Friedrich Hebbels Arbeit an Schiller: Die Schiller-Rezeption in Hebbels Ästhetik und Dramatik 9783110660920, 9783110657210

The dramatic works of Hebbel, who in the final year of his life received the first Schiller Prize ever awarded, were the

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Friedrich Hebbels Arbeit an Schiller: Die Schiller-Rezeption in Hebbels Ästhetik und Dramatik
 9783110660920, 9783110657210

Table of contents :
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Erste Rezeptionszeugnisse
3. Kontext der Schiller-Rezeption Hebbels
4. Hebbels Ästhetik und seine Schiller-Rezeption
5. Weiblichkeit und Psychologie der Amazonen: Hebbels Judith und Schillers Die Jungfrau von Orleans
6. Ehre und Öffentlichkeit des Bürgertums: Hebbels Maria Magdalene und Schillers Kabale und Liebe
7. Legitimität und Autonomie des Subjekts: Hebbels Demetrius und Schillers Demetrius
8. Resümee
Literaturverzeichnis
Register

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Mingchao Mao Friedrich Hebbels Arbeit an Schiller

Deutsche Literatur Studien und Quellen

Herausgegeben von Beate Kellner und Claudia Stockinger

Band 32

Mingchao Mao

Friedrich Hebbels Arbeit an Schiller Die Schiller-Rezeption in Hebbels Ästhetik und Dramatik

ISBN 978-3-11-065721-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-066092-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-065806-4 ISSN 2198-932X Library of Congress Control Number: 2019945626 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Titelabbildung: Johann Wolfgang Goethe an Johann Gottfried Herder, wahrscheinlich zwischen Mitte Januar und Mitte Februar 1786. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Danksagung Die vorliegende Arbeit ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im März 2018 von der Sprach- und literaturwissenschaftlichen Fakultät der HumboldtUniversität zu Berlin angenommen wurde. Mein allerherzlichster Dank gilt Prof. Dr. Ernst Osterkamp, der auf mich gewirkt hat wie kein anderer. Seit unserer ersten Begegnung während meines Austauschstudiums im Jahre 2010 hat er mich stets gelehrt, gefördert und geleitet. Vom ersten Keim zur letzten Frucht hat er meine Dissertation wissenschaftlich betreut und mir auch in schweren Stunden immer beigestanden. Ohne ihn wäre ich nicht der geworden, der ich heute bin. Ganz herzlich bedanken möchte ich mich auch bei Prof. Dr. Steffen Martus, meinem Zweitgutachter, für seine wertvolle Ermutigung, seine wohlwollende Unterstützung und so manch aufschlussreiches Gespräch. Der Vorsitzenden meiner Promotionskommission, Prof. Dr. Claudia Stockinger, danke ich ebenfalls sehr für ihre freundliche Hilfe, aber auch für die Anerkennung und die Aufnahme meiner Schrift in die von ihr mitherausgegebene Reihe Deutsche Literatur. Studien und Quellen. Zum großen Dank verpflichtet bin ich ferner den Dozentinnen und Dozenten der Humboldt- und der Freien Universität, von denen ich während meiner Berliner Jahre unglaublich viel gelernt habe: Prof. Dr. Hans Richard Brittnacher, Prof. Dr. Beate Lütke, Prof. Dr. Ulrich Profitlich, Prof. Dr. Peter Sprengel, Prof. Dr. Ulrike Vedder und Prof. Dr. Dr. Yvonnen Wübben. Darüber hinaus danke ich Peter Wittemann, der als Erster das Manuskript gelesen und mir viele Anregungen gegeben hat. Auch meinen deutschen und chinesischen Freundinnen und Freunden bin ich stets aufs Innigste dankbar. Vor allem möchte ich hier Angela Braum, Chaoran Huang, Sabine Imhof, Dominique Renner, Julius Sonntag, Yu Wang und Felix Woywode nennen; doch auch Katrin Endres, PD Dr. Ralf Klausnitzer, Kerstin Krull, Dr. Tanja Kunz, Dr. Alexander Nebrig, Yufei Qiu, Florian Pehlke und vielen anderen gebührt mein Dank. Ich danke ferner den beiden sorgfältigen Lektorinnen meines Manuskripts, Kirstin de Boer und Jasmin Krafft, ganz herzlich. Nicht zuletzt danke ich auch den Freundinnen und Freunden der Melchiorstraße. Sie alle haben mir unheimlich geholfen. Die Studienstiftung des deutschen Volkes hat mich im Rahmen eines Promotionsstipendiums für zwei Jahre gefördert. Für diese großzügige finanzielle Unterstützung bin ich ausgesprochen dankbar. Prof. Dr. Claudia Benthien, die damals das Auswahlgespräch geführt hat, danke ich sehr für ihre Empfehlung. Dem Schleiermacher-Promotionsprogramm der Humboldt-Universität und dem Zentrum für Deutschlandstudien der Peking Universität danke ich des Weiteren für die Organisation vieler interdisziplinärer Austausche. Mein besonderer Dank gilt meinen Eltern, denen ich alles schulde. Dieses Buch ist meiner Frau Yanni in tiefster Liebe zugeeignet. Sie ist die Quelle all meiner Kraft.

https://doi.org/10.1515/9783110660920-202

Inhaltsverzeichnis Danksagung | V  1  1.1  1.2  1.3  1.4  1.4.1  1.4.2  1.4.3 

Einleitung | 1  David und Goliath oder die Last der Tradition | 1  Theorien der Intertextualität | 7  Forschungsüberblick | 12  Gegenstand und Methode | 18  Skizze des Rezeptionsverhältnisses | 18  Vorgehensweise | 22  Struktur der Untersuchung | 24 

2  2.1  2.1.1  2.1.2  2.2 

Erste Rezeptionszeugnisse | 26  Hebbels Jugendlyrik | 26  Die „Laura“-Gedichte | 26  „An die Tugend“, „Kindesmörderin“ und „Elegie“ | 29  Hebbels Jugenddramatik: das „Mirandola“-Fragment | 35 

3  3.1  3.1.1  3.1.2  3.1.3  3.2  3.2.1  3.2.2  3.2.3  3.2.4  3.2.5 

Kontext der Schiller-Rezeption Hebbels | 42  Allgemeine Situation der Schiller-Rezeption im 19. Jahrhundert | 42  Das Schiller-Fest 1859 in Berlin | 46  Hebbels Schiller-Fest 1859 in Wien | 51  Gegen Politisierung und Trivialisierung: Hebbels WallensteinRezension | 54  Zeitgenössische Schiller-Kritik | 58  Das Schiller-Bild in Goethes Gesprächen | 59  Jean Paul und die „Reflexion-Poesie“ Schillers | 64  Schiller in den Vorlesungen A. W. Schlegels | 67  Tiecks Schiller-Kritik | 69  Dekonstruktion des Erhabenen: Solger und Schelling | 74 

4  4.1  4.2  4.2.1  4.2.2  4.2.3  4.2.4  4.3  4.3.1 

Hebbels Ästhetik und seine Schiller-Rezeption | 82  „Poesie der Idee“: Forschungsüberblick | 82  Hebbels Kritik der Schillerschen Lyrik | 84  Gegen die Gedankenlyrik Schillers | 84  Idealrealismus im zeitgenössischen Diskurs | 87  Die echte Naivität und die Einheit von Kraft und Erkenntnis | 90  Dichtung als realisierte Philosophie: Hebbels Ästhetik I | 92  Hebbels Kritik der Schillerschen Dramatik | 94  Gegen die Rhetorik Schillers | 94 

VIII | Inhaltsverzeichnis

4.3.2  4.3.3  4.3.4  4.4  4.4.1  4.4.2  4.4.3  4.4.4  4.4.5  4.5  4.5.1  4.5.2  4.5.3  4.6  5  5.1  5.2  5.2.1  5.2.2  5.2.3  5.3  5.3.1  5.3.2  5.3.3  5.3.4  5.4  5.4.1  5.4.2  5.4.3  5.4.4  6  6.1  6.1.1  6.1.2  6.2  6.2.1 

Gegen die „gehaltenen“ Charaktere Schillers | 96  Poesie der werdenden Gestalt: Hebbels Ästhetik II | 99  „Lebendige Gestalt“ und Zeitproblematik: Hebbel mit Schiller | 102  Hebbels Sprachphilosophie | 109  Die allgemeine und die Individuelle Seite der Sprache | 109  Das problematische Medium Sprache: Schillers „Kallias“-Briefe | 111  „Begriff“ und „Anschauung“ oder die Stilfrage: Hebbel mit Schiller | 115  Sprachphilosophie als Dramenästhetik | 118  Sprachphilosophie als Poetik: Revision der Lyrik-Kritik | 120  Hebbels Rezension über Schillers Briefwechsel mit Körner | 123  Rekapitulation der Schiller-Kritik | 124  „Gesteigertes Leben“: Hebbels Ästhetik III | 127  Idealisierung und Psychologisierung: Hebbels Kritik an Schillers Dramen | 130  Das psychologische Interesse: Hebbel mit Schiller | 133  Weiblichkeit und Psychologie der Amazonen: Hebbels Judith und Schillers Die Jungfrau von Orleans | 143  Hebbels Kritik an Schillers „romantischer Tragödie“ | 143  Hebbels Jeanne d’Arc-Historiographie | 146  Quellen von Hebbels Geschichte der Jungfrau von Orleans | 146  Züge der Naivität – implizite Schiller-Kritik | 147  Konzeption der Geschichtsphilosophie: Hebbel mit Schiller | 150  Die psychologisierte Judith-Gestalt | 154  Stoffgeschichte der Judith Hebbels | 154  Psychologisierung als Gestaltungsprinzip | 159  Die Weiblichkeit in Hebbels Judith | 161  Die Motivverschiebung | 167  Judith und Johanna: Hebbel mit Schiller | 172  Zeitgenössische Rezeption von Hebbels Judith | 172  Die Weiblichkeit in Schillers „romantischer Tragödie“ | 174  Strukturelle Affinität | 177  Schuldbewusstsein oder die Tragik der inneren Zerrissenheit | 180  Ehre und Öffentlichkeit des Bürgertums: Hebbels Maria Magdalene und Schillers Kabale und Liebe | 185  Hebbels Kritik am bürgerlichen Trauerspiel | 185  Gattungsgeschichte des bürgerlichen Trauerspiels | 186  Die Gattung regenerieren: Hebbels Neukonzeption | 190  Die beiden bürgerlichen Trauerspiele: Vergleichbarkeiten | 193  Die Personenkonstellation und der antithetische Titel | 193 

Inhaltsverzeichnis | IX

6.2.2  6.3  6.3.1  6.3.2  6.3.3  6.3.4  6.3.5  6.4  6.4.1  6.4.2  6.4.3  7  7.1  7.1.1  7.1.2  7.1.3  7.2  7.2.1  7.2.2  7.2.3  7.2.4  7.3  7.3.1  7.3.2  7.4  7.4.1  7.4.2  7.4.3  7.5 



Vaterbindung und Familienproblematik | 194  Ehre und Öffentlichkeit: Hebbel mit Schiller | 197  Moralrigorismus und zeitgenössische Kritik | 197  Semantik der Ehre in Maria Magdalene | 199  Semantik der Ehre in Kabale und Liebe | 202  Die Öffentlichkeit in Kabale und Liebe | 204  Die Öffentlichkeit in Maria Magdalene | 208  Der politische Stellenwert des bürgerlichen Trauerspiels | 213  Der politische Gehalt von Kabale und Liebe | 213  Das kritische Potential von Maria Magdalene | 214  Aufführung als politisches Ereignis: Maria Magdalene 1848 | 216  Legitimität und Autonomie des Subjekts: Hebbels Demetrius und Schillers Demetrius | 220  Die Entstehung des Hebbelschen Fragments | 220  Hebbels Demetrius-Plan im Schiller-Jahr 1859 | 220  Quellen und Schwierigkeit | 222  Psychologie und Umstände: Schiller-Kritik und Neukonzeption | 224  Die „Grundgedanken“ der Schillerschen Gestaltung | 228  Legitimität und Gerechtigkeit | 228  Krise des Selbstglaubens | 231  Usurpation des Scheins und Last der vollbrachten Tat | 234  Spielball fremder Leidenschaften: Heteronomie des Subjekts | 236  Exkurs: Hebbels Napoleon-Bild | 240  Das welthistorische Individuum: Hebbels Don Karlos-Lektüre | 240  Problematik des Großen in der Welt | 243  Unmöglichkeit des Subjekts: Hebbel mit Schiller | 246  Das tragische Rechtsbewusstsein | 246  Heteronomie und Kirchenintrige | 249  Ökonomie und Opportunismus | 251  Karneval und Schiffbruch: Weltgeschichte als erhabenes Objekt | 253  Resümee | 262 

Literaturverzeichnis | 267  Register | 285 

1 Einleitung 1.1 David und Goliath oder die Last der Tradition David und Goliath Diesen Riesen zu tödten, war leicht für den muthigen Hirten, Welcher, im Schleudern geschickt, sicher versandte den Stein. Schwerer fand er es schon, den Todten des Haupts zu berauben, Doch es gelang ihm zuletzt durch den verdoppelten Streich. Aber dem Letzten erliegt er, er soll es dem König ja bringen, Und nun schleppt er sich todt an der gewaltigen Last. (W 6, S. 451)

Drei formal meisterhaft gebildete Distichen merkwürdigen Inhalts: Die biblische Erzählung von David, der als kleiner Junge den Riesen Goliath erschlägt und enthauptet,1 wird hier bewusst verkehrt. Zwar verändert sich der Ausgang jenes blutigen Zweikampfs nicht, allerdings wird die Geschichte um einen Epilog ergänzt: Letztendlich erliegt der Sieger doch dem Besiegten. Die Last des Toten war so übermäßig, dass der Versuch der Überwindung für den noch Lebenden selbst tödlich endet. Von dem Glauben an Gott aber, der dem jungen Helden der biblischen Erzählung zufolge seine Kraft verleiht, keine Spur. Triumphiert hat nicht David oder der hinter ihm stehenden Gott, sondern das tote Haupt des Riesen Goliath mit seiner irdisch-materiellen Schwere. Entstanden ist das kleine Gedicht Friedrich Hebbels am 23. Juni 1858 auf dessen Reise nach Weimar, und inspiriert ist es durch einen Besuch der Königlichen Gemäldegalerie in Dresden am Tag zuvor. Es seien ihm „ein Paar Epigramme“ gelungen, so meldet er seiner Frau nach der Ankunft in Weimar, „zu denen die Dreesd’ner Gallerie mich angeregt hatte. Eins auf Goliath und David ist nicht übel.“2 Auf welches Bild das Gedicht sich bezieht, lässt sich allerdings nicht näher identifizieren: Nicht zuletzt deshalb, weil es keine getreue Bildbeschreibung, sondern eine radikale Umkehrung der ikonographischen Tradition darstellt. Die historische Überlieferung des biblischen Stoffs wird im Lexikon für christliche Ikonographie folgendermaßen beschrieben: Im Westen D.[d.i. David, M.M.] in MA [d.i. Mittelalter, M.M.] u. Neuzeit in den Jugendszenen als Hirte u. ländlich gekleideter Jüngling wiedergegeben. Attribute des jugendl. D. sind Hirtenstab, Schleuder, Schwert u. Goliathhaupt in Erinnernung an den Kampf mit Goliath. […] D. als Besieger Goliaths, D. in triumphierender Gebärde nach dem Kampf, ab 14. Jh. häufig in der it., später

|| 1 Vgl. 1. Samuel: 17,54: „David aber nam des Philisters Heubt / vnd brachts gen Jerusalem / Sein Waffen aber legt er in seine Hütten.“ Zitiert nach: D. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe. 2 Bde., hg. von Hans Volz. München 1972. Bd. 1, S. 541. 2 B 611, an Christine Hebbel, datiert 24. Juni 1858. WAB 3, S. 611. https://doi.org/10.1515/9783110660920-001

2 | Einleitung

auch dt. u. niederl. Kunst, in der einen Hand das Schwert, in der andern das Haupt Goliaths […]. Des öfteren das Haupt Goliaths zu Füßen D.s […], seltener das Haupt Goliaths auf den Schultern tragend […]; D., den Stein schleudernd […].3

In der bildenden Kunst überwiegt die Darstellung Davids mit triumphierenden Gebärden und Attributen, die auf seinen Sieg hinweisen. Letzterer wird aufgrund struktureller Parallelität in der Bibelexegese nicht selten als alttestamentliche Vorwegnahme von des Sieges Christi über den Teufel gedeutet. Auch in der florentinischen Renaissance, in der die biblischen Figuren durch künstliche Neugestaltung eine Verselbstständigung von der Glaubenskonnotation erfahren haben, wird der Triumph Davids in einem säkularisierten Kontext festgeschrieben: Die Marmorstatue Michelangelos verwandelt den siegreichen Hirtenjüngling in die Inkarnation einer wehrhaften Republik und damit Träger der Freiheits- und republikanischen Ideen.4 In zweifacher Weise zeichnet sich die Hebbelsche Umschreibung aus: einerseits inhaltlich durch einen pointiert-persiflierenden Umgang mit dem traditionellen Sinngehalt, andererseits formal durch eine komplexe metrisch-syntaktische Struktur. Die Depotenzierung des biblisch vorkodierten Protagonisten ist unter anderem daran abzulesen, dass es sich bei allen vier Personalpronomen „er“, das auf den heilsgeschichtlichen Helden verweist, um metrisch unbetonte Silben handelt. Sodann vollzieht sich eine triadische Steigerung, an deren Ende die unüberwindliche, metrisch akzentuierte „Last“ steht, welche die abschließende Klimax bildet. Weder der Riese noch der Jüngling, sondern die irdisch-reale Schwere trägt den eigentlichen Sieg davon. Es sei, so argumentiert die wohl einzige Interpretation bisher, eine Verwandlung des heroischen Mythos in Absurdität, die von Hebbels Vorliebe fürs Groteske und Paradoxe herrühre.5 Ferner wird diese Auslegung dadurch zeitgenössisch aktualisiert und konkretisiert, dass der tote Körper des erlegten Riesen als Symbol vermeintlich bereits beseitigter politischer Regime interpretiert wird, an denen sich die moderne Gesellschaft noch lange nicht abgearbeitet habe: Kolonialismus, Tyrannei und Gewaltherrschaft. 6 Schließlich stelle Goliath der biblischen Vorlage gemäß doch eine existenzbedrohliche kriegerische Invasion für das israelische Volk dar. Dennoch bedarf das Hebbelsche Epigramm keiner zusätzlichen Kontextualisierung, da es durch seine Entstehungsumstände und seinen Publikationsort ausgewiesen und mit einem ganz konkreten Erwartungshorizont versehen wird, der für

|| 3 Engelbert Kirschbaum u.a. (Hg.): Lexikon der christlichen Ikonographie. 8 Bde. Bd. 1: Allgemeine Ikonographhie A – Ezechiel. Darmstadt 2012. Bd. 1. S. 478–480. 4 Vgl. Stefan Ark Nitsche: David gegen Goliath. Die Geschichte der Geschichte einer Geschichte. Zur fachübergreifenden Rezeption einer biblischen Story. Münster 1998, S. 185. 5 Vgl. Peter von Matt: Armer Sieger. In: Frankfurter Anthologie 19 (1996), S. 70–72. 6 Peter von Matt: Armer Sieger, S. 72.

David und Goliath oder die Last der Tradition | 3

den Leser ausschlaggebend ist. Gedruckt ist das Gedicht in einer Festgabe zum hundertsten Jubiläum Friedrich Schillers, nämlich im Schiller-Album der Allgemeinen deutschen National-Lotterie zum Besten der Schiller- und Tiedge-Stiftungen, das allerdings erst 1861 erschien.7 „Mit Freude“ sei er dazu bereit, der Anfrage des Herausgebers im August 1858 entgegenzukommen und Beiträge für das beabsichtigte Album zu liefern.8 Das beigelegte kleine Gedicht wurde dann neben zahlreichen künstlerisch weniger anspruchsvollen Schiller-Würdigungen alphabetisch angeordnet in das Album aufgenommen. Es handelt sich hier um eine zwar nachträgliche, jedoch auktorial intendierte Rezeptionssteuerung. Angesichts des durch die Drucklegung implizierten Zusammenhangs zwischen dem Text und dem gegebenen Anlass der Schiller-Feier, der durch das dem Album vorangestellte Schiller-Porträt noch betont wird, kann der Leser schlichtweg nicht umhin, das Epigramm als Bezugnahme auf Schiller zu lesen. Dadurch aber gewinnt das Gedicht eine neue Sinnschicht. Es kann, ja es muss als ein bekenntnishafte Aussage Hebbels über sein Verhältnis zu Schiller gedeutet werden. Folglich erscheint Gedicht als eine Glorifizierung weniger des Siegers als vielmehr des vermeintlich Besiegten, dessen schwerwiegende Existenz den Tod überdauert und schlussendlich die Anmaßung seines Bezwingers nivelliert. Die rhetorische Klimaxbildung gipfelt in der absoluten Ohnmacht des armen Siegers, und die Verheißung einer anerkennungsvollen Zukunft beim König muss ausbleiben, da das Überwundene letztendlich als das Unüberwindbare die Oberhand behält. Insofern hat Karl Debrois van Bruyck, dem Hebbel brieflich dieses Epigramm mitteilte, durchaus recht, wenn er darin „eine neue Art von Superlativ“ veranschaulicht sah.9 Durch die Ausblendung des biblischen Glaubensinhalts und die Umkehrung der bestehenden Machtverhältnisse ermöglicht das Gedicht eine unkonventionelle Ehrerbietung, die dem Veröffentlichungskontext entsprechend nicht dem pharisäischen Riesen gilt, sondern dem titanenhaften Dichter Schiller – und vor allem dem, was über dessen irdisches Ende hinaus noch als „Last“ wirkt: seinem Werk. Die erdrückende Schwere des toten Riesen ist also, überspitzt formuliert, das gewaltige Werk des verewigten Dichters, dessen Ungeheuerlichkeit zwar bedingungslose Achtung verlangt, in seiner Wirkung jedoch zweideutig ist. Dem Nachgeborenen erscheint das Werk als Aufgabe und Gefährdung zugleich. Die Konvergenz der Bewunderung und Erniedrigung erfährt, um hier ein Beispiel zu nennen, Fried|| 7 [Friedrich Anton Serre] (Hg.): Schiller-Album der Allgemeinen deutschen National-Lotterie zum Besten der Schiller- und Tiedge-Stiftungen. Dresden 1861, S. 114. Als Grund der Verschiebung nennt der Herausgeber die „kriegerischen Zeiten“, nämlich den sardinischen Krieg 1859. Vgl. B 2032, von Friedrich Anton Serre, datiert 3. Mai 1859. WAB 3, S. 779. 8 B 2018, an Friedrich Anton Serre, datiert 17. März 1859. WAB 3, S. 763. Zum Kontext der Publikation vgl. auch B 1930, B 1931 sowie B 2008. 9 B 1922, von Karl Debrois van Bruyck, datiert 29.–30. Juli 1858. WAB 3, S. 57.

4 | Einleitung

rich Hölderlin Schiller gegenüber am eigenen Leibe. Gerade weil ihm, dessen Stil zunächst noch die Einflüsse Schillers verrät,10 die Anhänglichkeit an Schiller „heilig“ und absolut ist,11 wirkt sie sich desto destruktiver auf das eigene Selbst aus: [U]nd weil ich fühle, wie viel ein Wort von Ihnen über mich entscheidet, such ich manchmal, Sie zu vergessen, um während einer Arbeit nicht ängstig zu werden. Denn ich bin gewiß, daß gerade diese Ängstigkeit und Befangenheit der Tod der Kunst ist, und begreife deswegen sehr gut, warum es schwerer ist, die Natur zur rechten Äußerung zu bringen, in einer Periode, wo schon Meisterwerke nah um einen liegen, als in einer andern, wo der Künstler fast allein ist mit der lebendigen Welt.12

So schrieb Hölderlin am 20. Juni 1797 an Schiller, als er diesem den ersten Band seines Hyperion zusandte. In vollem Umfang erkennt Hölderlin das Dilemma der dichterischen Nachkommenschaft: Die mit Sehnsucht gesuchte Nähe zum Meister und seinen Werken wird überschattet durch eine existentielle Angst vor der Übermacht derselben, weil „gewaltiger und verständlicher, als die Natur, aber ebendeswegen auch unterjochender und positiver der reife Genius der Meister auf den jüngern Künstler wirkt.“13 Es ist, wie Eberhard Lämmert mit recht konstatiert, die „Macht der Vorbildlichen“, die die originelle Entfaltung des eigenen Potentials eher hemmt denn fördert. 14 Dieses spezifische Spannungsverhältnis zwischen Dichtergenerationen lässt sich anhand Harold Blooms einleuchtender Theorie der Einflussangst profilieren. Bloom identifiziert in der abendländischen Dichtungstradition das eigentümliche Phänomen der Angst vor dem „schrecklichen Glanz des kulturellen Erbes“, unter dem die nachgeborenen Dichter ungeheuerlich leiden.15 Der Einfluss sei ein gefährliches Geben, „das den Nehmenden auszehrt.“16 Pathogenetisch betrachtet kann

|| 10 Vgl. Schillers eigenes Urteil über Hölderlin in seinem Brief an Goethe, datiert 30. Juni 1797: „Aufrichtig, ich fand in diesen Gedichten viel von meiner eigenen sonstigen Gestalt, und es ist nicht das erstemal, daß mich der Verfasser an mich mahnte.“ FA 12, S. 289. 11 Vgl. Hölderlins Brief an Schiller, datiert 23. Juli 1795. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Bd, 3: Die Briefe. Briefe an Hölderlin. Dokumente, hg. von Jochen Schmidt. Frankfurt a. M. 1992, S. 198. Ferner vgl. Hölderlins Brief an Schiller, datiert 20. November 1796: „Ich würde mich darüber tadeln, wenn Sie nicht der einzige Mann wären, an den ich meine Freiheit so verloren habe.“ Friedrich Hölderlin: Die Briefe, S. 246. 12 Hölderlins Brief an Schiller, datiert 20. Juni 1797. Friedrich Hölderlin: Die Briefe, S. 264. 13 Friedrich Hölderlin: Die Briefe, S. 265 14 Vgl. Eberhard Lämmert: „Von Ihnen dependir’ ich unüberwindlich“. Über die Macht des Vorbildlichen in der Literaturgeschichte. In: Winfried Barner u. a. (Hg.): Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Stuttgart 1984, S. 601–623, hier S. 609. 15 Harold Bloom: Einfluß-Angst. Eine Theorie der Dichtung. Übers. von Angelika Schweikhart. Basel und Frankfurt a. M. 1995, S. 32. 16 Harold Bloom: Eine Topographie des Fehllesens. Übers. von Isabella Mayr. Frankfurt a. M. 1997, S. 19.

David und Goliath oder die Last der Tradition | 5

diese Furcht um die eigene Originalität die Schattenseite des Genie-Kults aufgefasst werden,17 die sich in der selbsteingebildeten Verzweiflung der Epheben manifestiert: anfangen zu müssen, ohne jedoch anfangen zu können. Zwar wird der in jeder Schaffensperiode gleichermaßen evidenten Einflussangst einen existentiellen Stellenwert zugeschrieben, aber diese Angst an sich stellt Bloom zufolge die eigentliche Inspirationsquelle der Poesie dar: „Ein Gedicht ist nicht die Überwindung der Angst, sondern ist diese Angst. […] Dichtung ist die Einflußangst, ist Fehlverstehen, ist disziplinierte Perversität.“18 Das Hebbelsche Epigramm kann durchaus als eine Artikulation dieser Furcht vor der „gewaltigen Last“ der übermächtigen Einflussnahme gelesen werden. Das Erbe der Dichtungstradition sei „zu nah, um aufgegeben zu werden“, konstatiert Fritz Martini. Es verwandle sich zugleich zu „Verpflichtungen und Hemmungen“.19 Der Ausdruck der eigenen Nichtigkeit gegenüber großen Vorbildern ist darüber hinaus symptomatisch für die nachklassische deutsche Literatur, die sich stets als „Epigonen“ bezeichnet hat. An Verbreitung gewann dieser Begriff vor allem durch Karl Immermanns gleichnamigen Roman, der „den Segen und Unsegen des Nachgeborenseyns“ behandelt.20 „Unser ist das Los der Epigonen, / Die im weiten Zwischenreiche wohnen“, klagt auch Gottfried Keller.21 Ursprünglich ein wertneutraler Begriff für Nachkommenschaft, wurde das Epigonentum im Laufe des 19.Jahrhunderts pejorativ besetzt und diente der Selbstdiagnostik der eigenen Minderwertigkeit.22 Schon Immermann wollte mit seinem Roman das „eigenthümlich[e] Siechthum“ in einer Zeit, die „an einem gewißen geistigen Überfluße“ erkrankt gewesen sei, „durch alle Verhältniße hindurch“ darstellen.23 Noch am Ende des Jahrhunderts bezeichnete Carl Spitteler das Epigonentum als „eine umsonst, auf sträfliche Weise akquirierte Krankheit“, die pathogenetisch auf die ständige Rückschau auf eine kanonisierte, die selbstständige Tätigkeit hemmende Vergangenheit

|| 17 Vgl. hierzu Jochen Schmidt: Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik. 2 Bde. 3. Aufl. Heidelberg 2004. 18 Harold Bloom: Einfluß-Angst, S. 83. 19 Vgl. Fritz Martini: Der Lyriker Hebbel. Theorie und Gedicht. In: Helmut Kreuzer (Hg.): Hebbel in neuer Sicht. Stuttgart 1963, S.123–149, hier S. 123. 20 Vgl. Karl Immermanns Brief an seinen Bruder Ferdinand, datiert 24. April 1830. Karl Immermann: Briefe. Bd. 1: 1804–1831, hg. von Peter Hasubek. München 1978, S. 836. 21 Gottfried Keller: Ghasel. I. In: ders.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Bd. 1: Gedichte, hg. von Kai Kauffmann. Frankfurt a. M. 1995, S. 603. 22 Zur Begriffsgeschichte vgl. Manfred Windfuhr: Der Epigone. Begriff, Phänomen und Bewußtsein. In: Archiv für Begriffsgeschichte. Bd. 4, hg. von Erich Rothacker. Bonn 1959, S. 182–209. Vgl. auch: Burkhard Meyer-Sickendiek: Die Ästhetik der Epigonalität. Theorie und Praxis wiederholenden Schreibens im 19. Jahrhundert: Immermann – Keller – Stifter – Nietzsche. Tübingen 2001, S. 21ff. 23 Immermanns Brief an seinen Bruder Ferdinand, datiert 24. April 1830. In: Karl Immermann: Briefe, S. 836.

6 | Einleitung

zurückzuführen sei.24 Zutreffend charakterisiert Manfred Windfuhr deshalb diesen Druck des Nachgeborenseins an sich als die Notwendigkeit, „klein sein zu müssen, weil die Väter groß waren.“25 Es wäre jedoch an dieser Stelle voreilig, dem Gedicht Hebbels das Symptom des Epigonentums zu attestiere, denn weder eine „einseitige, totale Abhängigkeit“26 vom Vorbild noch eine restlose Hingabe frei von Ergänzungen oder Modifikationen des Übernommenen lassen sich hier feststellen. Vielmehr geht der Einsicht in das Missverhältnis zwischen dem Selbst und der übermäßigen Schwere der Literaturgeschichte eine ernsthafte Auseinandersetzung voran, die nicht nur in dem anfangs zitierten Gedicht die Gestalt eines Kampfs annimmt. Wiederum hat Hölderlin in seinem Brief an Schiller die notwendige Distanzierung und Konfrontation ausgesprochen, derer es zur Selbstrettung bedarf. Er wolle gestehen, daß ich zuweilen in geheimen Kampfe mit Ihrem Genius bin, um meine Freiheit gegen ihn zu retten, und daß die Furcht, von Ihnen durch und durch beherrscht zu werden, mich schon oft verhindert hat, mit Heiterkeit mich Ihnen zu nähern.27

Nicht allein die Bejahung der Größe,28 sondern vor allem die kritische, obgleich letzten Endes oft vergebliche Infragestellung des Vorbildhaften ermöglicht dem Nachgeborenen den Bruch mit der einengenden Tradition. In jedem nachklassischen Rezeptionsverhältnis ist weniger die unreflektierte Übernahme als vielmehr die Auflehnung gegen die Verbindlichkeit des Musterhaften das Entscheidende für die Behauptung der Selbstständigkeit. Diese Konstellation ist auch grundlegend für Hebbels Schiller-Rezeption. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht eine Tagebuchnotiz aus dem Jahre 1848, die die Differenzierung zwischen „Genie“ und „Talent“ in der Dichtung vorzunehmen versucht:

|| 24 Carl Spitteler: Das Epigonentum, seine Gefahren für Gehirn, Nieren und Rückenmark, seine Diagnose und Heilung. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 7, hg. von Gottfried Bohnenblust u.a. Zürich 1947, S. 606–629, hier S. 608. In diesem im Jahre 1891 entstandenen Essay sieht Spitteler die Gefahr des Epigonentums in erster Linie in der „literarischen Überschwemmung“ (S. 613), die das Genie ersticke und die Objektivität der Wertschätzung aufgrund absoluter Hingabe an die „Klassiker“ beeinträchtige (S. 626). Dazu vgl. auch Burkhard Meyer-Sickendiek: Die Ästhetik der Epigonalität, S. 67–71. 25 Manfred Windfuhr: Der Epigone, S. 185. 26 Manfred Windfuhr: Der Epigone, S. 189. 27 Hölderlins Brief an Schiller, datiert 30. Juni 1798. Friedrich Hölderlin: Die Briefe, S. 298. 28 Vgl. hierzu auch die These Gert Mattenklotts: „Es ist die Chance zur Freiheit in der Tradition, denn diese ist es ja, die in den Vätern bejaht wird. Erst diese Bejahung bringt dann die Freiheit ihr gegenüber.“ Gert Mattenklott: Epigonalität. In: ders.: Blindgänger. Frankfurt a. M. 1986, S. 72–100, hier S. 76.

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Es giebt ein ganz untrügliches Kriterium für Genie und Talent und dieß besteht darin, daß man sich frägt, wenn man sich einer imponirenden Leistung gegenüber befindet, ob man bei einer hinreichenden Potenzirung des eigenen Wesens Vermögens ihrer selbst fähig gewesen wäre oder nicht. Darf man die Frage bejahen, | findet man in sich einen Faden, der, s gehörig ausgesponnen, sich an den fremden anknüpfen ließe, so hat man es immer mit einem Talent zu thun und nur im entgegengesetzten Fall mit dem Genie. Im Genie liegt immer etwas durchaus Neues, streng an ein bestimmtes Individuum Geknüpftes. Der mittelmäßigste Poet, der die Abendröthe besingt oder ein Sonett auf einen Maikäfer macht, würde es zu einem Gedicht, wie Schillers Spatziergang oder seine Glocke bringen, wenn seine Kraft millionenfach verstärkt würde; Schiller selbst aber, wenn würde nie einen Fischer oder einen Erlkönig erzeugen. (TBR 4269 / TBW 4353)

Es geht in dieser Aufzeichnung weniger um die axiologische Bevorzugung des einen gegenüber dem anderen, sondern vielmehr um Hebbels Selbstverständnis gegenüber den Weimarer Dioskuren. Die Anerkennung Goethes als Genie rückt ihn zugleich in eine unnachahmbare Ferne, deren Inkommensurabilität jegliche Annäherung per se ausschließt. Hingegen bleibt das Talent Schillers, an das anzuschließen anhand eines inneren „Fadens“ noch denkmöglich ist, noch in der Sichtweite der Konkurrenz, obwohl es einer „millionenfach[en]“ Anstrengung der eigenen Potenz bedarf, um daran heranzureichen. Die grammatische Vorsicht des Konjunktivs, der die implizierte Unwahrscheinlichkeit der angestrebten Ebenbürtigkeit andeutet, weist auf jene Ambivalenz hin, die auch dem David-Goliath-Epigramm innewohnt: Es ist die Einheit von Kritik und Anerkennung, von bewusstem Gegensatz und Bewunderung wider Willen, sowie schließlich von der kritischen Distanzierung und der Einsicht der werkimmanenten Affinität, die im Zentrum von Hebbels SchillerRezeption steht. Dieser Ambivalenz anhand exemplarischer Texten Hebbels nachzugehen, ist das Ziel der vorliegenden Arbeit.

1.2 Theorien der Intertextualität Die Untersuchung eines bestimmten Rezeptionsverhältnisse erfordert eine Reflexion über theoretische Ansätze zur Intertextualität, denn kein Text, so konstatiert Karlheinz Stierle vollkommen zu Recht, setzt am Punkt null an.29 Das Konzept der Intertextualität, das vor allem von Julia Kristeva in Anlehnung an Bachtins Theorie der Dialogizität in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt wurde,30 geht von einer universellen Vernetzung innerhalb des gegebenen Textuniversums aus. Wie jedes Wort nur innerhalb eines historisch bestimmbaren Semantikkonsenses seinen Sinn || 29 Karlheinz Stierle: Werk und Intertextualität. In: ders. und Rainer Warning (Hg.): Das Gespräch. 2. Aufl. München 1996, S. 139–150, hier S. 139. 30 Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektive. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II. Frankfurt a. M. 1992, S. 345–375.

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erhält, ist jeder Text kein statischer Punkt, sondern „eine Überlagerung von TextEbenen, ein Dialog verschiedener Schreibweisen“.31 Programmtisch erklärt Kristeva: „[J]eder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes.“32 Durch die Entgrenzung des individuellen Texts hin zu einer universellen Interaktion der Texte wird die Geschlossenheit einer textuellen Einheit gesprengt, sodass sich keine Eindeutigkeit im Textverständnis mehr vollziehen könnte. Jeder Text wird in einem doppelten Koordinatensystem verortet, da er sowohl horizontal zwischen den schreibenden und rezipierenden Subjekten, als auch vertikal im Rahmen eines historischen Textkorpus changiert. Mithin ist der Text nichts anderes als ein mit schriftlichen Zeichen fixiertes Produkt der dynamischen Intertextualität; selbst das Schreibersubjekt wird als lesbare Textur in Zitate aufgelöst. Die intersubjektive Kommunikation erfolgt daher allein anhand von Texten: „An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität.“33 Die Dialektik zwischen der historischen Überlieferung einerseits und der singulären Individualität andererseits, sowie die Aufhebung der Subjektivität im kombinatorischen Spiel der Sprachmaterialien hat vor Kristeva schon T. S. Eliot in seinem Essay über Tradition und individuelles Talent thematisiert. Die Individualität als dichterische Tugend wertet Eliot als illusionistisches Vorurteil ab: Eine unvoreingenommene Annäherung an einen Dichter enthülle nicht selten, dass „not only the best, but the most individual parts of his work may be those in which the dead poets, his ancestors, assert their immortality most vigorously.“34 Insofern kann die significance eines Dichters allein in Bezug auf seine Stellung in der gesamten Literatur- und Kunstgeschichte bestimmt werden: „No poet, no artist of any art, has his complete meaning alone. His significance, his appreciation is the appreciation of his relation to the dead poets and artists.“35 Die Dichtungstradition ist keine veraltete und irrelevante Antiquität für den schaffenden Künstler, denn das historische Bewusstsein – the historical sense – beinhaltet nicht allein die Vorstellung von dem Vergangensein der Vergangenheit, sondern auch die Einsicht in ihre ständige und durchaus gegenwärtige Präsenz: „[T]he historical sense involves a perception, not only of the pastness of the past, but of its presence“.36 Sämtliche Vertreter der Weltliteratur, die zugleich als leitende Instanz das Wertungsraster für die zeitgenössi-

|| 31 Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 346. 32 Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 348. 33 Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 348. Zu Kristeva vgl. auch Frauke Berndt und Lily Tonger-Erk: Intertextualität. Eine Einführung. Berlin 2013, S. 37f. 34 T. S. Eliot: Tradition and the individual talent. In: ders.: The Sacred Wood. Essays on Poetry and Criticism. London 1966, S. 48. 35 T. S. Eliot: Tradition and the individual talent, S. 49. 36 T. S. Eliot: Tradition and the individual talent, S. 49.

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schen Werke konstituieren, müssen daher als gleichzeitige Gegenwart – simultaneous existence – gedacht werden, in die sich der Dichter einschreibt.37 Insofern wird der Fortschritt eines Künstlers nicht als das Ergebnis der Entfaltung seiner individuellen Originalität anerkannt, sondern als eine kontinuierliche Selbstaufopferung und Entpersonifizierung zugunsten der Traditionsverpflichtung festgeschrieben: „The progress of an artist is a continual self-sacrifice, a continual extinction of personality.“38 Darum ist der Schreibende kein Urheber, sondern nur Katalysator der Eigendynamik der Dichtung. Er dient nur als Medium dem im Horizont der Tradition unerwarteten Zusammenspiel von Eindrücken und Erfahrungen.39 Angesichts des notwendigen historischen Bewusstseins und der Automatismen des Schreibprozesses erscheint das Subjekt wie eine leere Hülle und wird somit endgültig entbehrlich: Die Poesie ist, der radikalen Schlussfolgerung Eliots zufolge, „not the expression of personality, but an escape from personality.“40 Die radikale Verallgemeinerung der Intertextualität und die damit verbundene Auflösung der holistischen Subjektivität vertritt vor allem der Poststrukturalismus mit seiner dekonstruktiven und ideologiekritischen Grundposition, welche in erster Linie die „subversive Kraft“ der Literatur hervorhebt.41 Die Logik der Ambivalenz unterhöhlt den Machtanspruch der autoritären Eindeutigkeit und schafft dadurch Freiräume für die demokratische Vervielfältigung der Bedeutungsschichten. Allerdings begünstigt eine solche Entgrenzung der Intertextualität keineswegs den hermeneutischen Zugang zur literaturwissenschaftlichen Arbeit. Zum einen wird, wenn das Schreiben als eine „Autopoiesis des Textes aus Texten“ verstanden wird, die Intentionalität des Autors negiert.42 Zum anderen erweist sich eine unreflektierte Generalisierung des Textbegriffs als problematisch, da in diesem Fall „kein Text mehr nicht intertextuell“ wäre, denn jede Kultursemiotik nimmt als lesbarer Text automatisch am Prozess der intertextuellen Kommunikation teil.43 Wird Intertextualität nicht als Besonderheit, sondern als der Textualität an sich immanent aufgefasst, so kann sie gerade deshalb bei der Interpretation einer spezifischen Rezeptionskonstellation kaum von praktischem Nutzen sein. Denn einleuchtend wie es ist, fehlt es einem universalisierten Intertextualitätskonzept doch an pragmatischer

|| 37 T. S. Eliot: Tradition and the individual talent, S. 49. 38 T. S. Eliot: Tradition and the individual talent, S. 53. 39 T. S. Eliot: Tradition and the individual talent, S. 56: „[F]or my meaning is, that the poet has, not a ‘personality’ to express, but a particular medium, which is only a medium and not a personality, in which impressions and experiences combine in peculiar and unexpected ways.“ 40 T. S. Eliot: Tradition and the individual talent, S. 58. 41 Vgl. Bernd Stiegler: Einleitung [zum Kapitel „Intertextualität“]. In: Dorothee Kimmich u. a. (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart 1997, S. 327–333, hier S. 330. 42 Vgl. Frauke Berndt und Lily Tonger-Erk: Intertextualitä, S. 40. 43 Ulrich Broich und Manfred Pfister (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985, S. 8.

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Strenge und Durchführbarkeit, da eine allgemeine Wesensbeschreibung für die Erfassung eines bestimmten Phänomens allenfalls tautologisch, jedoch nicht ergiebig sein kann. Aus diesem Grunde plädiert Karlheinz Stierle für einen engeren Intertextualitätsbegriff, in dessen Mittelpunkt das Werk stehen soll. Ohne Text kein Intertext: Die intertextuelle Assoziation erhält ihren Sinn allein durch den Rückbezug auf das vom Werk besetzte Zentrum, von dem sie ausgeht. Deshalb betont Stierle, dass die „intertextuelle Relation“ das „Moment der Identität des Textes selbst“ sei.44 Damit die intertextuelle Korrelation nicht willkürlich gesetzt wird, hebt Stierle mit Nachdruck die sachbezogene Intentionalität hervor. Eine intertextuelle Beziehung wird nicht unter allen Umständen festgestellt, sondern muss zunächst durch eine gemeinsame Fragestellung gerechtfertigt werden,45 die dann die Relation in ein „Reflexionsmedium“ umwandelt, das die „pure Faktizität des je einzelnen Werks aufhebt und perspektiviert.“46 Die Intertextualität basiert in pragmatischer Hinsicht also auf einem Differenzbewusstsein, das sowohl produktionsästhetisch beim Autor als auch rezeptionsästhetisch beim Leser situiert werden kann. In beiden Fällen wird der Text bewusst in ein thematisch relevantes Koordinatensystem überführt, um einerseits seine spezifische Position darin zu bestimmen und andererseits seine Eigentümlichkeiten sichtbar werden zu lassen. Ulrich Broich und Manfred Pfister haben den Ansatz Stierles weiter vertieft. Sie definieren die Intertextualität als ein Verfahren „eines mehr oder weniger bewußten und im Text selbst auch in irgendeiner Weise konkret greifbaren Bezugs auf einzelne Prätexte, Gruppen von Prätexten oder diesen zugrundeliegenden Codes und Sinnsystemen“.47 Als „Prätexte“ gelten dabei allein solche, auf die der Autor „bewußt, intentional und pointiert“ anspielt.48 Von einem produktionsästhetischen, intentionellen Intertextualitätsbegriff ausgehend entwickeln Broich und Pfister sechs Kriterien für die qualitative Bestimmung eines intertextuellen Bezugs: erstens Referentialität (Markierung der Zitation), zweitens Kommunikativität (Konsens mit dem Rezipienten), drittens Autoreflexivität (Selbstthematisierung der textimmanenten intertextuellen Bezüge), viertens Strukturalität (strukturelle Parallelität mit Prätext), fünftens Selektivität (Prägnanz oder Vollständigkeit des intertextuellen Bezugs) und sechstens Dialogizität (diskursive Interaktion mit dem Prätext). 49 Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass sich die intertextuelle Relation umso intensiver ausnimmt, je expliziter dies geschieht oder inszeniert wird. Von größerer Bedeutung ist in erster Linie die Kategorie der Kommunikativität, die den Grad der || 44 Karlheinz Stierle: Werk und Intertextualität, S. 146. 45 Vgl. Bernd Stiegler: Einleitung, S. 331. 46 Karlheinz Stierle: Werk und Intertextualität, S. 142. 47 Ulrich Broich und Manfred Pfister (Hg.): Intertextualität, S. 15. 48 Ulrich Broich und Manfred Pfister (Hg.): Intertextualität, S. 23. 49 Ulrich Broich und Manfred Pfister (Hg.): Intertextualität, S. 26ff.

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Erwartung bei der intertextuellen Modellierung einstuft und klärt, inwieweit der Autor seine intertextuelle Anspielung für explizit, also für den Leser auch erkennbar hält. Zwangsläufig herrscht oft ein disproportionales Verhältnis zwischen der hohen Kommunikativität und der relativ niedrigen Referentialität und Selektivität, denn eine ausführliche Kennzeichnung erübrigt sich, wenn der Autor damit rechnet, dass der intertextuelle Bezug unmittelbar erkennbar ist. Während Broich und Pfister den werkgenetischen Beitrag der Intertextualität akzentuieren und die Erscheinungsformen derselben kategorisieren, beschäftigt sich Harold Blooms Theorie der Einflussangst mit der psychodynamischen Dimension der intertextuellen Relation. Da es in Anbetracht des omnipräsenten Einflusses keinen independenten Text, sondern „nur Beziehungen zwischen den Texten“ gebe,50 nimmt Bloom sich vor, die Haltung des Dichters zu seinem Prätext zu ermitteln. Diese lässt sich nun als einen aktiven Revisionismus kraft Fehllektüre charakterisieren. „Poetischer Einfluß vollzieht sich – wenn zwei starke, authentische Dichter beteiligt sind – immer durch die Fehllektüre des früheren Dichters, durch einen Akt der kreativen Korrektur, die wirklich und notwendig eine Fehlinterpretation ist.“51 Die Fehllektüre ermöglicht einen korrigierenden Eingriff, der den Epheben von der drückenden Last der verbindlichen Tradition befreit und die Neubegründung seiner Dichterexistenz einleitet. Eine besondere Form der „totale[n] Fehlinterpretation“ ist Bloom zufolge die Idealisierungskritik, die den Vorläufer freilich unzutreffend als „Überidealisierer“ abwertet.52 Aufschlussreich ist des Weiteren Blooms Beobachtung, dass der nachgeborene Dichter zwangsläufig eine defensive Stellung einnimmt, um durch Abgrenzung von seinen vermeintlich mängelbehafteten Vorgängern die eigene Identität und Selbstständigkeit zu befestigen. Insofern stimmt Bloom auch mit Kristeva überein, die ihrem kritischen Gestus entsprechend nur drei – allesamt revisionistische – Modi der intertextuellen Beziehung nennt: Relativierung, Parodie und Polemik.53 Nicht berücksichtigt wird konsequenterweise die Ästhetik der Epigonalität, die gerade durch ein strukturelles und vor allem affirmatives Wiederholen gekennzeichnet ist.54 Freilich ist Blooms Theorie eher esoterisch-psychoanalytisch angelegt, weshalb er die Einflussangst durchaus ödipal auffasst und die Namen seiner Typographie der Fehllektüre der Kabbala entnimmt. Vor allem aber argumentiert er nicht streng philologisch: Das Verhältnis der Einflussangst bestehe, „selbst wenn der Ephebe dieses Gedicht nie gelesen hat. Quellenstudium ist hier völlig irrelevant; wir beschäftigen uns hier mit Urworten.“55 Die Auseinandersetzung mit dem Prätext scheint gar || 50 Harold Bloom: Eine Topographie des Fehllesens, S. 9. 51 Harold Bloom: Einfluß-Angst, S. 30. 52 Harold Bloom: Einfluß-Angst, S. 60. 53 Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 356f. 54 Vgl. Burkhard Meyer-Sickendiek: Die Ästhetik der Epigonalität, S. 13f. 55 Harold Bloom: Einfluß-Angst, S. 63.

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überflüssig sein. Nichtsdestotrotz leuchtet Blooms intuitive These über die Dialektik der Fortführung, die er mit Kierkegaard als „Erinnerung nach vorne“ umschreibt, durchaus ein: Der starke Dichter überlebt, weil er die Diskontinuität einer „aufhebenden“ und einer „isolierenden“ Wiederholung lebt, aber er würde aufhören ein Dichter zu sein, wenn er nicht die Kontinuität des „Erinnerns nach vorne“ leben würde, des Herausbrechens in eine Erneuerung, die doch die Errungenschaften seines Vorläufers wiederholt.56

Mit anderen Worten: jeder Versuch eines Traditionsbruchs ist nur das Produkt einer illusionistischen Fehleinschätzung, da der angebliche Neuaufbruch in Wirklichkeit eine Regression, eine – freilich modifizierte – Bestätigung des Vorhandenen darstellt. Um sich als Dichter und nicht als Epigone zu etablieren, ist eine kritische Revision des Prätexts notwendig; da es sich dabei jedoch zwangsläufig um eine Fehllektüre handelt, so kehrt der spätere Dichter – ausgerechnet durch die vermeintliche Korrektur – zum Ausgangspunkt, nämlich zu seinem Vor-Bild-Text nämlich, zurück, und erweist sich gerade aufgrund der formalen wie ideellen Nähe zu diesem als einen ebenbürtigen starken Dichter. Sind für die produktionsästhetische Betrachtung der Intertextualität nach wie vor das Differenzbewusstsein und der Prozess der Selbstfindung durch Auseinandersetzung mit dem Fremden ausschlaggebend, so lässt sich die philologische Analyse der konkreten intertextuellen Bezügen einer gegebenen Rezeptionskonstellation als Untersuchung jener dialektischen Struktur der erinnernden Variation präzisieren. Denn in der Variation sind zugleich Momente der Wiederholung und Anverwandlung enthalten, sodass die Identität des Leitmotivs gerade durch die Vielfalt individueller Prägungen wiedererkennbar wird. Die abwesende Anwesenheit, die vergessende Erinnerung, die entfernte Annäherung, die verabscheuende Bewunderung –faszinierend in jeder Intertextualität ist just diese eigentümliche Ambivalenz.

1.3 Forschungsüberblick Jeder späteren Untersuchung über eine Schiller-Rezeption liegt die Vorarbeit von Norbert Oellers zugrunde. Während seine Monographie der Wirkungsgeschichte Schillers zwischen seinem und Goethes Tod nachgeht,57 schafft seine zweibändige Quellensammlung die Grundlage für eine vertiefende Rezeptionsforschung.58 Ihm || 56 Harold Bloom: Einfluß-Angst, S. 63. Zur Denkfigur des Vorwärtserinnerns vgl. auch Peter Bürger: „Nach vorwärts erinnern“. Relektüren zwischen Hegel und Nietzsche. Göttingen 2016. 57 Norbert Oellers: Schiller. Geschichte seiner Wirkung bis zu Goethes Tod. 1805-1832. Bonn 1967. 58 Norbert Oellers: Schiller – Zeitgenosse aller Epochen. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Schillers in Deutschland. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1970.

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folgen auch weitere Darstellungen über das Nachleben Schillerscher Werke,59 vor allem die verdienstvollen Beiträge Ute Gerhards über die Schiller-Rezeption im 19. Jahrhundert.60 Zugleich aber fordert Oellers die Forschung auf, sich auch mit spezifischen Fragestellungen der literarischen Schiller-Rezeption einzelner Autoren eingehender zu beschäftigen: „Es wäre gewiß nützlich, einmal in einer Spezialuntersuchung die Nachwirkungen Schillers auf diese und andere Dichtung genau festzustellen.“61 In Bezug auf Hebbel ist dies allerdings noch nicht genügend geschehen.62 Während unterschiedliche Detailstudien zu einzelnen Werken oder Werkvergleichen in den folgenden Kapiteln zu berücksichtigen sein werden, seien an dieser Stelle zunächst diejenigen Arbeiten erwähnt, die sich mit Hebbels SchillerRezeption im Allgemeinen befassen. Die ersten Versuche einer systematischen Auswertung derselben stellen die Schriften von Emilie Loose und Dorothea Crome dar.63 Während Loose Hebbels Schiller-Rezeption im Zusammenhang dessen literaturgeschichtlicher Anschauungen erfasst, versucht Crome, die innere Dynamik der Rezeption durch Zusammenführung relevanter Textstellen sichtbar zu machen und beschreibt den Wandel des Hebbelschen Urteils über Schiller als eine Entwicklung von kritikloser Nachahmung über entschiedene Gegnerschaft hin zur „freien Würdigung“.64 Allerdings betrachten beide Autorinnen die Werke Hebbels als fertiggestellte Monumente und gehen nicht auf die produktionsfördernde Seite der Rezepti-

|| 59 Vgl. Helmut Koopmann: Schiller und die Folgen. Stuttgart 2016. Monika Carbe: Schiller. Vom Wandel eines Dichterbildes. Darmstadt 2005. Beide Schriften haben einen essayistischen Charakter und kommen trotz vieler Zitationen ohne Literaturangeben aus. 60 Vgl. Ute Gerhard: Schiller als „Religion“. Literarische Signaturen des XIX. Jahrhunderts. München 1994. Dies.: Schiller im 19. Jahrhundert. In: Helmut Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch. 2. Aufl. Darmstadt 2011, S. 809–824. Ferner Dies.: Politische Dimensionen der Schiller-Rezeption in Deutschland im 19. Jahrhundert. In: Anne Feler u. a. (Hg.): Friedrich Schiller in Europa. Konstellationen und Erscheinungsformen einer politischen und ideologischen Rezeption im europäischen Raum vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Heidelberg 2013, S. 19–33. 61 Norbert Oellers: Schiller. Geschichte seiner Wirkung bis zu Goethes Tod, S. 420. 62 Vgl. die verdienstvollen Bibliographien von U. Henry Gerlach: Hebbel-Bibliographie. 1910–1970. Heidelberg 1973. Ders: Hebbel-Bibliographie 1970–1980. In: Hebbel-Jahrbuch 38 (1983), S. 157–189. Ders.: Hebbel-Bibliographie 1980–1990. In: Hebbel-Jahrbuch 47 (1992), S. 117–141. Ders.: HebbelBibliographie 1990–2000. In: Hebbel-Jahrbuch 58 (2003), S. 123–158. Ders.: Hebbel-Bibliographie 2000–2010. In: Hebbel-Jahrbuch 67 (2012), S. 123–159. Insgesamt sind lediglich 11, darunter 4 englischsprachige Titel in der hundertjährigen Hebbel-Forschung zu verzeichnen, die sich mit der Schiller-Rezeption Hebbels beschäftigen. Eine eingehende, auf neuere Forschungsergebnisse und philologische Quellenarbeit basierende Monographie zu dieser durchaus vielversprechenden Fragestellung steht noch aus. 63 Emilie Loose: Friedrich Hebbels Anschauungen über die deutsche Literatur bis zum Ausgang der Klassiker. Berlin 1918. Dorothea Crome: Hebbels Verhältnis zu Schiller. Königsberg 1925. 64 Dorothe Crome: Hebbels Verhältnis zu Schiller, S. 1f.

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on, nämlich auf die Genese der Werke als Rezeptionszeugnisse ein. Sie sind deshalb allenfalls von materiellem Interesse. In der angelsächsischen Germanistik stellt die Schiller-Rezeption Hebbels ein gewichtigeres Forschungsthema dar. Eingeleitet wird dies durch die Arbeit William Guild Houwalds, der das Verhältnis zwischen Schiller und Hebbel für den Zeitraum von 1830 und 1840 unter die Lupe nimmt und dabei eine Abhängigkeit der Hebbelschen Judith von Schillers Jungfrau von Orleans entschieden bestreitet: „Judith“ sei für ihn ein unwiderlegbarer Beweis der Selbstständigkeit Hebbels.65 Neben zwei leider unzugänglichen Dissertationen66 sind vor allem die Aufsätze von Frank M. Fowler67 und Francis Lamport68 zu nennen. Fowler untersucht Hebbels theoretische Auseinandersetzungen mit der Dramenästhetik Schillers und stellt zusammenfassend fest, dass Hebbels Einwände in erster Linie dem Mangel an dramatischen Realismus und der unzulänglichen Charakterdarstellung gelten. 69 Lamport betont Hebbels Kritik an der unzureichenden Motivierung und dem lückenhaften Geschichtsverständnis Schillers: Für Hebbel seien die Charaktere Schillers „mere abstractions without real psychological depth“ und seine Dramen nicht „genuienly historical“.70 Im Zentrum seiner Abhandlung stehen Judith und Demetrius. Obwohl es wahrscheinlich mehr Schiller in Hebbels Demetrius enthalten sei, als der Letztere zuzugeben bereit gewesen wäre, so hebt Lamport doch die Unterschiede der beiden Bearbeitungen hervor: „Schiller’s Demetrius is an eminently political figure […]. Hebbel’s Demetrius aims rather at a kind of existential authenticity.“71 Im Rahmen der neueren deutschsprachigen Hebbel-Forschung kann Wolfgang Wittkowskis Monographie über den jungen Hebbel als der erste bedeutende Beitrag

|| 65 William Guild Houwald: Schiller and Hebbel, 1830–1840. In: PMLA 22 (1907), S. 309–344. Vgl. insbesondere das Fazit Houwalds: „For better or worse, Hebbel’s plays are different from Schiller’s; and in spite of some crudeness of execution, Judith is an irrefutable declaration of independence. […] But with both the outer and the inner form of Schiller’s Jungfrau Hebbel was dissatisfied, and I hope to have shown the great antecedent improbability that Schiller’s Jungfrau in any way affected the conception of Hebbel’s Judith.“ (S. 343f.) 66 Frank M. Fowler: Hebbels Relation to Schiller. Oxford 1962. Carol Jean Ross: Schiller and Hebbel: Characters and Ideas in the Portrayal of Women. (Diss. Univ. of Toronto) Toronto 1974. 67 Frank M. Fowler: The Great and the Monstrous: Hebbel's Crticism of Schiller. In: Publications of the English Goethe Society, 58 (1989), S. 43–61. 68 Francis Lamport: “Practical criticism”: Hebbel’s rewriting of Schiller. In: Publications of the English Goethe Society, 77 (2008), S. 60–76. 69 Vgl. Frank M. Fowler: The Great and the Monstrous, S. 58: „ The principal defects which Hebbel finds in Schiller’s plays are then: over-reliance on mere chance, a lack of realism, inadequate presentation and motivation of character, a lack of profound historical awareness, and the prevalence of ‘fine’ writing.” 70 Vgl. Francis Lamport: “Practical criticism”, S. 70f. 71 Francis Lamport: “Practical criticism”, S. 74f.

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für das Verständnis der Hebbelschen Schiller-Rezeption genannt werden.72 Wittkowski versucht in seiner Untersuchung, den Entwicklungsprozess des jungen Dichters bis zur Fertigstellung seiner Judith nachzuzeichnen. Dieser Entwicklungsprozess sei durchaus von der Auseinandersetzung mit dem Schiller begleitet, ja sogar bedingt.73 Anhand von antithetischen Begriffspaaren wie „Gott“ und „Natur“, „Jenseits“ und „Diesseits“ beschreibt Wittkowski Hebbels Neugestaltung der tragischen Dichotomie, die primär darin bestehe, dass der bei Schiller „vertikal“ aufgestellte Dualismus nun „horizontal“ ausgerichtet sei: Das ist nicht der Dualismus zwischen Idee und Wirklichkeit, mit dem Schiller es anscheinend zu tun hatte und den man in anderer Form heute Hebbel unterstellt. Vielmehr ist es ein Dualismus, der Wirklichkeit und Wesen auf jeder der zwei Seiten hat; ein „horizontaler“ Widerstreit und vor allem auch ein „Widerstreit in der Idee“, wie Hebbel sagt, wie er ihn konzipiert im bewußten Gegensatz zu Schiller und womit er dessen Idealismus aus dem Sattel heben will.74

Der philosophisch-ideengeschichtliche Zugang Wittkowskis mündet allerdings merkwürdigerweise in eine Theodizee, indem eine Glaubensbekenntnis als Forschungsergebnis festgehalten wird: „Gott ist in der ‚Judith‘ gegenwärtig und entfaltet Seine [!] Majestät dort womöglich großartiger als in irgend einer anderen deutschen Dichtung.“75 Ohne Wittkowskis Schlussfolgerung hier theologisch bewerten zu wollen,76 ist doch zu erwidern, dass die von ihm detailliert analysierte konstruktive Rolle der kritischen Auseinandersetzung Hebbels mit Schiller angesichts der mit Nachdruck akzentuierten Religiosität deutlich marginalisiert wird. Bei der vorliegenden Untersuchung steht jedenfalls nicht die Majestät Gottes, sondern die Gegenwärtigkeit der Schiller-Rezeption im Werk des jungen Hebbel im Vordergrund.

|| 72 Wolfgang Wittkowski: Der junge Hebbel. Zur Entstehung und zum Wesen der Tragödie Hebbels. Berlin 1969. 73 Vgl. vor allem Kap. A („Schiller, das Vorbild. Wesselburen 1813–1835“) und B („Schiller, der Gegner“) in Wittkowskis Schrift. Wolfgang Wittkowski: Der junge Hebbel, S. 39–194. 74 Wolfgang Wittkowski: Der junge Hebbel, S. 135. Der angedeutete „Widerstreit in der Idee“ verweist auf eine Stelle in Hebbels Vorwort von Maria Magdalena, wo er Goethes dramatische Leistung darin erblickt, dass dieser „zu tun angefangen [hat], was allein noch übrigblieb, er hat die Dialektik unmittelbar in die Idee selbst hineingeworfen […].“ W 11, S. 41. 75 Wolfgang Wittkowski: Der junge Hebbel, S. 298. 76 Lediglich sei hier, auch exemplarisch, auf Hebbels scharfe Polemik gegen das Christentum in B 87 (datiert Feb. 1837) hingewiesen: „Das Christenthum verrückt diesen Grundstein der Menschheit. Es predigt die Sünde, die Demuth u die Gnade. Christliche Sünde ist ein Unding, christliche Demuth die einzigmögliche menschliche Sünde, u christliche Gnade wär’ eine Sünde Gottes. Dies ist um Nichts zu hart. […] Das Christentum ist das Blatterngift der Menschheit. Es ist die Wurzel alles Zwiespalts, aller Schlaffheit, der letzten Jahrhunderte vorzüglich.“ B 87, an Elise Lensing, datiert 23. Januar – Mitte Februar 1837. WAB 1, S. 152.

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Außer Wittkowski befassen sich noch zwei weitere Autoren mit dem Rezeptionsverhältnis von Hebbel und Schiller. Die Gelegenheitsarbeit Hargen Thomsens anlässlich des 200. Todestags Schillers nennt eine Reihe von möglichen Werkvergleichen und unterstreicht die Ambivalenz des Rezeptionsverhältnisses: „Wir sehen also immer wieder Ähnlichkeiten und immer wieder die Tendenz sie zu verleugnen, wir sehen die Anlehnung an einen großen Vorgänger und doch auch immer wieder Abwehr.“77 Im Vergleich dazu ist die Abhandlung Hartmut Reinhardts viel bedeutender,78 dessen Habilitationsschrift über Hebbels Apologie der Tragödie79 neben Herbert Krafts Poesie der Idee80 zu Standardwerken der Hebbel-Forschung gehört. Zu Recht hebt Reinhardt die Kritik an Schillers „eminentem literarischem Subjektivismus“ als „Kernargument“ Hebbels hervor.81 Des Weiteren skizziert er die poetologischen Leitgedanken der beiden Dichter anhand des Begriffs der „lebendigen Gestalt“, konstatiert in Judith eine Dekonstruktion des „Erhabenen“, deutet Herodes und Mariamne überzeugend als eine Vertrauenstragödie nah, die Schiller in seiner Wallenstein-Trilogie ebenfalls behandle, und sieht in Hebbels Demetrius die Auflösung des Schillerschen Topos vom autonom Handelnden. In vielfacher Hinsicht ist Reinhardts Arbeit für eine umfassende Untersuchung von Hebbels SchillerRezeption aufschlussreich, obwohl sie wie diejenigen Fowlers, Lamports und Thomsens kurzgehalten ist. Darüber hinaus gibt es etliche Abhandlungen, die spezifischen Fragestellungen nachgehen, um dadurch Hebbel und Schiller einander vergleichend gegenüberzustellen. Wolfgang Liepe beschäftigt sich mit der Problematik der tragischen Schuld bei Hebbel und kontrastiert ihn mit Schiller folgendermaßen: „Schiller als Dichter der Freiheit, Hebbel als Dichter der Notwendigkeit.“82 Friedrich Sengle untersucht die Gattung der Geschichtsdramatik und vertritt in Bezug auf Hebbel die These, dass „der Mensch von Hebbel“ gegenüber demjenigen Goethes und Schillers „realistischer und psychologischer erfaßt“ sei: „Hebbel vertieft gegenüber Schiller die überpersönliche Bindung seiner Figuren, aber ebenso ihre persönliche Bestimmtheit […].“83 Wissenschaftlich weniger ergiebig ist dagegen U. Henry Gerlachs Studie über

|| 77 Hargen Thomsen: „… der auch auf mich in der Jugend gewirkt hat, wie kein anderer“. Schiller und Hebbel – Anlehnung und Abwehr. In: Hebbel-Jahrbuch 61 (2006), S. 73–92, hier S. 84. 78 Hartmut Reinhardt: Der Rest ist Resignation. Hebbels Schiller-Rezeption: Nachfolge mit Schwierigkeiten. In: Hebbel-Jahrbuch 55 (2000), S. 39–64. 79 Hartmut Reinhardt: Apologie der Tragödie. Studien zur Dramatik Friedrich Hebbels. Tübingen 1989. 80 Herbert Kraft: Poesie der Idee. Die tragische Dichtung Friedrich Hebbels. Tübingen 1971. 81 Hartmut Reinhardt: Der Rest ist Resignation, S. 40. 82 Wolfgang Liepe: Zum Problem der Schuld bei Hebbel. In: ders.: Beiträge zur Literatur und Geistesgeschichte, hg. von Eberhard Schulz. Neumünster 1963, S. 362–381, hier S. 362. 83 Friedrich Sengle: Das historische Drama in Deutschland. Geschichte eines literarischen Mythos. 2. Aufl. Stuttgart 1969, S. 206.

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die Dramenschlüsse Schillers und Hebbels, wobei es ihm hauptsächlich um die Frage nach einer möglichen Versöhnung am Ende des tragischen Verlaufs geh.84 Unter den jüngeren Arbeiten sind vor allem Franziska Ehingers Untersuchung über die Darstellungsformen des Pathos in den Tragödien85 sowie Dirk Haferkamps Analyse der Dramen des 19. Jahrhunderts anhand der Philosophie Schopenhauers zu nennen. 86 Beide Studien behandeln unter anderem auch Werke von Schiller und Hebbel, ohne sie jedoch in Beziehung zu einander zu setzen. Daher sind sie für die vorliegende Untersuchung über das Rezeptionsverhältnis zwischen Hebbel und Schiller nicht sonderlich nutzbringend. Die bisherigen Forschungsergebnisse weisen allerdings, sofern sie über eine registerartige Zusammenstellung von Zitaten hinaus auch interpretatorisch dem Rezeptionsverhältnis nachgehen, einige Leerstellen auf. Erstens fehlt ihnen eine breitere Kontextualisierung, da sich die meisten Arbeiten auf Parallelisierung einzelner Werke der beiden Autoren beschränken, sodass Hebbels Schiller-Rezeption nicht in den politischen oder ästhetischen Schiller-Diskurs der Zeit eingebettet wird. Zweitens werden Ästhetik und Dramatik selten als ein Ganzes, sondern vielmehr als jeweils selbstständige Spalten des Hebbelschen Gesamtwerks interpretiert, sodass der strukturelle Beitrag der ästhetischen Reflexion für die Dramatik oft vernachlässigt wird. Drittens ist der Stellenwert der kritischen Auseinandersetzung mit Schiller in der Konzeption und Ausführung sowohl ästhetischer als auch dramatischer Werke Hebbels nicht genügend gewürdigt worden. Kritik und Gestaltung werden in der Regel gesondert betrachtet, sodass ihre innere Verbindung oft verdeckt bleibt. Beispielsweise ist Hebbels Aneignung der ästhetischen Kategorie der „lebendigen Gestalt“ nicht eine bloße Übernahme des Schillerschen Vokabulars und damit eine Berufung auf eine Autorität in seinem „Verteidigungskampf gegen Hegel“;87vielmehr handelt es sich, wie nachher gezeigt werden wird, um das Resultat seiner Kritik an Schillers vermeintlich mangelhafter Gestaltungskraft: Schillers Dramenfiguren seien unbeweglich, „gehalten“, in ihrer Entwicklung „abgeschlossen“ (TBR 117 / TBW 114; vgl. auch Kap. 4.3.2), und gehörten daher ins „WachsfigurKabinett“.88 Deshalb wird in der vorliegenden Arbeit versucht, das Werk Hebbels stets im Licht seiner kritisch-kreativen Schiller-Rezeption zu lesen, damit Traditi-

|| 84 U. Henry Gerlach: „Ende gut, alles gut“ – Dramenschlüsse bei Schiller und Hebbel. In: HebbelJahrbuch 40 (1985), S. 57–77. 85 Franziska Ehinger: Kritik und Reflexion. Pathos in der deutschen Tragödie. Studien zu Andreas Gryphius, Friedrich Schiller, Heinrich von Kleist, Friedrich Hebbel und Conrad Ferdinand Meyer. Würzburg 2009. 86 Dirk Haferkamp: Das nachklassische Drama im Lichte Schopenhauers. Eine Interpretationsreihe. Frankfurt a. M. 2014. 87 Diese Ansicht vertritt Hartmut Reinhardt: Der Rest ist Resignation, S. 44f. 88 B 86, an Elise Lensing, datiert [16.] – 19. Januar 1837. WAB 1, S. 142.

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onsverpflichtung und Eigenständigkeit anhand intertextueller Variationen sichtbar werden können.

1.4 Gegenstand und Methode 1.4.1 Skizze des Rezeptionsverhältnisses Schon seit seiner frühen Jugend bemüht sich Hebbel darum, sich Schiller anzueignen. Offenbar gehört Schiller, wie autobiographische Notizen nahelegen, zur Lektüre des jungen Maurersohns: „Friedrich Schiller! wenn ich Torf trug.“89 Auch nutzte Hebbel, als er bei Kirchspielvogt Mohr im Dienste stand, jede Gelegenheit, um Schiller zu lesen: „[Bei Mohr] Wegstehlen der Bücher zum Lesen. Irving. Schiller. Shakespeare…“90 In seiner Tagebuchaufzeichnung über die private Schiller-Feier zum hundertsten Geburtstagsjubiläum des Dichters bekennt Hebbel, dass Schiller „auch auf mich in der Jugend gewirkt hat, wie kein anderer.“ (TBR 5622 / TBW 5765) Deshalb war der Eindruck von seinem Besuch des Weimarer Schiller-Hauses im Jahre 1857 ein überwältigender: Brieflich schildert Hebbel seiner Frau Christine die innere Bewegtheit beim Eintritt ins ehemalige Wohnhaus Schillers: Hätte ich geahnt, wie sehr mich der Besuch dieser Stätte erschüttern würde, so wäre ich nicht gegangen; ich konnte meiner Bewegung kaum Meister werden und lernte mich von einer ganz neuen Seite kennen. Um das zu begreifen, muß ich mich in meine Jugend zurück versetzen, wo Schiller mir über Alles ging.91

Noch ein Jahr später war ihm die mächtige Wirkung gegenwärtig: Er folge der erneuten Einladung nach Weimar zur Aufführung seiner Genoveva umso lieber, „als mich im vorigen Jahr die Todten in Weimar während des einen Tages, den ich dort zubrachte, so sehr drückten, daß ich mich physisch völlig vernichtet fühlte und von den Lebendigen Nichts sah, noch hörte.“92 Datiert ist diese briefliche Erinnerung übrigens am 10. Mai 1858, lediglich einen Tag nach dem Todestag des großen Dichters. Auch gibt es eine Reihe von biographischen Ähnlichkeiten zwischen Hebbel und Schiller, etwa, dass beide dänische Stipendiaten waren. In dem Bewerbungsschreiben an seinen Landesherrn, den dänischen König Christian VIII., um ein Reisestipendium weist Hebbel ausdrücklich auf die dänischen Wohltaten für die deutsche Literatur hin: „Dänemark hat – ich erinnere nur an Klopstock und Schiller – || 89 Vgl. Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel. Wesselburen. Lebenszeugnisse und dichterische Anfänge. 2 Bde. Berlin 1924, hier Bd. 1, S. 123. 90 Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 1, S. 124. 91 B 1724, an Christine Hebbel, datiert 6. Mai 1857. WAB 3, S. 413. 92 B 1864, an Gustav zu Putlitz, datiert 10. Mai 1858. WAB 3, S. 590f.

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den deutschen Genius mehr als einmal einer bedrückten Lage entrissen [...].“93 Auch der Empfehlungsbrief des dänischen Dichters Adam Oehlenschläger für Hebbel erwähnt die „nöthige Hilfe und Trost“, welche Schiller von den „Dänischen Adligen“ erhalten hatte.94 Wohl mit einer Anspielung auf die eigene Sichtuation macht aber Hebbel auch in seiner Besprechung über Emil Palleskes Schiller-Biographie auf die andauernden finanziellen Schwierigkeiten Schillers aufmerksam, der „von frühster Jugend entbehrte und duldete.“95 Allerdings bemerkt er zugleich, dass Schillers Beispiel gerade die Unabhängigkeit der dichterischen Begabung von der finanziellen Notlage beweise.96 Wiederum ist hier der Bezug auf die eigene Lebensgeschichte mitgedacht. Gelegentlich schätzen auch seine Zeitgenossen den Dramatiker Hebbel als Nachfolger Schillers. Gutzkow soll einmal gesagt haben, dass Hebbels Dramen „ebenso classisch seyen, wie die von Schiller und Goethe […].“ (TBR 5185 / TBW 5290) Nach seiner Lektüre von Maria Magdalene glaubt Sigmund Engländer in Hebbel einen „concentrirte[n] Schiller“ zu sehen.97 Ferner hält Carl Alexander, der Großherzog von Sachsen-Weimar, Hebbels Nibelungen „für das Höchste, was seit Schiller und Goethe in Deutschland gemacht ist [.]“98 Nicht zuletzt wurde dem Dichter 1863 der preußische Schiller-Preis verliehen: ein glückliches Ereignis, an dem sich Hebbel jedoch nur kurz vor seinem Tod erfreuen konnte.99 Hebbel ist sowohl mit der Lebensgeschichte als auch mit dem Œuvre Schillers gut vertraut. Seine Kenntnisse über die Schiller-Biographien seiner Zeit, etwa diejenigen von Karoline von Wolzogen, Gustav Schwab oder Emil Palleske, sind bestens dokumentiert.100 Ferner kennt er Heinrich Laubes Schiller-Drama Die Karlsschüler, das den Eleven Schiller an der württembergischen Militärpflanzschule und seine

|| 93 B 239, an König Christian VIII. von Dänemark, datiert 22. Januar 1843. WAB 1, S. 429. 94 B 236, an Elise Lensing, datiert 13. – 23. Januar 1843. WAB 1, S. 424. 95 Vgl. Friedrich Hebbel: Schillers Leben und Werke. Von Emil Palleske. Erster Band. W 12, S. 183– 184, hier S. 183. 96 W 11, S. 130: „Dieß beweis’t, daß die innere Entwicklung eines von der Natur hinreichend ausgestatteten Geistes nicht so sehr von der äußeren Lage abhängt, wie man gewöhnlich annimmt [.]“ 97 B 2787, von Sigmund Engländer, datiert 23. Juli 1863. WAB 4, S. 709. 98 Vgl. B 2202, an Christine Hebbel, datiert 3. Febraur 1861. WAB 4, S. 136. Vgl. auch das Tagebuch des Großherzogs: „Le 2 de Février. – – – Le soir Hebbel lit chez la Grande Duchesse en présence d'un cercle assez nombreux la troisième partie de la trilogie: Chriemhildens Rache. […] Elle fut mémorable car je déclare ne pas connaitre après les ouvrages de Goethe et de Schiller d’ouvrage allemand qui s’en approche autant.“ Zitiert nach: Paul Bornstein (Hg.): Friedrich Hebbels Persönlichkeit. Gespräche, Urteile, Erinnerungen. 2 Bde. Berlin 1924, hier Bd. 2, S. 128. 99 Vgl. hierzu B 2837, von Heinrich von Mühler, datiert 7. November 1863. WAB 4, S. 761. 100 Vgl. Emilie Loose: Friedrich Hebbels Anschauungen über die deutsche Literatur bis zum Ausgang der Klassiker, S. 223.

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Konfrontation mit dem Herzog Karl Eugen dramatisiert.101 Über die meisten biographischen Darstellungen äußert sich Hebbel jedoch kritisch: Schwabs SchillerBiographie sei ein „unerträgliches Buch“ (TBR 4070 / TBW 4154); Palleske habe „den Ton nicht getroffen“ und seine Darstellung leide an „Schwulst“ (W 12, S. 183f.); das Laubesche Drama gebe lediglich ein „durch den Witz zusammengesetztes Mosaikbild“ ab (TBR 4310 / TBW 4396). Ähnlich ablehnend steht er einem Großteil der zeitgenössischen Literatur zu Schiller gegenüber.102 Was die Werkkenntnisse betrifft, so erhielt Hebbel schon 1833 eine „schön[e] Ausgabe von Schiller“ als Geschenk,103 sodass früh von einem entsprechenden Quellenstudium ausgegangen werden kann. Im Oktober 1838 bat er den Vater von Emil Rousseau, seinem vor kurzem verstorbenen Freund, neben den Schriften Heinrich von Kleists wenigstens auch „Schillers Werke 12 Theile“ aus des Freundes Nachlass vorerst für sich behalten zu dürfen, da er über beide Dichter „zu schreiben gedenke“.104 Um in der französischen Hauptstadt nicht geistig „verschmachten“ zu müssen, kaufte er im November 1843 in Paris „einige Deutsche Bücher“, allen voran die Werke Schillers.105 Zwar konnte er der Versuchung nicht widerstehen und erwarb einen Monat später an Heiligabend im Palais Royal auch die Werke von Goethe (TBR 2883 / TBW 2963), las aber, als er in der Weihnachtsnacht nicht schlafen konnte, Schillers Don Karlos (TBR 2886 / TBW 2966). Leider sind all diese Ausgaben heute weder in der Kieler noch in er Wesselburener Hebbel-Sammlungen erhalten.106 Zwar debütierte Hebbel 1840 – freilich unter dem Schutz der Anonymität und um des Brotes Willen – auf dem Buchmarkt mit zwei Historiographien à la Schiller: Geschichte des dreizigjährigen Kriegs (W 9, S. 71–221) sowie Geschichte der Jungfrau von Orleans (W 9, S. 223–357), jedoch sind seine Urteile über Schillers Werke zu diesem Zeitpunkt überwiegend kritisch. Die jugendliche Begeisterung für Schillers Lyrik nennt er als ein Umherirren „mit Schiller auf dem Felde unfruchtbarer Refle-

|| 101 Heinrich Laube: Die Karlsschüler. Schauspiel in fünf Akten. Leipzig 1847. Hebbels Urteil über das Stück siehe TBR 4310 / TBW 4396. Zu Laubes Karlsschüler vgl. auch Uwe Japp: Das deutsche Künstlerdrama. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin/New York 2004, S. 145–154. Allerdings geht Japp nicht auf die Aufführungsgeschichte des Dramas ein. 102 Vgl. Emilie Loose: Friedrich Hebbels Anschauungen über die deutsche Literatur bis zum Ausgang der Klassiker, S. 224f. 103 B 24, an Heinrich Schacht, datiert 10. September 1833. WAB 1, S. 28. 104 B 136, an Karl Julius Rousseau, datiert 25. Oktober 1838. WAB 1, S. 257, S. 259. Freilich war der hier angedeutete Plan so nicht aufgegangen. 105 B 279, an Elise Lensing, datiert 21. November 1843. WAB 1, S. 516. 106 In der erhaltenen Bibliothek Hebbels befinden sich allein Schillers Briefwechsel mit Humboldt, den ihm Emil Kuh 1851 schenkte, sowie der Briefwechsel Schillers mit Körner, der allerdings mit Christine Hebbels Nameneintrag versehen ist. Vgl. Anni Meetz: Verzeichnis von Büchern aus Hebbels und Christines Besitz. In: dies. (Hg): Neue Hebbel-Briefe. Neumünster 1963, S. 197–216, hier S. 213.

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xion“,107 denn die „lyrische[n] Hervorbringungen“ Schillers seien nichts anderes als „die kalten Früchte des Verstands“.108 Die Jungfrau von Orleans sei eine „echte Theater-Jungfrau“, ein genuiner „Pfau“,109 dessen imponierende Wirksamkeit keineswegs mit dichterischer Qualität zu verwechseln sei. Obwohl Hebbel diese „romantische Tragödie“ Schillers einmal auch als „ein großes Dichterwerk“ bezeichnet (TBR 669 / TBW 681), hält er sie dennoch für einen „ungeheure[n] Irrthum des großen Mannes“ (TBR 4138 / TBW 4221). Ferner bemängelt er die „völlige Ideenlosigkeit“ des Wallenstein (TBR 3806 / TBW 3889). Er lässt zwar den Lager gelten, jedoch nicht, ohne Seitenhiebe auf die anderen Schillerschen Dramen zu verteilen: „Dieß Bild ist von einer so unglaublichen Schönheit, daß es mich fast zu Thränen rührt, wenn ich es sehe oder lese, was ich von Schillers Tragödieen eben nicht sagen kann.“ (TBR 5627 / TBW 5769) Bei einer Vorstellung von Schillers Kabale und Liebe sei er sogar von der „gränzenlosen Nichtigkeit dieses Stücks“ schockiert worden (TBR 4021 / TBW 4106). In Maria Stuart habe Schiller zu Hebbels Entsetzen lediglich „auf feuchte Schnupftücher“ spekuliert (TBR 3907 / TBW 3994). Am schärfsten verurteilt er jedoch Die Braut von Messina und nennt sie das „sinnloseste“ aller Schillerschen Dramen (TBR 3020 / TBW 3099), weil sie ihm wie „ein völlig ideenloses Product“ erscheine (W 11, S. 193). Positiv bewertet Hebbel allerdings die ästhetischen Schriften Schillers: Ihm bereite die Lektüre einer Schillerschen Abhandlung „einen höheren Genuß, als Sophocleisches oder ein Shakespearesches Drama.“110 Auch wirkt das Epigramm „Schiller in seinen ästhetischen Aufsätzen“ durchaus anerkennend: „Unter den Richtern der Form bis du der erste, der Einz’ge, / Der das Gesetz, das er gibt, gleich schon im Geben erfüllt.“ (W 6, S. 350) Das Ineinandergreifen von Kritik und Anerkennung in Hebbels SchillerRezeption lässt sich am deutlichsten dadurch illustrieren, wie Hebbel mit dem Schillerschen Gedicht „Der Spaziergang“ (FA 1, S. 34–42) umgeht. Das Gedicht, welches in hundert elegischen Distichen die gesamte Kulturgeschichte der Menschheit mit der Bewegungsmetapher des Spaziergangs und den typologisierenden Naturwahrnehmungen versinnbildlicht, darf als Inbegriff der Reflexionspoesie Schillers betrachtet werden – eine Gattung, die keineswegs von Hebbel geschätzt ist. Hebbel betrachtet das Gedicht auch als repräsentativ für die Schillersche Lyrik insgesamt, als die Leistung eines Talents also, die, wie oben bereits erwähnt, besonders zur Überbietung reizt (TBR 4269 / TBW 435). Genau diesen Anspruch hat offenbar auch Hebbel, als er selber einen „Spatziergang in Paris“ dichtet (W 6, S. 241–247).111 Die || 107 B 66, an Ludwig Uhland, datiert 4. Juli 1836. WAB 1, S. 94. 108 B 97, an Elise Lensing, datiert 18. Juni 1837. WAB 1, S. 184. 109 B 87, an Elise Lensing, datiert 23. Januar – Mitte Februar 1837. WAB 1, S. 156. 110 B 500, an Felix Bamberg, datiert 27. Mai 1847. WAB 1, 911. 111 Freilich ist dieses Hebbelsche Pendant metrisch in fünfhebigen, paarweise gereimten Jamben gehalten und versucht anstatt der Menschheitsgeschichte die Erfahrung der Großstadt und den überraschenden Tod Bertel Thorvaldsens, der die Stuttgarter Schillerstatue geschaffen hat, als das

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Ambivalenz der Rezeption besteht allerdings darin, dass just „Der Spaziergang“ das Lieblingsgedicht Hebbels wurde. Emil Kuh berichtet in seiner Hebbel-Biographie: Bei der Lesung Schillerscher Gedichte glitt ein verklärender Hauch der Weihe über seine Züge. Viele, viele Male gab er mir den „Spaziergang“ zum besten, jenes Gedicht, das er hoch über alle anderen Gedichte Schillers stellte. […] „Wo bemerken Sie“, sagte Hebbel bewegt, „Schillers physische Bedürftigkeit und seinen steten Kampf mit den materiellen Bedingungen des Daseins? Nirgends, in keinem seiner Gedichte, in keinem seiner Dramen. Ich kann nie ohne tiefe Rührung an diesen heiligen Mann denken.“ Dabei standen ihm die Augen voll Tränen.112

Die fast kultische Verehrung dieses „ihm theuerste[n]“ Gedichts113 ist ferner daran abzulesen, dass Hebbel bei seiner privaten Schiller-Feier „im häuslichen Kreis“ zum hundertsten Geburtstag des Dichters im November 1859 just den „Spaziergang“ rezitierte (TB 5765 / TBR 5622). Am 12. Dezember 1863 aber, als Hebbel abends toterkrankt auf dem Sterbebett lag, bat er, dass man ihm etwas vorlesen soll: „Nichts von Goethe, etwas von Schiller!“114 Die Tochter Christine erinnert sich: Er verlangte den „Spaziergang“ von Schiller zu hören. Als ich die Stelle „und den ganzen Olymp schließt ein Pantheon ein“ beendet hatte, sprach er leise: „Hör auf, mein Kind; du liest gut, aber es ermüdet mich.“115

Denn er war müde: Am folgenden Morgen starb der Dichter, früh um 5 Uhr.

1.4.2 Vorgehensweise Die vorliegende Arbeit ist eine Untersuchung über den Dramatiker Friedrich Hebbel und dessen Schiller-Rezeption. Die Lyrik und Novellistik Hebbels werden, wenn überhaupt, nur am Rande angeführt, da diese beiden Gattungen andere Voraussetzungen aufweisen als eine produktive Auseinandersetzung mit Schiller. Neben Hebbels Dramen werden gleichermaßen seine theoretischen Texte sowie die Tage-

|| Ende einer Kunstperiode dichterisch zu transformieren: „Nun stehen alle Kaiserstühle leer! […] Beethoven schied. […] Goethe ging heim […] Thorwaldsen folgt, der Letzte wohl im Zug“ (W 6, S. 246). Zu diesem Gedicht vgl. Ingrid Oesterle: Peripherie und Zentrum – Kunst und Publizistik – Wahrnehmungsgrenzfall „große Stadt“. Die Aufzeichnungen Friedrich Hebbels in Paris. In: Jürgen Barkhoff (Hg.): Das schwierige Jahrhundert. Tübingen 2000, S. 187–206. 112 Emil Kuh: Biographie Friedrich Hebbel’s. 2 Bde. Wien 1877, hier Bd. 2, S. 665. 113 Emil Kuh: Biographie Friedrich Hebbel’s, Bd 2, S. 619. 114 Zitiert nach Paul Bornstein (Hg.): Friedrich Hebbels Persönlichkeit, Bd. 2, S. 388. 115 Christine Kaizl-Hebbel: Erinnerungen an meinen Vater Friedrich Hebbel. In: Paul Bornstein (Hg.): Friedrich Hebbels Persönlichkeit, Bd. 2, S. 361.

