späterer Abhandlung Vom Verdienste (1765) ersehen: »Ich will inzwischen nicht verheelen, daß Kenner die Schreibart in diesem Buche nicht ganz tadelfrey gefunden. So glücklich er viele Gedanken ausdrückt, so viele Stellen voll Feuer, voll edler hinreißender Beredsamkeit sind, so giebt es doch auch manche, wo er sich nicht ganz richtig auszudrücken weis, wo er sich in Gleichnisse und zuweilen nicht 35 36 37 38

Ebd., S. 23 f. Ebd., S. 24. Ebd. Vgl. Bohnen, »Was ist der Held ohne Menschenliebe!«, bes. S. 30 ff.

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einmahl richtig passende Metaphern verwirrt, wo er sich ganz sonderbarer neuerfundener Wörter und Wortfügungen bedient, wo er dunkel und räthselhaft wird.«39

Die monierten Ungeschicklichkeiten in der Bild- und Wortwahl befremden ihn, wie er hinzufügt, um so mehr, als er Abbt sonst als treffsicheren Kritiker kannte und schätzte, der »diesen Fehler bey andern mit einem so sichern Geschmack empfand und tadelte, wie verschiedene Urtheile in den Br i e f e n d i e n e u e s t e Li t t e r at u r b e t re f f e n d , genugsam zeigen.«40 Eine dritte Eigentümlichkeit von Nicolais Nekrologen besteht darin, dass sie durchgängig mit Fußnoten versehen sind. Diese enthalten nicht nur Belegstellen für Literaturverweise, Zitate und Anspielungen, sondern auch umfangreiche Digressionen zu teilweise ganz erstaunlichen Gegenständen. So veranschaulicht Nicolai beispielsweise in einer über mehrere Druckseiten fortgesetzten Fußnote im Engel-Nekrolog die Fähigkeit des Verstorbenen, aus dem Stegreif Theaterstücke zu erfinden. Zu diesem Zweck erzählt er eine Anekdote, nach der Engel bei einem vermutlich nicht ganz ernsthaften Tischgespräch mit einem französischen Gelehrten über das Wesen des Tragischen mit einer spontan erfundenen Dramenhandlung den Beweis angetreten haben soll, dass jedes beliebige, auch noch so banale Sujet tragisch gestaltet werden könne. Nicolai gibt in seiner außergewöhnlich langen Fußnote zum einen das von Engel extemporierte Handlungsschema in aller Ausführlichkeit wieder und zum anderen das quod erat demonstrandum: »›Sehen Sie,‹ schloß Engel, ›nach diesem letztern Plane ist die To r t e die nächste Ursache des t r a g i s c h e n Au s g a n g s ! ‹«41

4.

Rhetorische Devianz: Personalinjurien und Polemik

In unterschiedlicher Anordnung und Gewichtung strukturiert der Dreischritt von lamentatio, consolatio und laudatio seit der Antike bis ins 18. Jahrhundert und darüber hinaus die Rhetorik des Nekrologs, für den die allgemeinen Regeln im genus demonstrativum gelten. Als eigene Gattung hingegen wird der Nekrolog in seinen Einzelheiten nur von Menander erläutert,42 während etwa Quintilian nur am Rande auf die funebres laudationes eingeht.43 Auch diejenigen Regelwerke, die für die Rhetorik der Aufklärung maßgeblich werden, behandeln den Nekrolog lediglich als Untergattung der Lobrede. Im Unterschied zu dieser 39 Nicolai, Ehrengedächtniß Herrn Thomas Abbt, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 27. 40 Ebd., S. 28. 41 Vgl. Nicolai, Gedächtnißschrift auf Johann Jakob Engel, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 128 ff., das Zitat S. 130. 42 Vgl. dazu im Einzelnen Stoffel, Die Regeln Menanders, S. 54 – 78. 43 Vgl. Marcus Fabius Quintilianus, Institutio Oratoriae Libri XII, S. 348 (III, 7, 2).

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nennt Christian Weise in seinem Politischen Redner (1683) für die mit dem Nekrolog verwandte Leichabdankung die folgenden »Haupt-Propositiones«: »1. Der Verstorbene ist zu loben. 2. Der Verstorbene ist zu beweinen. 3. Der Verstorbene ist selig. 4. Die noch lebenden sollen sich trösten lassen.«44

In Gottscheds Ausführlicher Redekunst (1736) entfällt die Seligkeit des Verstorbenen, während das Lob in den Mittelpunkt des Nekrologs rückt, außer bei »solchen Mannspersonen, die nicht viel merkliches in ihrem Leben gethan haben«.45 Zur Abgrenzung gegenüber der Lobrede auf Lebende führt er die lamentatio und consolatio an: »Dadurch unterscheiden sich diese Trauerreden von Lobreden auf noch lebende Personen, daß man auch eine Klage über den Verlust, den das Land, die Stadt, oder doch das Haus und Geschlecht der Leidtragenden erlitten, anstellet, und die Betrübten aufzurichten suchet. Allein bey beydem ist eine Behutsamkeit nöthig. Man kan weder die Klage, noch den Trost brauchen, wenn an dem Verstorbenen nicht viel zu bedauern ist, oder wenn niemand da ist, der sich um ihn grämen wird. Solche Leichen aber kommen nicht selten vor, und da thut ein kluger Redner wohl, wenn er kein groß Aufhebens machet.«46

Bei Nicolai sind indes konsolatorische Elemente allenfalls beiläufig anzutreffen, wenn er z. B. mitteilt, dass Kleist »in ewigem Andenken bleiben«47 werde oder dass Abbt »Anstalten« gemacht habe, die »von dauerndem Nutzen sein werden«.48 Desgleichen lassen sich Belegstellen für die lamentatio nur mit etwas Mühe finden. So schreibt Nicolai bei Kleist: »Wir bleiben zurück und beweinen, nicht ihn, sondern uns, die wir ihn nicht mehr besitzen.«49 Bei Abbt steigt immerhin das Pathos: »Er ist uns entrissen – Was sage ich; Er ist Deutschland entrissen!«50 Bei Mendelssohn heißt es prosaischer : »Die gelehrte Welt hat einen unersetzlichen Verlust erlitten, durch den Tod des berühmten Philosophen Mo s e s Me n d e l s s o h n , welcher den 4ten Jänner 1786. im 57sten Jahr seines Alters früh um 7 Uhr sanft entschlief.«51 Bei Ramler ist ähnlich trocken zu lesen: »Obgleich Ramler erst in ehrenvollem Alter starb, so fühlte doch Deutschland 44 45 46 47 48 49 50 51

Weise, Politischer Redner, S. 456 f. Gottsched, Ausführliche Redekunst, S. 456. Ebd. Nicolai, Ehrengedächtniß Herrn Ewald Christian von Kleist, in ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/ 1, S. 7. Nicolai, Ehrengedächtniß Herrn Thomas Abbt, in ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 34. Nicolai, Ehrengedächtniß Herrn Ewald Christian von Kleist, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 16. Nicolai, Ehrengedächtniß Herrn Thomas Abbt, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 19. Nicolai, Nekrolog auf Moses Mendelssohn, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 37.