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bücher behandelt.116. Die Dramen Hebbels seien mehr, wie Hans Blumenberg konstatiert, als bloße „Glossen“ zu den fiktiven Grenzfällen aus den Tagebüchern.117 Klaus Zieglers These von der „Inkommensurabilität“ der „Subjektivität des dichterischen Bewußtseins“ mit dem „objektive[n] Sein des Gedichteten“ bei Hebbel, aufgrund derer er den Stellenwert der theoretischen Aussage für die Interpretation der Werke kategorisch in Frage stellt,118 ist deshalb mit Hebbels Selbstäußerungen zu begegnen, da Hebbel, wie er in seinem Aufsatz „Wie verhalten sich im Dichter Kraft und Erkenntnis zueinander?“ (W 11, S. 77–82) schreibt, in der dichterischen Kraft und der Erkenntnis über Dichtung keinen unvereinbaren Gegensatz, sondern eine Einheit sieht. Eine Musterfunktion für ihn besitzt hierin vor allem Schiller. Dieser habe, so Hebbel, nicht nur in seinen Korrespondenzen mit Goethe die philosophisch fundierten Kunstanschauungen präsentiert (vgl. W 11, S. 312f.), sondern auch in seinen „Briefen über Don Karlos“ das Recht der Selbstdeutung in Anspruch genommen, um „die allgemeinen Kunstgesetze stets auf einen concreten Fall“ zu beziehen, was „so unendlich fruchtbar“ sei (W 11, S. 126). Gerade das Beispiel von Schiller und Goethe beweise, wie wenig „die Kenntniß der Kunst und ihrer Gesetze das dichterische Vermögen“ schwäche.119 Wer aber glaube, „daß die Naivetät des Productions-Acts durch die Ergründung des Kunstproblems beeinträchtigt werde“, müsse konsequenterweise „auch Schiller und Goethe verwerfen“.120 Selbst in der methodischen Rechtfertigung also bedient sich Hebbel des Schillerschen Vorbilds, und die Wissenschaft darf ruhig seinem Beispiel folgend die theoretischen Äußerungen des Dramatikers einer kritischen Überprüfung unterziehen, um sie sowohl für das Werkverständnis als auch für die Erforschung seiner Schiller-Rezeption fruchtbar zu machen. Auf der Prämisse, dass die Rezeption einen konstruktiven Beitrag sowohl zur Werkgenese als auch zum Werkverständnis leisten kann, basiert die vorliegende Untersuchung. Die Berechtigung dieser Grundthese wird schon von Hebbel selber erbracht: „Die meisten Erfahrungen über mich selbst habe ich im Augenblicken gemacht, wo ich die Eigenthümlichkeiten anderer Menschen erkannte.“ (TBR 698 / TBW 712) Die Erschließung fremder Autoren fördert demzufolge eine unmittelbare und umfangreiche Selbsterkenntnis, die sich dann im eigenen Schaffen niederschlägt. Überhaupt lässt sich, wie Hans Robert Jauß zu Recht argumentiert, die rezeptionsästhetisch angelegte Literaturgeschichte als ein Prozess der kreativen Aneignung begreifen, in dem „sich die passive Rezeption des Lesers und Kritikers in || 116 Zu Hebbels Tagebücher vgl. grundsätzlich Peter Michelsen: Friedrich Hebbels Tagebücher. Eine Analyse. Göttingen 1966. 117 Vgl. Hans Blumenberg: Grenzfälle. Glossen zu Hebbels Diarium. In: ders.: Lebensthemen. Aus dem Nachlaß. Stuttgart 1998, S. 34–66. Hier S. 35. 118 Klaus Ziegler: Mensch und Welt in der Tragödie Friedrich Hebbels. Darmstadt 1966, S. 12f. 119 B 1162, an Arnold Ruge, datiert 15. September 1852. WAB 2, S. 552. 120 B 2427, an Adolf Strodtmann, datiert 3. März 1862. WAB 4, S. 344.

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die aktive Rezeption und neue Produktion des Autors umsetzt oder in dem – anders gesehen – das nächste Werk formale und moralische Probleme, die das letzte Werk hinterließ, lösen und wieder neue Probleme aufgeben kann.“121 Insofern tritt das jeweilige Werk in ein literaturgeschichtlich kodiertes Bezugssystem ein, das die kritischen Leseerfahrungen des Autors verdichtet und sie in einem zweiten Schritt für das eigene Werk fruchtbar macht. Deshalb ist es geradezu unabdingbar, die Voraussetzungen des jeweiligen Werks und vor allem seine intertextuelle Vernetzung mit den Prätexten zu identifizieren, um den Problemhorizont desselben bestimmen und dessen ästhetische Leistung historisch reflektieren zu können. Denn der Künstler habe, wie Ralph-Rainer Wuthenow trefflich formuliert, nicht mehr das Recht, „das schon Geleistete zu ignorieren“, da „das kritische Bewußtsein selbst zum Bestandteil seines produktiven Vermögens“ geworden sei.122 Folgt man dem theoretischen Ansatz Jauß’, ist konsequenterweise von einem stärkeren Autorbegriff und einem engeren Intertextualitätsverständnis auszugehen, als dies etwa bei Kristeva der Fall ist. Daher werden in der vorliegenden Arbeit nur diejenigen intertextuellen Bezüge behandelt, die, um mit Stierle zu sprechen, sachbezogen sind, also entweder durch eine gemeinsame stoffliche Vorlage oder dieselbe literarische Traditionsbindung markiert, produktionsästhetisch intendiert, und insofern nach Broich und Pfister durch einen hohen Grad der Kommunikativität gekennzeichnet sind. Psychopathologische Spekulationen werden ausgeschlossen. Ebenso wenig wird rezeptionsästhetische Intertextualität berücksichtigt, die ausschließlich durch interpretatorische Zusammenführung gerechtfertigt ist.123

1.4.3 Struktur der Untersuchung Kurz sei an dieser Stelle die Struktur der Untersuchung skizziert: Zunächst wird die Schiller-Rezeption des jungen Hebbel anhand der ersten lyrischen und dramatischen Rezeptionszeugnisse dargelegt (Kap. 2). Im Anschluss wird der zeitgenössische Kontext der Schiller-Rezeption insbesondere am Beispiel der Schiller-Feiern im Jahre 1859 umrissen (Kap. 3.1). Da sich Hebbel von der politisierenden Euphorie

|| 121 Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: ders.: Literaturgeschichte als Provokation. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1970, S. 144–207, hier S. 177. 122 Ralph-Rainer Wuthenow: Friedrich Hebbel als kritischer Leser. In: Hebbel-Jahrbuch 52 (1997), S. 195–208, hier S. 106. 123 Zu den rezeptionsästhetischen intertextuellen Bezügen gehört etwa die – allerdings sehr einleuchtende – Studie Juliane Vogels über den „Streit der Königinnen“, in der sie das Wortgefecht zwischen Kriemhild und Brunhild in Hebbels Nibelungen mit demjenigen zwischen Elisabeth und Maria in Schillers Maria Stuart miteinander vergleicht. Vgl. Juliane Vogel: Der Streit der Königinnen. Zur Nationalisierung „einer großen Szene“. In: Klaus Zatloukal (Hg.): 800 Jahre Nibelungenlied. Rückblick – Einblick – Ausblick. Wien 2001, S.179–196.

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seiner Zeit distanziert, fokussiert sich das nachstehende Kapitel auf die ideengeschichtlichen Voraussetzungen seiner kritischen Schiller-Rezeption, die am Beispiel kanonisierten Autoren der klassisch-romantischen Kunstperiode erläutert wird (Kap. 3.2). Es folgt eine detaillierte Analyse der Auseinandersetzung Hebbels mit der Dichtungstheorie Schillers, die entscheidend zur Bildung seiner eigenen Ästhetik beiträgt (Kap. 4). Als Schlüsseltermini gilt neben der Ästhetik des Werdens noch das Begriffspaar „lebendige Gestalt“ und „gesteigertes Leben“, wobei die eine in Anlehnung, das andere in Abgrenzung von Schiller formuliert ist. Dieses eigentümliche Ineinander von Kritik und Aneignung führt nicht zuletzt dazu, dass mancher Einwand in Wahrheit Zeugnis einer tieferen Übereinstimmung ist, so etwa die Forderung nach plausibler psychologischer Motivierung, die von beiden Dichtern geteilt wird. Auf der Grundlage dieser Ambivalenz im Rezeptionsverhältnis widmet sich die Untersuchung im Folgenden der vergleichenden Analyse von jeweils drei Dramen aus dem Gesamtwerk beider Dichter. Bei Judith und Die Jungfrau von Orleans liegt der Akzent auf der psychologischen Problematik der beiden Protagonistinnen (Kap. 5); bei den bürgerlichen Trauerspielen Maria Magdalene und Kabale und Liebe wird die soziologische Fragestellung der Ehre und Öffentlichkeit verhandelt (Kap. 6); bei den beiden Demetrius-Fragmenten schließlich rücken die politischen Aporie der Legitimität und der Handlungsautonomie ins Zentrum (Kap. 7). Zunächst werden Hebbels meist kritische Urteile über das jeweilige Werk Schillers zusammengefasst, die seine eigenen Texte als bewusste Korrektur erscheinen lassen. Sodann werden die stofflichen, gattungsgeschichtlichen oder strukturellen Vergleichbarkeiten bzw. Abweichungen philologisch identifiziert. Schließlich wird unter Berücksichtigung des jeweils spezifischen Kontexts auf die gemeinsame Thematik eingegangen. Die Variation in Deutung und Gestaltung ist charakteristisch für Hebbels Schiller-Rezeption; anhand der Textanalyse soll deshalb ferner jene Einheit von intendierter Kritik und faktischer Wahlverwandtschaft besonders sichtbar gemacht werden. Beide, sowohl Hebbel als auch Schiller, stellen in ihren Tragödien der „weiblichen Anomalie“124 die Identitätskrise einer zerrissenen Seele dar, problematisieren mit dem bürgerlichen Trauerspiel das Konzept der Ehre und die abgründige Gewalt der Öffentlichkeit und veranschaulichen schließlich mit dem tragischen Schicksal des falschen Demetrius die Täuschung der politischen Legitimität und die Unmöglichkeit des rechtmäßigen Handelns wie der individuellen Autonomie. Insofern ist zu schlussfolgern, dass Hebbel, indem er sich gegen Schiller positionieren will, doch in Schillers Nähe rückt (Kap. 8). Es scheint, dass man nur gegen einander schreiben kann, um mit einander zu schreiben.

|| 124 Albrecht Koschorke: Schillers Jungfrau von Orleans und die Geschlechterpolitik der Französischen Revolution. In: Walter Hinderer (Hg.): Schiller und der Weg in die Moderne. Würzburg 2006, S. 243–259, hier S. 247.

2 Erste Rezeptionszeugnisse 2.1 Hebbels Jugendlyrik 2.1.1 Die „Laura“-Gedichte Es ist schon mehrfach auf Hebbels Bekenntnis zu Schiller und dessen unermesslicher Wirkung Schillers auf ihn hingewiesen worden: „Wie kein anderer“ habe Schiller auf ihn in der Jugend gewirkt, da er ihm „über Alles ging“ (TBR 5622 / TBW 5765).1 Diese starke Bewunderung dokumentiert sich vor allem in der erhaltenen Jugendlyrik Hebbels, die Paul Bornstein in seiner Sammlung über den jungen Hebbel systematisch erschlossen hat. Es fällt zunächst eine Reihe von „Laura“Gedichten auf, die eindeutig Rezeptionsspuren von denjenigen Schillers, die zuerst in dessen Anthologie auf das Jahr 1782 veröffentlicht wurden, aufweisen. Zu nennen sind etwa das Gedicht „Laura“, das gegen Ende 1829 entstand und im Januar 1830 abgedruckt wurde, sowie ein weiteres, „An Laura; über ihren Blick bei dem Anhören leichtsinniger Redensarten“ betitelt, das im Folgejahr publiziert wurde.2 Es handelt sich bei beiden Gedichten um lyrische Kleinformen mit durchgehenden Metrik- und Reimstrukturen. Auch ist eine leicht erotische Färbung zu bemerken, die die Jugendlyrik Hebbels mit Schillers Laura-Zyklus teilt. Allerdings wird die Nachdichtungen Hebbels durch ein vollständiges Fehlen von sprachlicher Pathetik gekennzeichnet. Das Gedicht „An Laura“ beispielsweise kommt mit einem einzigen Ausrufezeichen aus und gleicht in seinem ruhigen, milden Ton eher einem Stammbucheintrag als einer feurigen Liebeserklärung: Mög’, wie dies Vergißmeinnicht, dein Leben Holdes Mädchen, sanft und selig blüh’n, Von der Liebe Rosenroth umgeben, Von der Freundschaft weichem Myrtengrün […].“3

Dagegen beginnt das Schillersche „Fantasie an Laura“ mit einem eruptiven Gefühlsausbruch, der mit Nachdruck den unbedingten Willen zur Liebesvereinigung bekundet: Meine Laura! Nenne mir den Wirbel, Der an Körper Körper mächtig reißt,

|| 1 Vgl. auch B 1724, an Christine Hebbel, datiert 6. Mai 1857. WAB 3, S. 413. 2 Friedrich Hebbel: Laura. In: Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 2, S. 132. Friedrich Hebbel: An Laura; über ihren Blick bei dem Anhören leichtsinniger Redensarten. In: Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 2, S. 150f. 3 Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 2, S. 151. https://doi.org/10.1515/9783110660920-002

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Nenne, meine Laura, mir den Zauber, Der zum Geist gewaltig zwingt den Geist. (v. 1–4; FA 1, S. 228)

Obwohl beide Gedichte in derselben Metrik der fünfhebigen Trochäen verfasst sind und ihnen ferner dasselbe Reimschema des Kreuzreims zugrunde liegt, sind sprachliche Divergenzen unverkennbar. Bereits die Wortwahl weist auf einen völligen Gegensatz hin: Bei Hebbel stehen Adjektive wie „sanft“, „selig“ und „weich“ im Vordergrund, während bei Schiller Wörter wie „Wirbel“, „mächtig“ und „gewaltig“ dominieren. „[N]ichts scheint dem Übermaß an Leidenschaft verbindlich zu sein“, kommentiert Werner Keller zutreffend den pathetischen Sprachstil in der Jugendlyrik Schillers.4 Dass der Name „Laura“ in Hebbels Gedicht unerwähnt bleibt, zeugt ebenfalls von einem Mangel an emotionaler Unmittelbarkeit. Dass ferner der Blickkontakt auch zur sinnlichen Entzückung führen könnte, ist dem lyrischen Ich bei Hebbel vollends fremd. Der Blick des angesprochenen Mädchens spiegelt allein die „Unschuld“ des Herzens, damit sich der Sprechende seiner Reinheit vergewissern kann.5 Hingegen besitzt der Liebesblick bei Schiller eine pygmalionische Lebenskraft, wie die Verse aus „Der Entzückung an Laura“ veranschaulichen: Deine Blicke – wenn sie Liebe lächeln, Könnten Leben durch den Marmor fächeln, Felsenadern Pulse leih’n, Träume werden um mich her zu Wesen, Kann ich nur in deinen Augen lesen: Laura, Laura mein! (v. 19–24; FA 1, S. 232)

In der ursprünglichen Anthologie-Fassung wird dieses Gedicht mit „Die seligen Augenblicke / an Laura“ betitelt. Dort löst die Begegnung der Blicke unmittelbar die körperliche Verschmelzung aus.6 Die Entgrenzung in einem Liebesakt kennzeichnet die exzessive Sinnlichkeit und die Intensität der Gefühlsartikulation in Schillers „Laura“-Lyrik, die Hebbel trotz der stofflichen Anlehnung an seinem Vorbild dennoch nicht übernommen hat. Die ersehnte Nähe des lyrischen Ich zu seiner Gelieb|| 4 Werner Keller: Das Pathos in Schillers Jugendlyrik. Berlin 1964, S. 11. Deshalb kann man PeterAndré Alts These von der „Armut“ der Leidenschaft und Gefühle in Schillers Lyrik zumindest in Bezug auf dessen Laura-Gedichte nicht zustimmen. Vgl. Peter-André Alt: Schiller. Leben – Werk – Zeit. Eine Biographie. 2 Bde. München 2000, hier Bd. 2, S. 260. 5 Vgl. die ersten vier Verse des Hebbelschen Gedichts: „Wie die Sonne sich im Meere spiegelt, / Spiegelt sich dein Herz in diesem Blick: / Wär mir deine Unschuld nicht besiegelt, / Flöhe jeder Zweifel jetzt zurück.“ Friedrich Hebbel: An Laura. In: Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 2, S. 150. 6 Vgl. Friedrich Schiller: Die seligen Augenblicke / an Laura. FA 1, S. 510–512, hier S. 511, v. 25–27: „Wenn dann, wie gehoben aus den Achsen / Zwei Gestirn, in Körper Körper wachsen, / Mund an Mund gewurzelt brennt [.]“

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ten ist in Hebbels „An Laura“ rein imaginär, eine Wunschvorstellung, die lediglich behutsam durch den Konjunktiv ausgedrückt werden kann: „Dürfte ich dir dann, Geliebte, nahen, / […] / O, dann würd’ ich Seligkeit empfahen, / Die kein Seraphim so köstlich hat.“7 Es fehlt an unmittelbarer Gegenwärtigkeit der Gefühle im intimen Beisammensein, die insgesamt charakteristisch für Schillers „Laura“-Zyklus ist. Konsequenterweise wird das Bild der gebrochenen Rose, das sich seit Lessings Emilia Galotti und Goethes „Heidenröslein“ notwendigerweise auf die sexuelle Verfügund Verführbarkeit des weiblichen Geschlechts bezieht,8 in Hebbels Gedicht „Laura“ vollkommen enterotisiert und zum Sinnbild der Zerbrechlichkeit menschlichen Daseins im Angesicht eines unausweichlichen Schicksals verwandelt: „Die Rose ist gebrochen, / Vom rauhen Sturm zerknickt; / Was soll der traur’ge Stengel, / Der doch kein Herz entzückt!“9 Anhand dieser tradierten Metapher äußert Hebbels Laura in ihrem Rollenmonolog allein die Trauer um ihren verstorbenen Geliebten und drückt gleichzeitig den Wunsch aus, ebenfalls vom irdischen Leben Abschied nehmen zu wollen: „Und sterb’ ich, senkt die Hülle / Bei ihm, o Brüder, ein – / Des Daseins schönste Fülle – – / Bei ihm ist sie allein.“10 Deshalb ist festzuhalten, dass die sinnliche Leidenschaft der Liebe bei Hebbel – anders als bei Schiller – keineswegs im Mittelpunkt steht. Wie das Gedicht „An Laura“ zeigt, weicht der eruptive Ausdruck von innerer Bewegtheit eher einer schüchternen Betrachtung aus der Distanz. In seinem ersten Versuch einer Nachdichtung des Schillerschen „Laura“-Zyklus, der den Titel „Sehnsucht. An L.“ trägt, ist dieser melancholische Grundton bereits unverkennbar zu vernehmen. Offenbar steht bei diesem Gedicht Schillers „Sehnsucht“ Pate, da sich beide des gleichen Motivs von der Unerreichbarkeit des Paradiesischen bedient. Während aber die Edenlandschaft bei Schiller mit allen sinnlichen Vermögen konkret wahrnehmbar ausgemalt wird,11 steht bei Hebbel das sentimental konnotierte Bewusstsein von Entfernung im Zentrum: „Wohl strahlt mir entgegen ein heiterer Stern, / Eine Rose wohl sehe ich glühen, / Doch die Hoffnung ist mir auf ewig fern –“12 Die Sehnsucht wird hier pars pro toto in repräsentative Bilder zusammengedrängt, um die elegische Stimmung kraft

|| 7 Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 2, S. 151. 8 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. In: Kurt Wölfel (Hg.): Lessings Werke. Erster Band. Gedichte, Fabel, Dramen. Frankfurt a. M. 1967, S. 399–466, hier S. 465 (V, 7): „Eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert.“ 9 Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 2, S. 132. 10 Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 2, S. 132. 11 Vgl. Friedrich Schiller: Sehnsucht. FA 1, S. 199–200, v. 9–16: „Harmonieen hör’ ich klingen, / Töne sußer Himmelsruh, / Und die leichten Winde bringen / Mir die Düfte Balsam zu, / Gold’ne Früchte seh ich glühen, / Winkend zwischen dunklem Laub, / Und die Blumen, die dort blühen, / Werden keines Winters Raub.“ 12 Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 2, S. 124.

Hebbels Jugendlyrik | 29

ihrer Symbolhaftigkeit zu steigern. Wieder fehlt die Intensität der unmittelbaren Sinneseindrücke, die für die „Laura“-Lyrik Schillers kennzeichnend ist.

2.1.2 „An die Tugend“, „Kindesmörderin“ und „Elegie“ Ein weiteres lyrisches Zeugnis der ersten Schiller-Rezeption Hebbels ist seine Ode „An die Tugend“, die, in vierhebigen Trochäen mit Kreuzreim verfasst ist und offensichtlich eine Adaption der Schillerschen Ode „An die Freude“ darstellt. Schon die Eingangsverse legen einen engen Zusammenhang zwischen dem Hebbelschen Gedicht und der Schillerschen Ode, in der bekanntlich die Freude als „Tochter aus Elisium“ (v. 2; FA 1, S. 248) besungen wird, augenfällig nah: Tugend, Tochter beßrer Welten, Schmückend mit dem schönsten Lohn, Thronend in des Bettlers Zelten, Thronend auf des Kaisers Thron […].“13

Die Tugend stiftet eine standesübergreifende Gemeinschaft von universaler Gleichheit, da sie als ethische Instanz sowohl dem Bettler als auch dem Kaiser überlegen ist. Die musikalisch-künstlerisch dargestellte moralische Integrität konstituiert performativ einen Zusammenschluss der gleichberechtigten „Brüder“, in dem sich „Fürst“ und „Bettler“ die Hände reichen: Drum, ihr Brüder, ohne Wanken Schwört, der Tugend euch zu weih’n; […] Kühn verachtend Tand und Stand Gehen wir, getreue Brüder, Fürst und Bettler Hand in Hand!14

Eine ähnliche einheitsstiftende, die feudale Hierarchie überwindende Funktion wird auch in der ersten Fassung der Schillerschen Ode der Freude zugeschrieben: „Deine Zauber binden wieder, / was der Mode Schwert geteilt; / Bettler werden Fürstenbrüder, / wo dein sanfter Flügel weilt.“ (v. 5–8; FA 1, S. 410)15 Allerdings ist hier ein deutlich energischerer und emphatischerer Ton zu vernehmen als in der Variation Hebbels, was nicht zuletzt darin begründet liegt, dass die Freude eine euphorisch aufgeladene Emotionalität ist. Von der Entfesslung der Lebenslust findet sich in

|| 13 Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 2, S. 127.  14 Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 2, S. 129.  15 Freilich wird der vorletzte hier zitierte Vers in der zweiten Fassung zu „Alle Menschen werden Brüder“ verallgemeinert und damit politisch gemildert. Vgl. FA 1, S. 248. 

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Hebbels Tugendode kaum eine Spur, ebenso wenig von der erotischen Ekstase der Schillerschen „Laura“-Gedichte. Trotz der singbaren Strophenform schwächt der versifizierte Moralrigorismus in Hebbels Gedicht eine ungehinderte Artikulation der Gemütserregung, zudem wird auch ein Horizont der Jenseitsgerechtigkeit eröffnet, der kompensatorisch das irdische Leiden lindert. Deshalb ist nicht die Freude, sondern die stoische Standhaftigkeit, die constantia, der eigentliche Gegenstand der Hebbelschen Ode. Dementsprechend nennt der Text vor allem leidende Dulder wie Christus, Sokrates und Jan Hus, denen die Tugend tröstend beisteht: An dem Kreuz des Nazareners Stand’st du hehr und siegreich da; In dem Kerker des Atheners War’st du Himmlische ihm nah’ – Wenn ein Huß in weildem Feuer Zu dir fleht mit wunder Brust, Stärkst du ihn – – er athmet freier, In den Flammen Himmelsluft!16

Obwohl in Schillers Ode ebenfalls die Duldung und die Perspektive einer transzendenten Gerechtigkeit angesprochen werden,17 unterscheidet sich die Hebbelsche dennoch grundsätzlich von ihr, denn hier ist die Entfaltung der irdischen Existenz angesichts des herkömmlichen Dualismus von Körperlichem und Spirituellem lediglich sekundär: „Zwar vergeht die morsche Hülle, / Doch der Geist schwebt himmelan […].“18 Da die Entelechie bei Hebbel eschatologisch als Aufnahme ins göttliche Himmelreich gedeutet wird, erscheint die Leidenschaft vollends überflüssig. Dem stoischen Grundgedanken eines christlichen Märtyrertums entsprechend arbeitet die Ode „An die Tugend“ gerade an der Regulierung, ja an der Nivellierung des Affekts, sodass das Gedicht eine Vision der Vollendung entwirft, in der die „Leidenschaft“ kraft transzendierender Geistesstärke aufgehoben wird: Alles Große schwebt erhaben, Schwebt hoch über Raum und Zeit, Aller Endlichkeit entladen Wallt es hin zur Ewigkeit; – Es durchbricht die engen Schranken, Schwingt sich fort mit Götterkraft Auf den Flügeln der Gedanken, Unbestürmt von Leidenschaft.19

|| 16 Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 2, S. 128. 17 Vgl. FA 1, S. 250, v. 57ff: „Duldet mutig Millionen!“ 18 Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 2, S. 129. 19 Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 2, S. 129. Hervorhebung durch M. M.

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Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass Hebbels Ode „An die Tugend“ ungeachtet augenfälliger formaler Ähnlichkeiten dennoch von ihrem Muster, nämlich der Schillerschen Ode „An die Freude“, in ihrem Gehalt nicht nur abweicht, sondern von ihr grundverschieden ist. Bei Hebbel wird in erster Linie nicht das sinnliche Frohsein gefeiert, sondern die Ermutigung zur tugendhaften Duldung des irdischen Schmerzes besungen, was eine Auslöschung der Leidenschaft erforderlich macht. Die Absenz der sinnlichen Unmittelbarkeit in den „Laura“-Nachdichtungen wird hier um ein Erlösungsversprechen erweitert und damit fortgeschrieben. Die formale Nähe geht also mit gedanklicher Ferne einher. Dass die in der Tugendode entfaltete Dichotomie zwischen diesseitigem Leiden und jenseitiger Erlösung als strukturelles Element der Jugendlyrik Hebbels fungiert, lässt sich nicht allein an dem Gedicht „An einen Verkannten“20 ablesen, sondern auch an der „Elegie/ am Grab eines Jünglings“, die, wie schon der Titel vermuten lässt, als eine Nachahmung der von Hebbel hochgeschätzten „Elegie auf den Tod eines Jünglings“ (FA 1, S. 507–510) von Schiller betrachtet werden kann.21 Beide Gedichte sind durchgehend in fünfhebigen Trochäen mit überwiegendem Kreuzreim verfasst. In Hebbels Elegie versucht nun das lyrische Ich, die Trauer um den frühzeitigen Tod durch die nachträgliche Krönung des Jünglings durch den „Heiland“ zu mindern: Der hingeschiedene „[d]arf den reinsten Hauch der Gottheit trinken / Und empfängt der Duldung hehren Lohn; / Sieht den liebvollen Heiland winken: / ‚Komm, empfange deine Kron’!‘“22 Die lyrische Mnemosyne transponiert sich zu einer ethischen Forderung nach duldsamem Harren auf Rehabilitierung in der Transzendenz, da die Erhabenheit des „Unsers Heilands Jesu Christi Glaube[ns]“ über raumzeitliche Einschränkungen die Seligkeit der Seele sicherstellt.23 Explizit wendet sich der Verstorbene mit seiner Aufforderung zur Duldung den Lebenden zu: „Duldet muthig! Durch ein edles Leben, / Nicht durch Tränen, feiert meinen Tod! / Fröhlich müßt ihr euren Blick erheben, / Bin auch ich doch froh bei Gott.“24 Es sei an dieser Stelle angedeutet, dass sich der Lyriker Hebbel derselben Strategie der Ermutigung durch Vergewisserung eines Jenseitsoptimismus nach dem irdischen Tod bedient hatte, als er mit seinem langen Gedicht „Das abgeschie-

|| 20 Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 2, S. 144: „Sei verkannt! Laß dich nur Nacht umdunkeln! / Deine Tugend wird im Himmelsspiegel funkeln, / Wenn auch nicht im trüben dieser Zeit.“ 21 Zu Hebbels Hochschätzung dieses Gedichts vgl. Emil Kuh: Die Biographie Friedrich Hebbel’s, Bd. 2, S. 665. Laut Kuh trage Hebbel besonders gerne „einzelne sprach- und bildgewaltige Strophen“ aus der „Elegie auf den Tod eines Jünglings“ vor. 22 Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 2, S. 143. 23 Vgl. Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 2, S. 143: „Unsers Heilands Jesu Christi Glaube / Ist erhaben über Raum und Zeit, / Giebt dem Staube süße Ruh’ im Staube, / Reicht der Seele Seligkeit!“ 24 Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 2, S. 143.

32 | Erste Rezeptionszeugnisse

dene Kind an seine Mutter“ (W 6, S. 294–298) seine Geliebte Elise Lensing über den Verlust des gemeinsamen Sohnes zu trösten suchte. Das Trauergedicht als Katechismus und Lebenshilfe entspricht jedoch keineswegs der Schillerschen Vorlage, den die „Elegie auf den Tod eines Jünglings“ zeichnet sich vor allem durch die religiös und gesellschaftlich kritischen Dimensionen aus. Anstatt den lyrischen Nekrolog als Glaubensbotschaft zu gestalten, wird anlässlich eines frühen Todes die Berechtigung der Hoffnung auf Transzendenz und damit auch die Sinnhaftigkeit der Duldung kategorisch in Frage gestellt: Wenn der Wurm schon naget in den Blüten: Wer ist Tor zu wähnen, daß er nie verdirtbt? Wer dort oben hofft noch und hienieden Auszudauren – wenn der Jüngling stirbt? (v. 21–24; FA 1, S. 507)

In der ersten Fassung der Elegie ist das Misstrauen gegenüber einer Jenseitserlösung noch stärker zu vernehmen: „O ein Mißklang auf der großen Laute! / Weltregierer, ich begreif es nicht!“ (v. 35f.; FA 1, S. 480) Offenbar handelt es sich hier um eine verdeckte Theodizee: Das göttliche Tun wird von dem lyrischen Ich generell in Frage gestellt, da Gott, weil er den blühenden Jüngling sterben ließ, in seiner Funktion als Weltenlenker enttäuscht, ja versagt hat. Vollends fehlt eine eschatologische Perspektive, weil sich das Wissen über das mögliche Sein nach dem irdischen Tod nur dem Verstorbenen offenbart, den Lebenden aber entzieht. Fest steht jedoch die Fiktionalität des „Paradieses“ und der literarischen Phantasie über das himmlische Nachleben.25 Dem religiösen Skeptizismus gemäß findet in Schillers Elegie auch keine direkte Kommunikation zwischen dem Verstorbenen und den Hinterbliebenen statt, da der verstorbene Jüngling nicht selber spricht, sondern nur angesprochen wird. Zwischen den beiden Welten vollzieht sich also eine absolute Trennung, die keine Vermittlung mehr zulässt. Darüber hinaus liegt der Akzent der Schillerschen Trauerode weniger auf der Zuversichtlichkeit von der Wiederherstellung der Gerechtigkeit in der Transzendenz, sondern auf der konkret erfahrbaren Gesetzlosigkeit der realen Welt, in der die Verleumdung geifere, die Verführung ihre Gifte speie, der Pharisäer eifere und die „fromme Mordsucht“ walte (v. 56; FA 1, S. 508). Der Tod ist nur die Flucht vor der irdischen „Bastardtochter der Gerechtigkeit“ (v. 58; FA 1, S. 508). Er ist die endgültige Abwendung von diesem „teufelvollen Himmel“ (v. 71; FA 1, S. 509), in den tätig korrigierend einzugreifen der Gott der „Grüfte“ (v. 103; FA 1, S. 510) nicht im Stande ist. Die Trauer um den Verstorbenen erweitert sich somit zur Generalanklage

|| 25 Vgl. FA 1, S. 509, v. 85–93: „Nicht in Welten, wie die Weisen träumen, / Auch nicht in des Pöbels Paradies, / Nicht in Himmeln, wie die Dichter reimen, – / Aber wir ereilen dich gewiß. / Daß es wahr sei, was den Pilger freute? / Daß noch jenseits ein Gedanke sei? / Daß die Tugend über’s Grab geleite? / Daß es mehr denn eitle Phantasei? – – / Schon enthüllt sind dir die Rätsel alle!“

Hebbels Jugendlyrik | 33

der Anarchie der Wirklichkeit und vermag dadurch eine sozialkritische Sprengkraft zu entfalten. Insgesamt zeigt die Analyse der ersten lyrischen Versuche Hebbels, dass sich seine Schiller-Rezeption zunächst an formalen und stofflichen Aspekten orientiert. In bewusster Anlehnung an Schillers Jugendlyrik versucht er, sich das Form- und Gegenstandsrepertoire anzueignen, ohne jedoch auch die thematischen Ausrichtungen zu übernehmen. Es fehlen sowohl eruptive Ausdrücke sinnlichunmittelbarer Empfindungen als auch sozial- und religionskritische Auseinandersetzungen mit der Gegenwart, die in den Vorlagegedichten evident sind. Dagegen herrschen in Hebbels Jugendlyrik das Primat der Tugend und der moralische Imperativ des Duldens vor, gepaart mit einem Jenseitsoptimismus der göttlichen Erlösung, in Anbetracht dessen die momentane Entrücktheit der irdischen Ordnung nur vorübergehend ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass der eingehende Dichter Hebbel für die Leidenschaft des Menschen überhaupt unempfänglich wäre. Allein wird diese nicht im Gewande lyrischer Expressivität, sondern als dramatischer Konflikt gestaltet, der aber wiederum von der Vorstellung der transzendenten Gerechtigkeit gerahmt ist. Ein Beispiel hierfür ist seine Ballade „Rosa“, die das Motiv der Kindesmörderin behandelt.26 Die Nähe der Hebbelschen „Rosa“ zu Schiller markiert zunächst ein eindeutiger intertextueller Verweis. Bezeichnenderweise wird zwei Verse aus Schillers Gedicht der „Kindesmörderin“ als Motto vorangestellt: „Weh’, vom Arm des falschen Manns umwunden, / Schlief Luisens Tugend ein!“ (v. 31; FA 1, S. 233)27 Beklagt wird hier also ausgerechnet der Verlust der Tugend, die, dem Grundthema der Hebbelschen Jugendlyrik folgend, hier als der ideelle Kern des Schillerschen Gedichts begriffen wird. Stilistisch betrachtet tritt das lyrische Sprechen in Hebbels Ballade in einer epischen Distanz zum tragischen Geschehen, während Schiller einen Rollenmonolog der Titelheldin poetisch inszeniert. Abermals kommt es bei Hebbel weder zum exzessiven Sprachgebrauch noch zur direkten Artikulation der Empfindung, auf die Schillers „Louise“ großen Wert legt: „Wehe! – menschlich hat dies Herz empfunden! / Und Empfindung soll mein Richtschwert sein! “ (v 29f.; FA 1, S. 233)

|| 26 Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 2, S. 133–137. Auch befindet sich unter der Jugendlyrik Hebbels eine weitere Romanze „Die Kindesmörderin“, die hier allerdings nicht in Betracht kommt, weil das entscheidende Moment der Untreue des Verführers fehlt. Der tödliche Ausgang erweist sich als einen voreiligen radikalen Schritt der jungen Mutter, die merkwürdigerweise ebenfalls Laura heißt. Es ist ein trauriges Ereignis ohne tragischen Konflikt, denn der Geliebte kommt nur unglücklicherweise zu spät mit der Zustimmung seines Vaters zur Heirat zurück. Vgl. Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 2, S. 159f. 27 Vgl. Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 2, S. 133. Merkwürdigerweise geht Jens Dirksen in seiner Untersuchung des Kindesmord-Motivs in Hebbels Jugendlyrik nicht auf Schiller ein. Vgl. Jens Dirksen: „Die Wurmstichige Welt“. Hebbels Lyrik. Frankfurt a. M. 1992, S. 22–25.

34 | Erste Rezeptionszeugnisse

Da die Motivation der Täterin stärker akzentuiert wird als ihre Tat, wird mit der Eindringlichkeit der Rollenrede nicht nur rechtsgeschichtlich eine Wendung vom „Tatstrafrecht hin zum Täterstrafrecht“ 28 herbeigeführt, vielmehr ermöglicht die monologische Prägnanz auch eine wirkmächtige Verlautbarung der inneren Bewegtheit, die selbst an dem Henker nicht spurlos vorübergeht: „Henker, kannst du keine Lilje knicken?/ Bleicher Henker, zittre nicht!“ (v. 119f; FA 1, S. 236) Die physische Paralyse des Scharfrichters bestätigt geradezu die Macht eines authentischen, emotional hochgeladenen Ausdrucks, die die Vollmacht des Rechtsvollzugs außer Kraft setzt. Die Unmittelbarkeit der Sprache wird zugleich Artikulation, Performanz und Urteilsspruch. Die Funktionalität der äußeren juristischen Instanz in Gestalt des Henkers wird gerade von der inneren Mitleidsfähigkeit, die von der lyrischen Herzensergießung ausgelöst ist, ins Schwanken gebracht. Der entpersonifizierte Richterstuhl der Moralität wird durch den direkten Appell an die universal anschließbare Empfindung des Menschen erschüttert, was die Tat zwar nicht rechtfertigt, jedoch zumindest bedauernswert erscheinen lässt. Hebbels Gestaltung des nämlichen Stoffs ist allerdings von einer ganz anderen Art. Der ursprüngliche Rollenmonolog wird durch dramatische Dialoge ersetzt, statt auf die Hinrichtung konzentriert sich die lyrisch inszenierte Handlung nun auf die gespenstische Rache der Hingerichteten an dem treulosen Verführer. Die Implementierung schauerromantischer Elemente, die in einer eigentümlichen Weise mit christlichen Symbolen vermischt wird, dient allerdings weniger der Evokation der Sympathie als der Veranschaulichung einer Vergeltungsnotwenigkeit. In der Schlussstrophe treten beispielsweise Engel auf, die die Rache als Vollzug des gerechten Weltgerichts verteidigen, anstatt sie juristisch zu problematisieren.29 Indem sie die Rosa als ihre Schwester, ihren Geist als „kinderrein und gut“ begrüßen, sichern sie ihr die erlösende Aufnahme ins Paradies: „Dein Geist ist kinderrein und gut – / So schlafe denn dein Staub hier süß, / Sei selig du im Paradies.“30 Die Ballade vergegenwärtigt insofern die durch göttlich-gespenstische Vergeltung wiederhergestellte Gerechtigkeit und stimmt damit mit der lyrisch befestigten Überzeugung des jungen Hebbel von einer transzendent verbürgten sittlichen Ordnung überein, die trotz ihrer momentanen Entrücktheit schlussendlich realisiert werden soll. Diese Jenseitszuversicht ist, wie oben bereits angesprochen, die verbindliche Grundlage seiner Jugendlyrik, obgleich es die metrische und stoffliche Nähe zu Schillers Gedichten oftmals anders vermuten lässt. Daher lässt sich resümierend festhalten, dass Hebbels erste Rezeption von die Lyrik Schillers zwar auf den ersten Blick eine dichtungsgeschichtliche Kontinuität

|| 28 Vgl. Georg-Michael Schulz: Lust an kühnen Bildern. In: Norbert Oellers (Hg.): Gedichte von Friedrich Schiller. Interpretationen. Stuttgart 1996, S. 15–26, hier S. 15. 29 Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 2, S. 137: „Gerecht wohl ist des Herrn Gericht.“ 30 Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 2, S. 137.

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in formaler und stofflicher Hinsicht suggeriert, bei genauerem Hinsehen jedoch ihre Eigentümlichkeiten zeigt. Obwohl es gerne auf das vorhandene Werk des großen Vorbilds rekurriert wird, ist bei allen hier analysierten Gedichten dennoch eine eigenständige Ausführung insbesondere in Bezug auf den ideellen Gehalt der Texte zu konstatieren. Das der „Rosa“-Ballade vorangestellte Motto etwa schafft zwar einen intertextuellen Zusammenhang und legt die Vorgeschichte im Vorgedicht fei, aber es handelt sich um eine Weiterdichtung mit Akzentverschiebung, die wiederum für die ersten poetischen Schöpfungen Hebbels charakteristisch ist. Insofern kann die Jugendlyrik ungeachtet offenkundiger Gebundenheit am jeweiligen Ausgangstext Schillers nicht als charakterlose Nachahmung abgetan werden. Vielmehr beweist sie die Selbstständigkeit eines produktiven Rezipierenden, obzwar manchen ihr Grundgedanke von einer ethischen Weltordnung und dem damit einhergehenden Jenseitsoptimismus naiv, ihre dichterische Qualität ungenügend erscheinen mag.

2.2 Hebbels Jugenddramatik: das „Mirandola“-Fragment Nicht allein die ersten lyrischen Versuche, sondern auch der erste dramatische Entwurf Hebbels steht eindeutig im Zeichen der Schiller-Rezeption. Exemplarisch sei an dieser Stelle das überlieferte Fragment „Mirandola“ (W 5, S. 3–30), das wohn 1831 entstanden ist, analysiert. Die Handlung des Bruchstücks ist leicht erzählt: Der Titelheld Mirandola vertraut seine Verlobte Flamina dem Schutz seines Freundes Gomatzina an, nachdem er von der tödlichen Krankheit seines Vaters erfahren hat und nach Hause eilen musste. Auf den ersten Blick ist aber Gomatzina in eine unaufhaltsame Liebe für Flamina entflammt. Der Burgpfaff Gonsula durchschaut die Leidenschaft Gomatzinas und spinnt eine Intrige, scheinbar um Flamina ihrem Geliebten zu entfremden und sie Gomatzina zuzuführen. Doch in Wirklichkeit hegt er andere Gedanke und plant Gomatzina dadurch in den Abgrund des Verrats zu stürzen, um sich an Gomatzina für die ihm durch dessen Vater zugefügte Schmach zu rächen. Offenbar ist der Komplott aufgegangen – der betrogene Mirandola wird daraufhin Räuber und will sich an der Welt blutig rächen. Sowohl die konzeptionelle Grundstruktur als auch die dramaturgischen Einzelheiten verraten eine starke Beeinflussung von Schillers Räubern. So erinnert beispielsweise die gefälschte Briefmeldung, dass Mirandola von Banditen ermordet worden sei, an die Briefintrige des Franz von Moor, der seinen Bruder Karl durch erdichtete Beschuldigungen in den Augen seines Vaters diskreditieren will (I/1; FA 2, S. 21f.). In beiden Handlungen fällt der Protagonist dem Intriganten zum Opfer, wird daraufhin aus enttäuschter Liebe einerseits sowie infolge sozialer Ausgrenzung

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andererseits zum Räuber, und schwört brutale Vergeltung.31 Neben dem „Mirandola“-Fragment sind auch weitere Entwürfe Hebbels aus derselben Zeit überliefert, die das Räubertum thematisieren.32 Sie zeigen eine rege Neugierde für das soziale Außenseitertum, die nicht zuletzt von einer eingehenden Rezeption der Schillerschen Räuber herrührt. Was in der gebundenen Sprache der Lyrik nicht zur Entfaltung kommt, tritt in der Dramatik in den Vordergrund: Es dominiert im „Mirandola“-Fragment die verbale Beschwörung der Leidenschaft, die zur eigentlichen Triebkraft der dramatischen Handlung wird. Weil die himmlische Gerechtigkeit, die in den lyrischen Rezeptionszeugnissen besonders markant hervortritt, wie jede Richterinstanz erst mit Verzug nach der Tat eingreifen kann, wird die irdische Immanenz zum Austragungsort zwischenmenschlicher Konfrontation. Zwar werden die Konfliktsituationen letztendlich von der gerechten Transzendenz wieder aufgehoben, aber die endgültige Gerechtigkeit ist eben im Nachhinein und im Jenseits allein möglich. Ein derartiges Bild der konfliktreichen Welt präsentiert nun das Drama, das sich der Natur der Gattung nach mit Zusammenstößen der Interessen und der widerstreitenden Leidenschaften oder der Überzeugungen beschäftigt. Im Vergleich zu den „Laura“-Gedichten ist im „Mirandola“-Fragment in der Tat eine radikale Steigerung der affektvollen Liebesrhetorik zu beobachten. Flamina, deren sprechender Name schon auf eine Gefühlsintensität hindeutet, will nichts von maßvoller Liebe wissen: „Maaß? Maaß? Mutter hast Du geliebt? Und Du sprichst von Maaß? […] Läßt es sich denn auch messen, dies allmächtige Gefühl, das meiner Seele geheimste Falten durchdringt?“ (W 5, S. 7) Die Außerkraftsetzung aller Mahnungen zur Selbstdisziplinierung verdeutlicht die Absolutheit des Liebesanspruchs, der keine Einschränkung hinnehmen will: „Die Klugheit erfand sich das Aber, die Liebe kennt nur ein Ist.“ (W 5, S. 8) Die grammatische Schlichtheit der unbezweifelbaren Behauptung der Liebe als eines „Ist“, das keine Wendung oder Konzession kennt, unterstreicht sie als das Seiende, dessen Geltung ins Maßlose ausgedehnt werden kann. Diese Verabsolutierung der Liebe lässt sich nun auch als ein implizites Rezeptionszeugnis lesen, da nicht nur Flamina, sondern vor ihr auch Louise Millerin die Unbedingtheit der Liebe proklamiert hat. Für die Heldin des Schillerschen bürgerlichen Trauerspiels Kabale und Liebe konzentriert sich die Welt zentripetal auf ihren adligen Geliebten Ferdinand, ja sie reduziert sich einzig auf ihn: „Ah! Ich vergaß, daß es noch außer ihm Menschen gibt.“ (I/3; FA 2, S. 572) Louise ordnet ihm sogar || 31 Vgl. Karl: „Ich habe keinen Vater mehr, ich habe keine Liebe mehr, und Blut und Tod soll mich vergessen lehren, daß mir jemals etwas teuer war!“ (I/2; FA 2, S. 45) Mirandola: „Ha! Welt, wozu hast du mich gemacht! […] Wunden will ich Dir schlagen, die Jahrhunderte lang bluten sollen!“ (W 5, S. 29). 32 Vgl. etwa Hebbels Erzählung „Die Räuberbraut“ (W 8, S. 16–32) sowie seinen Plan von einem Drama über „Räuberhauptmann Evolia“ (W 5, S. 39–40).

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den Weltschöpfer unter: „Wenn meine Freud über sein Meisterstück mich ihn selbst übersehen macht, Vater, muß das Gott nicht ergötzen?“ (I/3; FA 2, S. 572) Die Grenzenlosigkeit der Liebe berechtigt den Menschen, den Gott über sie zu vergessen. Nicht nur ist diese Vergesslichkeit erlaubt: Sie ist vor allem glaubenskonform. Auch Mirandola bedient sich in seiner zügellosen Liebespathetik der Argumentation einer theologischen Entlastung, als Gomatzina ihn zur nötigen Selbstbeherrschung mahnt: Der Mensch meistere seine unedlen Triebe, aber – – Liebe zu Flaminen, ist doch gewiß nicht unerlaubt. […] Warum schuf Gott sonst eine Flamina? Oder warum erhielt ich ein empfängliches Herz. Nein, kurz und gut, Freund, wenn das verdammlich ist, Flamina zu lieben, so hat der Herrgott sich selbst die Verdammnis zuzuschreiben. (W 5, S. 11f.)

Mit der faktischen Existenz der geliebten Person, mit dem anthropologischen Grundvermögen der Empfindung und Liebe begründet Mirandola die absolute Inbrunst seiner Leidenschaft. Sogar Gott steht bei der Geburt des Pathos Pate. Die konzipierte Tragik des „Mirandola“-Fragments besteht jedoch darin, dass die Legitimation dieser unbedingten und grenzenlosen Liebe gerade aufgrund ihrer Verwurzelung in der Zuversicht auf Transzendenz als Ausrede moralischer Verwerflichkeit instrumentalisiert wird. Wenn die Liebe absolut sein soll, so ist sie nicht auf ein spezifisches Paar beschränkt; wenn sie außerdem von Gott gewollt ist, so ist alles, was in ihrem Namen geschieht, als Erfüllung des göttlichen Willens gleichsam theologisch gerechtfertigt. Das ahndungsvolle Wort Mirandolas kehrt sich gegen ihn selbst: „[W]enn das verdammlich ist, Flamina zu lieben, so hat der Herrgott sich selbst die Verdammnis zuzuschreiben.“ Die Verabsolutierung der Liebe, die zum einen auf der Antizipation der Schöpfungsintention, zum anderen auf der anthropologischen Notwendigkeit basiert, erweist sich als der eigentliche Abgrund, weil, wie Gomatzina an sich erkennt, die Allmacht zugleich die Ohnmacht des regulierenden Geistes ist: „Diese Liebe ist ein Abgrund, und schwindelnd stürzt der entnervte Geist hinab!“ (W 5, S. 19) Um zur Liebe zu gelangen, gibt er wie sein Vor-Bild Franz von Moor das Gewissen und die moralische Integrität auf. Für beide geht der Weg zur Liebe allein durch das Verbrechen, oder, wie Schiller in seinem Gedicht „Der Kampf“, dessen erste Fassung „Freigeisterei der Leidenschaft“ ein weiteres Glied der Laura-Zyklus bildet (FA 1, S. 414–417), mit poetischem Raffinement ausdrückt: „Der einz’ge Lohn, der meine Tugend krönen sollte, / Ist meiner Tugend letzter Augenblick!“ (v. 22f; FA 1, S. 161) Sowohl der pathetische Sprachstil als auch die Problematisierung der verabsolutierten Liebe in Hebbels „Mirandola“-Fragment lassen sich also als Früchte einer produktiven Aneignung von der Dramatik Schillers auffassen. Mirandola und Karl von Moor teilen jenen „Universal-Hass“ gegen die Mitwelt und einen unbedingten Willen zur brutalen Vergeltung. „[M]ein Handwerk ist Wiedervergeltung – Rache ist mein Gewerbe“ ((II/3; FA 2, 88), erklärt Karl nicht ohne Stolz gegenüber der Obrigkeit. Paradoxerweise bezweckt er mit dem Umsturz der Ordnung deren Wiederher-

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stellung, um „die Gesetze durch Gesetzlosigkeit aufrecht zu halten.“ (V/2; FA 2, 159) Deshalb gilt seine Rache vor allem den Repräsentanten einer moralisch korrupten sozialen Struktur, die die Menschheit unterjocht. Die vier Ringe, die Karl dem Pater, welcher die Räuber zur Kapitulation auffordert, nicht ohne Stolz präsentiert, sind vom „Minister“, „Finanzrat“ und vom „Pfaffen“ geraubt. Sie verkörpern seine Kriegserklärung gegen Fürstenwillkür, käufliche Politik und Inquisition (II/3; FA 2, 87). Die Geschichte der Ringe legt die politisch-revolutionäre Motivation seiner Sehnsucht nach der Vergeltung dar, die auf Restauration einer gerechten Ordnung abzielt. Damit gewinnt das Racheethos Karls eine gesellschaftskritische Dimension, die insgesamt für die Jugenddramatik Schillers charakteristisch ist.33 Im Gegensatz dazu ist die Racheimagination Mirandolas nicht von gerechtem Zorn oder Freiheitspathos getragen. Vielmehr muss seine Beschwörung der gewaltsamen Zerstörung als ein auf Wirksamkeit hin konzipiertes rhetorisches Mittel gelesen werden, um die tiefen Verletzungen durch die Intensität der Wut sinnlich prägnant zu veranschaulichen. Wie bei der Nachdichtung der Schillerschen „Elegie auf den Tod eines Jünglings“ fehlt bei Hebbels dramatischem Entwurf jene kritische, wenn auch generalisierende Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Es herrscht allein eine Vernichtungsphantasie vom allgemeinen Morden, das nicht, wie bei Schiller, durch politische Zielsetzungen motiviert ist.34 Wenn Mirandola sich als Teufel versteht, so handelt es sich nicht um jenen „metaphysischen Rebellen“ Luzifer,35 sondern um die Verkörperung des gewaltsamen Bösen an sich: Denn er wolle ein solcher Teufel werden, „daß die Hölle selbst soll beben, wenn sie mich mit der Zeit empfängt!“ (W 5, S. 29f.) Eine idealistische Fundierung fehlt dieser Aussage in Gänze. Offenbar interessiert sich der junge Dramatiker weit weniger für eine Generalabrechnung mit der verfaulten Gesellschaft als der große Vorgänger. Stattdessen rückt eine andere Problematik ins Zentrum der dramatischen Gestaltung: die psychologischen Krisensituationen. Gomatzina, der Freund und Gegenspieler Mirandolas, schwankt zwischen einer kaum mehr unterdrückbaren pathetischen Liebe und den doppelten Verpflichtungen, die er als Freund und Beschützer sich auferlegt hat. Gekämpft wird jener „Riesenkampf der Pflicht“ (v. 2; FA 1, S. 414). Allerdings ist es kein Widerstreit zweier gleichberechtigter Güte, sondern ein heilloses EntwederOder einer bereits von der Leidenschaft zugrunde gerichteten Seele, die zwischen

|| 33 Es sei hier lediglich an die scharfe Kritik an dem Soldatenhandel in Schillers Kabale und Liebe (II/2; FA 2, S. 590ff) erinnert. 34 Vgl. W 5, S. 29: „Morden will ich Deine Säuglinge, und blühende Knaben, daß die Mütter sich sollen die Haar ausraufen, […] und am Alter soll ihr Herz vor Verzweiflung zu nichte gehen.“ 35 Vgl. Karls Milton-Lektüre im „unterdrückten Bogen B“: „Ich weiß nicht Moriz ob du den Milton gelesen hast. – Jener […] sich anmaßte den Allmächtigen vor seine Klinge zu fordern, war er nicht ein außerordentliches Genie?“ (FA 2, S. 168) Zur Teufelsthematik vgl. Hans Richard Brittnacher: Die Räuber. In: Helmut Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 344–372.

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irdischer Sinnlosigkeit und ewiger Verdammung steht. Ein vermittelnder Ausweg zwischen den Abgründen kann es nicht geben. Gomatzina erkennt die vollkommene Aussichtslosigkeit seiner Situation selbst ein: Das „fröhliche Au“ seines Lebens sei schon „in eine unermeßliche Leere“ verwandelt, „und jenseits dieser Leere ist höllische Nacht!“ (W 5, S. 20) Die individuelle Tragik Gomatzinas besteht darin, dass er anthropologisch bedingt empfinden muss, dies gemäß dem moralischen Imperativ jedoch nicht darf. Deshalb vergleicht er sich mit einem von allgemeiner Freude Ausgeschlossenen, der nicht gefühllos hinwegzuschauen vermag: „O – so muß es dem Verdammten zumuthe sein, der täglich die Freuden der Seligen schauen, der stündlich den Himmel öffnen sehen muß, und doch nicht hinein darf!“ (W 5, S. 20) Die Mechanismen der Selbstkontrolle versagen im Angesicht der überwältigenden Gewalt der Leidenschaft: „[D]as ist ein gählingsrollender Felsenstrom, der mich unwiderstehlich hinabreißt in das höllische Grab!“ (W 5, S. 14f.) Für Gomatzina ist die Hölle kein Ort der zukünftigen Verdamnis, der zumindest im theologischen Horizont realexistiert, sondern sein gespaltenes Ich im Jetzt. Denn „[j]eder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einen, wenn man hinabsieht.“36 Folglich spielt bei der Zuspitzung des tragischen Geschehens die Außenwelt nur eine marginale Rolle. Im Zentrum des Handlungsverlaufs steht das Ich des Gomatzina, das sich ständig widerspricht. Um den inneren Konflikt dramatisch zu versinnbildlichen, bedient sich der Text nicht des Dialogs, sondern die viel adäquatere Form eines dialogisch aufgebauten Monologs mit ständigen Verkehrungen der Gedanken. Später notiert Hebbel 1843 in sein Tagebuch, dass die Monologe im Drama „nur dann statthaft“ seien, „wenn im Individuum der Dualismus hervor tritt, so daß die zwei Personen, die sonst immer zugleich auf der Bühne seyn sollen, in seiner Brust ihr Wesen zu treiben scheinen.“ (TBR 2891 / TBW 2971) Die dialogische Struktur des Monologs, der ständig zwischen Selbstbejahung und Selbstverneinung oszilliert, wird zum dramatischen Darstellungsmedium von der sprachlichen Vergegenwärtigung der inneren Zerrissenheit des Subjekts. Die Zerslitterung des Ich angesichts der unwiderstehlichen, jedoch unerlaubten Leidenschaften muss sich also auch in der Verworrenheit der Ausdrücke manifestieren. Gerade die rastlos fortdauernde Selbstwiderlegung ist kennzeichnend für den Sprachstil Gomatzinas. Als er von der erdichteten Untreue des Freundes erfährt, bricht in seiner Brust ein heftiges Ringen mit der Versuchung aus, die ihm zugespielte Anschuldigung der Treulosigkeit des Freundes als Vorwand für den eigenen Treubruch auszunutzen:

|| 36 Georg Büchner: Woyzeck. In: ders.: Dichtungen, hg. von Henri Poschmann. Frankfurt a. M. 2006. S. 143–219, hier S. 200.

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Gomatzina (für sich). Was ist das? Mirandola wäre – – Unmöglich! – – Und wenn er’s wäre? Was hätte ich gewonnen? Doch, sehen kann ich – – nein, ich darf es nicht sehen – – aber – – – […] Gomatzina (heftig umhergehend). Mirandola! So hättest Du mich und Deine Braut belogen! Wärest ein Schurk’ der Schurken! – – – Unmöglich! – – – –. Nein, ich – – – – Und doch – – warum auch so unglaublich – – – (W 5, S. 26f.)

Sichtbar wird hier das schon erläuterte dramatische Verfahren des monologischen Selbstwiderspruchs, das eingesetzt wird, um die seelischen Konflikte sprachlich abzubilden. Zwar mangelt es dem jungen Dramatiker noch an sprachlicher Vollendung, um das Unaussprechliche trotz alldem auszusprechen. Jedoch sind die zahlreichen, den gewohnten Sprach- und Gedankenfluss unterbrechenden Bindestriche nicht bloß als Armutszeugnisse einses begrenzten Ausdrucksvermögens abzuwerten. Ihnen wohnt eine ästhetische Funktionsdimension inne, da sie sinnbildlich den psychologischen Widerstreit des von Neigung und Pflicht zerrissenen Individuums mit sich selbst verdeutlichen. Die Gebrochenheit der Sätze wird zum Symptom einer gebrochenen Seele. Darüber hinaus werden die hier experimentell eingesetzten jähen Zäsuren im dialogischen Monolog zum Ausgangspunkt einer poetologischen Reflexion über den dramatischen Stil insgesamt. 1846 notiert Hebbel in seinem Tagebuch: Es ist nicht wahr, daß der Mensch Alles, was er denkt, ganz zu Ende denkt, was er empfindet, ganz ausempfindet; die Lebensäußerungen kreuzen sich, sie heben sich auf, und dieß vor Allem soll der dramatische Styl wiedergeben ∫veranschaulichen∫, den jedesmaligen ganzen Zustand, das ∫Sich-∫Ineinander-Verlaufen seiner verschiedenen ∫einzelnen∫ Momente und die Verwirrung selbst, die es ∫dies∫ mit sich bringt (TBR 3747 / TBW 3830)

Aus diesem Grunde sei gerade die „Schwerfälligkeit“ des Dialogs oft eine Tugend des Dramatikers (TBR 3747 / TBW 3830), weil die psychische Krise der Figuren, die ihr Handeln und somit die dramatische Handlung bedingt, erst dadurch anschaulich wird. Diese Bestimmung des Dialogstils wird dann 1847 als einleitende Passage in Hebbels Aufsatz „Ueber den Styl des Dramas“ aufgenommen (W 11, S. 65–73), in dem Hebbel die „Rauhigkeit des Versbaus, Verwicklung und Verworrenheit des Periodengefüges, Widerspruch der Bilder“ als „wirksam[e] und unumgänglich[e] Darstellungsmittel“ anerkennt (W 11, S. 73). Die theoretische Systematisierung lässt sich aber unschwer auf den ersten Sprachversuch im „Mirandola“-Fragment zurückführen, in dem die spätere These wurzelt, „daß auch das Ringen um Ausdruck Ausdruck ist.“ (W 11, S. 73) So gesehen ist deshalb – wie das „Mirandola“-Fragment unter Beweis stellt – zu schlussfolgern, dass Hebbels erste dramatische Schiller-Rezeption keineswegs eine mechanische Wiederholung überlieferter Konstellationen mit Anhäufung geflügelter Worte darstellt. Die stoffliche und strukturelle Affinität führt nicht zu einer selbstauflösenden Abhängigkeit, sondern setzt gerade eine selbstständige Neugestaltung in Gang. In Hebbels Texten sind daher sowohl stilistische als auch themati-

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sche Akzentverschiebungen und Abweichungen festzustellen, die aber gerade seine ideellen und ästhetischen Überzeugungen bestätigen. Darüber hinaus müssen die ersten Rezeptionsversuche als Grundlage weiterer poetologischer Ausdifferenzierungen gelesen werden, die dann wiederum einen konstruktiven Beitrag zur Bildung einer eigenständigen Ästhetik leisten. Insofern ist die Schiller-Rezeption des jungen Hebbel das Embryo eines Werdungsprozesses, dem die dauerhafte Arbeit an Schiller entspringt. Diese Arbeit an Schiller wird in seinen späteren Werken unmissverständlich ablesbar sein.

3 Kontext der Schiller-Rezeption Hebbels 3.1 Allgemeine Situation der Schiller-Rezeption im 19. Jahrhundert Die unmittelbar nach seinem Tod einsetzende enorme Wirkung Schillers, der bis heute nicht unangemessen als „Zeitgenosse aller Epochen“ geehrt wird,1 führt im 19. Jahrhundert zunächst zu einer Apotheose des Dichters, die sich in zahlreichen verklärenden biographischen Darstellungen manifestiert. Zugleich lässt sich dabei aber eine Kluft zwischen der gängigen Idealisierung des Dichters und einem unzureichenden Werkverständnis ausmachen. Schiller gelte, wie Norbert Oellers anhand zahlreicher zeitgenössischer Rezeptionszeugnisse darlegt, „als der Typ des idealen Dichters, ohne daß die Tiefe seiner Ideen begriffen wurde“.2 Sein Ansehen sei „institutionalisiert“ worden und habe sich „unabhängig gemacht von der literarischen Kritik“.3 Ute Gerhard stellt ebenfalls ein grundlegendes Missverhältnis zwischen der Popularität Schillers und einem adäquaten Werkverständnis in der SchillerRezeption fest.4 Geliebt und verehrt werde, so argumentiert Helmut Koopmann, vor allem „der Schiller der Sprichworte, der Sentenzen, der überall verwendbaren Zitate“, weil die Aphorismensammlungen dem Verlangen des bürgerlichen Zeitalters nach einer leicht fassbaren ethischen Orientierung entgegenkämen.5 Jedoch werde mit der Verflachung und Trivialisierung der Dichterehrung auch eine bedenkliche Funktionalisierung ins Werk gesetzt, die den Dichter als „Projektionsfläche politischer und sozialer Vorstellungen“ vereinnahme. 6 Die Reduzierung des „ganzen“ Schiller auf einen bloßen, allerdings kanonisierten Namen mit verbindlicher Autorität mache ihn, wie Christian Grawe zu Recht konstatiert, als „Spielball religiöser, philosophischer, politischer und ästhetischer Überzeugung“ überall einsetzbar.7 Die Universalität einer „pragmatischen Applikation“ sowohl des Dichters als auch einzelner Sequenzen seiner Werke, insbesondere jedoch die Anwendung derselben im Bereich des Politischen, hat vor allem Ute Gerhard untersucht.8 Die spezi-

|| 1 Norbert Oellers: Schiller – Zeitgenosse aller Epochen. 2 Norbert Oellers: Schiller. Geschichte seiner Wirkung bis zu Goethes Tod, S. 342. 3 Norbert Oellers: Schiller – Zeitgenosse aller Epochen, Bd. 1, S. 43. 4 Ute Gerhard: Schiller als „Religion“, S. 11. 5 Helmut Koopmann: Schiller und die Folgen, S. 85–88. 6 Michael Hofmann: Schiller. Epoche – Werke – Wirkung. München 2003, S. 183f. 7 Christian Grawe: Das Beispiel Schiller. Zur Konstituierung eines Klassikers in der Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts. In: Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1994, S. 638–668, hier S. 639. 8 Vgl. Ute Gerhard: Schiller als „Religion“, S. 25. Ferner vgl. Ute Gerhard: Politische Dimensionen der Schiller-Rezeption in Deutschland im 19. Jahrhundert, S. 19ff. https://doi.org/10.1515/9783110660920-003

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fische Funktionalität der literarischen Zitate, die eine „besondere diskursive Produktivität“ besitzen,9 spiegelt sich vor allem in der Vernetzung der Diskurse wider, und zwar dergestalt, dass im Rahmen der Schiller-Rezeption „die politischen Ereignisse als ein interaktionistisches Drama geformt und lesbar erscheinen.“10 Exemplarisch hierfür ist ein 1850 erschienener Schiller-Almanach auf alle denkwürdigen Ereignisse der Jahre 1848 und 1849, der jeden bedeutenden Schritt der Revolution mit Schiller-Zitaten chronologisch begleitet und rückblickend interpretiert.11 Auch wirkt sich die Politisierung des Dichters in der Rezeption auf die Theaterpraxis aus. In der Wiener Bearbeitung von Schillers Die Jungfrau von Orleans um 1802 etwa wurden weder England noch Frankreich namentlich genannt, um eine national-patriotische Identifikation im Kampf gegen die napoleonische Vormacht zu begünstigen.12 Eine nationale Mobilisierung gelang allerdings vor allem durch Schillers Wilhelm Tell. Als die Soldaten 1813 in die Völkerschlacht von Leipzig zogen, rezitierten sie den Rütlischwur. Die politische Lesart des Schauspiels bekräftigt noch einmal der merkwürdige Sachverhalt, dass am 6. April 1814, dem Tag, an dem Napoleon abdankte, in Berlin eine Aufführung von Wilhelm Tell stattfand, die dann konsequenterweise in eine allgemeine Feier mündete. Abermals schien der historische Zufall die weltpolitische Seherkraft des Dramatikers Schiller zu bezeugen.13 Die politische Deutung Schillers wird vor allem von Heinrich Heine vertreten. In Schiller sieht Heine das Gegenbild zu jenem ahistorischen Ästhetizismus der „Kunstperiode“, der eine aktive Partizipation des Poeten am politischen Handeln strikt ablehnt.14 Während für Heine der Inbegriff der „Kunstperiode“ Goethe ist,

|| 9 Ute Gerhard: Politische Dimension der Schiller-Rezeption in Deutschland im 19. Jahrhundert, S. 20. 10 Ute Gerhard: Schiller als „Religion“, S. 125. 11 [Anonymus]: Schiller-Almanach auf alle denkwürdigen Ereignisse der Jahre 1848 und 1849. Berlin 1850. Beispielsweise wird auf Seite 17 dieses Almanachs zum Aufbruch der Wiener Revolution am 13. März 1848 jener Vers aus Schillers Wilhelm Tell zitiert: „Wer ist so feig, der jetzt noch könnte zagen!“ (IV/2; FA 5, S. 477) Zur Erschießung Robert Blums am 10. November 1849 wird auf Seite 71 ebenfalls aus demselben Auftritt von Tell (IV/2; FA 5, S. 472) zitiert: „Weh mir, daß meine letzten Blicke / Den Untergang des Vaterlands gesehn!“ 12 Zur nationalen Kanonisierung von Tragödienhelden der deutschen Klassik vgl. die Untersuchung von Annemarie Stauss: Schauspiel und Nationale Frage. Kostümstil und Aufführungspraxis im Burgtheater der Schreyvogel- und Laubezeit. Tübingen 2011, S. 105–153. Zur Wiener Bearbeitung der Jungfrau von Orleans und der Kostümgestaltung vgl. insbesondere S. 112ff. 13 Vgl. Barbara Piatti: Tells Theater. Eine Kulturgeschichte in fünf Akten zu Friedrich Schillers Wilhelm Tell. Basel 2004, S. 186f. 14 Die vielzitierte Wendung vom „Ende der Kunstperiode“ geht bekanntlich auf Heinrich Heine zurück, der mit ihr eine neue Epoche der Kunst begrüßt. In dieser neuen Epoche soll die Kunst nicht mehr, wie bei Goethe, „von der Politik des Tages“ getrennt werden. Vgl. Heinrich Heine: Französische Maler. Gemäldeausstellung in Paris 1831. In: ders.: Werke in vier Bänden. Dritter Band, hg. von Karl Pörnbacher. München 1982, S. 29–73, hier S. 72. Zu der Idee der scheidenden Kunstperiode vgl. auch Hans Robert Jauß: Das Ende der Kunstperiode – Aspekte der literarischen Revolution bei

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dessen Werk wie der antike Marmor starr und kalt von dem „jetzigen bewegt warmen Leben“ abgeschnitten sei,15 wird Schiller trotz gelegentlicher Kritik an seiner sprachlichen Überschwänglichkeit zum Vorkämpfer der Freiheit stilisiert,16 der, wie Heine im ersten Buch seiner Romantischen Schule feststellt, für die „großen Ideen der Revolution“ geschrieben, „die geistige Bastillen“ zerstört und kosmopolitisch am „Tempel der Freiheit“ gebaut habe, welcher „alle Nationen, gleich einer einzigen Brüdergemeinde, umschließen soll“.17 Dadurch verschmelzen der Dichter und seine dramatische Figur zu einem einheitlichen welthistorischen Subjekt: „[U]nd er [= Schiller, M. M.] selber ist jener Marquis Posa, der zugleich Prophet und Soldat“ 18 sei und am spanischen Hof als „Abgeordneter der ganzen Menschheit“ (I/2; FA 3, S. 182) auftrete. Zwar versperrt die Gleichsetzung des Dramatikers mit seiner Schöpfung eine kritische Überprüfung des Werks, die der Dichter in seinen „Briefen über Don Karlos“ (FA 3, S. 423–472) selber unternimmt,19 jedoch war die Heroisierung Schillers zur politischen Größe charakteristisch für die populäre Schiller-Rezeption des 19. Jahrhunderts, in dem mehrfach kritische Auseinandersetzungen zwischen Absolutismus und Liberalismus ausbrachen. Freilich ist Gerhard zuzustimmen, wenn sie die Grundlage eines weitreichenden Applikationsverfahrens in der Spruchhaftigkeit der Schillerschen Sprache sieht, aufgrund derer die eingängigen Textstellen auch jenseits ihres ursprünglichen Kontexts bestehen könnten.20 Oellers spricht ebenfalls von den „brauchbaren Formulierungen für politische Diskussion“, die eine funktionalistische Lesart Schillers begünstigen. 21 Dennoch muss an dieser Stelle auf den Doppelcharakter der literarischen Applikation hingewiesen werden, die zugleich Deutung und Vorausdeutung ist. Die Bezugnahme schafft einen bindenden Zusammenhang zwischen Werk und Wirklichkeit, der kraft subjektiver Identifizierung mit den dramatischen Figuren oder Konstellationen wiederum einen Erwartungshorizont evoziert, sodass

|| Heine, Hugo und Stendhal. In: ders.: Literaturgeschichte als Provokation. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1970, S. 107–144. 15 Heinrich Heine: Die Romantische Schule. In: ders.: Werke in vier Bänden. Dritter Band, S. 357– 504, hier S. 395f. – Ein Dokument, das leider in Oellers‘ vorzüglicher Sammlung fehlt. 16 Zu Heines Schiller-Rezeption vgl. vor allem Jost Hermand: Der „überschwängliche“ Schiller. Heines Bild des anderen Weimarer Großdichters. In: Monatshefte 97 (2005), H. 3, S. 478–486. Hermand betont vor allem die differenzierende Sichtweise Heines in seinen Urteilen über Schiller, die sowohl die „politische Engagiertheit“ als auch den Mangel an hinreichender „poetische[n] oder sprachliche[n] Gestaltungskraft“ (S. 478f.) thematisieren. 17 Heinrich Heine: Die Romantische Schule, S. 393. Dort betont Heine: „Er [= Schiller, M. M.] war Kosmopolit.“ 18 Heinrich Heine: Die Romantische Schule, S. 393. 19 Insbesondere beschäftigt sich Schiller im 11. Brief mit dem „Despotismus“ der Idee, der ohne Rücksicht auf das konkrete Individuum mit Gewalt agiert. Vgl. FA 3, S. 465f. 20 Vgl. Ute Gerhard: Schiller als „Religion“, S. 89. 21 Norbert Oellers: Schiller. Geschichte seiner Wirkung bis zu Goethes Tod, S. 303.

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die Dramenhandlung zur vorausweisenden Rahmenbedingung weiterer gesellschaftlich-politischer Entwicklungen wird. Gerade dadurch wird eine politische Interpretation des Schillerschen Dramas erst ermöglicht. Ad absurdum führte Georg Herwegh die politisch intendierte identifikatorische Applikation, indem er als Marquis Posa posierte, als er im November 1842 zu einer Audienz beim preußischen König Friedrich Wilhelm IV. berufen wurde.22 Die literarisch vorgebildete Handlung der Audienzszene in Don Karlos wird als Legitimation sowohl für die Forderung nach Pressefreiheit als auch für die Erwartung auf ein entsprechendes Verhalten des Königs aufgefasst. Allerdings verdeutlicht sich auch hier die Ohnmacht der literarischen Implikation in der Domäne der Machtpolitik, da Friedrich Wilhelm IV. keineswegs bereit war, sich die Rolle des entgegenkommenden Philipps anzunehmen. Der unglückliche Imitator wurde daraufhin des Landes verwiesen.23 Neben der politischen Dimension ist in der allgemeinen Schiller-Rezeption des 19. Jahrhunderts noch eine national-religiöse festzustellen. In seiner Untersuchung über die Kanonisierung Schillers hat Grawe eine „metaphorische Erlöserfunktion“ des kultisch-glorifizierten Dichters im „Geistigen und Weltlichen“, als „Heiland und Kaiser“ zugleich herausgearbeitet.24 Gustav Schwab, der selbst protestantischer Pfarrer war, nannte in seiner Rede anlässlich der Einweihung des Schiller-Denkmals in Stuttgart 1839 dieses ausdrücklich ein „Wallfahrtsbild“,25 denn „nichts stimmt uns mehr zur Andacht, zur Anbetung des lebendigen Gottes, als die Erscheinung und Verkörperung des Genius auf Erden.“26 Zwar äußert sich Karl Gutzkow kritisch über „einen Despotismus des Ruhms, eine Religion Schiller und Göthe“, die als Folge der Restauration tätigkeitshemmend der „literarische[n] Revolution“ im Wege stehe.27 Dennoch war schon beim ersten Schiller-Fest 1825 in Stuttgart eine „säkulari-

|| 22 Vgl. dazu Ute Gerhard: Schiller als „Religion“, S. 171. 23 Vgl. die beiden ironischen Gedichte Heinrich Heines: „Georg Herwegh“ und „Die Audienz“. In: Heinrich Heine: Werke in vier Bänden. Erster Band, g. von Klaus Briegleb. München 1982, S. 339– 340, S. 577–579. 24 Christian Grawe: Das Beispiel Schiller, S. 600. 25 Gustav Schwab: Rede von Gustav Schwab, gehalten bei Enthüllung der Schiller-Statue zu Stuttgart 1839. In: [Anonymus] (Hg.): Schiller-Album zur hundertjährigen Feier der Geburt des Dichters. Eine Festgabe der Freunde Schiller’s in der neuen Welt. Philadelphia 1859, S. 17–20, hier S. 19. 26 Gustav Schwab: Rede von Gustav Schwab, S. 20. 27 Karl Gutzkow: Beiträge zur Geschichte der neusten Literatur. Erster Band. Stuttgart 1839, S. 28. Die Pietät gegenüber der großen Kulturtradition hat Gutzkow als Problematik der Restauration diagnostiziert: „Nach dem Sturz der romantischen Schule wurde die klassische Periode unsere Literatur, statt fortgesetzt, angebetet. – Ein Andenken, welches lebenskräftig auf den Nachwuchs der Generation wirken sollte, verwandelte man in Marmor; mit den Büsten Schiller und Göethe begann eine Herrschaft, welche nicht weniger demüthigend ist, die Herrschaft des Ruhms“ (S. 27). Die neu etablierte geistige Aristokratie durch Kanonisierung und Idolisierung der Vergangenheit solle Gutzkow zufolge durch Kritik beseitigt werden: „Kritische Würgengel und Valkyren stürmten über die Literatur der Restaurationsperiode her und befreiten uns von einer Vergangenheit, die uns

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siert[e] Religiosität“ zu beobachten.28 Die Konvergenz des Patriotischen und Sakralen lässt sich durchaus als eine mit Sehnsucht erfüllte Kompensation der fehlenden faktischen Einheit der Nation deuten.29 Diese Symbiose wird insbesondere während der Schiller-Feier 1859 evident, bei der der Schiller zum Messias der deutsche Vereinigung stilisiert wurde.30

3.1.1 Das Schiller-Fest 1859 in Berlin Das hundertjährige Jubiläum Schillers im November 1859 bot Anlass zu verschiedenen Feierlichkeiten, deren Gestaltung und Verlauf gut dokumentiert sind. Stellvertretend wird im Folgenden auf die Schiller-Feiern in Berlin und Wien eingegangen sowie nach deren Stellenwert für die Konstituierung des Schiller-Bilds hin gefragt. Insgesamt urteilt Karl Obermann, dass es sich bei der Schiller-Feier „weniger um eine literarische als um eine politische Würdigung der Werke Schillers“ handle.31 Sowohl bei der Planung als auch bei der Durchführung und in der medialen Wahrnehmung der Feierlichkeiten wurde in erster Linie das politische Moment akzentuiert. Das ursprüngliche Berliner Festprogramm sah eine „große, dreitätige, möglichst allgemeine und öffentliche Schillerfeier“ vor.32 Geplant waren unter anderem ein beträchtlicher Sternenzug zum Gendarmenmarkt am 9., sowie zahlreiche Festvorstellungen und Illumination am 10. November. Im Antrag auf Erlaubnis des Festzugs hob das Organisationskomitee vorzugsweise das politische Moment der Einheitsbewegung hervor: „Es wird auch an höchster Stelle nicht verkannt werden, wie das bevorstehende Fest in jedem Betracht einen geistigen Mittelpunkt für die nationale Einigung des Vaterlandes bildet.“33 Jedoch erteilte das zuständige Berliner Polizeipräsidium keine Genehmigung, auch die beim Innenministerium eingereichte Berufung konnte keine Revision erwirken.34 Neben der offiziell angeführten notwendigen Rücksichtnahme auf den Gesundheitszustand des obgleich entmachteten || um allen Fortschritt betrügen zu wollen schien“ (S. 26). Denn die Kritik „stürzte das Götzenthum und zerrieb den Marmor, welcher auf das Genie so störend wirkte“ (S. 28). 28 Rainer Noltenius: Dichterfeiern in Deutschland. Rezeptionsgeschichte als Sozialgeschichte am Beispiel der Schiller- und Freiligrath-Feiern. München 1984, S. 73. 29 Michael Hofmann: Schiller. Epoche – Werke – Wirkung, S. 184. 30 Vgl. Rainer Noltenius: Die Nation und Schiller. In: Helmut Scheuer (Hg.): Dichter und ihre Nation. Frankfurt a. M. 1993, S. 151–175. 31 Karl Obermann: Die deutsche Einheitsbewegung und die Schillerfeiern 1859. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 3 (1955), S. 705–734, hier S. 719 32 Thorsten Logge: Zur medialen Konstruktion des Nationalen. Die Schillerfeiern 1859 in Europa und Nordamerika. Göttingen 2014, S. 47. 33 Zitiert nach Karl Obermann: Die deutsche Einheitsbewegung und die Schillerfeier 1859, S. 725. 34 Vgl. Thorsten Logge: Zur medialen Konstruktion des Nationalen, S. 48.

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Königs Friedrich Wilhelm IV. durfte die Befürchtung vor einer etwaigen Eskalation der Versammlung eine Rolle bei den Behörden gespielt haben. Man hatte wohl Angst vor einer revolutionären Massenbewegung, denn am 10. November wurde nicht allein Schiller vor hundert Jahren geboren, sondern vor einem Dezennium auch der Märzrevolutionär Robert Blum erschossen. Die Tatsache, dass Blum selber in den 1840er Jahren eine der zentralen Figuren des Leipziger Schillervereins gewesen ist,35 verstärkt nochmals die potentielle politische Sprengkraft der geplanten Festveranstaltung. Aus einem Frankfurter Polizeibericht geht hervor, dass die zeitgenössische Öffentlichkeit durchaus im Begriff war, mit Schiller auch Blum zu würdigen: Einen besonders wichtigen Abschnitt innerhalb der Festlichkeiten dürfte die von der demokratischen Partei auf den 10. November früh 9 Uhr im Kaisersaal zu veranstaltende „Gedächtnisfeier“ bilden. Jederman weiß, daß es sich da hauptsächlich um eine Gedächtnisfeier für R. Blum handelt! Seit Montag ist kein Billet zu dieser Feier mehr zu erhalten.36

Obwohl die Schiller-Feiern deutschlandweit vorwiegend von dem Bildungsbürgertum getragen und vom Klerus und der Aristokratie boykottiert wurden,37 blieb die Obrigkeit nicht untätig: Prinzregent Wilhelm, der seit 1858 im Amt war, hatte einen mit Tausend Talern dotierten Schiller-Preis gestiftet, um „das Andenken des großen Dichters durch eine zur Förderung des geistigen Lebens im deutschen Volke geeignete Stiftung zu ehren.“38 Ausschlaggebend für diese Entscheidung war zum einen das Prinzip der Kulturstaatlichkeit, das die Pflege und Förderung der Künste angesichts des Funktionswandels derselben von höfischer Repräsentation zu bürgerlichem Bildungsgut als Aufgabe des Staates auffasst.39 Als erster Gliederstaat des Deutschen Bundes gründete Preußen im Jahre 1817 ein eigenständiges „Kultusministerium“; seit 1850 verstärkte sich das Engagement der preußischen Regierung für die kulturelle Agenda.40 Zum anderen stellt die Einführung des Schiller-Preises den

|| 35 Zu Blums Tätigkeit im Leipziger Schillerverein vgl. Albert Ludwigs Darstellung: „Da war er [= Robert Blum, M. M.] anders in seinem Element, wenn es galt, Schillers sittliche Größe, seine prophetisch-historische Bedeutung, seinen Kampf für Wahrheit, Völkerwohl und Freiheit zu feiern […].“ Albert Ludwig: Schiller und die deutsche Nachwelt. Berlin 1909, S. 214f. 36 Vgl. den Polizeibericht am 5. November 1859. Zitiert nach Karl Obermann: Die deutsche Einheitsbewegung und die Schillerfeier 1859, S. 716f. 37 Vgl. die Statistiken bei Rainer Noltenius: Dichterfeier in Deutschland, S. 248ff. 38 Vgl. das königliche Patent zur Stiftung des Schiller-Preises, das abgedruckt ist bei [Karl Tropus] (Hg.): Schiller-Denkmal. Festausgabe. 2 Bde. Berlin 1860, Bd. 1, S. 21–24, hier S. 21. 39 Zur Kulturstaatlichkeit vgl. Bärbel Holtz: Preußens Kulturstaatlichkeit im langen 19. Jahrhundert im Fokus seines Kultusministeriums. In: Wolfgang Neugebauer und dies. (Hg.): Kulturstaat und Bürgergesellschaft. Preußen, Deutschland und Europa im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Berlin 2010, S. 55–77. Ferner vgl. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften: Preussen als Kulturstaat. Berlin 2007, S. 10ff. 40 Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften: Preussen als Kulturstaat, S. 10.

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Versuch des preußischen Hofs dar, seinerseits die kultische Verherrlichung Schillers und die proklamierte Einheit der Kulturnation zu begrüßen und vor allem staatlich zu steuern. Denn keineswegs wurden die Preußischen Regulative von 1854, die die Beschäftigung mit klassischer Literatur zum Unterrichtszweck verboten, aufgehoben.41 Eine öffentliche, unkontrollierte Feier mit allgemeiner Teilnahme konnte der Staat deshalb ebenso wenig zulassen.42 Da die Durchführung des geplanten Festprogramms in aller Öffentlichkeit untersagt wurde, griff das Berliner Schiller-Komitee den Vorschlag des Innenministeriums auf, die gesammelten Spenden nun für ein Schiller-Denkmal zu verwenden, dessen Grundstein feierlich am 10. November unter polizeilichem Großaufgebot gelegt werden sollte.43 Das Denkmal als Institution des kulturellen Kollektivgedächtnisses vermöge, so Aleida Assmann, die ästhetische Grundspannung zwischen Historismus und Apotheose zu vermitteln, weil es „die abstrakte Idee der Nation versinnlichen und ihr die Aura des Numinosen geben“ könne.44 Es trage, um mit Thomas Nipperdey zu sprechen, zur „Musealisierung“ von nationaler Geschichte und Heroen bei und lasse sich deshalb als Inkarnation der Kulturnation begreifen.45 Insofern ist die Stiftung des Nationaldenkmals ein Versuch, „der nationalen Identität in einem anschaulichen, bleibenden Symbol gewiß zu werden“.46 Die Verklärung des Dichters und deren gegenständliche Befestigung in Gestalt von Statuen dienen sowohl der Inszenierung der gemeinsamen Vergangenheit als auch der Verpflichtung und Ermahnung zur Realisierung der künstlerisch und kulturpolitisch vorweggenommenen Einheit der Nation. Darum kann das kulturelle Denkmal als ein die nationale Idee verkörperndes Erinnerungsmedium mit zukunftsweisender Funktion charakterisiert werden. Derselbe Gedanke liegt auch der öffentlichen Urkunde für das Schiller-Denkmal zugrunde, die Schiller entschieden als Dichter der Nation feierte: Dem deutschen Vaterlande warm ergeben im tiefen Denken, begeistert für die höchsten Ideale der Menschheit, […] ward Schiller in schwerer Zeit ein leuchtendes Vorbild seinen Zeitgenossen, zur Belehrung, zur Ermuthigung, zur Erhebung. Dem lebenden Geschlechte ist nach 100 Jahren unvergessen, was der große Dichter und Denker für deutsche Sprache, deutsche Kunst

|| 41 Vgl. Ludger Lütkehaus: Hebbels Schiller-Feier – unsere Hebbel-Feier. Dichterfeste zwischen Jubiläum und „Jubilitis“. In: Hebbel-Jahrbuch (44) 1989, S. 231–242, hier S. 235. 42 Thorsten Logge: Zur medialen Konstruktion des Nationalen, S. 47ff. 43 Vgl. Rainer Noltenius: Dichterfeier in Deutschland, S. 78f. 44 Aleida Assmann: Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee. Frankfurt a. M. 1993, S. 48f. 45 Vgl. Thomas Nipperdey: Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert. In: ders.: Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte. Göttingen 1976, S. 133–173, hier S. 149f. 46 Thomas Nipperdey: Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, S. 135.

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und deutsche Wissenschaft durch seine Werke von Geschlecht zu Geschlecht fortwirkend geschaffen.47

Indem hier das Verdienst Schillers insbesondere für das „deutsch[e] Vaterland“ akzentuiert wird, entsteht ein verbindendes Moment der nationalen Einheit in Schiller. Im Kontext der deutschen Einheitsbewegung, insbesondere in Anbetracht der Gründung des „Deutschen Nationalvereins“ im Juni 1859 stellt die Schiller-Feier eine Chance dar, uneingeschränkt der Einheitsforderung öffentlich Nachdruck zu verleihen.48 Unverhohlen bringt Wilhelm Raabe in seinem Festgedicht zur SchillerFeier in Wolfenbüttel die Kongruenz von patriotisch-militärischem und religiösem Pathos in der Dichtergestalt zum Ausdruck: Um Einen Führer schaaren sich die Stämme, Die Schranken fallen ein, zerbrochen sind die Dämme; Der Franken Herz, das Herz der Schwaben, Baiern, Sachsen, Zum Herz des Vaterland’s in ihm zusammenwachsen! […] Das deutsche Reich, so ist’s noch nicht verloren, Der deutschen König ist auf’s Neue so erkoren, Des Geistes Reich auf’s Neue fest gegründet, Des Geistes Volk zum Kampf und Sieg verbündet.49

Der Dichter wird zum „Führer“ eines überterritorialen, kampfbereiten Nationalstaats gekrönt: Er stellt durch seine charismatische Kraft die Fortexistenz des gesamten „deutsche[n] Reich[s]“ sicher und erhält deshalb auch messianische Züge. Die im ersten Teil des Gedichts aufgeworfenen, Schillers Wilhelm Tell entnommenen rhetorischen Fragen – „Wird nie der Retter kommen diesem Lande? / Wird kein Befreier lösen uns’re Bande? / Wird der Messias nie erscheinen in der Welt?“50 – werden performativ durch den explizierten Kontext des Schiller-Jubiläums mit dem Verweis auf den Dichter-Heiland beantwortet. Insofern kann Raabes Gedicht als die Festschreibung eines Schiller-Bilds betrachtet werden, das den Dichter als Repräsentanten der gemeinsamen Kulturtradition emphatisch präsentiert und ihn dadurch – nicht ohne christologische Anspielungen – als Vorreiter der politischen Vereinigung Deutschlands inszeniert. Die Neufundierung des Reichs erfolgt, wie Rainer Noltenius trefflich formuliert, nicht allein durch Schiller, sondern vor allem in Schiller.51

|| 47 „Urkunde für den Grundstein des Schiller-Denkmals“, zitiert nach: [Karl Tropus] (Hg.): SchillerDenkmal, Bd. 1, S. 24f. 48 Vgl. Karl Obermann: Die deutsche Einheitsbewegung und die Schillerfeiern 1859. 49 Jakob Corvinus [Wilhelm Raabe]: Zum 10. November 1859. In: [Karl Tropus] (Hg.): SchillerDenkmal, Bd. 2, S. 470–472. 50 Jakob Corvinus [Wilhelm Raabe]: Zum 10. November 1859, S. 470. Vgl. FA 5, S. 394: „Wann wird der Retter kommen diesem Lande?“ 51 Vgl. Rainer Noltenius, Die Nation und Schiller, S. 169.

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Nicht nur in der Konzeption, sondern auch in seiner medialen Präsentation wurde das Berliner Schiller-Fest zum Imaginationsraum nationaler Einheit. Thorsten Logges Untersuchung zur Berichterstattung der verschiedenen Schiller-Feiern hat gezeigt, dass sich die kulturelle Identität sowohl vertikal durch den standesübergreifenden Erinnerungsakt an den einen Dichter, als auch horizontal durch die Vergegenwärtigung gleichzeitiger, anderwärtiger Festlichkeiten konstituiert hat.52 Die Berliner „National-Zeitung“ beispielsweise schrieb am 14. Oktober 1859: In jeder Stadt, in jedem Flecken Deutschlands [,..] wird das Gefühl überall das mächtigste, das ergreifendste sein, dass gleichzeitig allüber im deutschen Vaterland […] die Angehörigen deutsche Nation in Einem Aufschwunge sich erheben und in Einer Empfindung ein Fest feiern, welches sie daran erinnert, dass alle Verschiedenheit der Stämme, dass die größte Zersplitterung des politischen und gesellschaftlichen Lebens noch ihren Einigungspunkt finden in dem Bewusstsein, eine Nation zu sein, geeint in einer großen Geschichte und gemeinsamen Kultur.53

Es etabliere sich, so Logge weiter, eine synchrone Erinnerungs- und Handlungsgemeinschaft, 54 deren innere Zusammengehörigkeit in der medialen Vernetzung sichtbar und damit auch konkret erfahrbar werde. Daher nennt er in Bezug auf ihre Sozialgenese die Nation als eine „Imagined Community“, die als „Medienereignis“ während des Schiller-Fests und vor allem in seiner publizistischen Wiedergabe auffallend klar wird.55 Um der Kuriosität willen sei es angemerkt, dass das Schicksal des SchillerDenkmals, das heute den Berliner Gendarmenmarkt ziert, just die religiöspatriotische Deutung des Dichters während der Jubiläumfeier zu bestätigen scheint. 1869 fertiggestellt, wurde die Statue erst am 10. November 1871, im Jahre der Reichsgründung also, eingeweiht. Insofern bewahrheitet sich jener Toastspruch Theodor Fontanes am Vorabend des hundertsten Geburtstags von Schiller: „Und Schiller kam – und Deutschland war geeinigt.“56

|| 52 Vgl. Thorsten Logge über die Berichterstattung der Berliner „Volkszeitung“: „Das Blatt fordert icht nur die nationale Einheit in der Schillerfeier, es bildete sie zugleich ab und fördert den nationalen Diskurs durch die Bereitstellung nationaler Deutungsangebote für Schiller, seine Werke und die Schillerfeier selbst.“ Thorsten Logge: Zur medialen Konstruktion des Nationalen, S. 64. 53 Berliner National-Zeitung, 14. Oktober 1859, Morgenausgabe S. 1. Zitiert nach Thorsten Logge: Zur medialen Konstruktion des Nationalen, S. 70. 54 Vgl. Thorsten Logge. Zur medialen Konstruktion des Nationalen, S. 402. 55 Vgl. Thorsten Logge. Zur medialen Konstruktion des Nationalen, S. 402. 56 Theodor Fontane: Toast. Zitiert nach Norbert Oellers (Hg.): Schiller – Zeitgenosse aller Epochen, Bd. 1, S. 507.

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3.1.2 Hebbels Schiller-Fest 1859 in Wien Anders als in Berlin wurde die Wiener Schiller-Feier vom Hof tatkräftig unterstützt: „Seine k. k. apostolische Majestät“ habe sich „an die Spitze der erhebenden Feier“ gestellt und nicht allein finanzielle Mittel, sondern auch etliche Festräume in der Hofburg zur freien Verfügung angeboten.57 Dies schien umso notwendiger, als Österreich erst vor kurzem den sardinischen Krieg verloren hatte und in den Frieden von Villafranca einwilligen musste. In seiner Hebbel-Biographie schreibt Emil Kuh, dass „das hundertjährige Geburtsfest Schillers“ nun „auf Solferino und Magenta“, also auf zwei Niederlage des österreichischen Militärs folgen müsse.58 Erst recht musste daher die einheitsstiftende Funktion des Festwesens in Wien betont werden, weil mit der Schiller-Feier nicht nur die kulturstaatlich gelenkte Ehrung eines Dichters, sondern auch eine „innenpolitische Integration“ bezweckt werden kann.59 Das Festprogramm sah unter anderem einen großen Fackelzug am 8., eine Festvorstellung im Burgtheater am 10. sowie abschließend ein festliches Bankett im Wiener Sophiensaal am 12. November vor.60 Der Fackelzug verlief trotz großen Andrangs reibungslos; bei der ausverkauften Festvorstellung, welche unter kaiserlicher Anwesenheit und der höfisch-repräsentativen Öffentlichkeit stattfand, handelte es sich um ein Festspiel Friedrich Halms sowie eine Aufführung von Schillers Demetrius in seiner überlieferten fragmentarischen Gestalt unter der Leitung von Heinrich Laube.61 Hebbel nahm sowohl an der Schillerfeier des Wiener Journalistenvereins „Concordia“62 als auch an dem öffentlichen Fackelzug teil. Er schätzte den Letzteren mit || 57 Vgl. Friedrich Steinebach: Die Schiller-Feier in Wien. Zur Erinnerung an Schiller’s hundertsten Geburtstag am 10. November 1859. Wien 1859, S. 66. 58 Emil Kuh: Biographie Friedrich Hebbel’s, Bd. 2, S. 617. 59 Vgl. Thorsten Logge: Zur medialen Konstruktion des Nationalen, S. 110. 60 Vgl. zur Festbeschreibung Friedrich Steinebach: Die Schiller-Feier in Wien, S. 70ff. Ferner Thorsten Logge: Zur medialen Konstruktion des Nationalen, S. 91. Zur Festaufführung des Schillerschen Demetrius-Fragments im Burgtheater vgl. Heinrich Laube: Das Burgtheater. Ein Beitrag zur Deutschen Theater-Geschichte. Leipzig 1868, S. 369. 61 Heinrich Laube: Das Burgtheater, S. 371f. Dargestellt wurden die ersten anderthalben Akte, bis jenen großen Monolog Marfas in II/1: „Es ist mein Sohn …“ FA 10, S. 582. 62 Zur Geschichte des Wiener Journalistenvereins vgl. Peter Eppel: „Corcodia soll ihr Name sein…“ 125 Jahre Journalisten- und Schriftstellerverein „Concordia“. Eine Dokumentation zur Presse- und Zeitgeschichte Österreichs. Wien 1984. Hebbel bezieht sich in einem Brief ausdrücklich auf die – allerdings nicht erhaltene – Rede Frank Schuselkas, mit der dieser als Vorsitzender des frisch gegründeten Journalistenvereins „Concordia“ die vereinsinterne Feier am Theater an der Wien am 7. November eröffnete. Der Name des Vereins ist offenbar ein Zitat aus Schillers „Lied von der Glocke“. (Vgl. B 2079, an Franz Dingelstedt, datiert 13. November 1859. WAB 3, S. 833f; ferner FA 1, S. 67, v. 392f: „Daß wir die Glocke taufend weihen, / Concordia soll ihr Name sein [.]“) Allerdings war Hebbel nicht Mitglied des Vereins. (Vgl. Das Gesamtregister der Mitgliedschaft bei Peter Eppel: „Corcodia soll ihr Name sein…“, S. 353ff.) Hebbel geht gar nicht auf die politische Brisanz der Rede

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Beteiligung „alle[r] Gewerke“ sogar als eine „echte National-Feier“ (TBR 5617 / TBW 5760). Auch wohnte er der Festvorstellung bei und war Kuhs biographischer Darstellung zufolge „wieder so tief ergriffen“, „daß er zu mir sagte: Es fragt sich noch sehr, ob nicht Schiller mit seiner wie die Seewoge fortreißenden, typischen Behandlung des Dramas Recht hat und ob unser Einer nicht auf der falschen Fährte ist!“63 Im Vorfeld des Schiller-Fests unterzeichnete Hebbel ferner den in der Wiener Presse veröffentlichten Aufruf zur Gründung einer „Deutschen Schiller-Stiftung“, die die materielle „Lebenssorge“ der Schriftsteller und ihre Hinterbliebenen durch finanzielle Hilfe erleichtern wollte.64 Nicht zuletzt war die Säkularfeier auch für ihn poetisch inspirierend: Er dichtete am Geburtstag Schillers eine „Haupt-Scene“ seiner Nibelungen, „Siegfrieds Geburt behandelnd“, auf die noch zu sprechen sein wird (TBR 5620 / TBW 5763; s. auch Kap. 7.3.2). Zudem verteidigte Hebbel, freilich nicht ohne Vorbehalt und Seitenhieb auf die preußische Zensur, die Stiftung des preußischen Schiller-Preises gegen die Kritik Karl Gutzkows, der die Preisgelder als eine Gefährdung der Kunstautonomie und des „Ehrgefühl[s]“ der Schriftsteller ansah.65 Hebbel hingegen begrüßte die Entscheidung des preußischen Prinzregenten gerade aufgrund des Prinzips der Kulturstaatlichkeit: „Nach unserer Meinung hat die Literatur alle Ursache, sich dazu Glück zu wünschen, denn es ist das erste Mal, daß der Staat […] ihr gegenüber feierlich eine Verpflichtung übernimmt“ (W 12, S. 262), obwohl Schillers Wilhelm Tell „von einem Vorgänger des Prinz-Regenten aus dem Theaterrepertoire der Metropole eigenhändig gestrichen wurde.“ (W 12, S. 263)66 Gegen das etwaige Bedenken bezüglich der Selbstständigkeit eines Künstlers und der Ernsthaftigkeit seiner Hingabe an die Kunst vor dem Hintergrund der finanziellen Verlockung und der Konkurrenz

|| ein – er spricht lediglich mit leichter Ironie über Schuselkas Formulierung, Schiller habe für das Volk „Himmelsbrot“ gebacken (WAB 3, S. 833). In Wirklichkeit hat Schuselka, der 1848 in der Aula der Wiener Universität öffentlich die Pressefreiheit forderte und deshalb seinem Publikum als revolutionär galt, in seine Rede trotz polizeilicher Vorzensur „wahre Brandstücke von Sätzen eingeschoben, die, mit der flammenden Redegabe des politisch-religiösen Agitators des Jahres 1848 in das Haus geworfen, eine Entzündung des Freiheitsstrebens der ungezählten Versammlung hervorriefen,“ wie der Mitorganisator Friedrich Uhl berichtete. (Zitiert nach Peter Eppel: „Corcodia soll ihr Name sein…“, S. 29.) Zur Schillerfeier der „Concordia“ vgl. auch Thorsten Logge: Zur medialen Konstruktion des Nationalen, S. 88f. 63 Vgl. Emil Kuh: Biographie Friedrich Hebbel’s, Bd. 2, S. 618. 64 Vgl. Wiener Zeitung, Nr. 257. 15. Oktober 1859. S. 4349, mittlere Spalte. 65 Zu Gutzkows Kritik am Schiller-Preis vgl. Wolfgang Sowa: Der Staat und das Drama. Der Preußische Schillerpreis 1859–1918. Frankfurt a. M. 1988, S. 104f. Gutzkow publizierte seine Kritik unter dem Titel „Tausend Thaler für das ‚beste Drama‘“ in: Unterhaltungen am häuslichen Herd. Neue Folge. Bd. 5, S. 158–160, S. 252–255. 66 Nach der Julirevolution wurde Wihlem Tell für etwa zehn Jahre in Preußen verboten. Vgl. Carter Kniffler: „Wilhelm Tell“ – heute als Schullektüre? In: Der Deutschunterricht 23 (1971), H. 5, S. 53–65, hier S. 57.

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argumentiert Hebbel nun mit keinem Geringeren als Schiller, indem er dessen neunten Brief über die ästhetische Erziehung zitiert, welcher den Künstler auffordert, das Urteil der Zeit zu verachten und sich allein am Ideal zu orientieren: Er [= der Künstler, M. M.] blicke aufwärts nach seiner Würde und dem Gesetz, nicht niederwärts nach dem Glück und nach dem Bedürfniß. […] [E]r aber strebe, aus dem Bunde des Möglichen mit dem Nothwendigen das Ideal zu erzeugen […] und werfe es schweigend in die unendliche Zeit. (W 12, S. 269)67

Dass dieses Schiller-Zitat eine bedeutsame Rolle in der Ausformung der eigenen ästhetischen Überzeugung Hebbels spielen wird, sei an dieser Stelle vorweggenommen (vgl. Kap. 4.3.4). Der Vollständigkeitshalber sei hier noch erwähnt, dass es ausgerechnet Hebbel war, der 1863 aufgrund seiner Nibelungen-Trilogie als Erster den Schiller-Preis erhielt.68 Jedoch verhielt sich Hebbel den öffentlichen Festlichkeiten gegenüber eher zurückhaltend und blieb, so Kuh, „allen öffentlichen Kundgebungen der ‚Begeisterung‘ fern.“69 Anstatt am offiziellen prominenten Bankett teilzunehmen, veranstaltete er zuhause eine eigene Feier zum „Gedächtnis des großen Dichters, der auch auf mich in der Jugend gewirkt hat, wie kein anderer“, und rezitierte dabei sein Lieblingsgedicht Schillers, den „Spaziergang“ (TBR 5622 / TBW 5765). Er trat dem Wiener Filialkomitee der Schiller-Stiftung nicht bei,70 obwohl er von den Initiatoren zur Unterstützung des „im besten Sinne des Wortes deutsche[n] Unternehmen[s]“ aufgefordert worden war.71 Vor allem kritisiert er die Gründung der Schiller-Stiftung wegen deren caritativen Charakters.72 Schillers Beispiel beweise, stellt Hebbel 1848 in || 67 Das Zitat stammt von Friedrich Schillers Abhandlung „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“, hier FA 8, S. 585 (9. Brief). 68 Vgl. die folgenden Briefe Hebbels: B 2837, B 2839, B 2840, B 2841. WAB 4, S. 761–763. Über die fehlgeschlagene Preisverleihung im Jahre 1860 vgl. Wolfgang Sowa: Der Staat und das Drama, S. 117–146. Zunächst wurde Gustav Freytag für sein historisches Drama Fabier nominiert. Allerdings konnte sich die Kommission nicht auf diese Wahl einigen. Es wurde deshalb vorgeschlagen, den Preis sowohl an Freytag als auch an Gustav zu Putlitz mit seinem Testament des großen Kurfürsten zu verleihen. Freytag reagierte schnell und lehnte die geteilte Auszeichnung ab, bevor sie bekannt gemacht werden konnte. Vgl. Freytags Brief an den Kultusminister von Bethmann-Hollweg am 30. Oktober 1860, abgedruckt bei Wolfgang Sowa: Der Staat und das Drama, S. 370–372. Schließlich ordnete der Prinzregent Wilhelm selber an, den Schiller-Preis „in Ermanglung eines vollkommen geeigneten Werks“ diesmal auszusetzen. Vgl. Wolfgang Sowa: Der Staat und das Drama, S. 134. 69 Emil Kuh: Biographie Friedrich Hebbel’s, Bd. 2, S. 618. 70 Vgl. W 10, S. 281. Zu den Schiller-Vereinen vgl. Gabrielle Stadler: Dichterverehrung und nationale Repräsentanz im literarischen Leben des 19. Jahrhunderts. Studien zur Geschichte der Schillervereine im 19. Jahrhundert. München 1977. 71 Vgl. B 2075, von dem Filial-Komitee der deutschen Schillerstiftung, datiert Oktober 1859. WAB 3, S. 829. 72 Vgl. Susanne Schwabach-Albrecht: Hebbel und die Deutsche Schillerstiftung. In: HebbelJahrbuch (54) 1999, S. 197–210.

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seiner großen Rezension über dessen Briefwechsel mit Körner fest, „daß die innere Entwicklung eines von der Natur hinreichend ausgestatteten Geistes nicht so sehr von der äußeren Lage abhängt, wie man gewöhnlich annimmt […].“ (W 11, S. 130) Höchstwahrscheinlich mit Selbstbezug bestreitet er eine Überbetonung der Armut, „wenn man meint, sie könne Talente ersticken.“ (W 11, S. 130) Deshalb denke er, obgleich er die Einrichtung als „ein bedeutsames Zeichen der mehr erstarkenden Einheit unseres Volkes“ willkommen hieß, dennoch „wie Jakob Grimm“,73 der die Schiller-Stiftung abwertend als eine „Armenanstalt für mittelmäßige Schriftsteller“ bezeichnete.74 Noch 1862 kritisierte Hebbel, der „Schiller-Verein“ habe sich „als Armenhaus, statt als Academie, constituirt und vertheilt Allmosen an die Scribenten, statt Pensionen für die Autoren von Rang und Bedeutung auszusetzen.“75 Nach wie vor wehrte sich Hebbel gegen die Verflachung der Schiller-Ehrung und die Förderung der Unzulänglichen im Namen des großen Dichters. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich Hebbel trotz Anerkennung des patriotischen Moments dennoch von der öffentlichen Gestaltung des SchillerJubiläums und der unreflektierten Euphorie distanziert hat. Ende 1859 schrieb er rückblickend an Hermann Hettner: Was haben Sie zu unserer Schiller-Feier gesagt? Politisch betrachtet, war sie gewiß äußerst erfreulich, obgleich man wohl auch in dieser Beziehung zu viel hinter ihr suchte; sonst aber fiel sie als ein Oesterreichsches Familien-Fest aus, bei dem sich uns’re Versmacher gegenseitig krönten und von dem sich jeder Vernünftige weislich entfernt hielt.76

Damit werden die beiden Hauptgründe für Hebbels nüchterne Einschätzung der Feierlichkeiten genannt: zum einen die politische Überinterpretation, zum anderen die Trivialisierung der Erinnerungsformen.

3.1.3 Gegen Politisierung und Trivialisierung: Hebbels Wallenstein-Rezension Grundsätzlich steht Hebbel den revolutionären Ambitionen seiner literarischen Zeitgenossen skeptisch gegenüber und beurteilt dementsprechend kritisch das Konzept einer von politischer Intention geleiteten Kunst. In seinem Aufsatz „Ueber Lite-

|| 73 Vgl. B 2094, an das Filial-Komitee der deutschen Schillerstiftung, datiert 31. Januar 1860. WAB 4, S. 4. 74 Jacob Grimm: Rede auf Schiller. In: Norbert Oellers: Schiller – Zeitgenosse aller Epochen, Bd. 1, S. 439–456, hier S. 453: „Man hat eine Schillerstiftung erdacht und schon durch ganz Deutschland verbreitet, der Gedanke ist matt und unbestimmt oder unbeholfen. Wozu auf diesen glänzenden Namen gegründet eine Armenanstalt für mittelmäßige Schriftsteller, für Dichterlinge, denen von aller Poesie abzuraten besser wäre als sie noch aufzumuntern?“ 75 B 2599, an James Marshall, datiert 4. November 1862. WAB 4, S. 517. 76 B 2089, an Hermann Hettner, datiert 31. Dezember 1859. WAB 3, S. 845.

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ratur und Kunst“ polemisierte er schon 1840 gegen die Umsturzlust seiner Zeit, die sich gerne für das Faß Pulver halte, „das bestimmt ist, das Felsen-Fundament, worauf die ganze sittliche und religiöse Welt ruht, in die Luft zu sprengen“ (W 10, S. 395). Wohlgemerkt publiziert Hebbel diesen Aufsatz in dem von Karl Gutzkow herausgegebenen Telegraph für Deutschland, einem Organ, das durchaus im Zeichen des Jungen Deutschlands stand. Für Hebbel ist die Kunst „keine Hebamme“ (W 10, S. 395), also keine Geburtshelferin der politischen Idee in die Wirklichkeit. Die Kritik an einer politischen Indienstnahme Schillers lässt sich besonders deutlich an Hebbels Besprechung über die Wallenstein-Aufführung am Wiener Burgtheater Ende September 1848 ablesen, das kurz vor dem Wiener Oktoberaufstand die Schillersche Trilogie zum allerersten Mal in ihrer Gesamtheit auf die Bühne der österreichischen Hauptstadt gebracht hatte.77 In der angespannten Atmosphäre des Revolutionsjahrs war das Schiller-Bild der Öffentlichkeit politisch äußerst aufgeladen. Heinrich Laubes Drama Die Karlsschüler, dessen Protagonist Schiller ist, konnte einen außerordentlichen Erfolg für sich verbuchen, als es am 24. April 1848 in Wien aufgeführt worden war. Heinrich Anschütz erinnert sich: [E]in neues Drama, dessen Held Schiller war, der vorgezogene Liebling des deutschen Publicums und – der Jugend! ein neues Drama, welches den Kampf des gefesselten Geistes gegen tyrannischen Druck als Vorwurf und den Sieg der neuen Zeit als triumphirenden Abschluß bot! […] Jede Anspielung auf Schiller, auf Freiheit und Recht, jeder Ausfall auf Gewalthaber, auf Adelswillkür und Adelsschwächen, jede Illustration des Bürgerthums wurden der Gegenstand schrankenlosen Jubels, und Laube, Fichtner und Schiller wurden auf eine Weise gefeiert, daß man kaum unterscheiden konnte, wer eigentlich den beiden anderen am meisten zu Dank verpflichtet sei.78

Es ist gerade eine solche politisierende Auslegung des Schillerschen Dramas, die lehnt Hebbel dezidiert ablehnt. Zwar lobt er in seiner Theaterkritik über die Wallen-

|| 77 Gespielt wurde bis dahin, wenn überhaupt, immer die Bearbeitung Joseph Schreyvogels aus dem Jahre 1827, die, Wallensteins Lager komplett und Die Piccolomini zur Hälfte auslassend, mit der großen Bankettszene im 4. Akt der Piccolomini einsetzt und das Stück um ein Bedeutendes verkürzt, damit es theatergerecht wurde. Erst am 28. September 1848 kam Wallensteins Lager zum ersten Mal in Wien auf die Bühne; es folgen am 29. September Die Piccolomini und am 30. September dann schließlich Wallensteins Tod. Vgl. Franz Hadamowsky: Schiller auf der Wiener Bühne 1783–1959. Wien 1959, S. 99f. Zu den Ausführungen vgl. auch die folgenden Ausgaben der „Wiener allgemeine[n] Theaterzeitung“, die von Adolf Bäuerle redigiert wurde und als Anhang zum „Oesterreichische[n] Curier“ erschienen war: Nr. 235 (Sonnabend den 30. September 1848), S. 948, linke Spalte (Über Wallensteins Lager); Nr. 236 (Sonntag den 1. Oktober 1848), S. 952, mittlere Spalte (Über Die Piccolomini); Nr. 237 (Mittwoch den 3. Oktober 1848), S. 956, mittlere Spalte (Über Wallensteins Tod). 78 Heinrich Anschütz: Erinnerungen aus dessen Leben und Wirken. Wien 1866, S. 429. Vgl. auch die Erinnerung Laubes über die „stürmische Aufnahme“ seines Stücks. Heinrich Laube: Das Burgtheater, S. 147f.

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stein-Aufführung, die am 5. Oktober gedruckt wurde, allgemein das Publikumsverhalten. Dennoch, so hat er festgestellt, unterbleibe bedauerlicherweise das vermaledeite Beklatschen einzelner Stellen, die sich auf Verhältnisse der Gegenwart beziehen ließen, nicht ganz, und das mußte den aesthetischen Sinn, der nur den Maler, nicht aber die Palette und ihre rohen Farben anerkannt und gepriesen wissen will, schmerzen. (W 11, S. 207)

Überhaupt distanziert sich Hebbel von den „sogenannten politischen Demonstrationen bei theatralischen Vorstellungen“ (W 11, S. 366), die das Theater „aus einem Tempel der Kunst in ein Forum“ verwandle und das Kunstwerk immer auf zufällige „Tagesfragen“ beziehen wolle (W 11, S. 367). Die unreflektierte Applikation einzelner Redepartien auf tagespolitische Ereignisse begünstige allein eine Segmentierung des „Kunstorganismus“, dergestalt dass Letzterer sich „bald ganz und gar in die Einzelheiten verrennen“ würde (W 11, S. 369f.). Dem Theaterkritiker Hebbel geht es also um die ästhetische Totalität des Kunstwerks, nicht um die politische Brisanz seiner Einzelheiten. Wenn er Schillers Wallenstein trotzdem als ein politisches Drama liest, so ist dies durch die inhaltliche Ausrichtung der Tragödie bedingt. Hebbel zufolge liegt die zentrale Problematik der Trilogie im „Mißverhältniß zwischen der bestehenden Staatsform und dem darüber hinaus gewachsenen großen Individuums“ (TBR 3806 / TBW 3889), also in der Berechtigung eines revolutionären Umsturzes der existierenden Ordnung. Da aber eine „in eben diesem Individuum aufdämmernde höhere Staatsform“ fehle, sei konsequenterweise die „völlige Ideenlosigkeit des Wallenstein“ festzustellen (TBR 3806 / TBW 3889). Insofern ist die politische Deutung im Grunde genommen eine ideengeschichtliche Lesart, die den dramatischen Konflikt als Kampf gegensätzlicher Staatsphilosophien auffasst. Es lässt sich also behaupten, dass Hebbel die Wallenstein-Trilogie als ein politisches Drama begreift, sie jedoch nicht politisch instrumentalisieren will. Seine Schiller-Rezeption bewegt sich deshalb vor dem Hintergrund einer ästhetischen Auseinandersetzung, die der Autonomie der Kunst verpflichtet ist. Des Weiteren interpretiert Hebbel die Schillersche Trilogie keineswegs als ein demagogisches Stück der Revolutionsbegeisterung. Das Thema von Wallenstein sei „nicht die rohe Republik, sondern eine verunglückende Verschwörung“ (W. 11, S. 205). Die Verschwörung stelle Hebbels Meinung nach „die Spitze aller Verbrechen“ dar, weil sie „den Grund der Gesetze, also alle zugleich“, aufhebe (TBR 3922 / TBW 4009). Ferner verurteilt Hebbel jeden „Empörungsversuch“ in einem „sittlichen Staat“ als „Selbstmord-Versuch“, weil „das Individuum nur durch den Staat existirt“ und mit der Umwälzung nicht nur die Autorität, sondern auch sich selbst zugrunde richte (TBR 4790 / TBW 4882). In seiner Wallenstein-Deutung findet sich also Hebbels konservative Haltung wieder, da er den Erhalt der bestehenden Staatsform gegenüber einer möglichen revolutionären Anarchie favorisiert.

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Das Festhalten an dieser Staatsidee und an der Notwendigkeit von dessen Fortexistenz bedeutet allerdings nicht, dass Hebbel jene patriotisch-pathetische Stilisierung Schillers als messianischer Vorreiter der nationalen Einheit guthieß. Die nationalisierende Akzentuierung Schillers und seines Werks führt zur Vernachlässigung des Kosmopolitismus des Autors, der doch Körner gegenüber bekannte, dass es „ein armseliges kleinliches Ideal“ sei, „für eine Nation zu schreiben; einem philosophischen Geiste ist diese Grenze durchaus unerträglich.“79 Genau in diesem Sinne notiert Hebbel: Das Schiller-Fest hat Anlaß gegeben, Schiller für den nationalsten Dichter der Deutschen zu erklären. Er ist dieß aber nur in dem Sinne, daß er seine Nation ganz, wie sie sich selbst, verläugnet und ihrem kosmopolitischen Zug, wie kein Zweiter, zum Ausdruck verhilft. (TBR 5631 / TBW 5773)

Insofern stimmt Hebbel mit seinem Wiener Dichterkollegen Franz Grillparzer überein, der ebenfalls eine nationalpolitische Inanspruchnahme Schillers ablehnte: Die Schiller-Feier sei mit einem solchen Lärm und einem solchen Hallo vorbereitet, daß die Vermutung entsteht, man wolle dabei noch etwas anderes feiern als Schiller, den ausgezeichneten Dichter und Schriftsteller: etwa das deutsche Bewußtsein, die deutsche Einheit, die Kraft und Machtstellung Deutschlands. Das sind schöne Dinge! Aber derlei muß sich im Rat und auf dem Schlachtfelde zeigen.80

Aus diesem Grunde bestand Grillparzer auf eine rein künstlerische Würdigung Schillers und seiner dichterischen Leistung: „Lassen Sie uns Schiller feiern als das was er war: als großen Dichter, als ausgezeichneten Schriftsteller, und nicht bloß zum Vorwand nehmen für weiß Gott! was für politische und staatliche Ideen.“81 Dass dieser als Trinkspruch für das geplante Festbankett im Sophiensaal eingereichte Wunsch zurückgewiesen wurde,82 bestätigt abermals die Strategie der politischen Funktionalisierung der Dichterehrung anlässlich der Schiller-Feier, aufgrund derer die Beschäftigung mit dem Werk nur von peripherer Bedeutung ist. Darüber hinaus polemisierte Hebbel gegen die „Versmacher“ und damit implizit auch gegen die poetische Anspruchslosigkeit der Festliteratur. Überhaupt reagierte

|| 79 Vgl. Schillers Brief an Körner am 13. Oktober 1789. Schillers Briefwechsel mit Körner wird in der vorliegenden Arbeit nach der Erstausgabe, die Hebbel rezipiert hat (vgl. Kap. 4.5), zitiert. Friedrich Schiller und Christian Gottfried Körner: Schillers Briefwechsel mit Körner. Von 1784 bis zum Tode Schillers. 4 Tle. Zweiter Theil: 1789–1792. Berlin 1847, S. 128. Übrigens ist dieser bedeutende Brief nicht in FA aufgenommen. 80 Franz Grillparzer: Erwiderung gegen das Abendblatt der „Presse“ vom 9. November 1859. Zitiert nach: Norbert Oellers: Schiller – Zeitgenosse aller Epochen, Bd, 1, S. 428. 81 Norbert Oellers: Schiller – Zeitgenosse aller Epochen, Bd. 1, S. 428. 82 Vgl. Norbert Oellers: Schiller – Zeitgenosse aller Epochen, Bd. 1, S. 584.

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er kritisch auf die exzessive Begeisterung, die für ihn ohnehin verspätet und belanglos war. Mit scharfer Ironie schildert Hebbel in seinem Gedicht „Zum SchillerJubiläum“ die feiernde Nation und vergleicht sie mit einem Gastwirt, der, vom imponierenden Schein der vielen „glatten Burschen“ geblendet (W 6, S. 406), den König ignoriert. Der nachträglich angebrachte Schmuck der Stätte nütze wenig: „Denn all’ die Herrlichkeit und Pracht / Ist viel zu spät gekommen.“ (W 6, S. 407) Die Verkennung der echten dichterischen Größe ist auf das mangelhaften Urteilsvermögen des Publikums zurückzuführen, das mittelmäßige Poeten lange gelten ließ.83 Darum ist die Schiller-Feier kein Zeugnis eines reifen Kunstgeschmacks, sondern ein vergebliches Nachholen der versäumten Ehrerbietung, das verspätet nur allgemein-sakralisierende Formeln mit nationalpatriotisch-politischer Intention produziert. Eine derartige floskelhafte Herangehensweise entspricht aber keineswegs Hebbels Verständnis von einem sachlich-begründeten Umgang mit Schiller. Wolle man gegen Schiller „nicht ungerecht werden“, notiert er 1838 während seiner Münchner Studienzeit, so müsse man ihn „immer in seinen einzelnen Bestrebungen betrachten“ (TBR 1133 / TBW 1147). Stets plädiert Hebbel für eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Werken Schillers, um ein ausgewogenes Urteil über ihn fällen zu können. Dieses Prinzip der kritischen Lektüre wird auch der leitende Grundsatz sein in seiner Schiller-Rezeption.

3.2 Zeitgenössische Schiller-Kritik Nachdem die allgemeine Situation der Schiller-Rezeption am Beispiel der SchillerFeiern von 1859 skizziert worden ist, gilt es nun, den Kontext der poetologischästhetischer Auseinandersetzung mit Schiller zu vergegenwärtigen. Um der Fülle der Materialien gerecht werden, soll jene Tagebuchaufzeichnung Hebbels, die über seine Kenntnis der zeitgenössischen Schiller-Kritik Auskunft gibt, als Leitlinie der Rekonstruktion dienen. So notiert er 1841: Zum Vorwort d Judith: Schiller mußte, wie jeder Gedankendichter, der statt des sanften runden Kreises die scharfe Facette bringt, von s. Zeit überschätzt werden, aber eben so nothwendig mußten sich auch nach u nach die tiefbegründeten Kunsturtheile, die Göthe still, Tieck, Schlegel, Jean Paul laut über ihn aussprachen, von selbst geltend machen. […] – Jedes echte Kunstwerk ist ein geheimnißvolles, vieldeutiges, in gewissem Sinn unergründliches Symbol. Je mehr nun eine Dichtung aus dem bloßen Gedanken hervor ging, je weniger ist sie dies, um so eher

|| 83 Vgl. TBR 5617 / TBW 5760: „Wann wird aber der Buß- und Bettag folgen, dafür, daß auch ein Iffland und ein Kotzebue nicht bloß ihren Tag, sondern ihre Dezennien gehabt haben?“ Ähnlich formuliert Hebbel auch in seinem Jubiläumsgedicht „Denn stets noch horcht das Deutsche Reich / Auf Kotzebue’sche Leiern, / Und dafür sollst Du doch zugleich / Den Buß- und Bet-Tag feiern.“ W 6, S. 408.

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wird sie also verstanden u aufgefaßt, um so sichrer aber auch bald ausgeschöpft u als unbrauchbare Muschel, die ihre Perle hergab, bei Seite geworfen. (TBR 2205 / TBW 2265)

Freilich ist das hier gedanklich konzipierte Vorwort in dieser Weise nicht realisiert worden.84 Jedoch deutet der epitextuelle Verweis auf Schiller und die „Kunsturteile“ nicht allein auf einen vorhandenen intertextuellen Bezug zwischen Hebbels Erstlingswerk und Schillers Vorarbeit hin und legt somit eine vergleichende Lektüre von Hebbels Judith mit Schillers Jungfrau von Orleans nahe. Sondern der Entwurf verrät auch das Umfeld und den Themenkreis, in dem Hebbels Schiller-Kritik anzusiedeln ist.

3.2.1 Das Schiller-Bild in Goethes Gesprächen Das zeitgenössische Schiller-Bild wurde in nicht geringem Maße von Goethe geprägt. Zwar war dieser von vielen Seiten getadelt worden, dass er nach Schillers Tod in Weimar keine Totenfeier für den Verewigten veranstalte („Wie konnte ich das? Ich war vernichtet.“85), jedoch hat Goethe das Andenken an Schiller stets gepflegt. So hat er seine erste Begegnung mit Schiller als ein „glückliches Ereignis“86 beschrieben und in seinem „Epilog zu Schillers Glocke“ – insbesondere in der zweiten Fassung von 1815 – jenen Typus des „leidenden und kämpfenden Idealisten“87 Schiller vorweggenommen, den Thomas Mann Jahre Späte in seiner „Schweren Stunde“ 88 erzählerisch entfalten wird: „Er hatte früh das strenge Wort gelesen, / Dem Leiden war er, war dem Tod vertraut. / […] / Doch schon erblicket sein verklärtes Wesen/ Sich hier verklärt, wenn es herniederschaut. / Was Mitwelt sonst an ihm beklagt, getadelt, / Es hat’s der Tod, es hat’s die Zeit geadelt.“89

|| 84 Das überlieferte Vorwort zu Judith ist dem Erstdruck als Bühnenmanuskript mit drei Akten vorangestellt, dessen Druck bereits am 16. Februar 1840 fertiggestellt worden ist. Vgl. W 13, S. 3. Wenn also Hebbel nun, im Februar 1841, über ein Vorwort zu Judith nachdenkt, so handelt es sich um eins zu der geplanten, fünfaktigen Buchausgabe, die aber bekanntlich ohne Vorwort auskommt. 85 Zitiert nach Norbert Oellers: Schiller. Geschichte seiner Wirkung bis zu Goethes Tod, S. 47. 86 Johann Wolfgang von Goethe: Glückliches Ereignis. In: ders.: Sämtliche Werke nach Epoche seines Schaffens. Bd. 12: Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie, hg. Von Hans J. Becker. München 1989, S. 86–90. 87 Norbert Oellers: Schiller. Geschichte seiner Wirkung bis zu Goethes Tod, S. 53. 88 Thomas Mann: Schwere Stunde. In: ders.: Die Erzählungen. Frankfurt a. M. 1986, S. 411–420. 89 Johann Wolfgang von Goethe: Epilog zu Schillers Glocke. Wiederholt und erneut bey der Vorstellung am 10. May 1815. In: ders.: Sämtliche Werke nach Epoche seines Schaffens. Bd. 11.1.1: Divan-Jahre: 1814–1819, hg. Von Karl Richter und Christoph Michel. München 1998, S. 297–300, hier S. 299, v. 81ff.

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Obgleich die Weimarer Dioskuren in der Literaturgeschichte gerne als eine komplementäre Einheit dargestellt werden,90 spielt sie Hebbel zunächst gegeneinander aus. Die in der zitierten Tagebuchaufzeichnung angesprochene „stille“ Natur der kritischen Urteile Goethes legt es nahe, diese weniger in seinen öffentlichen, durchaus wohlwollenden Äußerungen, als vielmehr in Privatunterhaltungen zu suchen, vor allem in den Gesprächen mit Eckermann, deren erste beiden Teile 1836 postum publiziert und nachweislich von Hebbel rezipiert worden sind. Ein Münchner Tagebucheintrag aus dem Jahre 1837 exzerpiert wörtlich Goethes Kommentar über die „Parricida“-Episode des Wilhelm Tell, das den weiblichen Einfluss auf Schiller bestätige.91 Des weiteren verweist Hebbel in seinem Vorwort zu Maria Magdalene, um Uhland gegen Goethes Einwände, aus dessen Lyrik werde „nichts ‚Menschen-Geschick Aufregendes und Bezwingendes‘ hervorgehen“ (W 11, S. 50),92 zu verteidigen, ausdrücklich auf die Modifikation dieser Kritik „in den Gesprächen mit Eckermann“.93 Insofern ist anzunehmen, dass Hebbel die Gespräche Goethes aus seinen letzten Lebensjahren doch gut kannte, obwohl er keine weitere Einträge, die Schiller betreffen, daraus zitiert oder wiedergegeben hatte. Dies erscheint umso plausibler, als die kritischen Bemerkungen aus den Unterhaltungen dieselben Probleme ansprechen, die Hebbel in seinem Vorwortentwurf in Bezug auf den „Gedankendichter“ Schiller angedeutet hat. Zunächst richtet sich die Schiller-Kritik in den Gesprächen gegen die schädliche Wirkung der Philosophie auf Schillers Dichtung. Im Zusammenhang mit einer bevorstehenden Wallenstein-Aufführung bekennt Eckermann am 14. November 1823 Goethe gegenüber: „Ich kann nicht umhin, zu glauben, daß Schillers philosophische Richtung seiner Poesie geschadet hat; denn durch sie kam er dahin, die Idee

|| 90 Vgl. Jürgen Link: Die mythische Konvergenz Goethe – Schiller als diskurskonstitutives Prinzip deutscher Literaturgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert. In: ders.: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse. München 1983, S. 73–86. 91 TBR 855 / TBW 869. Es handelt sich hier um ein wörtliches Zitat aus dem Gespräch am 16. März 1831. Vgl. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. von Christoph Michel. Berlin 2011, S. 466. 92 Hier zitiert Hebbel Goethes Brief an Zelter am 4. Oktober 1831: „Das Werklein [= Gedicht von Gustav Pfizer M. M.] ist an Uhland dediziert und aus der Region worin dieser waltet möchte wohl nichts Aufregendes, Tüchtiges das Menschengeschick Bezwingendes hervorgehen.“ Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke nach Epoche seines Schaffens. Bd. 20.2: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832. Text 1828–1832, Dokumente, Register, hg. von Edith Zehm und Sabine Schäfer. München 1998, S. 1550f. 93 Es handelt sich – obwohl anachronistisch – wahrscheinlich um das Gespräch am 21. Oktober 1823: „Übrigens habe ich [= Goethe, M. M.] über seine [= Uhlands, M. M.] Gedichte kaum ein Urteil. Ich nahm den Band mit der besten Absicht zu Händen, allein ich stieß von vorne herein gleich auf so viele schwache und trübselige Gedichte, daß mir das Weiterlesen verleidet wurde. Ich griff dann nach seinen Balladen, wo ich denn freilich ein vorzügliches Talent gewahr wurde und recht gut sah, daß sein Ruhm einigen Grund hat.“ Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 57.

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höher zu halten als alle Natur, ja die Natur dadurch zu vernichten.“94 Die einmal erwähnte Dichotomie von Idee und Natur wird von Goethe sogleich aufgegriffen, indem er das Gespräch auf Schillers Briefwechsel mit Humboldt und auf die Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“ lenkt, die „in der unseligen Zeit jener Spekulationen“ entstanden sei.95 Zum einen besteht Goethe im Gespräch auf die Einheit von naiver und sentimentalischer Poesie, da jene dieser zugrunde liege;96 zum anderen übt er doch Kritik an der bewussten Reflexion während des dichterischen Schaffensprozesses, die für Schiller charakteristisch sei: „Es war nicht Schillers Sache, fuhr Goethe fort, mit einer gewissen Bewußtlosigkeit und gleichsam instinktmäßig zu verfahren, vielmehr mußte er über jedes, was er tat, reflektieren […].“97 Gerügt wird zudem Schillers Mangel an künstlerischer Spontaneität, die aus seiner ständigen theoretischen Rechenschaft über das dichterische Verfahren herrühre und wiederum die Freisetzung poetischer Inspirationskraft hemme. In einem Gespräch über Manzoni wird die These vom nachteiligen Einfluss der Philosophie auf Schillers Dichtertalent und insbesondere auf die poetische Ausführung des Wallenstein-Trilogie erneut aufgegriffen: Trotz der unvergleichlichen Größe von Wallenstein sei doch einzusehen, dass die beiden „gewaltigen Hülfen, die Geschichte und Philosophie, dem Werke an verschiedenen Teilen im Wege sind und seinen reinen poetischen Sukzeß hindern.“98 Die philosophische Fundierung der Dichtung wird von Hebbel ebenfalls als poetisches Defizit aufgefasst: „Je mehr nun eine Dichtung aus dem bloßen Gedanken hervorging, je weniger ist sie dies [.]“ (TBR 2205 / TBW 2265) Insofern stimmt dieses von Eckermann überlieferte Kommentar Goethes mit Hebbels einleitender Tagebuchaufzeichnung durchaus überein. Nicht allein der Reflexionsgehalt seiner Dichtung, sondern auch die dramatische Gestaltung bei Schiller wird zum Gegenstand kritischer Besprechungen. Vor allem gelten die Einwände hier der unzureichenden Motivierungskunst Schillers. So sagt Goethe Eckermann gegenüber, Schiller „sah seinen Gegenstand gleichsam nur von Außen an, eine stille Entwicklung aus dem Innern war nicht seine Sache. […] Und wie er überall kühn zu Werke ging, so war er auch nicht für vieles Motivieren.“99 Exemplarisch sei hierfür die Apfelschussszene des Wilhelm Tell, die anfänglich gar nicht, auf Goethes wiederholtes Zureden erst dürftig durch die Großtuerei des Tellschen Knaben über die Schusstechnik seines Vaters motiviert worden sei.100

|| 94 Vgl. das Gespräch am 14. November 1823. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 73. 95 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 73. 96 Vgl. die Darstellung Eckermanns: „Und als ob, fügte Goethe lächelnd hinzu, die sentimentale Poesie ohne einen naiven Grund, aus welchem sie gleichsam hervorwächst, nur irgend bestehen könnte!“ Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 73. 97 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 73. 98 Vgl. das Gespräch am 23. Juli 1827. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 261. 99 Gespräch am 18. Januar 1825. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 143. 100 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 143.

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Ähnlich äußerte sich Goethe auch im Gespräch mit dem Polizeirat Joseph Sebastian Grüner.101 Kritisiert wird hier also die unzureichende Plausibilisierung dramatischer Handlungszusammenhänge, die den Gesprächen zufolge nicht nur temporal auf einander folgen, sondern vor allem mit logischer Notwendigkeit begründet werden müssen. Dieser Einwand gegen das „mehr desultorisch[e]“ Talent Schillers nimmt auch dieselbe Schiller-Kritik Hebbels vorweg, die sich dann in seiner ästhetischen Auseinandersetzung mit dem großen Vorbild entfalten wird. Bekanntlich stützen sich Eckermanns Aufzeichnungen auf Gesprächsnotizen, die teilweise recht spärlich sind. Der Eintrag zum 14. November 1823 beispielsweise muss dank der eingehenden Quellenforschung Julius Petersens als philologisch fragwürdige „freie Ausgestaltung in späterer Zeit auf Grund dürftiger Überlieferung“ betrachtet werden.102 Eher wird hier die negative Beurteilung Eckermanns über Schiller freigelegt, der bewusst in seinen Beiträgen zur Poesie mit besonderer Hinweisung auf Goethe diesem Schiller entgegensetzt. Die manieristische Subjektivität Schillers könne, so Eckermann, den angehenden jungen Dichter vom „Ursprünglichen, Natürlichen“ ablenken.103 Selbst einer Konfrontation mit dem Sohn Goethes, der Schiller unbedingt verehrt, weicht Eckermann keineswegs aus.104 Dennoch können seine Gesprächsnotizen als authentisch bewertet werden, nicht zuletzt deshalb, weil es mit weiteren Zeugnissen von Goethes Schiller-Rezeption, insbesondere mit

|| 101 Vgl. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 1146. Es handelt sich um ein Gespräch am 19. August 1822: „Da er [Schiller] manches nicht gehörig motivierte, so gab es Dispute.“ Vor allem sei der Apfelschuss in Wilhelm Tell „nicht gehörig motiviert“. 102 Vgl. Julius Petersen: Die Entstehung der Eckermannschen Gespräche und ihre Glaubwürdigkeit. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1925, S. 138. 103 Vgl. Johann Peter Eckermann: Beiträge zur Poesie mit besonderer Hinweisung auf Goethe. Berlin 1911, S. 40: „Bei der Manier, als auf der Persönlichkeit des Dichters beruhend, muß das Individuum alles gut machen. Ist es ein hohes, bedeutendes wie Schiller, so wird auch eine ebenso hohe und bedeutende Manier hervorgehen.“ Der Lob an der „bedeutenden“ Persönlichkeit Schillers schlägt aber bald in einen kritischen Ton um: „Die überall hervortretende bedeutende Persönlichkeit führt weniger zum Ursprünglichen, Natürlichen hin, als davon ab; die immer prachtvoll tönende Sprache wird in den Schüler übergehen, er wird ihn nachahmen. Bei Schiller selbst macht nun das hohe Individuum alles gut; reicht aber ein junger Dichter in dieser Hinsicht nicht hinan, so werden wir ihn in einem Mangel einherschreiten sehen, dem er nicht gewachsen, der überall zu weit ist.“ (S. 134.) 104 Vgl. die in Eckermanns nachgelassenen Papieren erhaltene Tagebuchaufzeichnung zu dem Vorfall am 22. Juli 1827. Der junge August von Goethe droht Eckermann gar mit dem Tod, weil dieser Schiller nur geringschätzt: „Seht Doctor, Ihr seyd ein großer Mensch und ich habe Euch lieb, aber daß Ihr Schiller nicht anerkennen wollt deswegen könnte ich Euch umbringen!“ Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 825.

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seinem Fragment über die „Epoche der forcierten Talente“ aus dem Jahre 1812 übereinstimmt.105 Der erste theoretische Anstoß zu dieser Epoche der „forcierten Talente“, die aus der vorangegangenen „philosophischen“ entsprungenen ist, stamme laut Goethe von Schiller: Insbesondere die drei großen Schriften Schillers – nämlich die „ästhetische[n] Briefe“, die „Abhandlung über naive und sentimentale Dichtkunst“ sowie die Bürger-Rezension – zeigten sich als enorm wirksam bei der Entstehung eines neueren Dichtungsverständnisses.106 Die Einsicht in die Notwendigkeit eines „entschiedenen Gehalts“ der Idee und die Heranbildung technischen Könnens begünstigten aber zugleich den Dilettantismus, da nun jedermann sich als Dichter wähne und das fehlende „poetische Naturell“ durch „Gewalt des Nachdenkens“ zu kompensieren trachte.107 Der schädliche Einfluss Schillers auf die jüngere Generation besteht nach Goethe also gerade darin, dass diese, vom Beispiel Schillers ermuntert, die Kluft zwischen poetischem Gegenstand und dichterischer Ausführung nun ebenfalls kraft philosophischer Reflexion zu überbrücken versucht. Dies hänge aber vom Spezifikum des Schillerschen Geistes ab: Selbst Schiller, der ein wahrhaft poetisches Naturell hatte, dessen Geist sich aber zur Reflexion stark hinneigte und manches, was beim Dichter unbewußt und freiwillig entspringen soll, durch die Gewalt des Nachdenkens zwang, zog viele junge Leute auf seinem Weg mit fort […].108

Gerade aus diesem Grund distanziert sich Goethe vom dichterischen Verfahren Schillers: Während dieser „das Evangelium der Freiheit“ predige, wolle Goethe selber doch „die Rechte der Natur nicht verkürzt wissen“.109 Die symptomatische Ambivalenz von Kritik und Bewunderung in der SchillerRezeption tritt aber auch an dieser Stelle zu Tage. Unmittelbar nach jenem Gespräch am 14. November über die philosophische Ausrichtung in Schillers Wallenstein wohnte Eckermann am folgenden Abend einer Aufführung desselben bei und wurde von ihr überwältigt: „[M]it außerordentlicher Kraft“ sei das Stück an ihm vorüber-

|| 105 Johann Wolfgang von Goethe: Epoche der forcierten Talente. In: ders.: Sämtliche Werke nach Epoche seines Schaffens. Bd. 9: Epoche der Wahlverwandtschaften 1807–1814, hg. von Christoph Siegrist. München 1987, S. 639–641. 106 Johann Wolfgang von Goethe: Epoche der forcierten Talente, S. 640. 107 Johann Wolfgang von Goethe: Epoche der forcierten Talente, S. 640. 108 Johann Wolfgang von Goethe: Epoche der forcierten Talente, S. 640. Zu diesem Fragment Goethes vgl. Auch Katharina Mommsen: Goethe über die schädigende Wirkung der Schillerschen Dichtungstheorie. In: Wolfgang Wittkowski (Hg.): Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Tübingen 1982, S. 387–402. 109 Johann Wolfgang von Goethe: Einwirkung der neueren Philosophie. In: ders: Sämtliche Werke nach Epoche seines Schaffens. Bd. 12, S. 97. Diesen poetologischen Unterschied versteht Goethe als den Ursprung von Schillers großem Aufsatz „Über naive und sentimentalische Dichtung“.

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gegangen, sodass er es „sogar während der Nacht nicht aus dem Sinne brachte.“110 Das mit Liebe erfüllte Bündnis zwischen Goethe und Schiller ist auch hinlänglich bekannt.111 Nicht zuletzt erfährt die Schiller-Kritik in Hebbels Tagebüchern auch eine Relativierung, indem zwei weitere Aufzeichnungen Eingang in das Diarium finden, die von Goethes tiefer Zuneigung für Schiller Zeugnis ablegen. Zum einen handelt es um einen Auszug aus Bettine von Arnims Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde, datiert auf den 26. Juli 1808, welcher Goethes Klage um den Tod des Freundes wiedergibt: „Du [= Goethe, M. M.] sagtest: Ich denke jetzt an Schiller; ich wollte, er wär jetzt hier. Sie würden anders fühlen, kein Mensch konnte seiner Güte widerstehen […].“112 Zum anderen wird eine anekdotische Szene aus Heinrich Laubes Neuen Reisenovellen über Goethes Fieberphantasie kurz vor seinem Tod exzerpiert: In der Fieberphantasie (während der kurzen Krankheit, die s. Tode voraus ging) stand Göthe von s. Lager auf, u hat, über die Stubenschwelle schreitend, so vor sich hingeredet: ‚Was betastet ihr meinen Schiller, meinen Geliebten! Lasset ab von ihm, er ist groß u herrlich! Warum liegen seine Brief-Blätter da zerstreut am Boden umher!‘113

Letzten Endes triumphierte trotz jedweden ästhetischen Vorbehalts doch die intime emotionale Bindung zu dem, dessen Güte unwiderstehlich war.

3.2.2 Jean Paul und die „Reflexion-Poesie“ Schillers Jean Pauls Romane gehören zu Hebbels Jugendlektüre: Mehrere Tagebucheinträge, von denen der früheste auf das Jahr 1835 zurückgeht, dokumentieren eine wiederholte Lektüre und das andauernde Interesse an dessen Werken.114 Hebbels Kenntnis von Jean Pauls Vorschule der Ästhetik, in der dieser sich kritisch zu Schiller äußert,

|| 110 Vgl. den Eintrag am 15. November 1823. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 74. 111 Zu Goethes Verhältnis mit Schiller insgesamt vgl. Norbert Oellers: Schiller, Friedrich. In: HansDietrich Dahnke und Regine Otto (Hg.): Goethe-Handbuch. Bd. 4/2. Stuttgart/Weimar 1998, S. 944– 950. Zu diesem Weimarer Bündnis der Liebe vgl. Katharina Mommsen: Kein Rettungsmittel als die Liebe. Schillers und Goethes Bündnis im Spiegel ihrer Dichtung. Göttingen 2010. 112 TBR 417 / TBW 426. Vgl. Bettine von Arnim: Werke und Briefe in vier Bänden. Bd. 2: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde, hg. von Walter Schmitz und Sibylle von Steindorff. Frankfurt a. M. 1992, S. 179f. 113 TBR 926 / TBW 939. Das Zitat stammt aus Heinrich Laube: Neue Reisenovelle. 2 Bde. Mannheim 1837, hier Bd. 2, S. 133. 114 Vgl. beispielsweise TBR 133–136 / TBW 130–133 (Zu Jean Pauls Titan); TBR 374–377 / TBW 381– 384 (Zu Siebenkäs); TBR 437–439 / TBW 446–448 (Zu Flegeljahren); TBR 567–568 / TBW 581–582 (Zu Komet). Doch die anfängliche Begeisterung weicht bald der Kritik. Vgl. neben TBR 2483 / TBW 2561 und TBR 3719 / TBW 3815 vor allem TBR 3778 / TBW 3861: „Jean Paul beweis’t, daß Erkenntniß der Form nicht zur Form führt und daß sie nicht ein Resultat der freien Thätigkeit des Geistes ist, sondern ein Product seiner ursprünglichen Beschaffenheit.“

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ist ebenfalls verbürgt.115 Da Hebbel mit Jean Paul Novalis als einen „poetischen Nihilisten“ nennt (TBR 1652 / TBW 1711), ist davon auszugehen, dass er die erweiterte zweite Auflage der Vorschule gelesen hat, die neben dieser zusätzlichen Auseinandersetzung mit den Romantikern116 auch eine „kurze Nachschrift oder Nachlese der Vorlesung über Schiller“ enthält. Für Jean Paul ist Schiller zunächst der Inbegriff der Romantik.117 Er erhebt Einwänden gegen begriffliche Verwirrungen und argumentative Inkonsequenzen in Schillers Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“.118 Zudem stellt er etwa aufgrund der dichterischen Ausmalung der Gebirgslandschaft in Wilhelm Tell romantische Züge bei Schiller fest. 119 Für den Ästhetiker Jean Paul besteht das Wesen des Romantischen in erster Linie in der Poetisierung der Unendlichkeit: „Das Romantische ist das Schöne ohne Begrenzung, oder das schöne Unendliche, so wie es ein erhabenes gibt.“120 Die Unterscheidung zwischen dem Schönen und dem Erhabenen betrifft vor allem die Wahrnehmungsmodi der beiden ästhetischen Qualitäten, weil das Schöne sinnlich fassbar, das Erhabene hingegen nur durch Vernunft zu begreifen ist.121 Die Einordnung Schillers in die Kategorie des Romantik bedeutet insofern zunächst eine Akzentuierung der Poetizität der Schillerschen Werke, die den philosophischen Gehalt überwiegt. Die romantische Unendlichkeit Schillers liegt jedoch gerade darin, dass die endlich-erfassbare Welt durch philosophische Andeutung in einer esoterischen Weise umrahmt wird: Wenn die Romantik Mondschein ist, so wie Philosophie Sonnenlicht: so wirft dieser Dichter [= Schiller, M. M.] […] über die unbeweglichen Pole der beweglichen Welt seinen dichterischen

|| 115 TBR 240 / TBW 235; TBR 549 / TBW 563; TBR 552 / TBW 566; TBR 908 / TBW 921. 116 Die Polemik gegen den „Seiten- und Wahlverwandten der poetischen Nihilisten“ Novalis oder gegen den „Kunst-Romanschreiber“ Tieck befindet sich erst in der zweiten, überarbeiteten Auflage von 1813. Vgl. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, hg. von Norbert Miller und Walter Hinderer. München 1963, S. 32ff und S. 521. 117 In §25 der Vorschule wird Schiller zu den „Beispiele[n] der Romantik“ gerechnet: „Jetzo ist Schiller zu nennen.“ Vgl. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 98. 118 Vgl. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 85. 119 Vgl. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 85. In § 22 der Vorschule heißt es weiter: „Wesen der romantischen Dichtkunst, Verschiedenheiten der südlichen und der nordischen“: „Fragen wir doch lieber das Gefühl, warum es z. B. sogar eine Gegen romantisch nennt. […] Oder die obwohl schwächer glänzende Stelle in Schillers Tell, wo das Dichterauge von den getürmten Gebirgsketten herunterschweift in die langen lachenden Kornfluren der deutschen Ebene.“ (S. 88) Wahrscheinlich bezieht sich Jean Paul hier auf Szene III, 3 von Schillers Wilhelm Tell. Vgl. FA 5, S. 449, v. 1787–1794. 120 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 88. 121 Vgl. Jean Pauls Erläuterung zur „idealen Erhabenheit“ in § 27 „Theorie des Erhabenen“: „Aber worin besteht denn die ideale Erhabenheit? Kant und nach ihm Schiller antworten: in einem Unendlichen, das Sinne und Phantasie zu geben und zu fassen verzagen, indes die Vernunft es erschafft und festhält.“ Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 105.

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Schein, indes er über der Mitte der Welt mit dem Tageslicht der Reflexion-Poesie steht; wie die Sonne nur an beiden Polen wechselnd nicht untergeht und den ganzen Tag als ein Mond dämmert.122

Deshalb wirkt das Oxymoron der „Reflexion-Poesie“, das das Wesen der Schillerschen Dichtung umschreibt, weniger abwertend. Vielmehr bestätigt es, indem es sich der Metapher der nie untergehenden Sonne bedient, die normative Existenz der Philosophie in der Dichtung, dergestalt dass die Dynamik der Wirklichkeit erst in Bezug auf den unbeweglichen, meta-physischen Standpunkt transparent wird. Die Endlichkeit der irdischen Realität wird erst dann nachvollziehbar und zugleich aufgehoben, wenn sie von einer transzendenten, und in diesem Sinne auch erhabenen Wahrheit beleuchtet wird. Die Welt wird zur Antizipation des Geistigen, oder wie Heine in Bezug auf die romantische Schule ganz in demselben Sinne formuliert: „Die romantische Kunst hatte das Unendliche und lauter spiritualistische Beziehungen darzustellen oder vielmehr anzudeuten […].“123 Die erahnte Verbindung zwischen dem Wirklichen und einer zwar nur symbolisch angedeuteten, allerdings viel höheren Sinngebung vollzieht sich performativ durch den Bindestrich zwischen „Reflexion“ und „Poesie“, der zugleich den Kern Jean Paulscher Schiller-Deutung markiert: nämlich die gelungene Vereinigung der objektiven Realität mit der transzendenten Idealität in der sinnlichen Darstellungsform des schönen Unendlichen, mithin in der romantischen Poesie. Genau betrachtet handelt es sich bei Jean Pauls Einschätzung weniger um eine Kritik als vielmehr um einen Lob Schillers. Diese Wertschätzung prägt auch seine „kurze Nachricht oder Nachlese der Vorlesung über Schiller“, die als eigenständiges Kapitel in die zweite Auflage der Vorschule aufgenommen wird. Freilich beginnt diese Nachschrift mit einer Kritik an den „Lehrgedichten“ Schillers, die anstatt wahrer Empfindungen nur „Betrachtungen über dieselben“ beinhalteten und die „philosophische Fülle“ lediglich in einer losen, beliebig zu akkumulierenden Bilderkette angehäuft präsentierten. 124 Die eigentlichen lyrischen Gemälde seien eher in den Dramen Schillers zu finden, in denen sich Schiller „rein poetisch und romantisch, ohne Rhetorik und Lehrdichterei“ verklärt habe.125 Als „Gebirgsgipfel“ von Schillers dramatischen Werk erkennt Jean Paul entschieden die Wallenstein-Trilogie an, in der der Dramatiker „die historische Auseinandersetzung der Menschen und Taten so kräftig zu einem tragischen Phalanx zusammengezogen“ habe.126 Weniger im erheiternden Höhenflug zu einer idealisierten Transzendenz als vielmehr in der „schau-

|| 122 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 98. 123 Heinrich Heine: Die romantische Schule, S. 367. 124 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 394. 125 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 396. 126 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 397.

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erlichen Tiefe der Unendlichkeit“,127 in der Einsicht in die Abgründigkeit der elementaren Mächte der allein astrologisch annäherbaren Natur und der zufallsbestimmten Geschichte also, wurzelt die gewaltige Wirkung des Wallenstein. Dies ist auch der Grund, weshalb Jean Paul die Trilogie eine eigentliche „romantische“ Tragödie nennt.128 Die Schillersche Dramatik veranschaulicht insofern für Jean Paul gerade jene tragische Spannung zwischen dem endlichen Dasein des Individuums und der furchtbaren Übermacht der unendlichen Gewalt, angesichts derer die Ohnmacht des irdischen Handelns sichtbar wird. 129

3.2.3 Schiller in den Vorlesungen A. W. Schlegels Der schlichte Name „Schlegel“ in jenem Vorwortentwurf Hebbels lässt zunächst offen, auf welchen der beiden Brüder sich hier bezogen wird. Was die Theoriebildung anbelangt, sind sie beide von Schiller stark beeinflusst worden.130 Aber es gibt keine konkreten Hinweise darauf, dass Hebbel die vielschichtigen Auseinandersetzungen der beiden Brüder mit Schiller, bei denen es sowohl um „sachliche poetologische Differenzen“ als auch um „Machtfragen im kritisch-literarischen Feld“ geht, 131 zur Kenntnis genommen hat. 132 Belegt ist hingegen während der

|| 127 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 397. 128 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 397. 129 Zu Jean Pauls Schiller-Rezeption vgl. Timothy Joseph Casey: Jean Pauls Schiller-Bild. In: Helmut Brandt (Hg.): Friedrich Schiller. Angebot und Diskurs. Berlin (DDR) 1987, S. 488–505. Jean Pauls kritisiert das zwischenmenschliche Verhalten Schillers, das ihm als Kälte und Indifferentismus erscheint. So klagt er gegenüber Hermina von Chèzy über die Kälte Schillers: „Schiller ist Eis, er ist ein Gletscher im Sonnenstrahl mit göttlichem Farbenspiel […].“ (Zitiert nach: Timothy Joseph Casey: Jean Pauls Schiller-Bild, S. 492.) Deshalb empört sich Jean Paul über jenen berühmten Vers aus der Ode „An die Freude“: „Wie poetischer und menschlicher würde der Vers durch drei Buchstaben: ‚der stehle weinend sich in unsern Bund!‘ Denn die liebewarme Brust will im Freudenfeuer eine arme erkältete sich andrücken.“ (Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 395.) 130 Vgl. Ernst Behler: Die Wirkung Goethes und Schillers auf die Brüder Schlegel. In: ders.: Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie. Paderborn 1988, S. 264–282. Behler legt nahe, dass A. W. Schlegel seinen Begriff des Tragischen, seine Analyse des tragischen Vergnügens sowie seine Ästhetik des Chors einer dauerhaften Schiller-Rezeption zu verdanken hat. 131 Vgl. Günter Oesterle: Schiller und die Brüder Schlegel. In: Monatshefte, 97 (2005), H. 3, S. 461– 467, hier S. 464. Zur Dokumentation des persönlichen Verhältnisses vgl. Norbert Oellers (Hg.): Friedrich Schiller – August Wilhelm Schlegel. Der Briefwechsel. Köln 2005. Zur literarischen Auseinandersetzung der beiden Brüder mit der Lyrik Gottfried August Bürgers vgl. ferner York-Gothart Mix: „Sein Ruhm ist eine natürliche Tochter des Scandals.“ A. W. Schlegels Positionierung im literarischen Feld um 1800 (Bürger, Schiller, Voß). In: ders. und Jochen Strobel (Hg.): Der Europäer August Wilhelm Schlegel. Romantischer Kulturtransfer – romantische Wissenswelten. Berlin/New York 2010, S. 45–56.

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Münchner Zeit, die Lektüre von Karl Wilhelm Ferdinand Solgers Nachgelassenen Schriften in denen eine Rezension von A. W. Schlegels „Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur“ enthalten ist.133 Es ist also nahliegend, zunächst in diesen Vorlesungen Ansatzpunkte aufzusuchen.134 In der fünfzehnten, die Reihe beschließenden Vorlesung referierte A. W. Schlegel 1809 über die Entwicklungsgeschichte deutschsprachiger Dramatik bis zu seiner Gegenwart. Seine Bemerkungen über Schiller, die in einem milden Ton vorgetragen wurden, gelten in erster Linie einzelnen Stücken des Dramatikers in chronologischer Abfolge. Deshalb haben diese Besprechungen weniger den Charakter einer ästhetischen Grundsatzauseinandersetzung als den einer Rezension, die freilich das religiöse Moment der Dichtung unterstreicht. Zum Beispiel hebt A. W. Schlegel die „religiöse[n] Eindrücke“ der letzten Szene von Maria Stuart besonders hervor und kritisiert des Weiteren die rosenfarbige Verklärung am Schluss der Jungfrau von Orleans, da dadurch das reine, historisch bewahrheitete Märtyrertum abgeschwächt werde. 135 Darüber hinaus wird die dichterische Laufbahn Schillers als ein Bildungsund vor allem ein Läuterungsprozess stilisiert, dessen erste Hälfte in einer wirkungsmächtigen jedoch verfehlten Shakespeare-Imitation bestehe, die während der zweiten Hälfte aber eine ästhetische Reifung durchmache, welche sich mit Don Karlos einsetze und in Wilhelm Tell ihren Höhepunkt erreiche. Schiller erlange diese Vervollkommnung durch das Studium der Philosophie und Geschichte, das jedoch, und zwar insbesondere bei Don Karlos, die Entfaltung dramatischer Situationen eher verhindere als fördere, weil der Gedankengehalt sich nicht sosehr aus der Handlungsführung entwickelt habe, sondern vielmehr explizit und sentenzenhaft verkündet werde: Die „teuer errungenen Gedanken über die menschliche Natur und die gesellschaftliche Verfassung waren dem Dichter so wert, daß er sie ausführlich darlegte, statt sie durch den Gang der Handlung auszudrücken,“ sodass er „seine Personen mehr oder weniger über sich selbst und die anderen philosophieren ließ, wodurch der Umfang ganz über die dem Theater vorgeschriebenen Grenzen anschwoll.“136 Die aus dem skizzierten Vorwort zu Judith schon vertraute Polemik Hebbels gegen den Gedankendichter Schiller, dessen Drama als Sammlung von Ver-

|| 132 Hebbel kannte bis 1842 vor allem A. W. Schlegels Dante-Aufsatz in Schillers Horen (TBR 553 / TBW 567), F. Schlegels Monographie über Lessing (TBR 940–943 / TBW 954–957) sowie seine Auseinandersetzung mit Goethes Wilhelm Meister (TBR 1117 / TBW 1131). 133 TBR 972 / TBW 988; TBR 982 / TBW 996. 134 Vgl. auch Josef Körner: Romantiker und Klassiker. Die Brüder Schlegel in ihren Beziehungen zu Schiller und Goethe. Berlin 1924. 135 Zitiert nach Norbert Oellers: Schiller – Zeitgenosse aller Epochen, S. 130f. 136 Dies formuliert A. W. Schlegel in seiner 15. Vorlesung. Zitiert nach Norbert Oellers: Schiller – Zeitgenosse aller Epochen, S. 130. Vgl. ferner Hans Heinrich Borchert (Hg.): Schiller und die Romantiker. Briefe und Dokumente. Stuttgart 1948, S. 552.

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nunftschlüssen zwar dem Publikum verständlich sei, jedoch kaum dichterisch genannt werden könne, wird hier vorweggenommen. Im Grunde genommen wird bei A. W. Schlegel dasselbe Problem benannt, worauf Ludwig Börne ein Jahrzehnt später in seiner Don Karlos-Kritik noch ausdrücklicher zu sprechen kommen wird: „Nichts geschieht, wenig wird empfunden, am meisten wird gedacht. Es ist ein schönes vergoldetes Lehrbuch über Seelenkunde und Staatskunst, vom Schulstaube gereinigt, uns in die Hände gegeben.“137 Sich einer Metaphorik der Vegetation bedienend führt Börne fort und formuliert seine dramatische Überzeugung: Die Überlegung ist Wurzel, die Empfindung ist Blüte, die Handlung ist Frucht des menschlichen Geistes. Nur letztere soll in der Tragödie zum Vorschein kommen, geschmückt wohl mit den Blumenkränzen der Gefühle, aber der dunkle Keim, aus dem beide entsprossen, muß bedeckt bleiben.138

Bereits Ende 1836 bestätigte Hebbel in seinem Jahresrückblick den großen Einfluss Börnes auf ihn selber,139 und entsprechend war er auch tief berührt von der Nachricht über Börnes Tod. 140 Zwar ist Hebbels Kenntnis über Börnes dramaturgische Schriften nicht eindeutig nachweisbar, aber er teilt mit diesem dieselbe kritische Einstellung gegenüber der Methode der theatralischen Exemplifikation philosophisch-ästhetischer oder gar politischer Ideen, mit der er schon bei Schlegel begegnet sein könnte.

3.2.4 Tiecks Schiller-Kritik Am stärksten und nachhaltigsten wird Hebbels Schiller-Kritik aber von derjenigen Ludwig Tiecks geprägt. Schon früh versuchte der junge Hebbel mehrmals, seiner verzweifelten Lage überdrüssig, ein persönliches Verhältnis zu Tieck anzuknüpfen. Bereits 1838 beziehungsweise 1839 wagte er, sich brieflich an Tieck zu wenden, um durch dessen Vermittlung einen Verleger für die eigenen Novellen zu gewinnen und sich dadurch als freier Schriftsteller zu etablieren.141 1840 folgte die Übersendung des Manuskripts von Judith an Tieck, als dieser Dramaturg des Dresdner Theaters

|| 137 Ludwig Börne: „Don Carlos“. Trauerspiel von Schiller. In: ders.: Börnes Werke in zwei Bänden, hg. von Helmut Bock und Walter Dietze. Bd. 1. Weimar 1959, S. 19–22, hier S. 20. 138 Ludwig Börne: „Don Carlos“, S. 20. 139 Vgl. TBR 538 / TBW 552: „An Schriftstellern, die auf mich gewirkt, muß ich zuerst Göthe nennen, […] dann aber Börne und endlich Jean Paul.“ 140 Vgl. B 89, an Elise Lensing, datiert 21. Februar 1837. WAB 1, S. 158. 141 B 135, an [Ludwig Tieck], datiert 24. Oktober 1838. WAB 1, S. 256. Vgl. ferner B 149, an Ludwig Tieck, datiert 21. April 1839. WAB 1, S. 300.

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war. 142 Beide Versuche scheiterten. 143 Dennoch ist die Wertschätzung konsistent geblieben: Die 1848 erschienenen Kritischen Schriften Tiecks wurden von Hebbel durchaus positiv besprochen (W 11, S. 309–314); noch 1851 besuchte Hebbel während seines Berliner Aufenthalts den inzwischen schwererkrankten Dichter. Den Kritiker Tieck kennt Hebbel vor allem durch die Lektüre seiner Dramaturgischen Blätter. In der Privatbibliothek Hebbels sind zwei „zerlesene Broschuren“ der Wiener Ausgabe der „Dramaturgischen Blättern“ aus dem Jahre 1826 erhalten; im ersten Band derselben, in dem Tieck sowohl seine Kritik der Wallenstein-Trilogie144 als auch die Besprechung der Dresdener Aufführung mit Ferdinand Eßlair als Wallenstein publiziert hat,145 befindet sich sogar ein eigenhändiger Nameneintrag Hebbels.146 Dieser Überlieferungssachverhalt deutet auf eine intensive, nicht unreflektierte Auseinandersetzung mit den Tieckschen Schriften hin, die auch in etlichen Tagebuchaufzeichnungen und Aufsätzen, insbesondere in Bezug auf Schillers Wallenstein dokumentiert ist. Beispielsweise verteidigte Hebbel in einer Tagebuchnotiz den Schauspielstil Ferdinand Eßlairs als Wallenstein (TBR 1074 / TBW 1088), gegen Tiecks Vorwurf, Eßlairs kühle Vortragsart werde der Schlüsselstellung jener Traumvision Wallensteins, die sein unbedingtes Vertrauen in Octavio begründet, nicht gerecht. 147 Hingegen stimmt Hebbels Feststellung, dass Schiller „weit mehr lyrischer || 142 Vgl. B 164, an Ludwig Tieck, datiert 17. Februar 1840. WAB 1, S. 317. 143 Trotz einiger Lobsprüche lehnt Tieck jedoch Hebbels Erzählung ab, vgl. B 151, von Ludwig Tieck, datiert 23. Juni 1839. WAB 1, S. 301. Das für Tieck bestimmte Exemplar der Judith wurde mit einer kurzen abfertigenden Notiz und dreifachem Porto erst ein Jahr nach der Einsendung von der Intendanz des Dresdner Theaters direkt an den Absender zurückgeschickt. Tieck meldete sich nicht. Daraufhin verfasste Hebbels einen vorwurfsvollen Klagebrief an Tieck, nämlich B 196, an Ludwig Tieck, datiert 12. Januar 1841. WAB 1, S. 367f. 144 Ludwig Tieck: Die Piccolomini. Wallensteins Tod. In: ders.: Dramaturgische Schriften. Nebst einem Anhange noch ungedruckter Aufsätze über das Deutsche Theater und Berichten über die Englische Bühne, geschrieben auf einer Reise im Jahre 1817. Erster Theil. Wien 1826, S. 57–84. 145 Ludwig Tieck: Eßlair zu Dresden. In: ders.: Dramaturgische Schriften, S. 86–105. 146 Anni Meetz: Verzeichnis von Büchern aus Hebbels und Christines Besitz, S. 215. 147 Tieck kritisiert vor allem den erzählten Traum Wallensteins mit dem Pferdetausch (Vgl. II/3; FA 4, S. 184f). Während die gesamte Vision „voll und mit starkem Accent“ vorgetragen sei, setze Eßlair bewusst vor dem letzten Vers „Und Roß und Reiter sah ich niemals wieder“ eine längere Pause ein, um ihn „prosaisch gebrochen, nur eben noch verständlich, im leichtesten Tone der Conversations-Sprache“ herzusagen. (Ludwig Tieck: Eßlair zu Dresden, S. 95.) Dadurch werde die angespannte Stimmung wieder aufgelöst und die Wirkung sei auch beeinträchtigt. Tieck schätzt also die mitreißende Pathetik der Darstellung und findet deshalb den nüchternen Stil Eßlairs verfehlt: „Eßlair nimmt aber sogleich vom Anbeginn den düstern, grübelnden Helden zu leicht, zu fröhlich und hell, das finstere Gemüth wird uns nicht sichtbar, und so blieb der erste Monolog, gewissermaßen der Mittelpunct der ganzen Dichtung, zu unbedeutend. […] Eßlair's Wallenstein scheitert nicht sowohl, weil er zu tiefsinnig und grübelnd schwerfällig ist, sondern weil er aus Leichtsinn die Mittel nicht achtet, die er nothwendig gebrauchen muß.“ (Ludwig Tieck: Eßlair zu Dresden, S. 97.) Indessen scheint Hebbels Replik mehr dem Dichter als dem Schauspieler zu gelten, da er die Notwendigkeit der nüchternen Deklamation auf die von der Darstellungsform unabhängi-

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Dichter in seinen Dramen, als in seinen Gedichten“ sei (TBR 1328 / TBW 1383), mit Tiecks Kritik an den „gesungenen Gesinnungen“ in Schillers Dramen überein, die sich, durch Reime hervorgehoben, als lyrische Partien völlig von der dramatischen Form losgelöst hätten.148 Vor allem teilt Hebbel Tiecks Kritik an der Episodizität der Liebeshandlung zwischen Max Piccolomini und Thekla, die mit der Totalität des dramatischen Geschehens nicht kompatibel sei.149 Schließlich darf Hebbels Gesamturteil über Wallenstein als eine modifizierte Aneignung von Tiecks Sichtweise gelesen werden. Während Hebbel die Trilogie als „ein[en] erschütternde[n] Commentar des geheimnißvollen Worts: ‚Verflucht, wer mit dem Teufel spielt!‘“ interpretiert, unterstreicht Tieck in seiner Abhandlung über Wallenstein ebenfalls das gefährliche „Spiel mit dem Teufel“: „Wallensteins wunderliche Seelenstimmung [...] soll uns eben die große Lehre einprägen, daß das Leben ein Einfaches, Wahres erstreben müsse, wenn es nicht in Gefahr kommen will, dunkeln und räthselhaften Mächten anheim zu fallen.“150 Es lässt sich also zusammenfassend festhalten, dass sowohl Hebbel als auch Tieck den Wallenstein als eine Parabel für das abgründige Spiel mit der Ambivalenz der dunklen Mächte deuteten. Eng mit der Kritik am Episodischen verbunden ist das Vertrauen in die Eigengesetzlichkeit der Geschichte als ein Ganzes, wobei kein Ereignis als ein von der gesamten Kette der gegenseitigen Bedingtheit isoliertes betrachtet werden darf. Tiecks Auffassung gemäß soll das „poetische Auge des Dichters“ veranschaulichen, „wie alte Zeiten in der seinigen sich abspiegeln“,151 um dadurch die Verknüpfung der Gegenwart mit der Vergangenheit herauszuarbeiten. Das historische Bezugssystem lässt sich allerdings nicht anhand subjektiver Willkür, sondern allein mittels Analyse und Antizipation geschichtlicher Entwicklungslogik, die Tieck als das „ewige Gesetz“ der Kausalität nennt, herstellen. Durch Einbindung des an sich Zufälligen in die Mannigfaltigkeit der Ereignisse werde erst das Wesen sichtbar, „an dem diese

|| ge Bedeutung dieser Traumsequenz zurückführt, die von dem individuellen Stil des Schauspielers unabhängig ist. Vgl. TBR 1074 / TBW 1088: „Ich denke mir: der Künstler legt dadurch die größte Bedeutung hinein, daß er, zu sehr von dem Gewicht dieser Stelle erfüllt, sie gar nicht weiter heraus hebt, weil er glaubt, daß sie, wie sie auch vorgetragen werde, durch k Art des Vortrags verlieren, noch gewinnen könne.“ 148 Ludwig Tieck: Die Piccolomini. Wallensteins Tod, S. 78. 149 Vgl. Ludwig Tieck: Die Piccolomini. Wallensteins Tod, S. 74: „[U]nd die Liebe selbst ist eine schön gedichtete Episode, gegen welche sich aber das übrige Werk, und zwar das Beste und wahrhaft Historische in ihm, mit allen Kräften sträubt, die daher auch nicht, mit dem Ganzen verflößt, harmonisch mit diesem zusammenklingen kann.“ Nicht ohne Ironie bemerkt Hebbel in seiner Rezension über Ludolf Wienbarg, dass Wallenstein bei der Aufführung „etwas Lächerliches“ an sich habe: Das Stück sei wie „ein Gewitter, während dessen zwei Turteltauben sich schnäbeln.“ W 9, S. 372. 150 Ludwig Tieck: Die Piccolomini. Wallensteins Tod, S. 66f. 151 Ludwig Tieck: Die Piccolomini. Wallensteins Tod, S. 61.

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scheinbaren Widersprüche sich zu einem nothwendigen Ganzen verbinden.“152 Diese im Rahmen seiner Wallenstein-Kritik formulierte Vorstellung von historischer Providenz steht allerdings ungeachtet der ursprünglichen kritischen Intention des Rezensenten unmittelbar mit Schillers Geschichtsphilosophie im Einklang, die dieser in seiner Jenaer Eintrittsvorlesung dargetan hat. Der Universalhistoriker habe Schiller zufolge just die Aufgabe, „dem Ursprung der Dinge entgegen“ rückwärtsgewandt die Wurzel des jedesmaligen Weltzustands aufzusuchen (FA 6, S. 426), um mithilfe des „philosophischen Verstand[s]“ das „Aggregat von Bruchstücken“ zu synthetisieren und zum System eines „vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen“ zu erheben (FA 6, S. 427). Insofern ist abermals jene zuvor erwähnte Paradoxie in der Schiller-Rezeption, nämlich dass die vermeintliche Kritik nicht selten auf eine implizite Aneignung fußt, auch bei Tieck zu identifizieren.153 Die feste Überzeugung von der inneren Notwendigkeit des Geschichtsverlaufs macht jedoch die vorsätzliche Erdichtung historischer Einzelheiten überflüssig, ja tadelswürdig. Deshalb richtet sich Tiecks Kritik auch gegen die absichtliche Sinngebung in Schillers dramatischer Dichtung, da die Lehre des Stücks vom Dichter „mit vieler Kunst und großer Anstrengung, besonders aber mit klarem Bewußtsein“ ins Werk eingelegt worden sei.154 Die „bewußtvolle Absicht“ schwäche allerdings die Eigengesetzlichkeit der geschichtlichen Entwicklung und verfremde, so Tieck, „die große Erscheinung des Schicksals“, weil sich dieses „aus der Gesamtheit, aus der innersten Anschauung“ der historischen Totalität hervortun müsse,155 nicht jedoch von einem äußerlichen Begriff willkürlich herbeigeführt werden dürfe. Folgt man Tiecks Argumentation, so ist festzustellen, dass Schiller just in seinem Wallenstein das Schicksal als eine externe Macht vorführt, die tätig in den Lauf der Dinge hin|| 152 Ludwig Tieck: Die Piccolomini. Wallensteins Tod, S. 62. 153 Freilich vertreten Schiller und Tieck unterschiedliche Ansichten über den Endzweck der Geschichte. Für den Historiker Schiller war der Dreißigjährige Krieg trotz aller grausamen Gräueltaten doch ein entscheidender Schritt zu einer europäischen Völkergemeinschaft: „Aber Europa ging ununterdrückt und frei aus diesem fürchterlichen Krieg, in welchem es sich zum ersten Mal als eine zusammenhängende Staatengesellschaft erkannt hatte […].“ (FA 7, S. 12) Tieck hingegen sieht in den Westfälischen Frieden „ein offenes Grab“, das „alle bis dahin frische Kraft Deutschlands, alles regere Leben, ja alle Hoffnung verschlingt“. Das Erwachen aus dieser „finstere[n] Zeit des Stillstands“ sei erst durch „Friedrich und noch später“ möglich. (Ludwig Tieck: Die Piccolomini. Wallensteins Tod, S. 64.) Das bedeutet, dass Tieck Schillers Wallenstein durchaus vor dem Hintergrund der napoleonischen Herrschaft liest und auf die patriotische Bewegung während des Befreiungskriegs anspielt. Überhaupt lässt sich Tiecks zusammenfassende Beschreibung des damaligen Zustands als Spiegelbild des von Napoleon besetzten Deutschlands lesen: „Die Noth des Vaterlandes, der Untergang der Völker, das Brechen der Kräfte in Fürst und Unterthan, die Hoffnung, das Heil, das von Fremden kam, und sich in Uebermuth und Drangsal verwandeln mußte, der Glanz einzelner Erscheinungen, welche alle die finstere Nacht verschlang […].“ (Ludwig Tieck: Die Piccolomini. Wallensteins Tod, S. 64.) 154 Ludwig Tieck: Die Piccolomini. Wallensteins Tod, S. 67. 155 Ludwig Tieck: Die Piccolomini. Wallensteins Tod, S. 67.

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eingreift, und dass er des Weiteren dieses Schicksalsverständnis nicht wie üblich in Blankversen, sondern in gereimten Jamben verfasst: „– Da kommt das Schicksal. – Roh und kalt/ Faßt es des Freundes zärtliche Gestalt.“ (IV/12; FA 4, S. 266) Sowohl in formaler als auch inhaltlicher Hinsicht löst sich das Fatum aus der organischen Gesamtheit der dramatischen Handlung und etabliert sich gegenüber den agierenden Figuren als eine autonome Gewalt. Durch den metrischen Wechsel erscheint aber die artikulierte Schicksalsidee als ein absichtlicher Zusatz, der selbst im Klagelied Theklas „wie bittere Reflexion aus fremdem Munde“ klingt.156 Der genannte Einwand gegen bewussten Einschub philosophischer Sentenzen in die organische Handlungseinheit wird an dieser Stelle erneut aufgegriffen. Überall glaubt Tieck die vorlaute Absicht des Dichters von der Trilogie zu erkennen: Das Gespräch in unter der Dienerschaft über die Herkunft des Trinkpokals in der Tafelszene von Die Piccolominis (IV/5; FA 4, S. 127–131) „gleicht den Zeilen in Büchern, mit einer Hand bezeichnet: man wird zum Aufmerken ermuntert, aber man fühlt die Absicht des Dichters zu sehr“;157 in der Unterredung zwischen Wallenstein und Wrangel fühle man „wieder die Absichten des Dichters zu deutlich“, selbst wenn diese die „Krone des Stücks“ sei;158 und das tragische Ende der Liebesepisode sei nicht zuletzt „eben wieder jenes Schicksal, welches der Dichter so bewußtvoll, ja gleichsam in deutlicher Figur auftreten läßt.“159 Weil Schiller „selbst so bestimmt und unzweydeutig auf diese Einschreitung“ hinweise, erweise sich dieses Schicksal als ein „äußere[r] Begriff“, der von der Intention des Autors herrühre, anstatt „mit überzeugender Nothwendigkeit aus der Dichtung selbst emporstiege.“160 Nicht sosehr die Idee des Fatums selbst, als vielmehr die unzureichende Fundierung desselben innerhalb des vorhandenen dramatischen Handlungsgewebes ist also der Hauptgegenstand der Tieckschen Wallenstein-Kritik. In weiteren, erst nach der Buchausgabe von 1826 publizierten Dramaturgischen Blättern wird das Drama Schillers grundsätzlich als vom Autor bewusst gewolltes Medium ästhetischphilosophischer Reflexion kritisiert: Schiller prägte seinem großen Trauerspiel [= Wallenstein, M. M.] zugleich jene Theorie über die Kunst ein, die er seitdem als Denker abstrahiert hatte, und zwar nicht in das innerste Wesen desselben hinein, […] sondern er legte es kenntlich und leserlich als Absicht in die Außenwerke zur Schau […].“161

|| 156 Ludwig Tieck: Die Piccolomini. Wallensteins Tod, S. 80. 157 Ludwig Tieck: Die Piccolomini. Wallensteins Tod, S. 69. 158 Ludwig Tieck: Die Piccolomini. Wallensteins Tod, S. 69f. 159 Ludwig Tieck: Die Piccolomini. Wallensteins Tod, S. 72. 160 Ludwig Tieck: Die Piccolomini. Wallensteins Tod, S. 72. 161 Zitiert nach Norbert Oellers: Schiller – Zeitgenosse aller Epochen, S. 175. Diese kritischen Passagen waren 1827 als Beilagen zur Dresdener Morgen-Zeitung publiziert worden.

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Die „Bewegungen des Dramas“ seien ferner „jenen lyrischen Ergüssen, oder Reflexionen, Gesinnungen und Meinungen“ geopfert.162 Tiecks Einwände gelten also hauptsächlich der Intentionalität der ideellen Gedankenentfaltung in den Dramen Schillers; sie stimmen durchaus mit der zeitgenössischen Schiller-Kritik überein und deuten dadurch auf Hebbels Urteile über Schiller voraus, von denen noch die Rede sein wird.

3.2.5 Dekonstruktion des Erhabenen: Solger und Schelling Um die Kontur des kritischen Horizonts der zeitgenössischen Schiller-Rezeption zu vervollständigen, sei im Folgenden noch ergänzend auf die philosophische Ästhetik des Tragischen eingegangen, die hier am Beispiel von Karl Wilhelm Ferdinand Solger näher erläutert werden soll. Die von Tieck herausgegebenen Nachgelassenen Schriften Solgers gehören zu Hebbels Stammlektüre seiner Münchner Studienzeit.163 Noch in einem Brief aus dem Jahre 1856 gedachte Hebbel der Leistung des Berliner Philosophen und bekannte dessen tiefgreifenden Einfluss auf ihn selbst: Er habe die Nachgelassenen Schriften gewiß schon zehn Mal gelesen und Solger gehört mit zu den Lehrern meiner Jugend. […] Ohne Zweifel wäre aus der Deutschen Philosophie und namentlich aus der Deutschen Aesthetik etwas Anderes geworden, wenn er statt Hegel oder wenigstens neben Hegel gewirkt hätte.164

|| 162 Zitiert nach Norbert Oellers: Schiller – Zeitgenosse aller Epochen, S. 175. 163 Vgl. TBR 972 / TBW 988; TBR 982 / TBW 996. Hebbel setzt sich vor allem mit der Problematik der Ironie in der Solgerschen Ästhetik aus. Vgl. Dazu TBR 993 / TBW 1007; TBR 995 / TBW 1009. 164 B 1635, an Friedrich von Uechtritz, datiert 23. Juli 1856. WAB 3, S. 310. Deshalb wird auch hier auf eine nähere Untersuchung über Hegels Schiller-Rezeption, die ohnehin den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde, verzichtet, denn das Ziel der Analyse besteht an dieser Stelle weniger darin, ein Gesamtbild der Schiller-Rezeption zu entwerfen, als vielmehr darin, die Voraussetzungen von Hebbels Arbeit an Schiller herauszuarbeiten. Hebbel selber bestreitet auch eine hegelianische Lesart seiner Dramen: „Ich habe oft lächeln müssen, wenn eine gewisse Kritik, die Autonomie des menschlichen Geistes verkennend […], in meiner Anschauung der Welt und der Dinge den Hegelianismus zu wittern glaubte. Was ich als Poesie ausschwitzen soll, muß ich, wenn’s nicht mein eigen ist, doch erst als Philosophie eingesogen haben, und ich erinnere mich noch des Moments, wo ich die Hegelsche Logik und mit ihr den ganzen Hegel für immer aus der Hand legte, weil ich die Identität von Seyn und Nicht seyn absolut nicht begreifen konnte; wer aber auf der Schwelle schon stolpert, wird die Geheimnisse des Hauses gewiß nicht entdecken.“ (B 1162, an Arnold Ruge, datiert 15. September 1852. WAB 2, S. 550.) Zu der Konstellation zwischen Hebbel und Hegel vgl. Heinrich Keidel: Hebbel, Hegel und Plato. In: The Journal of English and Germanic Philology, 17 (1918), S. 175–197; Horst Siebert: Ausklang des deutschen Idealismus. Von Hegel zu Solger und Hebbel. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 20 (1968), S. 28–43; Birgit Fenner: Friedrich Hebbel zwischen Hegel und Freud. Stuttgart 1979.