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den Verlust, den es litte.«52 In den späteren Nekrologen tritt die Klage zugunsten von vita und laudatio gänzlich zurück. Während die laus defunctorum traditionell mit den Kräften, Gaben, Taten und Tugenden begründet wird, stützt Nicolai sein Totenlob in erster Linie auf die literarischen Verdienste des Verstorbenen, und war im Modus der Literaturkritik. Dass er dabei Lob und Tadel gleichermaßen zur Sprache bringt, entspricht zwar den allgemeinen Gepflogenheiten im genus demonstrativum – »constat laude ac vituperatione«,53 wie Quintilian festlegt. Allerdings greift für den Nekrolog noch eine zweite, freilich ungeschriebene Regel, die von Nicolai durch sein spezifisches Verfahren unterlaufen wird: de mortuis ni(hi)l nisi bonum/bene. Dieser Leitsatz von unklarer Herkunft54 und anhaltender Gültigkeit wird in der Nekrologpraxis des ausgehenden 18. Jahrhunderts neu interpretiert. Zuvor war es Usus, tatsächlich nur Gutes (bonum) zu erwähnen und das Tadelhafte zu verschweigen. Jetzt aber stellte man nicht mehr auf den Inhalt, sondern auf die Art und Weise (bene) ab. Das adverbiale Verständnis hingegen erlaubt es, auch Problematisches anzusprechen, solange dabei die guten und schlechten Eigenschaften dergestalt in ein ausgewogenes Verhältnis gesetzt werden, dass in der Wertung ein vollkommenes Leben festgestellt werden kann. Als »bevorzugtes Gestaltungsprinzip« begegnet dieser Ausgleich insbesondere in Friedrich von Schlichtegrolls (1765 – 1822) Nekrologen der Teutschen, einem Periodikum, das aus der älteren Gattung des Totenregisters hervorgegangen war und zwischen 1790 und 1806 in 28 Bänden erschien.55 Wenn es bei Nicolai um die Schriften der Verstorbenen geht, werden zwar, ähnlich wie in einer Rezension, die Vorzüge und Mängel gegenübergestellt. Jedoch entspricht es weder dem Comment der Literaturkritik noch dem des Nekrologs, dass er nicht nur ad rem, sondern auch ad personam zielt. So erwähnt er zuweilen persönliche Schwächen wie etwa den häufigen Studienfachwechsel Abbts: »Den Plan seiner Universitätsstudien hat er mehr als einmal, vielleicht ohne es selbst zu merken, geändert.«56 An Engel hingegen beanstandet er Gravierenderes, darunter die »G e m ä c h l i c h ke i t , welche ihm in allen Seiten des bürgerlichen Lebens ein charakteristischer Zug war«, seine »unförmliche Dicke«, dazu die »immer zunehmende üble Gewohnheit, fast nie das Zimmer zu 52 Nicolai, Ehrengedächtniß Ramlers, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 114. 53 Marcus Fabius Quintilianus, Institutio Oratoriae Libri XII, S. 348 (III, 7, 1). 54 Der ursprünglich griechisch und ohne die schillernde Adverbialkonstruktion (lµ jajokoce?m) überlieferte Ausspruch wurde Solon, aber auch Chilon von Sparta zugeschrieben; die lateinische Übersetzung erfolgte 1432 durch den italienischen Theologen Ambrogio Traversari, ebenfalls nominal (nisi bonum). Wer für das bene verantwortlich zeichnet, ist unklar. – Vgl. Bartels, Klaus: Veni, vidi, vici, S. 60; eine Herkunft von Diogenes Laertius oder Plutarch hingegen vermutet Büchmann, Geflügelte Worte, S. 351 f. 55 Vgl. Köhler, Schlichtegrolls ›Nekrologe der Teutschen‹, das Zitat S. 185. 56 Nicolai, Ehrengedächtniß Herrn Thomas Abbt, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 21.

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verlassen, seine Abneigung von aller körperlichen Bewegung, seine in Absicht auf Diät etwas unordentliche Lebensart, und sein öfterer allzulanger Schlaf«.57 Außerdem spricht er wiederholt von Engels »übler Laune, deren er selten Herr werden konnte«,58 läßt aber immerhin die pflichtschuldige Relativierung folgen: »Doch, durch wie viel herrliche Eigenschaften wurden seine kleinen Sonderbarkeiten weit überwogen! Engel war redlich, uneigennützig, frey von aller Intrigue, der wahre Freund seiner Freunde; und oft mehr, als man dem ersten Anscheine nach hätte glauben sollen, ein strenger Richter seiner selbst.«59

Daneben gibt es in dem Eberhard-Nekrolog, dem letzten, den Nicolai schrieb, auch lange Abschnitte, die regelrecht als polemisch zu bezeichnen sind und in denen keinerlei Ausgleich stattfindet. In literaturpolitischer Absicht wendet sich Nicolai laut Vorbericht an diejenigen Leser, »welche das Alte nicht ganz vergessen, sondern es vielmehr gern mit dem vergleichen möchten, was wir jetzt vor uns sehen«.60 In aller Ausführlichkeit erörtert er daher die Hauptschriften des Verstorbenen, unter anderem die 1772 erschienene Neue Apologie des Sokrates, oder Untersuchung von der Seligkeit der Heiden, in der sich Eberhard auf der Grundlage der Leibnizschen Theodizee, aber auch in kritischer Auseinandersetzung mit ihr, gegen die Lehren von der Verdammnis aller Nicht-Christen und von der Ewigkeit der Höllenstrafen ausspricht. Mit dieser Schrift reagierte Eberhard auf die dogmatische Haltung, welche der Rotterdamer Theologe Peter Hofstede (1716 – 1803) gegen das 15. Kapitel von Jean-FranÅois Marmontels (1723 – 1799) Roman B¦lisaire (1767) einnahm,61 in dem es um die Möglichkeit der Erlösung tugendhafter Heiden ging. Auf diese Konstellation verweist Nicolai übrigens auch in seinem Roman Sebaldus Nothanker (1773 – 76), wenn er seinen Titelhelden in den Niederlanden mit Repräsentanten progressiver und orthodoxer Glaubensauffassungen diskutieren lässt.62 In einer Fußnote des EberhardNekrologs schreibt sich Nicolai ferner das Verdienst zu, den Verstorbenen zu dieser Positionsnahme angeregt zu haben, indem er ihm die niederländische Originalausgabe der Hofstedeschen Streitschrift geliehen habe.63

57 Nicolai, Gedächtnißschrift auf Johann Jakob Engel, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 130 f. 58 Ebd., S. 124; vgl. auch ebd., S. 132. 59 Ebd. 60 Nicolai, Gedächtnißschrift auf Johann August Eberhard, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 149. 61 Vgl. Hofstede, De Belisarius van den Heer. 62 Vgl. Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker, S. 331. 63 Vgl. Nicolai, Gedächtnißschrift auf Johann August Eberhard, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 154, Fußnote 9.