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Dass angesichts derartigen Bekenntnisses die Vermittlungsfunktion der Solgerschen Schriften in Bezug auf Hebbels Schiller-Rezeption zwingend zu berücksichtigen ist, liegt auf der Hand. Den Ausgangspunkt von Solgers Schiller-Kritik stellt die Idee des Schicksals dar, die schon bei Tieck eine bedeutende Rolle gespielt hat. Im zeitgenössischen Diskurs um 1800 war der Begriff des Schicksals besonders virulent, vor allem in Anbetracht einer verstärkten Rezeption der griechischen Tragiker und der Wahrnehmung jüngster Kriegserfahrungen.165 Dementsprechend bedauert Solger, dass sich Schiller in Wallenstein zwar von der „nun in Schwung gekommene[n] Idee des sogenannten Schicksals“ leiten lasse, allerdings lediglich ein individuelles Geschick mit „idealischen“ Beimischungen darstellte: „Wie anders, wenn er statt des fingirten Schicksals seiner wenigstens halb fingirten Lieblingspersonen das wahre Schicksal Deutschlands und der Welt im dreißigjährigen Kriege vor Augen gehabt hätte!“166 Gefordert wird also ein Panorama der Kriegsgeschehnisse, da das Fatum national kodiert ist und sich nicht privatisieren lässt. Im Zentrum von Solgers Betrachtung über die Schicksalsidee in Schillers Dramen steht Die Braut von Messina, in der „ein unbegreifliches Schicksal“ waltet.167 Grundsätzlich diagnostiziert Solger eine werkimmanente Diskrepanz zwischen der Adaption der antiken Vorstellung und der Lokalisierung des romantischen Stoffs im katholischen Italien. 168 Denn Solger unterscheidet dabei zwei Modalitäten der Schicksalsdarstellung: einerseits das in den antiken Tragödien sogar den olympischen Göttern überlegene Fatum, anderseits der unergründliche Ratschluss des in seiner singulären Allmacht unersetzbaren christlichen Schöpfergotts. 169 Bedingt durch stoffliche Gegebenheiten der neuzeitlichen Dramen soll das Schicksal daher romantisch, das heißt als Offenbarung göttlichen Willens aufgefasst werden. Folg-

|| 165 Vgl. Franziska Rehlinghaus: Die Semantik des Schicksals. Zur Relevanz des Unverfügbaren zwischen Aufklärung und Erstem Weltkrieg. Göttingen 2015, hier insbesondere S. 155–157. Allerdings kommt der zeithistorische Hintergrund für den neuen Schwung der Schicksalsidee, nämlich die napoleonischen Kriege, in Rehlinghaus’ Untersuchung nicht genügend zum Tragen. 166 Vgl. Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Nachgelassene Schriften. Faksimiledruck nach der Ausgabe 1826. 2 Bde. Heidelberg 1973, hier Bd. 2, S. 619. Zur Schicksalsidee bei Schiller vgl. Wolfgang Frühwald: „Das Los des Schönen auf der Erde“. Über Schicksal und Glück im Werke Friedrich Schillers. Paderborn 2005. 167 Vgl. Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Nachgelassene Schriften, Bd. 1, S. 109. 168 Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Nachgelassene Schriften, Bd. 1, S. 110. 169 Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Nachgelassene Schriften, Bd. 1, S. 107f: „Wer eine antike Tragödie macht, wird nothwendig die alten Götter glauben und die Lenkung des Ganzen dem Schicksale, welches noch über den Göttern steht, übergeben müssen. In der romantischen muß er den Gott, den Urquell und Schöpfer des Alls ehren, und sein Rathschluß ist das Schicksal selbst, welches aber in die verborgenste Dunkelheit gestellt werden kann.“

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lich vermisst Solger in Schillers Braut von Messina den „Finger Gottes“170, der die christliche Schicksalsidee verkörpert. Die Identität von Schicksal und Gotteswillen bedeutet für die Gestaltung der Tragödie nun, dass die Einsicht in die göttliche Absolutheit der Schicksalsbestimmung erst im tragischen Ausgang möglich ist. Daher wirft Solger in seiner Rezension A. W. Schlegel vor, dieser habe im Begriff des Schicksals nicht „die göttliche und ewige Macht gesehen, vor welcher das Irdische nur deswegen zergeht, weil sie sich darin gegenwärtig offenbart […]“,171 sondern lediglich die rein „äußere Gewalt“ der Naturgesetzlichkeit, „über welche sich unser Inneres frei und groß erheben könne […].“172 Hier bezieht sich Solger auf die dritte Vorlesung Schlegels, in der die ästhetische Idee des Erhabenen thematisiert wird. Schlegel interpretiert das Erhabene als das Potenzial des Individuums, sich über Einschränkungen von Außenwelt hinwegzusetzen. Durchaus argumentiert er in derselben Linie wie Schiller, der das Erhabene als die Freiheit des Menschen von der Notwendigkeit der sinnlichen Kausalität versteht.173 Im Rahmen der Kritik an Schlegels Schicksalsbegriff wird sich also zugleich mit Schillers Ästhetik des Erhabenen auseinandergesetzt. Der Schillersche Ansatzes von der dialektischen Struktur des Erhabenen wird in der romantischen Ästhetik dahingehend modifiziert, dass der Akzent der ursprünglichen Antithese verschoben wird, was insgesamt als eine Depotenzierung des Individuums zusammengefasst werden kann. Exemplarisch lässt sich dies an einem freien, teilweise ungenauen SchillerZitat in Schellings Philosophie der Kunst verdeutlichen. Bei Schelling, der in der Kunst den Indifferenzpunkt des Real-Endlichen mit dem Ideal-Unendlichen sieht, unterscheidet sich das Erhabene dadurch vom Schönen, dass sich in jenem die „Einbildung des Unendlichen ins Endliche“, in diesem hingegen die „Einbildung des Endlichen ins Unendliche“ vollzieht.174 Während also die Schönheit in der verklärenden Transzendierung der Wirklichkeit liegt, ist die Erhabenheit in der unabdingbaren Einwirkung des absoluten Unendlichen verankert, wobei die Erscheinungsform desselben in der sinnlichen Natur nur als andeutendes Symbol zu begreifen ist: „Das Erhabene ist insofern eine Unterjochung des Endlichen, welches Unendlichkeit lügt, durch das wahre Unendliche.“175 Die alles Fassungsvermögen

|| 170 Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Nachgelassene Schriften, Bd. 1, S. 110. 171 Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Nachgelassene Schriften, Bd. 2, S. 524. 172 Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Nachgelassene Schriften, Bd. 2, S. 517. 173 Zu Schillers Idee des Erhabenen vgl. Klaus L. Berghahn: „Das Pathetischerhabene“. Schillers Dramentheorie. In: Reinhold Grimm (Hg.): Deutsche Dramentheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1971, hier Bd. 1, S. 214–244; ferner Paul Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen. Berlin 2004. 174 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Kunst. Unveränderter reprographischer Nachdruck der Ausgabe von 1859. Darmstadt 1966, S. 105, § 65. 175 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Kunst, S. 106.

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des menschlichen Verstandes übersteigende Größe der unermesslichen Natur ist jedoch nur vermeintlich unendlich, weil sich in ihr das absolute Große ausdrückt und damit erkennbar wird. Zur Bekräftigung seiner These zitiert Schelling nun eine längere Passage aus Schillers Aufsatz „Über das Erhabene“: Den bloßen sinnlichen Beschauer kann (um mich hier Schillers Worte zu bedienen) die Unermeßlichkeit der Natur nur an die Schranken seiner Fassungskraft, ebenso wie die furchtbare und mit unermeßbaren Kräften verderbende Natur einzig an seine Ohnmacht erinnern. Aber […] kaum steigt ihm das Unendliche einer höheren Anschauung herab in die Fluth dieser Erscheinungen und verbindet sich mit dem Ungeheuren der sinnlichen Anschauung als seiner bloßen Hülle, so fangen die wilden Naturmassen um ihn her an eine ganz andere Anschauung für ihn zu werden, indem ihm das relative Große außer ihm nur der Spiegel ist, worin er das absolute Große, das Unendliche an und für sich selbst erblickt.176

In Schillers Aufsatz „Über das Erhabene“ heißt es allerdings: So lange der Mensch bloß Sklave der physischen Notwendigkeit war […] und die hohe dämonische Freiheit in seiner Brust noch nicht ahnete, so konnte ihn die unfaßbare Natur nur an die Schranken seiner Vorstellungskraft und die verderbende Natur nur an seine physische Ohnmacht erinnern. […] Kaum aber macht ihm die freie Betrachtung gegen den blinden Andrang der Naturkräfte Raum, und kaum entdeckt er in dieser Flut von Erscheinungen etwas Bleibendes in seinem eigenen Wesen, so fangen die wilden Naturmassen um ihn herum an, eine ganz andere Sprache zu seinem Herzen zu reden: und das relative Große außer ihm ist der Spiegel, worin er das absolute Große in ihm selbst erblickt. (FA 8, S. 831f.)

Neben der schon an eine buchstäbliche Übernahme grenzenden Ähnlichkeit der Ausführung ist auffällig, dass das ursprüngliche „absolute Große in ihm selbst“ im Schillerschen Original bei Schelling zu „das absolute Große, das Unendliche an und für sich selbst“ geänderten worden ist.177 Ferne wird die „dämonische Freiheit“ ersatzlos gestrichen. Es handelt sich nicht um philologische Nachlässigkeit, im Gegenteil: In dieser Modifikation bahnt sich eine Umdeutung, ja eine Dekonstruktion der Schillerschen Idee des Erhabenen an. Für Schiller ist die physische Niederlage des Menschen in der Konfrontation mit der Übermacht der Natur nur ein Anlass, sich der Independenz der eigenen „reinen Vernunft“ von äußerlichen Naturbestimmungen bewusst zu werden und somit die „dämonische“ Freiheit des Geistes zu erfahren (FA 8, S. 834). Das Erhabene ist das Moment der Emanzipation des Subjekts aus seiner materiellen Bedingtheit. Dass Schiller an der absoluten Größe im Menschen, die einen von allen Naturgesetzlichkeiten unabhängigen Bereich konstituiert, wahrhaft gelegen ist, lässt sich daran ablesen, dass sich dieselbe Formulie-

|| 176 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Kunst, S. 106f. 177 Arne Zerbst hat in seiner Schelling-Monographie allein auf die fehlenden Ausführungszeichen aufmerksam gemacht. Vgl. Arne Zerbst: Schelling und die bildende Kunst. Zum Verhältnis von kunstphilosophischem System und konkreter Werkkenntnis. München 2011, S. 122, Anm. 125.

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rung in demselben Aufsatz wiederholt: „Gern lassen wir die Imagination im Reich der Erscheinung ihren Meister finden, […] aber an das absolute in uns selbst kann die Natur in ihrer ganzen Grenzenlosigkeit nicht reichen.“ (FA 8, S. 827)178 In dem umgemodelten Zitat wird das „absolute Große“ im Menschen zum Unendlichen „an und für sich“, angesichts dessen das Individuum zu einem sinnentleerten Erkenntnisorgan degradiert wird. Die Aufgabe desselben besteht nicht mehr in der Aktivierung des subjektiven Freiheitspotentials, sondern darin, das Unendliche in seiner symbolischen Repräsentation in der Wirklichkeit bewundernd anzuschauen. Wird dies auf die tragische Kunst übertragen, so führt es dazu, dass die Freiheit nicht mehr eine eigenständige Größe darstellt, sondern lediglich die Modalität der Bewusstwerdung von der Bedingtheit des individuellen Handelns, und zwar gerade im Augenblick des tragischen Untergangs: Daß ein Schuldloser durch Schickung unvermeidlich fortan schuldig werde, ist, wie gesagt, an sich das höchste denkbare Unglück. Aber daß dieser schuldlose Schuldige freiwillig die Strafe übernimmt, dieß ist das Erhabene in der Tragödie, dadurch erst verklärt sich die Freiheit zur höchsten Identität mit der Nothwendigkeit.179

|| 178 Eine Vorstufe zur ästhetischen Auffassung des absoluten Großen als moralischer Independenz des Menschen stellt Schillers Überlegung in seinem Aufsatz „Zerstreuten Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände“ dar, dass das Ich schon dadurch, dass es das mathematische oder das natürliche Erhabene zu begreifen versucht, ein seiner Selbst bewusstes Subjekt wird, in welchem das Große als Potenz innewohnt: „Ich trage also schon diese Allheit in mir die ich darzustellen suche, eben weil ich sie darzustellen suche. Das Große also ist in mir, nicht außer mir. Es ist mein ewig identisches, in jedem Wechsel bestehendes, in jeder Verwandlung sich selbst wiederfinden.“ FA 8, S. 483. 179 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Kunst, S. 343. Damit greift Schelling eine Idee aus dem zehnten seiner frühen Briefe über Dogmatismus und Kriticismus aus dem Jahre 1795 wieder auf. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Briefe über Dogmatismus und Kritizismus, hg. von Otto Braun. Leipzig 1914. In den Briefen hat der Kritizismus, den Schelling dem Dogmatismus vorzieht, noch die Aufgabe, „den Menschen frei zu machen.“ (2. Brief, S. 12.) Dadurch wird das Subjekt und das Streben nach „unveränderlicher Selbstheit, unbedingter Freiheit, uneingeschränkter Thätigkeit“ (9. Brief, S. 84.) ins Zentrum seines Systems gestellt. Allerdings findet sich diese Begeisterung in den Vorlesungen nicht wieder. Man könnte sogar argumentieren, dass die Identität der Freiheit mit der Notwendigkeit, die nur durch die freiwillige Aufhebung des Subjekts realisiert werden kann, eigentlich den Standpunkt des spinozistischen „Dogmatismus“ darstellt. Dieser Dogmatismus geht von einem absoluten Objekt aus und fordert die Auflösung der subjektiven Kausalität in die absolute Kausalität. Es fordert als den Umgang des Endlichen: „daß das Endliche strebe, identisch zu werden mit dem Unendlichen, und in der Unendlichkeit des absoluten Objects unterzugehen […].“ (7. Brief. S. 53.) Peter Szondi, der die Form des tragischen unbedingt verteidigt, legt freilich großen Welt auf die Freiheit in Schillers Schriften. Diese Freiheit kann allerdings erst im Prozess der Selbstauflösung erfahrbar werden. Vgl. Peter Szondi: Versuch über das Tragische. In: ders.: Schriften. 2 Bde. Bd. 1, hg. von Jean Bollack u. a. Frankfurt a. M. 2011, S. 149–260. Zu Schelling vgl. hier insbesondere S. 157–161.

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Die Freiheit ist hier nicht mehr der Ausweg, wie es bei Schiller der Fall war, der noch von der Flucht „in die heilige Freiheit der Geister“ (FA 8, S. 836) vor der faktischen Anarchie der hybriden Weltgeschichte sprach.180 Der „höchste Sieg der Freiheit“ ist jetzt hingegen allein durch das freiwillige Fügen in das Unvermeidliche, durch die Selbstaufhebung der Freiheit zu erringen181 – die Bestätigung des freien Willens ist zugleich das Moment von dessen Verlust. Deshalb muss Schellings vermeintliche Adaption nicht als ein Versehen, sondern als eine bewusste Umkehrung der ästhetischen Prämissen Schillers gelesen werden, da die Freiheit angesichts des Großen „an und für sich“ nur eine freiwillige Entsagung der Freiheit bedeutet.182 Selbst wenn dies als der letzte Sieg des tätig erkennenden Subjekts gefeiert werden sollte, so bleibt letztendlich doch nur die Einsicht in die Ohnmacht der Autonomie des Ich gegenüber den unüberwindlichen Schicksalsmächten. Gerade vor diesem Hintergrund der Zerschlagung des idealistischen Subjektivismus führt Solger seine ästhetischen Überlegungen im Zeichen einer kritischen Auseinandersetzung des Erhabenen fort.183 Die „berühmte[] sittliche[] Freiheit, in

|| 180 Vgl. Wolfgang Riedel: „Weltgeschichte ein erhabenes Objekt“. Zur Modernität von Schillers Geschichtsdenken. In: Peter-André Alt u. a. (Hg.): Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings. Würzburg 2002, S. 193–214. 181 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Kunst, S. 341: „Es ist der größte Gedanke und der höchste Sieg der Freiheit, willig auch die Strafe für ein unvermeidliches Verbrechen zu tragen, um so durch den Verlust seiner Freiheit selbst eben diese Freiheit zu beweisen, und noch mit einer Erklärung des freien Willens unterzugehen.“ Darüber hinaus vgl. ders.: Briefe über Dogmatismus und Kritizismus, 10. Brief, S. 86: „Es war ein großer Gedanke, willig auch die Strafe für ein unvermeidliches Verbrechen zu tragen, um so durch den Verlust seiner Freiheit selbst eben diese Freiheit zu beweisen, und noch mit einer Erklärung des freien Willens unterzugehen.“ 182 Dieter Jähnig weist in seiner verdienstvollen Untersuchung zu Schellings Kunstphilosophie ebenfalls auf diese gravierende Abweichung des Schiller-Zitats hin und macht sie als Grundstein der Schellingschen transzendentalen Ästhetik plausibel. Vgl. Dieter Jähnig: Schelling. Die Kunst in der Philosophie. 2 Bde. Pfullingen 1969, Bd. 2, S. 235ff. Jähnigs zufolge bestehe der wesentliche Unterschied der beiden Erhabenheitskonzepte darin, „daß bei Schiller nur eine Wendung innerhalb eines selber nicht in Frage gestellten Grundverhältnisses zwischen menschlicher (transzendentaler) Subjektivität und nicht-menschlicher Objektivität stattfindet, während bei Schelling dieses ganze […] Grundverhältnis aufgegeben wird.“ (S. 239) Dies sei eine Relativierung der Subjektivität in der ästhetischen Anschauung des Unendlichen an und für sich, welche für die Konstruktion des Schönen von entscheidender Bedeutung sei (S. 239). Mit gleicher Ausführlichkeit jedoch weniger argumentativer Schärfe weist Jean-François Courtine auch auf dieses ungenaue Zitat hin. Vgl. JeanFrançois Courtine: Tragödie und Erhabenheit. Die spekulative Interpretation des „König Ödipus“ an der Schwelle des deutschen Idealismus. In: Jörg Jantzen (Hg.): Die Realität des Wissens und das wirkliche Dasein. Erkenntnisbegründung und Philosophie des Tragischen beim frühen Schelling. Stuttgart/Bad Cannstatt. S. 161–210, hier insbesondere S. 191ff. 183 Zur Idee des Erhabenen bei Solger vgl. Giovanna Pinna: Zum Verhältnis von Schönheit und Erhabenheit bei Solger. In: Anne Baillot und Mildred Galland-Szymkowiak (Hg.): Grundzüge der Philosophie K. W. F. Solgers. Berlin 2014, S. 39–49.

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dem negativ idealisirenden Sinne genommen“, lehnt er als ein Vorurteil ab.184 Noch ausführlicher wird die poetologische Auseinandersetzung mit Schiller und der Deutungstradition des Erhabenen in Solgers eigenen Vorlesungen über Ästhetik ausgetragen.185 Seit Kant und Schiller wird die Funktionsweise des Erhabenen üblicherweise dadurch erklärt, dass Letzteres in dem Moment erfahrbar ist, wo sich die Vernunft trotz des Übermaßes der Naturphänomene dennoch ihrer Überlegenheit bewusst wird. In der „historischen Einleitung“ der Vorlesungen stellt Solger aber eine Gegenthese auf: „Das Gefühl aber, welches durch das Erhabene geweckt wird, ist in der Tat gerade das entgegengesetzte. Wir kommen uns vielmehr unbedeutend dagegen vor, fühlen uns gedemüthigt und ordnen uns dem erhabenen Gegenstand unter.“186 Die Erfahrung des Erhabenen wird nicht zum Anlass der Selbsterhebung des Menschen verklärt, sondern verweist ihn wieder in die Schranken des endlichen Subjekts. Was über dem Menschen steht, ist nach Solgers Auffassung die Idee, die sich „in der Existenz offenbaren“ will.187 Die Vielfalt der hybriden Welt wird zugunsten der Einheit des ausdrücklich göttlichen Lebens aufgegeben, da die irdische Wirklichkeit als Repräsentation der Idee notwendigerweise mangelhaft sein muss: „Das tragische Verhältniß im Schönen liegt darin, daß das Schöne, als Erscheinung, der göttlichen Idee als dem reinen Wesen entgegengesetzt ist und widerspricht[.]“188 Die Auflösung des Subjekts, das lediglich „das Gefäß der Idee“ sei,189 fördert allerdings gerade dadurch die Erfüllung seiner höheren Bestimmung: „Der Mensch fühlt seine Nichtigkeit, wenn er die Idee darstellen will und dies nur in den Widersprüchen der Existenz vermag. […] Aber eben in diesem Gefühle liegt zugleich die höchste Erhebung […]. Wir wissen, dass unser Untergang nicht die Folge einer Zufälligkeit, sondern davon ist, daß die Existenz das Ewige, wozu wir bestimmt sind, nicht ertragen kann, daß mithin die Aufopferung selbst das höchste Zeugnis unserer höheren Bestimmung ist.“190

|| 184 Vgl. Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Nachgelassene Schriften, Bd. 2, S. 521. 185 Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Vorlesungen über Ästhetik, hg. von Karl Wilhelm Ludwig Heyse. Darmstadt 1973. 186 Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Vorlesungen über Ästhetik, S. 37. 187 Vgl. Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Vorlesungen über Ästhetik, S. 66f: „Die Idee muß erkannt werden als diese Welt des Allgemeinen und Besonderen in sich auflösend und sich selbst an die Stelle dieser Existenz setzend.“ 188 Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Vorlesungen über Ästhetik, S. 94. Die Nichtigkeit der Welt liegt auch der Idee der „Ironie“ zugrunde, die das Gegebene auf ein Höheres bezieht und Ersteres deshalb als wertlos negiert: „Sie [= die Ironie, M. M.] ist die Stimmung, wodurch wir bemerken, daß die Wirklichkeit Entfaltung der Idee, aber an und für sich nichtig ist und erst wieder Wahrheit wird, wenn sie sich in die Idee auflöst.“ Solger: Vorlesungen über Ästhetik,S. 125. 189 Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Vorlesungen über Ästhetik, S. 70. 190 Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Vorlesungen über Ästhetik, S. 97.

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Das tragische Ende des Individuums wird insofern zur Voraussetzung für die Manifestation der von allen weltlichen Unvollkommenheiten geläuterten ideellen Absolutheit stilisiert, sodass der Augenblick der Vernichtung zum Moment der Offenbarung wird: „Im Tragischen wird durch die Vernichtung die Idee als existierend offenbart; denn indem sie sich als Existenz aufhebt, ist sie da als Idee […]. Der Untergang der Idee als Existenz ist ihre Offenbarung als Idee.“191 Darum muss jeglicher Versuch einer Apotheose des Subjekts als illusionistisch verworfen werden. Mit Solger vollzieht sich, so lässt sich abschließend festhalten, der endgültige Abschied von einem „subjektiv-idealistische[n] Freiheitsdenken“,192 wie es Schillers Konzept des Erhabenen akzentuiert hat. Dass Hebbel, der eifrige Solger-Leser, auch diese ästhetischen Überlegungen in seinen Vorlesungen sehr wohl rezipiert hat, belegt unter anderem ein Tagebucheintrag aus dem Jahre 1843: „[U]nd die tragische Kunst, die, indem sie das individuelle Leben der Idee gegenüber vernichtet, sich zugleich darüber erhebt, ist der leuchtendste Blitz des menschlichen Bewußtseyns [...].“ (TBR 2645 / TBW 2721) Die Dialektik des Individuums mit der als Schicksal verstandenen Idee, die den Mittelpunkt der Schiller-Rezeption der romantischen Ästhetik bildet, wird auch in Hebbels eigenem Tragödienverständnis Widerhall finden. Denn wie der Begriff der Idee inhaltlich zu füllen sei, ist zwar nur situativ bestimmbar; dass aber die Auflösung des Individuums als Opfer der ehernen Notwendigkeit das Sujet des künftigen Trauspiels sein wird, geht indessen unzweifelhaft hervor. Insofern lässt sich Hebbels Auffassung des tragischen Gehalts durchaus auf die Schiller-kritische Ästhetik Solgers zurückführen: „Das Leben ist der große Strom, die Individualitäten darin sind Tropfen, die tragischen aber Eisstücke, die wieder zerschmolzen werden müssen u sich, damit dies möglich sey, an einander abreißen u zerstoßen.“ (TBR 2588 / TBW 2664) Auf diese tragische Konstellation wird vor allem im Demetrius-Kapitel noch zurückzukommen sein.

|| 191 Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Vorlesungen über Ästhetik, S. 311. Szondi, der ganz in der Tradition des philosophischen Idealismus steht, hebt in seiner Solger-Analyse die „Idee“ hervor. Vgl. Peter Szondi: Versuch über das Tragische, S. 175. Nicht die weltliche Realexistenz, sondern die göttliche Idee, die im Schönen enthalten ist, unterliegt der Dialektik des Tragischen, denn die Verwirklichung der Idee ist nie rein genug wie die Idee an sich. Aus diesem Grund widerspricht sich die Idee zwangsläufig. Dass aber dabei auch Menschen untergehen, interessiert offenbar weder Solger noch Szondi. 192 Hartmut Reinhardt: Das „Schicksal“ als Schicksalsfrage. Schillers Dramatik in romantischer Sicht: Kritik und Nachfolge. In: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft, 50 (1990), S. 63–86, hier S. 85. Neben Solger hat Reinhardt auch Eichendorff und Zacharias Werner thematisiert, um den Prozess der romantischen „Resakralisierung“ des Schicksalsbegriffs zu verdeutlichen.

4 Hebbels Ästhetik und seine Schiller-Rezeption 4.1 „Poesie der Idee“: Forschungsüberblick Schon 1909 hat Oskar Walzel die Bestimmung des Stellenwerts des ideellen Gehalts in der Dichtung Hebbels als Leitfrage der Forschung identifiziert: „[W]ar Hebbel bemüht, Menschen in seinen Dramen zu zeichnen, oder wollte er Ideen verkörpern?“1 Trotz Klaus Zieglers wortmächtigem Einwands, die Annahme, dass der philosophierende und der dichtende Hebbel deckungsgleich sei, sei „faktisch unhaltbar“, 2 überwiegt in der Forschung die These von der „Poesie der Idee“, die maßgeblich von Herbert Kraft vertreten wird. Sich an einen Tagebucheintrag des Dichters3 anlehnend, versucht Kraft in seiner Hebbel-Monographie eine Synthese zu formulieren, dass sich im Hebbelschen Œuvre jenes „Primat des Reflexiven gegenüber dem Gestalthaften“ manifestiere.4 Hierbei handelt es sich um ein traditionsreiches philosophisch-geistesgeschichtliches Anliegen der Hebbel-Forschung, die Einflüsse des deutschen Idealismus, insbesondere diejenigen Schellings und Hegels in Hebbels Schriften nachzuweisen. Das Weltbild des Dichters trage „unzweifelhaft idealistischen Charakter“,5 resümiert Wolfgang Liepe, der die Spuren der Schellingschen und Schubertschen Naturphilosophien im Frühwerk Hebbels nachgezeichnet hat.6 Auch Hartmut Reinhardt hält Hebbels Dramenästhetik für eine Fortführung der „Metaphysik und Ästhetik des Deutschen Idealismus“, weil der theoretische Ansatz Hebbels durchaus der Philosophie des Tragischen entspreche, „wie sie Schelling, Solger und Hegel ausgebildet haben.“7 Gelegentlich wird Hebbel, wie beispielsweise von Horst Siebert, gar als „Ausklang“ dieser Geistesepoche betrachtet.8 Mit Recht wird im dramenästhetischen Diskurs oft die tragische Konstellation zwischen dem Einzelnen und dem Weltganzen hervorgehoben, oder, wie Hans|| 1 Oskar Walzel: Hebbelprobleme. Leipzig 1909, S. 2. 2 Klaus Ziegler: Mensch und Welt in der Tragödie Friedrich Hebbels. Darmstadt 1966, S. 8. 3 Vgl. TBR 1040 / TBW 1054: „Die Poesie des Ausdrucks findet weit mehr Bewunderer, als die Poesie der Idee. Dies erklärt mir die Erfolge, die z. B. Grün gefunden hat. Und doch ist sie Nichts.“ 4 Herbert Kraft: Poesie der Idee. Die tragische Dichtung Friedrich Hebbels. Tübingen 1971, S. 282. 5 Wolfgang Liepe: Friedrich Hebbel. Weltbild und Dichtung. In: ders.: Beiträge zur Literatur und Geistesgeschichte, hg. von Eberhard Schulz. Neumünster 1963, S. 382–398, hier S. 398. 6 Vgl. Etwa Wolfgang Liepe: Hebbel zwischen G. H. Schubert und L. Feuerbach. Studien zur Entstehung seines Weltbilds. In: ders.: Beiträge zur Literatur und Geistesgeschichte, S. 158–192; Wolfgang Liepe: Hebbel und Schelling. In: ders.: Beiträge zur Literatur und Geistesgeschichte, S. 193– 258. 7 Hartmut Reinhardt: Hebbels Dramatik. In: Walter Hinck (Hg.): Handbuch des deutschen Dramas. Düsseldorf 1980, S. 244–252, hier S. 246. 8 Vgl. Horst Siebert: Ausklang des deutschen Idealismus. Von Hegel zu Solger und Hebbel. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 20 (1968), S. 28–43. https://doi.org/10.1515/9783110660920-004

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Joachim Anders formuliert, das „Auseinanderfallen von Individuum und Weltgeist, Idee und Erscheinung, Norm und Vollzug“ herausgearbeitet.9 Aber auch die dualistische Grundstruktur, die Peter Michelsen in der zugespitzten Form der „Paradoxie“ als das zentrale Denkmodell Hebbels aus dessen Tagebüchern plausibel hergeleitet hat,10 schließt an die Tradition der Philosophie des Tragischen an. Denn die „einzige Konstante“ dieser Philosophie von Schelling bis Max Scheler sei Peter Szondis Ansicht nach eben das dialektische Moment.11 Bekräftigt wird diese These ferner durch jene bekannte Maxime aus dem Vorwort zu Maria Magdalene über die Leistung Goethes: Dieser habe nämlich mit dem einzigen, was noch übrig blieb, angefangen, nämlich „die Dialectik unmittelbar in die Idee selbst“ hineinzuwerfen (W 11, S. 41). Die Akzentuierung einer dialektisch aufgebauten „Poesie der Idee“12 bedeutet jedoch auch die Marginalisierung und Funktionalisierung der dramatischen Figuren. Kraft konstatiert etwa, dass Personen und Situationen in Hebbels Dramen lediglich „Träger einzelner Funktionen für die Komplexität der Gesamtheit“ seien, die „die Aussage des dichterischen Kunstwerks“ darstellten.13 Die dramatis personae werden als Vertreter bestimmter Positionen begriffen, die argumentativ der „Erarbeitung des Ergebnisses“ dienten.14 Das Individuum der dramatischen Gestaltung erfährt nicht nur der ihn bedingenden metaphysischen Ganzheit gegenüber eine Depotenzierung: Überhaupt wird es auf seine Thesenhaftigkeit reduziert. Einem derartig vereinfachenden Blick erscheinen freilich die Figuren nur als „auf Funktion verkürzte ‚Charaktere‘“,15 welche jeglichen Lebenspotentials entbehrten. Jedoch hat Walzel zu Recht erkannt, dass der Dichter Hebbel anstatt der endgültigen ideellen Aussage in erster Linie die Menschen ins Auge gefasst habe: Der eigentliche Gegenstand seiner dramatischen Dichtung sei nach wie vor „der werdende Mensch und die Stellung des einzelnen im Rahmen der werdenden Menschheit“.16 Nicht die Konsistenz der von Theaterfiguren verkörperten Thesen, sondern die indi-

|| 9 Hans-Joachim Anders: Zum tragischen Idealismus bei Friedrich Hebbel. In: Reinhold Grimm (Hg.): Deutsche Dramentheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas. 2 Bde. Frankfurt a. Main 1971, S. 323–344, hier Bd. 2, S. 328. 10 Vgl. Peter Michelsen: Friedrich Hebbels Tagebücher. Eine Analyse. Göttingen 1966, S. 137–159. Michelsen stellt zusammenfassend fest: „Die Struktur des Hebbelschen Dualismus erweist sich also als paradox“ (S. 152). 11 Vgl. Peter Szondi: Versuch über das Tragische, S. 205ff. 12 Diese Wendung, die einem Tagebucheintrag Hebbels (TBR 1040 / TBW 1054) entnommen ist, gewinnt seit Herbert Krafts gleichnamiger Monographie große Popularität in der Hebbel-Literatur, sodass eine Tagebuchauswahl sie ebenfalls zum Titel wählt. Vgl. Friedrich Hebbel: „Poesie der Idee“. Tagebuchaufzeichnungen, hg. von Christian Schärf. Frankfurt a. M. 2013. 13 Herbert Kraft: Poesie der Idee, S. 284. 14 Herbert Kraft: Poesie der Idee, S. 288. 15 Herbert Kraft: Poesie der Idee, S. 288. 16 Oskar Walzel: Hebbelprobleme, S. 63.

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viduelle Dynamik des Werdens soll ins Zentrum der literarischen Betrachtung gerückt werden. Genau besehen verrät die Prägung der „Poesie der Idee“ weniger ein hartnäckiges Beharren auf einer philosophisch fundierten Reflexionslyrik; vielmehr drückt sie, wie die spätere Formulierung von der Kunst als „realisierte[r] Philosophie“ (W 11, S. 56), Hebbels Vorstellung von der engsten Verflechtung von „Spontaneität, Kunstverstand und Ideenintention“ aus.17 Selbst wenn Hebbels eigene Dichtung das scharfe Urteil Arthur Schopenhauers, dass aus Philosophie keine Poesie zu gebären sei,18 provoziert, so ist seine eigene Kritik an der philosophisch ausgerichteten Dichtung, an der lyrischen Formung gedanklichen Inhalts nicht weniger vehement. Sie äußert sich vor allem in Hebbels Auseinandersetzung mit der Lyrik Friedrich Schillers.

4.2 Hebbels Kritik der Schillerschen Lyrik 4.2.1 Gegen die Gedankenlyrik Schillers Die anfängliche Euphorie des jungen Hebbel über Schiller, deren lyrische Zeugnisse oben bereits erwähnt wurden, hält nicht lange an. Es mehren sich ab 1835, vor allem aber nach der Begegnung mit der Lyrik Uhlands, kritische Äußerungen über das einstige Vorbild. Im Januar 1836 notiert Hebbel: Was ich zu erst zu bemerken habe, ist der Tag, an welchem mir Uhland zuerst entgegen trat. […] Ich hatte mich bisher bei meinem Nachleiern Schillers […] sehr wohl befunden und dem Philosophen manchen Zweifel, dem Aesthetiker manche Schönheitsregel abgelauscht, um Seitenstücke zum Ideal und das Leben und zu anderen Treibhauspflanzen, die | es bei erkünstelter Farbe doch nie zu Geruch und Geschmack bringen, zu liefern […].“ (TBR 139 / TBW 136)

Ein halbes Jahr später wandte sich Hebbel, an seiner Heidelberger Autodidaktexistenz verzweifelnd, direkt an Uhland und wiederholte seine Wertschätzung: „Göthen wenig kennend […], mit Schiller auf dem Felde unfruchtbarer Reflexion umher irrend, traten Sie mir als Apostel, zugleich der Natur und der Kunst, entgegen […].“19 Wie diesen Äußerungen zu entnehmen ist, fehlt Hebbels Ansichten nach der Schillerschen Lyrik, das Organisch-Lebendige. Die ausschließlich durch reflexive Gedankengänge gekennzeichnete philosophische Poesie steht in den absoluten Gegensatz zu der authentischen Natur, und selbst das staunenswerte Bilderreichtum des großen Gedichts „Das Ideal und das Leben“ (FA 1, S. 152–156) besitze ledig-

|| 17 Joachim Müller: Das Weltbild Friedrich Hebbels. Halle 1955, S. 184. 18 Vgl. Paul Bornstein(Hg.): Friedrich Hebbels Persönlichkeit, Bd. 1, S. 439f. Über Hebbels Verhältnis zu Philosophie vgl. den Überblick von Marianne Trapp: Philosophie und Dichtung bei Friedrich Hebbel. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 18 (1964), H. 3, S. 475–485. 19 Vgl. B 66, an Ludwig Uhland, datiert 4. Juli 1836. WAB 1, S. 94.

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lich die „erkünstelte Farbe“ einer „Treibhauspflanze“, denn die materielle Fülle sei vornehmlich der Mythologie, nicht aber der lebendiger Natur und der konkreten Lebenserfahrung entsprungen. Die Begegnung mit Uhlands Lyrik, die hier gleichsam als Offenbarung stilisiert wird, bedeutet für Hebbel vor allen Dingen die Anerkennung der Natur als eine echte poetische Quelle und zugleich die Abkehr von der unproduktiven Reflexion: „Nun führte Uhland mich in die Tiefe einer Menschenbrust und dadurch in die Tiefen der Natur hinein; ich sah, wie er Nichts verschmähte – nur das, was ich bisher für das Höchste angesehen hatte, die Reflexion!“ (TBR 139 / TBW 136) Überhaupt mache der „Gedanken-Inhalt“ an sich keine Poesie aus, denn ein genuiner Dichter erlange seine Gedanken allein durch „Gefühlsanschauung“ (TBR 44 / TBW 41). Deshalb ist es ausgeschlossen, dass sich Schiller gemäß diesem Kriterium als Dichter qualifiziert: „Schiller, in s. lyr. Gedichten, hat eigentlich nur Gefühl für Gedanken.“ (TBR 900 / TBR 913) Allerdings gehört es zu den Eigentümlichkeiten der Hebbelschen Schiller-Rezeption, dass die Ablehnung aus ästhetischen Gründen nicht die Anerkennung der persönlichen Größe gänzlich zu unterdrücken vermag. Zwar dominiert in Schillers Lyrik der geistige Gehalt, aber die unermessliche Inhaltsschwere müsse als Leistung der „ungeheure[n] Subjectivität“ des Dichters, „die eine ganze Welt von philosophischen Ideen in sich aufgenommen hatte“ (TBR 43 / TBW 40), angerechnet werden. Auch wenn dies dazu führe, dass „Schillers Schule sich nicht halten konnte“ (TBR 43 / TBW 40), so ist die Folgenlosigkeit gerade das Zeichen der Unnachahmbarkeit eines unerreichbaren Individuums, das selbst dem Kritiker Achtung abzwingt. Trotz dieser Anerkennung bleibt aber die kritische Einstellung Hebbels gegenüber Schillers gehaltreicher Lyrik zunächst unverändert. In einem Brief an Elise Lensing äußerte er im Jahre 1837, dass Schillers lyrische Hervorbringungen „wirklich die kalten Früchte des Verstandes“ seien, „nicht die characteristischen Ergüsse eines erregten Gemüths.“20 In der zwei Jahre später entstandenen Rezension zu den Gedichten Julius Krais’ wird Schiller gar vorgehalten, dass er „producirend und theoretisirend die kühne Reaktion gegen die echte Lyrik“ unternommen habe und „seiner Intelligenz die Harfe zu erobern“ suchte, „um, statt der Melodieen, Vernunftschlüsse und philosophische Systeme abzuspielen“ (W 10, S. 377). Die Nähe zur zeitgenössischen Schiller-Kritik liegt hier auf der Hand (s. auch Kap. 3.2). Abermals wird das lyrische Werk Schillers als Ausdrucksmedium gedanklichen Inhalts und damit als Abweichung von der eigentlichen poetischen Forderung verstanden, sodass sich Hebbel noch in demselben Jahr anlässlich der Besprechung von Heinrich Viehoffs Untersuchung zu Schillers Gedichten die polemische Frage erlaubte, „ob Schillers Geist die lyrische Form zur Entladung bloß in manchen Stunden bequem und gelegen fand, oder ob sie ihm wahrhaft nothwendig war.“ (W 10, S. 387) Das poetische Vermögen Schillers wird hier also generell in Frage gestellt.

|| 20 Vgl. B 98, an Elise Lensing, datiert 18. Juni 1837. WAB 1, S. 184.

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Die Feststellung, dass jene „kühne Reaktion“ zum Teil auch „theoretisirend“ durchgeführt werde, bezieht sich vor allem auf Schillers große Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“, die Hebbel nachweislich kannte. So notierte er 1837 in seinem Münchner Tagebuch: Alles Räsonnement (und dahin gehört doch auch, was Schiller unter der Firma des Sentimentalen als Poesie retten ∫einsmuggeln∫ will) ist einseitig u geh gewährt dem Geist u dem Herzen keine weitere Thätigkeit, als die der einfachen Verneinung oder Bejahung. Alles Thatsächliche u Gegenständliche dagegen (und hieher gehören die sog. Naturlaute, in denen sich das Innerste eines Zustandes oder einer menschlichen Persönlichkeit offenbart) sind ∫ist∫ unendlich u eröffnet Theilnehmenden u Nicht-Theilnehmenden für Anwendung aller | Kräfte den weitesten Kreis. (TBR 874 / TBW 887)

Dieser Tagebucheintrag wiederholt die bereits anderenorts geäußerte resolute Ablehnung des Reflexiven in der Lyrik mit der Begründung, dass die geistigen Vorgänge – „alles Räsonnement“ – nicht zur Poesie gehörten. Wenn der sentimentalische Dichter, wie ihn Schiller par excellence verkörpere, nur über den Eindruck der Gegenstände reflektiere, und wenn sich ferner seine poetische „Rührung“ ausschließlich auf jene „Reflexion“ gründe (FA 8. S. 739), so distanziere er sich vom unmittelbaren Naturerlebnis, nur um es dann nachträglich zu rekonstruieren und auf eine Idee zurück zu beziehen: „Der Gegenstand wird hier auf eine Idee bezogen und nur auf dieser Beziehung beruht seine dichterische Kraft.“ (FA 8, S. 739) Die Poesie der sentimentalischen Dichtung fußt insofern nicht auf der unmittelbaren Wahrnehmung des Gegenstands, sondern auf dem reflexiven Verhältnis des dichtenden Subjekts zu ihm. Dies steht allerdings im Widerspruch zu Hebbels Lyrikvorstellung, denn für ihn habe das „echte“ Gedicht „mit dem sog. Gedanken, der immer nur ein Verhältniß zwischen den Gegenständen ausdrückt, nie das Innerste eines Gegenstandes selbst, Nichts zu thun.“ (TBR 951 / TBW 965; Hervorhebung im Original)21 Da weder die reflexive Distanzierung noch die Distinktion des Subjekts von der sinnlichen Gegenwart für die eigentliche Poesie konstitutiv ist, wirkt eine ideelle Übersteigerung der Naturwahrnehmung überflüssig. Deshalb fasst Hebbel die Schillersche Lyrik als eine zentripetale Sehnsucht auf: „Schillers Poesie thut immer erst einen Schritt über die Natur hinaus und sehnt sich dann nach ihr zurück.“ (TBR 1644 / TBW 1703) Treffender lässt sich der Grundzug der sentimentalischen Dichtung nicht beschreiben. Aufschlussreich ist es aber, dass sich die Poetik Hebbels, die auf seiner Auseinandersetzung mit Schiller beruht, auch als Dramenästhetik lesen lässt, da die Natur als Gegenstand der Dichtung auch die seelische Menschennatur umfasst. Der Weg in die Tiefe der Natur führt, so geht aus Hebbels Wertschätzung der Uhlandschen Lyrik hervor, durch das Innerste einer „Menschenbrust“; der „Naturlaut“ ist

|| 21 Vgl. auch B 109, an Elise Lensing, datiert 18. Januar 1838. WAB 1, S. 206.

Hebbels Kritik der Schillerschen Lyrik | 87

weniger die sprachliche Imitation der natürlichen Stimme, sondern die unkontrollierte Veräußerung der Menschenseele (TBR 139 / TBW 136). Infolgedessen wird das Naive mit dem seelischen Unbewussten gleichgesetzt: „Das Naive (Unbewußte) ist der Gegenstand aller Darstellung; […] manches Wort plaudert die verborgensten Geheimnisse der Seele aus.“ (TBR 878 / TBW 891) In einem an Elise Lensing gerichteten Brief wird das dramenästhetische Potential der Lyrik vollends offenkundig: „Die lyr. Poesie soll das menschliche Gemüth im Tiefsten erschließen, sie soll seine dunkelsten Zustände durch himmelklare Melodieen lösen […].“22 Lyrik, die sich mit der seelischen Tiefe des Menschen befasst, ist kein Mediums der philosophischen Thesenbildung; in Hebbels Auffassung wird sie zum Moment der psychologischen Enträtselung umgewandelt. Freilich ändert die psychologische Potenzierung der Poesie an der Kritik der Unnatürlichkeit der Schillerschen Reflexionslyrik wenig. Jedoch mischen sich, wie oben bereits angedeutet, selbst in die schärfste Widerrede manche Töne der Bewunderung. 1839 notiert Hebbel: „Schillers Talent war so groß, daß er durch die Unnatur selbst zu wirken wußte.“ (TBR 1476 / TBW 1537) Dieses Urteil wird fast wörtlich in die Rezension der Kraisschen Gedichte übernommen: Schiller, „dieser hervorragende Geist“, sei so groß, „daß er selbst auf dem Wege der Unnatur die Wirkung nicht verfehlte.“ (W 10, S. 377) Ganz lässt sich die Anerkennung doch nicht verhehlen, auch wenn die kritische Auseinandersetzung in diesem Stadium der SchillerRezeption deutlich überwiegt.

4.2.2 Idealrealismus im zeitgenössischen Diskurs Hebbels Ablehnung der Reflexionslyrik, als deren Hauptvertreter Schiller gilt, führt allerdings nicht zu einer kompletten Ausklammerung des ideellen Gehalts in der Poetik. „Alle Kunst verlangt irgend ein ewiges Element; darum läßt sich auf bloße Sinnlichkeit (von der sich keine unendliche Steigerung denken läßt) kein Kunstwerk basiren.“ (TBR 712 / TBW 726) Zwar stellt die Natur, die organische wie die menschliche, nach wie vor den Ausgangspunkt der dichterischen Gestaltung dar, sie darf jedoch nicht in ihrer Stofflichkeit verharren, sondern muss sich „steigern“, muss durch Rückbezug auf Ideen eine höhere Sinnschicht für sich erschließen. Wenn Hebbel 1841 das Dichten als „Abspiegeln der Welt auf individuellem Grunde“ (TBR 2240 / TBW 2300) definiert, so wird implizit die Übereinstimmung der ideellen Weltordnung mit dem jeweiligen Erfahrungskontext, in dem nun Erstere enthalten ist, angenommen. Damit gewinnt das poetisch zu gestaltende Konkrete, ohne sich selbst reflexiv zu transzendieren, eine Verweisfunktion, weil sie in ihrer spezifischen Existenz auf das Allgemeine hindeutet. Aus diesem Grunde formuliert der

|| 22 B 146, an Elise Lensing, datiert 10.–25. Februar 1839. WAB 1, S. 293.

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junge Hebbel, als er sich mit Uhland und Schiller beschäftigt, das „erst[e] und einzig[e] Kunstgesetz[]“: Die Kunst solle „an der singulären Erscheinung das Unendliche veranschaulichen.“ (TBR 139 / TBW 136; vgl. auch Kap. 3.2) Die notwendige Vereinigung der Reflexion mit der Natur in der Übereinkunft des Subjektiv-Spekulativen mit dem Objektiv-Konkreten wird nicht selten als das eigentliche Verdienst der Schillerschen Poesie angesehen. Diese Wertschätzung etabliert sich vor allem im Anschluss an jene Einführung Wilhelm von Humboldts zu seinem Briefwechsel mit Schiller, der 1830 erschien23 und zu den Lektüren des jungen Hebbel gehörte.24 In diesen einleitenden Passagen zum „Geistesgang“ Schillers fasst Humboldt die „Eigenthümlichkeit seines [= Schillers, M. M.] intellectuellen Strebens“ als einen Versuch auf, die „Identität“ des Ursprungs von Poesie und Philosophie darzustellen.25 Dies begreift Humboldt als eine individuelle Leistung des „Dichtergenie[s]“, das „auf das Engste an das Denken in allen seinen Tiefen und Höhen geknüpft“ sei,26 sodass seine Lyrik sich „vorzugsweise der Ausführung philosophischer Ideen“ widme.27 Erforderlich wird ein „tiefere[r] Antheil des Gedankens“ in der dichterischen Produktion,28 was zugleich Schillers Modernität gegenüber einem naiven, unreflektierten Stil ausmacht. 29 Der „Innerlichkeit“ des Deutschen ganz entsprechend, der die Poesie und Philosophie nicht trennen, sondern verbinden wolle,30 vollzieht sich Humboldt zufolge in Schillers Lyrik eine Zusammenführung der beiden dichterischen Grundelemente: „Gedanken und Bild, Idee und Empfindung treten immer in ihm [= Schiller, M. M.] in Wechselwirkung,

|| 23 Vgl. Wilhelm von Humboldt (Hg.): Briefwechsel zwischen Schiller und Wilhelm von Humboldt. Mit einer Vorerinnerung über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung. Stuttgart 1830. Zu Humboldts Briefwechsel mit Schiller vgl. Günter Oesterle: Dialog und versteckte Kritik oder „Ideentausch“ und „Palinodie“: Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schiller. In: Hans Feger (Hg.): Die Realität der Idealisten. Friedrich Schiller – Wilhelm von Humboldt – Alexander von Humboldt. Köln 2008, S. 147–166. Oesterle macht auf Humboldts Vorbehalt gegenüber einer philosophischen Poesie aufmerksam und arbeitet dadurch die kritischen Untertöne in Humboldts Schiller-Würdigung heraus. Dass aber Schillers Lyrik für Humboldt nach wie vor als Vermittlungsversuch zwischen Poetizität und Reflexivität gilt, steht außer Frage. 24 TBR 1352 / TBW 1412, datiert 28.12.1838. Hebbel hat den Briefwechsel am 21. Dezember 1838 aus der Münchner Bibliothek ausgeliehen. Ein von Emil Kuh geschenktes Exemplar ist auch in Hebbels Bibliothek erhalten. Vgl. Anni Meetz: Neue Hebbel-Briefe, S. 213. 25 Wilhelm von Humboldt: Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung. In: ders.: Werken in fünf Bänden. Bd. 2: Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik. Die Vasken, hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Berlin (DDR) 1961, S. 357–394, hier S. 372. 26 Wilhelm von Humboldt: Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung, S. 360. 27 Wilhelm von Humboldt: Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung, S. 380. 28 Wilhelm von Humboldt: Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung, S. 360. 29 Vgl. Ernst Osterkamp: Fläche und Tiefe. Wilhelm von Humboldt als Theoretiker von Schillers Modernität. In: Walter Hinderer (Hg.): Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Würzburg 2006, S. 101–117. 30 Wilhelm von Humboldt: Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung, S. 371f.

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und in den gelungenen Stellen durchdringen sie einander, ohne von ihrer Eigenthümlichkeit aufzugeben.“31 Folgt man dem Gedanken Humboldts, lässt sich festhalt, dass Hebbels Vorstellung von einer Verschmelzung der gedanklichen Sinnstruktur un der poetischen Wahrnehmung der Wirklichkeit gerade den Kern der Schillerschen Lyrik trifft. Darüber hinaus spiegelt sich in Hebbels Forderung nach einem ideell gesteigerten Realismus auch der zeitgenössische Kunstdiskurs wider, der in der Tradition des Idealismus stehend eine Vermittlung desselben mit der Wirklichkeitsdarstellung anstrebt. Arnold Ruge beispielsweise, mit dem Hebbel in regem Briefwechsel stand, besteht auf einer idealisierenden Läuterung der Wirklichkeit: „Die gemeine Wirklichkeit ist geistlos und bedeutungslos; erst wenn du sie verstehst, gibst du ihr eine Bedeutung, erst wenn du sie auf ihr Ideal ziehst, gibst du ihr Geist.“32 Rudolf Gottschall vertritt die ähnliche These, dass allein „der durchscheinende Untergrund der Idee“ jene „bunte und vielbewegte Welt“ zu erheben und zu verklären vermöge.33 Ferner stimmt Hebbels Formulierung mit derjenigen Moritz Carrieres überein, der zufolge das „künstlerische Idealisieren“ weniger eine begriffliche Abstraktion als vielmehr eine Veranschaulichung des Allgemeingültigen anhand der Darstellung des Individuellen bedeute, nämlich „in der einzelnen Begebenheit ein allgemeines Gesetz des Geschehens und in der Individualität des Charakters die menschliche Natur erkennen zu lassen.“34 Mit der Einsicht in die kosmologische Daseinsordnung, aber auch in die anthropologische Gesetzmäßigkeit soll die dichterische Wiedergabe der konkreten Wirklichkeit angereichert werden. „[D]enn“, so fragt Robert Prutz emphatisch, „was ist alle Kunst selbst anders, als die ideale Verklärung des Realen, die Aufnahme und Wiedergeburt der Wirklichkeit in dem ewig unvergänglichen Reiche des Schönen?“35

|| 31 Wilhelm von Humboldt: Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung, S. 385. 32 Arnold Ruge: Idealismus und Realismus im Reich des Ideals. Als Vorläufer zu Schillers hundertjährigen Geburtstage. In: Gerhard Plumpe (Hg.): Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung. Stuttgart 2001, S. 132–134, hier S. 132. 33 Rudolf Gottschall: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik. In: Christian Begemann (Hg.): Realismus: Das große Lesebuch. Frankfurt a. M. 2011, S. 48. 34 Moritz Carriere: Aesthetik. Zitiert nach Gerhard Plumpe (Hg.): Theorie des bürgerlichen Realismus, S. 83–87, hier S. 85. 35 Robert Prutz: Das Jahr Achtzehnhundertachtundvierzig und die deutsche Literatur. In: Christian Begemann (Hg.): Realismus: Das große Lesebuch, S. 54. Zu Literaturtheorien des Realismus vgl. Christian Begemann (Hg.): Realismus. Epoche – Autoren – Werke. Darmstadt 2007.

90 | Hebbels Ästhetik und seine Schiller-Rezeption

4.2.3 Die echte Naivität und die Einheit von Kraft und Erkenntnis Die Notwendigkeit der Existenz einer übersinnlichen Grundstruktur der künstlerisch dargestellten Wirklichkeit genießt also in der Ästhetik in der Mitte des 19. Jahrhundert eine hohe Popularität. 1859 notiert auch Hebbel, dass die Idee im Drama das Gleiche sei, wie der Kontrapunkt in der Musik: „Nichts an sich, aber Grundbedingung für Alles.“ (TBR 5552 / TBW 5695) Unter Berücksichtigung seiner Kritik an der Schillerschen Lyrik resultiert aus der Erkenntnis jedoch ein spannungsreiches Problem der Vermittlung zwischen dem ideellen Gehalt und der Realität des Gegenständlichen, das noch zusätzlich dadurch verschärft wird, dass Hebbel ausdrücklich den Einfluss der Philosophie, insbesondere der Hegelschen, auf die eigenen Werke bestreitet.36 Eine Antwort auf diesem vermeintlichen Widerspruch sucht Hebbel in seinem Aufsatz „Wie verhalten sich im Dichter Kraft und Erkenntniß zueinander“ (W 11, S. 77–82) zu geben. Er analysiert hierzu die doppelte Naivität, die im zeitgenössischen Kontext auf Schillers Abhandlung zurückgeführt werden muss. Den Überlegungen Hebbels gehen etliche Tagebucheinträge voraus, die ebenfalls um die Bestimmung des Naiven und dessen Verhältnis zum Ideellen kreisen. Beispielsweise notiert Hebbel 1844: Naivetät in der Kunst, unstreitig das Höchste. Aber es giebt auch eine Naivetät in der Kunst, die darin besteht, daß der sog. Künstler mit der Behaglichkeit des größten Genies seine Trivialitäten aus sich heraus producirt, ohne weil er von der Idee […] nicht das Geringste ahnt und weiß, und diese Naivetät findet auch ihre Verehrer! (TBR 3046 / TBW 3125; vgl. auch TBR 4188 / TBW 4272)

Widersprochen wird also einem trivialen, vom gedanklichen Gehalt völlig abgekoppelten Schreiben, also der kompletten Sinnentleerung einer billigen Naivität. Auf die Unterscheidung der echten von der trivialen Naivität geht auch Hebbels Aufsatz ein. Er weist darauf hin, dass Letztere im „vollständigsten Erkenntnißmangel“ wurzle, während die echte Naivität keineswegs „den Geist“, sondern lediglich die Reflexion als „eine bestimmte Form des Geistes“ ausschließe (W 11, S. 79). Hier aber gerät er unversehens in die Nähe Schillers. Wenn Hebbel nämlich die echte Naivität als die „reinste Erscheinung des Genies“ auffasst, in der „das Gesetz sich ganz von selbst“ vollziehe, ohne dass zunächst darauf besinnt werden müsse (W 11, S. 81), so beruht diese Definition von der spontanen Gesetzmäßigkeit des naiven || 36 Vgl. Hebbels autobiographische Darstellung: „Hier [= in München, M. M.] vollendete ich meine Studien, die sich anfangs auf Philosophie, dann aber ausschließlich auf Geschichte und Literatur lenkten, weil ich bald die Erfahrung machte, daß ich der Philosophie trotz aller Anstrengungen, an denen ich es wahrlich nicht fehlen ließ, nichts abzugewinnen vermochte. Ich habe oft lächeln müssen, wenn eine gewisse Kritik […] in meiner Anschauung der Welt und der Dinge den Hegelianismus zu wittern glaubte.“ B 1162, an Arnold Ruge, datiert 15. September 1852. WAB 2, S. 550.

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Genies unverkennbar auf der Schillerschen Definition, dass jedes wahre Genie naiv sein soll: Naiv muß jedes wahre Genie sein, oder es ist keines. […] Es verfährt nicht nach erkannten Prinzipien sondern nach Einfällen und Gefühlen; aber seine Einfälle sind Eingebung eines Gottes […] seine Gefühle sind Gesetze für alle Zeiten und für alle Geschlechter der Menschen. (FA 8, S. 719)

Auch grenzt Schiller, indem er hierfür eigens die Kategorie des Sentimentalischen einführt, die naive Dichtung von der Reflexion ab und nennt sie „eine Gunst der Natur, um zu erinnern, daß die Reflexion keinen Anteil daran habe.“ (FA 8, S. 778; Hervorhebung im Original) Des Weiteren differenziert Schiller genau wie Hebbel zwischen „wirklicher“ und „wahrer“ Natur, da die Verwechslung der beiden poetische Banalitäten verursachen würde: Es ist nicht zu übersehen, zu welchen Abgeschmacktheiten diese Verwechslung wirklicher Natur mit wahrer menschlichen Natur in der Kritik wie in der Ausübung verleitet hat: welche Trivialitäten man in der Poesie gestattet, ja lobpreist, weil sie leider! wirkliche Natur sind […]. (FA 8, S. 780f.)37

Hier wird vor allen Dingen die karikaturartige Nachbildung von einer verzerrten Realität abgekanzelt, weil zur wahren Natur eine „innere Notwendigkeit des Daseins“ (FA 8, S. 780) gehöre. Insofern teilen die beiden Dichter dieselbe Überzeugung, dass der eigentliche Gegenstand der Dichtung eine ideell fundierte, geistig durchgedrungene Wirklichkeit sein muss. Da Hebbel allerdings nach wie vor jedes „Räsonnement“ als das antipoetische Element ausschließen, die Erkenntnis jedoch in die Dichtung integrieren will, muss er das Moment der Idee nicht, wie für ihn bei Schiller der Fall wäre, als subjektive Leistung des Dichters, sondern als ein mit der Dichtung selbst gesetztes begreifen. Entschieden spricht sich Hebbel deshalb gegen die absichtsvolle Verkündung des gedanklichen Inhalts in der Poesie aus: Ideen, die, wie Goldadern den Berg, das Kunstwerk in seiner Tiefe durchkreuzen, sind aber nirgends in klingende Sentenzen-Scheidemünzen umsetzen, sind keine oder doch nur zufällig, ohne Wissen und Wollen des Künstlers hineingeraten und eher dem, der sie entdeckt, als ihm selbst anzurechnen […]. (W 11, S. 81)

Das ideelle Fundament der Poesie darf weder bewusst bezweckt noch deutlich artikuliert werden; die Poesie realisiert sich, der echten Naivität entsprechend, gleichsam nur von selbst in der Darstellung der Erscheinungswelt.

|| 37 Über die negative Auswirkung dieser Verwechslung auf die Dramatik vgl. auch FA 8, S. 784. Freilich können einzelne Formulierungen nicht unmittelbar als Schiller-Zitat identifiziert werden. Allerdings ist die gedankliche Übereinstimmung nicht zu übersehen.

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4.2.4 Dichtung als realisierte Philosophie: Hebbels Ästhetik I Hebbels Bestimmung der echten Naivität als autogene Durchdringung des Ideengehalts durch die objektive Realität ist schon in seinem Münchner Tagebuch angedeutet: „Ein Kunstwerk durch Darstellung seiner Idee erschaffen, ist viel; die Idee nicht fundamentiren, sondern nur befruchten lassen, ist Alles.“ (TBR 792 / TBW 809) Die Metapher des Befruchten-lassens versinnbildlicht den lebendigen Zeugungsprozess der Dichtung, der keineswegs mit einer bewussten logischen Herleitung bestimmter Resultaten aus einem gegebenen ideellen Fundament gleichzusetzen ist. Auffällig ist nun, dass sich diese Forderung nicht auf die lyrische Gattung beschränkt, sondern sich als ein generelles Kunstprinzip auch auf die Dramenästhetik übertragen lässt: Die Konvergenz des Geistigen mit dem Gegenständlichen vollzieht sich dort vor allem in der Konzentration der dramatischen Gestaltung. Diese Zusammenführung der beiden Grundelemente der Dichtung wird zunächst als ein dialektischer Vorgang der Auflösung und Verdichtung beschrieben. Es ereigne sich im echten Dichtergeist, wie Hebbel 1838 notiert, ein doppelter Prozess: „Der gemeine Stoff muß sich in eine Idee auflösen und die Idee sich wieder zur Gestalt verdichten.“ (TBR 1217 / TBW 1232) Auf die geistige Steigerung der alltäglichen Welt muss demnach eine Vergegenständlichung folgen, damit sie wieder zur Realität wird. Die Idee bildet lediglich einen nötigen Übergang im künstlerischen Schaffen, dessen Ausgangspunkt und Ziel nach wie vor in der Wirklichkeit wurzeln. Deshalb hält Hebbel in seinem Vorwort zu Maria Magdalene fest, dass die Kunst „eine realisirte Philosophie, wie die Welt die realisirte Idee“ sei (W 11, S. 56; Hervorhebung im Original). Durchaus liegt der Akzent hier auf der Realität, denn „eine Philosophie“, so führt Hebbel aus, „die nicht selbst in ihr [= der Kunst, M. M.] zur Erscheinung werden und dadurch den höchsten Beweis ihrer Realität geben will, braucht auch nicht mit der Welt anzufangen […].“ (W 11, S. 56) Ohne Rückbezug auf die in der Kunst dargestellten Wirklichkeit verliert die Philosophie ihren Geltungsanspruch und wird infolgedessen grund- und wirkungslos. Diese Notwendigkeit der Welterfahrung findet ihren schönsten Ausdruck im Widmungsgedicht zu Maria Magdalene, das dem dänischen König Christian VIII. von Dänemark huldigt, da sein Mäzenatentum dem Dichter ermögliche, „[d]ie äuß’re Welt zu schau’n in ihrer Breite“, um den „rothen Faden“ der Dichtung „in der Geschichte“ anzulegen (W 2, S. 6). Deshalb wird programmatisch am Prinzip der Verleiblichung des Geistigen in der dramatischen Gestaltung festgehalten: Der echte dramatische Prozess solle „ganz von selbst […] alles Geistige verleiblichen“ und die „dualistischen IdeenFactoren, aus deren Aneinanderprallen der das ganze Kunstwerk entzündende schöpferische Funke hervorspringt, zu Characteren verdichten [.]“ (W 11, S. 55; Hervorhebung im Original) Sehr wohl speist sich die Tragik der Fabel aus dem Konflikt zwischen den gegeneinander aufgestellten Ideen; allerdings wird dieser Konflikt

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nicht durch „philosophische Systeme im Dialog“38, sondern durch die fassbare Darstellung der handelnden und leidenden Charaktere ausgetragen. Denn der Gedanke habe im Drama nur insofern Wert, „als er individualisirt hervortritt, d. h. als er das Product eines bestimmten Menschen und eines bestimmten Zustandes ist.“ (W 12, S. 237) Das Exemplifizieren des ideellen Gehalts muss dementsprechend immer situativ und an konkrete Individuen gebunden sein, nicht jedoch durch begriffliche Abstraktion bewerkstelligt werden, denn Hebbel habe „keineswegs die Erörterung philosophischer Probleme in künstlerischem Gewand“ im Sinne.39 Ferner wehrt sich Hebbel in seiner Polemik gegen Julian Schmidt ebenfalls heftig gegen die „albern[e] Jagd auf eine Welt-Anschauung“, denn die Forderung nach Realitätsfundierung verweise den Dramatiker „entschieden auf’s Endliche und Begränzte“ und trenne „alle Abstractionen“ ab (W 11, S. 405f.). Resümierend lässt sich feststellen, dass es insofern weniger darum geht, eine philosophische Aussage durch dramatische Handlungsführung zu plausibilisieren, als vielmehr darum, Charaktere in ihr eigenes, ihnen immanentes Spannungsfeld zu versetzen, das aber auf einer ideellen Grundlage fußt. Daher plädiert Hebbel zwar für die Verschmelzung der Metaphysik mit dem Leben, versteht jedoch Letzteres als das Grundsätzlichere: „Nur Narren wollen die Metaphysik aus dem Drama verbannen. Aber es ist ein großer Unterschied, ob sich die Metaphysik aus dem Leben entwickelt, oder ob umgekehrt sich das Leben aus der Metaphysik entwickeln soll.“ (TBR 2527 / TBW 2605) In dem ersten Fall ergebe sich, so Hebbel in „Mein Wort über das Drama“, etwas Gesundes, während im zweiten Fall daraus lediglich ein „Monstrum“ (W 11, S. 10) hervorgehe. Der Kern der Hebbelschen Dramenästhetik kann also vorerst als das Primat des Gegenständlichen und des Individuellen, das allerdings mit der tieferen Sinnstruktur in einem Wechselverhältnis stehen muss, gefasst werden. Diese Auffassung Hebbels und seine Rezeption der Dichtung von Schiller bedingen einander jedoch gegenseitig. Denn die angestrebte Wechselwirkung in der Dichtung ist nicht nur das Resultat seiner auf der Schiller-Kritik basierenden Überlegungen über eine mögliche Vermittlung zwischen Realitätsanspruch und ideeller Potenzierung. Vielmehr wird sie sich in Hebbels Beschäftigung mit Schillers Dramatik noch weiter entfalten – eine Auseinandersetzung, die schlussendlich zur Ausbildung seiner eigenen Ästhetik einen nicht unbedeutenden Beitrag leisten wird.

|| 38 Zu dieser kritischen Wendung vgl. Hebbels Besprechung des Sokrates-Drama von Ludwig Eckhardt. W 12, S. 234–238. 39 Joachim Müller: Das Weltbild Friedrich Hebbels, S. 184.

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4.3 Hebbels Kritik der Schillerschen Dramatik 4.3.1 Gegen die Rhetorik Schillers Zuerst richtet sich Hebbels Kritik an Schillers Dramenästhetik gegen dessen pathetischen Sprachstil. Bereits 1836 lehnt er generell die Schönrednerei in der Dramatik ab und führt diese bedenkliche Tendenz des Rhetorischen auf Schiller zurück: Der Teufel hole das, was man heut zu Tage schöne Sprache nennt; es ist dasselbe in der Dramatik, was die sog. schönen Redensarten im Leben sind. Kattun, Kattun und wieder Kattun! Es flimmert wohl, aber es wärmt nicht. Das schreibt sich auch noch, wie so manches Unwesen, von Schiller her.40

Der Dramatiker Schiller wird gleichsam als Ursprung des bösen, des populären Redeschwulsts verantwortlich gemacht, der trotz vorübergehenden Blendeneffekts dennoch nicht in der Lage sei, die Sympathie für das auf der Bühne dargestellte Leiden zu aktivieren und dadurch „Wärme“ oder gar „Katharsis“ beim Zuschauer zu erzeugen. Mit seiner Kritik an der überschwänglichen Rhetorik Schillers steht Hebbel selbstverständlich nicht allein – längst ist diese gezielter Gegenstand der literarischen Satire der Romantiker geworden.41 Auch kann hier unter Hebbels Zeitgenossen stellvertretend auf Karl Immermann hingewiesen werden, der 1827 in der Vorrede zu seinem Trauerspiel in Tyrol auf die Vorliebe des deutschen Publikums für prunkvolle Redepartien eingeht: „Eine besondere Schwierigkeit, dem deutschen Theater, wie es gegenwärtig ist, gemäß zu dichten, liegt darin, daß das Publikum vorzugsweise nur vom Deklamatorischen und Rhetorischen, nicht aber von dem Poetischen und Characteristischen angesprochen wird.“42 Die Pathetik der Rede

|| 40 B 82, an Elise Lensing, datiert 8.–19. Dezember 1836. WAB 1, S. 138. Vgl. auch die wörtliche Wiederholung dieser Briefstelle in TBR 498 / TBW 513. 41 Im 15. Kap. des 2. Buchs von Ahnung und Gegenwart schildert beispielsweise Joseph von Eichendorff die Komik der pathetischen Redensart à la „Don Karlos“: „Willkommen, Freund, Bruder! Sagte da auf einmal eine Stimme mit Pathos, und ein fremder junger Mann, den sie vorher nicht bemekrt hatten, faßte Leontin’n fest bei der Hand. Ach, was Bruder! Fuhr Leontin heraus ärgerlich über die unerwartete Störung. […] Der Fremde fuhr ganz blinderpicht fort: Lassen Sie die Gewöhnlichen sich ewig suchen und verfehlen, die Seltenen wirft ein magnetischer Zug einander an die männliche Brust, und der ewige Bund ist ohne Wort geschlossen in des Eichwalds heiligen Schatten, wenn die Orgel des Weltbaues gewaltig dahinbraust. – Bei diesen Worten fiel ihm ein Buch aus der Tasche. Sie verlieren Ihre Noten, sagte Leontin, Schillers Don Karlos erkennend. […] Mach doch die Augen fest zu in der Musik und im Sausen des Waldes, daß ihr die ganze Welt vergeßt und Euch vor allem!“ Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart. Sämtliche Erzählungen I. Hg. von Wolfgang Frühwald und Brigitte Schillbach. Frankfurt a. M. 2007, S. 247. 42 Karl Immermann: Das Trauerspiel in Tyrol. Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen. Hamburg 1828, S. VII.

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wird hier als das Gegenteil dramatischer Charaktergestaltung dargestellt. Immermann führt nun, wie nach ihm Hebbel, die Wurzel dieser Verfehlung dramengeschichtlich auf Schiller zurück, denn „Schiller schlug den rhetorischen Ton zuerst lebhaft an.“43 Zwar wird das Urteil über Schiller sogleich modifiziert, indem die Größe seines Talents sowie seine Anlage zum „wirklichen, eigenthümlichen Kunststyl“44 gerühmt werden; jedoch wird die Kritik an der Deklamation keineswegs entschärft: „Das Deklamatorische und Rhetorische führt, consequent ausgebildet, zur Zerstörung des eigentlichen Dramatischen. Es bewirkt, daß den Personen Sentenzen und Schilderungen in den Mund gelegt werden, die weder aus dem Character, noch aus der Situation hervorgehen.“45 Mit anderen Worten verhindert die Rhetorik die situative Einordnung des Gedanklichen im Verhältnis zu jedem SpezifischIndividuellen und verursacht eine Verzerrung der Dramatik zu einer bloßen Sammlung isolierter Parolen, ohne dass der innere Zusammenhang zwischen Aussagen und Charakteren ersichtlich werden könnte. Die Nähe des hier aufgefassten Gegensatzes von Rhetorik und Gestaltung zu jenem Hebbelschen Wort, dass der Gedanke nur in seiner Bindung mit einer bestimmten Individualität Wert habe (W 12, S. 237), liegt auf der Hand. Dass Hebbel diese Vorrede Immermanns genau kannte, ist belegt: In seinem eigenen Vorwort zu Maria Magdalene spricht Hebbel von dem „Bänkelsängerstab, vor dem Immermann so gerechte Scheu trug“ (W 11, S. 61). Hiermit bezieht er sich auf eine Stelle der Immermannschen Vorrede, an der sich dieser eines definitiven Urteils über das eigene Werk enthalten zu müssen glaubte.46 Wenn Hebbel ferner in seinem Vorwort verbietet, sein bürgerliches Trauerspiel nach der „sogenannten ‚blühenden Diktion‘, diesem jammervollen bunten Kattun, worin die Marionetten sich spreizen“ (W 11, S. 63), zu beurteilen, so nimmt er, wiederum wohl Immermann zitierend,47 sein eigenes kritisches Vokabular des Kattuns als Sinnbild jener Rhetorik, die nicht wärmt, auf, das er in seiner Auseinandersetzung mit Schiller entwickelt hatte. In einem weiteren, hier anschließenden Punkt stimmen Hebbel und Immermann überein: Sie beide befürworten mit der Ausgrenzung des pathetischen

|| 43 Karl Immermann: Das Trauerspiel in Tyrol, S. VIII. 44 Karl Immermann: Das Trauerspiel in Tyrol, S. VIII. 45 Karl Immermann: Das Trauerspiel in Tyrol, S. IX. 46 Vgl. Karl Immermann: Das Trauerspiel in Tyrol, S. VI: „Der Dichter wird immer im Stillen eine Meinung über sein Werk haben […]; wenn er sich aber vor dem Publico, deutend mit dem Stabe, daneben stellt, so gleicht er nach meinem Gefühle doch allzusehr den Leuten, welche die Jahrmärkte bänkelsängerisch zu belustigen pflegen.“ 47 Vgl. Karl Immermann: Das Trauerspiel in Tyrol, S. X: „Schlingt sich nun um alle diese Fehler und Mängel noch der Kranz der sogenannten blühenden Diktion […]“. Weder die von Werner besorgte Jubiläumsausgabe noch die Münchner Ausgabe hat dies allerdings als ein mögliches Zitat gekennzeichnet.

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Sprachstils gerade die Priorisierung des Charakters. Es sind nur die „Marionetten“, die in schönen Reden „spreizen“; natürlich-lebendig ist hier weder der Sprechende noch sein Sprechen. Genauso wie Immermann die Rhetorik als potentielle Bedrohung des echten Dramatischen versteht, merkt Hebbel die Unmöglichkeit an, durch Schönrednerei den Mangel an Charakterisierungskunst wiedergutmachen zu können: Man müsse erkennen, „daß im Dramatischen selbst die schönsten und gewichtigsten Reden, wie man sie bei Schiller auf jeder Seite findet, niemals für Charactere entschädigen können.“ (TBR 2331 / TBW 2407) Insofern ist festzustellen, dass Hebbels eigene dramenästhetische Überzeugungen, die sich hier mit dem Primat der Charaktere umschreiben lassen, deutlich im Kontext seiner eigenen und der zeitgenössischen Schiller-Rezeption stehen. Sowohl ihrem Grundgedanken als auch ihrer Ausführung nach sind diese aufs Engste miteinander verflochten.

4.3.2 Gegen die „gehaltenen“ Charaktere Schillers Der Maßstab der Hebbelschen Dramenkritik ist insofern weniger das sprachliche Raffinement als vielmehr die Abrundung der Charaktergestaltung. Dies bestätigt auch der Sachverhalt, dass bereits das erste im Tagebuch dokumentierte Urteil über den Dramatiker Schiller auf dessen Charaktere kritisch Bezug nimmt: Schillers Charact: sind – um mich eines Wortspiels, was hier einmal das Richtige ausdrückt, zu bedienen – dadurch schön, daß sie gehalten sind, Göthes dadurch, daß sie nicht gehalten sind. Sch. zeichnet den Mschen, der in s. Kraft abgeschlossen ist u nun, wie ein Erz, durch die Verhältnisse erprobt wird, deswegen war er im historischen Drama groß. Göthe zeichnet die unendlichen Schöpfungen des Augenblicks, die ewigen Modificationen des Mschen durch jeden Schritt, den er thut, dies ist das Zeichen des Genies. (TBR 117 / TBW 114)

Diese Tagebuchaufzeichnung ist eine fast wörtliche Übernahme aus seinem Aufsatz „Ueber Theodor Körner und Heinrich von Kleist“,48 den der junge Hebbel 1835 dem Hamburger „Wissenschaftlichen Verein von 1817“ vorlegte. Zusammen mit dem leider nicht überlieferten Vortrag über Schillers „Lied von der Glocke“ markiert diese Abhandlung die wissenschaftlichen Anfänge Hebbels.49 Es handelt sich dabei um den Versuch Hebbels, den zu seiner Zeit verkannten Kleist zu rehabilitieren und die überschwängliche Begeisterung für Körner zu dämpfen. Da Letzterer Hebbel zufolge „zweifelsohne bei längerem Leben ein zweiter Schiller geworden wäre“, wie die vielen „Plagiate“ in seinem Hauptwerk Zriny, das von Hebbel als „eine verun-

|| 48 Friedrich Hebbel: Ueber Theodor Körner und Heinrich von Kleist. W 9, S. 31–59. 49 Zur Entstehung des Texts sowie zur Hebbels Mitgliedschaft im „Wissenschaftlichen Verein“ vgl. W 9, S XIII-XVII.

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glückte Kopie des Wallenstein“ verworfen wird (W 9, S. 51f.),50 vermuten ließen, so mündet die Körner-Kritik konsequenterweise in eine Auseinandersetzung mit Schiller. Das abschließende Urteil über die „gehaltenen“ Charaktere Schillers stellt den Schlusspunkt der gesamten Argumentation dar. Zunächst wird die Aufgabe der Kunst dahingehend definiert, dass sie „das Leben in allen seinen verschiedenartigen Gestaltungen ergreifen und darstellen“ solle (W 9, S. 34). Als Gegenstand der Kunst gilt nicht ein unbeweglicher Zustand der Bestimmtheit, sondern eine Vitalität, die sich kraft mannigfaltiger Metamorphosen dynamisiert. Der Anspruch auf Veranschaulichung der Lebenstotalität durch die Kunst deutet nicht allein auf die bereits zuvor angesprochene Notwendigkeit der konkreten Welterfahrung hin, sondern gibt auch zu erkennen, dass die Kunst mit dem wandelnden, nicht aber dem statischen Leben zu tun hat. Das darzustellende Leben sei deshalb „etwas Anderes, als die Leichenkammer, wo es aufgeputzt u beigesetzt wird“ (TBR 113 / TBW 110), denn es gilt nicht, die abgestorbenen Bilder in ihrer Erstarrung aufzustellen, sondern deren Genese und Verwandlung vor Augen zu führen: Im Gegensatz zum Historiker habe der Dramatiker die „hohe Aufgabe“, „die Geschichte zu ergänzen, zu zeigen, wie der Charakter, den er sich zum Vorwurf gemacht, geworden ist, wie er ist.“ (W 9, S. 49) Gerade die Fähigkeit, den Prozess des lebendigen Werdens dramatisch zu gestalten, wird Theodor Körner abgesprochen. Denn seine Figuren handelten, so Hebbels Fazit, ihrem vorgefassten Ziel gemäß, ohne es in Ansehung der sich ständig wandelnden Umstände noch abändern zu können. Zrinys Bereitschaft zum Tode stelle daher keineswegs seine Charakterfestigkeit unter Beweis, sondern verrate eine spezifische Art von Feigheit, „denn er hat nicht Kraft, dem Augenblick das Opfer zu bringen, darum räsonirt er sich selbst vor der Zeit in den Muth hinein.“ (W 9, S. 53) Es besteht, wie der Kritik zu entnehmen ist, zwischen dem Handelnden und den äußeren Gegebenheiten keine ambivalente Wechselbeziehung, sondern eine eindeutige Gegensätzlichkeit, die schon im Voraus festgeschrieben ist. Die Charaktere scheinen unbeweglich, nicht wandelbar, eben wie „Geschöpfe des bloßen Talents, Pfeile, die von einer gewissen Sehne ab einem gewissen Ziel zufliegen und daher nur nach ihren Abweichungen von dieser ihrer Bahn beurtheilt werden können.“ (W 9, S. 56) Aus dieser Unbeweglichkeit wird auch die Eigentümlichkeit der Schillerschen Figuren abgeleitet. Ihr „Gehaltensein“ ist von ihrer mangelnden Flexibilität verursacht, daher können sie ihre Größe nur in der Antithese von sich und der Welt erleben. Nichtsdestotrotz beschreibt Hebbel die Charaktere Schillers als schön, was

|| 50 Auch TBR 2855 / TBW 2934 trauert über das Schicksal des vergessenen Kleists: „Er [= Kleist, M. M.] und Körner, der weggeschossen wurde und in dem Jan-Hagel einen zweiten Schiller beklagte, während sich um Kleist keiner bekümmerte!“

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jedoch gerade angesichts der Tatsache, dass ihm das Genie Goethes gegenübergestellt wird, eher als Lippenbekenntnis erscheint. Freilich ist Hebbels Kritik aus der heutigen Perspektive nicht zutreffend, da sie nicht allein die tatsächliche Wandlung der Schillerschen Figuren – etwa die der Jungfrau von Orleans, deren Sinneswechsel auch einen metrischen Wechsel evoziert (IV/1; FA 5, S. 237–240) – übersieht, sondern weil sie zudem Schillers Ästhetik des Erhabenen, die gerade in der unbeirrten Konsistenz des individuellen Gemüts angesichts der feindlich drohenden Umstände den Wert des Menschen erkennt, nicht ausreichend berücksichtigt.51 Nichtsdestoweniger ist diese Kritik aufschlussreich, weil sie den Nukleus von Hebbels eigenen dramenästhetischen Überlegungen bildet, der dann in seinen theoretischen Schriften aufkeimt. In „Mein Wort über das Drama!“ thematisiert er ein weiteres Mal die Problematik der unbeweglichen Charaktere und bezeichnet sie als den „Tod des Dramas“: Den Stoff des Dramas bilden Fabel und Charactere. Von jener wollen wir hier abgesehen, denn sie ist, wenigstens bei den Neueren, ein untergeordnetes Moment geworden […]. Von der allergrößten Wichtigkeit dagegen ist die Behandlung der Charactere. Diese dürfen in keinem Fall als fertige erscheinen, die nur noch allerlei Verhältnisse durch- und abspielen, und wohl äußerlich an Glück oder Unglück, nicht aber innerlich an Kern und Wesenhaftigkeit gewinnen oder verlieren können. Dies ist der Tod des Dramas, der Tod vor der Geburt. (W 11, S. 4)

Die Bevorzugung der Charaktere ist das Kennzeichen des zeitgenössischen Tragödiendiskurses, der sich dadurch von dem aristotelischen Primat der Handlung zu lösen versucht. 52 Der Einwand Hebbels gegen die Abgeschlossenheit der fertigen Charaktere, die allein die Erprobung der Verhältnisse zu bestehen haben, stimmt weitgehend mit seiner Schiller-Kritik überein, sodass dies durchaus als Resultat seiner Beschäftigung mit Schiller gewertet werden kann. Diese Auseinandersetzung erweist sich auch deshalb als wesentlich für das ästhetische Konzept Hebbels, weil mit ihr der gültige Maßstab bei der Beurteilung

|| 51 Vgl. Paul Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen. Berlin 2004. 52 Vgl. Aristoteles’ Bestimmung der Tragödie: „Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe […]. Der wichtigste Teil ist die Zusammenfügung der Geschehnisse. Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlung und von Lebenswirklichkeit. […] Ferner könnte ohne Handlung keine Tragödie zustandekommen, wohl aber ohne Charaktere.“ Aristoteles: Poetik, übers. und hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 2010, S. 19–21. Während also für Aristoteles die tragischen Charaktere sekundär, ja entbehrlich sind, hält Hegel die „persönliche Leidenschaft“ für das Zentrum der modernen Tragödie: „In der modernen, romantischen Poesie dagegen gibt die persönliche Leidenschaft, deren Befriedigung nur einen subjektiven Zweck betreffen kann, überhaupt das Schicksal eines besonderen Individuums und Charakters in speziellen Verhältnissen, den vornehmlichen Gegenstand.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik, hg. von Friedrich Bassenge, 2 Bde. 3. Aufl. Berlin/Weimar 1976, hier Bd. 2, S. 558.

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anderer Dichter angelegt wird. Nach der Lektüre von Jakob Michael Reinhold Lenz’ Komödie Die Soldaten notiert Hebbel 1839, dass das erste und letzte Ziel der Kunst darin bestehe, „den Lebensproceß selbst anschaulich zu machen […]. Es ist ein Irrthum, wenn behauptet wird, nur das Gewordene sey für den Dichter, im Gegentheil, das Werdende, das sich selbst erst im Kampf mit den Schöpfungselementen Gebärende, ist für ihn.“ (TBR 1410 / TBW 1471) Der angemessene Gegenstand künstlerischer Darstellung ist nicht das Produkt einer bereits zu Ende geführten Metamorphose, sondern es sind die „unendlichen Schöpfungen des Augenblicks“ (TBR 117 / TBW 114), die sich erst schrittweise entwickeln müssen. Dramatisch bedeutsam ist deshalb gerade der Prozess der Zeugung im Werden: „Der Mensch darf uns daher nicht abgeschlossen vorgeführt werden, denn nicht, wie die Welt er auf die Welt wirkt, sondern wie die Welt auf ihn wirkt, erregt unser Interesse und ist uns wichtig […].“ (TBR 1410 / TBW 1471) Ähnlich lautet auch zehn Jahre später die Kritik an Wilhelm Meinholds Roman Sidonia von Bork: „[D]ie psychologischen Umbildungsprocesse werden uns vorenthalten […]. Nein, lieber Meinhold, wie ein Mensch Hyäne wird, das kann uns interessiren, aber nicht, wie er als Hyäne wüthete.“ (W 11, S. 245; Hervorhebung im Original) Im Mittelpunkt steht nach wie vor nicht die starre, sondern die formbare Subjektivität, die nur dadurch dramentauglich wird, dass sie der Einflussnahme der Welt ausgesetzt ist. Noch in einer Besprechung von Kleists Der Prinz von Homburg aus dem Jahre 1850 hält Hebbel an dem Paradigma der Werden-Ästhetik fest: „Es leuchtet wohl Jedermann ein, daß uns in diesem Drama auf eine Weise, wie es sonst nirgends geschieht, der Werdeproceß eines bedeutenden Menschen in voller Unmittelbarkeit vorgeführt wird […].“ (W 11, S. 333) Das Scheitern des Dramas auf der deutschen Bühnenlandschaft wird dementsprechend auf die Vorliebe des Publikums für den „völlig fertig[en]“ Helden, der „bis auf die letzte Faser ausgeschmiedet im Drama auftritt“ (W 11, S. 334), zurückgeführt. Die kritischen Töne, die der Jugendaufsatz das erste Mal erklingen ließ, hallen hier ein weiteres Mal nach. Schiller ist hier wieder das Gegenbeispiel, sodass es sich schlussfolgern lässt, dass Hebbels SchillerKritik ex negativo zur Verfestigung seiner eigenen ästhetischen Überzeugungen beigetragen hat.

4.3.3 Poesie der werdenden Gestalt: Hebbels Ästhetik II Die Unzulänglichkeit der Schillerschen Gestalten gegenüber den Goetheschen liegt gerade in ihrer Unfähigkeit, sich den Umständen anzupassen und dadurch ihre dynamische Subjektivität zu plausibilisieren. Die Abgeschlossenheit der Schillerschen Figuren reduziert die dramatische Spannung auf einen binaren Gegensatz von Individuum und Welt, während die Darstellung eines variablen Charakters einerseits seine historische Bedingtheit, andererseits ein innerseelisches Konfliktpotential herauszuarbeiten vermag, das eine psychologische Motivierung des Werdens

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ermöglichen kann. Hebbel verleiht durch seine Rehabilitierung Kleists und der damit verbundenen Doppelkritik an Körner und Schiller seiner ästhetischen Forderung Nachdruck: Das Leben als Gegenstand der dramatischen Kunst darf nie statisch sein, sondern es muss als Resultat eines ewigen Werdeprozesses, ja als dieser Prozess an sich dargestellt werden. Allerdings bedeutet die hier postulierte Ästhetik des Werdens keineswegs eine mechanische Veranschaulichung jeder unkontrollierten Ausschweifung, die die notwendige dramatische Formstrenge zersprengen würde. Hebbel erkennt die potentielle Gefahr und schlägt den Begriff der Gestalt als das regulative, einheitsstiftende Moment im Prozess der Wandlung vor: Aber, das Werdende soll unter ∫an∫ der bildenden Hand des Dichters von Gestalt zu Gestalt übergehen, es soll niemals als formloser weicher Thon vor unserm Auge ins Chaotische und Wirre verschwimmen, es soll in gewissem Sinn immer zugleich ein Fertiges seyn, wie uns denn ja auch im Weltall nirgends die nackte rohe Materie entgegentritt. (TBR 1410 / TBW 1471)

Die Ablehnung des plumpen, rein materiellen Realismus wird hier wiederaufgenommen, um die „Gestalt“, die doch ein „Fertiges“ miteinschließt, als den bleibenden Kern des Wesens, das im Zuge des willkürlichen Werdens ins Chaos zu zerfließen droht, aufzuwerten. Wie es im Widmungsgedicht von Maria Magdalene angedeutet wird, nämlich dass die zuvor „in’s Einzelste zerfließende“ Natur sich letztendlich doch kraft einer ideellen Steigerung „concentriren“ müsse (W 2, S. 5), so tritt hier die „Gestalt“ als die Synthese alles Gegenständlichen hervor, der eine übersinnliche Struktur innewohnt. Die Ästhetik des Werdens ist in Wahrheit die Ästhetik der werdenden Gestalt. Deshalb hält Hebbel in seinem Tagebuch fest: „Das Leben in reiner, ungemischter Gestalt kann kein Vorwurf künstlerischer Darstellung seyn, denn es ist nicht zu packen; nur das in Bewegung gesetzte.“ (TBR 1953 / TBW 2014) Das Hervortreten der Gestalt aus dem reinen Stofflichen deutet Hebbel am Beispiel der griechischen Hermen als Sinnbild der Schöpfung: „Hermen: die Gestalten, aus dem Chaos hervor tretend, der Schöpfungsproceß selbst.“ (TBR 2773 / TBW 2852) Der Überwindung des ungeordneten Daseins zugunsten der Plastizität und Klassizität wird die Gestaltwerdung gleichgesetzt.53 Diese hohe Vorstellung geht allerdings auf eine Goethesche Idee zurück, der Hebbel schon 1835 begegnet war und sogleich wörtlich ins Tagebuch übernahm. Der Eintrag zitiert Goethes Brief an Carl Friedrich Zelter vom 30. Oktober 1808: „Kein Msch will begreifen, daß die höchste u einzige Operation der Natur u Kunst die Gestaltung sey u in der Gestalt d Specification, damit ein jedes ein Besonderes, Bedeutendes werde, sey u blei-

|| 53 Vgl. TBR 5763 / TBW 5906: „Bei einem großen Dichter hat man ein Gefühl, als ob Dinge empor tauchten, die im Chaos stecken geblieben sind.“ Ferner vgl. das Epigramm „Die Herme“,W 6, S. 314.