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Das Für und Wider der Neuen Apologie legt er im Haupttext in seiner üblichen literaturkritischen Herangehensweise dar, um dann die gegen die Schrift vorgebrachten Einwände auf ein grundsätzliches Problem zurückzuführen: »Deutschland stand damal [!] im Wendepunkt der Aufklärung der Theologie. Die hellere Einsicht einiger engländischen Gottesgelehrten hatte verschiedenen nachdenkenden Deutschen Muth gemacht, zu zweifeln und zu prüfen. […] So lobenswürdig diese Bemühungen an sich waren, so ward doch ihre Wirkung damal [!] noch oft von vielen Vorurtheilen gehindert, und auch selbst die welche nach bessern Einsichten strebten, waren keinesweges davon befreyt. Es ward nur zu oft versäumt das Zweifelhafte genauer zu prüfen, weil man fürchtete die Prüfung möchte allzuweit und wer weiß wohin führen.«64

Für dieses Stagnieren der theologischen Aufklärung zieht er den Leipziger Rhetorikprofessor Johann August Ernesti (1707 – 1781), der zu den Gegnern sowohl des B¦lisaire als auch der Neuen Apologie zählte,65 persönlich zur Verantwortung, weil er für eine textkritische Bibelhermeneutik ohne Zuhilfenahme der Philosophie eintrat, was Nicolai für in sich widersprüchlich erklärt: »Es ist kein Zweifel, daß die richtige Kenntniß der Grundsprachen ein wohlgebahnter Weg zur bessern Schrifterklärung und folglich zu genauerer Bestimmung der Wahrheit kirchlicher Lehrsätze ist; aber Ernesti und die übrigen damaligen Philologen, wollten gar keinen andern Weg gelten lassen. Wohin die Spracherklärung nicht führen konnte, dahin sollte man ihrer Meinung nach schlechterdings nie gelangen wollen. Besonders Ernesti erklärte sich mit Bitterkeit wider allen Gebrauch der Philosophie bey Untersuchung kirchlicher Lehren; gerade als wäre eine vernünftige Sprachkenntniß und eine darauf gebauete Schrifterklärung nicht ebenfalls ein folgerechter Gebrauch der menschlichen Vernunft und folglich Philosophie.«66

Anschließend referiert er über mehrere Druckseiten Ernestis Urteile über die Neue Apologie, wie z. B. »Bu c h vo n ü b l e r Wi r k u n g «, »h ö c h s t ve r ä c ht l i c h e s Bu c h «, »sehr einfältiger m e t a p hy s i s c h e r K r a m «.67 Ganz redlich erscheint seine Zusammenfassung jedoch insofern nicht, als er kaum auf die Gründe eingeht, aus denen Ernesti zu diesen Urteilen gelangt. Stattdessen versichert er leidenschaftlich: »Man denke nicht, daß ich etwas übertreibe. Nein! dergleichen Urteile wurden damal [!] im Ernste gefällt, und wahrlich nicht bloß von schlechten Leuten.«68 Einen noch schärferen Duktus gebraucht Nicolai in den Fußnoten gegen Ernesti, der nicht nur »so ganz widersinnig urtheilte« und 64 Ebd., S. 155. 65 Vgl. Ilgner, Die neutestamentliche Auslegungslehre des Johann August Ernesti. 66 Nicolai, Gedächtnißschrift auf Johann August Eberhard, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 155. 67 Ebd., S. 156 ff. 68 Ebd., S. 158.

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»unbeschreiblich schlecht deutsch schrieb«, sondern auch »allen Sinn für gesunde Vernunft so ganz verloren hatte«.69 An späterer Stelle, im Zusammenhang mit Eberhards Allgemeiner Theorie des Denkens und Empfindens (1776), die im Haupttext des Nekrologs wie üblich in ihren Vorzügen und Nachteilen ausgeleuchtet wird, nutzt Nicolai seine teils mehrseitigen Fußnoten noch zu einem handfesten Rundumschlag gegen die zeitgenössische Philosophie, wie er in seinen späten Schriften als wiederkehrendes ceterum censeo begegnet: »An nicht wenigen deutschen Philosophen, welche sich in der spekulierenden Phantasie dergestalt berauschten, daß alle deutliche Erkenntnis vertrieben wird, werden seit zehn und mehr Jahren betrübte Symptome bemerkt, wovon hier einige zusammen zu stellen nicht überflüssig seyn wird, zu einiger Anzeige, wie arg die neuen und neuesten weiland berühmten deutschen Philosophen die innere Empfindung ihrer Hirngespinste mit Erkenntniß verwechseln.«70

Danach geht es namentlich gegen die Philosophen Fichte (1762 – 1814), Schelling (1775 – 1854), Carl August von Eschenmayer (1768 – 1852) sowie gegen den Naturforscher Lorenz Oken (1779 – 1851), aus deren Schriften Nicolai isolierte Gedanken und Formulierungen herausgreift, um seine eigenen Wertungen zumindest vordergründig durch textuelle Belege zu untermauern. Beanstandet werden die »sinnlosesten Einbildungen«, eine »tiefdunkel anschauende[] Philosophie« als »Symptom sublimen Spekulationstaumels«, die »Ueberladung mit betäubender spekulirender Phantasie, welche alle Kraft des Erkenntnisses lähmt«, das »ohnmächtige Streben einer ausschweifenden Phantasie«, »leere schallende T ö n e «, eine »durch Afterphilosophie benebelte[] vollends ganz erkenntnißlose[] Phantasie« oder auch der »Schwindel des Un s i n n s «, dem »in den Hörsälen mancher deutschen Universitäten immer eine neue Me t h o d e untergelegt werden soll«.71 Eberhard selbst war vor allem mit Kant (1724 – 1804) zusammengestoßen, und zwar, weil er im Jahr 1789 eine Serie von Aufsätzen über die Kritik der reinen Vernunft (1781/87) veröffentlichte, in der er Kant mit Argumenten LeibnizWolffscher Prägung zu widerlegen suchte.72 Kant quittierte dies mit dem Aufsatz Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll (1790).73 Diese Kontoverse nimmt Nicolai im Eberhard-Nekrolog zum Anlass, auch Kant noch polemisch abzukanzeln. Hier liest man sogar im Fließtext: 69 70 71 72 73

Ebd., S. 156 f., Fußnoten 11 u. 12. Ebd., S. 162, Fußnote 22. Ebd. Eberhard, in: Lauschke u. Zahn (Hg.), Immanuel Kant, S. 1 – 107. Kant, in: Lauschke u. Zahn (Hg.), Immanuel Kant, S. 109 – 186.

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»Aber im Anfange war der Enthusiasmus so stark, daß jeder auch noch so gut motivirte Widerspruch gegen einzelne Sätze der Kritik für bloßes seichtes Gewäsch ausgegeben ward, und es hieß kurzweg, der Gegner v e r s t e h e die Kritik n i c h t . Freylich war es oft eigene Schuld der Kant’schen Schriften, daß offenbahre Widersprüche entstanden oder doch zu entstehen schienen, weil ihr Verfasser sich, selbst in den subtilsten Untersuchungen, so oft dunkel und unbestimmt ausdrückte. Aber vorzugeben, daß alle Zweifel der einsichtsvollsten Männer nur daher kämen, daß sie die Sätze der neuen kritischen Philosophie n i c h t v e r s t ä n d e n , war nur dem früh eingerissenen unphilosophischen Fanatismus vorbehalten.«74

In den Fußnoten zu dem Kant-Abschnitt wird der Tonfall noch um einiges ätzender : »Die unglückliche Sucht alle philosophische Begriffe umzukehren, und, von Dünkel bethört, nichts gelten zu lassen, als was man selbst sich, w i l l k ü h r l i c h und o h n e B e w e i s , einbildet, ist immer ärger geworden, bey allen deutschen Philosophen, welche ihre Schriften auf das Kant’sche bauten.«75 Unter diesen Kant-Schülern führt Nicolai Fichte an, der die »armseligste Unphilosophie für h ö c h s t e s Wi s s e n ausgiebt«, außerdem Schelling, der mit einem »stolzen und unphilosophischem [!] Tone« oder auch »mit hervorgedrücktem Unterkinne« spreche, und beiläufig wird auch Johann Josua Stutzmann (1777 – 1816) als »ein sehr untergeordneter Kopf« gescholten. Die conclusio seiner Generalabrechnung in der Fußnote lautet: »Es kann nützlich seyn, dergleichn [!] Ausbrüche des Geschwätzes falschberühmter Kunst (1. Tim. 6. 26.) welche für Philosophie gelten will, dem verständigen Publikum von Zeit zu Zeit wieder vorzulegen, welche zeigen, wie sehr die neueste deutsche Philosophie, die ihre dunkle Weisheit – mit selbstsicherer Anmaßung – so hoch preiset, leider! immer mehr bis zur sinnlosesten Unphilosophie herabsinket, wovon auch schon oben, in der 22sten Anmerkung, (S. 162 – 165) Beyspiele angeführet sind.«76

Dies alles geschieht, wohlgemerkt, in einem Nekrolog. Nicolais unversöhnliche Frontstellung gegen die idealistische Philosophie wurden zwar oft und gewiß nicht völlig grundlos für rückwärtsgewandt und starrsinnig befunden,77 aber im Hinblick auf die Gattungsgeschichte des Nekrologs sind seine polemischen Ausfälle insofern wegweisend, als derartiges typischerweise dort erst Mitte des 19. Jahrhunderts Eingang findet.78

74 Nicolai, Gedächtnißschrift auf Johann August Eberhard, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 169 f. 75 Ebd., S. 169, Fußnote 28. 76 Ebd., S. 170, Fußnote 28. 77 Vgl. zu solchen Vorwürfen z. B. Wollgast, Aspekte der Philosophie Friedrich Nicolais, bes. S. 192 – 195. 78 Vgl. Graevenitz, Geschichte aus dem Geist des Nekrologs, bes. S. 132.

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5.

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Diskursgeschichtlicher Kontext

Für die verstärkte Aufmerksamkeit, die sich im 18. Jahrhundert ausgerechnet auf das literarische Totengedenken richtet, lassen sich mehrere Ursachen anführen. Mit dem aufklärerischen Interesse am Menschen verbanden sich zahlreiche weitergehende Fragestellungen, insbesondere nach den Bedingungen und Möglichkeiten für herausragende sittliche und kulturelle Leistungen des Individuums, die es unter anderem anhand mustergültiger Lebensläufe zu erforschen galt. In diesem Zusammenhang wurde der Nekrolog als biographische Quelle grundlegend neu besetzt. Maurer beobachtete eine Säkularisierung der über ein vollendetes Leben zu sprechenden Urteile im Nekrolog: »Nicht mehr am Ende der Zeiten, sondern in der Zeit selbst; nicht mehr vor dem Forum des Höchsten, sondern vor dem Forum der Nation; nicht mehr als endgültige Abrechnung, sondern zum Nutzen der Lebenden.«79 Damit der Nekrolog zum lebensnahen Gedenken und zur Belehrung der Nachwelt dienen konnte, erfolgte zunehmend eine Akzentverschiebung von der exemplarischen Totenklage hin zur individuellen Biographie.80 Entsprechend fordert Herder (1744 – 1803) in seinen Humanitätsbriefen: »Der Name Totenregister, ist schon ein trauriger Name. Laß Tote ihre Toten begraben [Matth. 8,22]; wir wollen die Gestorbnen als Lebende betrachten, uns ihres Lebens, ihres auch nach dem Hingange noch fortwirkenden Lebens freuen, und eben deshalb ihr bleibendes Verdienst dankbar für die Nachwelt aufzeichnen. Hiermit verwandelt sich auf einmal das Nekrologium in ein Athanasium, in ein Mnemeion; sie sind nicht gestorben, unsere Wohltäter und Freunde: denn ihre Seelen, ihre Verdienste um das Menschengeschlecht, ihr Andenken lebet.«81

Statt auf Tröstung oder Erbauung zielt Herders Wortwahl auf Unsterblichkeit (gr. \h\mator) und Erinnerung (gr. lm^lg). Diese neuen Wirkungsfunktionen deuten sich bereits in Nicolais frühestem Nekrolog mit dem Titel Ehrengedächtniß Herrn Ewald Christian von Kleist (1760) an, wenn es dort in durchaus zeittypischer Selbstreflexivität82 heißt: »Diese kurze Erzählung ist allein, in der Absicht geschrieben, die Hochachtung gegen den seligen Herrn von Kleist, bey denen zu vermehren, die ihn nicht persönlich gekannt haben. Man solte denken, daß ein wahrhaftig grosser Mann durch die Bekanntmachung seiner Lebensumstände, mehr geehrt würde, als durch zwanzig mittelmäßige

79 80 81 82

Maurer, Die Biographie des Bürgers, S. 80. Vgl. Köhler, Schlichtegrolls ›Nekrologe der Teutschen‹, S. 181. Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, S. 26. Vgl. Bogner, der Autor im Nachruf, S. 294 – 302.

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Trauergedichte; gleichwohl wählet man in Deutschland gemeiniglich diese letztere Art des Lobes.«83

Außerdem wurde es im Zeichen des Freundschaftskultes gleichsam zur »Ehrenpflicht des Überlebenden«,84 Nekrologe anzufertigen. Vereinzelt konnte dies sogar zu Rivalitäten im hinterbliebenen Freundeskreis führen, was Rainer Falk am Beispiel der Querelen um den Nachruf auf Kleist zeigte, der am 24. August 1759 seinen Verletzungen aus der Schlacht von Kunersdorf erlegen war. Nicolai, der sich sofort an die Abfassung eines Nekrologs machte, erbat und bekam von Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719 – 180385 ein Ölbildnis als Vorlage für einen illustrierenden Kupferstich sowie biographische Informationen über den gemeinsamen Freund.86 Bei aller Hilfsbereitschaft hegte Gleim ein deutliches Misstrauen gegenüber Nicolais Vorhaben, welches er gegenüber Gotthold Ephraim Lessing und Karl Wilhelm Ramler, die ebenfalls mit Kleist befreundet gewesen waren, zum Ausdruck brachte. In seinem Brief an Lessing vom 1. Oktober 1759 ist die Rede von »Nicolai’s Eilfertigkeit« und der Sorge, Nicolai könnte »interessierte Absichten dabei« verfolgen.87 Wenig später, am 6. Oktober, schreibt er Ramler, er begrüße, dass »auch Herr Nicolai zu dem Ruhm unsers Kleist das seinige beytragen« wolle, argwöhnt jedoch, dass »in so kurzer Zeit und bey vermuthlich ermangelnden zuverläßigen Materialien, schwerlich etwas seiner Würdiges zum Vorschein kommen«88 könne. Offenbar intervenierten Lessing und Ramler tatsächlich, wenngleich nicht in der von Gleim erhofften Weise. Vielmehr stellten sie fest, dass in Nicolais Textentwurf nur Gleim als Freund Kleists genannt war, nicht aber sie selbst. Infolgedessen teilte Nicolai Gleim am 26. Oktober mit, der betreffende Passus sei getilgt worden, denn: »Sie waren beide eifersüchtig darüber, und verlangten, daß man ihrer auch gedenken solte, da sich nun dieses nicht thun ließ, so haben wir einmüthig beschloßen, daß man keines von den Freunden des sel. Kleist gedenken solte.«89 Stehengeblieben ist letztlich nur der Verweis auf die Abreise eines nicht namentlich genannten Freundes aus Potsdam, mit dem Gleim gemeint ist.90