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be.“ (TBR 205 / TBW 201)54 Die Doppeldeutigkeit der Schöpfung, die sich sowohl auf die göttliche Erschaffung der Natur als auch auf die künstlerische Zeugung des Werks beziehen lässt, bekräftigt die These, dass Hebbels Begriff der Gestalt auf Goethe zurückgreift. Bekanntlich spielt die Kategorie der Gestalt eine gewichtige Rolle bei Goethes Lehre der Morphologie.55 Schon in fragmentarischen Vorüberlegungen hebt Goethe die Nähe von morphologischer Naturbetrachtung und Gestaltdenken hervor: „Die Morphologie soll die Lehre von der Gestalt der Bildung und Umbildung der organischen Körper enthalten.“56 An sich wird die Gestalt von Goethe als ein dynamischer Zustand begriffen, der dem Prozess des organischen Werdens unterliegt: „Die Gestalt ist ein bewegliches, ein werdendes, ein vergehendes. Gestaltenlehre ist Verwandlungslehre. Die Lehre der Metamorphose ist der Schlüssel zu allen Zeichen der Natur.“57 Infolgedessen wäre die Setzung einer „werdenden Gestalt“ redundant. Freilich ist sich Goethe der Inkommensurabilität seines individuellen Vokabulars mit dem allgemeinen Wortgebraucht durchaus bewusst, sodass er in der ausformulierten Theorie der Morphologie den Begriff weiter zu differenzieren versucht: „Der Deutsche hat für den Komplex des Daseins eines wirklichen Wesens das Wort Gestalt. Er abstrahiert bei diesem Ausdruck von dem Beweglichen, er nimmt an, daß ein Zusammengehöriges festgestellt, abgeschlossen und in seinem Charakter fixiert sei.“58 Dies sei, so Goethe, aber nirgends der Fall, da die organische Natur sich in einer „steten Bewegung“ befinde. Um sich vom alltäglichen Sprachgebrauch abzugrenzen, solle „Gestalt“ nur „die Idee, den Begriff oder ein in der Erfahrung nur für den Augenblick Festgehaltenes“59 bezeichnen. Ohne seine Überzeugung aufzugeben, weicht Goethe der populären Wortdeutung aus und akzentuiert den ideellen

|| 54 Vgl. Goethes Brief an Zelter am 30. Oktober 1808. Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke nach Epoche seines Schaffens. Bd. 20.1: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832, Briefe 1799–1827, hg. Von Hans-Günter Ottenberg und Edith Zehm. München 1991, S. 197f. 55 Zur Ideengeschichte des Gestaltbegriffs vgl. Anette Simonis: Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin. Diskursgeschichte einer deutschen Denkfigur. Köln/Weimar/Wien 2001. Vor allem weist Simonis’ Untersuchung auf die zentrale Stellung der „Gestalt“ in der ästhetischen Reflexion um 1900 (etwa bei Georg Simmel, Oskar Walzel und Walter Benjamin) hin. Nur vorübergehend wird Schiller erwähnt (vgl. S. 2ff.). Simonis betont zwar die implizierte Vitalität der Gestalt, geht allerdings nicht auf die begriffliche Spannung zwischen „Leben“ und „Gestalt“ ein. 56 Johann Wolfgang von Goethe: Betrachtung über Morphologie überhaupt. In: ders.: Sämtliche Werke nach Epoche seines Schaffens. Bd. 4.2: Wirkungen der Französischen Revolution 1791–1797, hg. von Karl Richter. München 1986, S. 201. 57 Johann Wolfgang von Goethe: Morphologie. In: ders.: Sämtliche Werke nach Epoche seines Schaffens. Bd. 4.2, S. 188. 58 Johann Wolfgang von Goethe: Zur Morphologie. Die Absicht eingeleitet. In: ders.: Sämtliche Werke nach Epoche seines Schaffens, Bd. 12, S. 13. 59 Johann Wolfgang von Goethe: Zur Morphologie. Die Absicht eingeleitet, S. 13.

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Aspekt der Gestalt, die dadurch einen momentanen Stillstand in der laufenden Verwandlung der Erscheinungswelt bewirken kann, dass sie, den jeweiligen Gegenstand als eine spezifische Realisation seines Begriffs betrachtend, die zeitenthobene Form desselben vor Augen führt, um zugleich besonders und bedeutend zu sein. Deshalb konstatiert Ernst Cassirer zu Recht, für Goethe werde „die Gestalt zu einem zugleich Dauernden und Beweglichen, zu einem Identischen und Vielfältigen, zu einem Allgemeinen, das nur in seinen Besonderungen ist und lebt.“60 Hebbels Ästhetik der Gestalt stimmt insofern mit Goethe überein, als dass sie zunächst das Sichdarlegung der Idee in der sinnlichen Wahrnehmbarkeit als das Wesentliche akzentuiert: Gestalt sei, „worin eine Idee zur Erscheinung gelangt.“ (W 10, S. 418) Im Gegensatz zu Goethe unterstreicht er jedoch die Prozesshaftigkeit der Gestalt mit viel größerem Nachdruck. Denn „[d]as gestaltete Leben ist schon vom Tode umarmt, nur das sich erst entwickelnde, sich aus dem Keim losringende ist eigentliches Leben“ (TBR 1487 / TBW 1548), notiert Hebbel 1839. Die Gestalt als der endgültige Zustand der reinen Form setzt der vitalen Entwicklung ein Ende, sodass sie dem Tode gleich wird: „Die höchste Form ist der Tod, denn eben indem sie die Elemente zur Gestalt kristallisirt, hebt sie das Durcheinanderfluthen, worin das Leben besteht, auf.“ (TBR 2767 / TBW 2846) Aus diesem Grund muss die ideell transzendierte Gestalt ein ewiges Werden beinhalten, und zwischen „gesetzlicher prägender ‚Form‘ und individueller Realisierung, zwischen ungeformter energetischer Potentialität und raumzeitlicher Aktualisierung“ vermitteln.61 Das Moment des Lebens ist mit Hebbels Idee der Gestalt aufs Engste verflochten.62

4.3.4 „Lebendige Gestalt“ und Zeitproblematik: Hebbel mit Schiller Die Einheit von Werden und Gestalt, die Hebbels Ästhetik definiert, kulminiert in seiner Replik gegen die Kritik des dänischen Ästhetikers Johan Ludwig Heiberg,63

|| 60 Ernst Cassirer: Goethes Pandora. In: ders.: Idee und Gestalt. Reprint der 2. Aufl. von 1924. Darmstadt 1989, S. 7–31, hier S. 17. 61 Dagmar Buchwald: Art. Gestalt. In: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 2: Dekadent – Grotesk. Stuttgart/Weimar 2001, S. 820–862, hier S. 825. Freilich liegt der Akzent dieses Beitrags trotz der vorgegebenen ästhetischen Orientierung bei der Gestaltpsychologie. 62 Gerade jene in der Gestalt enthaltende Lebendigkeit garantiert die Inkommensurabilität des Künstlers und seiner Kunstwerke. Hebbel notiert 1851 in seinem Tagebuch: „Warum schlägt eine Gestalt nicht auch die andere todt, warum ist jede wirklich lebendige bleibend und ewig? Weil das Individuelle ihre Basis ist und nothwendig zu ihnen gehört.“ TBR 4903/ TBW 5008. 63 Die Kritik Heibergs mit dem Titel „Die Aufgabe des neueren Dramas“ ist abgedruckt in W 15, S. 181–195. Zur Person und der – in seinem Denksystem jedoch nur marginalen – Schiller-Rezeption Heibergs vgl. Antje Helbing: Schillerrezeption in Dänemark. Würzburg 2016, S. 124–146. Helbing vertritt die These, dass Heibergs Rezeption der Hegelschen Philosophie eine eingehende Auseinandersetzung mit der Dichtung Schillers versperrt hat. Deshalb votiere Heiberg für eine „spekulative

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und zwar in Gestalt seiner 1843 erschienenen Schrift „Mein Wort über das Drama!“. Im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung steht das Verhältnis von Idee und Charakter in dramatischen Texten. Während Hebbel die heliozentrische Stellung der Idee, auf die sich die Charaktere stets beziehen, durchaus nicht bestreitet,64 widerspricht er der spekulativen Methode seines dänischen Widersachers, der – Hebbels Auffassung nach – die Bestimmung des Dramas aus abstrakten Reflexionen ableitet, anstatt sie den konkreten Begegnungen mit dem Leben an sich abzugewinnen. Die dramatische Kunst habe sich keineswegs mit der „speculative[n]“, sondern mit der „unmittelbar im Leben selbst aufgehenden“ Seite der Idee zu beschäftigen (W 11, S. 34). Der Abstieg in die „unergründlichen Tiefen der Metaphysik“ in Form eines Lehrgedichts könne „höchstens ein kaltes allegorisches Puppenspiel, das sich um eine äußere Angel dreht, hervorrufen, nicht aber eine in sich selbst ruhende Schöpfung voll warmblütiger, lebendiger Gestalten.“ (W 11, S. 34) Dem Anschein nach richtet sich die Erwiderung Hebbels, die ausdrücklich die Heibergsche „Einheit des Poetischen und Speculativen“(W 11, S. 34; W 15, S. 193). verwirft, nicht an den Kopenhagener Professor allein. Sie nimmt zugleich Bezug auf Schiller, da sie mit Hebbels Kritik an dessen Reflexionslyrik übereinstimmt. Stammt die problematische Vermengung des Dichterischen und Gedanklichen doch aus dem Heibergschen Grundsatz von einer Poesie der Idee, demzufolge die poetische Praxis darauf abziele, „das in die Welt hinüber zu führen, was vorher nur im Gedanken lebte.“ (W 15, S. 183) Auffällig ist in diesem Fall jedoch, dass Hebbel in seiner Antikritik mehrmals Schillers Briefe zur ästhetischen Erziehung heranzog, um die eigene Position zu befestigen und zu bestärken. Heiberg bemängelt vor allem den fehlenden „practische[n] Sinn“ der deutschen Dramatiker insgesamt, die Stücke bühnengerecht zu liefern: Selbst Schiller habe „doch weit mehr gedichtet für eine innere, imaginirte Scene, als für eine wirklich existirende, und seine Werke eignen sich daher viel besser für’s Lesen, als für die Aufführung.“ (W 15, S. 183) Der Erfolg von Übersetzungen trivialer französischer Stücke schreibe sich weniger von der „Schlechtigkeit des Publicums“ her, sondern liege vielmehr in der Tatsache begründet „daß diese mittelmäßigen Arbeiten manchmal sich den Forderungen des Theaters besser fügen, als ihre Meisterstücke.“ (W 15, S. 184) Heiberg plädiert also eine unbedingte Berücksichtigung der

|| Poesie“, die von der objektiven Erkenntnis der Wahrheit geht und im Stande ist, die Wirklichkeit in Form von Lehrgedichten zu erfassen. (S. 132f.) Als Repräsentant dieser „Poesie der Idee“ nennt Heiberg vor allem Goethe, da er Schillers subjektiven Idealismus mit Skepsis betrachtet. 64 Vgl. Hebbels Aufsatz „Mein Wort über das Drama!“: „Wenn die Idee dem Drama bisher gefehlt hat, wenn sie sich nicht in jeder dramatischen Dichtung, die für die Kunst irgend in Betracht kommt, als Zentrum aufzeigen läßt, und wenn die Charactere nicht beständig in diesem Centrum, um das sie sich […] ‚planetarisch‘ herum bewegen, ihren Ausgangs- und Zielpunct gehabt haben, […] dann habe ich mit allen meinen vorhergehenden Erörterungen gegen Professor Heiberg nicht allein Nichts bewiesen, sondern auch Nichts bewiesen wollen […].“ W 11, S. 33.

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realen Aufführungspraxis und macht die dramatische Dichtung auch von den bestehenden Theaterbedingungen abhängig. Gegen diese Argumentation wendet sich nun der Schiller-Leser Hebbel. Der bedauerlich-verächtliche Zustand des deutschen Theaters, das zum „Zeitvertreib“ und „Unterhaltungsmittel während der Verdauung“ (W 11, S. 16) erniedrigt worden sei, solle den Dichter nicht davon abhalten, unbekümmert ums Schicksal seiner Zeugung dem höheren poetischen Anspruch nachzustreben: „Nichts bleibt ihm übrig, als sein Kunstwerk ‚schweigend in den unermeßlichen Abgrund der Zeit zu werfen‘ und sich ruhig und stolz […] zu neuen Schöpfungen zusammen zu fassen.“ (W 11, S. 17) Es handelt sich um ein fast wörtliches Zitat aus Schillers neuntem Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen, in dem ebenfalls das Verhalten des Künstlers im Zeitalter verdorbenen Geschmacks thematisiert wird: Wie verwahrt sich aber der Künstler vor den Verderbnissen seiner Zeit, die ihn von allen Seiten umfangen? Wenn er ihr Urteil verachtet. Er blicke aufwärts nach seiner Würde und dem Gesetz, nicht niederwärts nach dem Glück und nach dem Bedürfnis. […] [Das Ideal] präge er aus in Täuschung und Wahrheit, […] präge es aus in allen sinnlichen und geistigen Formen und werfe es schweigend in die unendliche Zeit. (FA 8, S. 585)

Sowohl Hebbel als auch Schiller weigern sich entschieden, sich der momentanen Gunst des Publikums zu unterwerfen und beharren selbst um den Preis der Isolation auf ihrer künstlerischen Autonomie. Trotz gelegentlicher Zweifel65 hält Hebbel nach wie vor an der erzieherischen Funktion der Kunst fest,66 und erhofft keine unmittelbare Rückwirkung der Autonomie auf den niedrigen Zustand der Kulturinstitutionen. 1862 schreibt er resignierend: Es gehört mit zu unserer Deutschen Glorie, daß unsere Theater uns mehr kosten, wie Griechenland das seinige […]. Aber im Grunde steht es mit unsern prunkvollen, wissenschaftlichen Akademieen nicht besser und in beiden Kreisen gilt das Schiller’sche Wort: Wirf Dein Werk schweigend in den unermeßlichen Abgrund der Zeit.67

|| 65 Vgl. B 468, an Arnold Ruge, datiert 3. April 1847. WAB 1, S. 879: „[D]enn obgleich […] ich die Richtigkeit der von Ihnen citirten Schillerschen Idee über den Einfluß einer aesthetischen Erziehung nicht bestreiten mögte, so sind wir doch von Zuständen, worin ein solcher Einfluß sich fühlbar machen könnte, zu weit entfernt, um auf ihn besonders reflectiren zu dürfen, auch zweifle ich, ob Schiller in dem Resultat seiner Untersuchung nicht zu weit geht, wenn er der aesthetische Erziehung statt der erhaltenden eine erobernde Macht beilegt.“ 66 Vgl. Friedrich Hebbel: Das Deutsche Theater. W 12, S. 229–234, hier S. 231: „Mag man über die aesthetische Erziehung des Menschen denken, wie man will, so viel ist gewiß, daß das Moment der Erhebung, dessen wir so nöthig bedürfen […] uns in unserer Zeit nur noch durch die Kunst kommen kann.“ 67 B 2494, an Adolf Schöll, datiert 26. Mai 1862. WAB 4, S. 404f.

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Das erneute Schiller-Zitat belegt dessen tiefe Prägung auf Hebbel. Allerdings markiert Schillers desillusionierte Entsagung von der unmittelbaren Einflussnahme des Künstlers auf die Gegenwart auch eine Zeitproblematik. Da der Dichter zwar ein „Sohn seiner Zeit“ sei, aber nicht von den zeitgenössischen Bedürfnissen abhängig werden dürfe, komme seiner künstlerischen Tätigkeit eine zeitvermittelnde Aufgabe zu: „Den Stoff zwar wird er von der Gegenwart nehmen, aber die Form von einer edleren Zeit, ja jenseits aller Zeit, von der absoluten unwandelbaren Einheit seines Wesens entlehnen.“ (FA 8, S. 584) Die ästhetische Dimension der Vereinigung des zeitlichen Stoffs mit der zeitlosen Form vertieft Schiller sodann anthropologisch vertieft, indem sie auf die Ganzheit des Subjekts zurückgeführt wird, das aus der Einheit der unveränderlichen Identität und des wechselnden Zustands des Menschen hervorgeht, die sich gegenseitig bedingen und ergänzen.68 Diese anthropologische Grundlage der Poetik beschreibt Schiller im elften Brief mit den Kategorien „Person“ und „Zustand“ (FA 8, S. 592f.). Der Mensch wird dementsprechend als ein ganzheitliches Wesen begriffen, dessen Existenz sich nicht statisch, sondern dynamisch, das heißt allein in der Wechselbeziehung des „Simultanen“ und des „Successiven“69 ausnimmt: „Nur indem er sich verändert, existiert er; nur indem er unveränderlich bleibt, existiert er. Der Mensch, vorgestellt in seiner Vollendung, wäre demnach die beharrliche Einheit, die in den Fluten der Veränderung ewig dieselbe bleibt.“ (FA 8, S. 594; Hervorhebung im Original) Das hohe Bildungsziel, die Person mit dem Zustand, und damit die den beiden Aspekten des Menschen jeweils zugeschriebenen Sach- und Formtriebe zu vermitteln und zu vereinigen, kann nur durch das gleichzeitige Wirken der beiden Grundtriebe in einem dritten gelingen: nämlich dem Spieltrieb. Angesichts der verschiedenen Zeitimplikationen besteht die Aufgabe des Letzteren deshalb darin, die zeitliche Gebundenheit mit der zeitenthobenen Idealität zu synthetisieren: „[D]er Spieltrieb also würde dahin gerichtet sein, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren.“ (FA 8, S. 607; Hervorhebung im Original) Die Innovation Schillers in seinem Versuch, die philosophiegeschichtlich bekannte Antithese zwischen dem „kontingente[n] Seiende[n] der

|| 68 Gerade diese „diachrone Dimension“ unterstreicht Jörn Rüsen in seiner Analyse über Schillers ästhetisches Konzept der bürgerlichen Identität, die, zwischen Geschichtsbewusstsein und utopischem Denken changierend, Rüsen zufolge als „Dauer im Wandel der Zeit“ zu begreifen ist. Vgl. Jörn Rüsen: Bürgerliche Identität zwischen Geschichtsbewusstsein und Utopie: Friedrich Schiller. In: Dirk Grathoff und Erwin Leibfried (Hg.): Schiller. Vorträge aus Anlaß seines 225. Geburtstags. Frankfurt a. M. 1991, S. 178–193, hier S. 179f. 69 Vgl. Ernst Cassirer: Die Methodik des Idealismus in Schillers philosophischen Schriften. In: ders.: Idee und Gestalt, S. 81–111, hier S. 101.

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Materie“ und dem „ewigen Sein der Idee“70 zu bewältigen, besteht darin, dass er die angestrebte anthropologische Totalität auf das Feld des Ästhetischen übertragen hat. Die anthropologische wie auch ästhetische Vereinigungsoperation betrifft demgemäß vor allem die Gegenstände der beiden Triebe: Weil der Gegenstand des Sachtriebs „Leben“ und derjenige des Formtriebs „Gestalt“ sei, so könne derjenige des Spieltriebs als „lebende Gestalt“ definiert werden – ein Begriff, der „dem, was man in der weitesten Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient.“(FA 8, S. 609; Hervorhebung im Original) Die Kategorie der „lebenden Gestalt“ reflektiert die zum Ziel gesetzte Indifferenz des Werdenden mit dem Bleibenden, da die Zusammensetzung der komplementären Komponente nicht die einseitige Aufhebung des Einen, sondern die Vereinigung der raumzeitlichen Materialität mit der Gestalt, die „frei von jeder Zeitgewalt“ ist (v. 23; FA 1, S. 152), bewerkstelligt. Sie ist, wie Ernst Cassirer mit Recht betont, die „Grundregel aller künstlerischen Formung“71 und bezeichnet eine „in sich geschlossene Form, die aus der schrankenlosen Bewegtheit des Lebens gewonnen wird.“72 Hebbels gesicherte Kenntnis der Schillerschen Briefreihe legt nahe, Die Idee der „lebendigen Gestalt“ als Adaption der Schillerschen „lebenden Gestalt“ zu betrachten; zumal beide Dichter die Problematik von konträren Zeitmodalitäten in der Kunstproduktion mit derselben Formel zu überwinden suchen. Als Erster hat Hartmut Reinhardt auf diese intertextuelle Konstellation hingewiesen. Er betont dabei angesichts der Präsenz derselben Formulierung in Hebbels Vorwort zu Maria Magdalene ihren argumentativen Stellenwert als ein „subordinierendes Kriterium für die Kapazität der Philosophie“.73 Indessen soll hier anstatt einer funktionalen Einordnung in erster Linie die strukturelle Wahlverwandtschaft der ästhetischen Grundüberlegungen beider Dichter anhand der geteilten Kategorie der „lebend(ig)en Gestalt“ herausgearbeitet werden. Diese Wahlverwandtschaft gründet sich vor allem auf einem gemeinsamen ästhetischen Gestaltungsprinzip, nämlich der ständigen Wechselwirkung von zeitlichem Werdenden und zeitenthobenem Seienden. Ähnlich wie Schiller, der im Spieltrieb – und damit in der Entstehung des Schönen – die Kongruenz des „Werdens mit absolutem Sein“ sieht (FA 8, S. 607), fordert Hebbel programmatisch in „Mein Wort über das Drama!“, dass sich die Kunst mit dem Leben, das in zweifacher Gestalt „als Sein und als Werden“ erscheine, beschäftigen solle (W 11, S. 3). Das Drama als die

|| 70 Vgl. Carsten Zelle: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795). In: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch. Stuttgart/Weimar 2005, S. 409–445, hier S. 428. 71 Ernst Cassirer: Die Methodik des Idealismus in Schillers philosophischen Schriften, S. 84. Allerdings spricht Cassirer, wie Hebbel, ständig von der „lebendigen Gestalt“. 72 Ernst Cassirer: Die Methodik des Idealismus in Schillers philosophischen Schriften, S. 103. 73 Hartmut Reinhardt: Der Rest ist Resignation, S. 45. Dreimal spricht Hebbel in seinem Vorwort von der Einheit von Leben und Gestalt, nämlich W 11, S. 48, S. 56 und S. 57.

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„höchste Kunstform“ sei demnach „auf gleiche Weise ans Seiende, wie ans Werdende verwiesen“ (W 11, S. 3). Noch einmal sei an dieser Stelle an Hebbels Ästhetik der werdenden Gestalt erinnert: Das in Abgrenzung zu Schillers „gehaltenen“ Figuren formulierte Ideal der „ewigen Modifikationen des Menschen durch jeden Schritt“ (W 11, S. 4) entspricht dem Konzept des Zustands; die Idee der als Synthese alles Stofflichen verstandenen Gestalt demjenigen der Person. Die Verbindung der beiden zur lebendigen Gestalt wird deshalb von Hebbel als Charakteristikum der poetischen Größe begriffen – gerade darin, und nicht etwa in der theoretischen Eindringlichkeit besteht die Inkommensurabilität der Dichterindividuen: „Auf den tiefen Gedanken folgt ein tieferer, auf den scharfen Einfall ein schärferer, aber die lebendige Gestalt wird nicht durch eine andere verdrängt und ist für immer da. […] Warum hat Schiller nicht Goethe überwunden, warum Kleist nicht alle Beide? Weil Leben da war.“74 Die Standhaftigkeit der drei genannten Künstler, unter ihnen auch Schiller, während des Selektionsprozesses literaturgeschichtlicher Kanonisierung wird ausgerechnet mit der gelungenen Darstellung der lebendigen Gestalt begründet. Trotz aller Gemeinsamkeiten muss auf der anderen Seite allerdings auch die Verschiedenheit der beiden Konzeptionen von der Verschmelzung des Zeitlichen mit dem Überzeitlichen betont werden. Schillers Ästhetik der „lebenden Gestalt“ ist, wie bereits angedeutet, anthropologisch angelegt. Das höchste Prinzip der poetischen Formung ist zugleich ein ethisches, da sich der Spieltrieb als Vereinigung des Stoffs und der Form erst in der Bildung der Subjektivität verwirklicht. Die Bewusstwerdung des Überzeitlichen während der Wahrnehmung des Zeitlichen geschieht allein durch die reflexive Tat des Menschen: Die Notwendigkeit der Natur […] läßt bei der Reflexion von ihm [= dem Menschen, M.M.] ab, in den Sinnen erfolgt ein augenblicklicher Friede, die Zeit selbst, das ewig wandelnde, steht still, indem des Bewußtseins zerstreute Strahlen sich sammeln, und ein Nachbild des Unendlichen, die Form, reflektiert sich auf dem vergänglichen Grunde. (FA 8, S. 656; Hervorhebung im Original)

Die Überwindung der Zeit in der wahrgenommenen Zeit gelingt dem Menschen nur durch geistige Selbstständigkeit gegenüber den Naturgewalten. Deshalb wird die Schönheit als „das Werk der freien Betrachtung“ (FA 8, S. 657) gedeutet, die als Tätigkeit im „ästhetischen Stande“ mit Reflexion gleichgesetzt wird.75 Gleichwohl

|| 74 B 1317, an Julius Campe, datiert 20. Oktober 1853. WAB 2, S. 705f. 75 Vgl. FA 8, S. 655 (25. Brief): „Erst, wenn er [= der Mensch, M. M.] in seinem ästhetischen Stande, sie [= die Sinnenwelt, M. M.] außer sich stellt oder betrachtet, sondert sich seine Persönlichkeit von ihr ab […]. Die Betrachtung (Reflexion) ist das erste liberale Verhältnis des Menschen zu dem Weltall, das ihm umgibt.“

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hält Schiller dennoch an der Fundierung der „sinnliche[n] Welt“ 76 festhält: Die Schönheit ist zugleich „Gegenstand“ und „Zustand unsers Subjekts“ (FA 8, S. 658; Hervorhebung im Original). Im Gegensatz zum Schillerschen Theorem eines Zusammenschlusses des Seienden mit dem Werdenden mittels subjektiver Konstruktion einer ästhetischen Einheit wird Hebbels Idee der „lebendigen Gestalt“ von einer weiteren zeitgeschichtlichen Dimension umrahmt. Geprägt von der Schiller-Rezeption Schellings und Solgers, die auf eine Dekonstruktion des Erhabenen durch Depotenzierung des Subjekts abzielt (s. auch Kap. 3.2.5), lehnte Hebbel die subjektive Schönheitslehre ab. Die Auffassung des Menschen als ein stets fremdbestimmtes Wesen allein ist schon hinreichend, um die These einer selbstständigen Individualität in Frage zu stellen, die jegliche drohende Erfahrung als rein Äußerliches zu transzendieren vermag. Für Hebbel ist die Tat der „Ausdruck der Freiheit, immer durch die Begebenheit, den Ausdruck der Nothwendigkeit, modifiziert und umgestaltet [.]“ (W 11, S. 4f.) Die Persönlichkeit unterliegt ständig der Wirkung des „allgemeinen Weltwillen[s]“ (W 11, S. 4), der sich in der ununterbrochenen Einflussnahme auf das wandlungsfähige Subjekt erst konkretisiert. Insofern gewinnt die angesprochene Zeitproblematik in der dramatischen Gestaltung eine zusätzliche und vertiefende Bedeutungsdimension, indem das Seiende nicht primär die ursprüngliche Idee des Ich, sondern vor allem die unlösbare Dichotomie von Subjekt und Welt darstellt, und das Werdende nicht allein die Mannigfaltigkeit der menschlichen Erfahrungsformen bedeutet, sondern auch die Vielzahl der historischen Situationen, in denen sich jenes bleibende Spannungsverhältnis manifestiert: Das Drama ist demnach, wie es sich für die höchste Kunstform schicken will, auf gleiche Weise an’s Seiende, wie an’s Werdende verwiesen: an’s Seiende, indem es nicht müde werden darf, die ewige Wahrheit zu wiederholen, daß das Leben als Vereinzelung, die nicht Maaß zu halten weiß, die Schuld nicht bloß zufällig erzeugt, sondern sie nothwendig und wesentlich mit einschließt und bedingt; an’s Werdende, indem es an immer neuen Stoffen, wie die wandelnde Zeit und ihr Niederschlag, die Geschichte, sie ihm entgegen bringt, darzuthun hat, daß der Mensch, wie die Dinge um ihn her sich auch verändern mögen, seiner Natur und seinem Geschick nach ewig derselbe bleibt. (W 11, S. 4)

Hebbel betont die „Atmosphäre der Zeiten“ (W 11, S. 5),77 sowohl um der geschichtlichen Authentizität willen, als auch um gerade anhand der historischen Variabilität

|| 76 Vgl. FA 8, S. 657 (25. Brief): „Die Schönheit ist allerdings das Wer der freien Betrachtung, und wir treten mit ihr in die Welt der Ideen – aber was wohl zu bemerken ist, ohne darum die sinnliche Welt zu verlassen, wie bei Erkenntnis der Wahrheit geschieht.“ Überzeugend ist hierzu die Analyse Cassirers, dass Schiller „im Bewußtsein, im System der geistigen Funktionen, eine neue Einheit zwischen Weltbetrachtung und Kunstbetrachtung zu gewinnen strebt.“ Ernst Cassirer: Die Methodik des Idealismus in Schillers philosophischen Schriften, S. 90.

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das Bleibende hervorzuheben. Jedoch ist Letzteres nicht mehr, wie noch bei Schiller, die Gestalt als Ausdruck geistiger Unabhängigkeit des Menschen, sondern die antithetische Konfliktstruktur zwischen dem maßüberschreitenden Einzelwillen und der ihn bedingenden Welt. Die Unveränderlichkeit des Menschen ist nicht länger, wie Schiller es noch aufgefasst hat, die Voraussetzung des Schönen, vielmehr besagt sie, dass diese Spaltung existenziell zu begreifen ist. Insofern lässt sich Hebbels ästhetische Theoriebildung als ein vielschichtiges Gemisch aus Kritik, Aneignung und Weiterführung der Schillerschen Gedanken anzusehen. Zusammenfassend ergibt sich eine doppelte Konstruktion der ästhetischen Spannung von Zeitmodalitäten bei Hebbel. Zum einen versteht er den darzustellenden Menschen – durchaus im Zeichen der Schiller-Kritik – als ein bewegliches Wesen des Werdens, das sich im Handlungsraum der Wirklichkeit situativ immer neu zu positionieren hat. Zum anderen wird allerdings die durch seine Schiller-Rezeption gewonnene Ästhetik der „lebendigen Gestalt“ geschichtlich erweitert und derart weitergeführt, dass zwar sowohl der Mensch als auch die Welt dynamisch erscheinen, jedoch nach wie vor die gleiche Problematik aufgrund eines identischen subjektiven Drangs zur vereinzelnden Sonderstellung vorherrscht. Einen Ausweg in Form eines reflexiven Rückzugs in ein selbstgenügendes Betrachterdasein, das als ästhetischer Zustand die Genese des Schönen ermöglicht, besteht es gerade in Anbetracht der ewig unveränderlichen „Natur“ des Menschen und seines existentiellen Konflikts mit der Welt nicht. Zugespitzt lässt sich gar sagen, dass das Urteil Hebbels, Schiller habe nur unbewegliche, „abgeschlossene“ Menschen gezeichnet, die durch historischen Verhältnisse erprobt werden sollten (TBR 117 / TBW 114), gleichermaßen auch für seine eigene dramenästhetische Konzeption gilt: In unterschiedlichen geschichtlichen Konstellationen soll die Opposition zwischen dem Subjekt als einer lebendigen Gestalt und der ihm übergeordneten Welt veranschaulicht werden.

4.4 Hebbels Sprachphilosophie 4.4.1 Die allgemeine und die Individuelle Seite der Sprache Wenn die oben herausgearbeitete Ästhetik Hebbels von der lebendigen Gestalt als Zeugnis seiner implizierten Schiller-Rezeption zu bezeichnen ist, weil der Name Schiller nicht genannt wird, so weist Hebbels Ansicht über die Sprache zunächst eine explizite Intertextualität auf, da er selbst eine Übereinstimmung der eigenen

|| 77 Über den Stellenwert der „Atmosphäre“ vgl. Friederike Krippner: Spielräume der alten Welt. Die Pluralität des Altertums in Dramentheorie, Theaterpraxis und Dramatik (1790–1870). Berlin/Boston 2017. Insbesondere Kap. 5.1.2: „Atmosphäre. Geschichte zwischen Stoff und Form“, S. 200f.

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mit der Schillerschen Überlegung zum Wesen der Sprache bestätigt hat. So notiert Hebbel am 20. Dezember 1847 in seinem Tagebuch: So eben lese ich den 3ten Theil des Briefwechsels zwischen Schiller u Körner. Seite 120 u. s. f. kommt eine Auseinandersetzung Schillers über das Verhältniß des Dichters zur Sprache vor, die ganz u gar von denselben Anschauungen und Gedanken ausgeht, welche meinem Aufsatz über den Styl des Dramas zu Grunde liegen. Solch ein Siegel aus dem Grabe heraus ist doch interessant! (TBR 4248 / TBW 4332)

In seiner Rezension desselben Briefwechsels betont Hebbel abermals diese sprachphilosophische Wahlverwandtschaft: Hier hat Schiller nämlich in allgemeinen Zügen seine Anschauung von der Sprache niedergelegt und daneben das Verhältniß, worin speciell der Dichter zur Sprache steht, erörtert. Mir sei es erlaubt, daran zu erinnern, daß ich bereits zwei Jahre vor Erscheinung der Briefsammlung […] in meiner Abhandlung über den Styl des Dramas, den nämlichen Gesichtspunct aufgestellt habe. (W 11, S. 167)

Es folgt ein längeres, fast wörtliches Zitat aus Schillers Brief an Körner, datiert auf den 20. Juni 1793,78 der als Beilage zu den „Kallias“-Briefen publiziert wurde (FA 8, S. 321ff.). Gelegentlich wird auch in der Forschung auf diese Konstellation allgemein hingewiesen.79 Hebbels Abhandlung „Ueber den Styl des Dramas“ behandelt zunächst das Spannungsverhältnis zwischen dem „allgemeinen“ und dem „individuellen“ Aspekt der Sprache, das er als ein sich gegenseitiges Bedingen von nationalem Sprachgeist und individueller Sprachprägung auffasst: „An der Sprache ist es die wunderbarste Seite, wie der allgemeine Geist des Volks, dessen Product sie ist, und der individuelle, der sich ihrer zu seinem Einzelzwecken bedient, ineinander wirken und, sich gegenseitig ergänzend und beschränkend, ein Drittes erzeugen, das Beiden gemeinschaftlich angehört.“ (W 11, S. 66) Dieses Dritte ist der Durchdringung des individuellen Sprachgebrauchs durch das allgemein-nationale Sprachgesetz entsprungen und insofern Erzeugnis der freien Bewegung der Formulierung innerhalb der gegebenen Grenzen der (National-)Sprache. Dies wird als Stil definiert: „Das sprachliche Product, das entsteht, wenn ein positiv individueller Geist […] den allgemeinen […] durchdringt und befruchtet, wird Styl genannt.“ (W 11, S. 70) Dass die Sprache immer eine nationale sei, gehört zu Hebbels Kerngedanken. Eine zeitgenössische Untersuchung zur deutschen Sprache wird von ihm als ein „fröhliches Kind markigen Nationalgefühls“ begrüßt (W 12, S. 315). Denn die Spra-

|| 78 Schillers Briefwechsel mit Körner wird nach der Erstausgabe zitiert. Friedrich Schiller: Schillers Briefwechsel mit Körner. Von 1784 bis zum Tode Schillers. 4 Tle. Dritter Theil: 1793–1796. Berlin 1847, S. 119ff. 79 Vgl. etwa Erika Solms-Salomon: Hebbels Verhältnis zur Sprache. Berlin 1926.

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che ist ihm immer „der erste und unverfälschteste Ausdruck der Nationalität“ (W 12, S. 176), die Etymologie die Veranschaulichung des Kampfs der sich bildenden Nation mit anderen um ihre eigene Existenz; Sprachgeschichte wird bei Hebbel zugleich Nationalgeschichte.80 Insofern wird die generalisierende Tendenz nicht als ein Defizit der Sprache in ihrer Funktion als Kommunikationsmedium wahrgenommen, sondern, wie das Gedicht „Die Sprache“ verkündet, vielmehr als Mittel, alles Vereinzelte wiederinderselben verbindlichen Form zu vereinigen: „Als höchstes Wunder, das der Geist vollbrachte, / Preis ich die Sprache […]. / So wird durch sie, die jedes Wesen-Balles / Geheimstes Sein erscheinen läßt im Klange, / Die Trennung völlig wieder aufgehoben!“ (W 6, S. 323f.) Jedoch betrachtet Schiller, anders als der euphorische Hebbel, die spannungsreiche Beziehung zwischen der allgemeinen und der individuellen Seite der Sprache in der „Beilage“ zu den „Kallias“-Briefen eher mit kritischem Blick. Es geht ihm dabei um die Diskrepanz zwischen der bereits im Wesen der Sprache angelegten „Tendenz zum Allgemeinen“ (FA 8, S. 328; Hervorhebung im Original) und der dichterischen Aufgabe zur Individualisierung und zur sinnlichen Unmittelbarkeit, mithin aber auch um die Unzulänglichkeit des Ausdrucksmittels an sich. Dieser von Hebbel übersehene Aspekt der Sprachskepsis soll im Folgende zunächst erläutert werden.

4.4.2 Das problematische Medium Sprache: Schillers „Kallias“-Briefe Da Hebbel den Schiller-Körner-Briefwechsel detailliert rezensiert hat, kann auch von einer genauen Kenntnis und Auseinandersetzung mit den „Kallias“-Briefen ausgegangen werden. In dieser Briefreihe, die darauf abzielt, „einen Begriff der Schönheit objektiv aufzustellen“ (FA 8, S. 276), entfaltet Schiller seine Bestimmung des Schönen, das sich ihm zufolge als „Freiheit in der Erscheinung, Autonomie in der Erscheinung“ umschreiben lässt (FA 8, S. 285; Hervorhebung im Original). Der Begriff der „Erscheinung“ impliziert die sinnliche Wahrnehmbarkeit der Freiheit, weshalb diese immer dargestellt werden soll. In der Operation der Darstellung liegt aber zugleich die Problematik ihres Mediums, der Sprache. Schon in seiner Schaubühnenrede mit ihren wirkungsästhetischen Überlegungen spricht sich Schiller für eine „sichtbare Darstellung“ der theatralischen Wirklichkeitssimulation zu pädagogischen Zwecken aus: „So gewiß sichtbare Darstel|| 80 Vgl. Friedrich Hebbel: [Das Deutsche Wörterbuch]. W 12, S. 25–28. Er schätzt das Wörterbuch sehr (W 12, S. 27): „Hier [= im Wörterbuch der Gebrüder Grimm, M. M.] wird man zunächst sehen, wie der germanische Geist mit dem romanischen und slavischen im etymologischen Kampf um die schärfsten Linien und die brennendsten Farben ringt. […] Hier wird die ganze Entwicklung der Nation mit jedem ihrer entscheidenden Momente zum Ausdruck gelangen, denn jeses gab der Sprache in irgend einem Ausläufer ein bestimmteres Gepräge.“

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lung mächtiger wirkt, als toder Buchstabe und kalte Erzählung, so gewiß wirkt die Schaubühne tiefer und daurender als Moral und Gesetze.“ (FA 8, S. 191) Carsten Zelle hat Schillers Plädoyer für das „Vor-Augen-Stellen“ im Zusammenhang mit der Aufklärungspoetik, insbesondere des Lessingschen Rekurses auf die rhetorische Figur der enargeia, in den Blick genommen.81 Die Darstellung des Schönen kann ihrer inneren Struktur nach als Symbolisierung durch Analogieschluss bezeichnet werden, da es sich um den „sinnlich-freien Ausdruck einer in sich notwendigen Idee“ handelt,82 der demselben Gesetz unterliegt, das die Idee ausmacht. „[D]enn dargestellt heißt eine Idee, die mit einer Anschauung so verbunden wird, daß beide Eine Erkenntnisregel mit einander teilen.“ (FA 8, S. 288; Hervorhebung im Original) Diese Regel ist, gemäß Schillers Bestimmung der Schönheit, die Autonomie. Die Eigengesetzlichkeit des darzustellenden Gegenstands muss durch künstlerische Gestaltung der Einbildungskraft, die sich selbst frei entfaltet, unmittelbar und performativ vorgestellt werden. Das angedeutete Problem des sprachlichen Mediums liegt Schillers Auffassung nach allerdings darin, dass die Sprache wegen ihrer generalisierenden Tendenz nicht in der Lage sei, der spezifischen Eigentümlichkeit des Objekts der Darstellung gerecht zu werden. „Die Natur des Mediums, dessen der Dichter sich bedient, besteht also ‚in einer Tendenz zum Allgemeinen‘ und liegt daher mit der Bezeichnung des Individuellen (welches die Aufgabe ist) im Streit“ (FA 8, S. 328; Hervorhebung im Original). Nicht nur raube die Sprache dadurch dem Gegenstand seine Sinnlichkeit und Individualität, sondern zwinge demselben auch eine Heteronomie auf (FA 8, S. 329), weil die abstrakte Natur des Darstellungsmediums der Präsenzhaftigkeit des Darzustellenden widerspreche. Die Diskrepanz zwischen dem Signifikat und dem Signifikant verweist auf die Untauglichkeit des begrifflichen Sprachausdrucks für die Veranschaulichung sinnlicher Prägnanz, und hebt somit die Eigengesetzlichkeit des Gegenstands, der gerade durch die Darstellung als frei erscheinen soll, wieder auf. Anstelle der Autonomie des Objekts wird in diesem Fall nun die Heterogenität der Zeichen mit dem Bezeichneten sowohl in ihrer „Materialität“ als auch in ihrer „Arbitrarität ihrer Verknüpfung“ sichtbar.83 Trefflich kommentiert Jörg Robert: „Jeder Satz ist ein Verfehlen der Wirklichkeit, der konkreten Dinge in ihrer sinnlich gegebenen Singularität.“84

|| 81 Vgl. Carsten Zelle: Darstellung – zur Historisierung des Mimesis-Begriffs bei Schiller (eine Skizze). In: Georg Bollenbeck und Lothar Ehrlich (Hg.): Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker. Köln/Weimar/Wien 2007, S. 73–86, hier S. 77. 82 Wolf Gerhard Schmidt: Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen. In: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 446–451, hier S. 448. 83 Jörg Robert: Vor der Klassik. Die Ästhetik Schillers zwischen Karlsschule und Kant-Rezeption. Berlin/Boston 2011, S. 390. 84 Jörg Robert: Vor der Klassik, S. 393.

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Die Wurzel dieser Sprachskepsis, die das Wort in erster Linie als synthetische Gattungsbezeichnung versteht, liegt, wie Dirk Oschmann hervorhebt, in der Klassifikationsproblematik der Naturgeschichte.85 Die induktive Erfindung der Arten abstrahiert die Eigennamen zu Gattungsbegriffen, die gerade aufgrund ihrer allgemeinen Verfügbarkeit von der Individualität des konkreten Einzelnen entfernt sind. Moritz Lazarus, dessen Werk Hebbel besonders schätzte,86 hat dasselbe Problem der begrenzten Präzisionsmöglichkeit, und zwar insbesondere bei der Artikulation der inneren Empfindung angesprochen: Aber auch ganz einfache, individuelle Anschauungen können durch Wörter eigentlich nicht ausgedrückt werden […]. Demgemäß ist jederzeit die Möglichkeit gegeben, daß Jemand, indem er ein Wort gebraucht, zwar eine ganz individuelle Bedeutung damit verbindet, obgleich er sprachlich nur die allgemeine Vorstellung angibt. […] Der Mensch will ursprünglich und bis jetzt immer individuell sprechen; nur daß es ihm nicht gelingt.87

Da die Aufgabe dichterischer Gestaltung für Schiller in der Versinnbildlichung der Freiheit des Gegenstands besteht, gilt es, die der Autonomie des Darzustellenden zuwiderlaufende Generalisierungsintention der Sprache zu überwinden. Zwar geschieht die Bewältigung der sprachlichen „Tendenz zum Allgemeinen“ (FA 8, S. 329) durch die subjektive Größe des Dichters, der die „Natur des Darzustellenden“ mit der „Natur des darstellenden Stoffs“ (FA 8, S. 323) in Übereinstimmung bringen soll, aber seine Subjektivität ist nichts anderes als ein weiterer Störfaktor im Prozess der symbolhaften Veranschaulichung der Eigengesetzlichkeit des Kunstgegenstandes. Nur die Darstellung der reinen Objektivität kann als Leistung der künstlerischen Vollkommenheit interpretiert werden, während die in der Kunst noch erkennbare Subjektivität des Künstlers eher auf seine Beschränkung hindeutet.88 Daher definiert

|| 85 Vgl. Dirk Oschmann: Schillers Verknüpfung von Sprach- und Gattungstheorie. In: Georg Bollenbeck und Lothar Ehrlich (Hg.): Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker, S. 137–157. 86 Vgl. Hebbels Rezension über Lazarus’ Hauptwerk Das Leben der Seele. Friedrich Hebbel: Das Leben der Seele, in Monographieen über seine Erscheinungen und Gesetze. W 12, S. 215–217. Des Weiteren lobt Hebbel in seinem Aufsatz „Unsere Muttersprache“ auch die Leistung Lazarus’, vgl. W 12, S. 314. 87 Moritz Lazarus: Das Leben der Seele. Zitiert nach: Gesine Lenore Schiewer: Strukturen sprachlicher Gewalt in Gyges und sein Ring. Friedrich Hebbels Sprachreflexion im Kontext von Wilhelm von Humboldt und Moritz Lazarus. In: Wolfgang J. Bandion und Christa Agnes Tuczay (Hg.): „Das Weib im Manne zieht ihn zum Weibe; der Mann im Weibe trotzt dem Mann“: Geschlechterkampf oder Geschlechterdialog. Friedrich Hebbel aus der Perspektive der Genderforschung. (Hebbel. Mensch und Dichter im Werk. Folge 10) Berlin 2008, S. 95–118, hier S. 109f. 88 Vgl. FA 8, S. 326: „Der große Künstler, könnte man also sagen, zeigt uns den Gegenstand (seine Darstellung hat reine Objektivität) der mittelmäßige zeigt sich selbst (seine Darstellung hat Subjektivität) der schlechte seinen Stoff (die Darstellung wird durch die Natur des Mediums u. durch die Schranken des Künstlers bestimmt).“ Dabei bedeutet der Stoff nicht den Gegenstand, sondern

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Schiller den Stil als die „höchste Unabhängigkeit der Darstellung von allen subjektiven und allen objektivzufälligen Bestimmungen.“ (FA 8, S. 325) Inwieweit Schillers Idee des Stils, der gleichsam eine Selbstnegation des Dichters, ja die Auflösung seiner Subjektivität im Prozess der Gestaltung fordert, mit der in der Bürger-Rezension plakativ formulierten These, dass „Alles, was der Dichter uns geben kann“, allein „seine Individualität“ sei (FA 8, S. 974), kompatibel ist, soll hier dahingestellt sein. Dass aber die Objektivität als „Wesen des guten Stils“, die „GeistesEigentümlichkeit des Künstlers“ hingegen als Manier betrachtet wird (FA 8, S. 325), stimmt mit der Goetheschen Bestimmung des Stils und der Manier weitgehend überein.89 Von dieser Auffassung weicht Hebbel jedoch ab, weil der Stil für ihn dem Begriff nach immer individuell ist: Er sei das Produkt des Ineinandergreifens von national-generalisierendem mit individuell-spezifischem Sprachgeist und darum stets „Ausdruck zugleich der Bildung, wie der Artung eines Individuums“ (W 11, S. 70). Da Hebbel die für Schillers Poetik so bedeutsame Diskrepanz zwischen Zeichens und Bezeichnetem auf eine national-historische Ebene überführt und zudem in der Problematik der Sprache das gleiche Spannungsverhältnis, das seiner Dramenästhetik zugrunde liegt – nämlich dasjenige zwischen dem Individuum und der es bedingenden Welt – erkennt, unterscheidet sich sein Stilbegriff von demjenigen Schillers, obwohl er explizit auf diesen verweist. Bei Hebbel geht es keineswegs darum, die künstlerische Subjektivität im dichterischen Prozess aufgehen zu lassen, um dadurch den Schein der Eigengesetzlichkeit des darzustellenden Gegenstands zu evozieren. Der Stil als Ergebnis der Durchdringung von Universale, und Individuellem müsse vielmehr „Beiden gemeinschaftlich angehör[en]“ (W 11, S. 66), da er „beide Factoren mit gleicher Nothwendigkeit“ voraussetze (W 11, S. 70). Insofern muss Hebbels eigene Überzeugung, dass seine Auffassung über die Dichtungssprache wesentliche Aspekte mit der Schillerschen teile, als zu kurz gegriffen eingestuft werden.

|| Medium der Darstellung – oder wie Schiller ausdrücklich formuliert (FA 8, S. 329): „Worte und ihre Flexions und constructionsGesetze.“ 89 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl. In: ders.: Sämtliche Werke nach Epoche seines Schaffens. Bd. 3.2: Italien und Weimar 1786–1790, hg. von Hans J. Becker u. a. München 1990, S. 186–191. Der Manier als subjektive Ausrichtung der künstlerischen Darstellung wird durch eine „Sprache“ gekennzeichnet, „in welcher sich der Geist des Sprechenden unmittelbar ausdrückt und bezeichnet“ (S. 188). Der Stil hingegen, der sich auf „dem Wesen der Dinge“ beruht und durch eine „allgemeine Sprache“, d. h. eine von individueller Willkür erhobene, artikuliert wird, wird als der „höchst[e] Grad“ anerkennt, „welchen die Kunst je erreicht hat und je erreichen kann“ (S. 191).

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4.4.3 „Begriff“ und „Anschauung“ oder die Stilfrage: Hebbel mit Schiller Jedoch sind in den „Kallias“-Briefen jenseits der sprachphilosophischen Überlegungen noch weitere Aspekte vorhanden, die auf eine Affinität der beiden Dichter hindeuten. Beispielsweise stimmt das in der „Beilage“ umrissene Verfahren poetischen Schaffens mit den Vorstellungen Hebbels überein. Laut Schiller habe der Dichter zunächst „die ganze Objektivität seines Gegenstands […] in seiner Einbildungskraft“ aufzufassen, um das Objekt, das „schon idealisiert (d. i. in reine Form verwandelt) vor seiner Seele“ stehe, nun auch „außer sich darzustellen“ (FA 8, S. 327; Hervorhebung im Original). Im Wesentlichen stimmt dies mit Hebbels Gedanken von einem „doppelte[n] Prozess“ im „echten Dichtergeist“ überein: „Der gemeine Stoff muß sich in eine Idee auflösen und die Idee sich wieder zur Gestalt verdichten.“ (TBR 1217 / TBW 1232) Beide Dichter verbindet vor allem jedoch – sowohl dem Gehalt als auch der Ausführung nach – die geteilte Unterscheidung zwischen Denken und Dichten, zwischen Begriff und Anschauung. In Schillers „Kallias“-Briefen wird die Unzulänglichkeit der Sprache als Mediums poetischer Darstellung auf ihr unzureichendes Ausdrucksvermögen zurückgeführt: „Die Sprache stellt alles vor den Verstand, und der Dichter soll alles vor die Einbildungskraft bringen (darstellen) die Dichtkunst will Anschauung, die Sprache gibt nur Begriffe.“ (FA 8, S. 329; Hervorhebung im Original) Die sprachliche Erfassung eines konkreten Gegenstands müsse Schiller zufolge einen „sehr weiten Umweg“ durch das „abstrakte Gebiet der Begriffe“ nehmen, auf dem das Darzustellende „viel von seiner Lebendigkeit (sinnlichen Kraft) verliert.“ (FA 8, S. 328; Hervorhebung im Original) Obgleich die terminologische Kommunikation erst die intersubjektive Verständigung ermöglicht, schwächt Schillers Ansichten nach das allgemein verfügbare Wort als Produkt der gedanklichen Synthetisierung empirischer Welt die Wahrnehmung der sinnlichen Unmittelbarkeit, die das Ziel der Poesie darstellt. Hebbel macht nun in seiner Rezension des Schiller-Körner-Briefwechsels ebenfalls auf die grundsätzliche Differenz zwischen „der Dichterkraft, als solcher, und dem allgemeinen geistigen Vermögen“ aufmerksam (W 11, S. 107). In seiner Abhandlung „Ueber den Styl des Dramas“ geht er auf die Verschiedenheit des Denkund Dichtungsvermögens ein und parallelisiert sie mit dem erwähnten Gegensatz von Begriff und Anschauung: „Das Denk-Vermögen bethätigt sich in der Bildung reiner Begriffe und gelangt zur Form im philosophischen System; das DichtungsVermögen in der unmittelbaren Aufnahme und freien Reproduktion symbolischer Anschauungen und gipfelt im geschlossenen Kunstwerk.“ (W 11, S. 69) Wie bei Schiller wird hier die Anschauung als Ziel poetischer Gestaltung festgelegt. Wenn Hebbel das Streben der Kunst in der sprachlichen Ver-Anschau-lichung des gedanklichen Gehalts sieht, „dass er [= der Geist, M. M.] hier an der Gränze der sich bereits verflüchtigenden materiellen Welt und letzten, durchsichtigen Leib erhalte“ (W 11, S. 67), so nimmt er Schillers Idealvorstellung von einem „naive[n] Ausdruck“ auf. Dieser Vorstellung zufolge lässt die Sprache, die „wie durch innere Notwendig-

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keit“ aus dem Gedanken geboren wird, den Letzteren „selbst unter der körperlichen Hülle […] wie entblößt“, „noch gleichsam nackend“ erscheinen (FA 8, S. 721).90 In erster Linie lässt sich Hebbels Unterscheidung von Begriff und Anschauung auf die Schillersche Schrift „Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen“ zurückführen. Dass Hebbels diesen Text kannte, ist sehr wahrscheinlich.91 Schiller scheidet hier in dieser Schrift Einbildungskraft von Verstand sowie Anschauung von Begriff: Die Einbildungskraft strebt, […] immer nach Anschauungen, d.h. nach ganzen und durchgängig bestimmten Vorstellungen […]. Gerade umgekehrt beschäftig sich der Verstand nur mit Teilvorstellungen oder Begriffen, und sein Bestreben geht dahin, im lebendigen Ganzen einer Anschauung Merkmale zu unterscheiden. (FA 8, S. 680; Hervorhebung im Original)

Während die der Imagination entstammende Anschauung holistisch wirkt, kann der begriffliche Verstand lediglich analytisch-zergliedernd agieren. Die implizierte Vitalität der Anschauung ist auch deshalb hervorzuheben, weil Schiller die Tätigkeit der Einbildungskraft als eine unerlässliche Bemühung, „den Begriff zum Individuum zu machen, dem Abstrakten einen Körper zu geben“ (FA 8, S. 680), definiert. Konsequenterweise muss vor allem in der Mitteilung des durch Reflexion erzielten Wissens die Lebendigkeit der Darstellung hervorgehoben werden: Es sei darum besonders wichtig, „die Erkenntnisse der Wissenschaft wieder in lebendige Anschauung umzuwandeln.“ (FA 8, S. 692) Hebbel betont in Übereinstimmung mit Schiller ebenfalls die sinnliche Natur der Anschauung. Der poetische Stil sei „dem Grund-Element nach, ein sinnlicher; er bedient sich, so weit der Schatz reicht, nur der lebendigen Wörter [.]“ (W 11, S. 70) Einzelne Elemente sind also bereits in Schillers Überlegungen vorgebildet. Das Entscheidende ist aber, dass Hebbels Schiller-Rezeption trotz offenkundig gemeinsamer Grundlage der ästhetischen Überlegungen dennoch in eine Schiller-Kritik mün-

|| 90 Jörg Robert bezeichnet diesen naiven Ausdruck, „wo das Zeichen ganz in dem Bezeichneten verschwindet“, zu Recht als Fortführung des in „Kallias“-Briefen vorbereiteten Gedankengangs interpretiert und als „Sprache jenseits der Sprache“ bezeichnet. Vgl. Jörg Robert: Vor der Klassik, S. 402. 91 Hebbel spricht in seinem Aufsatz „Wie verhalten sich im Dichter Kraft und Erkenntniß zu einander“ von „Schillers tiefe[m] Ausspruch“: „[D]as kleine Ich, was sich nicht so weit zu erweitern vermag, daß es dem Ideal genügt, verengert das Ideal nach sich!“ (W 11, S. 80f.) Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich dabei um ein ungenaues Zitat aus Schillers Abhandlung „Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen“. In dieser Abhandlung kritisiert Schiller den Dilettantismus (FA 8, S. 697): Der Dilettant verkleinere „das große Ideal nach dem kleinen Durchmesser seiner Fähigkeit, weil er nicht im Stand ist, seine Fähigkeit nach dem großen Maßstab des Ideals zu erweitern.“

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det. Zwar leugnet Hebbel keineswegs die Symbiose von Begriff und Anschauung92 und die „höhere Einheit“ der beiden zugrunde liegenden Geistesvermögen, jedoch wird in erster Linie die grundsätzliche Verschiedenheit der Richtungen herausgearbeitet: Während der Begriff „in unendlicher Ausbreitung alles Besondere in’s Allgemeine auflöst“, decke die dichterische Anschauung „in eben so unendlicher Vertiefung das Allgemeine im Besonderen“ auf (W 11, S. 69). Die kategorische Differenzierung nach Funktionsweise lässt sich als weitere Schiller-Kritik lesen, da angesichts der Diskrepanz sprachlicher Vermittlungsmöglichkeiten die Verschmelzung von Philosophie und Poesie, die ja Schillers Lyrik repräsentiert (TBR 43 / TBW 40), als „Zwitter-Erscheinung“(W 11, S. 69) verworfen werden soll. Ferner spricht Hebbel Schiller überhaupt die Möglichkeit ab, sich in seinen Gegenstand zu vertiefen: Denn Schiller komme immer „vom Allgemeinen zum Besonderen“ und behandle das Drama „wie ein Gleichniß“ (TBR 5223 / TBW 5327). Die hier postulierte metaphorische Struktur der Schillerschen Dramatik akzentuiert in erster Linie den Verweischarakter des Sinnlich-Konkreten als Repräsentation eines vorgefassten allgemeinen Inhalts, angesichts dessen der eigentliche Gegenstand in seiner Materialität sekundär wird. Da aber die vertiefende Anschauung als die Bedingung der Dichtung schlechthin gesehen wird, muss Schillers dramatisches Verfahren vor diesem Hintergrund als verfehlt erscheinen. Bemerkenswert ist allerdings, dass Hebbels Reflexion über das komplementäre Verhältnis des Begriffs und der Anschauung sowie die konsequente Schlussfolgerung für die Dichtung, die stets das Individuell-Besondere als den eigentlichen Ausgangspunkt nehmen soll, in Wahrheit doch mit Schillers Ansicht übereinstimmt. Die Einwände gegen Schiller bedienen sich solcher Argumente, die die Ästhetik Hebbels und Schillers in Wirklichkeit verbinden. Abermals wird die Komplexität der SchillerRezeption Hebbels ersichtlich, die zwischen kritischer Auseinandersetzung und gedanklicher Weiterentwicklung oszilliert. Im Manuskript seiner 1792 in Jena gehaltenen Ästhetikvorlesung, welche in erster Linie den Gedankengang der „Kallias“Briefe vorbereitet (FA 8, S. 1554), befürwortet Schiller entschieden die Individualisierung in der Kunst: „Der Dichter muß das Streben nach Allgemeinheit, welches in der Natur seiner, der Individualität widerstreitenden Sprache liegt, zu überwinden suchen, damit das Dargestellte in seiner wahren Eigentümlichkeit erscheine.“ (FA 8, S. 1069) Selbst wenn es letztendlich auf die Darstellung einer übersinnlichen Idee, namentlich derjenigen der Freiheit in der Erscheinung, hinauslaufe, so könne dies nicht anders gelingen als dadurch, dass der Dichter „den Gegenstand zu individualisieren sucht [.]“ (FA 8, S. 1070) Die ideelle Zielsetzung macht gerade angesichts der sinnlichen Beschaffenheit der Kunstdarstellung die Anschauung zur notwendigen

|| 92 Vgl. W 11, S. 69: „[D]er Begriff wurzelt aber in der Anschauung […]; die dichterische Anschauung participirt durch ihre symbolische Beschaffenheit, die sie eben über die gemeine erhebt, am Begriff […].“

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Voraussetzung ihrer Verwirklichung. Für beide Dichter erwächst die Kunst also, wie in „Ueber den Styl des Dramas“ festgestellt wird, nicht aus der begrifflichen Relation, sondern „aus der Anschauung“ (W 11, S. 70).

4.4.4 Sprachphilosophie als Dramenästhetik Es ist bezeichnend genug, dass sowohl bei Schiller als auch bei Hebbel das Nachdenken über die Sprache, das sich hauptsächlich in der terminologischen Ausdifferenzierung des Gegensatzes von Begriff und Anschauung entfaltet, von einer weniger philosophischen als vielmehr stilistischen Fragestellung ausgeht. Während Schillers Aufsatz „Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen“ auf die Bestimmung einer angemessenen, die Poesie und Prosa verbindenden Schreibart bei der Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnis zielt,93 beschäftigen sich Hebbels Sprachreflexionen, wie der Titel seines Aufsatzes bereits vermuten lässt, vornehmlich mit dem Stil der dramatischen Dialogführung. Seine Idee der Sprache ist zugleich seine Dramenästhetik. Zunächst wird, im Rekurs auf „Mein Wort über das Drama!“ und das Vorwort zu Maria Magdalene, das Drama als „höchste Form der Poesie und der Kunst überhaupt“ anerkannt. Es habe die Aufgabe, „das Leben in seiner Unmittelbarkeit zur Anschauung zu bringen, und den Alles umfassenden Verstand, der ihm im Ganzen zugrunde liegen muß, im Einzelnen hinter anscheinender Willkür zu verstecken.“ (W 11, S. 71) Die Rekapitulation früherer ästhetischer Überlegungen, insbesondere der notwendige Durchdringung des Ideengehalts durch die lebendige Anschauung, kann gerade hinsichtlich der Realisierung derselben Durchdringung wieder auf Hebbels affirmative Schiller-Rezeption bezogen werden. Denn Schiller geht in seiner Abhandlung „Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen“ ebenfalls der Dialektik der freien Einbildungskraft und der dennoch unentbehrlichen logischen Strenge im populärwissenschaftlichen Vortrag nach; er fordert, Hebbel vorwegnehmend, zugleich die versteckte Gesetzmäßigkeit hinter der scheinbar willkürlichen Anreihung von Bildern: „Frei wird die Darstellung, wenn der Verstand den Zusammenhang der Ideen zwar bestimmt, aber mit so versteckter Gesetzmäßigkeit, daß die Einbildungskraft dabei völlig willkürlich zu verfahren […] scheint.“ (FA 8, S. 683; Hervorhebung im Original) Eine sinnliche, das heißt auf unmittelbare Anschauung hin abzielende Darstellung werde dann erreicht, wenn sich das Allgemeine hinter dem Besonderen „versteckt“ (FA 8, S. 683). Das Gleich-

|| 93 Vgl. hierzu Günter Oesterle: Schiller und die Romantiker. Eine kontroverse Konstellation zwischen klassizistischer Sympoesie und romantischer Sympolemik. In: Walter Hinderer (Hg.): Schiller und der Weg in die Moderne. Würzburg 2006, S. 401–420. Oesterle nennt die „neue Schreibart“ (S. 408) das Schlüsselproblem, mit dem sich sowohl Schiller und die Romantiker beschäftigen.

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gewicht zwischen der äußeren Freiheit und der inneren Notwendigkeit gilt Schiller als Lösung des Stilproblems. Auf ebendieser dialektischen Struktur beruht auch Hebbels durch Sprachreflexion eingeleitete Dramenpoetik: Als Methode der Darstellung bedürfe die sinnliche Veranschaulichung der Lebenstotalität einer „unmittelbaren Abspiegelung des Lebensprocesses“ (TBR 3747 / TBW 3830) durch sprachliche Vergegenwärtigung. Gerade die Prozesshaftigkeit der Darstellung unterscheide sie von der „Relation“, die nur ein „verständige[s] Aufzählen“ der Übergangsmomente und der endgültigen Resultate bedeute (TBR 3747 / TBW 3830). Die Forderung der Darstellung schließt insofern an die bereits herausgearbeitete Ästhetik der werdenden Gestalt an, denn der Gegenstand der sprachlichen Formung ist nicht das Statisch-fertige, sondern es sind die Übergänge des Werdens: Die Darstellung giebt den Werdeprozeß in seiner ganzen Tiefe und begleitet Alles, was sie in ihren Kreis aufnimmt, von der Wurzel bis zum Gipfel-Punct […]; sie führt das Leben in der ihm wesentlichen Gestalt eines rastlosen Sich-Umgebährens vor […]. Die Relation dagegen ist an das Fertige, sei es auch das Fertige im Werdenden, gebunden, sie legt das Leben wohl den entscheidenden Momenten nach auseinander und zieht ein Resultat, aber sie dringt nicht in die Uebergänge […]. (W 11, S. 71)

Die offenkundige Verbindung des hier formulierten Stilideals mit der Ästhetik des Werdens, die Hebbel, in kritischer Auseinandersetzung mit den abgeschlossenen Dramencharakteren Schillers entwickelt hat, liegt auf der Hand. Was die konkrete Realisierung der hohen Ansprüche anbelangt, so bedeutet dies zunächst die Verabschiedung des pathetischen Sprachstils zugunsten einer ungeschminkten, natürlich fließenden Sprache, die sich, demselben Prinzip des Werdens folgend, prozedural organisiert, um die innere Entwicklungsmöglichkeit des dargestellten Menschen auch medienästhetisch vor Augen zu führen. Der Strategie der psychologischen Authentizität folgend muss die Entstehung eines bestimmten Seelenzustands auch semiotisch und syntaktisch erkennbar sein. Daher werden hier die „Rauhigkeit des Versbaus, Verwicklung und Verworrenheit des Periodengefüges, Widerspruch der Bilder“ zu „unumgänglichen Darstellungsmitteln“ hervorgehoben (W 11, S. 73). Insofern lässt sich festhalten, dass der priorisierte Dialog, im Gegensatz zur „blühende[n] Diktion“ à la Schiller, so gestaltet sein muss, dass kein unumstößlicher Standpunkt erkennbar wird und dass ferner bei jedem Schritt der Darstellung sich ständig „eine Welt von Anschauungen und Beziehungen“ auftut (W 11, S. 72), die zugleich rückwärts und vorwärts deuten. Hinsichtlich Hebbels Schiller-Rezeption ist anzumerken, dass sich das dialogische Stilideal, bei dem selbst „das Ringen um Ausdruck Ausdruck ist“ (W 11, S. 72), schon in seinem ersten dramatischen Versuch, einer Adaption von Schillers Die Räuber (vgl. Kap. 2), in Ansätzen findet. Zwar muss das neue ästhetische Ziel der

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„atmosphärische[n] Vergegenwärtigung“ und „psychologische[n] Durchdringung der Charaktere“94 im Kontext vorausgegangener Schiller-Kritik als bewusste Abgrenzung von dem großen Vorbild gelesen werden. Jedoch zeigt die Analyse, dass Hebbels Theoriebildung Wesentliches einer intensiven Schiller-Rezeption zu verdanken hat, was sich in kritischen Auseinandersetzungen, einem gemeinsamen Problembewusstsein, gedanklicher Weiterführung sowie wörtlicher Übernahme niederschlägt. Die Kritik an Schiller ist das notwendige Resultat sowohl seiner experimentellen Schiller-Aneignung als auch seiner theoretischen Reflexion, die Schillersche Problematiken aufnimmt und weiterdenkt. Letztendlich beweist die Distanzierung gerade die ästhetische Nähe der beiden Dichter, denn nicht selten wird ein Einwand gegen Schiller mit Argumenten geführt, die mit Schiller entwickelt wurden. Diese theoretische Wahlverwandtschaft wird auch zur Voraussetzung einer allmählichen Revision der ursprünglichen Schiller-Kritik.

4.4.5 Sprachphilosophie als Poetik: Revision der Lyrik-Kritik Die zahlreichen gedanklichen Überschneidungen von Hebbel und Schiller, die im Vorangegangenen herausgearbeitet wurden, legen mindestens ein Überdenken, wenn nicht gar ein Revidieren der Schiller-Kritik bei Hebbel nahe. Tatsächlich erkennt Hebbel vor allem in den 1850er Jahren die Schillersche Dichtung wieder an. Dies geschieht zunächst durch die Würdigung der Gedankenlyrik als eine der beiden ebenbürtigen Hauptrichtungen der Poesie. So stellt Hebbel 1853 in seiner Abhandlung über die „Moderne Lyrik“ grundsätzlich fest: „Im Allgemeinen hat man von jeher zwei Hauptrichtungen unterschieden: die geistige, die bei uns durch Schiller repräsentirt wird und die man nicht so kurzweg die reflective nennen sollte, und die gemüthliche, die Goethe vertritt.“ (W 11, S. 70) Die klare Aufwertung der Schillerschen Lyrik gegenüber früheren Tagebucheinträgen, denen zufolge Schiller „eigentlich nur Gefühl für Gedanken“ habe (TBR 900 / TBW 913) und seine allein von Ideen aufgeladenen Gedichte nicht poetisch seien (TBR 44 / TBW 41), ist hier unverkennbar. Diese veränderte Einschätzung liegt in Hebbels Charakterisierung der deutschen Lyrik im Allgemeinen begründet, die eine vergleichbare Dualstruktur aufweist: Die deutsche Lyrik hat zwei Factoren: Gefühl und Reflexion, und am nationellsten, mithin am vollkommensten, entwickelt sie sich, wo alle beide gleichmäßig und unzertrennt tätig sind, wo der Stoff aus der Tiefe des Gemüts als geniales Gefühl aufsteigt und die Reflexion die einrahmende Form erzeugt. (W 10, S. 416)

|| 94 Marie Luise Gansberg: Zur Sprache in Hebbels Dramen. In: Helmut Kreuzer (Hg.): Hebbel in neuer Sicht. Stuttgart 1963, S. 59–79, hier S. 73.

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Diese Differenzierung, die in Hebbels Heine-Rezension aus dem Jahre 1841 zum Ausdruck kommt, markiert zugleich seine Vorstellung von einem Lyrikideal, bei dem ein Ausgleich der beiden Stilmomente zum Tragen kommt. Fritz Martini konstatiert zu Recht, dass Hebbels Anliegen darin bestehe, die Widerspruchsspannung zwischen einer Tendenz zur Subjektivierung – mit ihrer Neigung zum Gedanklichen, Reflexiven, Pathetisch-Sentimentalischen und Zufällig-Persönlichen und dem Bedürfnis nach geschlossener, in sich objektiv ruhender Form – mit ihrer Vergewisserung des Anschaulichen, Typisch-Symbolischen und Generellen – in ein Gleichgewicht zu bringen.95

Nicht anders besagt Hebbels eigene Tagebuchaufzeichnung: „Die Lyrik ist das Elementarische der Poesie, die unmittelbarste Vermittlung zwischen Subject und Object.“ (TBR 2611 / TBW 2687) Das angestrebte Gleichgewicht von Gefühl und Reflexion kann Hebbels Ansicht nach allein durch den „schöpferischen Act der Phantasie“ gewährleistet werden, der „den allgemeinen Gedanken individualisirt und umgekehrt das subjective Gefühl generalisirt […].“ (W 12, S. 71) Die Vorstellung von der Durchdringung der Individuation und Generalisierung lässt sich nicht nur als Rekurs auf dieselbe Dialektik in den sprachphilosophischen Reflexionen Hebbels und Schillers interpretieren, vielmehr kann der Verweis auf die schöpferische Kraft der Phantasie in Verbindung mit Schillers Akzentuierung der Einbildungskraft gebracht werden. Schiller begreift die „Unabhängigkeit der Phantasie von äußeren Eindrücken“ ausdrücklich als Zeichen ihres „schöpferischen Vermögens“ begreift (FA 8, S. 670), und genau in diesem Sinne bezeichnet Martin Heidegger die Einbildungskraft bei Schiller als „das eigentliche Vermögen der Produktion des Schöpferischen“.96 Freilich teilt Hebbel nicht die politische Implikation der Schillerschen These, dass die Freiheit der Einbildungskraft zugleich die Grundlage der menschlichen Freiheit darstellt.97 Doch entspricht die Funktionsbestimmung der Phantasie als vereinigende Kraft der Idee Schillers vom ästhetischen Spiel, das die „Wechselwirkung“ von Sachtrieb und Formtrieb ermöglichen kann (FA 8, S. 616).

|| 95 Vgl. Fritz Martini: Der Lyriker Hebbel. Theorie und Gedicht. In: Helmut Kreuzer (Hg.): Hebbel in neuer Sicht, S. 123–149, S. 126. 96 Vgl. Martin Heidegger: Übungen für Anfänger. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, hg. von Ulrich von Bülow. Marbach am Neckar 2005, S. 74. Vgl. auch Wilhelm Voßkamp: Einbildungskraft als Voraussetzung für eine politische Ästhetik bei Friedrich Schiller. Paderborn/München/Wien/Zürich 2011, S. 12. 97 Vgl. Hans Feger: Die Macht der Einbildungskraft in der Ästhetik Kants und Schillers. Heidelberg 1995. Feger erklärt zurecht die Einbildungskraft zum Grund des „selbstbestimmten Handelns“ (S. 283). Denn die Einbildungskraft als die Fähigkeit, die sinnliche Gegenwart des Gedachten ohne Berücksichtigung des materiellen Gesetzes vorzustellen, ermöglicht den Menschen, die Freiheit in der Ausübung ihrer Selbst zu erleben. Deshalb spricht Feger auch von der „Selbstdarstellung der Freiheit in der Einbildungskraft“ (S. 314).

122 | Hebbels Ästhetik und seine Schiller-Rezeption

Nun verwirklicht sich, so Hebbel in seinem Aufsatz „Moderne Lyrik“ aus dem Jahre 1853, das Gleichgewicht von Gefühl und Reflexion auch in der Lyrik Schillers, und zwar nicht durch bildliche Allegorisierung des abstrakten Ideengehalts, sondern durch Individualisierung des Denkprozesses. Bei Schiller sei nicht zu verkennen, „daß er den philosophischen Gehalt, der ihm allerdings immer vorschwebt, keineswegs, wie etwa Lucrez, als einen schon errungenen, bloß ausbreitet und in einen Goldrahmen faßt, sondern daß er uns sein Kämpfen um ihn und also seine Abhängigkeit von ihm in allen Stadien darstellt.“ (W 12, S. 71) Weniger das implizierte biographische Interesse als vielmehr die Prozessualität des Gedankengangs ist an dieser Stelle ausschlaggebend. Nicht durch subjektive Kolorierung des Gegenstands, sondern allein durch die Darstellung von der dynamischen Genese kann die Individualisierung des Allgemeinen gelingen. Die poetologische Rechtfertigung Hebbels für die Aufwertung der Schillerschen Lyrik stimmt insofern mit der Ästhetik des Werdens überein, die wiederum Zeugnis seiner intensiven Schiller-Rezeption ist. In Hebbels Besprechung von den Gedichten Franz Dingelstedts aus dem Jahre 1858 wird die positive Beurteilung der Schillerschen Lyrik ein weiteres Mal festgehalten. Schiller wisse, so Hebbel, selbst „für die kühnsten Flüge seiner Speculation noch immer das menschliche Gemüth zu erwärmen“; er gewinne sein Ideal „durch die Verklärung des natürlichen Zustandes“, gelange zu jener Verklärung „durch simples Zurückgehen auf’s Gesetz“ (W 12, S. 174). Das Zusammenspiel von Spekulation und Begeisterung in Schillers Dichtung kann durchaus als Äquivalenz zu jener Symbiose von Reflexion und Gemüt betrachtet werden, die eine gelungene poetische Hervorbringung kennzeichnet. Zur Begründung der Wiederwertschätzung bedient sich Hebbel allerdings derjenigen Argumente, die ein Dezennium zuvor in „Ueber den Styl des Dramas“ entwickelt wurden. Beschrieben wird hier die gleiche Operation wie die der dichterischen Anschauung, welche in „unendlicher Vertiefung das Allgemeine im Besonderen aufdeckt.“ (W 11, S. 59) Diese „wunderbare Mischung des Allgemeinen und des Besonderen“ sei, so führt Hebbel aus, „zugleich ein Resultat unserer tiefsinnigen Sprache. Denn diese will, wie kaum eine zweite, überall das Werden veranschaulichen, sie knüpft unermüdlich und unablässig Blüte und Wurzel zusammen, und muß darum auch die Uebergänge und die Bedingungen, unter denen sie allein zu Stande kommen, unverrückt im Gesicht behalten.“ (W 12, S. 176) 98 In nahezu wortwörtlicher Wiederholung der stilistischen Überlegungen schließt das Lob der deutschen Sprache die Revidierung der früheren || 98 Über diesen Vorzug der deutschen Sprache, den gedanklichen Prozess nachzubilden, vgl. auch Hebbels Gedicht „Die deutsche Sprache“ (W 6, S. 346f.): „Aber ich finde sie [= die deutsche Sprache M. M.] reich, wie irgend eine der Völker, / Finde den köstlichsten Schatz treffender Wörter gehäuft, / Finde unendliche Freiheit, sie so und anders zu stellen, / Bis der Gedanke die Form, bis er die Färbung erlangt, / Bis er sich leicht verwebt mit fremden Gedanken, und dennoch / Das Gepräge des Ichs, dem er entsprungen, nicht verliert.“

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Geringschätzung Schillerscher Lyrik ein, die der Natur des Mediums entsprechend ebenfalls einen Werdungsprozess, nämlich die Genese des Ideals, veranschaulicht. Der Vorzug sowohl der Schillerschen Lyrik als auch der deutschen Sprache besteht also gerade darin, dass beide nicht das faktische Sein ihres Gegenstands, sondern dessen graduelle Entwicklung samt allen notwendigen Übergangsstadien zum Ausdruck bringen. So vollzieht sich hier die Verschmelzung von Sprachphilosophie, Dramenästhetik und Poetologie kraft gemeinsamer Überzeugung von einer Poetik des Werdens, die die Prozessualität in der Darstellung besonders hervorhebt, um durch die zeit- und kontextgebundene Gestaltung des an sich einheitlichen Ideengehalts die Kluft zwischen dem Allgemeinen und dem Spezifischen zu überbrücken, und das Zeitlose in der Zeit zu veranschaulichen. Diese Ästhetik des Werdens an sich ist jedoch keine statische Idee, sondern bedarf ihrerseits ebenfalls eines Entwicklungszusammenhangs, der wiederum in Hebbels kritischer Auseinandersetzung mit Schiller zu verorten ist. Es lässt sich also zusammenfassen, dass das Rezeptionsverhältnis zwischen Schiller und Hebbel ein vielschichtiges Spannungsfeld ist, das sich von intentionaler Distanzierung und faktischer Annäherung durchdrungen zeigt. Ausgerechnet die Resultate der Schiller-Kritik werden zur Grundlage der Rehabilitation. Die durch kritische Schiller-Lektüre herausgearbeiteten dichterischen Prinzipien Hebbels stellen keineswegs einen Gegensatz, sondern vielmehr das Ergebnis seiner – freilich sich modifizierenden – Aneignung des ästhetischen Denkens von Schiller.

4.5 Hebbels Rezension über Schillers Briefwechsel mit Körner Das wichtigste Dokument von der Schiller-Rezeption Hebbels auf dem theoretischen Felde ist zweifelsohne seine im Revolutionsjahre 1848 publizierte Rezension zu Schillers Briefwechsel mit Körner, der erst ein Jahr zuvor zum ersten Mal der literarischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden war.99 Allein der Umfang der Hebbelschen Rezension ragt hervor und deutet auf ihre Schlüsselposition in Hebbels ästhetischem Denksystem hin.100 Das primäre Ziel der Besprechung ist kein biographisches Interesse,101 sondern die Erkundung der Genese der Schillerschen Gedan-

|| 99 Vgl. zur Überlieferung und Textgeschichte Georg Kurscheidt: Briefwechsel Schiller-Körner. In: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.) Schiller-Handbuch, S. 545–559, hier S. 546f. 100 Die Rezension ist nicht allein die detaillierteste zu dem Briefwechsel (vgl. Georg Kurscheidt: Briefwechsel Schiller-Körner, S. 558.), sondern auch die mit Abstand umfangreichste theoretische Darlegung Hebbels überhaupt. Sie umfasst 106 Druckseite in W, während „Mein Wort über das Drama!“ 36, das Vorwort zu Maria Magdalene 26, und „Ueber den Styl des Dramas“ lediglich 8 Druckseiten umfasst. 101 Vgl. dazu Klaus L. Berghahn (Hg.): Briefwechsel zwischen Schiller und Körner. München 1973, S. 10.

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kenwelt. Der Wert eines Briefwechsels lasse sich allein dadurch bestimmen, ob es „uns ringende und kämpfende Individuen vorführen oder fertige und abgeschlossene.“ (W 11, S. 91) In dieser Hinsicht ist der Schiller-Körner-Briefwechsel besonders aufschlussreich, denn er vergegenwärtigt gerade den Entstehungsprozess der Dichtung, aber auch der philosophischen Ideen Schillers: „Wir sehen das werden und entstehen, was nun schon über ein halbes Jahrhundert als Gewordenes so mächtig auf Kunst und Literatur einwirkt.“ (W 11, S. 94) Hebbels Dramenästhetik des Werdens wird hier also auch leitend für seine hermeneutische Methode. Richard Maria Werner schreibt der Briefwechsel-Rezension einen SyntheseStatus zu und betrachtet sie als Abschluss der Hebbelschen theoretischen Reflexion: In der großen Anzeige von „Schillers Briefwechsel mit Körner“ läßt er [=Hebbel, M. M.] dann seine zerstreuten Ideen noch einmal Revue passieren und ruft Schiller für manche zum Zeugen auf. Man könnte sagen, damit schließt in gewissem Sinne die Reihe der innerlichen zusammenhängenden Aufsätze Hebbels ab. Er hat in ihnen seine Prinzipien im Großen und Ganzen entwickelt und macht nun in einer weiteren Reihe die Anwendung auf einzelne dichterische Erscheinungen […]. (W 12, S. XXVII.)

Denn das Urteil gibt sowohl über die Haltung als auch über die Maßstäbe und Kriterien des Urteilenden Auskunft. Eine genauere Analyse der detaillierten Besprechung informiert nicht nur über vielfältige Aspekte des Rezeptionsverhältnisses, sondern ermöglicht auch Einblicke in den Komplex von Hebbels ästhetischer Reflexion, der als Hintergrund präsent ist.

4.5.1 Rekapitulation der Schiller-Kritik Die Briefwechsel-Rezension rekapituliert zunächst die dem Leser inzwischen wohlvertraute Kritik an Schillers Gedankenlyrik. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht das Gedicht „Die Künstler“. Gerade an diesem Punkt, so Hebbel, sei der Briefwechsel höchst interessant und instruktiv, da er „auf Schillers dichterische Individualität ein helles Licht“ werfe (W 11, S. 133). Zitiert wird Schillers Brief an Körner vom 9. Februar 1789, in dem Schiller sein lyrisches Verfahren als „Heraushebung“ der Idee bezeichnet: „Zugleich schien diese Idee schon in meinem Gedicht unentwickelt zu liegen, und nur der Heraushebung noch zu bedürfen.“ (W 11, S. 134)102 In seiner früheren Auseinandersetzung mit Schillers lyrischem Schaffen legt Hebbel großen Wert auf die Unterscheidung von poetische und philosophisch-allgemeingeistigem Vermögen und votiert deshalb entschieden gegen die Methode des Herauskatapultierens von gedanklichem Gehalt: Die Idee solle nicht „fundamentiren“, sondern

|| 102 Vgl. Friedrich Schiller und Christian Gottfried Körner: Schillers Briefwechsel mit Körner. Zweiter Theil: 1789–1792, S. 26.

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allein „befruchten“ (TBR 795 / TBW 809). Ein nüchterner gedanklicher Vorgang, der den poetischen Geist zur Produktion zwingt, könne, so kommentiert Hebbel in Bezug auf Schillers Selbstzweifel während seiner Arbeit an Don Karlos, zwar „etwas Vernunftgemäßes, dem Gesetz des zureichenden Grundes nicht Widersprechendes, zugleich aber auch etwas Kaltes, Unlebendiges hervorbringen […].“ (W 11, S. 107)103 Wieder opponiert Hebbel gegen das bewusst-reflektierende Schaffen der Poesie. Darum merkt er an, das „Künstler“-Gedicht habe lediglich bestätigt, dass „der Schöpfungsact bei ihm [= Schiller, M.M.] kein reiner war […].“ Denn „Die Künstler“ sei mehr „ein Zeugniß für Schillers gründliche Erkenntniß der Kunst“ denn „eine über allen Zweifel erhabene künstlerische That“ (W 11, S. 134f.). Insofern wird die Unmöglichkeit, „den Künstlern einen Pendant zu geben“ (W 11, S. 136), keineswegs als Zeichen der dichterischen Unerreichbarkeit Schillers angesehen. Schon die ersten Bemerkungen Hebbels über Schiller, die Eingang ins Tagebuch fanden, beschäftigten sich mit der Inkommensurabilität der Schillerschen Lyrik: „Nichts ist erklärlicher, als daß Schillers Schule sich nicht halten konnte; eben weil seine ungeheure Subjectivität, die eine ganze Welt von philosophischen Ideen in sich aufgenommen hatte, erforderlich war, um seine Gedichte vortrefflich zu machen.“ (TBR 43 / TBW 40) Gerade die Überschattung der Poetizität durch die unermessliche Fülle philosophischen Gehalts in Schillers Gedichten führt zu ihrer Sonderstellung. Deswegen könne „Die Künstler“ aufgrund der mangelhaften Unnachahmbarkeit „nicht lyrisch“ sein, sondern „höchstens neben anderen auch lyrische Elemente in sich haben.“ (W 11, S. 136) Dieses Urteil knüpft wiederum an jene frühe Tagebuchaufzeichnung Hebbels an, in der er behauptete, dass er manche Gedichte, denen er „Gedanken-Inhalt nicht absprechen“ wolle, dennoch nicht als „poetisch“ bezeichnen könne (TBR 44 / TBW 41). Die Kritik an der Schillerschen Gedankenlyrik bleibt also über einen längeren Zeitraum konstant.. Die Popularität Schillers und insbesondere die allgemeine Wertschätzung des „Künstler“-Gedichts sind Hebbel zufolge eher die Konsequenz des Nationalcharakters des Deutschen: Denn dem Deutschen müssen vermöge der Grundzüge seines Nationalcharacters Schillers Schwächen als Vorzüge gelten; er liebt das Unbestimmt-Verschwimmende, das Eines sein und doch daneben etwas Anderes scheinen will und darum ist Schiller, der ihm nie etwas ganz Exclusives, etwas durchaus nur Poetisches bietet, sein Lieblingsdichter. (W 11, S. 137)

Dieselbe Kritik an den „Zwitter-Erscheinungen“ von Denk- und Dichtungsvermögen ist bereits in Hebbels Abhandlung „Ueber den Styl des Dramas“ angelegt, in der er die Beliebtheit der „philosophischen, bald didactischen, bald rhetorischen Poe-

|| 103 Hier nimmt Hebbel Bezug auf Schillers Brief an Körner am 30. Dezember 1786. Vgl. Friedrich Schiller und Christian Gottfried Körner: Schillers Briefwechsel mit Körner. Erster Theil: 1784–1788, S. 72.

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sie“ auf deren Halbheit zurückführt, weil „Philosophie und Poesie die Masse in der Regel um so mehr anziehen, je weniger sie ganz sind, was sie sein sollen.“ (W 11, S. 70) Die Rezension nimmt dementsprechend auch Momente auf, die sich in den vorangegangenen Auseinandersetzungen Hebbels mit den Schillerschen Werken als konstitutiv erwiesen haben; resümierend präsentiert sie die zentralen Punkte von Hebbels Schiller-Rezeption. Auch der Vorschlag zur Überwindung des diagnostizierten Defizits der Reflexionspoesie belegt den synthetischen Charakter der Briefwechsel-Rezension. Im Gegensatz zur herrschenden Meinung seiner Zeitgenossen104 akzentuiert Hebbel in der Rezension die „kritische Capazität“ Körners (W 11, S. 135), um unter anderem damit die eigene Kritik an allem „Reflektirende[n]“ (W 11, S. 138) in der Poesie zu bekräftigen. Erst mit Blick auf die „vortheilhaft[e]“ Erscheinung Körners bezeichnet der Rezensent Hebbel den Briefwechsel als „Bereicherung unserer Literatur“ (W 11, S. 92).105 Die Würdigung Körners, der laut Hebbel über die vermeintlich rein rezipierende Rolle hinaus auch als eine korrigierende Instanz gegenüber Schiller fungiert, ist deswegen aufschlussreich, weil in ihr sich Hebbels Selbstverständnis in seinem Rezeptionsverhältnis zu Schiller widerspiegelt. Es lassen sich gerade in Körners Briefen zahlreiche Übereinstimmungen zu den ästhetischen Überzeugungen Hebbels identifizieren, der diese brieflichen Äußerungen deshalb mit entsprechender Begeisterung aufnimmt. Beispielsweise zieht er Körners Brief vom 2. April 1790 heran, um erneut gegen philosophische Abstraktion in der Schillerschen Lyrik zu argumentieren: „Sollte man nicht sagen können: so lange der Gedanke bloß philosophisch […] ist, so entsteht kein Gedicht, auch durch eine noch so dichterische Einkleidung. Der Gedanke selbst muß individualisirt werden, […] muß das Resultat eines besonderen Characters, besonderer Umstände sein [.]“ (W 11, S. 158f.)106 Die Forderung nach Individualisierung des allgemeinen Gedankeninhalts ist aber, wie bereits mehrfach betont, die Kernthese Hebbels in seiner Untersuchung über den dramatischen Stil. Freilich besteht die Eigentümlichkeit des Sachverhalts darin, dass auch Schiller die nämliche Forderung nach Verkörperung des Abstrakten erhoben hatte.

|| 104 Vgl. stellvertretend die Rezension von Theodor Wilhelm Danzel, der das Verhältnis zwischen Schiller und Körner mit demjenigen Goethes und Mercks vergleicht: „In beiden Fällen sehen wir ganz unproductive Menschen, […] die […] sich mit seltener Selbstentäußerung in ein productives Genie einleben […].“ Dann führt Danzel fort: „Hinter dem Aufschwunge von Schiller’s Geist […] bleibt nun […] Körner auf eine sehr bemerkbare und fast beleidigende Weise zurück.“ Zitiert nach Georg Kurscheidt: Briefwechsel Schiller-Körner, S. 558. 105 Auch Klaus L. Berghahn spricht sich für eine angemessene Einschätzung von „kritische[r] Mitarbeit“ Körners, vor allem in der Konstituierung der Schillerschen Ästhetik aus. Vgl. Klaus L. Berghahn (Hg.): Briefwechsel zwischen Schiller und Körner, S. 15. 106 Vgl. Friedrich Schiller und Christian Gottfried Körner: Schillers Briefwechsel mit Körner. Zweiter Theil. 1789–1792, S. 180f.

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4.5.2 „Gesteigertes Leben“: Hebbels Ästhetik III Die von Körner aufgestellte These, dass das Poetische in erster Linie in der Individualisierung und Kontextualisierung des allgemeinen Gedankens besteht, findet bei Hebbel uneingeschränkte Zustimmung. So kommentiert er im Anschluss an jenen oben zitierten Brief Körners vom 2. April 1790: „Ohne allen Zweifel, denn das Dichten ist nicht ein unklares Denken, sondern ein gesteigertes Leben.“ (W 11, S. 159) Hiermit ist neben der „realisierten Philosophie“ ein weiterer Schlüsselbegriff der Hebbelschen Ästhetik genannt. Zum einen besagt die Definition von Dichtung als gesteigertes Leben ihre Verwurzelung in der irdischen Wirklichkeit und bestätigt, dass anstatt vorkonstruierter philosophisch-moralischer Hypothesen die spezifische Lebensrealität den Ausgangspunkt der dichterischen Gestaltung bilden muss. Zum anderen aber vollzieht sich in der Kunst nicht die unreflektierte Wiedergabe des Alltäglichen, sondern eine Steigerung, ja eine Potenzierung des Lebens mit ideeller Sinngebung, die als unabdingbare Komponente in der Poesie enthalten sein muss. Daher muss die dargestellte Welt als Symbol erscheinen, weil dieses auf einen die zufällige Existenz jener transzendierenden Sinn andeutet. Insofern spricht Hebbel in „Ueber den Styl des Dramas“ folgerichtig von „symbolischer Anschauung“ als Gegenstand der Dichtung: [D]as Dichtungs-Vermögen [betätigt sich] in der unmittelbaren Aufnahme und freien Reproduction symbolischer Anschauungen und gipfelt im geschlossenen Kunstwerk; […] die dichterische Anschauung participirt durch ihre symbolische Beschaffenheit, die sie eben über die gemeine erhebt, am Begriff […]. (W 11, S. 69)

Es handelt sich bei der ästhetischen Kategorie des gesteigerten Lebens, die im Zuge seiner kritischen Schiller-Rezeption an Bedeutung gewinnt, um eine notwendige Verschmelzung des Ideellen mit dem Individuellen, die sich jedoch allein in der Veranschaulichung der konkreten Lebenssituation verwirklichen kann. Sie vereint verschiedene Kunstreflexionen Hebbels und kann als deren Kulminationspunkt betrachtet werden. Vor allen Dingen basiert diese poetologische Selbstreflexion auf früheren Tagebuchnotizen, die den Stellenwert des Lebens in der Kunst, aber auch die Notwendigkeit seiner Transzendierung gleichermaßen betonen. So notiert Hebbel 1835: „[D]ie Kunst soll das Leben in all s. verschiedenartigen Gestaltungen ergreifen u darstellen. Mit d bloßen Copiren ist dies natürlich nicht abgethan, das Leben soll bei d Kstler etwas Anderes, als die Leichenkammer, wo es aufgeputzt u beigesetzt wird, finden.“ (TBR 113 / TBW 110) Die Thematisierung des Lebens in all seiner Vielschichtigkeit muss sich über das rein materielle Interesse erheben, um das „Unendliche“ durch Ergreifung der „bedeutenden Momente“ am Individuellen sichtbar zu machen: „Aufgabe aller Kunst ist Darstellung des Lebens, d. h. Veranschaulichung des Unendlichen an der singulairen Erscheinung. Dies erzielt sie durch Ergreifung der für eine Individualität oder einen Zustand derselben bedeutenden Momente.“ (TBR 129 / TBW 126) Ohne das „Unendliche“ noch näher zu defi-

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nieren, wird die Kunst als potenzierte Darstellung des individuellen Lebens aufgefasst – durchaus ist dies charakteristisch für Hebbels eigenes Dichtungsverständnis. Nicht zuletzt betont er in einer Unterhaltung mit Tieck, dass sein gesamtes poetisches Streben darin bestehe, „allen seinen Gebilden eine reale Basis zu geben, und das Moment der Idealität ausschließlich in die Verklärung dieser Basis zu legen.“ (W 10, S. 188)107 Die Steigerung des allen poetischen Produktionen zugrundeliegenden Lebens wird in diesem Selbstbekenntnis als dichterisches Verfahren funktionalisiert. Der Begriff des gesteigerten Lebens, der die Einheit des Ideellen und des Realen zum Ausdruck bringt, nimmt ferner Bezug auf den zeitgenössischen Diskurs um den „Idealrealismus“. 1854 trug Hebbel ins Tagebuch ein: „Realismus und Idealismus, wie vereinigen sie sich im Drama? Dadurch, daß man jenen steigert und diesen schwächt.“ (TBR 5224 / TBW 5328) Zur Vermittlung zwischen den beiden einander konträren Prinzipien wird neben der Depotenzierung des Idealismus vor allem die Steigerung des Realistischen als Lösung vorgeschlagen. Die Doppelfunktion des hier in der Briefwechsel-Rezension formulierten Begriffs vom gesteigerten Leben, der sowohl als kritisches Urteilskriterium als auch als Schlüsselkategorie der eigenen Ästhetik in diesem Zusammenhang zu begreifen ist, zeigt sich vor allem in Hebbels Auseinandersetzung mit dem Dramatiker Schiller. Wenn Hebbel konstatiert, dass Schiller an der „eigentlichen Aufgabe der dramatischen Kunst“ doch vorbeischleiche (W 11, S. 141), so versteht er die dramatische Kunst als nichts anderes als den Prozess der Lebenssteigerung jenseits aller Idealisierungsmanöver: Diese Aufgabe bestehe nämlich nicht darin, eine ideale Welt in die reale als ein Bild hinein zu hängen und das Bild mit bengalischer Flamme zu beleuchten, sondern darin, diese ideale aus der realen selbst hervor zu arbeiten, und es bedarf wohl nicht erst eines Beweises, daß es leichter sein muß, die letztere zum Rahmen zu erniedrigen, als zum Gemälde zu erhöhen. (W 11, S. 141; Hervorhebung im Original)

Es geht nicht um einen Kontrast zwischen der ideellen Überkonstruktion und dem Realen, sondern um die Steigerung des Irdischen zu einer bedeutenden Existenz. Die implizierte Kunstwürdigkeit der Realität, die „zum Gemälde“ erhöht werden soll, macht diese zum eigentlichen Gegenstand der Dramatik. Die bengalische Flamme ist des Weiteren als Metapher der pathetischen Effektdramaturgie zu verstehen, die Hebbel zufolge ein typisch Schillersches Verfahren darstellt: Er führt nämlich die gelungene Darstellung der Eidgenossen in Schillers Wilhelm Tell auf die „bengalisch[e] Flamme“ zurück, „die Schiller nicht sparte.“ (W 10, S. 406) Dass aber diese wirkungsästhetisch angelegte Strategie der Effektsteigerung eine künstlich-

|| 107 Hebbel besuchte Tieck am 9. Juli 1851 in Berlin.

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oberflächliche ist, verhehlt Hebbel keineswegs: „Bengalische Flamme von außen: entbundener Phosphor von innen: welch ein Unterschied!“ (TBR 4938 / TBW 5044) Unmissverständlich wird die bengalische Flamme samt der erst durch sie sichtbaren Kontur des hineingreifenden idealistischen Gefüges, das bildlich der antiken Universallösung eines deus ex machina gleicht, als fremde Einwirkung abgelehnt. Es handelt sich, so lässt sich zusammenfassen, bei der eigentlichen dramatischen Aufgabe weniger um die Verkündung einer metaphysischen Weltordnung, angesichts derer das irdische Leben entwertet wird, sondern um die Steigerung desselben zum potenzierten Repräsentanten eines überzeitlichen Idealen, dessen Wurzel allerdings in der säkularen Realität liegt. Hebbels Begriff des gesteigerten Lebens, der seiner Schiller-Rezeption verpflichtet ist, reflektiert sowohl das Spannungsverhältnis zwischen dem Allgemeinen und dem Individuellen als auch dasjenige zwischen dem Zeitlichen und dem Zeitenthobenen. Daher kann dieser Kernbegriff als Bezugspunkt des Hebbelschen ästhetischen Denkens betrachtet werden. Die zentralen Aspekte dieser Kategorie werden ferner in der Polemik gegen Julian Schmidt wiederaufgenommen. Im zu diesem Zwecke verfassten Aufsatz „Abfertigung eines aesthetischen Kannegießers“ wird die realistische Bindung der dramatischen Kunst mit Nachdruck erneut akzentuiert. Hebbel bestreitet in dieser Replik die Tragfähigkeit einer philosophischen Lesart seiner Werke, um das Drama als Medium der Realitätsdarstellung zu favorisieren. Die im Vorwort zu Maria Magdalene artikulierte Forderung, „den jedesmaligen Welt- und Menschen-Zustand“ zu veranschaulichen, versperre der albernen Jagd auf eine Welt-Anschauung geradezu den Weg, verweis’t den Dichter entschieden auf’s Endliche und Begränzte und schneidet alle Abstractionen ab, erlaubt ihm nicht einmal die unfruchtbare Liebäugelei mit dem reinen Schönen, wenn die Elemente desselben nicht in Welt und Zeit vorhanden sind. (W 11, S. 405)

Die diesseitige Gebundenheit der dramatischen Kunst, die sich innerhalb einer raumzeitlichen Beschränkung bewegt, entspricht dem in der BriefwechselRezension hervorgehobenen Anspruch, das konkrete Leben als Ausgangspunkt der Dichtung ernst zu nehmen. Zwar soll in den Kunstformen „Endliches und Unendliches“ zusammenfallen (W 11, S. 406), aber seine Werke beschäftigen sich doch „ausschließlich mit der Erde, nicht mit Himmel und Hölle“ (W 11, S. 406). Die sich in seinen ersten lyrischen Schiller-Imitationen zeigende Jenseitszuversicht, die allerdings schon in den ersten dramatischen Versuchen der Schiller-Rezeption ihre Gültigkeit verliert, wird nach der Auseinandersetzung mit Schillers Ästhetik endgültig verworfen. Dass es Hebbel mit der Feststellung der irdischen Gebundenheit seiner dramatischen Produktion, die alle Ausführungen über abstrakte Ideengehalte unterbindet, ernst meint, zeigt seine Tagebuchaufzeichnung nach der Fertigstellung von Maria Magdalene, die hier abschließend zitiert sein soll:

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Bei dieser Dichtung ging es eigen in mir zu. Es kam drauf an, durch das einfache Lebensbild selbst zu wirken und alle Seitenblicke des Gedankens und der Reflexion zu vermeiden, da sie mit den dargestellten Characteren sich nicht vertragen. Das ist aber schwerer, als man denkt, wenn man es gewohnt ist, die Erscheinungen und Gestalten, die man erschafft, immer auf die Ideen, die sie repräsentiren […] zurück zu beziehen. Ich hatte mich also sorgfältig zu hüten, […] um nicht über den beschränkten Rahmen des Gemäldes hinweg zu sehen und Dinge hinein zu bringen, die nicht hinein gehören […]. (TBR 2831 / TBW 2910)

Die Parallelität zwischen dem hier selbstdargelegten Kunstprozess, der in der Konzentration auf das schlichte Lebensgemälde ohne jeglichen von außen hineingetragenen und darum heterogenen gedanklichen Zusatz besteht, und der in der Briefwechsel-Rezension herausgearbeiteten Ästhetik des gesteigerten Lebens ist kaum zu übersehen, reicht sie doch in Teilen bis auf die Wortebene. Abermals zeigt sich die konstitutive Funktion der Schiller-Rezeption, die sowohl die vorangegangenen theoretischen Ansätze synthetisiert als auch weitere ästhetische Auseinandersetzungen vorbereitet.

4.5.3 Idealisierung und Psychologisierung: Hebbels Kritik an Schillers Dramen Zu Recht hat Georg Kurscheidt betont, dass Hebbel den Briefwechsel „zwar als Quelle zur Biographie Schillers“ benutze, vor allem aber zum Anlass nehme, „um an Schiller als Dichter heftige Kritik zu üben, von dem er doch als Dramatiker selbst stark beeinflusst worden war […].“108 Die in der Rezeption vollzogene Auseinandersetzung mit Schiller, die zugleich der Exemplifikation der eigenen ästhetischen Überzeugung dient, bezieht sich nun in erster Linie auf das unzulängliche Gestaltungsvermögen des Dramatikers.109 Denn die Begeisterung des Künstlers für sein Ideal könne er „nur dadurch beweisen, daß er sie mit allen ihm und der Kunst zu Gebote stehenden Mitteln zu verleiblichen sucht […].“ (W 11, S. 143) Die Verleiblichung des Ideals ist, wie bereits ausgeführt, auch Schillers Vorschlag zur Bewältigung der Stilproblematik: Fordert er doch nachdrücklich dazu auf, den abstrakten Begriff zu personifizieren und ihm einen fassbaren Körper zu geben (vgl. FA 8, S. 680, S. 684). Das Entscheidende für die Rezeptionskonstellation ist jedoch der Sachverhalt, dass dies für Hebbel das Kriterium gelungener dramatischer Gestaltung darstellt. So konstatiert er im Vorwort zu Maria Magdalene programmatisch, „daß der echte dramatische Darstellungs-Proceß […] alles Geistige verleiblichen, daß er die dualistischen Ideen-Factoren […] zu Characteren verdich-

|| 108 Georg Kurscheidt: Briefwechsel Schiller-Körner, S. 558. 109 Hebbel wirft die Frage auf, wie es aus Schillers Popularität werden würde, wenn er „statt seiner bekannten Vorliebe, einen unbesiegbaren Widerwillen gegen alles Sentenzenwesen gehabt und hinreichendes Gestaltungsvermögen besessen hätte.“ W 11, S. 137.

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ten“ solle (W 11, S. 55; Hervorhebung im Original). Vorgestellt wird nicht etwa eine in dramatischer Form präsentierte Überzeugung des Autors oder gar eine Poesie der Idee, sondern das Eigenleben der Charaktere in seiner sinnlichen Wahrnehmbarkeit, das nur implizit auf eine ideen- und weltgeschichtliche Metaebene verweist. Der in der Briefwechsel-Rezension entfalteten Schiller-Kritik liegt Hebbels Festhalten an einer Dramatik der Eigendynamik des irdischen Lebens zugrunde. Die viel bescholtene Idealisierung Schillers wird darum von Hebbel als Kompensation für die unzureichenden Individualisierung in den Dramen Schillers begriffen. „Er [= Schiller, M. M.] floh“, so Hebbel, „zunächst aus der realen Welt in die ideale, aus der Welt der Verworrenheit und des Zickzacks in die der vorherbestimmten Harmonie und der reinen Kreislinie, und richtete sich dann dieser Welt gemäß auch die Menschen zu, mit welchen er sie bevölkerte.“ (W 11, S. 140) Laut Hebbel ist Schiller nicht im Stande, das Undurchschaubar-Verworrene im Handeln der dramatischen Person aufzufassen und dessen Spontaneität mit künstlerischer Authentizität darzustellen. Folgte man hier Hebbel, so müsste die dramatische Welt Schillers als ein ideal konstruiertes hohles Universum erscheinen, in dem jegliches Individuelle negiert würde: „[D]er blaue Hintergrund seiner idealen Welt […] war leicht gemalt, und eben so leicht waren die durchaus noblen Helden und Heldinnen mit ihrem einseitigen, sich nie verirrenden Pathos hingestellt, die sich in ihr bewegten.“ (W 11, S. 140) Die Eindeutigkeit der erhabenen Gesinnung wird hier als defizitär diagnostiziert, denn sie lässt weder seelische Verwirrung noch Selbstzweifel zu. Die Figuren Schillers scheinen doch, wie Hebbel schon 1835 festgestellt hat (vgl. TBR 117 / TBW 114; W 9, S. 58), statisch und gehalten zu sein. Sodann wendet sich die Kritik der unzulänglichen Figurenmotivierung Schillers zu. Dabei bedient sich Hebbel in seiner Detailanalyse der Braut von Messina einer neurologischen Metapher, um den Mangel der Schillerschen Figuren an psychischen Nuance zu versinnbildlichen: „Doch, wir wissen es längst, daß Schillers Stärke nicht im Motiviren lag, daß seine Bildungen uns höchstens die Hauptstämme der Nerven und Adern aufgedeckt zeigen, daß die so wichtigen Capillar-Gefäße aber immer unsichtbar bleiben [.]“ (W 11, S. 195) Schiller dringt nicht in die Verästelung der psychischen Verfasstheit der Figuren vor, sodass die seelischen Einzelheiten, die das Handeln der Figuren plausibilisieren, verdeckt bleiben. Die Motivierung scheint holzschnittartig und bleibt an der Oberfläche hängen. Deshalb bestreitet Hebbel die Auffassung Körners, dass ein mit Begeisterung und „Wärme“ arbeitender Künstler allein mit „wenigen hingeworfenen Zügen“ (W 11, S. 142) das Bild seiner Phantasie zwar skizzenhaft, aber dennoch lebhaft darzustellen vermöge: Gerade angesichts der notwendigen Verleiblichung sei es mit den „wenigen hingeworfenen Zügen […] also Nichts.“ (W 11, S. 143) Ex negativo wird in der Briefwechsel-Rezension versucht, einer Poetik der psychologischen Detailmalerei, die als Korrektur der Schillerschen Dramenästhetik konzipiert ist, zu ihrem Recht zu verhelfen. Die Kritik an Schillers unzureichender Figurenmotivierung schließt nicht allein an die artikulierten zeitgenössischen Einwände gegen Schiller an (s. auch Kap.

132 | Hebbels Ästhetik und seine Schiller-Rezeption

3.2.1),110 sondern das hier zum Ausdruck gebrachte dramatische Interesse am psychologischen Miniaturrealismus gehört ebenfalls zu Hebbels poetologischen Kernüberzeugungen. Schon während seiner Münchner Zeit notiert er in seinem Tagebuch: Ich erachte sie [= die Dichtkunst, M. M.] für einen Geist, der in jede Form der Existenz u in jeden Zustand des Existirenden, hinuntersteigen, u von jener die Bedingnisse, von | diesem die Grundfäden erfassen u zur Anschauung bringen soll. […] Dies geschieht freilich nicht, wenn wir die Natur in eine ihr nicht gemäße, sog. höhere Region hinüber führen […]. Das geschieht nicht, wenn wir mit Schiller des Mschen Angesicht durch ein Vergrößerungsglas betrachten u d Hintern entweder gar nicht, oder durch ein Verkleinerungsglas. (TBR 524 / TBW 538)

Einerseits nimmt hier das Begriffspaar „Form“ und „Zustand“ der Existenz das oben analysierte, durchaus in Anlehnung an Schiller entfaltete Spannungsverhältnis von „Gestalt“ und „Leben“ vorweg. Andererseits wird gerade die Idealisierungsoperation, sei es durch Transzendierung des Natürlichen oder – in Schillerscher Manier – durch vorsätzliches Ignorieren des Unangenehmen, als verfehlt gekennzeichnet. Gefordert wird stattdessen eine nicht selektierende Wahrnehmung des Lebens in seiner Lebenstotalität, die „den Hintern“ des Menschen, das UnartikulierbarVerwirrende, als gleichberechtigtes Moment mitberücksichtigt. Das Ziel dieser Wirklichkeitsabbildung besteht jedoch nicht in der Befriedigung stofflicher Neugierde, sondern in der Erfassung der „Bedingnisse“ und „Grundfäden“ des menschlichen Daseins, um dadurch die überzeitliche Struktur seiner Existenz und seine welthistorische Bedingtheit zu verdeutlichen. Folgerichtig fasst Hebbel das Charakteristikum einer moderneren Dramatik als Erkundung der Menschennatur zusammen: Menschen-Natur und Menschen-Geschick: das sind die beiden Räthsel, die das Drama zu lösen sucht. […] [W]ir Neueren suchen die Menschen-Natur, auf in welcher Gestalt oder Verzerrung sie uns auch entgegen trete, auf gewisse ewige und unveränderliche Grundzüge zurück zu führen. (TBR 1020 / TBW 1034; s. auch W 10, S. 373)

Die Erfahrung der Vielfältigkeit des menschlichen Daseins wird zum Vehikel, um die zeitenthobene Grundlage desselben zu Tage zu fördern. Darin besteht auch die Steigerung des Lebens, die gemäß Hebbels Konzept der Zeitdialektik die mit dem Leben gesetzte, unausweichliche Konfliktstruktur am Beispiel vom Schicksal und Widerstreit des seelisch vielschichtigen Individuums mit der es bedingenden Welt zu veranschaulichen. Insofern steht das psychologische Interesse, das von der Auseinandersetzung mit Schiller initiiert wird, im Einklang mit Hebbels Ästhetik der

|| 110 Goethe sagt etwa am 18. Januar 1825 im Gespräch mit Eckermann: „Er [= Schiller, M. M.] sah seinen Gegenstand gleichsam nur von Außen an, eine stille Entwicklung aus dem Innern war nicht seine Sache. […] Und wie er überall kühn zu Werke ging, so war er auch nicht für vieles Motivieren.“ Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 143.

Das psychologische Interesse: Hebbel mit Schiller | 133

lebendigen Gestalt, welche jedoch wiederum Resultat produktiver Aneignung von Schillers theoretischen Überlegungen ist. Wieder einmal vereinigen sich in Hebbels Schiller-Rezeption Kritik, Annäherung und Übereinstimmung.

4.6 Das psychologische Interesse: Hebbel mit Schiller Der Synthesecharakter der Briefwechsel-Rezension manifestiert sich nicht zuletzt darin, dass die Kritik an Schillers mangelhafter psychologischer Figurenmotivation, die indirekt die Dramatik zum Ort literarischer Seelenkunde macht, keinen undurchdachten Einfall Hebbels darstellt, sondern sein andauerndes psychologisches Interesse als Dichter widerspiegelt. Beispielsweise begegnet Hebbel seinem dänischen Widersacher Heiberg mit ziemlich ironischem Zungenschlag: Die deutschen Dichter bemühten sich wohl zu sehr, „alle innere[n] Motive zu ergründen“, sodass dasjenige, was sie durch eine „schärfere psychologische Zeichnung“ gewänne, nicht für das Defizit an raschem Handlungswechsel entschädigte (W 11, S. 14f.). Dem polemischen Grundton der Replik entsprechend ist die Akzentuierung psychologischer Nuancen unverkennbar als Vorzug der deutschen Dramatik bewertet. Des Weiteren las Hebbel nachweislich auch das von Karl Philipp Moritz herausgegebene Magazin für Erfahrungsseelenkunde.111 Die Forschung hat darüber hinaus belegt, dass Hebbel bestens mit dem zeitgenössischen Wissensstand der Psychologie vertraut war.112 Selbst in seiner Arbeit am Mythos richtet sich der Blick auf die psychologische Beschaffenheit als den Dreh- und Ankerpunkt des Realismus. So bekennt Hebbel seinem Freund Sigmund Engländer gegenüber, dass der Realismus in seinen Dramen Gyges und sein Ring sowie Die Nibelungen „wie überall ausschließlich in das psychologische Moment, nicht in das kosmische“ gesetzt sei (TBR 5935 / TBW 6085).113 Die Literaturkritik der Zeit hebt ebenfalls das tiefe Seelengemälde der Hebbelschen Dramaturgie besonders hervor. So erkennt Friedrich Theodor Vischer, der einflussreichste Ästhetiker seiner Zeit, die psychologische Qualität der Hebbelschen Dichtung an: Gleich in seinen ersten Versuchen zeigte er [= Hebbel, M.M.] sich als einen Geist, der berufen ist, seinen Stoff zur Tiefe einer Seelengeschichte zu durchdringen, den Gang des Schicksals zu

|| 111 Vgl. TBR 949 / TBW 963. Hebbels Rezeption von Karl Philipp Moritz ist allerdings noch nicht eingehend untersucht worden. 112 Vgl. Wolfgang Ritter: Hebbels Psychologie und dramatische Charaktergestaltung. Marburg 1973. Eine Übersicht der psychologischen Themen, mit denen sich sowohl Hebbel als auch seine Zeitgenossen beschäftigt haben, bietet Ritter auf S. 164. 113 Entnommen ist dieser Tagebucheintrag B 2666, an Sigmund Engländer, datiert 23. Februar 1863. WAB 4, S. 593f. Vgl. auch Joachim Müller: Das Weltbild Friedrich Hebbels, S. 228.

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den innersten Quellen des verborgenen Knotens zu verfolgen, der sich aus geheimnißvoller Verwicklung der Motive in den Tiefen der Persönlichkeit schürzt.114

Hebbel erfüllt demnach den von Vischer aufgestellten Anspruch an die moderne Dramatik: Diese solle nämlich „eine Seelengeschichte, keine Zufallsgeschichte, […] ein psychologischer origineller Vorgang, eine Aufdeckung der inneren Wunder im Menschen“ sein.115 In erster Linie versteht Hebbel die Dichtung als Erfassung psychologischer Nuancen, durch die die Erschließung der Struktur des menschlichen Inneren, die sich trotz historischen Wandels identisch bleibt, erst möglich ist. Denn die Wiederverlebendigung des mythischen Stoffs setzt die Annahme von der überzeitlichen Konsistenz der psychologischen Beschaffenheit des Menschen voraus, die den Stoff davor bewahrt, obsolet zu werden. Die Zeitproblematik spielt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle, da laut Hebbel die Überwindung der Kluft zwischen der zeitenthobenen Gestalt und dem zeitlichen Leben allein durch die Dramatisierung der Seelendynamik bewerkstelligt werden kann, deren Beweglichkeit historisch gesehen unverändert geblieben ist,. Nur vor dieser Folie ist die Forderung des jungen Hebbel, die er 1837 formuliert hat, zu begreifen: [D]er Dichter, der die unendlich schwierigere Aufgabe hat, die Seele in ihren flüchtigsten u zartesten Phasen zu fixiren, den Geist in jeglicher seiner oft bizarren Masken auf das Unvergängliche zu reduciren u dies Unvergängliche (ich spreche vom Dramatiker, wie eben vorher vom Lyriker) plastisch als Character hinzustellen, darf in keinem Gebiet fremd seyn, was zu Seele u Geist in irgend einem Bezug steht […]. (TBR 734 / TBW 748)

Diese Tagebuchaufzeichnung nimmt dasjenige vorweg, worüber Hebbel dann in seinen theoretischen Abhandlungen und der Briefwechsel-Rezension reflektiert: nämlich die Notwendigkeit einer psychologischen Motivierung der dramatischen Charaktere. Allerdings fußt diese anspruchsvolle Dramenästhetik bei Schiller, obgleich sein Name hier nicht explizit genannt wird. Dass die Dramenästhetik Schillers als eine psychologische aufzufassen ist, ist zweifelsohne Konsens unter den zeitgenössischen Lesern. Bei seiner Ankunft in Berlin im Jahre 1804 wurde der Dichter unter anderem auch als „Deutschlands Psychologe“ begrüßt.116 Schon in der Vorrede zu seinem Erstlingswerk stellt Schiller fest, dass der Vorteil der „dramatischen Methode“ darin bestehe, „die Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen“ (FA 2, S. 15). Nicht allein die

|| 114 Friedrich Theodor Vischer: Zum neueren Drama. Hebbel. In: ders.: Altes und Neues. Neue Folge. Stuttgart 1889, S. 1–26, hier S. 4. 115 Friedrich Theodor Vischer: Zum neueren Drama, S. 3. 116 Vgl. Die Anzeige in der „Königlich privilegirten Berlinischen Zeitung von Staats- und gelehrten Sache“ am 15. Mai. 1804. Zitiert nach: Michael Bienert: Schiller in Berlin oder Das rege Leben einer großen Stadt. Marbach 2004, S. 5.

Das psychologische Interesse: Hebbel mit Schiller | 135

Entschiedenheit der These, sondern auch die Selbstverständlichkeit, mit der dieser – in einem Nebensatz – Ausdruck verliehen wird, sind augenfällig. Denselben Gedanken vom Drama als Semiotik der Seele bekräftigt mit ähnlicher syntaktischer Leichtigkeit jener um dieselbe Zeit entstandene Aufsatz mit dem Titel „Über das gegenwärtige teutsche Theater“. Hier wird das Drama metaphorisch als ein „offener Spiegel des menschlichen Lebens“ bezeichnet, „auf welchem sich die geheimsten Winkelzüge des Herzens illuminiert und fresko zurückwerfen“, wo „alle Evolutionen von Tugend und Laster“ dem Zuschauer vor Augen geführt werden (FA 8, S. 167; Hervorhebung im Original). Überhaupt wird die Erleuchtung der inneren Mechanik der Seele als Ziel dramatischer Gestaltung festgesetzt. So sagt Schiller in seiner Vorrede zu Die Räuber über die Profilierung von Franz: „Ich habe versucht, von einem Mißmenschen dieser Art ein treffendes lebendiges Konterfei hinzuwerfen, die vollständige Mechanik seines Lastersystems auseinander zu gliedern – und ihre Kraft an der Wahrheit zu prüfen.“ (FA 2, S. 16) Gerade der Fall Franz von Moor ist hinsichtlich der psychologisierenden Dramaturgie Schillers besonders interessant, da er, wie Wolfgang Riedel, dessen Verdienst um die Anthropologie Schillers nicht hoch genug zu schätzen ist, zu Recht erkennt, als „Exempel für den pathogenen Einfluß der Seele in den Körper“ dienen kann.117 Der psychosomatische Zusammenhang, der Gegenstand der (dritten) Dissertation Schillers ist und seiner anthropologischen Überzeugung zugrunde liegt,118 vermag nicht nur psychische Krankheiten mithilfe psychologischer Ausführungen zu erklären, sondern ermöglicht auch die Einsicht in den seelischen Zustand eines Individuums durch Veranschaulichung seiner Handlungen und Gesten. Darum soll gerade den Regieanweisungen Schillers, die die körperlichen Bewegungen der Bühnenfiguren lenken, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, denn gerade die Körpersprache kann vom Publikum als Indiz verdeckter seelischer Vorgänge gelesen werden.119 Freilich steht Schillers Idee einer psychologischen Dramenästhetik im Einklang mit dem zeitgenössischen Interesse an der Seelenkunde. Vor allem Johann Georg Sulzer spielt bei der Herausbildung einer differenzierten Seelenlehre in der Spätauf-

|| 117 Vgl. Wolfgang Riedel: Die Aufklärung und das Unbewusste. Die Inversionen des Franz Moor. In: JbDSG 37 (1993), S. 198–220, hier S. 211. 118 Friedrich Schiller: Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner Geistigen. FA 8, S. 119–163. Vgl. auch Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Würzburg 1985. 119 Gilles Darras betont den Stellenwert der Körpersprache in Schillers Dramatik und stellt fest, „daß die Körpersprache, durch die die kleinsten psychischen Schwingungen der Seele registriert werden können, dem Dramatiker ein effizientes Meßgerät ist, womit die Widersprüche der Seele erfaßt bzw. ‚ertappt‘ werden können.“ Gilles Darras: Mit Leib und Seele. Körpersprache, Psychologie und Philosophie in Schillers frühen Dramen. In: Euphorion 99 (2005), S. 69–101, hier S. 83.

136 | Hebbels Ästhetik und seine Schiller-Rezeption

klärung eine Schlüsselrolle.120 Entscheidend ist, wie Riedel hervorhebt, dass Sulzer den Wolffschen Monismus der Vorstellungkraft mit einem „Dualismus von Vorstellen und Empfinden“ ablöst. Auf diese Weise wird die „dunkle[] Gegend der Seele“ gleichsam als ein selbstständiger Bereich, der sich der regulierenden Herrschaft des Bewusstseins entzieht, sowohl für die wissenschaftliche Betrachtung als auch für die Ästhetik entdeckt.121 Dass die moderne Philosophie aus den „dunklen“ Kräften, deren autonomes Spiel jenseits aller Subjektivität stattfindet, auch eine ästhetische Theorie ableitet, sei hier ebenfalls angemerkt.122 Mit der Sulzerschen Unterscheidung aber wird zugleich eine neue antithetische Topologie der Seele entworfen, die, die Psychoanalyse vorwegnehmend, nun aus „vernunfterhellter Oberfläche“ und „dunkler Tiefe“ besteht.123 Schillers Kenntnis der Schriften Sulzers hat die Forschung bereits plausibilisiert.124 Für ihn besteht die Aufgabe einer Seelendramatik darin, gerade die dunkle Seite des Inneren zu beleuchten und zu erkunden. Hierbei rückt, wenig überraschend, immer der pathologische Zustand der seelischen Verwirrung ins Zentrum der Betrachtung. Die Räuber stellen Schiller zufolge ein „Gemälde einer verirrten großen Seele“ dar (FA 2, S. 178), in dem „eine so ziemlich vollständige Ökonomie der ungeheuersten Menschenverirrung“ (FA 2, S. 298) samt ihren Quellen dargelegt wird. Mitnichten stimmt deshalb Hebbels Kritik, Schiller fliehe „aus der Welt der Verworrenheit“ (W 11, S. 140) in die vorkonstruierte Idealität. Im Gegenteil: Gerade die Verwirrung des Menschen wird zum bevorzugten Gegenstand der literarischen Anthropologie. Denn „[i]n der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist, als die Annalen seiner Verirrungen.“ (FA 7, S. 562) Karl Philipp Moritz teilt hierhin die Meinung Schillers.125 Im „Vorschlag“ zu seinem Magazin lenkt Moritz ebenfalls das Augenmerk auf die Lebensläufe der „Ver-

|| 120 Vgl. hierzu Wolfgang Riedel: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer. In: ders.: Um Schiller. Studien zur Literatur- und Ideengeschichte der Sattelzeit, hg. von Markus Hien, Michael Storch und Franziska Stürmer. Würzburg 2017, S. 3–35. 121 Wolfgang Riedel: Die Aufklärung und das Unbewusste, S. 217. 122 Vgl. Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt a. M. 2008. Menke schreibt auf S. 79: „Durch die ästhetische Selbstreflexion zerfällt daher die Einheit des Vermögens, die Instanz des Subjekts. Zurück bleibt: die ästhetische Natur des Menschen, das Spielen dunkler Kräfte.“ Gerade in der Auflösung der Subjektivität, im Vergessen der Bestimmtheit also, sieht Menke den Ursprung der ästhetischen Erfahrung. Allerdings hat er Sulzer nicht thematisiert. 123 Wolfgang Riedel: Die Aufklärung und das Unbewusste, S. 218. 124 Vgl. Wolfgang Riedel: Die anthropologische Wende: Schillers Modernität. In: Walter Hinderer (Hg.): Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne, S. 143–164. 125 Über die „frappierend“ weitreichende Übereinstimmung von Schiller und Moritz hinsichtlich des gemeinsamen psychologischen Interesses der literarischen Anthropologie vgl. auch Alexander Košenina: Schiller und die Tradition der (kriminal)psychologischen Fallgeschichte bei Goethe,

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brecher“, die als „wichtiger Gegenstand für den moralischen Arzt und für den nachdenkenden Philosophen“ gelten.126 Moritz plädiert nicht zuletzt deshalb für eine „Seelenkrankheitslehre“, um pathologische Erkrankungen nicht generalisierend als Sünde zu verurteilen, sondern objektiv „über den jedesmaligen Zustand des Kranken“ nachzuforschen.127 Seine Untersuchung hat sich daher zum Ziel gesetzt, „das innere Triebwerk“ offenzulegen und zu veranschaulichen, „wie die ersten Keime von den Handlungen des Menschen sich im Innersten seiner Seele entwickeln.“128 Die Erfahrungsseelenkunde wird als Illustration psychologischer Entwicklungsgeschichte konzipiert. Die Veranschaulichung der Psychogenese eines außer-gewöhnlichen Einzelnen durch einen „forcierten Blick ins Innere des Menschen“129 und durch die Darlegung von authentischen Gedankengängen kann als ein Organisationsprinzip literarischer Gestaltung angesehen werden, bei dem sich kognitive Intention und künstlerischer Anspruch treffen. Dementsprechend fordert Schiller in der poetologischen Einleitung zu seinem „Verbrecher aus Infamie“, dass man mit dem Protagonisten bekannt sein müsse, „eh’ er handelt“: „[W]ir müssen ihn seine Handlung nicht bloß vollbringen, sondern auch wollen sehen. An seinen Gedanken liegt uns unendlich mehr, als an seinen Taten […].“ (FA 7, S. 564; Hervorhebung im Original) Auf die Dramatik übertragen, lässt sich mit Hebbel formulieren: „Das Drama schildert d. Gedanken, der That werden will durch Handeln oder Dulden.“ (TBR 115 / TBW 112) Dass diese Poetologie der psychologischen Charakteristik auch für Schillers Historiographie gilt, hat vor allem Ernst Osterkamp überzeugend dargelegt.130 Die von Schiller in seiner ersten Geschichtsdarstellung über die Anfangsphase der niederländischen Revolution postulierte Einheit der Persönlichkeit wirkt als Kontingenzüberwältigung und übernimmt eine die Erzähl- und damit Weltordnung stiftende Funktion in einem säkularisierten Zeitalter, in dem die eschatologische Teleologie bereits außer Kraft gesetzt worden ist.131 Der seelischen Beschaffenheit des handelnden Individuums wird aber zugleich eine hermeneutische Kompetenz beim Deuten ihres Verhaltens zugeschrieben, sodass die historische Seelenkunde zum Schlüssel || Meißner, Moritz und Spieß. In: Alice Stašková (Hg.): Friedrich Schiller und Europa. Ästhetik, Politik, Geschichte. Heidelberg 2007, S. 119–139, hier insbesondere S.124f. 126 Karl Philipp Moritz: Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde. In: ders.: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde, hg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Frankfurt a. M. 2006, S. 793–809, hier S. 793. 127 Karl Philipp Moritz: Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde, S. 794. 128 Karl Philipp Moritz: Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde, S. 800. 129 Vgl. Alexander Košenina: Schiller und die Tradition der (kriminal)psychologischen Fallgeschichte bei Goethe, Meißner, Moritz und Spieß, S. 122. 130 Ernst Osterkamp: Die Seele des historischen Subjekts. Historische Portraitkunst in Schillers Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung. In: Otto Dann u. a. (Hg.): Schiller als Historiker. Stuttgart/Weimar 1995, S. 157–178. 131 Ernst Osterkamp: Die Seele des historischen Subjekts, S. 170.

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des Geschichtsverständnisses avanciert. Ganz in diesem Sinne schreibt der Historiker Schiller in Bezug auf Philipp II.: „Ehe wir ihn handeln sehen, müssen wir einen flüchtigen Blick in seine Seele tun, und hier einen Schlüssel zu seinem politischen Leben aufsuchen.“ (FA 6, S. 94) Nicht unvorbereitet kommt diese historische Porträtkunst in der Darstellung der niederländischen Revolution zum Einsatz. So wird der Bühnenhandlung des „republikanischen Trauerspiel[s]“ von Schiller in der ersten Buchausgabe 1783 ein Personenverzeichnis vorangestellt (s. FA 2, S. 319f), das das Alter und den psychologischen Charakter jeder auftretenden Figur bündig angibt. Durch dieses Vorgehen entsteht jedoch der Eindruck, als ob die Dramenhandlung nichts anderes vermochte, als lediglich die vorab gesetzte – eben „gehaltene“ – Charakterologie zu bestätigen, die sich nicht erst durch den Verlauf der Handlung konstituiert. Allein ist die Psychologie des Menschen bei Schiller keineswegs statisch, sondern entspricht der Dialektik der Zeit. Die Ursache der psychischen Verwirrung soll, so fordert die poetologische Einleitung zu „Verbrecher aus Infamie“, sowohl in der „unveränderlichen Struktur der menschlichen Seele“ als auch in den „veränderlichen Bedingungen, welche sie von außen bestimmten“ gesucht werden (FA 7, S. 564; Hervorhebung im Original). Dass Einstimmigkeit der seelischen Grundstruktur des Menschen und die darauf basierende Homogenität des Autors, der dargestellten Figuren und der Leser die künstlerische Wirkung der Dichtung erst ermöglichen, stellt Schiller in seiner Matthisson-Kritik fest: „Der Dichter kann also nur in sofern unsere Empfindungen bestimmen, als er sie der Gattung in uns, nicht unserm spezifisch verschiedenen Selbst, abfodert.“ (FA 8, S. 1020) Der Rückbezug auf „subjektive Allgemeinheit“ (FA 8, S. 1020), die die Methodik der psychologischen Beleuchtung der Universalgeschichte durch Analogieschluss plausibel macht,132 wird deshalb zugleich die Voraussetzung und die Wirkung der Kunst.133 Diese zeitenthobene Grundstruktur der Seele ist, wie Schiller hier selbst formuliert, dennoch der Historizität der Umstände unterworfen, die sie „von außen bestimmen“ und modifizieren. Hellsichtig konstatiert Osterkamp: Die Ganzheit und Geschlossenheit der Charaktere, die Schiller zu Beginn seiner historischen Erzählung auf erfahrungsseelenkundlicher Grundlage als Träger festgelegter Rolle im politischen Kräftespiel konzipiert, zerbricht im weiteren Verlauf an der Komplexität der historischen Ereignisse.134

|| 132 Begründet wird die Methode der Analogie mit der „Gleichförmigkeit und unveränderlichen Einheit der Naturgesetze und des menschlichen Gemüts.“ FA 6, S. 427. 133 Vgl. den emphatischen Schluss der Schaubühnen-Rede über die Wirkung der dramatischen Poesie: „Jeder Einzelne genießt die Entzückung aller, die verstärkt und verschönert aus hundert Augen auf ihn zurück fallen, und seine Brust gibt jetzt nur Einer Empfindung Raum – es ist diese: ein Mensch zu sein.“ FA 8, S. 200; Hervorhebung im Original. 134 Vgl. Ernst Osterkamp: Die Seele des historischen Subjekts, S. 174.

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Nur Egmont, zu jeder höfischen Verstellungskunst unfähig, konnte seinen Charakter ausleben; er fällt jedoch gerade deswegen der Intrige des Herzog Alba zum Opfer. In seinen Dramen interessiert sich Schiller also gerade für die Veränderung des Charakters infolge äußerer Umstände. Wenn festgestellt wird, dass Karl von Moor aufgrund seiner geistigen Anlage „notwendig entweder ein Brutus oder ein Katilina“ werden soll, so impliziert dies eine psychogenetische Fragestellung: Warum ist er zunächst dieser und wird erst „am Ende einer ungeheuren Verirrung“ (FA 2, S. 16) zu jenem? Wenn Schiller die Ursache in den „[u]nglückliche[n] Konjunkturen“ sieht, so bedeutet dies nichts anderes, als dass Karl eine charakterologische Entwicklung durchgemacht hat, die einerseits von der Eigenheit seiner seelischen Natur getragen, andererseits von äußeren Umständen beeinflusst wird. Die Selbstdeutung in der Vorrede weist insofern entschieden auf einen dynamischen Seelenwandel hin, der durchaus der Wechselwirkung von überzeitlicher Persönlichkeit und der in der Zeit verwurzelten wirklichen Welt unterliegt. Dass der Dramatiker Schiller hier besonderen Wert auf die Prozessualität der Entwicklung und somit auf die Geschichtlichkeit eines jeden Zustands legt, zeigt seine Selbstkritik. Der perverse Gesinnung Franz’ mangele es deshalb an Plausibilität, weil sie keine Vorgeschichte aufzuweisen vermöge: „Mit einem Wort, wird er nicht erst alle Auswege versuche, alle Verirrungen erschöpfen müssen um dieses abscheuliche non plus ultra mühsam zu erklettern? Die moralischen Veränderungen kennen eben so wenig einen Sprung als die psychischen […].“ (FA 2, S. 300) Diese psychologische Akzentuierung der werdenden Gestalten in der Dramatik Schillers hat auch die Forschung herausgearbeitet. Lothar Pikulik konstatiert, dass die Figuren Schillers „in ihrem dramatischen Werdegang keine feste, voraussehbare Linie einhalten, sondern unvorhergesehene Reaktionen und Wendungen zeigen […].“135 Sich auf die zeitgenössische Aufmerksamkeitslehre – etwa diejenige Sulzers – beziehend führt Lutz-Henning Pietsch den Begriff der „Umschläglichkeit“ in die Diskussion über Schillers Dramenkonstruktion ein. Er vertritt die überzeugende These, dass es Schiller gelungen sei, anhand der „Umschläglichkeit“ der Aufmerksamkeitslenkung seiner Helden „ihr prekäres Schwanken zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, zwischen energisch behaupteter und durch die affizierende Gewalt äußerer Eindrücke in Frage gestellter Entscheidungsfreiheit vorzuführen.“136 Dies steht im Einklang mit der Idee des großen Schiller-Kenners Max Kommerell, der in seinem wegweisenden Essay „Schiller als Psychologe“ den Dichter als „Dramatiker ohne Charaktere“ bezeichnet: || 135 Lothar Pikulik: Der Dramatiker als Psychologe. Figur und Zuschauer in Schillers Dramen und Dramentheorie. Paderborn 2004, S. 96. 136 Vgl. hierzu Lutz-Henning Pietsch: „Vielleicht, dass der Anblik seinen Genius wieder aufwekt.“ Die „umschlägliche“ Figurenpsychologie in Schillers früheren Dramen und die anthropologische Theorie der Aufmerksamkeit. In: Georg Braungart und Bernhard Greiner (Hg.): Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches Schaffen. Hamburg 2005, S. 87–105, hier S. 95.

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Es gibt also strenggenommen für Schiller keinen Charakter, er ist der Dramatiker ohne Charaktere. Genauer: im Verlauf seiner Dramen erschafft sich jeweils ein Charakter, verhängt er, bis dahin noch unentschieden, in einem freien Moment über sich, was er sein will, und darnach sein muß.137

Für Kommerell ist Schiller der „Psychologe des ästhetischen Zustands“,138 denn mit scharfem Blick diagnostizierte er die anthropologische Krise der Moderne, nämlich „das feindliche Auseinandertreten des Vielen in der Seele“.139 Der um seines festen Wesens geschehene Mensch wird deshalb „beweglich“, erst durch seinen jeweiligen Entschluss bestimmbar. Jedoch stelle Schiller zugleich „diese Ablenkbarkeit dieses Entschlusses durch Umstände“ und „die Verführbarkeit des geschichtlichen Menschen durch Macht“ dar.140 Kommerells These von der Beweglichkeit des Charakters, dessen Identität der jedesmaligen spontanen Entscheidung unterliegt, die wiederum von den „Umständen“ abhängt, stimmt unverkennbar mit jener Formulierung Hebbels überein: Das dramatische Genie solle „die unendlichen Schöpfungen des Augenblicks, die ewigen Modificationen des Menschen durch jeden Schritt, den er thut“ (TBR 117 / TBW 114), zeichnen. Dies hatte Hebbel wie gezeigt erst in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Schiller herausgearbeitet. Der Dramatiker Schiller setzt schon in seinem Erstlingswerk nicht allein auf eine psychologische Motivierung der Bühnenfiguren, deren Werdegang zum Gegenstand der Darstellung wird, sondern er sieht schon in der dramatischen Seelenkunde den Anspruch des Realismus erfüllt. Just aufgrund der Fülle von „ineinandergedrungene[n] Realitäten“ in der psychologischen Detailanalyse jener drei „außerordentliche[n] Menschen“ lasse sich die dramatische Handlung nicht in die Einheitslehre eines Aristoteles oder Batteaux „einkeilen“ (FA 2, S. 15). Auch die Gestaltung des Bösen gilt als unabdingbare Forderung an den „Menschenmaler“, „wenn er anders eine Kopie der wirklichen Welt, und keine idealischen Affektationen, keine Kompendienmenschen“ geliefert haben wolle (FA 2, S. 15). Bewusst distanziert sich

|| 137 Max Kommerell: Schiller als Psychologe. In: ders.: Geist und Buchstabe der Dichtung. 6. Aufl. Frankfurt a. M. 2009, S. 175–242, hier S. 184. 138 Max Kommerell: Schiller als Psychologe, S. 202. 139 Max Kommerell: Schiller als Psychologe, S. 195. 140 Max Kommerell: Schiller als Psychologe, S. 185. Walter Müller-Seidel weist vollkommen richtig auf den Entstehungskontext dieses Essays hin, denn diesen hat Kommerell im Jahre 1934 – ein Jahr nach der Machtergreifung – anlässlich der ideologisch schwer beladenen Schiller-Feier verfasst. Dadurch wird Kommerells Fragestellung um eine weitere politische Dimension ergänzt, die seine Opposition gegen die verzerrte Euphorie über die „Kampfgenossenschaft“ Schillers mit Hitler verdeuzlicht. Walter Müller-Seidel: Schiller im Verständnis Max Kommerells. Nachtrag zum Thema „Klassiker in finsteren Zeiten.“ In: Peter-André Alt u.a. (Hg.): Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings. Würzburg 2002. S. 275–308. Vgl. ferner Bernhard Zeller: Klassiker in finsteren Zeiten 1933–1945. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. Marbach 1983, Bd. 1, S. 142ff.

Das psychologische Interesse: Hebbel mit Schiller | 141

Schiller also von einer Typisierung der dramatischen Figuren und – ob zu Recht oder nicht – von der idealisierenden Affektdramaturgie. Darüber hinaus rügt er in der kritischen Selbstrezension die „Verblümung“ des eigenen Sprachstils und schlägt stattdessen einen natürlichen Ausdruck der authentischen Gefühle vor: „Wo der Dichter am wahrsten fühlte, und am durchdringendsten bewegte, sprach er wie unser einer.“ (FA 2, S. 310) Schiller ist der Auffassung, dass neben der stofflichen und stilistischen Treue der Wirklichkeitswiedergabe auch seine psychologische Deduktion mit dem Gesetz der seelischen Natur des Menschen übereinstimme. Insofern war er der Überzeugung, dass er nicht allein durch Veranschaulichung des inneren Funktionszusammenhangs des Lasters „die Natur getroffen“ (FA 2, S. 16), sondern auch bei der Profilierung der – trotz aller moralischen Verwerflichkeit dennoch bewunderungswürdigen – Charaktere „die Natur gleichsam wörtlich abgeschrieben“ habe (FA 2, S. 17). Hebbels Kritik an der Idealisierungsstrategie Schillers, an seinem unzulänglichen psychologischen Motivierungsvermögen und nicht zuletzt am mangelnden Realitätssinn entspricht also weder der dichterischen Intention noch den Texten Schillers, da dieser seine Dramatik durchaus als Form literarischer Seelenkunde versteht und gestaltet. Anhand von Schiller Erstlingswerk, das Hebbels ersten dramatischen Versuch inspirierte, lässt sich verdeutlichen, dass beide Dramatiker in Wahrheit dasselbe psychologische Interesse teilen. Beide begreifen den seelischen Zustand nicht als eine statisch festgelegte Eigenschaft des darzustellenden Individuums, sondern als ein flüssiges Moment, das nicht zuletzt von den äußeren Einflüssen und der Zeit an sich bestimmt wird. Deshalb wird die Veranschaulichung psychologischer Entwicklung des Individuums im Spannungsfeld des zeithistorischen Kontexts – oder, um es mit Hebbel zu sagen, die Enträtslung von „MenschenNatur und Menschen-Geschick“ (TBR 1020 / TBW 1034) – für beide zur Aufgabe der dramatischen Kunst. Es handelt sich also bei der Schiller-Kritik Hebbels im Bereich der Ästhetik, die dem Vorbild eine Idealisierung vorhält, um eine Fehllektüre. Allerdings ist es weder sinnvoll noch angemessen, angesichts der Symptome der „Einflussangst“ hier eine psychoanalytische Untersuchung anzustellen. Vielmehr ist festzuhalten, dass diese verfehlte Kritik für den Rezipienten auch fruchtbar wurde. In der BriefwechselRezension etwa artikuliert Hebbel sein Unverständnis gegenüber Schillers Die Jungfrau von Orleans: Mir ist es immer unerklärlich gewesen, wie er sich diesem Gegenstand gewachsen glauben konnte. Daß der Vorwurf zu einem Drama vorlag, wird Niemand bestreiten wollen; daß dies Drama aber durchaus ein psychologisches werden mußte, und daß es eben darum über Schillers Kreis hinausging, läßt sich eben so wenig verkennen. (W 11, S. 191f.)

Abermals wiederholt sich hier die Kritik an der unzureichenden psychologischen Gestaltungskunst Schillers. Zugleich aber wird der vorgebrachte Einwand zur konzeptionellen Grundlage von Hebbels eigenem Drama Judith, das er, wie noch zu

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zeigen sein wird, offenkundig als Gegenstück, ja als Korrektur zu Schillers „romantischer Tragödie“ konzipiert. Allein: Da die Kritik in Wahrheit Resultat einer Fehllektüre ist, so wird die Korrektur zur Übereinstimmung. Geht man von derselben Grundidee einer psychologischen Dramatik aus, so gelangt man, auch wenn der Weg ein anderer sein mag, doch zur selben letzten Wirkung.

5 Weiblichkeit und Psychologie der Amazonen: Hebbels Judith und Schillers Die Jungfrau von Orleans 5.1 Hebbels Kritik an Schillers „romantischer Tragödie“ Dasjenige Stück Schillers, das am schärfsten von Hebbel kritisiert wird, ist zweifelsohne Die Jungfrau von Orleans. Ungeachtet gelegentlicher Entschärfung der entschiedenen Ablehnung1 bleibt diese dennoch konstant. Noch 1847 notiert Hebbel im Tagebuch, die „Schillersche sog. romantische Tragödie“ sei „ein ungeheurer Irrthum des großen Mannes.“ (TBR 4138 / TBW 4221) Ein Irrtum fordert aber gültige Berichtigung heraus. Schon im Januar 1837 äußert Hebbel gegenüber Elise Lensing seinen Ehrgeiz, eine eigene Dramatisierung der Jeanne-d’Arc-Figur vorzunehmen: „Du wirst dich wundern, wenn ich Dir sage, daß ich, zwar noch nicht ausführend, aber doch im Kopf entwerfend, an einer dramatischen Composition u zwar – an einer neuen Jungfrau von Orleans arbeite.“2 Diesen kühnen Vorsatz, der eindeutig als Korrektur der Schillerschen Vorlage konzipiert ist, begründet Hebbel mit der Kritik an dessen pathetischer Rhetorik und unzulänglicher Gestaltungskunst: Die Schillersche [Jungfrau, M. M.] gehört in’s Wachsfiguren-Kabinett; der bedeutendste Stoff der Geschichte ist auf eine unerträgliche Weise verpfuscht. In der Geschichte lebt, leidet u stirbt sie schön; in Schillers Trauerspiel – spricht sie schön. Oder kannst Du dies ewige Declamiren und Spreizen aushalten? Ich hab’ eine große Idee; der Himmel verleihe mir Ausdauer! Freilich ist vor einigen Jahren an die Vollendung nicht zu denken. (WAB 1, S. 142.)

Die Kernaussagen dieser Ablehnung beinhalten Elemente der zeitgenössischen Schiller-Kritik, die Hebbel in seiner eigenen Auseinandersetzung mit der Schillerschen Dramatik führte (vgl. Kap. 3.2 u. Kap. 4.3). Die abwertende Etikettierung der „Wachsfigur“ deutet auf den – vermeintlichen – Mangel an Vitalität und Natürlichkeit der Schillerschen Johanna hin, die sich aufgrund dessen von der historisch überlieferten, in ihrer gesamten Lebensauthentizität erst begreiflichen Persönlichkeit der Jungfrau von Orléans unterscheidet. In ebendiesem Sinne kritisierte auch Georg Büchner die idealisierte Dramenfigur, der es an Realität fehle und deren Pathetik übertrieben sei, sehr scharf:

|| 1 Vgl. TBR 669 / TBW 681: „Schillers Jungfrau von Orleans ist ein großes Dichterwerk.“ Vgl. ferner B 97, an Elise Lensing, datiert 18. Juni 1837. WAB 1, S. 184: „Es fällt mir ein, daß ich in irgend einem meiner Briefe an Dich über seine Jungfrau von Orleans ein albernes u kindisches Urtheil gefällt habe.“ 2 B 86, an Elise Lensing, datiert 17. Januar 1837. WAB 1, S. 142. https://doi.org/10.1515/9783110660920-005

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Was noch die sogenannten Idealdichter anbetrifft, so finde ich, daß sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben, deren Leid und Freude mich mitempfinden macht, und deren Tun und Handeln mir Abscheu oder Bewunderung einflößt. Mit einem Wort, ich halte viel auf Goethe und Shakespeare, aber sehr wenig auf Schiller.3

Die Einwände Hebbels und Büchners richten sich also gegen die Künstlichkeit der Charaktere sowohl hinsichtlich der Gestaltung als auch im Sprachstil, der von rhetorischem Schwulst gekennzeichnet sei. Eine gründliche Korrektur nach dem ästhetischen Prinzip der „lebendigen Gestalt“ würde notwendigerweise die Entfernung unnötigen Redeschmucks verlangen, was dazu führt, dass Hebbel anstatt des Blankverses die sprachliche Form der „körnige[n] Prosa ohne lange bauschige Adjectiva, die den Jambus so oft ausfüllen helfen müssen“, favorisiert (TBR 1617 / TBW 1677). Denn nicht nur die mechanische Füllung der Versfüße würde den zahlreichen Adjektiven, die höchst dekorativ seien, aber nicht konstruktiv zur lebensnahen Charakterisierung beitrügen, Tür und Tor öffnen; sondern der wuchernde Jambus stelle auch eine „Gelegenheit zum Sündenfall des Gedankens“ dar (TBR 1798 / TBW 1857). Deshalb resümiert Wolfgang Wittkowski, dass Hebbels Judith auch in sprachlicher Hinsicht einen „Protest“ gegen Schillers Die Jungfrau von Orleans sei.4 Worin allerdings die im Brief an Elise feierlich beschworene „große Idee“ bestehen soll, bleibt zunächst unklar. Hauptsache: Eine direkte Anlehnung an Schiller ist unbedingt zu vermeiden. So berichtet Hebbel im Juni 1837 aus Heidelberg, dass er keineswegs den Gedanken aufgegeben habe, „selbst eine Jungfrau von Orleans zu schreiben; meine Idee hat mit der Schillerschen durchaus keine Verwandtschaft, wodurch sie nicht gewinnt, aber auch nicht verliert.“5 Selbst in der Aneignung soll in erster Linie die ästhetische Eigenständigkeit demonstriert werden. Trotz Hebbels Zuversicht dichterischer Unabhängigkeit und seiner flüchtigen Überlegung zum Gattungswechsel6 bleibt Schillers „romantische Tragödie“ weiterhin der stoffgeschichtliche Bezugspunkt, auch wenn die Wirkmächtigkeit seiner Dichtung gemäß dem Theorem der Dialektik der Kulturtradition ihre Schatten auf || 3 Vgl. Georg Büchners Brief an die Familie, datiert 28. Juli 1835. Georg Büchner: Schriften. Briefe. Dokumente, hg. von Henri Poschmann, Frankfurt a. M. 2006, S. 411. 4 Vgl. Wolfgang Wittkowski: Der junge Hebbel, S. 215. 5 B 97, an Elise Lensing, datiert 18. Juni 1837. WAB 1, S. 184. 6 Offenbar meinte Hebbel ernst mit dem Anfang Juni 1838 entstandenen Gedanken, „die Jungfrau von Orleans […] als Novelle (a la Kleist) zu behandeln [.]“ (TBR 1155 / TBW 1169) Denn im Oktober desselben Jahres bat Hebbel den Vater des unlängst gestorbenen Freundes Emil Rousseau, einige Bücher Rousseaus, die bei ihm deponiert waren und „mir bei meinen nächsten Studien und Arbeiten zu Statten kommen können“, zunächst für sich behalten zu dürfen. Neben historiographischen Gesamtdarstellungen des Mittelalters waren es vor allem die gesammelten Werke Kleists und Schillers, „über welche beide Schriftsteller ich zu schreiben gedenke.“ Offensichtlich bereitete er sich auf eine eingehende Studie der beiden Autoren vor. B 136, an Karl Julius Rousseau, datiert 25. Oktober 1838. WAB 1, S. 257, S. 259.

Hebbels Kritik an Schillers „romantischer Tragödie“ | 145

die nachfolgende Neubearbeitung wirft: „Wenn meine Jungfrau von Orleans zu Stande kommt, so werd’ ich sie lieber auf den Scheiterhaufen, als auf die Bühne bringen.“7 Denn es ließe sich kaum denken, daß in den ersten 20 Jahren auf den Brettern neben einem Schillerschen Stück ein anderes, das denselben Stoff behandelte, fort käme. Zudem ist Schillers Jungfrau eine echte TheaterJungfrau; neben diesem Pfau würde ein einfach-edles Mädchen, das, nachdem Gott durch seinen schwachen Arm ein Wunder in’s Leben gerufen, vor sich selbst, wie vor einem dunklen Geheimniß, zurück schaudert, schlecht figuriren. (WAB 1, S. 156)

Mit Recht könnte diese Briefstelle unter Berücksichtigung des Paradigmas der Einflussangst (vgl. Kap. 1.2) als Ausdruck eines eingeschüchterten Dichternachkommens gelesen werden. Die Aufmerksamkeit der philologischen Untersuchung richtet sich indessen eher auf den hier aufgezeigten konzeptionellen Gegensatz zwischen dem „Pfau“ und einem „einfach-edlen“ Mädchen, der den Grundsatz der Hebbelschen Dramenästhetik andeutet. Mit der Pfau-Metapher verweist Hebbel abermals auf die Problematik des unnatürlichen Glanzes der Schillerschen Johanna, deren Mangel an Einfalt durch die Neubearbeitung berichtigt werden muss. Das Wunderwerk soll also nicht mehr der prunkvollen Heroisierung eines Einzelnen dienen. Vielmehr löst das am eigenen Leibe erfahrene Wunderbare, da es einen widernatürlichen Ausnahmezustand darstellt, im Nachhinein zwangsläufig eine seelische Krise aus. Das Unverständnis für das von Gott geleitete Tun und mit ihm die Angst vor der eigenen Unbegreiflichkeit bezeugt aber gerade die Schlichtheit und den Edelmut des Mädchens, weil es nie subjektiv gewollt hat, über die natürliche Grenze seines beschränkten Daseins hinauszugehen. Insofern liegt der Akzent der konzipierten Neugestaltung weniger auf der detaillierten Illustration des Wunders als vielmehr auf dem Charakter der Jungfrau; weniger auf ihrem glorreichen Triumphzug als vielmehr auf ihrer Naivität, die sich sowohl in der unfreiwilligen Initiation als auch in dem „Zurückschaudern“ nach der vollzogenen Tat zeigt. Deshalb resümiert Hebbel: „Zur Jungfrau von Orleans ist für die poetische Gestaltung die Naivetät der Schlüssel.“ (TBR 2026 / TBW 2087) Und ebendiese die Naivität wird zum Leitprinzip seiner Bearbeitung des Jeanne-d’Arc-Stoffs, nämlich in seiner historiographischen Schrift Geschichte der Jungfrau von Orleans, die er 1840 unter einem Pseudonym in Hamburg publiziert hat (W 9, S. 225–357).

|| 7 B 87, an Elise Lensing, datiert 23. Januar – Mitte Februar 1837. WAB 1, S. 156.

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5.2 Hebbels Jeanne d’Arc-Historiographie 5.2.1 Quellen von Hebbels Geschichte der Jungfrau von Orleans Dieses Geschichtswerk, das neben der Geschichte des dreizigjährigen Kriegs um des Brotes willen geschrieben wurde,8 bietet viele Einblicke in Hebbels Überlegungen zu den Figuren- und Konfliktkonstellationen des Stoffs, die auch auf seine JudithDichtung konstruktiv einwirken. Wie die Geschichte des dreizigjährigen Kriegs weist die Geschichte der Jungfrau von Orleans eine Quellenabhängigkeit in einem Maße auf, das ans Plagiat grenzt.9 Genannt wird allein das „ausführliche Werk“ (W 9, S. 255) von Le Brun de Charmettes,10 das Hebbel wohl in der Übersetzung von Fouqué gekannt haben dürfte. 11 Für die Entstehung der Historiographie ist allerdings auch Guido Görres’ Darstellung12 von Bedeutung, da etliche Formulierungen Hebbels bis ins Wörtliche hinein mit der Görresschen Vorlage übereinstimmen (W 15, S. 111–115). Weil Hebbel das Werk von Görres erst am 24. Juli 1840 erhielt,13 ist anzunehmen, dass die Arbeit an der Geschichtsschreibung erst nach der Fertigstellung von Judith ihren Anfang nahm.14 Die Treue gegenüber Vorarbeiten, die mit der Betonung der historischen Authentizität den aufkommenden Geschichtspositivismus erahnen lassen, hat zur Folge, dass sich Hebbels Porträtschrift in einigen Sachverhalten von Schillers Tragödie unterscheidet, da diese ohnehin eher in der aristotelischen Traditionslinie der poetischen Wahrscheinlichkeit in historischen Darstellung stehen, die wiederum der dichterischen Fiktion Freiräume gewährt. Es existiert in der Hebbelschen Historiographie beispielsweise kein Liebesverhältnis zwischen Johanna und Lionel. Überhaupt Lionels Charakter ins Negative verkehrt, denn er hat Johanna nach deren Gefangennahme sogar zu verkaufen versucht (W 9, S. 321). Die poetische Versöhnung mit dem Herzog von Burgund, die bei Schiller über Johannas Ausstrahlung der „himmlischen Gewalt“ erfolgt (II/10; FA 5, S. 211), fehlt ebenfalls im Hebbelschen

|| 8 Vgl. W 9, S. XXVI. Vgl. darüber hinaus Emil Kuh: Biographie Friedrich Hebbel’s, Bd. 1, S. 420f. 9 Vgl. Alexander von Weilen: Friedrich Hebbel’s historische Schriften. In: Jakob Julius David (Hg.): Forschungen zur neueren Literatturgeschichte. Festgabe von Richard Heinzel. Weimar 1898, S. 435– 464. 10 Philippe-Alexandre Le Brun de Charmettes: Historie de Jeanne d’Arc, surnommeé Le Pucelle d’Orleans. Paris 1817. Vgl. hierzu W 15, S. 110. 11 Friedrich Baron de la Motte Fouqué: Geschichte der Jungfrau von Orleans, nach authentischen Urkunden und nach dem französischen Werke des Herrn Le Brun de Charmettes von Friedrich Baron de la Motte Fouqué. Erster und Zweiter Theil. Berlin 1826. Vgl. W 9, S. XXXIII. 12 Guido Görres: Die Jungfrau von Orleans. (Nach den Prozeßakten und gleichzeitigen Chroniken) Regensburg 1834. 13 Vgl. B 186, an Elise Lensing, datiert 1.–26. Juli 1840. WAB 1, S. 358. 14 Die letzte Szene von Judith wurde am 28. Jan. 1840 abgeschlossen. Vgl. TBR 1833 / TBW 1893.

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Geschichtswerk.15 Offenbar vermag die göttliche Macht in der historischen Welt nicht dauerhaft das menschliche Innere zu erreichen und das Bündnis zweier Seelen zu stiften. Gerade dies ist kennzeichnend für den ideellen Gehalt der Hebbelschen Konzeption, denn das Herz des Menschen erweist sich als ein autonomer Teil der Immanenz, in dem selbst die wohlwollende göttliche Fügung wirkungslos bleibt. Damit ist aber zugleich die Gefahr impliziert, dass das eigengesetzliche historische Handeln durchaus von der etablierten Ordnung der Transzendenz abweichen könnte. Eine erste Probe des rein leidenschaftlichen Handelns wird in Hebbels „Mirandola“-Fragment gegeben. In seiner historiographischen Aneignung der Jungfrau von Orléans, aber auch in der dramatischen Gestaltung der Judith wird diese Konstellation weiterentfaltet. Jedes Mal handelt es sich allerdings, daran sei hier erinnert, um den Versuch einer Schiller-Rezeption.

5.2.2 Züge der Naivität – implizite Schiller-Kritik In Hebbels Schilderung der Johanna-Figur wird vor allem deren natürliche Naivität als charakteristische Eigenheit hervorgehoben, die in erster Linie in ihrem kindlich unreflektierten Glauben an ihre Berufung durch Gott besteht. Schon bei ihrem ersten Auftritt wird sie vom Erzähler als ein „kindlich-geheimnißvolles Wesen“ bezeichnet, das „in rührender Naivetät das Wunderbare und Außerordentliche“ so betrachtet, als ob es selbstverständlich wäre (W 9, S. 239f). Die unbedingte Überzeugung von der himmlischen Herkunft der Wundertat erlaubt keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des göttlichen Auftrags. Deshalb wird ihr Sprung vom Turm, in dem sie von den Engländern gefangen gehalten wurde, vom Erzähler als „de[r] wahr[e] Triumph ihrer naiven Natur“ (W 9, S. 323) beschrieben: weil sie sich der rettenden Hand von oben sicher, und deshalb alles Gott anvertrauen zu können glaubt. Neben diesem unerschütterlichen Glauben an Gott zeichnet sich die Hebbelsche Jungfrau-Figur durch das Festhalten an ihrer weiblichen Natur aus. Gerade weil sich die Dichtung Schillers von der Natur abwendet, wird sie von Hebbel kritisiert: „Schillers Poesie thut immer erst einen Schritt über die Natur hinaus und sehnt sich dann nach ihr zurück.“ (TBR 1644 / TBW 1703) Verfasst im Oktober 1839, liegt dieser Tagebucheintrag Zeitlich also inmitten der Arbeit an Judith. Dieser Sachverhalt spricht für, die zitierte Tagebuchaufzeichnung unmittelbar auf Schillers Jungfrau zu beziehen. So sieht es auch Wittkowski, der darin Hebbels Kritik an Schillers man-

|| 15 Der Herzog von Burgund bleibt bis zum Ende der Geschichte ein hartnächtiger Feind Karls VII. Vgl. W 9, S. 320: „Der Herzog von Burgund ward jetzt gegen König Karl wieder aktiv, indem er die Belagerung von Choisy an der Oise unternahm.“

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gelhafter Gestaltung des echt Weiblichen und der zwischengeschlechtlichen Interaktion identifiziert.16 Nun legitimiert sich diese kindlich-naive Weiblichkeit der Hebbelschen Johanna zuerst durch die Entsprechung eines herkömmlichen Rollenmusters. Als Erstes wird die Zartheit, ja die geistige Schwachheit der Jungfrau auktorial festgestellt: „Wer sieht nicht im Geist das Hirtenmägdlein, wie sie unter den Wundern, die ihr aufgehen, unter dem Geschick, das ihr bevorsteht, fast erliegt […].“ (W 9, S. 246) Sodann wird das ganze kriegerische Unternehmen als eine rein äußere Notwendigkeit dargestellt, die ihrer eigentlichen Neigung zur Hausarbeit zuwiderlaufe: „Denn Niemand in der ganzen Welt […] [kann] das Königreich Frankreich wiedergewinnen, und es giebt dabei keine Hülfe, als durch mich, obschon ich lieber bei meiner armen Mutter spinnen mögte. Denn Jenes ist gar meines Thuns nicht.“ (W 9, S. 259f.) Im Gegensatz zur Heerführung wird das Spinnen als eigentliche Bestimmung der Frau definiert. Auf eben dieselbe Weise wird Judith eingeführt – als Spinnerin: „Gemach der Judith. Judith und Mirza am Webstuhl.“ (II; W, 1, S. 14) Zwar geht die Hebbelsche Schiller-Kritik zunächst von dieser tradierten weiblichen Rollenzuschreibung aus; er expliziert den Vorwurf allerdings noch, indem er ohne Nennung seines Gegners die Schillersche Johanna als unhaltbar abwertet. Dabei beschränkt sich sein Einwand nicht auf die Verfälschung der weiblichen Natur, sondern interpretiert diese als Folge mangelnder psychologischer Plausibilität: Auch eine Fahne ließ sie [=Johanna, M. M.] jetzt für sich fertigen [.] […] Diese Fahne trug sie meistens selbst und gab als Grund dafür in schöner Weiblichkeit an, es geschehe, weil sie ihr Schwert nicht gern schwingen und Keinen damit durchbohren mögte. Ein berühmter deutscher Dichter, der Johanna zum Gegenstand eines Dramas machte und das Naive ihrer Natur in einem See von Sentimentalität ertränkte, legt ihr auf der anderen Seite einen förmlichen Trieb zum Würgen und Morden in die Seele, der sich nicht, wie es psychologisch gewesen wäre, bei dem Anblick des ersten Bluts, das sie vergoß, in sein Gegentheil umwandelt, sondern der sich erst bricht, als sie sich plötzlich, mitten im Gewühl der Schlacht und in der Hitze des Kampfs, in einen der Feinde verliebt. Leider ist dies Drama, in Deutschland wenigstens, bekannter geworden, als Johannas wirkliche Geschichte, die dasselbe doch an echter Poesie, wenn Poesie anders im Erfassen des Kerns der Dinge und nicht im hohlen Ueberpinseln der Wahrheit mit idealer Schminke besteht, unendlich übertrifft. (W 9, S. 267)

Die Liebe zum Feind bezieht sich offenbar auf die Begegnung zwischen Johanna und Lionel in Schillers „romantischer Tragödie“ (vgl. III/10; FA 5, S. 234), die im Laufe der dramatischen Entwicklung den inneren Konflikt der Jungfrau auslöst. Problematisch ist aber nicht so sehr die Liebe an sich, sondern vielmehr die psychologische Authentizität der plötzlichen Sympathieentdeckung. Dieser Vorwurf nimmt einerseits Hebbels Generalkritik an der unzureichenden Motivierungskunst Schillers wieder auf, ist aber andererseits dem vorstrukturierten Geschlechterverständnis

|| 16 Vgl. Wolfgang Wittkowski: Der junge Hebbel, S. 216.

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verpflichtet. Denn die Johanna-Figur wäre erst dann glaubwürdig, wenn ihr Handeln der naiven weiblichen Natur entspräche. Diese immanente Weiblichkeit besteht der Hebbelschen Kritik zufolge vor allen Dingen in einem strikten Tötungsverbot: Nicht das Schwert, sondern die Fahne soll sie tragen. Deshalb muss ihr „Trieb zum Würgen und Morden“, der im Schillerschen Drama omnipräsent ist, dem skeptischen Betrachter Hebbel als unnatürlich erscheinen. Da die naive Natur der historischen Jungfrau bei Schiller mit „idealer Schminke“ überpinselt worden sei, so gelte es, die Idealisierung rückgängig zu machen und die nun mit weiblichen Charakterzügen ausgestattete Figur psychologisch erneut zu plausibilisieren. Aus diesem Grund ist Johannas Verhalten beim Anblick der blutigen und verheerenden Folgen des Krieges besonders geeignet, die Strategie der Hebbelschen Korrektur herauszuarbeiten. Nach der siegreichen Eroberung von Orléans heißt es: Johanna brach in glühende Thränen aus, als sie mit eigenen Augen sehen mußte, wie das, was der Geist des Herrn durch ihren Mund voraus verkündigt hatte, sich an dem stolzesten englischen Ritter [= dem ertrunkenen englischen Heerführer Glacidas, M. M.] und seinen wilden Kriegskameraden erfüllte. (W 9, S. 282f.)

Noch eindeutiger ist die Schilderung nach der Schlacht von Patey: Die Jungfrau war, wie im Kampf ganz ein Mann, nach demselben, als sie über das Schlachtfeld dahin zog, nicht weniger ganz ein Weib. Sie ließ das Schwert sinken, um mit zitternder Hand und weinenden Augen Wunden zu verbinden. O wie schön, wenn der in allen Tiefen seines Wesens aufgeregte Mensch so schnell sich selbst wieder zu finden weiß! (W, 9, S. 298)

Sowohl die emotionale Erschütterung als auch der fürsorgliche Einsatz bei der Pflege der Verwundeten kennzeichnen das für Hebbel charakteristisch Weibliche, da es sich vom durchaus männlich konnotierten Krieg entschieden distanziert. Die Einmischung ins Kampfgeschehen bedeutet dem Historiographen Hebbel zufolge eine Übertretung der a priori gesetzten geschlechtsspezifischen Grenze, die schnelle Hinwendung zur Fürsorge hingegen eine gelungene Rückbesinnung auf das Selbst. Die Rollenzuschreibung der heilenden Frau als Gegensatz zum kämpfenden Mann nimmt darüber hinaus jene vielzitierte Aussage des Holofernes vorweg: „Judith, wir müssen nicht miteinander rechten. Ich bin bestimmt, Wunden zu schlagen, du, Wunden zu heilen.“ (IV; W 1, S. 53) Zugleich eröffnet der Anspruch auf eine genderspezifische psychologische Glaubwürdigkeit eine weitere Problematik, nämlich die der Kompatibilität der seelischen Beschaffenheit des Menschen mit dem göttlichen Auftrag. Wenn die Entsagung statt der Fortführung des Kampfs die plausiblere Entscheidung beim Anblick der Toten sein soll, so gewinnt die mitleidsfähige menschliche Natur, die ohnehin jenseits des göttlichen Zugriffs liegt, in Konfliktfällen die Oberhand. Das Unterbrechen der selbst heilsgeschichtlich vorgeschriebenen Laufbahn wird auf diese Weise

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anthropologisch legitimiert: Weil der Mensch, psychologisch betrachtet, menschlich ist, so verhält er sich natur-gemäß, selbst wenn dieses Verhalten vom transzendenten Standpunkt her gesehen eine Schwäche wäre. Ganz in diesem Sinne entwirft Hebbel 1832 in seiner „vaterländischen Romanze“ „Die Schlacht bei Hemmingsstedt“17 eine vergleichbare Figur der bewaffneten Jungfrau, die sich umgehend vom Schlachtfeld zurückzieht, als sich ein sie heimlich liebender Jüngling, um sie zu schützen, für sie aufopfert: „Die Jungfrau hat sich weinend auf ihn herabgeneigt / […] / Die Jungfrau nimmt die Fahne, allein sie senkt sie tief, / Als wie zum Trauerzeichen dem Todten, der entschlief; / Sie kehret in die Schanze und hängt die Fahne auf, / Läßt den verhaltenen Thränen alsdann den freien Lauf.“18 Die Entschlossenheit zu kämpfen wird dem gefühlsfähigen Herzen untergeordnet. Die Tränen, die auch in der Geschichte der Jungfrau von Orleans fließen, werden hier bereits als Zeichen emotionaler Authentizität der empfundenen Trauer gewertete und somit Beweggrund, von der Schlacht Abschied zu nehmen. Da diese Sequenz aufgrund ähnlicher Konstellationen offenbar als Präfiguration der Johanna-Historie gelesen werden kann, zeigt sie zusammen mit der Geschichte der Jungfrau von Orleans, dass der Akzent des Schiller-kritischen Dichters konsequenterweise weniger auf der strengen Befolgung himmlischen Geheißes als vielmehr auf dem natürlich-menschlichen Handeln gesetzt ist.

5.2.3 Konzeption der Geschichtsphilosophie: Hebbel mit Schiller Auffällig ist allerdings, dass sich die implizit-explizite Auseinandersetzung mit Schiller jenes Deutungsparadigmas bedient, das von Schiller geprägt ist: nämlich das Begriffspaar vom Naiven und Sentimentalischen, das Schiller in seiner großen Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“ eingeführt hat. Schiller, der „berühmt[e] deutsch[e] Dichter“, habe „das Naive ihrer Natur in einem See von Sentimentalität ertränkt“ (W 9, S. 267). Auch lässt sich Hebbels Bezeichnung der Jungfrau als ein naives „Kind“ 19 auf Schillers Definition des Naiven als „eine Kindlichkeit, wo sie nicht mehr erwartet wird“ (FA 8, S. 713), zurückführen. Im Kampf gegen Schiller wird paradoxerweise mit Schiller argumentiert. Der Fehler Schillers liege nun Hebbels Ansicht nach darin, dass das Naive in der Persönlichkeit der historischen Jungfrau von der Selbstreflexion der dramatischen || 17 Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 2, S. 167–171. 18 Paul Bornstein (Hg.): Der junge Hebbel, Bd. 2, S. 171. 19 Vgl. etwa Hebbels Beschreibung von Johanns Turmsprung: „Ich halte diese verworreneigenmächtige Handlung der Jungfrau für den wahren Triumph ihrer naiven Natur. Wie ein Kind, das sich auf’s Wasser wagt, weil es wohl weiß, daß die Mutter es […] liebevoll herausziehen wird, wenn es verunglückt, so stürzte Johanna sich in den offenbaren Tod, weil sie sich überzeugt hielt, Gott werde ihr beistehen und sie retten […].“ W 9, S. 323. Vgl. ferner W 9, S. 286.

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Johanna völlig verdeckt sei. Offenkundig bezieht sich der „See der Sentimentalität“ auf die beiden strophischen Monologe der Schillerschen Johanna (Prolog/4; FA 5, S. 163f.; IV/1; FA 5, S. 237–240), die ihr Bewusstsein des Abschieds und der Entzweiung mit der Natur zum Ausdruck bringen. Die resignative Einsicht über die verlorene Identität mit der Natur wird zusätzlich durch die veränderte Metrik – vom Blankvers zur Stanze – nachdrücklich akzentuiert. Die beiden Monologe können insofern als sentimentalisch gelten, da sie den Verlust der ursprünglichen Einheit aus einer reflexiven Distanz lyrisch artikulieren. Gerade dieser Vorstellung von einem sentimentalischen Geist der Jungfrau aber wird von Hebbel als psychologisch unwahrscheinlich widersprochen. Daher nennt er Die Jungfrau von Orleans Schillers „höchste bewußte Conception“ (TBR 4598 / TBW 4683), da sie, anstatt beim beschränkteren Kreis des Naiven zu bleiben, mit erkennbarer Absicht die Wandlung hin zu einem sentimentalischen Gemüt nachzeichne. Die begriffliche Unterscheidung des Naiven vom Sentimentalischen führt nicht nur zur Spezifizierung zweier antithetisch verstandener Dichtungsverfahren. Sie eröffnet zugleich einen zusätzlichen geschichtsphilosophischen Deutungshorizont, indem das Nebeneinander zwei ebenbürtiger Genres zum zeitlichen Nacheinander der historischen Entwicklungsstufen umgewandelt wird.20 Die Natur – und damit die natürlich-naive Wahrnehmungsweise – bildet den ersten Abschnitt einer triadischen Fortschrittsgeschichte, weil sie in ihrer unreflektierten Befolgung der objektiven Notwendigkeit des Moments der Freiheit entbehrt und daher „keiner Achtung, keiner Sehnsucht wert“ sei: „Sie liegt hinter dir, sie muß ewig hinter dir liegen.“ (FA 8, S. 723) Die Emanzipation von der reinen Naturgesetzlichkeit ist ein zwar verlustreicher, aber bildungsgeschichtlich notwendiger Prozess, da es den Menschen nur dadurch gelingen könnte, den „unendlichen Vorzug“ der Natur mit dem „eigenen unendlichen Prägorativ“ der Vernunft und Freiheit zu verbinden und „aus beidem das Göttliche zu erzeugen.“ (FA 8, S. 722, S. 724) Schiller resümiert unter seiner zukunftsorientierten menschheitsgeschichtlichen Perspektive: Dieser Weg, den die neueren Dichter gehen, ist übrigens derselbe, den der Mensch überhaupt sowohl im Einzelnen als im Ganzen einschlagen muß. Die Natur macht ihn mit sich Eins, die Kunst trennt und entzweiet ihn, durch das Ideal kehrt er zur Einheit zurück. (FA 8, S. 735)

Hebbels Festhalten am Naiven im Charakter der Jungfrau von Orléans macht ihn jedoch selbst zu einem sentimentalischen Dichter, weil er, um mit Schiller zu sprechen, nicht natürlich, sondern das Natürliche empfindet (FA 8, S. 727). Auch seine geschichtsphilosophische Skizze, die der Historiographie vorangestellt wird, weist

|| 20 Vgl. hierzu Peter Szondi: „Denn was dem geschichtsfremden Blick als Nebeneinander erscheint, ist in Wahrheit ein Nacheinander“. Peter Szondi: Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit. In: ders: Poetik und Geschichtsphilosophie I, hg. von Senta Metz und Hans-Hagen Hildebrandt. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1976, S. 11–265, hier S. 178.

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etliche Übereinstimmungen mit Schillers Ideen auf. Für Hebbel ist die Geschichte eines Volks das Medium seiner Selbsterkenntnis; da die Griechen und Römer sich nicht als Individualität, sondern nur als ein einheitliches Ganzes zu fühlen vermochten, hätten sie sich nicht selbstkritisch von sich selbst distanzieren können: „[S]ie lernten nicht, sie lebten Geschichte.“ (W 9, S. 226) Die bewunderungswürdigen Taten seien nur das alltägliche Tun für sie: „Das Größte geschah Tag für Tag [.]“ (W 9, S. 227) Dies entspricht Schillers Ausführung von jener Sequenz aus der Ilias, als Homer, „als ob er etwas alltägliches berichtet hätte“, mit „trokene[r] Wahrhaftigkeit“ (FA 8, S. 731) die Gastfreundschaft zwischen den gegeneinander kämpfenden Diomedes und Glaukus schildert. Die naive Gesinnung der alten Völker sei der Selbstbewunderung nicht fähig, weil sie nicht zu einem selbstbetrachtenden Subjekt avancieren konnten. Daher bedürfen sie auch keiner Geschichtsschreibung, weil „der Instinct lehrte“, was zu tun oder zu lassen sei (W 9, S. 227). Die Instinkthafttigkeit der moralischen Kodierung bestätigt, dass sich die Griechen und Römer für Hebbel in einer naiven Lebenswelt befunden haben müssen. Nun folgt, dem triadischen Schema der Schillerschen Vorstellung gemäß, die Überwindung des ersten harmonischen Zustands: „Ein beneidenswerther Zustand, der nicht wieder kehren kann und auch nicht wieder zu kehren braucht!“ (W 9, S. 227) Der Zustand der eigentlichen Glückseligkeit und Freiheit werde nicht durch Auflösung in die undifferenzierte Allgemeinheit, sondern ausschließlich durch Individuation erreicht: „Nur so weit der Einzelne sich von dem Ganzen […] los zu lösen und sich in seinem Innersten und Eigenthümlichsten heimisch zu machen weiß, ist er glücklich und frei.“ (W 9, S. 227) Dadurch entsteht aber jener Gegensatz zwischen dem Individuum und dem Ganzen, der Hebbels Ästhetik der Tragödie zugrunde liegt (s. auch Kap. 4). Aus diesem Grunde besteht die Aufgabe der Historiker darin, die Antithesen von der alten Geschichte als „reines Naturgewächs“ und der neuen als „Kunstprodukt“ zu vereinigen (W 9, S. 227f.). Wie Schiller fordert Hebbel in der historischen Konzeption die Verständigung von Natur und Kultur, des Naiven und des Sentimentalischen, die die „neu[e] Geburt der Zeit“ (W 9, S. 228) vorbereiten solle. Allerdings orientiert sich die Synthetisierung bei Hebbel nicht am zeitlosen Ideal, sondern an der eigenen Gegenwart: „Gerade die zeugende Vermischung der jüngsten und der ältesten Weisheit, die Reibung und Entwicklung geistiger Potenzen der Gegenwart an Problemen, die Jahrhunderte rückwärts liegen, ist so unendlich kräftigend und segensreich.“ (W 9, S. 228) Die Wiedervereinigung des Naiven und Sentimentalischen erfolgt durch geschichtliche Untersuchung, die nicht nach dem Prinzip des akribischen Historismus verfährt, sondern immer von einem zeitgenössischen Standpunkt ausgeht: „Aus immer neuen Gesichtspuncten wird das Alte betrachtet; dadurch gewinnt es eine immer neue Gestalt, es wird immer schärfer in seinem Wesen und seinen Motiven, wie in seiner Ausdehnung und seinen Wirkungen erkannt […].“ (W 9, S. 228) Um aber zu einem vertieften Verständnis von Motiven und Wirkungen historischer Vorgänge zu gelangen, sei die Methode der

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Selbstbetrachtung einzusetzen: Anstatt sich noch der „ideale[n] Krücken“ zu bedienen, solle der Mensch „sich selbst zum Objekt seiner Forschung und Betrachtung“ machen (W 9, S. 229). Die Hinwendung zur Geschichte wird weder durch Idealisierung noch Kontextualisierung ermöglicht, sondern durch psychologische Selbstanalyse, die aber auf der Hypothese von der transhistorischen Vergleichbarkeit der seelischen Beschaffenheit basiert. Ohne die Annahme der psychologischen Homogenität über Generationen hinweg könnte die Vereinigung der alten mit neuen Epochen im Medium literarischer Vergegenwärtigung der Geschichte nicht Fuß fassen. Diese Überzeugung, so zeigt die vergleichende Untersuchung zur Ästhetik der beiden Dichter (vgl. Kap. 4.3.4, Kap. 4.6), teilt Hebbel allerdings mit Schiller, der in seinen Geschichtsschreibungen ebenfalls von der „unveränderlichen Struktur der menschlichen Seele“ (FA 7, S. 564; Hervorhebung im Original) ausgeht. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich Hebbels Kritik an Schillers Die Jungfrau von Orleans, die er teils in Briefen und Tagebüchern, teils in seinem Geschichtswerk über dieselbe historische Persönlichkeit formuliert, in erster Linie auf die darin enthaltene mangelnde psychologische Plausibilität richtet. Das Urteilsraster für die Glaubwürdigkeit des Charakters in seiner Geschichte der Jungfrau von Orleans ist durch das tradierte Geschlechterbild von einer tränenreichen, zerbrechlichen Weiblichkeit bedingt. Dabei lehnt sich Hebbel nicht nur direkt an Schillers Vokabular des Naiven und Sentimentalischen an, sondern bewegt sich – hinsichtlich seiner geschichtsphilosophischen Rahmung – innerhalb des triadischen Entwurfs der Menschheitsgeschichte, den Schiller in seiner großen Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“ beschrieb. Nur unterscheidet er sich dadurch von Schiller, dass er nicht wie dieser die Idealisierung der Wirklichkeit als eine Möglichkeit für die Wiedergewinnung der Natur fordert, sondern sich für die Beschäftigung mit der Geschichte aus der zeitgenössischen Perspektive ausspricht. Also plädiert Hebbel für die Psychologisierung des historischen Gegenstands als Methode und Legitimation seiner Aktualisierung. Denn in der Auseinandersetzung mit der „naiven“ Geschichte wird dem sentimentalischen Betrachter erst gewahr, was ihm im Prozess der Kultivierung verloren ging. Die Ergründung der eigentlichen seelischen Motive der historisch Handelnden dient der Selbsterkenntnis der modernen Zeitgenossen. Genau diese Aufgabe der psychologischen Authentisierung habe Schiller – Hebbels Auffassung nach – verfehlt. Daher schließt Hebbel seine historiographische Schrift nicht ohne Selbstzuversicht: „Ich glaube, manche psychologische Andeutung gegeben und im Allgemeinen nicht geirrt zu haben, wenn ich sie [= die Jungfrau von Orleans, M. M.] im Gegensatz zu schwärmerisch-speculativen Naturen […] als eine religiös-naive bezeichnete [.]“ (W 9, S. 365)

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5.3 Die psychologisierte Judith-Gestalt 5.3.1 Stoffgeschichte der Judith Hebbels Die konkrete Realisierung der versprochenen Korrektur an Schillers Johanna-Figur lässt sich vor allem an Hebbels Erstlingsdrama Judith ablesen. Zunächst zeigen beide Stoffe eine strukturelle Affinität auf – es handelt sich sowohl bei Jeanne d’Arc (1412–1431) als auch bei der biblischen Heldin Judith um eine bewaffnete Frau, die eine vom übermächtigen Feind bedrängte Stadt mit Gottes Hilfe befreit. Schon den Zeitgenossen der als Hexe verbrannten Jungfrau von Orléans war diese Möglichkeit der Parallelisierung nicht entgangen: Etwa bei Christine de Pisan (1364–1430?) etwa wurde sie als schlagendes Argument für die Echtheit der göttlichen Sendung im Lob der Jungfrau eingesetzt.21 Anschaulich wird der Vergleich, der nicht zuletzt als Rehabilitierungsversuch dient, durch eine Illustration zu Martin le Francs Champion des Dames (1441–1442), indem die geharnischte Jungfrau neben Judith, die mit dem Schwert und dem Haupt des Holofernes aus seinem Zelt kommt, dargestellt wird.22 Die Herangehensweise Hebbels unterscheidet sich allerdings in zweierlei Hinsicht von der bildlichen Verschmelzung der beiden Frauengestalten: Zum einen bezieht er sich nicht auf die historische, sondern auf eine spezifische literarische Figur der Jungfrau, deren Lebenslauf ein poetisch modifizierter ist; zum anderen versteht er die Parallelisierung nicht als ein Neben-, sondern als Gegeneinander, nicht als Bekräftigung durch Analogie, sondern als Berichtigung durch Kontrafaktur. Das geplante, allerdings nicht ausgeführte Vorwort für die Buchausgabe der Judith verdeutlicht diese Konstellation: Zum Vorwort d Judith: Schiller mußte, wie jeder Gedankendichter, der statt des sanften runden Kreises die scharfe Facette bringt, von s. Zeit überschätzt werden, aber eben so nothwendig mußten sich auch nach u nach die tiefbegründeten Kunsturtheile, die Göthe still, Tieck, Schlegel, Jean Paul laut über ihn aussprachen, von selbst geltend machen. […] – Jedes echte Kunstwerk ist ein geheimnißvolles, vieldeutiges, in gewissem Sinn unergründliches Symbol. Je mehr nun eine Dichtung aus dem bloßen Gedanken hervor ging, je weniger ist sie dies, um so eher wird sie also verstanden u aufgefaßt, um so sichrer aber auch bald ausgeschöpft u als un-

|| 21 Vgl. Christine de Pisans Le Ditié de Jehanne d’Arc (1429): „Judith, Esther, Debora. Die drei / Handeln mit Mut und Verstand. / Daß Israel frei wieder sei, / Hat Gott seinem Volk sie gesandt. / Manch andere Tat ist bekannt, / Von weiblicher Kühnheit erdacht, / Doch Wunder für unser Land, / Hat einzig Johanna vollbracht.“ Zitiert nach: Marion Kobelt-Groch (Hg.): „Ich bin Judith“. Texte und Bilder zur Rezeption eines mythischen Stoffes. Leipzig 2003, S. 154. Vgl. hierzu auch Stephanie Wodianka: Zwischen Mythos und Geschichte. Ästhetik, Medialität und Kulturspezifik der Mittelalterkonjunktur. Berlin 2009, S. 93–98. 22 Die Abbildung ist abrufbar unter http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b525033083/f208 (zuletzt abgerufen am 07. Juni 2018) Vgl. auch Marion Kobelt-Groch: Judith macht Geschichte. Zur Rezeption einer mythischen Gestalt vom 16. bis 19. Jahrhundert. München 2005, S. 60.