83 Nicolai, Ehrengedächtniß Herrn Ewald Christian von Kleist, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 7. 84 Falk, »nach meinem System von der Freundschaft«, S. 106. 85 Vgl. Nicolai an Gleim, 21. 9. 1759, S. 464 f., sowie den Gegenbrief vom 24. 9. 1759 in ebd., S. 471. 86 Vgl. Schumacher, Porträts für die Öffentlichkeit, S. 96 ff., das Zitat S. 92. 87 Gleim an Lessing, 1. 10. 1759, in: ders., Werke, Bd. 11/1, S. 335. 88 Gleim an Ramler, 6. 10. 1759, in: Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler, Bd. 2, S. 411. 89 Nicolai an Gleim, 26. 10. 1759 (unveröffentlicht; Gleimhaus Halberstadt, Hs. A 2921, Nicolai/ Gleim 2), zit. nach Falk, »nach meinem System von der Freundschaft«, S. 107. 90 Dies teilte Nicolai Gleim in einem Brief vom 24. 11. 1759 (unveröffentlicht; Landesarchiv Berlin, F Rep. 241, Acc. 294, Nr. 7), hier nach Falk, »nach meinem System von der Freund-

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Mit der spezifischen Machart seiner Nekrologe ist Nicolai seiner Zeit um einiges voraus, denn die neue, von Herder ausgerufene Nachrufpraxis mit einer grundsätzlich meritokratischen, aber auch den Schattenseiten zugewandten Würdigung von Persönlichkeit und Schriften des Verstorbenen zum Nutzen für die Nachwelt beginnt sich erst in Schlichtegrolls Nekrologen der Teutschen allmählich zu verbreiten.91 Nicolai jedoch arbeitet in seinen Nekrologen längst keine traditionellen rhetorischen officia mehr ab, sondern stellt die Texte in den Dienst einer vergesellschafteten Memorialkultur der Letternrepublik. Darüber hinaus verleiht er seinen Nekrologen sein ganz individuelles Gepräge, indem er die Literaturkritik post mortem fortsetzt – meistens zwar unnachsichtig, aber doch das Für und Wider vermittelnd, bis sie zuletzt in die ungebremste Polemik gegen Dritte entgleist.

schaft«, S. 107. – Vgl. Nicolai, Ehrengedächtniß Herrn Ewald Christian von Kleist, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/1, S. 9. 91 Vgl. Köhler, Schlichtegrolls ›Nekrologe der Teutschen‹, S. 185 f.

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6.

Bibliographie

6.1

Quellen

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De mortuis et bonum et malum. Nicolais Nekrologe auf seine Mit-Streiter

6.2

359

Sekundärliteratur

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360

Stefanie Stockhorst

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Personen- und Sachregister

Abbt, Thomas 81 f., 194, 196 f., 288, 293, 306, 338, 344, 346 – 350 Aberglaubenskritik 15 Abwertung s. Wertung Achenwall, Gottfried 175 Adel 89, 218, 236 Adelung, Johann Christoph 90 f., 345 Adorno, Theodor W. 103 Ästhetik 13, 30, 36 ff., 52, 54, 58 f., 60, 62, 67 ff., 76, 78, 80, 82, 89, 103, 115, 146 f., 203 f., 277, 284 – 287, 340, 344 Agricola, Johann Friedrich 37 Akademie (Mitau) 237 Akademie der Wissenschaften zu Berlin 9, 85, 204, 275, 279, 343 Albrecht, Wolfgang 95 f. Alembert, Jean Baptiste le Rond d’ 13 Algarotti, Francesco 204 Anderson, William 167, 169 Anthropologie 157, 160, 257 f., 267 Aquaviva, Claudio 317 Archenholz, Johann Wilhelm von 137, 149, 162 Architektur 201 – 213, 283 Aristoteles 33 Arndt, Ernst Moritz 136 Arnim, Achim von 44, 46 Ascher, Saul 311 Atheismus 77, 270 Aufklärung 9 – 16, 25 f., 52, 55, 62, 69, 75 – 79, 82 – 85, 87 – 92, 96, 103, 116, 119, 124, 139, 143 ff., 173 f., 177, 180, 183, 190, 192, 196 f., 217 f., 228 f., 231, 235 – 238, 240, 243 ff., 248 f., 254, 299, 302 – 308,

315 f., 316, 318 – 322, 324 f., 331 ff., 339, 348, 352 – Berliner A. 39, 63, 76 f., 80, 82 f., 85, 87 – 91, 116, 217, 230, 235, 237 f., 244, 249, 275 – jüdische A. 16, 299, 302, 306 f. – katholische A. 321 – Aufklärungsforschung 9, 51, 77, 85 – Spätaufklärung 14, 53, 60, 62, 65, 67 – 70, 88, 95, 133, 135, 197 Aufwertung s. Wertung Ausbildung 112, 175, 194, 208, 237 Autodidaktik 52, 77, 106, 112, 306, 340 Baasner, Rainer 160 Bach, Carl Philipp Emanuel 37 Bachmann-Medick, Doris 125 Batteux, Charles 36 Bauakademie 213 Baukunst s. Architektur Baumgarten, Alexander Gottlieb 30, 35, 37 Bendavid, Lazarus 302 Bengel, Johann Albrecht 262, 264, 270 Benyowsky, Moritz August von 162 Berge, Ernst Gottlieb von 31 Berghahn, Klaus L. 52, 54, 65, 96 Bernhard, Isaak 298 Bernhard, Thomas 24 Bertuch, Friedrich Justin 80 Bewertung s. Wertung Beyer, Waltraud 103 Bibra, Sigmund von 139 Biesler, Jörg 202, 210

362 Biester, Johann Erich 9, 79, 87, 90, 201, 207, 345 Bildhauerei 283 Bildung 40, 68, 92, 102, 105, 112, 121, 193, 237, 280, 282, 302 f., 318, 322, 339 f., 344 Bligh, William 167 Blumauer, Aloys 143 Bode, Johann Joachim Christoph 80 Bodmer, Johann Jakob 15, 28, 39, 57 Böhme, Jakob 101 Böttiger, Karl August 79 Bogner, Ralf Georg 337, 340 f. Bonin, Christian Friedrich Ferdinand von 79 Bourguignon d’Anville, Jean-Baptiste 164 Brahms, Johannes 44 ff. Breitinger, Johann Jakob 28 Brentano, Clemens 44, 46 Briefwechsel s. Korrespondenz Brömel, Wilhelm Heinrich 79 Bruck, Engelbert vom 253, 258 ff. Bruyn, Günter de 96 Buchmarkt 341 Buddeus, Johann Franz 268 Bürger, Gottfried August 24, 40 f., 43 Bürgertum 10, 88 f., 95, 97, 99, 103, 119, 121, 127, 135, 189, 193 ff., 201 ff., 205 ff., 209 – 212, 217 f., 223, 239 f., 278, 306, 309, 316, 342, 350 Bürgi, Andreas 133, 147 Büring, Johann Gottfried 205 Bürkli, Johannes 138 Büsching, Anton Friedrich 143, 164 Busch, Werner 217 Buschmann, Ehrenfried Engelbert 204 Buschmeier, Matthias 178 Cagliostro, Alessandro 235 – 244, 246 – 249 Campe, Joachim Heinrich 89 ff. Carl Eugen, Herzog von Württemberg 13 Casper von Lohenstein, Daniel 101 Chodowiecki, Daniel 85, 217 – 231 Clark, Christopher 82 Colifichet 201, 205, 207 f., 210, 213 Condorcet, Antoine Marquis de 177

Personen- und Sachregister

Cook, James 157, 166 – 169 Cornelius Nepos 91 Cotta, Johann Friedrich 75 Cranz, August Friedrich 79 Cronegk, Johann Friedrich von 247 Dalrymple, Alexander 164 Damm, Christian Tobias 282, 338 Darnton, Robert 229 Delisle de la DrevetiÀre, Louis-FranÅois 118 Demographie 173 – 176, 178 ff., 182 – 185, 299 Diderot, Denis 12 f. Dohm, Christian Wilhelm 301 f., 309 f. Dohmann, Albrecht 205 f. Dornblüth, Augustin 113 Douglas, John 157, 166, 168 Dramatik 38 f., 101, 116, 286 Dupaty, Charles Mercier 162 Dusch, Johann Jakob 126, 285 Eberhard, Johann August 82, 338, 343, 345 f., 351, 353 Eckardt, Götz 212 Edelmann, Johann Christian 268 ff. Einbildungskraft 57, 87, 98, 146 f., 159, 243, 326, 353 Emanzipation, jüdische 304, 310 f. Empfindsamkeit 28, 76, 79, 82, 88, 90 f., 119, 124, 126, 158 f., 169, 238, 247 ff., 341 Engel, Eva 284 Engel, Johann Jakob 55, 78, 338. 340, 343, 345 Ephraim, Nathan Veitel Heine 292 f. Ernesti, Johann August Ernesti 345, 352 Eschenburg, Johann Joachim 55, 59, 140, 159 Eschenmayer, Carl August von 353 Esprit 16, 101, 324 Euler, Leonhard 276 Eybl, Franz M. 342 Falk, Rainer 9 f., 356 Ferber, Johann Jakob 237, 240, 345

Personen- und Sachregister

Fichte, Johann Gottlieb 11, 25, 53 f., 68 f., 91 f., 95 f., 101 f., 104 ff., 133, 145, 353, 354 Fiedler, Horst 161 Fielding, Henry 16 Fischer, Tilman 159 Flasch, Kurt 23 f., 27 Forkel, Meta 99 Forrest, Thomas 164 Forster, Georg 145 ff., 149, 155 – 167 Forster, Johann Reinhold 156, 164 Fränkel, David 297 Freimaurer 78, 239, 247 f. Fremdsprachen 112, 125 Freundschaft 26, 97, 99, 106, 237, 245, 275, 277 f., 280 f., 284, 286, 289, 293, 305 f., 311, 339, 342 – 345, 356 Friedlaender, Max 45 Friedländer, David 283, 302 f., 311, 345 Friedrich Wilhelm, Markgraf von Brandenburg 180, 301 Friedrich Wilhelm I., König in Preußen 182 Friedrich Wilhelm, Kronprinz von Preußen (Friedrich Wilhelm II.) 90 Friedrich II., König von Preußen 90, 100, 113, 167, 181 ff., 185, 204 f., 209, 211 ff., 235, 289, 293, 298 f., 301, 346 Frisi, Paolo 201 Frühliberalismus 193, 197 Frühromantik 11, 52, 54, 64, 68, 69, 95, 103, 105 Furneaux, Tobias 157 Füßli, Johann Kaspar 285 Garve, Christian 133, 147, 319, 328, 330, 345 f. Gedike, Friedrich 79, 87 Gegenaufklärung 315 Geheimgesellschaft 324, 334 Geheimhaltung 177, 264, 317 f., 323 f., 326 ff. Gellert, Christian Fürchtegott 32 f., 97, 340 Gemeinnützigkeit 137, 139, 146, 148, 156, 299, 331

363 Genie 41, 86, 89, 105, 280 Geographie 12, 78, 159, 160 f., 164, 168, 344 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 91 Gervinus, Georg Gottfried 54 Geschmack 9, 15, 76, 97, 114, 145, 206 f., 209, 266, 283, 299, 344, 348 Gille, Klaus F. 96, 103 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 229, 285, 356 Gmelin, Johann Friedrich 160, 163 Göckingk, Leopold Friedrich Günther von 85 Göschen, Georg Joachim 80 Goethe, Johann Wolfgang von 9, 11, 27, 40, 43, 52 f., 64 – 69, 75 f., 78, 84, 95, 99, 100, 103, 105, 112, 133, 201, 218, 240, 248, 267, 315 Göttert, Karl-Heinz 10, 54, 64 Goeze, Johann Melchior 82, 84, 255, 260 Goldoni, Carlo 111 – 119, 121 f., 124 – 127, 284 Gontard, Carl von 205 Gottsched, Johann Christoph 11, 15, 28, 30 – 38, 40, 113, 115 f., 118 f., 126, 287, 337, 349 Gottsched, Luise Adelgunde Victorie 248, 265, 268 Grotius, Hugo 30 Gumpertz, Aron Salomon 275 ff., 282 Guthke, Karl S. 169 Habermas, Jürgen 103, 127 Habersaat, Sigrid 82, 319 ff. Hafner, Philipp 84 Hagedorn, Christian Ludwig von 285 Hallo, Rudolf 204 Hamann, Johann Georg 15, 59 Handke, Peter 54 Harbsmeier, Michael 160 Hasenmüller, Elias 318 f., 330 Haskala s. Aufklärung, jüdische Hawkesworth, John 163 Heine, Heinrich 24, 40, 44 Henrich, Dieter 55 Herder, Johann Gottfried 40, 43 f., 46, 55 –

364 62, 67, 69, 80, 85, 87, 91, 112, 134, 160, 201, 288, 342, 343, 344, 355, 357 Herz, Henriette 99, 104 Herz, Markus 302, 345 Heyne, Christian Gottlob 205 Hoefer, Johann Cyriacus 263 Hoepfner, Ludwig Julius Friedrich 59, 160 Homer 203, 282 Horaz 30, 35, 126 Huber, Ludwig Ferdinand 95, 97, 345 Huber, Therese 95, 97, 345 Humboldt, Wilhelm von 67 Hume, David 91, 282 Huth, Gottfried 213 Idealismus 10 f., 52, 102 f., 106 f., 133, 254 Intertextualität 140, 262 ff. Iselin, Isaak 308 Jacobi, Friedrich Heinrich 82, 92 Jasper, Willi 277 Jesuitismus 16, 63, 142, 246, 315 – 321, 323 – 334 Joseph II., Kaiser von Österreich 310, 322, 331 Judentum 85, 277 f., 283, 291, 297 – 312 Jung(-Stilling), Johann Heinrich 75, 253 f., 258 – 261, 263, 266, 270 Justi, Johann Heinrich Gottlob von 182, 290 Kabbala 282 Kästner, Abraham Gotthelf 161 Kaffeehaus 276 Kafka, Franz 26 Kameralistik 63, 178, 182, 191 ff., 197 Kant, Immanuel 11, 14 f., 54, 78, 96, 106, 133, 160, 167, 238, 243, 246, 353 f. Kartoffeln 88, 100 Katharina II., Kaiserin von Russland 53, 235, 237, 240, 244 f., 248 Katholizismus 54, 62 f., 139, 141 ff., 189, 192, 243 f., 246 f., 316, 319 – 325, 330 – 333 Keate, George 162, 169 Kehlmann, Daniel 24