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brauchbare Muschel, die ihre Perle hergab, bei Seite geworfen. […] Dichten heißt nicht LebenEntziffern, sondern Leben-Schaffen! (TBR 2205 / TBW 2265)

Die Aussagen und der Stellenwert der hier angedeuteten zeitgenössischen SchillerKritik sind bereits eingehend untersucht worden (s. Kap. 3.2). Bezeichnend ist nun, dass Hebbel seine Judith durchaus als Korrektur zu Schillers ästhetischem Gestaltungsverfahren verstanden wissen will. Bewusst wird hier eine Antithese zur „scharfe[n] Facette“ der unvermittelten gedanklichen Deklamation Schillers aufgebaut, die in der Abrundung des „sanften Lebens“ besteht. Dies korrespondiert wiederum mit der bekannten Forderung nach der „lebendigen Gestalt“ der dramatischen Poesie gegen rhetorische Leerheit. Dabei wählt Hebbel für seine Kritik einen kulturgeschichtlich betrachtet traditionsreichen Stoff. Das apokryphe Buch „Judith“ des Alten Testaments, das in der jüngeren theologischen Forschung oft als „fiktiv“ bewertet wird,23 hat sowohl in der Literatur als auch in der Kunst eine bedeutende Metamorphose erfahren.24 In der Tradition der Exegese wird Judith vor allem als „Verkörperung der Humilitas u[nd] Continentia“, Holofernes als diejenige der „Superbia u[nd] Luxuria“ dargestellt, sodass der endgültige Sieg der „Ecclesia“ über den Antichristen durch die Heldentat der Enthauptung symbolisiert werden kann.25 Dadurch erhalte die Geschichte Judiths eine Lehrfunktion, aufgrund derer die Lektüre derselben trotz aller Fiktionalität dennoch nützlich sei, wie Martin Luther in seiner Vorrede zu „Buch Judith“ hervorhebt: Durch Aufführung dieses „Geticht[s]“ könnten die Juden „jr Volck vnd die Jugent lereten / als in einem gemeinen Bilde oder Spiel / Gott vertrawen / from sein.“26 Aber gerade der Ausschluss aus dem biblischen Kanon löst die Geschichte von ihrem Glaubenskontext, sodass das vielschichtige Deutungspotential der Gestalt in der Kunst zur Entfaltung kommt. Es zeichnet sich eine Entwicklungslinie von barocker Tugendheldin zur expressionistischen femme fatale ab, deren Höhepunkt jenes berühmte Judith-Gemälde Gustav Klimts darstellt.27 Wegen des goldenen Prunks der orientalischen Mode wird das abgeschlagene, in düsterem Farbton gehaltene, leicht zu übersehene Haupt in die Ecke rechts unten verdrängt, und mit ihm die biblische Implikation des Triumphs über die Heiden, während im Vordergrund die weibliche

|| 23 Vgl. Erich Zenger: „Judith/Judithbuch“. In: Gerhard Müller u. a. (Hg.): Theologische Realenzyklopädie. Bd. 17: Jesus Christus V – Katechismuspredigt. Berlin/New York 1988, S. 404–408. 24 Einen Überblick liefert Otto Baltzer: Judith in der deutschen Literatur. Berlin 1930. Vgl. auch Marion Kobelt-Groch: Judith macht Geschichte. 25 Vgl. Engelbert Kirschbaum u.a. (Hg.): Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 2: Allegmeine Ikonographie Fabelwesen – Kynokephalen. Darmstadt 2012, S. 454ff. 26 Vgl. Martin Luther: Vorrhede auffs buch Judith. In: D. Martin Luther. Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Bd. 2, S. 1674f. 27 Zur Abbildung vgl. Marion Kobelt-Groch: „Ich bin Judith“, S. 205.

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Gestalt der Judith dominiert. Die Monumentalisierung ihres weiblichen Körpers lässt sich aber auch schon bei jenem 1840 entstandenen Judith-Porträt von August Riedel,28 das sehr wohl als Inspirationsquelle der sinnlich verführenden Judith-Figur in Gottfried Kellers Roman Der grüne Heinrich gedient haben mag,29 beobachten, indem der Künstler den Kopf des Holofernes hinter den Rücken Judiths versteckt und kein Gesicht, sondern nur die Locken des assyrischen Hauptmanns erkennen lässt. Judith selbst nimmt aber das gesamte Spektrum der Leinwand ein und zieht somit die konzentrierte Aufmerksamkeit des Zuschauers auf sich. Die biblische Erzählung ad gloriam Dei verwandelt sich insofern in der kunstgeschichtlichen Transformation zu einer herausragenden Frauengestalt. Die Faszination der Judith-Figur geht auf die Ambivalenz der Deutung zurück. Offenbar löste allein die Weiblichkeit der Judith per se schon manchen Vorbehalt, ja manches Unbehagen vor allem bei Männern aus. Sixt Birck etwa erklärt schlicht in der „Beschlußred“ seines Judith-Dramas (1539), dass Judith in Wirklichkeit keine Frau sei: „Sy ist kain fraw, sy ist ain man.“30 Ein weiteres, ebenfalls bezeichnendes Beispiel wäre Donatellos Bronzestatue „Judith und Holofernes“, die trotz der ursprünglich allegorischen Deutung als Sinnbild der Republik allein wegen der Bezugnahme auf die Weiblichkeit, aber wohl auch wegen des explizit dargestellten Tötungsakts, auf entschiedene Ablehnung stieß und schließlich Platz machen musste für Michelangelos David, dessen Geschichte als Goliath-Bezwinger allerdings eine strukturelle Verwandtschaft mit Judith impliziert.31 Dies hängt zweifelsohne mit dem dichotomischen Frauenbild des christlich geprägten Zeitalters zusammen: Jede Frau konnte gleichermaßen jungfräuliche Keuschheit oder sündige Verführung verkörpern, konnte genauso gut Maria oder Eva darstellen. Aber auch in der antiken Mythologie seien, wie Albrecht Koschorke betont, die jungfräulichen Göttinnen genauso ambivalent wie ihre christianisierte Schwester: All diese göttlichen Jungfrauen – Hera, Aphrodite, Artemis in Kleinasien, Cybele, Ishtar, Astarte und wie sie heißen – verfügen über entgegengesetzte, sich wechselseitig ausschließende Ei-

|| 28 Das Gemälde ist online abrufbar unter https://www.pinakothek.de/kunst/august-riedel/judith (zuletzt abgerufen 07. Juni 2019). 29 Vgl. Caroline von Löwenich: Gottfried Keller: Frauenbild und Frauengestalten im erzählerischen Werk. Würzburg 2000, S. 56. 30 Sixt Birck: IVDITH. In: Martin Sommerfeld (Hg.): Judith-Dramen des 16./17. Jahrhunderts nebst Luthers Vorrede zum Buch Judith. Berlin 1933, S. 3–69, hier S. 66. 31 Vgl. hierzu Daniela Hammer-Tugendhat: Judith und ihre Schwester. Konstanz und Verdrängung von Weiblichkeitsbildern. In: Annette Kuhn und Bea Lundt (Hg.): Lustgarten und Dämonenpein. Konzepte von Weiblichkeit in Mittelalter und früher Neuzeit. Dortmund 1997, S. 343–385, hier S. 360. Auf die strukturelle Parallelität macht auch Hans Mayer aufmerksam. Vgl. Hans Mayer: Außenseiter. Frankfurt a. M. 1977, S. 35–39.

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genschaften: sie sind sowohl keusch als auch fruchtbar, sexuell unberührbar und promiskuitiv […].32

Der Reiz solcher verführerisch-sakralen, jedenfalls uneindeutigen weiblichen Figuren, zu denen auch Judith zählt, liegt nun darin, dass sie diese beiden einander diametral gegenüberstehenden Weiblichkeitsvorstellungen in sich vereinigen. Der Sieg Judiths lasse sich darum sowohl als der Triumph des Herrn über die Heiden als auch als Triumph des Leibes über sexuell verführbare Männer auslegen, wie Ernst Osterkamp überzeugend darlegt.33 Freilich überwiegt im Laufe des Säkularisierungsprozesses das Sinnliche, sodass Judith, deren heilsgeschichtlicher Auftrag verblasst ist, in die Nähe der Salome, des Urtypus der femme fatale, gerückt wird. Die erstaunliche Ähnlichkeit der visuellen Konzeption der beiden Frauen etwa bei Lucas Cranach dem Älteren und ihre letztendliche Fusion bei Klimt weisen auf die verloren gegangene Gültigkeit einer heilsgeschichtlichen Interpretation hin, da die Glaubensbotschaft beider Figuren völlig kontradiktorisch lautet.34 Was unverändert bleibt, ist das künstlerische Interesse an einer Weiblichkeit, die jenseits der Erlösungsimplikation die Problematik der Sexualität und Gewalt miteinschließt. Die Stoffwahl Hebbels folgt genau dieser Überlieferungsgeschichte. Neben der Bibellektüre schöpft er seine Ideen auch aus bildlichen Darstellungen der Judith. Ausschlaggebend ist weniger das im Vorwort zur Theaterfassung der Judith genannte Bild Giulio Romanos, das in der Münchner Pinakothek aufbewahrt und von der neueren kunsthistorischen Forschung dem flämischen Maler Frans Floris (15171570) zugeschrieben wird, sondern jenes von Horace Vernet, das Hebbel wahrscheinlich durch eine Lithographie, aber auch aus Heines Beschreibung in dessen „Gemäldeausstellung in Paris 1831“ gekannt haben kann.35 Jedenfalls schreibt, als er 1844 in Paris das Original vor Augen hatte, an Elise Lensing: Natürlich sah ich zuerst die Judith von Horace Vernet, die Du aus der Lithographie kennst. Ich verweilte lange vor dem Bilde. Könnte ich Französisch und Horace Vernet Deutsch, so würde ich ihn aufsuchen, er hat in seinem Bilde dieselben Motive ausgedrückt, die ich in der Tragödie in Bewegung setzte, und wir würden uns gewiß verstehen […].36

|| 32 Albrecht Koschorke: Schillers Jungfrau von Orleans und die Geschlechterpolitik der Französischen Revolution: In: Walter Hinderer (Hg.): Schiller und der Weg in die Moderne, S. 243–259, hier S. 247. 33 Vgl. hierzu Ernst Osterkamp: Judith. Schicksale einer starken Frau vom Barock zur Biedermeierzeit. In: Steffen Martus und Andrea Polaschegg (Hg.): Das Buch der Bücher – gelesen. Lesarten der Bibel in den Wissenschaften und Künsten. Bern 2006, S. 171–195, hier S. 175. 34 Während Judith den Heiden Holofernes erschlägt und Zeuge für die Allmacht Gottes ablegt, lässt Salome aus unerwiderter Liebe Johannes den Täufer töten. Vgl. zur bildlichen Darstellung der weiblichen Verführung Daniela Hammer-Tugendhat: Judith und ihre Schwester, S. 357f. 35 Vgl. hierzu Herbert Kraft: Poesie der Idee, S. 41. 36 B 309, an Elise Lensing, datiert 2. April 1844. WBA 1, S. 583.

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Allerdings ist die theologische Ebene sowohl in der Darstellung Vernets als auch in der Bildbeschreibung Heines bereits restlos verschwunden. Stattdessen wird bei Heine eine erotische Szene erzählt: Sie hat sich eben vom Lager desselben erhoben, ein blühendes schlankes Mädchen. […] Da steht sie, eine reizende Gestalt, an der eben überschrittenen Grenzen der Jungfräulichkeit, ganz gottrein und doch wohlbefleckt, wie eine entweihte Hostie. […] Das Gesicht ist etwas beschattet, und süße Wildheit, düstere Holdseligkeit und sentimentaler Grimm rieselt durch die edlen Züge der tödlichen Schönen. Besonders in ihrem Auge funkelt süße Grausamkeit und die Lüsternheit der Rache; denn sie hat auch den eigenen beleidigten Leib zu rächen an den häßlichen Heiden. […] [U]nd trunken von Glück und gewiß auch von Wein, ohne Zwischenspiel von Qual und Krankheit, sendet ihn der Tod, durch seinen schönsten Engel, in die weiße Nacht der ewigen Vernichtung. Welch ein beneidenswertes Ende! Wenn ich einst sterben soll, ihr Götter, laßt mich sterben wie Holofernes!37

Nicht die fröhliche Glaubensbotschaft, sondern die Anziehungskraft der weiblichen Sinnlichkeit wird neben der ungewöhnlichen Ästhetisierung des Todes in Heines Bildnarrativ akzentuiert. Es ist die „blühende“ und „reizende“ Gestalt des Mädchens, die in den Fokus des Betrachters rückt und die Ambivalenz dieser weiblichen Figur, die in der Verschmelzung von Erotik und Gewalt, in der „süßen Grausamkeit“ des „tödlichen Schönen“ besteht, andeutet. Vor allem aber wird der Mord an Holofernes als lüsterne „Rache“ für den „eigenen beleidigten Leib“ interpretiert. Damit wird die Deutung Leopold von Sacher-Masochs vorweggenommen, der bei Hebbels Judith den „Dämon der Jungfräulichkeit“ diagnostiziert, der den „Liebesexceß des Mannes“ als „Gotteslästerung“ verurteilt und dieses „Attentat“ auf die Keuschheit mit blutiger Rache vergilt.38 Die Tötung steht deshalb nicht mehr unter dem Zeichen des göttlichen Befehls, sondern geschieht als Revanche für die erlittene Entjungferung. In diese Deutungslinie von Verführung und Rache reiht sich auch Hebbel, der sich zwar nicht explizit auf die bildgeschichtliche Vorlage beruft,39 in seiner Gestaltung der Tat Judiths jedoch den Mythos sexualpsychologisch neu potenziert. Die Leerstelle des eschatologischen Heilsversprechens und das Vakuum der Glorifizierung der kirchlichen Helden werden nun von der geschlechtsspezifisch akzentuierten Psychologisierung besetzt.

|| 37 Vgl. Heinrich Heine: Französische Maler, S. 36ff. 38 Vgl. Leopold von Sacher-Masoch: Der Dämon der Jungfräulichkeit. In: ders.: Falscher Hermelin. Kleine Geschichten aus der Bühnenwelt, 6. Aufl. Berlin o. J., S. 106–115, hier S. 108. 39 Es sei an dieser Stelle auf die frappierende Ähnlichkeit vom Kostüm der Judith, wie sie von Christine Hebbel-Enghaus dargestellt wurde, mit den Gemälden Vernets und Riedels hingewiesen. Vgl. Annemarie Stauss: Schauspiel und Nationale Frage, S. 215–229. Allerdings interessiert sich Hebbel nur bedingt für die gegenständliche Treue in historischen Aufführungen, weil die Aufmerksamkeit des Publikums dadurch „auf fremdartige Gegenstände geleitet und von der Hauptsache abgezogen wird.“ W 15, S. 4.

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5.3.2 Psychologisierung als Gestaltungsprinzip Genauso wenig wie Heine also konnte Hebbel mit dem biblischen Kontext der Judith-Geschichte anfangen: Die Tötung eines „Helden“ durch eine weibliche Hand empörte ihn gar in der Art, „wie die Bibel es zum Theil erzählte“ (W 15, S. 4). Deshalb bedurfte es seiner Ansicht nach einer Neukonzeption und Herleitung des Konflikts, um die endgültige Tat der Enthauptung zu motivieren und dadurch den archaischen Stoff für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Hebbels Taktik der Überbrückung zeitlicher Diskrepanz sieht allerdings keine Erweckung stofflicher Neugierde vor, sondern eine Veranschaulichung der psychologischen Komplexität, die sowohl dem archaisch-mythischen als auch dem zeitgenössischen Subjekt innewohnt. Gerade die psychologische Homogenität, wie oben bereits erwähnt, sichert die Aktualität des historischen Gegenstands und bekräftigt die Relevanz des historischen Stoffs für das eigene Zeitalter. Deshalb dient die Vergegenwärtigung geschichtlicher Vorgänge weniger der Befriedigung der Schaulust als vielmehr der erhellenden Topographie eines „Labyrinth[s], in das sich auch unser Fuß hinein verirren könnte.“ (W 15, S. 4) Nur die Dramatisierung einer seelischen Krisensituation allein vermag zum Verständnis der sich identischen Menschennatur beizutragen und somit die historische Stoffwahl zu rechtfertigen. Gerade die Fokussierung auf die psychologischen Motive der Handelnden zeichnet nach Hebbels Auffassung den Dichter vor den Geschichtsschreibern aus: „Der Geschichtsschreiber malt die Maschine in ihren äußeren Umrissen, der Dichter stellt das innere Getriebe dar […].“ (TBR 4613 / TBW 4698) Das Mythologische ist demnach keineswegs per se das Ausschlaggebende, sondern nur als Auslöser und Katalysator zwischenmenschlichen Konflikts für den Dramatiker verwertbar. 1845 notiert Hebbel: „[D]enn die Poesie, wenn sie sich mit dem Mysterium zu schaffen macht, soll dieß begründen, d.h. zu vermenschlichen suchen […].“ (TBR 3214 / TBW 3297) Die nötige Vermenschlichung des Mythos bedeutet keinesfalls die Personifikation des Wunderbaren, sondern die Plausibilisierung desselben durch die menschliche Natur.40 Deshalb schreibt Hebbel 1863 an Sigmund Engländer: Was nun Ihre Bedenken gegen den Realismus des Gyges und der Nibelungen anlangt, so setzte ich den Realismus hier und überall ausschließlich in das psychologische Moment, nicht in das Kosmische. […] Der Gyges ist ohne Ring möglich, die Nibelungen sind es ohne Hornhaut und Nebelkappe; prüfen Sie, Sie werden es finden.41

Nicht vom historischen oder mythischen Kolorit, sondern allein von der realen Vielschichtigkeit psychologischer Fundierungen hängt das Gelingen der Dramatisie-

|| 40 Vgl. Hartmut Reinhardt: Apologie der Tragödie, S. 79. 41 B 2666, an Sigmund Engländer, datiert 23. Februar 1863. WBA 4, S. 594. Vgl. auch Kap. 4.6 der vorliegenden Arbeit.

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rung ab: „Ein ächtes Drama ist einem jener großen Gebäude zu vergleichen, die fast eben so viel Gänge und Zimmer unter, als über der Erde haben. Gewöhnliche Mschen kennen nur diese, der Baumeister auch jene.“ (TBR 3195 / TBW 3278) Erforderlich ist insofern gerade die tiefere Erkenntnis des Fundaments des Dramas, das nicht auf der historischen Gegenständlichkeit, sondern auf der anthropologischen Grundlage der handelnden Menschen basiert, die ihre Handlung, ihr Verhalten erst plausibilisiert. Deshalb bekennt Hebbel: „Die Gesetze der menschlichen Seele respectire ich daher ängstlich.“42 Genauso verhält es sich bei seiner Judith. Die Gattungsbezeichnung der „Tragödie“ kann sich nicht auf die äußerliche Bühnenhandlung der Enthauptung des Holofernes beschränken, weil es die Rettung Bethulias sichert und die heilsgeschichtliche Erwartung erfüllt. Da die Titelheldin am Ende nicht stirbt, sondern vom Volk gefeiert wird, ist das Tragische weniger in ihrem Schicksal als vielmehr in ihren psychologischen Krisen verankert, die auch vernichtend wirken. Denn dasjenige, „was eine Tragödie zur Tragödie macht“, liege „nur im Kampfe des Menschen, nie aber im Ausgang dieses Kampfes.“ (W 9, S. 39) Nicht die konkreten Ereignisse, sondern der seelische Konflikt der Bühnenfiguren steht deshalb im Mittelpunkt der dramatischen Gestaltung. Sprachlich erfolgt dies durch den Kunstgriff des für Hebbels dramatischen Stil so spezifischen Für-sich-Sprechens, das neben der Bühnenhandlung eine weitere Ebene der inneren Motivik offenbart und damit die Diskrepanz zwischen Schein und Sein innerhalb desselben Individuums markiert. Es verdeutlicht, dass die eigentliche Spannung gerade in den Seelenvorgängen der Figuren angelegt ist, die den Zuschauern präsentiert werden müssen, um ihnen die Psychodynamik des Stücks begreiflich machen zu können. Die äußeren Umstände und Konflikte reichen nicht aus, das konkrete Handeln mit Überzeugung zu motivieren. Im Vergleich zum Monolog bietet das Für-Sich-Sprechen zudem den Vorteil, die abrupten Wendungen und Selbstwidersprüche nochmals zu akzentuieren und dadurch die seelische Verwirrung explizieren. Diese Methode, die bereits in dem „Mirandola“-Fragment ausprobiert wurde, wird hier abermals eingesetzt. An einer Sequenz der Judith sei dieses Verfahren kurz beleuchtet: Als Judith zum ersten Mal vom Ruf des Holofernes hört, verrät sie ihre stille Sehnsucht nach diesem Sinnbild männlicher Potenz: „Ich mögt’ ihn sehen!“ Jedoch schaltet sich sofort, um mit Sigmund Freud zu sprechen, das regulierende Über-Ich ein, und mit dem erwähnten Kunstgriff wird dem Zuschauer die Dichotomie des innigen Wunschs und des in der momentanen Aufwallung außer Kraft gesetzten sittlichen Bewusstseins vor Augen geführt: „Judith. Ich mögt’ ihn sehen! (für sich) Was sagt ich da!“ (II; W 1, S. 20) Die hier angedeutete Problematik wird noch dadurch ver-

|| 42 B 2666, an Sigmund Engländer, datiert 23. Februar 1863. WBA 4, S. 594. In TBR 5935 / TBW 6085 wird dieses Zitat auch wörtlich wiedergegeben.

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schärft, dass das Verlangen, einmal ausgesprochen, die Grenze des Intimen überschreitet und in die öffentliche Sphäre der sittenkonformen Selbstdarstellung eintritt. Die Kluft zwischen der realen Empfindung und den einzuhaltenden Normen zwecks der Affektregulierung kennzeichnet mit der sofortigen Wendung den inneren Zwiespalt der sprechenden Figur. Gerade aus diesem psychologischen Konfliktpotential fördert der Dramatiker das eigentlich Tragische zu Tage. Dass dieser Widerstreit mit sich selbst erotisch gefärbt ist, ist angesichts der Fortentwicklung der Tragödie offenkundig. Es zeigt, dass die Arbeit am Judith-Stoff einer semantischen Neukodierung bedarf, die, wie Ernst Osterkamp zu Recht nahelegt, vor allem in der „konsequenten Psychologisierung“ und „Anreicherung mit einer Theorie der Geschlechter“ bestehen muss.43

5.3.3 Die Weiblichkeit in Hebbels Judith Wie oben mehrfach erwähnt, liegt das Hauptproblem der Schillerschen „romantischen Tragödie“ für Hebbel in der mangelhaften psychologischen Glaubwürdigkeit der weiblichen Natur der Protagonistin. Denn eine Herausforderung der JungfrauFigur stellt immer noch das Paradox der bewaffneten, die genderspezifische Grenze des Möglichen überschreitenden Weiblichkeit dar. „Ein Weib soll Männer gebären, nimmermehr soll sie Männer töten“ (IV; W 1, S. 67), sagt Mirza antizipierend vor Judiths blutrünstiger Tat. Deshalb wird zwecks einer plausiblen Motivierung zunächst die ihr innewohnende Weiblichkeit veranschaulicht, um dann den Rachewillen als pathologische Reaktion auf die Übertretung derselben zu problematisieren. So beabsichtigt Hebbel, „in Bezug auf den zwischen den Geschlechtern anhängigen großen Prozeß den Unterschied zwischen dem echten, ursprünglichen Handeln und dem bloßen Sich-Selbst-Herausfordern in einem Bilde [zu] zeichnen“ (W 15, S. 4). Der Kontrast zwischen der Tat und Anmaßung unterliegt allerdings einer geschlechtsspezifischen Zuordnung. Er wolle „die That eines Weibes, also den ärgsten Contrast, dies Wollen und Nicht-Können, dies Thun, was doch kein Handeln ist“ (TBR 1743 / TBW 1802), dramatisch illustrieren.44 Daher müssen die Beweggründe der uneigentlichen Tat der Selbstüberhebung in der dramatisch vergegenwärtigten psychologischen Beschaffenheit eines „Weibes“ erkennbar sein. Schon der Auftritt Judiths am Weberstuhl zeigt ein der gängigen Geschlechterrollenverteilung entsprechendes Frauenbild. Des Weiteren insistiert der dramaturgi|| 43 Vgl. Ernst Osterkamp: Judith, S. 188. 44 Wahrscheinlich handelt es sich beim „Wollen und Nicht-Können“ um ein Schiller-Zitat. In Die Verschwörung des Fiesko zu Genua von Schiller versucht nämlich Leonore, Fiesko von seiner Ambition nach Fürstenwürde abzuhalten: „Fürsten Fiesko? Diese mißratenen Projekte der wollenden und nicht könnenden Natur – sitzen so gern zwischen Menschheit und Gottheit nieder; – heillose Geschöpfe. Schlechtere Schöpfer.“ IV/14; FA 2, S. 419.

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sche Menschenkenner auf der Unfähigkeit des Weibes, den Anblick des Todes auszuhalten. Ausdrücklich weist Judith auf ihre verwundbare Weiblichkeit hin, als sie beim Eintritt ins Zelt „schaudernd“ auf das „frische Blut“ eines gerade abgeschlachteten Hauptmanns zeigt: „Judith (schaudernd, indem sie auf das frische Blut deutet). Herr, ich bin ein Weib.“ (V; W 1, S. 59) Ebenfalls wird Mirza, als sie den abgeschlagenen Kopf des Holofernes sieht, laut Regieanweisung „ohnmächtig“ (V; W 1, S. 71); sie fordert, als sie wieder zum Bewusstsein kommt, die Leiche zumindest zu verhüllen: „Mirza (erwachend). Wirf doch ein Tuch darüber!“ (V; W 1, S. 71) Konsequent wird bis in die Geschichte der Jungfrau von Orleans hinein, die Vulnerabilität der weiblichen Seele in der unmittelbaren Konfrontation mit dem Tod als naturgemäß akzentuiert. Vor allem aber ist die Konzeption der Weiblichkeit in diesem Drama sexuell geprägt. „Weib ist Weib“ (V; W 1, S. 71), sagt Holofernes degradierend, da er die Weiblichkeit stets auf die erotische Empfindsamkeit eines Lustobjekts reduziert, das über die Ekstase die eigentliche Verfeindung vergisst: „[S]ie soll vor mir vergehen durch ihr eignes Gefühl, durch die Treulosigkeit ihrer Sinne!“ (V; W 1, S. 71) Tatsächlich erweist sich Judith von Anfang an als sexuell verfügbar und agiert aktiv, um den sinnlichen Begierden genüge zu leisten. An jenem Hochzeitsabend, der ihr „so lockend, so verführerisch war“, fiel Judith ihrem Ehemann um den Hals und drängte auf ihre sexuelle Vereinigung: „[K]omm, komm! rief ich, und schämte mich gar nicht, daß ichs that.“ (II; W 1, S. 17) Die faktische Bedrohung des feindlichen Heers vergessend, schwärmt sie für die ungeheure Größe des Holofernes: „Ich mögt’ ihn sehen!“ (II; W 1, S. 20) Die Idee der Überwindung des heidnischen Feldherrn durch erotische Täuschung ist keineswegs eine spontane Eingebung Gottes, sondern ein wiederkehrender Gedanke, mit dem gespielt wird (III; W 1, S. 25f). Es überwiegt die Faszination der bevorstehenden Verwirklichung des langersehnten Traums von der eigenen Entjungferung, selbst im Gebet. Denn – das hat Ludwig Feuerbach zur gleichen Zeit als das „Geheimnis des Gebetes“ erkannt – im Gebet beichtet der Mensch „seine geheimsten Gedanken, seine innigsten Wünsche, die er außerdem sich scheut, laut werden zu lassen“, allein mit der Zuversicht und „in der Gewißheit, daß sie erfüllt werden.“45 Deshalb betet Judith zwar demütig zu Gott, aber nicht um die Beseitigung der akuten Gefahr einer militärischen Belagerung, sondern den eigenen unaussprechlichen Wünschen gemäß nur darum, ihr den Weg zu zeigen, „der zum Herzen des Holofernes führt.“ (III; W 1, S. 26) Deshalb ist ihr ausdrücklicher Wunsch, sich „wie zur Hochzeit“ (III; W 1, S. 29) schmücken zu lassen. Von vornhe-

|| 45 Ludwig Feuerbach: Werke in Sechs Bänden. Bd. 5: Das Wesen des Christentums, hg. von Erich Thies. Frankfurt a. M. 1976, S. 146, Hervorhebung im Original. Feuerbachs Traktat ist in demselben Jahr publiziert wie Hebbels Judith, nämlich im Jahre 1841. Zu Hebbel und Feuerbach vgl. Wolfgang Liepe: Hebbel zwischen G. H. Schubert und L. Feuerbach. Studien zur Entstehung seines Weltbildes. In: ders.: Beiträge zur Literatur und Geistesgeschichte, S. 158–192.

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rein also denkt sie an erster Stelle an die Erfüllung des eigenen Traums von sexueller Reifung, die sich nur in der Vereinigung mit dem „ersten und letzten Mann der Erde“ (V; W 1, S. 79) realisieren lässt. Judith ist sich gewahr, dass ihr Weg zur Tat „durch die Sünde“ (III; W 1, S. 26) gehen muss; diese besteht allerdings ausschließlich in der erlebten, weiblich kodierten Sexualität. Sie gibt auf die Frage eines Kindes, was die Sünde sei, als Antwort nur ihre Küsse (IV; W 1, S. 51). Sie zaudert zwar, derselben Frage des Holofernes dieselbe Antwort zu geben, wird sich jedoch, gerade im Moment des ersten Kusses, der sexuellen Empfänglichkeit der eigenen Weiblichkeit bewusst: „Judith (für sich). O, warum bin ich Weib!“ (IV; W 1, S. 60) Wie anstößig-radikal die konsequente Akzentuierung der weiblichen Sexualität aus unterschiedlichen Perspektiven von den Zeitgenossen aufgenommen wurde, zeiget der Antwortbrief der Berliner Schauspielerin Auguste Stich-Crelinger an Amalia Schoppe nach der Einsendung des Hebbelschen Manuskripts im Februar 1840.46 Sich auf die Konvention der Theaterpraxis berufend, fordert Stich-Crelinger eine umfassende Entschärfung der Weiblichkeitskonzeption. Nicht nur sei die Beschreibung der Hochzeitsnacht „für das Theater bei weitem zu durchsichtig“,47 vielmehr bedürfe der explizite Verweis auf Judiths Weiblichkeit, „besonders die Stelle ‚Weib ist Weib‘“, „mancher Veränderung.“48 Für Judiths Klage über die eigene, beim Kuss wahrgenommenen sexuelle Verfügbarkeit gelte das Gleiche. 49 Überhaupt zeigt Stich-Crelinger, die die Titelrolle der Berliner Uraufführung der Judith übernehmen wird, wenig Verständnis für die geschlechterpsychologisch fundierte Motivierung der Handlung: Sie wünsche gerne zu wissen, inwiefern die Schilderung des Hochzeitsabends „zur Charakteristik der Judith beitragen soll.“50 Hebbels Antwort, die leider nur fragmentarisch in seinem Tagebuch überliefert ist, bestätigt die angeführte These von der Veranschaulichung der geschlechtsspezifischen Psychodynamik als intendierter Motivierungsstrategie. Es geht vor allem um das Abweichen vom biblisch vorgeschriebenen Witwentum Judiths. Denn durch die Einführung des Unheimlichen, das zum Versagen des Ehemanns führt und worin Freud die literarische Antizipation des „Tabus der Virginität“ sah,51 bleibt Hebbels || 46 Der Text ist abdruckt in: Richard Maria Werner und Walther Bloch (Hg.): Hebbel-Kalender für 1905. Berlin 1904, S. 208–212. Vgl. dazu noch Hildegard Stern: Friedrich Hebbels „Judith“ auf der deutschen Bühne. Kiel 1927, S. 16f. 47 Richard Maria Werner: Hebbel-Kalender für 1905, S. 210. 48 Richard Maria Werner: Hebbel-Kalender für 1905, S. 210. 49 Richard Maria Werner: Hebbel-Kalender für 1905, S. 210: „Für Pag. 43, 44 und 47 gilt dasselbe.“ – Seiten 43–44 des Bühnenmanuskripts entsprechen W 1, S. 60, Zeilen 22ff. Die Kritik der Schauspielerin hat sich teilweise durchgesetzt: Die Vergewaltigungsphantasie des Holofernes, die mit „Weib und Weib“ anfängt, wurde gestrichen. Vgl. dazu die Erläuterung in W 13, S. 24. 50 Richard Maria Werner: Hebbel-Kalender für 1905, S. 210. 51 Vgl. Sigmund Freud: Das Tabu der Virginität. In: ders.: Studienausgabe. Band V: Sexualleben, hg. von Alexander Mitscherlich u. a. Frankfurt a. M. 1972, S. 211–228. Über Hebbel vgl. S. 226ff. Bekanntlich führt Freud das Tabu der Entjungferung und das Ritual des künstlichen Durchbohrens

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Judith jungfräulich. Zwar ist Hebbel nicht der Erfinder dieser Zwischenkonstellation; ein 1818 in Zerbst anonym erschienenes Judith-Drama, das in billiger Imitation des Jiddischen das antisemitische und misogynes Ressentiment zum Zweck der Dämonisierung der Judith miteinander verknüpft, hatte sie bereits zuvor als eine jungfräuliche Witwe gezeigt.52 Hartmut Reinhardt legt jedoch überzeugend nahe, dass es sich bei der unbefleckten Witwenschaft der Hebbelschen Judith sehr wohl um eine Übernahme aus Ludwig Uhlands Trauerspiel Ernst, Herzog von Schwaben handelt.53 Allerdings hat Hebbel diese unkonventionelle Entscheidung mit der Notwendigkeit der dramatischen Motivierung begründet, die – wie oben mehrmals dargelegt – seiner Überzeugung nach in der seelischen Dynamik des Charakters verankert sein müsse: (über die Hochzeitsnacht) Die Judith d Bibel ist eine Wittwe; eine Wittwe aber kann nicht mehr empfinden, was meine Judith in dem gegebenen Fall noch empfinden mußte, wenn ich die Dichtung zu ihrem Wende- u Höhepunct führen wollte; eine Wittwe darf sich zu einem Schritt, dessen Ziel sie kennt, nicht einmal entschließen, wohl aber ein Mädchen u eine Wittwe, die noch Mädchen ist. (TBR 1870 / TBW 1931)

|| vom Hymen auf den „Penisneid“ der Frau zurück, der sich bei der ersten Begegnung mit dem männlichen Genital mit Ablehnung auslässt: „[D]aß sich die unfertige Sexualität des Weibes an dem Manne entlädt, der sie zuerst den Sexualakt kennen lernt.“ (S. 225) Die Phantasie der Kastration, für die das Köpfen symbolisch steht, sei als Rache für die Defloration von Hebbel literarisch umgestaltet worden (S. 226). Während die Konstatierung eines Phallusneids bei Hebbels Judith nicht sehr überzeugend zu sein scheint, könnten manche Stellen der Erzählung über die Hochzeit tatsächlich als Spuren eines psychoanalytischen Feingespürs vor Freud gedeutet werden. Judith schaut zum Beispiel bei ihrem Gang zu Manasses zuweilen zu ihrem Vater auf, „dann dacht ich: Manasses sieht gewiß anders aus.“ (II; W 1, S. 16) Nimmt diese Szene nicht etwa das weibliche Pendant der ödipalen Intimität zum andersgeschlechtlichen Elternteil vorweg? Jedenfalls schreibt Freud in „Tabu der Virginität“: „Es handelt sich dabei um festgehaltene Sexualwünsche der Kindheit, beim Weibe zumeist um Fixierung der Libido an den Vater oder an den ihn ersetzenden Bruder […]. Der Ehemann ist sozusagen immer nur ein Ersatzmann, niemals der Richtige; den ersten Satz auf die Liebesfähigkeit der Frau hat ein anderer, in typischen Fällen der Vater, er höchstens den zweiten.“ (S. 224) Vgl. ferner Mary Jacobus und Elfriede Lochel: Judith, Holofernes und die phallische Frau. In: Barbara Vinken (Hg.): Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika. Frankfurt a. M. 1992, S. 62–95; sowie Isidor Sadger: Friedrich Hebbel. Ein psychoanalytischer Versuch. Wien 1920. 52 [Anonymus]: Judith und Holofernes, Zerbst 1818, hg. von Gabrijela Mecky Zaragoza. München 2005. Zum jungfräulichen Witwentum vgl. die Erzählung von Judiths Magd Abra (III/5): „Ane Kalle ist se gewesen – Is getraut worden ahch […].“ (S. 81) Der Anonymus stellt neben Judith und Holofernes noch einen Adramelech, „Satans erster Minister“ (S. 44), dar, um den vermeintlich göttlichen Auftrag als teuflische List zu verleumden. 53 Vgl. den Hinweis bei Hartmut Reinhardt: Apologie der Tragödie, S. 94. Die durchaus plausible Annahme wird neben der im Tagebuch (TBR 1816 / TBW 1875) festgehaltenen Erinnerung über die Lektüre des besagten Dramas am Tag vor Neujahrsabend 1840 noch durch ein weiteres Zeugnis unterstützt: Im geplanten Vorwort zur Buchausgabe der Judith nimmt Hebbel zwar kritisch, jedoch explizit Bezug auf Uhlands Dramen Herzog von Schwaben. Vgl. TBR 2205 / TBW 2265.

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Es kommt bei Hebbel also vor allem auf die psychologische Authentizität und Plausibilität der Empfindungen der Protagonistin an – ein Leitprinzip, das schon die historiographische Korrektur der Schillerschen Jungfrau von Orleans geprägt hatte. Die konzeptionelle Entscheidung zur bewussten Abänderung beweist der Tagebucheintrag von 3. Januar 1840, in dem die dramaturgischen Überlegungen dokumentiert sind: Wegen meiner Judith befinde ich mich jetzt in einer inneren Verlegenheit. Die Judith der Bibel kann ich nicht brauchen. Dort ist Judith eine Wittwe, die den Holofernes durch List und Schlauheit in’s Netz lockt […]. Nur aus einer jungfräulichen Seele kann ein Muth hervor gehen, der sich dem Ungeheuersten gewachsen fühlt [.] Die Wittwe muß daher gestrichen werden. Aber – eine jungfräuliche Seele kann Alles opfern, nur nicht sich selbst, denn mit ihrer Reinheit fällt das Fundament ihrer Kraft, sie kann die Zinsen ihrer Unschuld nicht mehr haben, sobald sie ihre Unschuld selbst verlor. Ich habe jetzt die Judith zwischen Weib und Jungfrau in die Mitte gestellt und ihre That hiedurch ∫so∫ allerdings motivirt [.] (TBR 1813 / TBW 1872)

Die Einschränkung der beschriebenen Kraft auf die Keuschheit einer „jungfräulichen Seele“ darf als Übernahme desselben Motivs aus Schillers Die Jungfrau von Orleans betrachtet werden: „Eine reine Jungfrau / Vollbringt jedwedes Herrliche auf Erden, / Wenn sie der ird’schen Liebe widersteht.“ (I/10; FA 5, S. 187) Vor allem ist aber die These, nur eine jungfräuliche Witwe vermöge sich zu jenem Schritt zu entschließen, interpretatorisch von Interesse, da sie klarstellt, dass der innere Beweggrund für Judith, zu Holofernes zu gehen, trotz des vorgeblichen missionarischen in Wirklichkeit ihr Sexualtrieb ist: Sie möchte mit diesem Stellvertreter der Männlichkeit die versäumte sexuelle Entelechie nachholen. Dass es im Falle Judiths primär um ihre Bemühung geht, sich vollständig in ihrer vollständigen Weiblichkeit zu erleben und sich dadurch aus dem Dilemma des jungfräulichen Witwentums endgültig zu befreien, illustrieren ihre Worte unmittelbar nach der Tat: Mirza, Du bist ein Mädchen. Laß mich hineinleuchten in das Heiligthum Deiner Mädchenseele. Ein Mädchen ist ein thörigtes Wesen, das vor seinen eigenen Träumen zittert, weil ein Traum es tödtlich verletzten kann, und das doch nur von der Hoffnung lebt, nicht ewig ein Mädchen zu bleiben. (V; W 1, S. 68f.)

Sowohl der tödliche Traum als auch die Hoffnung verweisen auf den Moment der Defloration, den wichtigsten der gesamten jungfräulichen Existenz: „Für ein Mädchen gibt es keinen größeren Moment, als den, wo es aufhört, eins zu sein“ (V; W 1, S. 69). Gerade weil dieser höchst bedeutsame Augenblick der Entjungferung zu-

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gleich als Entwürdigung, ja seelische Vernichtung der Betroffenen desillusioniert wird, schlägt die Sehnsucht in Rachelust um.54 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Hebbel in Abgrenzung zu Schiller eine Strategie der konsequenten Psychologisierung bei der Gestaltung seiner JudithFigur umsetzt, die er als Korrektur zu Schillers Johanna konzipiert. Die seelische Dynamik, die den dramatischen Konflikt motiviert, ist bei Hebbel geschlechterspezifisch angelegt. Sie befasst sich mit der nie explizit ausgesprochenen Vorstellung von weiblicher Sexualität, die handlungsbestimmend jeden Schritt der im Dilemma zwischen unerfüllter sexueller Lust und nicht übertretbarer gesellschaftlicher Norm gefangenen Protagonistin bedingt, herausfordert und damit plausibilisiert. Hebbel lässt sich somit auf ein Thema zeitgenössischen Unbehagens ein,55 indem er die weibliche Begierde zwar dramatisch problematisiert, aber gerade dadurch als evident anerkennt. Wiederum ist der Blick in die Tiefe und Düsternis der menschlichen Psyche eine bewusste Kritik an dem idealisierenden Verfahren Schillers. Denn Hebbel erachtet Dichtkunst für einen Geist, der in jede Form der Existenz u in jeden Zustand des Existirenden, hinuntersteigen, u von jener die Bedingnisse, von | diesem die Grundfäden erfassen u zur Anschauung bringen soll. […] Dies geschieht freilich nicht, wenn wir die Natur in eine ihr nicht gemäße, sog. höhere Region hinüber führen […]. Das geschieht nicht, wenn wir mit Schiller des Mschen Angesicht durch ein Vergrößerungsglas betrachten u d Hintern entweder gar nicht, oder durch ein Verkleinerungsglas. (TBR 524 / TBW 538)

Die Dichtung erhält somit eine psychoanalytische Aufgabe, da sie dazu berufen ist, in die menschliche Seele einzutauchen, Bedingungen und Regeln ihrer Existenz zu ergründen und aufzuzeigen. Ausdrücklich verzichtet Hebbel auf die Glorifizierung und die edleren Motiv des Menschengeschlechts – auf die Vergrößerung des „Angesichts“ also – und fordert stattdessen eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem „Hintern“, dem Unanständig-Frivolen, wie etwa den sexuellen Trieben, weil nur dadurch Erkenntnis über die eigentlichen Grundlage des menschlichen Seins und Handelns erreicht werden könne. Die mikroskopische Untersuchung des vermeintlich Harmlosen wirkt zwar oft erschreckend wirkt – es sei an jene Worte Meister || 54 Vgl. hierzu Andrea Tischel: Tragödie der Geschlechter. Studien zur Dramatik Friedrich Hebbels. Freiburg 2002, S. 61. Tischels Interpretation geht entschieden von einer sexualpsychologischen Fragestellung aus. Vor dem Hintergrund der Erniedrigung der Frau im gewaltsamen Geschlechtsakt scheine die wahre Tragödie Judiths „in der desillusionierenden Wunscherfüllung zu bestehen. Der ersehnte Augenblick wird zur Erniedrigung, in dem das ‚Heilige‘ gemordet wird.“ (S. 61) Allerdings muss nachgefragt werden: Wozu denn überhaupt eine biblische Heldin nehmen, wenn die gesamte tragische Konstellation ausschließlich auf die sexuelle Desillusionierung zu reduzieren wäre? 55 Gemeint ist die Problematik der Emanzipation der Weiblichkeit in Anbetracht ihrer sinnlichsexuellen Berechtigung. Gerade mit den Schriften der jungdeutschen Bewegung, allen voran mit Gutzkows Skandalroman Wally, die Zweiflerin, wurde eine heftige Kontroverse ausgelöst. Zu diesem literaturhistorischen Hintergrund vgl. Hartmut Reinhardt: Apologie der Tragödie, S. 93ff.

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Antons erinnert, dass er, nachdem er ein Glas Wasser durchs Mikroskop betrachtet habe, den ganzen Tag nicht mehr trinken wolle (II/1; W 2, S. 39), – doch die existentielle Problematik des Lebens kann allein durch tiefgehende Beschäftigung mit derselben enthüllt werden. Da aber die Poesie eher „im Erfassen des Kerns der Dinge und nicht im hohlen Ueberpinseln der Wahrheit mit idealer Schminke“ bestehe, wie Hebbel in seiner Geschichte der Jungfrau von Orleans abschließend gegen Schiller polemisiert (W 9, S. 267), so ist die psychologische Motivierung qua sexuell dargestellter Weiblichkeit, wie hier im Zeugnis der kritischen Schiller-Rezeption der Judith geschehen, geradezu notwendig.

5.3.4 Die Motivverschiebung Es stellt sich nun aber die Frage, wie die konsequente Psychologisierung in Hebbels Judith vollzogen wird. Offenbar genügt die biblische Erzählung der Judith-Legende nicht dem gewünschten Maßstab seelischer Komplexität, die für die Plastizität der dargestellten Figur notwendig ist. „Das Faktum, daß ein ein verschlagenes Weib vor Zeiten einem Helden den Kopf abschlug, ließ mich gleichgültig, ja es empörte mich in der Art, wie die Bibel es zum Teil erzählt.“ (W 15, S. 4) Die Judith der Bibel setzt bekanntermaßen bewusst und mit Erfolg Täuschung und sexuelle Verführung ein,56 um Holofernes im Rausch zu umgarnen und anschließend zu töten. Aber weniger die Enthauptung an sich als vielmehr die Narration derselben scheint dem Dramatiker problematisch zu sein. Die Ursache für seine Unzufriedenheit kann nur darin bestehen, dass das biblische Erzählverfahren eine semantische Eindeutigkeit sowohl hinsichtlich der Motivation als auch in der Deutung der Tat anstrebt, die weder Interpretation noch Umgestaltung zulässt. Die narrative Beseitigung dieser Ambivalenz macht jedoch eine dramatische Anreicherung des Seelenkonflikts unmöglich. Die Tat der biblischen Judith wird unmissverständlich als Vollstreckung des göttlichen Willens stilisiert. Ausdrücklich ruft sie im Augenblick der Enthauptung Holofernes’ Gott an und fleht um Kraft: „[V]nd [Judith] sprach abermal / HERR Gott stercke mich in dieser Stunde / Vnd sie hieb zweymal in den Hals mit aller macht.“57 Sie verweist die Hebräer auf Gott als die eigentliche Kraft hinter der Befreiung vom heidnischen Unterdrücker: „DAncket dem HERRN vnserm Gotte / der nicht verlesst die jenigen so auff jn trawen / vnd hat vns barmhertzigkeit erzeigt […].“58 Selbst die physische Schönheit Judiths wird von der Erzählinstanz als göttliche Gnade und

|| 56 Vgl. Jdt 12, 16f: „VND sie stund auff vnd schmücket sich / vnd gieng hin ein fur jn / vnd stund fur jm. Da wallet dem Holofernes sein hertz / Denn er war entzündet mit brunst gegen jr.“ D. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Bd. 2, S. 1961. 57 Jdt 13,8f. D. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Bd. 2, S. 1692. 58 Jdt 13.17. D. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Bd. 2, S. 1693.

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gleichzeitiges Gotteslob bezeichnet: „Vnd der HERR gab jr gnade / das sie lieblich anzusehen war / Denn sie schmücket sich nicht aus furwitz / sondern Gotte zu lob.“59 Die sexuelle Verführung geschah demnach eindeutig auf göttliches Geheiß. Entscheidend ist jedoch, dass in der biblischen Erzählung kein Geschlechtsakt stattfindet und Judith explizit auf ihre Unbeflecktheit verweist: „So war der HERR lebt / hat er mich durch seinen Engel behüt / das ich nicht bin verunreiniget worden / so lange ich bin aussen gewesen / vnd hat mich on sunde wider her bracht / mit grossen freuden vnd Sieg.“60 Das Ausbleiben der Vergewaltigung hebt zwar die schützende Allmacht Gottes hervor, steht allerdings im Widerspruch zu der narrativ vergegenwärtigten Genealogie der Judith als Nachfahrin des Simeon, der zusammen mit seinem Bruder Levi deren geschändete Schwester Dina gerächt hat.61 Die Tötung des assyrischen Heerführers in der biblischen Erzählung kann folgerichtig nicht als Vergeltung eines unmittelbar vorangegangenen Verbrechens betrachtet werden, denn schließlich wurde der Mord nicht an dem Vergewaltiger, sondern am heidnischen Feldherrn Holofernes, der erst mit weiblicher Hinterlist zu Fall gebracht werden konnte, begangen. Insofern fehlt der heilsgeschichtlich zwar notwendigen Tat eine individualpsychologische Dringlichkeit, und sie wirkt umso ungeheuerlicher, je mehr sie glorifiziert wird. Aus eben diesem Grund ist die biblische Judith für Hebbel ungeeignet. Mit einer Bezugnahme auf die Marat-Mörderin Charlotte Corday erläutert Hebbel in „Mein Wort über das Drama!“ die Problematik der biblischen Vorlage: [D]ie Judith der Bibel ist eben nichts, als eine Charlotte Corday, ein fanatisch-listiges Ungeheuer, sie singt und tanzt drei Tage lang um die Bundeslade und giebt ihren ‚lieben Brüdern‘ in den Aufathmungs-Pausen die Versicherung, daß sie von dem gräulichen Tyrannen keineswegs ‚verunreinigt‘ worden sei. (W 11, S. 14)

Bereits im Juli 1840 schrieb Hebbel an Elise Lensing, dass Judiths Bluttat nur dadurch als menschlich angesehen werden könnte, „daß sie sich selbst rächt, daß sie Mord gegen Mord setzt! Hätte sie nicht ihr Selbst an Holofernes verloren, so wür-

|| 59 Jdt 10,5. D. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Bd. 2, S. 1688. 60 Jdt 13,20. D. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Bd. 2, S. 1693. 61 Vgl. 1. Moses 34. Zusammen mit seinem Bruder Levi rächte Simeon die von Sichem, dem Fürstensohn der Hiwiter, vergewaltigte Schwester Dina, indem die beiden Brüder alle männlichen Angehörigen des Stamms töteten. Der Vater Simeons, Jakob, verurteilt jedoch die blutige Vergeltung. Die ursprüngliche Ambiguität im Alten Testament wird dadurch beseitigt, dass die Aufzählung der Vorfahren nur bis Simeon zurückreicht (also der Name Jakob unerwähnt bleibt) und sich Judith explizit an die Tat des Simeons als das eigene Vorbild erinnert. Vgl. Jdt 9,2. D. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Bd. 2, S. 1687: „HERR Gott meines vaters Simeon / dem du das Schwert gegeben hast / die Heiden zustraffen / so die Jungfraw genotzüchtiget vnd zuschanden gemacht hatten […] / Hilff mir armen Widwen / HERR mein Gott.“

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de ihre That durchaus abscheulich sein!“ 62 Erst die Realität einer am eigenen Leibe erlittenen Erniedrigung rechtfertige psychologisch den radikalen Schritt und mache die Protagonistin der Tragödie würdig. Denn ein Weib, „das eine so ungeheure That nicht noch vor dem Vollbringen bezahlt, das vorher nicht moralisch und sittlich eben dasselbe leidet, was sie ihrem Feinde nachher psychisch zufügt, ist Alles, nur keine tragische Heldin.“ (W 11, S. 14) Da allerdings erst die gewaltsame Defloration Judiths ihre Racheetat menschlich vertretbar macht, muss dieser Mord als eine spontane Reaktion und nicht etwa als vorsätzlich geplante Ausführung erfolgen. Dramatisch verweist die Spontaneität auf eine Abweichung, die nur von jener in Abgrenzung zu Schiller formulierten Ästhetik des werdenden und wandelnden Charakters realisiert werden kann. Die biblisch festgehaltene leibliche Unberührtheit der Judith spielt auf ihre seelische Konsistenz an und symbolisiert die Eindimensionalität der epischen Figur, die ihre gottgegebenene Schönheit lediglich zur Erfüllung des heilsgeschichtlichen Auftrags einsetzt, die sich aber nie als ein begehrendes und durch Begierde verletzbares Individuum erfährt. Schon Freud erkennt scharfsinnig, dass der patriotische Vorwand Judith nur der Verdeckung ihres sexuellen Triebs gedient haben muss.63 Die Divergenz der Motive offenbart sich noch deutlicher unmittelbar nach der Tat, da Judith sich in diesem Augenblick ihres eigentlichen Beweggrunds gewahr wird. „Nichts trieb mich, als der Gedanke an mich selbst“ (V; W 1, S. 72), sagt Judith verzweifelt zu Mirza nach dem vollbrachten Mord. Die allgemeine Not wurde angesichts der verwirrenden Innendynamik vergessen und erst im Nachhinein apologetisch wieder in Erinnerung gerufen: „Warum ich kam? Das Elend meines Volks peitschte mich hierher […]. O, nun bin ich wieder mit mir ausgesöhnt. Dies Alles hatt’ ich über mich selbst vergessen!“ (V; W 1, S. 72) Sie nimmt an Holofernes Rache nicht für das Leiden Bethulias, sondern ausschließlich für sich selbst, genauer: für die schmerzvolle Erniedrigung ihres Selbst zum gemeinen Rauschmittel des Mannes und für die Verdinglichung ihrer Weiblichkeit zum sexuellen Lustobjekt. Sie rächt sich „für den rohen Griff in meine Menschheit hinein“ (V; W 1, S. 68). Die religiöse und weltgeschichtliche Signifikanz ihrer Tat ist in Ansehung ihrer persönlichen Motive nur sekundär. In einem weiteren Brief an die Schauspielerin Stich-Crelinger, der ebenfalls abschriftlich ins Tagebuch eingetragen ist, legt Hebbel den vielschichtigen psychologischen Vorgang Judiths auseinander: „Jetzt führt s. d That aus, sie führt s. aus auf Gottes Geheiß, aber sie ist sich in dem ungeheuren Moment, der ihr ganzes Ich verwirrt, nur ihrer persönlichen Gründe bewußt […].“ (TBR 1928 / TBW 1989) Diese auktoriale Interpretation des Selbst zerschlägt die Eindeutigkeit des Sinngehalts der

|| 62 B 186, an Elise Lensing, datiert 1.–26. Juli 1840. WBA 1, S. 356. 63 Vgl. Sigmund Freud: Das Tabu der Virginität, S. 226.

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biblischen Überlieferung dergestalt, dass sie gerade die konfliktreiche psychologische Wurzel jenes berühmt-berüchtigten Akts akzentuiert, der von der postulierten Semantik der göttlichen Erlösung abweicht. Die strukturelle Diskrepanz und die faktische Koinzidenz von „Gottes Geheiß“ und „persönlichen Gründen“, auf der das ganze Stück beruht, behält noch in der historiographischen Darstellung ihre weltgeschichtliche Gültigkeit. In den einleitenden Passagen zu seiner Geschichte des dreizigjährigen Kriegs konstatiert Hebbel, dass dieser Krieg im Unterschied zu allen vorherigen „einer Idee, eines geistigen Besitzes“ wegen geführt worden sei: „Wenn auch bei den einzelnen Kriegsführern Nebenzwecke mit in’s Spiel kamen, im Allgemeinen handelte es sich doch nur um religiöse Duldung […].“ (W 9, S. 75) Die Existenz von Partikularinteressen im geschichtlichen Handeln und die damit verbundene Abkopplung der privaten Zielsetzung von der allgemeinen Idee der historischen Entwicklung wird hier bestätigt. Ferner weist die Trennung der persönlichen Gründe vom göttlichen Gebot auf eine faktische Motivverschiebung hin, die Hebbel zufolge gerade für die Dramatiker, deren Aufgabe in der dichterischen Zeichnung einer sich stets verändernden, daher „lebendigen Gestalt“ bestehe, von Bedeutung sei: „Die Motive vor einer That verwandeln sich meistens während der That und scheinen wenigstens nach der That ganz anders: dies ist ein wichtiger Umstand, den die meisten Dramatiker übersehen.“ (TBR 1697 / TBW 1756) Die Inkohärenz der Triebkräfte ist deshalb zu betonen, weil sie die Wandelbarkeit des Charakters im Spannungsverhältnis sowohl mit der Welt als auch mit der vorangegangenen Tat, mithin die psychologische Glaubwürdigkeit hervorhebt. Im Falle Judith sei es „gerade diese Motivverschiebung vom Patriotisch-Religiösen ins Weiblich-Natürliche“, die die Heldin „menschlich“ mache, wie Helmut Kreuzer zu Recht formuliert.64 Nur das plötzliche Hinzukommen eines weiteren, bisher verborgenen Motivs könne Hebbels Ansicht nach die „große Wirkung“ des Dramas entfalten: „Von großer Wirkung ist es im Drama, wenn ein ∫die∫ Motiv∫e∫ auf ein ganz bestimmtes, dem Leser und Zuschauer deutliches Ziel hinzuwirken scheinen, und dann plötzlich außer diesem noch ein ganz andres, ungeahntes und unvorhergesehenes erreichen.“ (TBR 2612 / TBW 2688) Die Prämisse für diesen „Doppelschlag“ ist aber, dass der Charakter modifizierbar bleibt, nicht an eine vorbestimmte Agenda gekettet, also nicht statisch wirkt wie die Schillerschen, die Hebbel in seinem früheren Aufsatz über Kleist und Körner als „gehalten“ (W 9, S. 39) abwertend bezeichnet hatte. Deutlich zeigt sich, dass der theoretische Ansatz eines wirksamen Motivwechsels der Ästhetik des Werdens und der lebendigen Gestalt als seiner Voraussetzung bedarf. Diese aber wurde erst in der kritischen Auseinandersetzung mit Schiller erarbeitet. Deshalb ist einerseits zu

|| 64 Vgl. Helmut Kreuzer: Die Jungfrau in Waffen. Hebbels „Judith“ und ihre Geschwister von Schiller bis Sartre. In: ders. (Hg.): Friedrich Hebbel. Wege der Forschung. Darmstadt 1989, S. 276–304, hier S. 293.

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schlussfolgern, dass Hebbels kritische Schiller-Rezeption seinem künstlerischen Gestaltungsprinzip der Judith zugrunde liegt. Andererseits bezeugt gerade die ästhetisch begründete und dramaturgisch wirkungsvoll inszenierte Verschiebung der Motive wiederum die Nähe des Hebbelschen Denkens zu Schiller. Nicht nur kann der aus Leidenschaft und Rache begangene Mord an Holofernes, der ja den heilsgeschichtlichen Auftrag Judiths erfüllt, mit Hegel die „List der Vernunft“ genannt werden, die „die Leidenschaften für sich wirken läßt, wobei das, durch was sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Schaden leidet.“65 Die Funktionalisierung der persönlichen Triebe im Dienst der Verwirklichung der Idee, für die jedoch das Individuum aufgeopfert werden muss, identifizierte Hebbel als das „vornehmste tragische Motiv“ (TBR 997 / TBW 1011) in der Geschichte der Jungfrau von Orleans. Doch die Diskrepanz zwischen der individuellen Zielsetzung und der weltgeschichtlichen Teleologie, deren Realisierung das Subjekt durch sein persönliches Handeln unbewusst befördert, benannte bereits Schiller in seiner Antrittsvorlesung als eine zentrale These der universalhistorischen Rekonstruktion: Wie regellos auf die Freiheit des Menschen mit dem Weltverlauf zu schalten scheine, ruhig sieht sie [= die Geschichte, M. M.] dem verworrenen Spiele zu: denn ihr weitreichender Blick entdeckt schon von ferne, wo diese regellos schweifende Freiheit am Bande der Notwendigkeit geleitet wird. Was sie dem strafenden Gewissen eines Gregors und Cromwells geheim hält, eilt sie der Menschheit zu offenbaren: „daß der selbstsüchtige Mensch niedrige Zwecke zwar verfolgen kann, aber unbewußt vortreffliche befördert.“ (FA 7, S. 430)

Freilich geht es in der Antrittsvorlesung um die akademische Erläuterung der Forschungsmethodik. Aber gerade die Einsicht in die Koinzidenz der weltgeschichtlichen Notwendigkeit und der eigennützigen Tätigkeit des Menschen liegt dem Entwurf jener Tragik zugrunde, die sich in Hebbels Judith manifestiert. Insofern erweist sich die Schiller-Lektüre in doppelter Hinsicht als konstruktiv für das Verständnis der Hebbelschen Judith: Sowohl das ästhetische Gestaltungsprinzip als auch die Konzeption des tragischen Seelenkonflikts des Menschen können auf Hebbels Schiller-Rezeption zurückgeführt werden.

|| 65 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, hg. von Theodor Litt. Stuttgart 2002, S. 78.

172 | Weiblichkeit und Psychologie der Amazonen

5.4 Judith und Johanna: Hebbel mit Schiller 5.4.1 Zeitgenössische Rezeption von Hebbels Judith Im Hinblick auf die Dramenästhetik erweist sich Hebbels Judith als eine bewusste Gegenkonzeption zu Schillers „romantischer Tragödie“ Die Jungfrau von Orleans. Die innere Wahlverwandtschaft zwischen der biblischen Judith und der historischen Jeanne d’Arc sowie die konträre Positionierung ihrer jeweiligen literarischen Neubearbeitung bei Hebbel und Schiller sind weder Hebbels Zeitgenossen noch der Forschung entgangen. In seiner grundliegenden Studie zur Figuration der bewaffneten Jungfrau zeichnet Helmut Kreuzer jene bedeutende Entwicklungslinie, die von Schillers Die Jungfrau von Orleans ausgeht und in deren Mittelpunkt neben Kleists Penthesilea auch Hebbels Judith steht.66 Die gleiche Konstellation kehrt in Hans Mayers großartigem Essay über die „Außenseiter“ zurück, der die Genealogie der Frauen mit Waffen als Herausforderung einer patriarchisch strukturierten bürgerlichen Gesellschaftsordnung begreift.67 Doch schon unmittelbar nach dem Erscheinen des Hebbelschen Werks wurde diese stoffliche Nähe hervorgehoben. In seiner Besprechung über die Hamburger Uraufführung der Judith 1840 legt Gutzkow die Parallelität der beiden weiblichen Figuren und die dahinterstehende biblische Tradition der Heroinnen nahe: „Judith ist eine jener jüdischen Jeannes d’Arc, von denen die Bibel öfters erzählt.“68 Er plädiert für eine religiöse Lösung des Gestaltungsproblems, nämlich die Handlung als ad majorem Dei gloriam zu begreifen, sodass „der religiöse Duft der Historie in uns jede andere moralische Imputation unterdrückt.“69 Ludolf Wienbarg stellt in seiner Rezension zur Buchfassung der Judith ebenfalls die Ähnlichkeit zwischen Judith und Johanna fest, und zwar dergestalt, dass er die beiden Stücke auf dieselbe tragische Grundlage zurückführt: Die Judith unsers Dichters ist gleichfalls eine andere wie die der Bibel […]. [N]un verrichtet sie die That, nicht als Heroin ihres Gottes, ihres Volks, sondern als beleidigtes Weib, fühlt, daß sie ihre Heldenschaft eingebüßt hat und ist voll Schaam über die Lobpreisungen, die sie in ihrer Vaterstadt empfangen. Und dies ist das Tragische der Judith Hebbels, die gleich Schillers ‚Jungfrau von Orleans’, in ihrem Heldencharakter an der Weiblichkeit scheitert, aber noch ein

|| 66 Vgl. Helmut Kreuzer: Die Jungfrau in Waffen. 67 Vgl. Hans Mayer: Außenseiter. 68 Karl Gutzkow: Judith und Holofernes. In: Telegraph für Deutschland 1840. Nr. 200, S. 797–800. Wiederabgedruckt in: ders.: Schriften Bd. II: Literaturkritisch-Publizistisches; AutobiographischItinerarisches, hg. von Adrian Hummel. Frankfurt 1998, S. 1245–1255, hier S. 1246. 69 Karl Gutzkow: Judith und Holofernes, S. 1247.

Judith und Johanna: Hebbel mit Schiller | 173

wenig weiter geht und nur darin, daß sie geschändet, ja nur darin, daß sie trunkenen Muthes geschändet wird, zum vernichtenden Gefühle ihrer eingebüßten Weihe gelangt.70

Wienbarg erkennt zunächst die Unterschiede zwischen der biblischen Vorlage und ihrer literarischen Variation, um dann die Tragödie der Protagonistin weniger als eine religiöse denn eine primär psychische aufzufassen, indem er jene Diskrepanz auf die Ebene der verschobenen Motivation überträgt. Hebbels Judith – und mit ihr auch Schillers Johanna – agiere Wienbarg zufolge nicht im göttlichen Auftrag, sondern allein aus privater Empörung, die die erlittene Schmach am eigenen Leibe auslöst. In Holofernes räche Judith „nur ihre beleidigte Weiblichkeit“ und gerade in ihrem „Gefühl“ bestehe das Tragische in ihr.71 Das Infragestellen der vermeintlichen Eindeutigkeit der Erlösungssemantik in der biblischen Narration durch Einbeziehen eines dem intimen Bereich der Seele entstammenden, vorher ungeahnten Motivs hebt die Ambiguität des Triumphs hervor.72 Gerade die Zwiespältigkeit der Deutungsmöglichkeiten führt die Tragik der beiden Heldinnen herbei. Dass aber die Zeitgenossen Hebbels Spiel der Ambivalenz nicht mitspielen wollten, ist evident. Während sich Wienbarg, trotz deutlich spürbarer ablehnender Tendenz noch diplomatisch einem definitiv wertenden Urteil über Hebbels Verfahren der Verlagerung des tragischen Konflikts ins Innere der Seele entzieht,73 macht Gutzkow hingegen keinen Hehl aus seinem Unmut über die Psychologisierung der dramatischen Judith-Figur: Wir sind der festen Überzeugung, daß die Aufgabe einer jüdischen Jeanne d’Arc auch nur jüdisch, d.h. religiös zu lösen ist. […] [E]ine Judith aber, als Seelengemälde, als Präparat der Gemüthsanatomie, ist ein Gegenstand für Moritzens psychologisches Magazin, nicht für die Poesie, am wenigsten für das Drama.74

Konsequenterweise wurde in zeitgenössischen Theaterbearbeitungen der Judith die Darstellung ihrer sexuellen Triebhaftigkeit, wie Hildegard Sterns Untersuchung zeigt, massiv geschwächt, sodass die biblisch vorkodierte heilsgeschichtliche Eindeutigkeit wieder mehr Raum gewann.75

|| 70 [Ludolf Wienbarg]: Judith. In: Börsen-Halle. Deutsches Literaturblatt. No. 40. Sonnabend, den 3. July. 1841; No. 41. Sonnabend, den 10. July. 1841. In: ders.(Hg.): Deutsches Literaturblatt. Beilage zu „Literarische und kritische Blätter der Börsen=Halle“. Frankfurt a. M. 1971, S. 105–112, hier 107. 71 [Ludolf Wienbarg]: Judith, S. 111. 72 Vgl. hierzu Ernst Osterkamp: Judith, S. 175. 73 Vgl. [Ludolf Wienbarg]: Judith, S. 107: „Ob die That der Judith, herausgerissen aus dem Feuer der national=religiösen Idee, dadurch erklärlicher wird, […] ob schöner, menschlicher, also dichterischer dadurch, stellen wir einem tieferen Gefühle anheim.“ 74 Karl Gutzkow: Judith und Holofernes, S. 1247. 75 Vgl. Hildegard Stern: Friedrich Hebbels „Judith“ auf der deutschen Bühne, S. 33–43. Schlüsselstellen wie Judiths Bekenntnis („Nichts trieb ich, als der Gedanke an mich selbst“), oder die vielen Küsse in Holofernes’ Lager werden ersatzlos gestrichen. Andere, wie das Holofernesche Wort „Dies

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5.4.2 Die Weiblichkeit in Schillers „romantischer Tragödie“ Dennoch trifft Wienbargs These, dass sowohl Hebbels Judith als auch Schillers Johanna an ihrer Weiblichkeit scheitern, den Kern der beiden tragischen Konzeptionen, weil sich beide nicht zuletzt kritisch mit der herkömmlichen Weiblichkeitsvorstellung um 1800 auseinandergesetzt haben. Die Thematisierung der geschlechtlichen Polarität, ja der Restauration einer patriarchalisch-hierarchischen Ordnung der Geschlechter im deutschen Diskurs zum Beginn des 19. Jahrhunderts kann Inge Stephan zufolge als Versuch einer „Neukonstituierung eines Herrschaftsverhältnisses“ interpretiert werden. 76 Die Problematisierung der kämpfenden Frauen als „weibliche[r] Hölle“ kennzeichnet den Prozess der „bürgerlichen Gegenaufklärung“, die, auf einer konventionellen Rollenverteilung der Geschlechter bestehend, die im Zuge der Aufklärung und der Französischen Revolution errungene Prämisse der geschlechterunabhängigen Gleichheit wieder zurücknimmt, wie Hans Mayer überzeugend beschreibt.77 Die Motivgeschichte der geharnischten Frauen muss als eine Geschichte der Problematisierung ihrer Antiweiblichkeit betrachtet werden, da sie, als „weibliche Anomalie“ der „öffentlichen Frau“ denunziert,78 gerade das zeitgenössische „Unbehagen am Ernst weiblicher Berechtigung“ bloßstelle.79 Die Konstituierung einer neuen politischen Gemeinschaft könne nur unter Ausschluss weiblicher Partizipation funktionieren, wie Albrecht Koschorke anhand seiner scharfsinnigen Analyse des „Brüderbunds“ in Schillers Wilhelm Tell aufzeigt.80 Denn

|| Weib ist begehrungswert“, werden etwa zu „Dies Weib ist der Liebe Wert“ entschärft. Die semantische Eindimensionalität der Bühnenfassung zeigt sich am deutlichsten im neuerfundenen Schlusstableau, in dem Judiths Rolle als von Gott gesendete Retterin bestätigt wird: „Ja, Mirza, der Herr meiner Väter hat mich gewürdigt, ein Werkzeug seiner Verherrlichung zu sein. Er wird mich stützen. […] Mein ganzes Herz wandelt sich in Freude und Hoffnung! – Jetzt komm, Mirza! Auf gen Bethulien. Ich habe mein Volk gerettet – Gott, der Herr, wird mich retten.“ W 13, S. 30. 76 Vgl. Inge Stephan: „Da werden Weiber zu Hyänen …“ Amazonen und Amazonenmythen bei Schiller und Kleist. In: dies.: Inszenierte Weiblichkeit. Codierung der Geschlechter in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Köln/Weimar/Wien 2004, S. 113–132, hier insbesondere S. 121. Als Beispiel nennt Inge Stephan vor allem Wilhelm von Humboldts 1795 in Schillers Zeitschrift Die Horen publizierte Aufsätze „Ueber den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur“ sowie „Ueber männliche und weibliche Form“. Vgl. Wilhelm von Humboldt: Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur. In: ders.: Werke in fünf Bänden. Bd. 1: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Darmstadt 1960. S. 268–295; ders.: Über die männliche und weibliche Form. In: ders.: Werke in fünf Bänden. Bd. 1, S. 296–336. 77 Vgl. Hans Mayer: Außenseiter, S. 40f. 78 Albrecht Koschorke: Schillers Jungfrau von Orleans und die Geschlechterpolitik der Französischen Revolution, S. 246. 79 Vgl. Hans Mayer: Außenseiter, S. 70. 80 Vgl. Albrecht Koschorke: Brüderbund und Bann. Das Drama der politischen Inklusion in Schillers Tell. In: Uwe Hebekus u. a. (Hg.): Das Politische. Figurenlehre des sozialen Körpers nach der

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die Entstehung einer politischen Öffentlichkeit, wie sie gerade in Wilhelm Tell geschieht, setzt zwar die Trennung des oikos vom polis voraus, die weder vernachlässigt noch übertreten werden dürfte, ohne die Legitimation der Herrschaftsgewalt einzubüßen;81 doch die Erschaffung eines unabhängigen privaten Raums führt zur Dialektik der Autonomie des an der politischen Öffentlichkeit teilnehmenden Bürgers, da er innerhalb der eigenen vier Wände wieder als Autorität fungiert, die allen anderen, insbesondere den weiblichen Familienmitgliedern, politische Mündigkeit abspricht. Diese Problematik der „patriarchalischen Kleinfamilien“ im Entstehungsprozess der bürgerlichen Öffentlichkeit hat auch Jürgen Habermas ausführlich analysiert.82 Unverhohlener spricht sich Kleist für die tradierte Rollenzuschreibung aus, die die Politik und das Staatsgeschäft als ausschließliche Männerdomnäne definiert: Der Mann sei nicht bloß der Mann seiner Frau, sondern auch noch ein Bürger des Staates, die Frau hingegen ist nichts, als die Frau ihres Mannes; daß der Mann nicht bloß Verpflichtungen gegen seine Frau, sondern auch Verpflichtungen gegen sein Vaterland, die Frau hingegen keine andern Verpflichtungen hat, als Verpflichtungen gegen ihren Mann […].83

Eine ähnliche Formulierung befindet sich auch in Hebbels Tagebuch: „Der Mann hat sich mit Welt u Leben zu plagen, das Weib mit dem Mann.“ (TBR 336 / TBW 343) Deswegen werden die „Institutionalisierung und Kodifizierung der kriegerischen Frauentat“84 immer wieder in Frage gestellt, weil Judith, Johanna und ihre bewaffneten Schwestern agieren, selbst von Gott inspiriert, „in einer Weise, die nicht ihres Amtes und Geschlechtes ist.“85 Auf die Bedeutsamkeit der primär erotisch geprägten Weiblichkeitsvorstellung in Hebbels Judith ist bereits hingewiesen worden. Ebenfalls wird in Schillers „romantischer Tragödie“ zunächst Bezug auf das tradierte Bild der Frau als einer zarten, daher schutzbedürftigen Gattin genommen. „[D]as Weib / Bedarf in Kriegesnöten des Beschützers“, so erklärt Thibaut, und will seine Töchter durch Verheiratung „versorgen“ (Prolog/1; FA 5, S. 151). Derselben Argumentation bedient sich in Heb|| Romantik. München 2003, S. 106–122, hier S. 107. Koschorke macht darauf aufmerksam, dass gerade die Außerkraftsetzung der Hausväterfunktion die Männer als politische Akteure legitimieren (S. 108): „[S]ie [=die Männer, M. M.] agieren als öffentliche Wächter der häuslichen Schwelle, die von der Tyrannis bedroht wird. Erst die bedrohte Existenz auf der Schwelle macht sie zu Subjekten des revolutionären Geschehens.“ 81 Albrecht Koschorke: Brüderbund und Bann, S. 108. 82 Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1990, S. 107ff. 83 Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge, datiert 30. Mai 1800. In: Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. 2 Bde., hg. von Roland Reuß und Peter Staengle. München 2010, hier Bd. 2, S. 577. 84 Vgl. Helmut Kreuzer: Die Jungfrau in Waffen, S. 287. 85 Hans Mayer: Außenseiter, S. 39. Hervorhebung im Original.

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bels Judith auch Ephraim, als er angesichts des drohenden Heerzugs von Holofernes um Judiths Hand wirbt.86 Die eheliche Bindung wird als die vorrangige, ja natürliche Bestimmung der Frau gesehen, wie der Erzbischof Johanna gegenüber geltend zu machen versucht: „Dem Mann zur liebenden Gefährtin ist / Das Weib geboren – wenn sie der Natur / Gehorcht, dient sie am würdigsten dem Himmel!“ (III/4; FA 5, S. 225) Deshalb müsse die Weigerung der Heirat als „eine schwere Irrung der Natur“ (Prolog/2; FA 5, S. 153) angesehen werden. Johanna solle darum billig der Forderung der Natur nachkommen und die Waffen niederlegend „zu dem sanfteren Geschlecht“ zurückkehren (III/4; FA 5, S. 225). Zwar wehrt sich Johanna mit Verweis auf ihre göttliche Sendung gegen die völlige Unterordnung ihrer Individualität, gegen die ausschließliche Rolle eines dem Hausherrn unterstehenden Weibes; jedoch beruft sie sich in ihrer Widerrede gerade auf jene Konvention der geschlechtlichen Rollenverteilung und spricht, indem sie ihr soldatisches Recht verteidigt, den Frauen die Gleichberechtigung im kriegerischen Unternehmen ab: Des Himmels Herrlichkeit umleuchtet euch, Vor eurem Aug’ enthüllt er seine Wunder, Und ihr erblickt in mir nichts als ein Weib. Darf sich ein Weib mit kriegerischem Erz Umgeben, in die Männerschlacht sich mischen? Weh mir, wenn ich das Rachschwert meines Gottes In Händen führte, und im eitlen Herzen Die Neigung trüge zu dem ird’schen Mann! (III/4; FA 5, 226; Hervorhebung durch M. M.)

Zweifelsohne muss die selbstgestellte rhetorische Frage verneint werden. Sie dient nur der Beteuerung der Außerordentlichkeit ihrer Berufung. Ein Recht der Frauen auf Teilhabe am Kriegsgeschehen wird ihnen qua althergebrachter Rollenzuschreibung kategorisch negiert. Der mittelalterliche Hintergrund der Tragödie darf nicht über die Aktualität der Reflexion hinwegtäuschen, zumal die Dichotomie der Geschlechter auch in programmatischen Gedichten wie „Würde der Frauen“, das die Gegenüberstellung der Geschlechter durch die thematisch abwechselnden Strophen visualisiert (FA 1, S. 185f.),87 plakativ artikuliert wird. In Wirklichkeit also verficht || 86 Vgl. Judith (II; W 1, S. 24): „Ephraim (für sich). Mein Plan war einfältig. […] Ich hoffte, sie sollte 7in dieser allgemeinen Not sich nach einem Beschützer umsehen, und wer war ihr näher, wie ich.“ 87 Volker Hoffmann hat die Heranbildung einer singulären Geschlechtercharakteristik in der Goethezeit umfassend nachgezeichnet: Die in der Feudalgesellschaft noch an die Stände gebundenen Verhaltenskataloge werden um 1800 von verallgemeinernden, mit deutlich pädagogischer Zielsetzung versehenen Rollenbestimmungen abgelöst, die sich vornehmlich in Literatur manifestierten. Dabei wird immer wieder auf das „Ordnungsraster“ der Geschlechtspolarität, ob als ein komplementäres oder ein gegensätzliches Verhältnis verstanden, zurückgegriffen, weil sie der Vorliebe zur systematischen Synthese entspricht. Vgl. Volker Hoffmann: Elisa und Robert oder das Weib und der Mann, wie sie sein sollten. Anmerkungen zur Geschlechtercharakteristik der Goethezeit. In: Karl

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Johanna gerade jene bestehende, sich im zeitgenössischen Diskurs wieder konstruierende Vorstellung von dem Gegensatz der Geschlechter, nach dem es sich für die Frau nicht ziemt, sich tätig in den männlich konnotierten Bereich des Militärgeschäfts einzumischen.88 Aus diesem Grunde muss ihr Plädoyer konsequenterweise auf die Verleugnung des eigenen Geschlechts, das mit ihrem Amazonentum nicht kompatibel ist, hinauslaufen. Deshalb reagiert Johanna empört auf Montgomerys Appell an die tränenreiche Milde ihrer Weiblichkeit – „sie ist ein Weib, / Ob ich vielleicht durch Tränen sie erweichen kann“ (II/6; FA 5, S. 203) –, weil die Identifikation mit dem herkömmlichen Frauenbild, wie es etwa in Hebbels historiographischem Gegenentwurf gegeben ist, ihr die Existenzberechtigung absprechen würde: Nicht mein Geschlecht beschwöre! Nenne mich nicht Weib. Gleichwie die körperlosen Geister, die nicht frein Auf ird’sche Weise, schließ ich mich an kein Geschlecht Der Menschen an, und dieser Panzer deckt kein Herz. (II/7; FA 5, S. 204)

Ex negativo zeigt sich also die Schillersche Jungfrau von Orléans zunächst dem konventionellen Geschlechterverständnis verpflichtet. Ihr Außenseitertum, vor allem aber die Wahrnehmung des eigenen Ausnahmestatus, ist die eigentliche Festschreibung der polaren Entgegensetzung der Geschlechter. Zugespitzt lässt sich also behaupten, dass das als widernatürlich empfundene Liebesverbot gerade in seiner Widersprüchlichkeit die Unantastbarkeit des Geschlechterbildes fördert und das vorherrschende Frauenbild von einem empfindsam liebenden „sanfteren Geschlecht“ bekräftigt hat. 89

5.4.3 Strukturelle Affinität Hebbels Auseinandersetzung mit dem äußeren Konflikt in Schillers „romantischer Tragödie“ wurde also ausschließlich von seiner These geleitet, dass die geltende Geschlechterordnung, die zwar momentan ausgesetzt werden kann, letztendlich jedoch nach wie vor wirksam bleibt. In seiner Rezension zu Vinzenz P. Webers Trauerspiel Die Wahabitin (1849) setzt sich Hebbel abermals mit der Problematik der kriegerischen Jungfrau auseinander. Er verteidigt allerdings mehr oder weniger

|| Richter und Jörg Schönert (Hg.): Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. Stuttgart 1983, S. 80–97, hier insbesondere S. 82f. 88 Vgl. z.B. Thibauts vorwurfsvolles Wort: „Was kümmerts dich! Du fragst / Nach Dingen, Mädchen, die dir nicht geziemen.“ Prolog/3; FA 5, S. 160. 89 Vgl. Agnes Sorels Mahnung an Johanna vor dem Krönungszug: „O könntest du ein Weib sein und empfinden! / Leg diese Rüstung ab, kein Krieg ist mehr, / Bekenne dich zum sanfteren Geschlechte!“ IV/2; FA 5, S. 241.

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überraschend die Grundkonzeption von Schillers Drama: „Der Bau der Tragödie ist unanfechtbar.“ (W 11, S. 285) Hebbel geht von der Abnormität des Amazonentums aus und vertritt die Überzeugung, dass eine derartig grundlegende Überschreitung der Geschlechtergrenzen einer außergewöhnlichen Begründung bedürfe, die er auch in der Authentizität der göttlichen Berufung findet: Denn ein Weib, das sich in Schlacht und Kampf hineinstürzt und den ihm angewiesenen Kreis mit dem diesem geradezu entgegengesetzten vertauscht, ist nur dann nicht mehr abstoßend und widerwärtig, wenn man erkennt, daß es nicht anders kann, daß es von höherer Macht getrieben wird. (W 11, S. 283)

Die Plausibilisierung einer kriegerischen Jungfrau lässt sich nicht durch einen bloßen Willensakt bewerkstelligen, sondern fordert eine transzendentale Legitimation, die der prekären Krisensituation geschuldet ist. Diese erhebt jedoch Anspruch auf eine außerordentliche Lösung, die in Bezug auf die Jungfrau von Orléans in der Außerkraftsetzung der naturgegebenen Geschlechtspolarität besteht. „Darum fällt der Unterschied zwischen Mann und Weib für ihn [= den Dichter, M. M.] in dem Augenblick weg, wo in der kleinen Welt […] nur doch durch ein außerordentliches Werkzeug ein großes und nothwendiges Ziel erreicht werden kann.“ (W 11, S. 284) Innerhalb der Poesie wird dadurch die Übertretung der prästabilierten geschlechtlichen Grenzen freigesprochen. Dass die geschichtliche Notwendigkeit nach Hebbels Auffassung tatsächlich gegeben sei, geht aus einem Tagebucheintrag hervor, in dem die wundervolle Erscheinung der kriegerischen Jungfrau als weiblicher Messias der Französischen Revolution gerechtfertigt wird: „*Daß Frankreich selbständig bleiben, daß Gott ein Wunder thun mußte, um dies zu veranlassen: dies war nöthig, weil von Frankreich die Revolution ausgehen sollte.“ (TBR 2003 / TBW 2064) Damit aber wird, wie Helmut Kreuzer herausgearbeitet hat, die Problematik der Johanna erst sichtbar, weil ihre Mission als Frankreichs Retterin das Außerkraftsetzen der Konvention fordert, was „ihrem Geschlecht nicht angemessen“ sei.90 Die Tragik dieser Jungfrau-Figur liegt also gerade darin, dass die Aussetzung vorbestimmter Geschlechternormen zwar berechtigt ist, jedoch nur vorübergehend berechtigt sein darf. Die einmal angenommene Weiblichkeit lässt sich selbst mit göttlichem Eingriff nicht vollständig auslöschen. Selbst in ihrer Funktion als Werkzeug Gottes, das die Zugehörigkeit zu einem spezifischen Geschlecht unberücksichtigt lässt, ist Johanna als Frau erotisch verfügbar, wie die Begegnung und der Blickkontakt mit Lionel eindeutig illustrieren

|| 90 Helmut Kreuzer: Die Jungfrau in Waffen, S. 280. Hervorhebung im Originial.

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(III/10; FA 5, S. 234ff.).91 Dadurch gerät Johanna in einen Konflikt mit sich selbst, weil sie trotz ausdrücklicher und welthistorisch notwendiger Verneinung ihrer Weiblichkeit dennoch ein weibliches Wesen bleibt. Erst mit der Gestaltung dieses inneren Konflikts und der Bewältigung desselben kraft „menschliche[r] Kraftanstregung“ schließe sich, so Hebbel, der tragische Kreis in Schillers Die Jungfrau von Orleans: Gelingt es ihm [Schiller] dann noch, das der gewöhnlichen Ordnung der Dinge momentan entrückte Individuum durch die von ihm ausgehende That in einen Conflikt mit sich selbst zu versetzen, der es dieser Ordnung am Ziel seiner Laufbahn wieder unterwirft, und auch diesen Conflikt noch durch eine letzte, höchste, nun aber rein menschliche und sittliche Kraftanstrengung zu lösen, so hat er den Ring, in dem sich jedes echte Kunstwerk bewegt, vollständig geschlossen […]. (W 11, S. 284)

Für Hebbel liegt die Tragizität der Schillerschen Johanna in der unleugbaren Gültigkeit der „gewöhnlichen Ordnung der Dinge“, also in der Gesetzmäßigkeit der als natürlich angesehenen geschlechtlichen Bestimmung. Dieser Deutungsansatz stimmt mit seiner Tagebuchnotiz überein, der zufolge das „vornehmste tragische Motive“ der historischen Jungfrau-Figur darin bestehe, dass die sich ins „Weltgetriebe“ einmischende Gottheit „ihr Werkzeug nicht vor der Zermalmung durch dasselbe Rad, das es einen Augenblick aufhielt oder anders lenkte, nicht schützen“ könne (TBR 997 / TBW 1011). Dieses „Rad“ sei, wie der Tagebucheintrag weiter ausführt, die „ewige Ordnung der Natur, die die Gottheit selbst nicht stören darf, ohne es büßen zu müssen.“ (TBR 997 / TBW 1011) In den tragischen Mittelpunkt der Johanna-Legende rückt der Widerstreit zwischen dem göttlichen Auftrag und der Stimme der eigenen inneren Natur, die jenem ständig übergeordnet ist. Dieses Dilemma zeigt sich aber in erster Linie in der gescheiterten Verleugnung der eigenen Weiblichkeit, die die herrschende Geschlechtervorstellung eher bekräftigt denn herausfordert. Die gleiche Struktur liegt auch Hebbels Judith zugrunde. Wolfgang Wittkowski hat in seiner Monographie zu dem jungen Hebbel einen „Dualismus innerhalb der Gottheit“,92 nach dem Gott in seiner Funktion des „Weltenlenkers“ und des „Weltenrichters“ mit sich in Konflikt gerate, diagnostiziert. 93 Die Kollision des Schöpfergottes mit der Naturordnung, der Ersterer trotz seiner Allmacht dennoch unterliegt, ist nur anhand des Einzelschicksals von dem als göttliches Werkzeug auserlesenen, dennoch seiner Menschlichkeit verpflichteten Individuum ablesbar: „Dem Dichter aber geht es nicht um Gott und dessen Tragik, sondern um den Menschen und um || 91 Vgl. Insbesondere die Szenenanweisungen, die die Scham Johannas verdeutlichen: Sie redet „mit abgewandtem Gesicht“; „verbirgt das Gesicht“, und „ringt verzweifelnd die Hände“ FA 5, S. 234ff. 92 Wolfgang Wittkowski: Der junge Hebbel, S. 71. 93 Wolfgang Wittkowski: Der junge Hebbel, S. 148.