Personen- und Sachregister

King, James 167 Klassik 10, 39, 51 f., 54, 64, 68 f., 79, 96, 103, 107 Kleist, Ewald Christian von 285, 338, 340, 349, 355 f. Kleist, Heinrich von 26 Klockenbring, Friedrich Arnold 84 Klopstock, Friedrich Gottlieb 28, 91, 284 Klotz, Christan Adolf 15, 25, 58, 80 Koch, Heinrich Christoph 43 Köhler, Johann Bernhard 204 Kommerz 12, 105, 125, 229, 341 Komödie s. Lustspiel Kontroverse 23 ff., 27 f., 33, 35, 52 – 55, 64, 69, 88, 90, 95 f., 103, 134, 141, 143, 242, 258 f., 261 Korrespondenz 14, 56, 59, 177, 201, 204, 210, 213, 235, 258, 260, 285 f., 306, 333 Koselleck, Reinhart 64 Kosˇenina, Alexander 9, 343 Krause, Christian Gottfried 37 Krieg 105, 165, 181, 191 – 194, 197 f., 202, 206, 291, 326, 346 Kritik 15, 35, 38, 41, 51 f., 54, 56, 58, 63, 66 ff., 78, 82, 86, 89, 92, 96, 100 f., 111, 113, 115 ff., 124, 126, 134, 147 ff., 155 f., 159, 163, 167, 179, 180 f., 183, 185, 192 ff., 196, 203 – 207, 209 f., 212 f., 217, 228, 231, 238, 243, 245, 249, 253, 255, 259, 261, 263 f., 266 ff., 270, 277 ff., 281 f., 285, 289 f., 301, 306, 311, 316, 318 f., 321 f., 324, 330 f., 333, 346 ff. Krubsacius, Friedrich August 202 ff., 208 Krüger, Johann Christian 118 Kryptokatholizismus 244 Kühlmann, Wilhelm 235 La Roche, Sophie von 97 Lange, Samuel Gotthold 126 Langer, Ernst Theodor 59, 163 Lauder, William 30 f. Lavater, Johann Caspar 133, 141 f., 247 ff., 276, 308 Le Bras, Herv¦ 174 Leibniz, Gottfried Wilhelm 351 Leiste, Christian 166 – 169

Personen- und Sachregister

Lenz, Jakob Michael Reinhold 85 f. Lesages, Alain-Ren¦ 118 Lessing, Gotthold Ephraim 11, 15, 25 f., 34 f., 39, 55 f., 62, 83 ff., 87, 91, 112, 115, 119, 126 f., 163, 249, 255, 275 – 281, 283 – 188, 291 ff., 305 f., 308, 311, 341, 343 f., 356 Levin, Rahel 99, 104 Leyser, Polycarp 319 Lichtenberg, Georg Christoph 39, 288 Liskow, Christian Ludwig 33 Literaturgeschichte 10, 24 – 27, 33, 38, 53, 56, 85, 96, 112, 161, 275, 286 Literaturkritik 15, 27 f., 31 f., 34 f., 39, 51 f., 54, 57, 85, 204, 262, 284 f., 286 f., 346, 350, 357 Literaturpolitik 10, 25, 39, 51 f., 58, 343, 351 Loyola, Ignatius von 326 Lustspiel 86, 111, 113 – 119, 121 – 127, 235, 241, 244 f., 248, 268, 277, 305 Luther, Martin 247, 249, 258, 321 Mahler, Gustav 43 Maimon, Salomon 304 Malerei 283, 285 Malthus, Thomas 183 Manger, Heinrich Ludwig 202, 205 f., 212 f. Marino, Giambattista 116 Marivaux, Pierre-Carlet de 118 Marmontel, Jean-FranÅois 351 Marpurg, Friedrich Wilhelm 37 f. Martens, Wolfgang 90, 321 Masenius, Jacobus 30 Mattheson, Johann 37 Maupertuis, Pierre-Louis Moreau de 275, 279 Maurer, Friedrich 308 Maurer, Michael 342, 355 Meierotto, Johann Heinrich Ludwig 79, 345 Meiners, Christoph 106, 160, 167 Meinungsbildung 12, 242, 339 Meister, Albrecht Ludwig Friedrich 211 Menander 348

365 Mendelssohn, Brendel, s. Schlegel, Dorothea Mendelssohn, Moses 15 f., 26, 39, 55, 58, 62, 78, 85, 90 ff., 98, 106, 202, 217, 275 – 293, 297 ff., 301 f., 305 f., 308 – 312, 337 f., 341 – 344, 349 Mentalität 169 Mereau, Sophie 97, 99 Merkantilismus 181 f., 184 Messance, Louis 182 Michaelis, Johann David 15, 277 f. Michelsen, Peter 51 Militär 176 f., 189 – 195, 197 Militärakademie (Wien) 191 Millenet, Peter Heinrich 202, 208 ff. Milton, John 28, 30 – 33, 116 Mittwochsgesellschaft 78, 88, 338 f. Mix, York-Gothart 10, 54, 65, 68 f., 320 Mizler, Lorenz Christoph 37 Möller, Horst 9, 78, 88, 96, 112, 179, 185, 300 Möser, Justus 134, 338 Moheau, Jean-Baptiste 182 Monarchie 63, 82, 196, 300, 325 ff., 346 Montagsclub 78, 276, 306, 338 Montesquieu, Charles des Secondat 182, 208 Moritz, Karl Philipp 79, 90, 304 Müchler, Johann Georg 276 Müller, Johannes von 91, 165 Musäus, Johann Karl August 55, 203 Musik 36 ff., 43, 45 f., 79, 283 Musil, Robert 54 Mylius, Wilhelm Christhelf Sigmund 79 Napoleon I., Kaiser von Frankreich 26, 105, 197 Neuber, Friederike Caroline 118 Newton, Isaac 282 Nicolai, (Christoph) Friedrich ubilibet Niethammer, Friedrich Immanuel 68 Niethammer, Ortrun 238 Nutzen, Nützlichkeit 135, 139, 148 f., 155, 159, 177, 181, 184, 192 f., 195, 210 f., 236, 242, 283, 309, 318, 322, 355, 357

366 Öffentlichkeit 10 f., 14, 16, 39, 41, 68, 78, 85, 127, 134 ff., 146, 177 f., 185, 203, 236, 242, 255, 266, 278, 309 f., 317, 338, 344 Oken, Lorenz 353 Oper 36, 38, 209 Oppenheim, Moritz 276 Originalität 102, 105, 135, 166 Orthodoxie 16, 81, 83, 89, 218, 227 f., 235, 255, 257, 265, 268, 304, 351 Papst 141 f., 316, 321, 329, 332 Paratext 35, 122, 236, 238, 249, 301 Parodie 27, 40 f., 43 f., 46, 96, 98 ff., 102, 265 f. Parteilichkeit 11, 15, 137, 139, 243, 268, 301, 304, 347 Pasquier, Etienne 333 Paul, Jean (Johann Paul Friedrich Richter) 12, 103 Percy, Thomas 40, 41, 44 Petersen, Johanna Eleonora 264 Peuplierung 181 f. Pezzl, Johann 136 Pfeiffer, Johann Friedrich von 182 Philippi, Johann Ernst 33 f. Philosophie 12, 54, 64 f., 67 ff., 78 – 81, 96, 101, 104, 106 f., 138, 156 f., 159, 161, 164, 166, 197, 223, 230, 260, 267, 279, 281 f., 287 ff., 306, 308, 310 f., 340, 352 ff. Pietismus 16, 89, 223 ff., 253 f., 256 – 270 Piron, Alexis 118 Plagiat 30 f., 138, 140 Platon 282, 289 Poetik, Poetologie 28, 75, 116, 123, 147 Polemik 9, 11, 16, 23, 31, 36 f. 41, 54, 62, 64 ff., 68 ff., 75 f., 81, 86, 90 f., 96, 102 f., 144, 160, 218, 228, 265, 308, 316, 320, 333, 343, 348, 351, 353 f., 357 Pope, Alexander 12, 279 Popper, Karl R. 10 Popularisierung 15, 173, 184, 307 Popularphilosophie 9, 67 f., 106, 191 Pr¦montval, Pierre Le Guay de 279 Pr¦vost, Antoine FranÅois 163

Personen- und Sachregister

Protestantismus 62 f., 83, 139, 143 f., 218, 227 f., 243, 260, 319 – 322, 324, 332, 337, 346 Pseudonym 41 Publikum 11, 13, 25, 68, 84, 114, 119, 121, 126, 148, 155, 167 f., 177 f., 185, 222, 229, 244, 248, 287, 302, 307, 310 f., 328, 344, 354 Quantz, Johann Joachim 38 Quintilian 348, 350 Raabe, Paul 9, 69, 85, 299 Ramler, Karl Wilhelm 58, 79, 338, 340, 343, 349, 356 Raspe, Rudolf Erich 202, 204 – 208, 210, 212 Rebmann, Andreas Georg 136 Recke, Elisa von der 101, 235 – 249 Reed, Terence James 10, 14 Reichardt, Johann Friedrich 45, 79 Reich-Ranicki, Marcel 15, 27, 34, 53 f., 66, 69 Reinhold, Karl Leonhard 143 f. Reinwald, Wilhelm Friedrich Herrmann 162, 169 Resewitz, Friedrich Gabriel 276 Rhetorik 64 f., 104, 117, 159, 337 – 340, 347 f., 357 Riccoboni, Francesco 115 Richardson, Samuel 124 Riesbeck, Johann Kaspar 136 Rilla, Paul 54 Robertson, William 163 Robinson, Henry Crabb 10 Rochow, Friedrich Eberhard von 68 Rohr, Julius Bernhard von 217 f. Roloff, Hans-Gert 298, 306 Romantik 51 f., 79, 96, 107, 267 Rousseau, Jean-Jacques 98, 194, 279, 284 Saal, Justus Heinrich 112 Sachs, Hans 26, 43 Sailer, Johann Michael 113, 133, 141 f., 147, 149 Sainte-Foix, Germain FranÅois 206, 210

367

Personen- und Sachregister

Salon 98 f., 104, 311 Satire 33, 41, 86, 88, 98, 102 f., 123, 207, 218, 245, 253 f., 260, 269 f. Schatz, Georg 162 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 68, 353 f. Schiller, Friedrich 11, 13, 52 ff., 64 – 69, 78, 100, 103, 133, 244 Schlegel, August Wilhelm 24, 40, 52, 67, 69, 95 f., 104 ff. Schlegel, Caroline 99 Schlegel, Dorothea (geb. Brendel Mendelssohn, gesch. Veit) 98 f., 104 Schlegel, Friedrich 51 f., 69, 75, 95 f., 98 – 101, 104 ff. Schlichtegroll, Friedrich von 350 Schmidt, Erich 54, 286 Schmidt, Harald 144 Schmidt, Martin 266 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 106 Schneider, Ferdinand Josef 105 Schneider, Ute 57 ff., 63, 155 Scholten, Johann Andreas Anton von 190, 193 Schubart, Christian Friedrich Daniel 13, 43 f., 86 Schulz, Johann Christoph Friedrich 78 f., 80 Schwinger, Richard 76, 225 Selbstaufklärung 236, 238 f., 243, 245 f., 249 Selbstmord/Suizid 54, 98, 105 Sengle, Friedrich 103 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, 3rd Earl of 282 Shakespeare, William 38 ff. Siebers, Winfried 159, 163 Spinoza, Baruch de 268, 278, 282, 343 Sprengel, Christian Matthias 164 StaÚl, Anne Germaine de 98 Statistik 78 f., 134, 160 ff., 173 – 181, 183 ff. Sterne, Lawrence 218, 262 Stranitzky, Joseph 118 Strauß, Karl Gottlieb 168 Streit, Streitkultur 14, 23, 25 – 28, 30 ff.,

34 f., 92, 95 f., 104, 118, 236, 242 f., 248, 254 f., 267, 286 f., 343, 346 Streitschrift 87, 91, 113, 143, 149, 258 f., 351 Sturm und Drang 30, 39 ff., 43, 62, 79, 82, 85 f., 89, 90 f., 105 Stutzmann, Johann Josua 354 Sulzer, Johann Georg 203, 208, 217, 338 Süßmilch, Johann Peter 174 ff., 179 – 185 Swift, Jonathan 16 Tauentzien, Bogislaw Friedrich von 291 f. Teller, Wilhelm 78, 338, 343 Theater 24, 34, 84, 112, 114 f., 119, 122 f., 126, 255, 266, 285 f., 327, 348 Theologie 12, 27, 75 f., 78, 83, 89, 184, 223, 228, 235, 237, 254 f., 257, 259, 267, 307, 310, 318 f., 322, 331 f., 352 Thomasius, Christian 11 Thümmel, Moritz August von 80 f. Tieck, Ludwig 98 Tieck, Sophie 98 Tradition 14, 62, 65, 75, 83, 100, 112, 119, 134, 140, 145, 159, 175, 189, 208, 217, 244, 248, 299, 304 f., 317 f., 320, 330, 333, 350, 357 Tragödie s. Trauerspiel Trauerspiel 30 f., 125, 286 f.

Übersetzung 12, 15, 28, 31, 36, 38, 53, 56, 67, 111 ff., 115 – 127, 156 f., 160 – 163, 165 – 169, 178, 202, 218, 235 ff., 244, 254, 279, 281, 284 f., 302, 308, 310, 319, 325, 340 Uhden, Johann Christian von 290 Unger, Helene Friederike 77 f., 87 Uz, Johann Peter 280 Vatermord, literarischer 24, 32 ff. Veit, Dorothea, s. Schlegel, Dorothea Vergil 285 Voch, Lukas 210 f. Volk 9, 137, 143, 264, 307 Volksbewaffung 194 f. Volkslied 40 f., 43 – 46

368 Voltaire (FranÅois Marie Arouet) 12, 84, 174 Vorrede 25, 39, 41, 66, 81, 122 f., 136, 139, 141, 146 f., 149, 157, 162, 166, 208, 235, 239, 241 – 246, 248, 309 Waisenhaus (Halle) 256 ff. Walch, Albrecht Georg 162, 166, 210 Wales, William 158 ff. Wattewille, Johannes von 265 Wegener, Karl Friedrich 79 Weise, Christian 349 Weiße, Christian Felix 15 Wellbery, David E. 26 Weltbürger 164, 169 Wertung 11, 38, 54, 65, 75 f., 82, 89, 140, 142, 155, 159, 160, 167, 178, 182, 190, 195, 201, 204 f., 259, 267, 301, 350, 353 Wetzel, Johann Ludwig 166 ff. Widmung 35, 235, 238 f., 241, 298 f., 301 Wieland, Christoph Martin 55, 80, 86, 91, 134 – 138, 144, 161, 247

Personen- und Sachregister

Wilhelm, Johann 264 Wilson, Henry 169 Winckelmann, Johann Joachim 112, 208 Witte, Bernd 76, 88 Witz 15, 27, 30, 35, 59, 64, 67, 87, 95 f., 101 – 104 Wlömer, Johann Heinrich 338, 345 Wunder 242, 246, 322 Wunderbares 28, 39, 89 Xenophon 91 Young, Eward 247 Zedler, Johann Heinrich 13, 268 Zensur 13, 69, 84, 104, 165, 289, 290 ff., 322 Zimmermann, Eberhard August Wilhelm 166 Zimmermann, Johann Georg 293 Zinzendorf, Benigna von 265 Zinzendorf, Ludwig von 265