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dessen tragisches Dilemma zwischen Geschichte und ewiger Ordnung, zwischen Gott und Natur.“94 Wittkowskis Analyse trifft damit den tragischen Kern der Judith, deren Tat genau zwischen welthistorischer Notwendigkeit und der Nonkonformität mit der vorgeschriebenen Geschlechtsordnung oszilliert. Hebbel beabsichtigt gerade mit seiner Judith auf den Prozess der Frauenemanzipation Bezug zu nehmen und „den Unterschied zwischen dem echten, ursprünglichen Handeln und dem bloßen Sich-SelbstHerausfordern in einem Bilde [zu] zeichnen […].“ (W 13, S. 8) Wie in Schillers Die Jungfrau von Orleans wird auch hier über die Geschlechterordnung reflektiert und die anmaßende Übertretung tradierter Rollenzuschreibung, wie sie bei Judith stattfindet, problematisiert. Diese Zwitterstellung der tragischen Protagonistin, die im Zwiespalt der Transzendenz mit der Natur begründet ist, wird im Vorwort zu Maria Magdalene als die eigentliche Tragik der Judith mit Nachdruck formuliert: Das ganze Verdienst der Judith liege in der veranschaulichten „Verwirrung der Motive in der Heldin“, und allein durch die Ableitung aus eben dieser Verwirrung sei ihre Tat eine tragische, „d.h. eine in sich, des welthistorischen Zwecks wegen nothwendige, zugleich aber das mit der Vollbringung beauftragte Individuum wegen seiner partiellen Verletzung des sittlichen Gesetzes vernichtende [.]“ (W 11, S. 61) Das Sittengesetz wird jedoch nur in dem Moment von Judith übertreten, als sie sich, den konventionellen Bestimmungen der weiblichen Tätigkeitsbereiche zuwider, des Schwerts bemächtigt und Holofernes enthauptet, also wie Schillers Johanna gewalttätig agiert. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass Hebbels Judith hinsichtlich der strukturellen Konzeption beziehungsweise des Aufbaus vom Tragischen Ähnlichkeiten mit Schillers Die Jungfrau von Orleans aufweist.

5.4.4 Schuldbewusstsein oder die Tragik der inneren Zerrissenheit Neben dem strukturellen ist es noch ein gestaltungsästhetischer, psychologischer Aspekt, der die beiden Heroinen miteinander verbindet. Die innerseelische Krise des Individuums, die die Entzweiung der transzendenten Notwendigkeit mit der unveränderlichen Grundlage der psychosozialen Beschaffenheit der Geschlechter verdeutlicht, ist das verbindende Moment zwischen Schillers Die Jungfrau von Orleans und Hebbels Judith, weil sie beide, wie Wienbarg hervorhebt, an der eigenen „Weiblichkeit“ scheitern, obwohl sie diese aufgrund des göttlichen Gebots ausdrücklich negieren. Beide unterliegen trotz ihres Amazonentums ihren sexuellen Triebkräften ihrer Weiblichkeit unterlegen und geraten deshalb mit dem Liebesverbot im Widerspruch.

|| 94 Wolfgang Wittkowski: Der junge Hebbel, S. 154.

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Johanna wird im Zweikampf mit Lionel von dessen Anblick ergriffen.95 Die aus dem Blickkontakt entspringende Liebe verursacht auf der Stelle das Bewusstsein des Bruchs mit dem Gelübde (III/10; FA 5, S. 235), und führt zur innerlichen Isolierung trotz allgemeiner Freude: „Mich rührt es nicht das allgemeine Glück, / Mir ist das Herz verwandelt und gewendet, / Es flieht von dieser Festlichkeit zurück, / In’s brit’sche Lager ist es hingewendet“ (IV/1; FA 5, S. 237). Die Protagonistin erweist sich als ein fühlendes Wesen, das der Semantik des Herzens folgt: „Konnt’ ich dieses Herz verhärten, / Das der Himmel fühlend schuf!“ (IV/1; FA 5, S. 239)96 Die Unvereinbarkeit des „blinden“97 Gehorsams mit der menschlichen Empfindsamkeit, die, raffiniert genug, durch den An-blick Lionels evoziert wird, kulminiert in jener vielzitierten rhetorischen Selbstbefragung Johannas: „Und bin ich strafbar, weil ich menschlich war?“ (IV/1; FA 5, S. 238) Enthüllt wird dadurch, wie Norbert Oellers zu Recht konstatiert, die existentielle Verwicklung von Menschlichkeit und Schuld, die ihr im Moment der erwachenden Liebe erst bewusst wird.98 Im Zentrum stehe, so argumentiert auch Inge Stephan, eine „Seelenschlacht“.99 Schillers Johanna leidet also an der Diskrepanz zwischen der von Gott geforderten Unempfindlichkeit und ihrer sinnlichen Empfindsamkeit, die, gerade weil sie unerklärlich ist, umso unwiderstehlicher wirkt. Ähnlich verhält es sich bei Hebbels Judith. Auf ihre Motivverschiebung ist bereits hingewiesen worden. Zwar existiert hier kein explizites, transzendental vorgeschriebenes Liebesverbot, lediglich ein vom Kriegszustand und Glaubensunterschied bedingtes, dennoch befindet sich auch die Hebbelsche Judith im Zwiespalt der Gefühle. Ausdrücklich fleht Judith Gott an um Schutz vor der überwältigenden Männlichkeit von Holofernes: „Judith. Du bist groß und Andere sind klein. (leise) Gott meiner Väter, schütze mich vor mir selbst daß ich nicht verehren muß, was ich verabscheue! Er ist ein Mann.“ (V; W 1, S. 63) Ihr Gebet verrät aber zugleich ihr inneres Wanken, da sie die Anziehungskraft des anderen Geschlechts ausgerechnet am

|| 95 Vgl. die Szenenanweisung zu III/10: „[I]n diesem Augenblicke sieht sie ihm in’s Gesicht, sein Anblick ergreift sie, sie bleibt unbeweglich stehen und läßt dann langsam den Arm sinken.“ FA 5, S. 234. 96 Zur Semantik des Herzens als einer tragenden Metapher in Schillers „romantischer Tragödie“ vgl. auch Gerhard Sauder: Die Jungfrau von Orleans. In: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): Friedrich Schiller. Dramen. Neue Wege der Forschung. Darmstadt 2009, S. 157–183. 97 Zur Blindheit des Gehorsams vgl. die Worte Johannas: „Ein blindes Werkzeug fodert Gott, / Mit blinden Augen mußtest du’s vollbringen!“ IV/1; FA 5, S. 239. Dünois erklärt schon im ersten Aufzug: „Wir folgen blind, wohin die Göttliche / Uns führt!“ I/11; FA 5, S. 188. 98 Vgl. Norbert Oellers: „Und bin ich strafbar, weil ich menschlich war?“ Zu Schillers Tragödie „Die Jungfrau von Orleans“. In: Helmut Brandt (Hg.): Friedrich Schiller. Angebot und Diskurs. Berlin (DDR)/Weimar 1987, S. 299–310, hier S. 305. 99 Inge Stephan: Hexe oder Heilige? Zur Geschichte der Jeanne d’Arc und ihrer literarischen Verarbeitung. In: dies. und Sigrid Weigel (Hg.): Die verborgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literarturwissenschaft. Berlin (DDR) 1983, S. 35–66, hier S. 56.

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Feind unwiderstehlich empfindet. Dadurch läuft sie jedoch dem ursprünglichen Vorhaben zuwider, ihr Volk durch die Ermordung des Holofernes vom zu erlösen. Die leise Anrufung um Gottes Beistand gibt deshalb zu erkennen, dass gerade in der sexuellen Verfügbarkeit ihres Ich die eigentliche Gefahr liegt, von Gott abzufallen. Die Übermacht der erotischen Ektase manifestiert sich am deutlichsten im Moment des vollzogenen Geschlechtsakts, „wo Deine Sinne selbst, wie betrunken gemachte Sclaven, die ihren Herren nicht mehr kennen, gegen Dich aufstehen“ (V; W 1, S. 69). Die Usurpation der Sinne verweist entschieden auf die innere Zerrissenheit der Protagonistin, da die rationale Regulierung kraft patriotisch-religiöser Zielsetzung angesichts der erlebten Sinneslust nunmehr unmöglich geworden ist. In dieser Tragizität gleichen sich beide Jungfrauen mit Waffen, da beide an demselben seelischen Konflikt leiden, den die Erfahrung von der grundsätzlichen Unvereinbarkeit zwischen geschlechtsverneinender Transzendenz und der eigenen Weiblichkeit auslöst, selbst wenn man, wie Karl S. Guthke es tut, die Authentizität des göttlichen Auftrags als autosuggestiven Effekt abwertet. 100 Dabei ist ferner festzustellen, dass die psychische Krise nur deshalb ausbricht, weil die wahrgenommene weibliche Sinnlichkeit das Bewusstsein vom göttlichen Auftrag verdrängt. Daher soll weniger von einer faktischen Schuld als vielmehr von einem subjektiven Schuldbewusstsein gesprochen werden, weil gerade die Erkenntnis der veränderten Motive und die Erkenntnis der Übertretung des göttlichen Liebesverbots ihre innere Zerrissenheit evozieren, und weil sie, wie Ludger Lütkehaus in Bezug auf Judith unterstreicht,101 als Frauen gescheitert sind, sich aber nicht mehr auf das Recht der Berufenen berufen können. Bevor sie einer anderen Gerichtsinstanz ausgesetzt werden, haben sie bereits sich selbst schuldig gesprochen. Unmittelbar vor dem Krönungszug sagt Johanna zu Agnes Sorel: „Verlaß mich. Wende dich von mir! Beflecke / Dich nicht mit meiner Pesterfüllten Nähe!“ (IV/3; FA 5, S. 243) Auch Judith wirkt wie „vernichtet“, als sie gewahr wird, dass sie ausschließlich vom Gedanken an sich selbst getrieben wurde: „Judith (langsam, vernichtet). Nein, – nein, – Du hast recht, – das war’s nicht, – nichts trieb mich, als der Gedanke an mich selbst.“ (V; W 1, S. 72) Weil sie sich wegen ihrer sexuellen Verfügbarkeit von der ihnen von Gott zugeschriebenen Rolle einer unbeirrbaren Volksretterin entfernt haben, verfehlen Johanna und Judith das vorgesetzte Ich-Ideal und zeigen auch die gleiche symptoma-

|| 100 Vgl. Karl S. Guthke: Die Jungfrau von Orleans. Ein psychologisches Märchen. In: ders.: Schillers Dramen. Idealismus und Skepsis. 2. Aufl. Tübingen 2005, S. 235–257, hier S. 247f. Guthke zufolge überwiege in Johannas Tatbegründung das patriotische Motiv. Angesichts der „nationale[n] und patriotische[n] Spontaneität“ scheine die Transzendenz „gerade vom Menschen im Dienst genommen“ zu sein (S. 247). 101 Vgl. Ludger Lütkehaus: Verdinglichung. Zu Hebbels „Judith“. In: Hebbel–Jahrbuch (26) 1970, S. 85–97, hier S. 93.

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tische Reaktion: Sie wollen in die „Geborgenheit der Heteronomie“102 fliehen. Den wehmutsvollen Monolog beschließt Johanna mit der Klage um die Fremdbestimmung ihrer himmlischen Sendung: „Ach! Es war nicht meine Wahl!“ (IV/1; FA 5, S. 240) Und auch Judith bestreitet ihre Entscheidungsfreiheit, indem sie das triebhafte „Es“ für ihre Tat verantwortlich macht: „Mich triebs, die Tat zu tun“ (V; W 1, S. 79). Zugleich ist die Flucht eine selbsterwählte Ausgrenzung und Isolation, die im Extremfall in einen expliziten Todeswunsch als Strafe für die Übertretung der (selbst-)gesetzten Grenze mündet: Nach ihrer verhängnisvollen Begegnung mit Lionel weigert Johanna die Behandlung ihrer Wunde: „Laßt es [= das Blut, M. M.] mit meinem Leben / Hinströmen!“ (III/11; FA 5, S. 236) Ähnlich sucht Judith nach vollbrachter Tat auch den Tod: „O Mirza, ich muß sterben, und ich wills.“ (V; W 1, S. 72) Ausgelöst wird der Wunsch zu sterben aber nicht von der faktischen Schuld am Tod anderer, sondern von ihrem subjektiven Schuldbewusstsein: Johanna erkennt ihre Übertretung des göttlichen Liebesverbots und Judith ihre eigentliche Motivation: der Leidenschaft, die ihrer göttlichen Berufung als Glaubensstreiterin entgegensteht. Insofern lässt sich die dramatische Entfaltung des tragischen Geschicks von Judith und Johanna in einen engen Zusammenhang mit jenem Doppelmodell von Schuld und Scham bringen, das Claudia Benthien anhand ihrer Analyse der Tragödien Schillers und Kleists entwickelt hat. Sowohl Scham als auch Schuld werden in Bezug auf geltende Wertnormen definiert: „Schuld entsteht in der Übertretung von Verboten, Scham im Verfehlen eigener Ideale.“103 Während Schuld offenbar mit einer konkreten Handlung zu assoziieren ist, setzt Scham eine Öffentlichkeit aus, vor der man sich schämt. In seinem Prozess der Zivilisation definiert Norbert Elias die Scham als eine Angst „vor der sozialen Degradierung, oder allgemein gesagt, vor den Überlegenheitsgesten Anderer.“104 Aus diesem Grunde muss Scham als ein psychosoziales Phänomen im Spannungsfeld des Individuums mit einem – realen oder imaginären – Publikum verstanden werden. Dabei gestaltet sich das Ineinander von Scham und Schuld nicht allein dadurch, dass die Aggression, die die Scham überdecken soll, notwendigerweise Schuld erzeugt, was Benthien mit „Scham-SchuldZyklen“ beschreibt;105 sondern auch dadurch, dass das Schuldbewusstsein, das aus der inneren Erkenntnis der Normenübertretung resultiert, das eigene Subjekt als

|| 102 Vgl. Karl S. Guthke: Die Jungfrau von Orleans, S. 251. 103 Vgl. Claudia Benthien: Tribunal der Blicke. Kulturtheorien von Scham und Schuld und die Tragödie um 1800. Köln/Weimar/Wien 2011, S. 54. Vgl. auch dies.: Tragödie der Scham, Trauerspiel der Schuld. Konzeptionen des Tragischen um 1800. In: Daniel Fulda und Thorsten Valk (Hg.): Die Tragödie der Moderne. Gattungsgeschichte – Kulturtheorie – Epochendiagnose. Berlin 2010, S. 41– 66. 104 Vgl. Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. 13. Aufl. Frankfurt 1988, hier Bd. 2, S. 397. 105 Claudia Benthien: Tribunal der Blicke, S. 60.

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wertlos verurteilt und dadurch das Schamgefühl erregt, bevor eine wirkliche juristische Instanz eingreifen kann. Deswegen wird, wie Elias hinweist, die Vermeidung aller Öffentlichkeit als eine selbstverständliche Reaktion aufs Schamgefühl gesucht, die im Extremfall zum Wunsch des absoluten Weltentzugs durch den Tod wird. Wie oben gezeigt, ist dies sowohl bei Schillers Johanna als auch bei Hebbels Judith der Fall. Eine Eigentümlichkeit des Kultivierungsprozesses besteht aber darin, dass sich im Zuge der immer strenger werdenden Regulierung der Triebstruktur eine Internalisierung der Verhaltenszwänge vollzieht, oder, um mit Elias zu sprechen, „daß die Menschen, deren Überlegenheitsgesten man fürchtet, sich in Einklang mit dem eigenen Über-Ich des Wehrlosen und Geängstigten befinden, mit der Selbstzwangapparatur, die in dem Individuum durch Andere […] herangezüchtet worden ist.“106 Die Verbindung der richtenden Öffentlichkeit mit dem eigenen Über-Ich führt zur Gerichtsbarkeit des Ich durch sich selbst in der Struktur der Schamerregung: [D]er Konflikt, der sich in Scham-Angst äußert, ist nicht nur ein Konflikt des Individuums und der herrschenden, gesellschaftlichen Meinung, sondern ein Konflikt, in den sein Verhalten das Individuum mit dem Teil seines Selbst gebracht hat, der diese gesellschaftliche Meinung repräsentiert.107

Der Stab über sich selbst wird vom Ich selbst gebrochen, wie der inwärts gerichtete, deshalb richtende Blick Judiths veranschaulicht: „Ich fühl’ mich, wie ein Auge, das nach innen gerichtet ist. Und wie ich mich so scharf betrachte, werd ich kleiner, immer kleiner, noch kleiner, ich muß aufhören, sonst verschwind’ ich ganz in’s Nichts.“ (V; W 1, S. 72f.) Die faktische Konfrontation mit einer Öffentlichkeit kann nur das Wertlosigkeitsurteil bestätigen oder durch idealistische Kontrastbilder intensivieren, die zuvor von dem Ich selber entworfen sind. Diese Problematik, die ihrem Wesen nach eine psychologische ist, stimmt sowohl in ihrer Struktur als auch in ihrem Gehalt mit der identifizierten inneren Zerrissenheit der beiden Heldinnen überein. Insofern lässt sich schlussfolgern, dass die ursprünglich als Korrektur konzipierte Tragödie der Judith letztendlich dieselbe psychologisch fundierte Tragik der Seelendynamik gestaltet, die auch Schillers Die Jungfrau von Orleans zugrunde liegt. Die Kritik an Schiller führt schließlich doch zur ungeahnten Übereinstimmung mit ihm.

|| 106 Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Bd. 2, S. 398. 107 Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Bd. 2, S. 398.

6 Ehre und Öffentlichkeit des Bürgertums: Hebbels Maria Magdalene und Schillers Kabale und Liebe 6.1 Hebbels Kritik am bürgerlichen Trauerspiel Als Maria Magdalene im Jahre erschien, wurde ihr eine klare Gattung zugewiesen: Es handelt sich bei diesem dritten Drama Hebbels um ein bürgerliches Trauerspiel in drei Akten. Das bürgerliche Trauerspiel ist eine Dramenform, die im deutschsprachigen Raum von Lessing initiiert, von ihm und Schiller maßgeblich geprägt ist. Aufseiten Hebbels lässt sich jedoch kaum eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Schillers Kabale und Liebe finden, obwohl es einer der wichtigsten Vorläufer der Gattungstradition ist, die Hebbel nun weiterzuführen gedenkt. Ein Grund dafür ist sicherlich Hebbels vernichtende Kritik an jenem bürgerlichen Trauerspiel Schillers, die er nach einer Wiener Aufführung im Jahre 1847, bei der seine Frau als Lady Milford mitwirkte, äußerte: „d. 14 März. Sah Kabale und Liebe von Schiller und war doch überrascht von der gränzenlosen Nichtigkeit dieses Stücks, die erst bei einer Darstellung ganz heraustritt.“ (TBR 4021 / TBW 4106) Selbstverständlich war die Wiener vorrevolutionäre Zensur, die ebenso wenig eine fürstliche Mätresse wie einen Präsidenten, geschweige denn die Episode der Zwangsrekrutierung und des Soldatenverkaufs auf der Bühne dulden konnte,1 mitverantwortlich für die misslungene Vorstellung eines politischen, ja geradezu „demagogische[n]“ Stücks.2 Dennoch bestätigt das für die heutige Literaturwissenschaft wohl kaum nachvollziehbare Urteil Hebbels seine kritische Einstellung gegenüber der repräsentativen Überlieferung einer Gattungstradition, die er vier Jahre zuvor

|| 1 Vgl. H[einrich] H[ubert] Houben: Verbotene Literatur. Von der klassischen Zeit bis zur Gegenwart. 2 Bde. Berlin 1924, zu Schiller Bd. 1, S. 531–574, hier 541ff. Vgl. auch Heinrich Laube: Das Burgtheater, S. 77f: „Die Scene des Kammerdieners, welcher den hessischen [sic] Menschenverkauf nach Amerika brandmarkt, verleidete dies Stück den Hoftheatern. […] ‚Cabale und Liebe‘ ist erst l808 in’s Repertoire des Burgtheaters aufgenommen worden.“ Zur komischen Wirkung der Wiener Zensur, die das Stück zur „Parodie“ stempele, vgl. ebenda S. 89f: „Die im Jahre 1808 erwachende Pietät für Schiller hatte das Nationaltheater in demselben Jahre nicht abgehalten, ‚Cabale und Liebe‘ in jener Verunstaltung des Personals zu geben, welche bis zum heutigen Tage in übler Nachrede lebendig geblieben ist. Der Präsident von Walter hieß Vicedom von Walter, der Hofmarschall von Kalb hieß Obergarderobemeister. […] Ferdinand war nicht der Sohn des Vicedoms, sondern nur dessen Neffe. ‚Es giebt eine Gegend in meinem Herzen, worin das Wort Onkel noch nie gehört worden ist!‘“ 2 Vgl. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. 10. Aufl. Tübingen 2001, S. 408. https://doi.org/10.1515/9783110660920-006

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mit seinem eigenen Stück zu „regenerieren“ versucht hatte (TBR 2831 / TBW 2910). Im Folgenden soll genauer auf diese Konstellation eingegangen werden.

6.1.1 Gattungsgeschichte des bürgerlichen Trauerspiels Literaturhistorisch betrachtet definiert sich das bürgerliche Trauerspiel stets durch einen „programmatischen Gegensatz zur klassischen Tragödie“,3 die in erster Linie „Haupt- und Staatsaktion“ mit höfischen Akteuren zum Thema hat. Schon die Zusammensetzung des vorwiegend bürgerlichen Bühnenpersonals steht im Widerspruch zur Ständeklausel, die für das tragische Geschehen lediglich hochrangige Persönlichkeiten mit „Fallhöhe“ zulässt.4 Anders als die hohe Tragödie oder das Märtyrerdrama ist der Schauplatz des bürgerlichen Trauerspiels ferner die intime Sphäre der Familie, wo die Privatangelegenheiten des sich ausbildenden Bürgertums verhandelt werden.5 Angestrebt wird nicht mehr die Bewunderung der Selbstaufopferung oder der absoluten Hingabe an die erlösende Transzendenz, sondern die Vermittlung einer bürgerlichen Lebensethik und die Kultivierung der Gefühle, besonders der Rührung und der Sympathie. Durch die Menschlichkeit der fühlenden Figuren soll der Zuschauer unmittelbar angesprochen werden, sodass ihm „nur Ein[e] Empfindung“ zufließt: „[E]in Mensch zu sein.“ (FA 8, S. 200; Hervorhebung im Original) Die Betonung der bürgerlichen Gefühlskultur und die theoretische Begründung einer Mitleidsästhetik sind besonders in der Entwicklungslinie der Gattung innerhalb des deutschsprachigen Raums ausgeprägt. Entschieden hat Lessing die Stimulation der Sympathie als die Aufgabe des Trauerspiels schlechthin definiert. Im „Briefwechsel übers Trauerspiel“ schreibt er im November 1756 an Nikolai: „Kurz, ich finde keine einzige Leidenschaft, die das Trauerspiel in dem Zuschauer rege macht, als das Mitleid.“6 Entgegen einer Ästhetik der Bewunderung definiert Lessing die Sensibilisierung des Mitleidsvermögens als die zentrale Funktion der Tragödie: „[S]ie soll unsre Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern.“7 Das Mitleid hat in Lessings Verständnis nicht nur eine wirkungsästhetische Intention, sondern ist auch die ethische Fundierung des Menschen: „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmuth der

|| 3 Zur Soziogenese des bürgerlichen Trauerspiels vgl. Arnold Hauser: Sozialgeschichte der Kunst und Literatur. 2 Bde. 2. Aufl. München 1958, hier Bd. 2, S. 87. 4 Vgl. Peter Szondi: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert, hg. von Gert Mattenklott. Frankfurt a. M. 1973, S. 33f. 5 Vgl. Karl S. Guthke: Das deutsche bürgerliche Trauerspiel. 2. Aufl. Stuttgart 1976, S. 16. 6 Gottholf Ephraim Lessing: [Briefwechsel über das Trauerspiel]. In: ders.: Literaturtheoretische und ästhetische Schriften, hg. von Albert Meier. Stuttgart 2006, S. 23. 7 Lessing: Literaturtheoretische und ästhetische Schriften, S. 24.

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aufgelegteste.“8 Das Evozieren des Mitleids durch Trauerspiele trägt unmittelbar zur Kultivierung der Menschlichkeit bei. Deshalb resümiert Hans-Jürgen Schings, dass Lessing der Tragödie keine Moral vorschreibe, sondern in der „phänomenologischen Beschreibung ihrer Wirkung“ der Mitleidspflege ihre Moralität entdeckt habe.9 Schiller teilt zunächst ebenfalls die wirkungsästhetische Bestimmung des Mitleids als Zweck der Tragödie: „Die Tragödie endlich vereinigt alle diese Eigenschaften, um den mitleidigen Affekt zu erregen.“ (FA 8, S. 274; Hervorhebung im Original) Jedoch wird das pathetisch-affektvolle Mitleid als notwendige Voraussetzung in das Konzept des Erhabenen integriert. Die Sympathie als Ergebnis „sinnlicher Provokation“10 setzt die Transzendierung des Subjekts in den übersinnlichen Bereich der moralischen Independenz in Gang. In der Veranschaulichung des Leidens sei stets, wie Klaus L. Berghahn zu Recht konstatiert, auch die Möglichkeit zur „Erhebung über das Leid“ enthalten.11 Schiller zufolge bewerkstelligt die tragische Kunst ihren letzten Zweck, nämlich die „Darstellung des Übersinnlichen“, dadurch, „daß sie uns die moralische Independenz von Naturgesetzen im Zustand des Affekts versinnlicht.“ (FA 8, S. 423) Ungeachtet seines transitorischen Charakters wird dem Mitleid im bürgerlichen Trauerspiel des Weiteren eine politisch-gesellschaftskritische Funktion zugeschrieben. Bewusst wird die Mitleidsfähigkeit zur Verdeutlichung des ethischen Gegensatzes zwischen dem menschlich empfänglichen Bürgertum und der starren Gefühlsregulierung des Hofs eingesetzt. Peter Szondi hat herausgearbeitet, dass die Mitleidsästhetik allein nur einen Abfindungsmechanismus des Bürgers mit seiner faktischen Ohnmacht im Absolutismus sei, da die politisch-sozialen Ursachen des zu bemitleidenden Unglücks nicht in Frage gestellt seien.12 Dies ist übrigens auch ein Grund dafür, dass engagierte Dichter wie Bertolt Brecht das Mitleidskonzept aufgrund der aus ihm folgenden „Handlungsresignation“13 als unhaltbar verwerfen: Die affektvolle, restlose Einfühlung in das leidende Subjekt verschleiert die kritische Einsicht in die mitleidserregenden sozialen Missstände, die keineswegs schicksalhaft-unentrinnbar sind. Deshalb wäre in einer nichtaristotelischen Dramatik anstelle der Furcht die „Wissensbegierde“, anstelle des Mitleids die „Hilfsbereitschaft“ zu

|| 8 Lessing: Literaturtheoretische und ästhetische SchriftenS. 25. Hervorhebung im Original. 9 Hans-Jürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner. 2. Aufl. Würzburg 2012, S. 39. 10 Hans-Jürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, S. 51. 11 Klaus L. Berghahn: „Das Pathetischerhabene“, S. 219. 12 Peter Szondi: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert, a. a. O. Hier S. 167. 13 Hans-Jürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, a. a. O. Hier S. 14.

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setzen, 14 um die Passivität der Sympathie durch die tätige Handlung des Zuschauers abzulösen und auf diese Weise das Mitleid schließlich überflüssig zu machen. Nichtsdestotrotz erhält die Wertschätzung der moralischen Emotionalität und ihrer theatralischen Vorführung in der Dichotomie von Bürgertum und Adel eine gesellschaftskritische Dimension. Die in der Entstehung des Absolutismus vollzogene Trennung von öffentlicher Machtpolitik und intimem Gewissen des Menschen wendet sich im Zuge der Aufklärung, die an der Universalität der Menschlichkeit festhält, nun gegen die Aufspaltung in das „Private“ und „Etatistische“,15 die ursprünglich nicht nur der Lehre von der Staatsraison zugrunde lag, sondern auch die Entfaltung der individuellen Moral ermöglichte. Diesen dialektischen Prozess von der Genese der bürgerlichen Kritik zeichnet Reinhart Koselleck in seiner Schrift Kritik und Krise mit argumentativer Eindringlichkeit. Um der Beschwichtigung konfessioneller Konflikte willen wurde die zentralisierte Macht des Souveräns als eine den individuellen Gewissensansprüchen übergeordnete Instanz aufgefasst, die absolute Subordination forderte, sodass die moralische Beurteilung bei der konkreten Ausübung der Herrschaftsgewalt irrelevant wurde und nur in intimen Privatsphären Anspruch auf Gültigkeit erheben konnte. Allein dadurch konstituiert sich ein selbstständiges ethisches Feld, das sich nicht neben der Politik, sondern gegen sie positioniert. Da die Ethik auf der Vernunft basiert und daher die Allgemeingültigkeit – ungeachtet spezifischer Einzelfälle – beansprucht, stellt sie sich der Sonderstellung der rein machtpolitischen Kalkulationen entgegen, die sich der moralischen Regulation zu entziehen versuchen. „[S]o spart sich die Kritik zunächst aus dem Staate aus, um dann gerade auf Grund dieser Aussparung sich scheinbar neutral auf den Staat auszuweiten und ihn ihrem Richterspruch zu unterwerfen.“16 Das moralische Urteil verwandelt sich also in ein „Politikum“ der politischen Kritik.17 Darüber hinaus macht Koselleck auf den öffentlichen Charakter der verselbstständigten bürgerlichen Sittlichkeit aufmerksam. Wenn die Moral zur Opposition der staatlichen Gesetze hinüberwechsle, so werde sie zu einer „öffentlichen Gewalt, die zwar nur geistig wirkt, aber in ihrer Auswirkung politisch ist.“18 Ihre weithin sichtbare Wirksamkeit erzielt sie nun nicht zuletzt durch öffentliche Einrichtungen wie das Theater, das gerade wegen seiner peripheren Stellung im staatsrechtlichen Gefüge eine unabhängige und kritische Urteilsinstanz darstellt. Exemplarisch nennt Koselleck Schillers Schaubühnen-Rede, die sich für die kompensatorische und revi|| 14 Bertolt Brecht: Über experimentelles Theater. In: ders.: Werke in fünf Bänden. Bd. 5: Schriften, hg. von Werner Mittenzwei. Berlin (DDR) 1973, S. 263–284, hier S. 280. 15 Vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt a. M. 1973, S. 29. 16 Reinhart Koselleck: Kritik und Krise, S. 81. 17 Reinhart Koselleck: Kritik und Krise, S. 84. 18 Reinhart Koselleck: Kritik und Krise, S. 47.

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dierende Funktion der „Gerichtsbarkeit der Bühne“ einsetzt: „Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt. Wenn die Gerechtigkeit für Gold verblindet, […] übernimmt die Schaubühne Schwert und Waage, und reißt die Laster vor einen schrecklichen Richterstuhl.“ (FA 8, S. 190) Folgerichtig fährt Koselleck fort: „Die moralische Rechtsprechung wird also durch die mangelhaften politischen Gesetze hervorgerufen, ihr Urteilsspruch wird durch die Politik provoziert, wie andererseits die Unzulänglichkeit der politischen Gesetze erst auf der Bühne in aller Deutlichkeit sichtbar wird.“19 Insofern erfährt das Theater – und insbesondere das bürgerliche Trauerspiel – eine resolute Politisierung,20 da es mithilfe der dargestellten individuellen Schicksale in der Lage ist, eine öffentliche Klage zu artikulieren und damit über die Grenze der handlungsimmanenten Privatheit hinauszugehen. Dieter Borchmeyer hat zu Recht den Öffentlichkeitsentzug im bürgerlichen Trauerspiel – etwa bei Lessings Emilia Galotti – betont: Denn dort wird das Bühnengeschehen anders als in der römischen Vorlage vom öffentlichen Forum in die familiäre Sphäre verlegt, was die ursprüngliche politische Brisanz schwächt.21 Jedoch beschreibt seine These, dass das bürgerliche Trauerspiel „ein Symptom der Entfremdung zwischen Bürger und dem Staat, zwischen dem politischen Menschen und dem Privatmenschen“ sei,22 lediglich die Entstehungsbedingungen dieser literarischen Gattung. Zwar ermöglicht es die Trennung von homo politicus und homo humanus, das bürgerliche Interieur als Schauplatz tragischer Vorgänge zu gestalten, aber gerade weil, wie in Emilia Galotti und insbesondere in Kabale und Liebe zu beobachten ist, die Familie nicht mehr jenen von der Politik abgeschnittene Zufluchtsort darstellt, sondern der höfischen Willkür schonungslos ausgesetzt ist, wird die theatralische Veranschaulichung dieser Willkürlichkeit zu einem öffentlich-politischen Akt, der der Emanzipation des Bürgers zum mündigen Staatsbürger dient. „Aus dem Bourgeois ist der Citoyen geworden“, bringt Szondi auf den Punkt.23 Trotz des glänzenden Anfangs geriet die Gattung des bürgerlichen Trauerspiels in der Mitte des 19. Jahrhunderts dennoch in eine Krise, weil die gesellschaftskritischen Komponenten im Zuge der einsetzenden Restauration zugunsten der Rührungsaffekte entschärft, ja verdrängt worden waren. Karl S. Guthke skizziert die unerfreuliche Situation des bürgerlichen Trauerspiels ab 1800 folgendermaßen:

|| 19 Reinhart Koselleck: Kritik und Krise, S. 83. 20 Zur Politisierung des bürgerlichen Dramas vgl. Peter Szondi: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhunderts, S. 173. 21 Vgl. Dieter Borchmeyer: Tragödie und Öffentlichkeit. Schillers Dramaturgie im Zusammenhang seiner ästhetisch-politischen Theorie und die rhetorische Tradition. München 1973, S. 25. 22 Dieter Borchmeyer: Tragödie und Öffentlichkeit, S. 30. 23 Peter Szondi: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhunderts, S. 173.

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Die Sozialgesinnung ist konservativ; der Ständestaat wird nicht angetastet; man fühlt sich an seinen gesellschaftlichen Ort gebunden; Obrigkeitstreue ist selbstverständlich; tugendhaftgesinnungstüchtig, manchmal deutschtümelnd, lebt man statuiert und pflichtbewusst in seinem Kreis, in einer bis zum Trivialen realistisch ausgemalten Welt.24

Erst mit der jungdeutschen Bewegung erhält die bürgerliche Dramatik neuen Schwung, indem der zunächst standesspezifische Konflikt zu einer Generalkritik der bestehenden sozialen Ordnung und der gesellschaftlichen Konventionen ausgeweitet wird.25 Als Gegenspieler bürgerlicher Helden tritt außer dem Adel nun vor allem die Gesellschaft als Institution auf, so etwa bei Karl Gutzkow, dessen Stücke, wie Hebbel konstatiert, „de[n] Mensch[en] im Kampf mit der Gesellschaft“ zum Thema machen (W 11, S. 23). Die soziale Dramatik Gutzkows zeigt Hebbel zufolge, „daß dieselben Formen, die dem Geschlecht Halt und Bestand geben, das einzelne Individuum in extremen Fällen vernichten können […].“ (W 11, S. 23) Gerade die Träger der gesellschaftlichen Existenz erhalten ein tragisches Potential, da sie um der Selbsterhaltung willen unter Umständen vernichtend auf die einzelnen Gesellschaftsmitglieder wirken können, ja sogar müssen. Zum Protagonisten einer unbedingten Tragik avanciert das Individuum, weil es einer „unbegreiflichen Freiheit“ (W 11, S. 4) zum Trotz dennoch Teil des Ganzen bleibt und sich notwendigerweise der Gemeinschaft aufopfern muss, sofern es in eine unumgängliche Konfliktsituation mit derselben gerät. Dadurch erscheint die entpersonifizierte Gesellschaft als eine zwingende Macht, angesichts derer das nonkonforme Individuum dem tragischen Untergang ausweglos ausgeliefert ist.

6.1.2 Die Gattung regenerieren: Hebbels Neukonzeption Gleich einer Selbstrechtfertigung setzt sich Hebbel im Vorwort zu Maria Magdalene mit der Gattungstradition und dem tief gesunkenen Zustand des bürgerlichen Trauerspiels kritisch auseinander und nimmt mit seiner allgemein gehaltenen Polemik implizit auf Schiller Bezug. Das bürgerliche Trauerspiel sei, so Hebbels Diagnose,

|| 24 Karl S. Guthke: Das deutsche bürgerliche Trauerspiel, S. 87–91. 25 Ludwig Robert etwa schreibt in dem Brief, der seinem Trauerspiel Die Macht der Verhältnisse beigestellt ist, dass die Tragik seines Stücks nicht mehr vom Schicksal der Einzelnen, sondern von den drei „[a]llgemeine[n] und sanktionirte[n] Vorurteile[n]“ ableitet sei, nämlich erstens von der Unterscheidung zwischen den „natürlichen und unnatürlichen“ Kindern, zweitens von den „ständische[n] Geburtsvorrechte[n]“ sowie drittens von der „in eine sichtbare und konventionelle Form getretene[n] äußere[n] Ehre“. Vgl. Ludwig Robert: Die Macht der Verhältnisse. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen und zwei Briefe über das antike und moderne und über das sogenannte bürgerliche Trauerspiel. Stuttgart und Tübingen 1819, S. 138. Zu Roberts Drama und Hebbels bürgerlichem Trauerspiel vgl. Ludger Lütkehaus: Friedrich Hebbel: „Maria Magdalene“. München 1983, S. 120– 125.

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aus zwei Gründen in „Mißkredit“ geraten: Erstens weil der tragische Konflikt nicht von den „inneren“ Elementen des Bürgertums, sondern von „allerlei Äußerlichkeiten“ herrührte; zweitens weil die „schöne[n] Reden“ oder die mutwillig unterstellte „Borniertheit“ die realistischen Charaktere verfälschten (W 11, S. 62f; Hervorhebung im Original). Die „Äußerlichkeiten“ bestünden vor allem im zufälligen „Zusammenstoßen des dritten Standes mit dem zweiten und ersten in Liebes-Affairen“, woraus „unleugbar viel Trauriges, aber nichts Tragisches“ hervorginge (W 11, S. 62). Unter Beschuss gerät nicht zuletzt Schillers Kabale und Liebe, deren tragischer Ausgang eben einer solchen standesübergreifenden Liebschaft geschuldet ist. Dem Standesunterschied, der als eine rein koinzidente soziale Konstellation nicht zm wesentlichen Kern des zu problematisierenden Bürgertums gehöre, mangle es an der unumgänglichen, „mit dem Leben selbst“ (W 11, S. 62)26 gesetzten Notwendigkeit, durch die das Drama erst zur Tragödie werde. Des Weiteren werde in der Beurteilung der dramatischen Ausführung zu viel nach der „sogenannten ‚blühenden Diktion‘“ gefragt (W 11, S. 64). Es wiederholt sich die Auseinandersetzung mit dem „jammervollen bunten Kattun“ (W 11, S. 64) der rhetorischen Virtuosität in der Dramatik, die eines der Hauptkriterien der Hebbelschen Schiller-Kritik darstellt, denn der Kattun der Schönrederei schreibe sich wie mancherlei ebenfalls „von Schiller her.“27 Die rhetorisch aufgeladene Sprache verhindert die Gestaltung des „lebendigen Redens“ (W 11, S. 63) und pervertiert die Authentizität des Menschen der darzustellenden Lebensrealität. Insofern scheint Hebbels Gattungskritik in doppelter Hinsicht eine Auseinandersetzung mit Schiller zu sein: Sowohl thematisch als auch stilistisch rekurriert sie auf eine implizite Gegnerschaft mit Schiller. Aus diesem Grund zieht Hebbel, um das bürgerliche Trauerspiel als Gattung zu rehabilitieren, ein „einfache[s] Lebensbild“ (TBR 2831 / TBW 2910) jenseits rhetorischer Pracht und gedanklicher Überladung vor, das sich mit „niederländischer Treue“ an den „beschränkten Kreis“ bindet.28 Sämtliches Bühnenpersonal seines Stücks entstammt den bürgerlichen Schichten; die vornehmen Herren, deren Herrschaftsfunktion durch einen bürgerlich-bürokratischen Verwaltungsapparat mit einem Bürgermeister an der Spitze abgelöst wird, bleiben weitgehend abwesend,

|| 26 Eine gänzlich auf den Klassenkampf abgesehene Deutung mag dies als ideologischen Mangel kritisieren. Beispielsweise Siegfried Streller: „Den Klassengegensatz […] betrachtet Hebbel als eine Zufälligkeit.“ Vgl. Siegfried Streller: „Maria Magdalene“. Die Wandlung des bürgerlichen Trauerspiels bei Friedrich Hebbel. In: Hans-Günther Thalheim und Ursula Wertheim (Hg.): Studien zur Literaturgeschichte und Literaturtheorie. Berlin (DDR) 1970, S. 101–115, hier S. 102. 27 Zu Hebbels Kritik an Schillers Rhetorik vgl. Kap. 4.3.1 der vorliegenden Arbeit. Erinnert sei hier an B 82, an Elise Lensing, datiert 8.–19. Dezember 1836. WAB 1, S. 138: „Der Teufel hole das, was man heut zu Tage schöne Sprache nennt; es ist dasselbe in der Dramatik, was die sog. schönen Redensarten im Leben sind. Kattun, Kattun und wieder Kattun! Es flimmert wohl, aber es wärmt nicht. Das schreibt sich auch noch, wie so manches Unwesen, von Schiller her.“ 28 Vgl. B 281, an Elise Lensing, datiert 5. Dezember 1843. WBA 1, S. 523

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und die Handlung ist einem wirklichen Vorfall entnommen.29 Ein zeitgenössischer Rezensent versichert gar, dass ihm eine Gestalt wie der Tischlermeister Anton „während meines vielbewegten Lebens“ so manches Mal begegnet sei,30 sodass Erich Auerbachs These, dass Maria Magdalene innerhalb der deutschsprachigen Literatur in der Mitte des 19. Jahrhunderts die „bedeutendste realistische Tragödie der Epoche“ sei,31 durchaus zuzustimmen ist. Dieser Realitätsnähe zum Trotz besitzt das Stück dennoch seine symbolische Dimension. Schon die vage Ortsbestimmung einer „mittlere[n] Stadt“ wirkt repräsentativ. Wie Hebbel im Vorwort betont, fordere die Geschlossenheit einer tragischen Form die Auflösung des „Einzel-Geschick[s]“ in ein „allgemein menschliches“ (W 11, S. 64; Hervorhebung im Original), um anhand der Verirrung eines individuellen Lebens die gesamte Problematik des gesellschaftlichen Status quo zu versinnbildlichen. An einem simplen Bauer wird „hell und klar / Das ganze Weltgetriebe“ (W 1, S. 305) dargestellt, wie die Muse im Prolog des Diamanten verkündet.32 Der Entwurf einer allgemeinen Sozialdiagnostik über das innere Wesen des Bürgertums, das die eigentliche Grundlage des bürgerlichen Trauerspiels bildet, wird insofern um eine welthistorische Dimension ergänzt. Das partikular Pathologische eines Milieus wird zugleich als Symptom einer Zeitkrise greifbar. Es handelt sich jedoch nicht um eine unmittelbare, gar tendenziöse Anspielung auf konkrete Zeitgeschehnisse. Nicht der Spiegel des Tages, sondern der „Spiegel des Jahrhunderts und der Bewegung der Menschheit im Allgemeinen“ (W 11, S. 51) soll die dramatische Poesie werden, und zwar dergestalt, dass sie sowohl den mentalen als auch den institutionellen Umbruchsprozess der welthistorischen Entwicklung in ihrer momentan entrückten Ideenbezogenheit kritisch reflektiert. „Das Drama, als die Spitze aller Kunst, soll den jedesmaligen Welt- und Menschen-Zustand in seinem Verhältnis zur Idee, d.h. hier zu dem alles bedingenden sittlichen Centrum […] veranschaulichen.“ (W

|| 29 Vgl. B 2666, an Siegmund Engländer, datiert 23. Februar 1863. WAB 4, S. 593: „Der Maria Magdalena […] liegt ein Vorfall zu Grunde, den ich in München selbst erlebte, als ich bei einem Tischlermeister, der mit Vornamen sogar Anton hieß, wohnte.“ Über die biographischen Hintergründe und deren literarische Verarbeitung informiert Hartmut Reinhardt: Apologie der Tragödie, S. 198–202. Zu Hebbels Verhältnis mit dem Münchner Tischlertochter Beppi Schwarz vgl. ferner Ernst Beutler: Beppi. In: ders.: Essays um Goethe. Erweiterte Frankfurter Ausgabe, hg. von Christian Beutler. Frankfurt a. M. 1975, S. 763–774. 30 Vgl. Heinrich Schmidt: „Correspondenz“, datiert 28. April. 1848. In: Allgemeine Theater=Chronik. Jg. 1848, Nr. 56. S. 221–222, hier S. 222 31 Erich Auerbach: Mimesis, S. 479f. 32 Diese Komödie, der Kuriosität halber sei es hier angemerkt, hat ihren Stoff einer Episode aus Schillers Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung zu verdanken (vgl. TBR 1047 / TBW 1061), und beginnt mit (fast) demselben Satz wie Schillers Kabale und Liebe: „Ein für alle Mal“, so lautet das erste Wort der Komödie (W 1, S. 323). Vgl. das Anfangswort des Musikus Miller in Schillers Kabale und Liebe (FA 2, S. 565): „Einmal für allemal. Der Handel wird ernsthaft.“

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11, S. 40; Hervorhebung im Original) Da das bürgerliche Trauerspiel gattungsgemäß in der Regel ein tragisches Vorkommnis mit individuellem Unglück zum Gegenstand hat, kann es das „Moment der Idee“ dadurch sichtbar zu machen, dass die zeitsymptomatische „Gebrochenheit“ (W 11, S. 46) des Lebens der Idee gegenübergestellt wird. Gerade in der Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Idealität wird also der Kern des Seins sichtbar. Insofern muss das bürgerliche Trauerspiel eine problembewusste Form werden, die die gestörte mikrokosmische Ordnung ernst nimmt, um auf die makrokosmische Krise hinzuweisen.

6.2 Die beiden bürgerlichen Trauerspiele: Vergleichbarkeiten 6.2.1 Die Personenkonstellation und der antithetische Titel Trotz unterschiedlicher, ja gegensätzlicher konzeptioneller Überlegungen weist Hebbels Maria Magdalene zunächst einige formale Ähnlichkeiten mit Schillers Kabale und Liebe auf. Es gehört wohl zur Ironie der Gattung, dass beide Stücke trotz der gemeinsamen bürgerlichen Basis dennoch einer Standesperson gewidmet sind, die die finanzielle Existenzmöglichkeit des jeweiligen Dichters sicherstellt. 33 In beiden Dramen wird der tödliche Ausgang der Protagonisten durch Durst und Trank herbeigeführt.34 Wie Wurm in Kabale und Liebe ist Friedrich, Klaras Jugendliebe, ein Sekretär.35 Nicht zuletzt weisen beide Titel eine antithetische Struktur auf, die auf die dramatische Grundspannung im Stück verweist. Bei Schiller wird mit der Gegenüberstellung von „Kabale“ und „Liebe“ zugleich der Konflikt zwischen zwei – keineswegs streng standesgebundenen – ethischen Verhaltensmodellen ins Zentrum gerückt: man denke an die leidenschaftliche Liebe Ferdinand von Walters und die abscheuliche Intrige des Sekretairs Wurm. Bei Hebbel deutet die Anspielung im Titel auf jene erlösungswürdige Sünderin auf die psychische Komplexität des Menschen hin, in dem sich Schuld und Sühne, bedingt durch ihren gemeinsamen Ursprung in der Liebe, unzertrennlich vereinen. Die Konfrontation der konträren Sozialgruppen wird bei Hebbel seinem psychologischen Interesse gemäß zur

|| 33 Hebbels Maria Magdalene ist bekanntlich dem dänischen König Christian VIII., Schillers Kabale und Liebe dem Intendanten des Mannheimer Nationaltheaters Heribert Freiherr von Dalberg gewidmet. Vom dänischen König erhielt Hebbel ein Reisestipendium, Schiller vom Freiherrn von Dalberg einen Vertrag als Hausdramaturg. 34 Um Karl einen frischen Trunk zu schaffen, geht Klara zum Brunnen und ertränkt sich dort. Vgl. Maria Magdalene III/8; W 2, S. 67: „Karl. Ein Glas Wasser könntest Du mir noch bringen, aber es muß recht frisch sein!“ Eine vergiftete Limonade vereinigt Ferdinand und Louise in dem Tod. Vgl. Kabale und Liebe V/2; FA 2. S. 661: „Noch eine Bitte Louise – die letzte! […] Willst du mir ein Glas Limonade zurecht machen [.]“ 35 Vgl. Das Personalverzeichnis in FA 2, S. 564: Wurm ist „Haussekretair des Präsidenten“.

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Seelendynamik einer einzelnen Person verdichtet. Insofern folgt die Regenerierung des bürgerlichen Trauerspiels abermals der Strategie der konsequenten Psychologisierung, die für Hebbels Schiller-Rezeption charakteristisch ist.

6.2.2 Vaterbindung und Familienproblematik Sowohl in Hebbels Maria Magdalene als auch in Schillers Kabale und Liebe spielen eine starke emotionale Vater-Tochter-Beziehung, die dem bürgerlichen Trauerspiel eigentümlich ist,36 sowie die damit verbundene Problematisierung der hierarchischen Struktur der bürgerlichen Kleinfamilie, eine bedeutende Rolle. Zwar tritt in beiden Fällen auch eine Mutter auf, aber sie entwickelt anders als der Vater kein eigenes Profil und verschwindet zügig und fast spurlos wieder von der Bühne.37 Im Gegensatz dazu nehmen die Väter eine umso gewichtigere Stellung bei der Entfaltung der Tragik ein. Beide, der Stadtmusikus Miller wie der Tischlermeister Anton, erreichen ihr sechzigstes Lebensjahr38 – ein Alter, dem die Sorge der Töchter gilt. Der letzte Gedanke Klaras vor ihrem Tod ist, „des Vaters Abendtrank“ (III/8; W 2, S. 66) vorzubereiten. Nur um den Vater zu schonen, begeht sie Selbstmord,39 und aus demselben Grund gibt Schillers Louise den Suizidgedanken auf (V/1; FA 2, S. 657). Das gegensätzliche Verhalten der beiden Töchter verweist auf denselben Problemkomplex der patriarchalischen Familienordnung, die von den Kindern unbedingten Gehorsam fordert. Während aber die Söhne meistens im Stande sind, sich gegen das väterlichen Machtmonopol zu erheben, müssen sich vor allem die Töchter der patriarchalischen Machtstruktur unterwerfen.40 Dabei müssen die Fragwür|| 36 Vgl. Wolfgang Düsing: „Ich bin die Tochter meines Vaters.“ Väter und Töchter im bürgerlichen Trauerspiel von Lessing bis Hebbel. In: Wolfgang J. Bandion und Christa Agnes Tuczay (Hg.): „Das Weib im Manne zieht ihn zum Weibe; der Mann im Weibe trotzt dem Mann“: Geschlechterkampf oder Geschlechterdialog. Friedrich Hebbel aus der Perspektive der Genderforschung. Berlin 2008, S. 27–41. 37 Louises Mutter, deren Name der Leser nie erfährt, hat zwar durchs unvorsichtige Plaudern die Tragödie im eigentlichen Sinne herbeigeführt. (Vgl. Wurms Worte: „Die Mutter – die Dummheit selbst – hat mir in der Einfalt zuviel geplaudert.“ Kabale und Liebe I/5; FA 2, S. 579. Sie wird aber nicht, wie ihr Mann, von der einstweiligen Gefangennahme zurückkehren und wird auch nicht, in der letzten Abschiedsszene, von ihrer Tochter vermisst. Klaras Mutter stirbt zwar früh, lässt aber kein handlungstechnisches Vakuum hinter sich. Sie wird in gewisser Hinsicht nur weggeräumt, um die familiäre Sphäre gänzlich der Willkür des Meister Anton zu überlassen. 38 Vgl. Klara zu Karl (III/8; W 2, S. 65): „Und du willst den Vater allein lassen? Er ist sechszig Jahr!“ Vgl. ferner Louise zu Ferdinand (III/4, FA 2, S. 622): „Ich habe einen Vater, der kein Vermögen hat, als diese einzige Tochter – der morgen sechzig alt wird – der der Rache des Präsidenten gewiß ist. “ 39 Auf die Warnung Leonhards, dass Klara, wenn sie sich das Leben nähme, zugleich Selbst- und Kindermörderin würde, antwortet Klara (III/4; W 2, S. 59): „Beides lieber, als Vater-Mörderin!“ 40 Wolfgang Düsing: „Ich bin die Tochter meines Vaters“, S. 40.

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digkeit und Schwierigkeit der intensiven Vaterbindung nicht subjektiv bewusst sein – gerade die Selbstverständlichkeit der Selbstaufopferung verdeutlicht die tiefgeschlagene Wurzel des verinnerlichten Zwangs. Es ist die Intention Hebbels, das Tragische nicht aus dem Zusammenstoß der Stände, sondern aus dem „zähen u in sich selbst begründeten Beharren“ der bürgerlichen Welt und den damit einhergehenden „überlieferten patriarchalischen Anschauungen“ abzuleiten.41 Letztere manifestieren sich nun vor allem in der ökonomischen Auffassung vom eigenen Nachwuchs, der nur als Kapitalanlage für die eigene Alterspflege verstanden wird. Unverhohlen wird es von Musikus Miller,42 verhaltener von Meister Anton ausgesprochen: Die Kinder seien wie „Aecker“ (I/5; W 2, S. 25), die man mit Hoffnung auf Ernte besät; sie sollten für den alternden Vater sorgend „ein weiches Kopfkissen“ stopfen (II/1; W 2, S. 38). Deshalb bezeichnet sich Louise, da sie, lebensmüde, der Versorgungsverantwortung nicht nachkommen kann, explizit als „große Schuldnerin“ ihres Vaters, den sie im jenseitigen Leben „mit Wucher“ bezahlen wird (V/1; FA 2, S. 656). Die Beziehung zu den Eltern wird der Logik des Geldes entsprechend zum Zinsgeschäft. Scharfsinnig hat Max Horkheimer erkannt, dass die einseitige Funktionalisierung der Nachkommen zur Altersvorsorge und die Verwirtschaftlichung der verwandtschaftlichen Verhältnisse in Wirklichkeit einer Fortsetzung der kapitalistischen Verdinglichung des Menschen im Familienleben gleichkommt: Die Kinder gelten als „lebendig[e] Versicherungen“, „von denen man alle Mühe später mit Zinsen zurückerwartet.“43 Die Möglichkeit, sowohl innerhalb der Familie als auch in der gesellschaftlichen Interaktion Menschlichkeit zu entfalten, wird eben durch die immensen Verpflichtungen gegenüber dem patriarchalischen Familienoberhaupt erschwert. Selbst die Tränen des Vaters erhalten wegen seiner absoluten Machtstellung eine despotische Verfärbung – „Daß die Zärtlichkeit noch barbarischer zwingt, als Tyrannenwut!“ (V/1; FA 2, S. 657) Die Problematik der patriarchalischen Familienstruktur verschärft sich zusehends im Rahmen der lutherisch-puritanischen Familienethik. Überzeugend hat Ernst Manheim dargelegt, dass mit der sich vertiefenden Christianisierung die Parallelität der kirchlichen Institutionen und der Familie immer deutlicher wurde. Im Zuge dieses Strukturwandels werde das Familienoberhaupt „primär nicht mehr Hausherr, sondern Vormund“.44 Mit dem Aufkommen des Protestantismus aber

|| 41 B 283, an Stich-Crelinger, datiert 11. Dezember 1843. WBA 1, S. 526. 42 Vgl. Vater Millers Worte: „Die Zeit meldet sich allgemach bei mir, wo uns Väter die Kapitale zu statten kommen, die wir im Herzen unsrer Kinder anlegten – Wirst du mich darum betrügen, Louise?“ V/1; FA 2, S. 655. 43 Max Horkheimer: Theoretische Entwürfe über Autorität und Familie. Allgemeiner Teil. In: ders. (Hg.): Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus Institut für Sozialforschung. Reprint der Ausgabe Paris 1836. Lüneburg 1987, S. 3–76, hier S. 64. 44 Ernst Manheim: Beiträge zu einer Geschichte der autoritären Familie. In: Max Horkheimer (Hg): Autorität und Familie, S. 523–574, hier S. 524.

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befestigt sich die Machtstellung der väterlichen Autorität. Die Forderung nach freiwilliger Unterwerfung – sowohl vor dem himmlischen als auch vor dem weltlichen Herrn – werde auf den familiären Bereich erweitert, in dem der Hausvater „eine gottgeheiligte, monarchische Autorität“ erhalte,45 oder, wie Ernst Troeltsch formulierte, zu dem „Rechtsvertreter, de[m] nicht kontrollierte[n] Gewaltinhaber, de[m] Brotherr, de[m] Seelsorger und Priester seines Hauses“ werde.46 Als Stellvertreter Gottes innerhalb der eigenen vier Wände vermag der Familienvater nicht nur auf individuelle Lebensführung der Hausgenossen Einfluss zu nehmen, sondern auch Segen (etwa anlässlich der Eheschließung) oder Fluch (bei Austreibung oder Enterbung, die eine säkulare Form der Exkommunikation darstellt) auszusprechen.47 Deutlich trifft die beschriebene Konstellation auf die Texte Schillers zu, dessen Gesamtwerk vom Motiv der Personalunion des häuslichen und des himmlischen Vaters durchzogen ist.48 Nicht nur, dass Karl von Moor selbst inkognito den väterlichen Segen erbitten will (V/2, FA 2, S. 153f.), sondern der Vaterfluch erschüttert auch in Kabale und Liebe das liebende Paar aufs Äußerste: „Und der Fluch deines Vaters uns nach? – ein Fluch […], der uns Flüchtlinge, unbarmherzig, wie ein Gespenst, von Meer zu Meer jagen würde?“ (III/4; FA 2, S. 622) Der Hausvater wird hier zu einer zu einer mit weltlicher Verfügungsgewalt ausgestatteten religiösen Instanz erhoben. Noch eindrücklicher zeigt sich manifestiert sich die Problematik der patriarchalischen Struktur in der Familie des Meister Anton im Horizont der puritanischen Ethik der „innerweltlichen Askese“, wie sie Max Weber in seiner Protestantischen Ethik untersucht hat.49 Dass die Tischlerfamilie konfessionell protestantisch geprägt ist, geht aus dem gesungenen Kirchenlied „Nun danket alle Gott“ sowie Klaras Wunsch, dass sie gerne einen Glauben „wie die Katholischen“ hätte (I/3; W 2, S. 16), hervor. Die Religiosität des Meister Anton wird noch durch die Schilderung seines Kirchenerlebnisses akzentuiert, bei dem die Imagination eines von der täglichen Welt abgeschnittenen dunklen Raums die religiöse Erfahrung intensiviert (I/5; W 2, S. 25). Hierin spiegelt sich die seelische „Vereinsamung“ des sich innerlich isolierenden Einzelnen, die für die Mentalität des von allen sinnlichen Affekten abgewendeten Puritanismus charakteristisch ist.50 Die routinierten Ess- und Heizord-

|| 45 Ernst Manheim: Beiträge zu einer Geschichte der autoritären Familie, S. 571. 46 Vgl. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Zitiert nach Max Horkheimer: Theoretische Entwürfe über Autorität und Familie, S. 51. 47 Ernst Manheim: Beiträge zu einer Geschichte der autoritären Familie, S. 572f. 48 Vgl. Peter Michelsen: Bruch mit der Vater-Welt. Studien zu Schillers „Räubern“. Heidelberg 1979. 49 Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Max Weber: Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung. Hg. von Johannes Winckelmann. 2. Aufl. München und Hamburg 1969. 50 Vgl. Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 122f.

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nungen (III/7; W 2, S. 62f.) sowie die entschiedene Ablehnung von Spielen und Verschwendung zeugen von einer planmäßigen Lebensführung nach einer Ordnung, die nach Max Webers das wichtigste Mittel der Askese in der Lehre der puritanischen Ethik darstellt.51 Die Herrschaft des Vaters demonstriert sich nicht allein in der Bestimmung der Ordnungsregel,52 sondern auch im alleinigen Besitzen des Hauseigentums.53 Das Machtgefälle wird ferner dadurch verstärkt, dass die Tochter sich nur durch ihr Tochtersein definiert: „[I]ch bin die Tocher meines Vaters, […] nur als Tochter des alten Mannes, der mir das Leben gegeben hat“ (III/2; W 2, S. 55), steht Klara vor Leonhard und bittet um Heirat. Hierdurch erscheint die Protagonistin nicht als eine autonom Handelnde, sondern als eine, die der väterlichen Gewalt deterministisch unterliegt und sich schließlich das Leben nehmen muss, nur um dem Vater keine Schande zu machen. „Es giebt keinen ärgern Tirannen, als den gemeinen Mann im häuslichen Kreise“ (TBR 665 / TBW 677), notiert Hebbel 1837. Damit trifft er den Nerv der Zeit. Die „absolute elterliche Autorität“ und die rücksichtslose Degradierung der Kinder aufgrund oft nur minimaler Überschreitungen der gesellschaftlichen Normen sind von dem vielgelesenen französischen Polizeiarchivar Jacques Peuchet und dessen deutschem Übersetzer Karl Marx als die ausschlaggebenden Ursachen des Selbstmords identifiziert worden.54 Die Familie wird von Peuchet als „Reservat vorrevolutionärer Tyrannei“ begriffen;55 die von der väterlichen Hausgewalt regelrecht in den Tod getriebene Selbstmörderin decke in Wahrheit „das Symptom der mangelhaften Organisation unserer Gesellschaft“ auf.56 Wiederum schließt das vermeintlich beschränkte Bild einer kleinen Handwerkerfamilie an die zeitgenössische Krise der breiteren bürgerlichen Gesellschaft an und schöpft aus seinem realistischen Zeitbezug die revolutionäre Sprengkraft.

6.3 Ehre und Öffentlichkeit: Hebbel mit Schiller 6.3.1 Moralrigorismus und zeitgenössische Kritik Nicht nur die Problematisierung der patriarchalischen Familienstruktur, sondern auch die Infragestellung des individuellen ethischen Rigorismus, insbesondere hinsichtlich der Sexualmoral, markiert die von Hebbel selbst beanspruchte Aktuali-

|| 51 Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 136f. 52 Vgl, hierzu Hartmut Reinhardt: Apologie der Tragödie, S. 234. 53 Vgl. Klara: „[A]lles, was im Hause ist, gehört meinem Vater.“ I/3; W 2, S. 16. 54 Vgl. Karl Marx (Hg.): J. Peuchet. Vom Selbstmord. Zitiert nach: Ludger Lütkehaus: Friedrich Hebbel: „Maria Magdalene“. München 1983, S. 129–132, hier S. 132. 55 Ludger Lütkehaus: Friedrich Hebbel: „Maria Magdalene“, S. 22. 56 Ludger Lütkehaus: Friedrich Hebbel: „Maria Magdalene“, S. 132.

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tät des eigenen bürgerlichen Trauerspiels. Dass die Dramatisierung einer unehelichen Schwangerschaft und der dahinterstehenden Strenge der Sexualmoral trotz einer liberalen literarischen Tradition durchaus Aktualität besaß, zeigt die Schwierigkeit des Stücks auf dem Theater. Die renommierte Berliner Schauspielerin Auguste Stich-Crelinger verweigerte die Vermittlung des Stücks an die Direktion der Hofbühne aufgrund der „offenkundige[n] Schwangerschaft der Heldin“, die „Alles über den Haufen“ stoße.57 Diese „unübersteigerliche Schwierigkeit“ mache eine Aufführung gänzlich unmöglich.58 Die Einwände Hebbels und seine Berufung auf Goethes Gretchen und Klärchen wurden nicht berücksichtigt.59 Bis 1848 blieb Maria Magdalene in Wien verboten.60 Wenn man so möchte, musste die Tischlertochter einen zweifachen Tod erleiden, da dieselbe „prüde und aggressive Sexualmoral“, die sie in den Selbstmord trieb, „auch die Geburt des Stücks auf der Bühne“ verhinderte.61 Noch 1850, als das Stück endlich im Berliner Königlichen Schauspielhaus über die Bühne ging, wurde über die Aufführung berichtet, dass ein großer Teil des weiblichen Publikums das Theater „in auffallender Weise“ verlassen habe, als es keinen Zweifel mehr am Zustand der Protagonistin noch hätte geben können.62 Aber auch für die männlichen Zeitgenossen – den Dichter eingeschlossen – war das ethische Dilemma ebenfalls relevant. Die Begegnung mit Christine Enghaus versetzte Hebbel in die Situation des Sekretärs, da er den natürlichen Sohn dieser Schauspielerin annehmen sollte. Er blieb in Wien, nicht aus Rücksicht auf die Hamburger Freundin, sondern – nach eigener Angabe – um zu beweisen, dass über die uneheliche Mutterschaft doch ein Mann weg könne, und um dadurch die moralische Botschaft des eigenen Stücks zu retten.63 Dass er dabei auch die Rolle des Leonhard übernähme, der die Mutter seines Kindes sitzen lässt, scheint ihm nicht bewusst gewesen zu sein. Mag diese Ausrede wie eine blasse Entlastung eines schuldigen Gewissens klingen,

|| 57 B 291, von Stich-Crelinger, datiert 6. Januar 1844. WBA 1, S. 549. 58 B 291, von Stich-Crelinger, datiert 6. Januar 1844. WBA 1, S. 549. 59 Vgl. Hebbels Antwortbrief an Stich-Crelinger, aufgenommen in TBR 2924 / TBW 3003. 60 Vgl. Hartwig Sievers: Hebbels „Maria Magdalene“ auf der Bühne. Ein Beitrag zur Bühnengeschichte Hebbels. Berlin und Leipzig 1933, S. 18f. 61 Vgl. Ludger Lütkehaus: Friedrich Hebbel: „Maria Magdalene“, S. 33. 62 Vgl. Allgemeine Theaterchronik. Jg. 1850, Nr. 29, S. 114. Zitiert nach: Hartwig Sievers: Hebbels „Maria Magdalene“ auf der Bühne, S. 53. 63 Vgl. B 414, an Felix Bamberg, datiert 27. Juli 1846. WAB 1, S. 804: „Ich kämpfte mit mir, ob ich fliehen solle, aber nicht aus Rücksicht auf mein Hamburger Verhältniß, denn dieses war für mich abgetan, sondern weil mir das neue eine bittre Pflicht auflegte, eine Pflicht, der mich im ersten Moment eben so wenig gewachsen fühlte, wie der Secretair in der Maria Magdalena. Wissen Sie, warum ich nicht floh? Weil ich Verfasser dieses Dramas bin, weil ich mich der Probe, die das Schicksal mir auflegte, nicht entziehen konnte, ohne mein Stück, und also meine ganze Poesie für eine schnöde Heuchelei zu erklären, weil ich mich schämte, in einem Lebensbilde moralische Forderung ausgesprochen zu haben, die zu erfüllen mir selbst zu schwer fiel.“

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so zeigt sie doch, dass in Maria Magdalene zeitspezifische Fragen der Sittlichkeit verhandelt werden. Radikalisiert wird die ethische Problematik durch die Dogmatisierung der Moral. Nicht die Sittlichkeit an sich, sondern die Erstarrung derselben zu bloßen äußerlichen Maximen, die uneingeschränkt gültig sind, führt das Verhängnis herbei. Schon der seinerzeit einschlussreiche Theaterkritiker H. T. Rötscher erkennt die tragische Spannung in Hebbels bürgerlichem Trauerspiel, die stets mitschwingt: „Je starrer diese dogmatische Moral auftritt, je mehr sie als eine unfehlbare Lebensregel in Fleisch und Blut übergegangen ist, umso tyrannischer ist ihre Herrschaft,“64 Problematischer als die Sexualmoral und die Diffamierung der unehelichen Schwangerschaft ist jedoch für die tragische Struktur letztendlich die erstarrte Vorstellung der öffentlichen Ehre, die vor allem von Meister Anton vertreten wird.

6.3.2 Semantik der Ehre in Maria Magdalene Maria Magdalene ist eine Tragödie der Ehre. Es ist die Fixierung auf den eisernen Ehrenkodex, die das Unglück auslöst. Die tragische Ironie liegt gerade darin, dass Meister Anton, der „ehrlichste Mann in der Stadt“ (I/7; W 2, S. 35), die strenge Vergeltung des Gerichtsdieners Adam dadurch provoziert hatte, dass er ihm einst die Ehre durch die Weigerung, mit ihm anzustoßen, genommen hatte. Ausführlich schildert Klara den Vorfall: Der Gerichtsdiener hat im Wirthshaus einmal sein Glas neben das meines Vaters auf den Tisch gestellt und ihm dabei zugenickt, als ob er ihn zum Anstoßen auffordern wolle. Da hat mein Vater das seinige weggenommen und gesagt: Leute im rothen Rock mit blauen Aufschlägen mußten ehemals aus Gläsern mit hölzernen Füßen trinken, auch mußten sie draußen vor dem Fenster, oder, wenn’s regnete, vor der Thür stehen bleiben und bescheiden den Hut abziehen, wenn der Wirt ihnen den Trunk reichte; wenn sie aber ein Gelüsten trugen, mit Jemanden anzustoßen, so warteten sie, bis der Gevatter Fallmeister vorüber kam. Gott! Gott! Was ist alles möglich auf der Welt! (II/3; W 2, S. 45f.)

„Charakteristisch für die von der Literatur erkannten Beharrungstendenzen ständischer Ehrbegriffe ist die Einstellung gegenüber den ‚unehrlichen Leuten‘“, kommentiert Wolfgang Frühwald.65 Sinnbildlich gibt diese Szene das ständische Ehrverständnis des Meister Anton wieder. Der Ausschluss aus dem Innenraum des Lokals sowie das demütige Hutabziehen sind Formen der Degradierung, die auf einen his-

|| 64 Sigmund Engländer: Die Aufführung der Maria Magdalena von Hebbel auf dem Hofburgtheater in Wien im Mai 1848. Zitiert nach: Hans Wütschke: Hebbel in der zeitgenössischen Kritik. Berlin 1910, S. 188–203, hier S. 191. 65 Wolfgang Frühwald: Die Ehre des Geringen. In: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 9 (1983), S. 69–86, hier S. 73.

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torisch niederen sozialen Rang, beispielsweise vertreten durch den Schlachter und Gerichtsknecht, verweisen. Noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zählten Abdecker, Scharfrichter, Amts- und Gerichtsknechte zu den „unehrlichen“ Berufen.66 Es gehörte zu den „Mißbräuchen“, wie ein Reichsgutachten feststellte, wenn ein Handwerker „auch wohl bloß unwissend und unversehens, mit Abdeckern getruncken, gefahren oder gegangen“ sei.67 Es herrscht eine regelrechte Angst vor „Kontakt mit den unehrlichen Personen durch Nähe oder Berührung (z. B. in einer Patenschaft oder Speise- und Trinkgemeinschaft).“68 1797 verfügte noch die Ansbacher Regierung, dass die Stadt- und Landknechte nun „Stadtgerichts- und Amtsdiener“ genannt werden sollten, „um dem in den hiesigen Fürstenthümern herrschenden Vorurteil, als klebe an dem Amte eines Gerichtsknechtes levis notae macula, abzuhelfen.“69 Insofern hat die ablehnende Haltung des Meister Anton tatsächlich eine sozialgeschichtliche Rechtfertigung. Klaras Bericht macht allerdings deutlich, dass diese Übersteigerung des Ehrbegriffs, der noch an das Zunftwesen gebunden ist, als historisch überholt gelten muss und dass sich Meister Anton durchaus bewusst ist, dass seine Ehrendogmen bereits veraltet ist. Es handelt sich um ein „Ehemals“, um eine Verhaltensvorschrift im Präteritum, die ausschließlich der Vergangenheit angehört. Die Fixierung auf ständische Ehre hat also keine Gegenwärtigkeit mehr. Ausgerechnet daraus ergibt sich jedoch das tragische Geschick der Familie. Die Struktur der rückwärtsgewandten Mentalität unterstreicht Hartmut Reinhardt zu Recht: „Wenn die handwerkliche Ehrlichkeit an Geltung verliert, dann kann gerade die Überbetonung des Ehrbegriffs durch den Handwerker das sozialgeschichtlich signifikante Faktum ergeben.“70 Jedoch wirkt diese Signifikanz zerstörerisch, gerade weil sie anachronistisch und ihre Voraussetzung nicht mehr vorhanden ist, sodass ihre Konsequenz nicht mehr allgemein akzeptiert werden kann. Konsequent ist es deshalb, dass Harald Weinrich die Ehre als „Mythologie“,71 und Heinz Schlaffer sie als „Gespenst“ bezeichnet.72 Beide haben eingesehen, dass

|| 66 Vgl. Helmut Möller: Die kleinbürgerliche Familie im 18. Jahrhundert. Verhalten und Gruppenstruktur. Berlin 1969, S. 206. 67 Helmut Möller: Die kleinbürgerliche Familie im 18. Jahrhundert, S. 206. Vgl. Hans Proesler: Das gesamtdeutsche Handwerk im Spiegel der Reichsgesetzgebung von 1530–1806. Berlin 1954, S. 66f. 68 Dagmar Burkhart: Eine Geschichte der Ehre. Darmstadt 2006, S. 45. 69 Johann Andreas Ortloff: Corpus Juris Opificiarii oder Sammlung von allgemeinen Innungsgesetzen und Verordnungen für die Handwerker. Erlangen 1804. Zitiert nach Helmut Möller: Die kleinbürgerliche Familie im 18. Jahrhundert, S. 207. 70 Hartmut Reinhardt: Apologie der Tragödie, S. 210. 71 Vgl. Harald Weinrich: Mythologie der Ehre. Ethik der Öffentlichkeit. In: Merkur (23) 1969, Bd. 251, H. 3, S. 224–239. 72 Heinz Schlaffer: Tragödie und Komödie. Ehre und Geld. Lessings „Minna von Barnhelm“. In: ders.: Der Bürger als Held. Sozialgeschichtliche Auflösung literarischer Widersprüche. Frankfurt a. M. 1973, S. 86–126, hier S. 86

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die Ehre, obzwar der Vorzeit angehörig, dennoch nach wie vor absolute Geltung für sich beansprucht. Sie wird deshalb formalistisch73 und veräußert sich ferner zu bindenden jedoch substanzlosen Normen der gesellschaftlichen Interaktion. Gerade die Abhängigkeit der Ehre von sozialer Akzeptanz macht sie, um mit Hegel zu sprechen, zum „schlechthin Verletzliche[n]“,74 da in ihr nichts Substantielles, sondern lediglich das „ganz Formell[e] und Gehaltlos[e]“, namentlich das „trocken[e] Ich“ enthalten sei.75 Das Beharren auf einer sinnentleerten Ehrkonstruktion wirkt umso überholter, desto mehr die „erstarre Formalität des öffentlichen Rituals“ 76 der Ehrerbietung seit der Aufklärung problematisiert wird. „Die Ehre ist – die Ehre.“77 Diese Tautologie aus Lessings Minna von Barnhelm verdeutlicht die Unmöglichkeit, die allein auf formale Anerkennung abzielende Ehre inhaltlich zu begründen. Mit der Idee der inneren Würde tritt das „moralische Verantwortungsgefühl, das keiner äußerlichen Bestätigung mehr bedarf“,78 in den Vordergrund. Bona conscientia statt bona fama: Die innere Überzeugung von der eigenen Rechtfertigkeit ersetzt das Bedürfnis nach unbedingter Reputation. Dennoch lässt sich, wie Peter-André Alt plausibel gemacht hat, eine Weiterführung der Ehrproblematik in der Literatur des 19. Jahrhunderts feststellen. Das Prinzip der Verinnerlichung weiche laut Alt trotz der Emanzipation des Individuums immer häufiger dem Streben nach äußerlich wahrnehmbarer Zustimmung.79 Dabei entwickelt sich eine Paradoxie in der Akkumulation der Ehre: Gerade weil sie die Funktion habe, sich gegen die Verleumdung der Welt zu behaupten, werde die „Identifikation mit der Welt, ihren Urteilen und Normen“ erforderlich.80 Die Integration des Ehr-baren Einzelnen in die Gemeinschaft der Ehre bedeutet die Auflösung seiner spezifischen Individualität und die Amalgamierung mit der „soziale[n] Homogenität“.81 Deshalb könne der Ehrbegriff nicht den griechischen des Schicksals ersetzen, weil die individuelle Auflehnung als Entfaltung der Freiheit fehle, wie Schlaffer argumentiert.82 Die Regenerierung der Tragik wird jedoch gerade durch die Übermacht der Normen und die prinzipielle Unmöglichkeit eines Ausweichens ein-

|| 73 Herbert Kaiser bezeichnet Leonhard und Meister Anton beide mit Recht als „identitätslose Formalisten“. Herbert Kaiser: Friedrich Hebbel. Geschichtliche Interpretation des dramatischen Werks. München 1983, S. 58. 74 Hegel: Ästhetik, Bd. 1, S. 538, Hervorhebung im Original. 75 Hegel: Ästhetik, Bd. 1, S. 537. 76 Peter-André Alt: Der Held und seine Ehre. Zur Deutungsgeschichte eines Begriffs im Trauerspiel des 18. Jahrhunderts. In: JbDSG 37(1993), S. 81–108, hier S. 85. 77 Gotthold Ephraim Lessing: Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück. In: Kurt Wölfel (Hg.): Lessings Werke. Bd. 1: Gedichte, Fabel, Dramen. Frankfurt a. M. 1967, S. 293–276, hier IV/6, S. 356. 78 Peter-André Alt: Der Held und seine Ehre, S. 91. 79 Peter-André Alt: Der Held und seine Ehre, S 108. 80 Ludger Lütkehaus: Friedrich Hebbel: „Maria Magdalene“, S. 47. 81 Heinz Schlaffer: Tragödie und Komödie, S. 99. 82 Heinz Schlaffer: Tragödie und Komödie, S. 99.

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geleitet, da angesichts der Kopplung des sozialen Prestiges an die Ehre als Form gesellschaftlicher Anerkennung die Subjektivität lediglich durch die Meinung des Anderen konstituiert wird und zudem keine Ausdrucksmöglichkeit der wesenhaften Individualität mehr besitzt. Es ist die Gebundenheit des engen, zu jeder emanzipierenden Dialektik unfähigen Kleingeistes an die Einseitigkeit des versteinerten Ehrenkodexes, auf der Hebbels bürgerliches Trauerspiel beruht.

6.3.3 Semantik der Ehre in Kabale und Liebe Die ständische Auffassung der Ehre wird auch in Schillers bürgerlichem Trauerspiel thematisiert. Sowohl die bürgerlichen als auch die adligen Figuren betonen gerne ihre Ehrbarkeit. Wenn der Musikus Miller wiederholt seinen Namen nennt – „Ich heiße Miller“ (I/1; FA 2, S. 568; II/6; FA 2, S. 607) –, ist dies nichts anderes als die Hervorhebung des ehrlichen Namens, die Betonung der anerkennenswerten Reputation eines Gerechten. Auch Louise ist sich des Verlusts ihres ehrlichen Namens bewusst, als sie den meineidigen Brief dem Sekretair Wurm aushändigt: „Nehmen Sie mein Herr. Es ist mein ehrlicher Name.“ (III/6; FA 2, S. 630) Als eine Standesperson pocht der Major Ferdinand auf seine adlige Ehrbarkeit und widersetzt sich der Heirat mit der fürstlichen Maitresse; er erklärt der Lady Milford gegenüber kurz und bündig: „Ich bin ein Mann von Ehre.“ (II/3; FA 2, S. 594) Dabei verweist er auch auf seinen Degen und Degenquast als Zeichen seiner Soldatenehre (II/3; FA 2 S. 594f.; II/7; FA 2, S. 610). Als Vergeltung für das vermeintliche Rendezvous mit Louise fordert er den Hofmarschall zum Duell mit Pistolen heraus (IV/3; FA 2, S. 634), welches, wie Max Kommerell in Bezug auf spanische Ehrdramen vortrefflich bemerkt, „der eigentlich symbolische Akt des Ehrenkodexes“ ist.83 Später wird Sekretär Friedrich ebenfalls aus verletzten Ehrgefühl den Verführer Leonhard zum Pistolenduell herausfordern (III/6; W 2, S. 60ff.). Schließlich droht der Präsident bei Beleidigung seines Ansehens mit dem Pranger (II/6; FA 2, S. 608), einer Institution der öffentlichen Ehrenstrafe, die trotz grundsätzlicher Anerkennung der allgemeinen Menschenwürde dennoch ein Bestandteil der Kriminalstrafmaßnahmen blieb, bis sie die Reichsverfassung von 1848 beziehungsweise 1849 zumindest juristisch abschaffte.84 Bei der Gestaltung der Ehrenproblematik in Schillers Kabale und Liebe handelt es sich aber weniger, wie Weinrich generell für die früheren bürgerlichen Trauerspiele annimmt,85 um die potentielle Verletzung der Ehre der Frauen durch standes|| 83 Max Kommerell: Beiträge zu einem deutschen Calderon. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1946, hier Bd. 1, S. 90. 84 Zur Geschichte der Prangerstrafe vgl. Mareike Fröhling: Der moderne Pranger. Von den Ehrenstrafen des Mittelalters bis zur Prangerwirkung der medialen Berichterstattung im heutigen Strafverfahren. Marburg 2014. 85 Harald Weinrich: Mythologie der Ehre, S. 228.

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übergreifende Liebesaffären und den Verlust der Jungfräulichkeit. Vielmehr geht es um die Konfrontation von selbstbewusster Moralität und höfischen Intrigen. Besonders dramatisch erscheint diese der ersten Begegnung Ferdinands mit Lady Milford. Die Ehre verdeutlicht den Grad der sittlichen Überlegenheit und markiert außerdem einen selbstverpflichtenden Erwartungshorizont, welcher moralisch fragwürdiges Handeln gar nicht zulässt. Da die Ehre in diesem Fall der Wahrnehmung der eigenen Würde entspringt, gilt sie unabhängig von dem tatsächlichen Standpunkt in der sozialen Rangordnung. Selbst der Souverän ist „nicht über die Ehre erhaben.“ (II/3; FA 2, S. 594) Nichtsdestotrotz ist dabei auch die Tendenz zur Veräußerlichung der Ehre zum Zwecke reinen höfisch-gesellschaftlichen Ansehens, ohne inneren Garanten der Moralität zu verzeichnen. Vor allem wird sie ablesbar an der Gestalt der Lady Milford. „[I]ch habe dem Fürsten meine Ehre verkauft, aber mein Herz habe ich frei behalten“, so sagt sie zu ihrer Kammerjungfer, unmittelbar bevor sie Ferdinand empfängt. Die Dichotomie von der wegen begangener Schuld verlorenen äußeren Ehre und der unbefleckten inneren Tugend des Herzens deutet ein Thema an, das auch den Novellisten Schiller beschäftigt haben. Freilich behandelt „Der Verbrecher aus Infamie“ die moralische Reintegrierbarkeit eines schuldig Gesprochenen kleinbürgerlichen Standes nach dem Verlust seiner Ehre, dessen krimineller Werdegang von der erlittenen Diffamierung angestoßen wird.86 Sein Bestreben sich zu rehabilitieren, geht schlussendlich soweit, dass er den Soldatentod sucht.87 Angesichts einer solchen Tragik spricht sich der Erzähler in Bezug auf das geschilderte Schicksal des Sonnenwirts auch für juristische Nachsicht und die Berücksichtigung des Seelenzustands von Täter aus: Die Richter sollten nicht nur in „das Buch der Gesetze“, sondern auch „in die Gemütsverfassung des Beklagten“ (FA 7, S. 568) hinein schauen. Die freiwillige Entsagung der herzoglichen Gunst und die Ermahnung an die Glückseligkeit des Landes (IV/9; FA 2, S. 649) kennzeichnen den seelischen Adel der wegen ihres Maitressenexistenz entehrten Lady Milford. Insofern bewahrheitet sich das Wort Ferdinands, dass schon öfters die Tugend die Ehre überlebte (II/3; FA 2, S. 595). Deshalb setzt die Lady neben der leidenschaftlichen Liebe noch den „Ruf

|| 86 Vgl. FA 7, S. 570f.: „Alle Welt floh mich wie einen Giftigen, aber ich hatte endlich verlernt, mich zu schämen. […] Die ganze Welt stand mir offen, ich hätte vielleicht in einer fremden Provinz für einen ehrlichen Mann gegolten, aber ich hatte den Mut verloren, es auch zu scheinen. Verzweiflung und Schande hatten mir endlich diese Sinnesart aufgezwungen. Es war die letzte Ausflucht, die mir übrig war, die Ehre entbehren zu lernen, weil ich an keine mehr Anspruch machen durfte. […] Ich wollte Böses tun, soviel erinnere ich mich noch dunkel. Ich wollte mein Schicksal verdienen.“ 87 Der Sonnenwirt bittet, da gerade der Siebenjährige Krieg tobte, um eine Reuterstelle im Dienst seines Landesherrn – leider umsonst. Weil diese Bitte unerwidert blieb, entschied er, „aus dem Land zu fliehen und im Dienste des Königs von Preußen als ein braver Soldat zu sterben.“ FA 7, S. 583.

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der Tugend“ und Wärme des menschlichen Miteinanders gegen „das kalte Wort Ehre“ ein (II/3; FA 2, S. 599). Die Ehre als Ausdruck öffentlicher Ehrerbietung spiegelt keineswegs automatisch die Moralität des Individuums wider. Die Independenz des Gewissens und der Würde von der formalen Reputation tritt so zu Tage. Darum muss zwischen der substantiellen und formellen Ehre, die lediglich in der allgemeinen Billigung besteht, unterschieden werden. Gerade diese letzte Form der rein formellen Ehre wird aber zum Problem. Als Mitglied des Hofs ist die Lady eine öffentliche Person, deren Ansehen bewahrt werden muss: Meine Leidenschaft, Walter, weicht meiner Zärtlichkeit für Sie. Meine Ehre kanns nicht mehr – Unsre Verbindung ist das Gespräch des ganzen Landes. Alle Augen, alle Pfeile des Spotts sind auf mich gespannt. Die Beschimpfung ist unauslöschlich, wenn ein Untertan des Fürsten mich ausschlägt. (II/3; FA 2, S. 600)

Auf der einen Seite handelt es sich hier um die hierarchische Überlegenheit, die die ständische Ehre einer fürstlichen Dame schützt. Auf der anderen Seite geht es aber um die potentielle öffentliche Beschämung, die die eigentliche Gefahr für die Reputation darstellt. Die wirkliche Klippe der Ehre ist nicht der Verlust der Virginität und moralischen Unantastbarkeit, sondern das Gerede, die Publizität und die öffentliche Meinung. Der wahre Abgrund ist die soziale Umgebung eines Menschen – die Öffentlichkeit.

6.3.4 Die Öffentlichkeit in Kabale und Liebe Zwar wird die Öffentlichkeit in Schillers bürgerlichem Trauerspiel nicht als eine konkrete inszeniert, jedoch schwebt sie als Damoklesschwert über den Köpfen und wird vor allem im höfischen Machtspiel als Druckmittel eingesetzt. Um Ferdinands Einwilligung in die Ehe zu erzwingen, beauftragt der Präsident den Hofmarschall, die Nachricht über die bevorstehende Eheschließung mit Lady Milford in der ganzen Residenz bekanntzumachen: „Nun muß ja mein Ferdinand wollen, oder die ganze Stadt hat gelogen“ (I/6; FA 2, S. 581), weil die Hochzeit bereits „in Jedermanns Munde“ ist (III/2; FA 2, S. 616). Da die Ehre sich in öffentlicher Anerkennung realisiert und insofern eine fremde wertende Instanz voraussetzt, so kann die vorgreifliche Meinungsbildung zur Einengung der Handlungsautonomie instrumentalisiert werden. Die betroffene Person würde aus Rücksicht auf ihre Ehre dazu tendieren würde, sich der öffentlichen Erwartungshaltung zu beugen. Gerade bei einem Mann der Ehre wie Ferdinand muss diese Strategie der öffentlichen Unterdrucksetzung, so das offenbare Kalkül des Präsidenten, aufgehen. Auf der anderen Seite kann aber die öffentliche Meinung auch als Abwehrmechanismus gegen die Willkür der Macht eingesetzt werden. Angespielt wird hier auf die herrschaftslegitimierende Funktion der öffentlichen Meinung, wie David Hume

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programmatisch formuliert: „It is therefore, on opinion only that government is founded.“88 Als jeder Versuch, einschließlich freiwilliger Aufopferung der eigenen Soldatenehre,89 um Louise vor der Gefangennahme und der drohenden öffentlichen Beschämung an der Schandsäule zu bewahren, gescheitert ist, sieht sich Ferdinand gezwungen, zu einem „teuflischen“ Mittel zu greifen: „Ihr“, flüstert er dem Vater ins Ohr, „führt sie zum Pranger fort, unterdessen erzähl’ ich der Residenz eine Geschichte, wie man Präsident wird.“ (II/7; FA 2, S 610) Gegen den Missbrauch der Herrschaftsgewalt setzt Ferdinand den öffentlichen Skandal – und ist offenbar damit erfolgreich. Das eigentliche Schreckensszenario ist nicht der Ehrverlust des eigenen Sohns, sondern die Aufdeckung der „falschen Briefe und Quittungen“ und weiterer Verbrechen vor der „ganzen Welt“ (III/2; FA 2, S. 617). Nicht so sehr ein juristischer Prozess, der manipuliert werden könnte, als vielmehr das allgemeine Publikwerden seiner Geheimnisse stellt die wahre Furcht des Präsidenten dar. Die Öffentlichkeit, an der zwar noch das „Teuflische“ haftet, deutet jedoch mit der Denunziation ihre zerstörerische Macht schon an. Der tendenziell „öffentliche“ Charakter von Kabale und Liebe wird nicht nur durch den pathetischen Sprachstil und die Inszenierung großer Szenen – etwa des Schlusstableaus – sichtbar,90 sondern das Drama kündigt auch jenen Entstehungsprozess einer bürgerlichen Öffentlichkeit an, die als Gegensatz zur höfischen Repräsentativität konzipiert wird. In seinem grundlegenden Werk Strukturwandel der Öffentlichkeit hat Jürgen Habermas mit klarer Übersicht die Antipoden der bürgerlichen Öffentlichkeit mit der höfischen Obrigkeit analysiert. Vor ihm führte aber bereits Ernst Manheim die Entstehung einer selbstständigen bürgerlichen Sozietät im 18. Jahrhundert auf den Verlust der städtischen Verwaltungsermächtigung des Bürgertums zurückgeführt: Die Eingliederung der Stadt in den territorialen Regierungsapparat, die ab dem 16. Jahrhundert konsequent einsetzte, sowie die damit einhergehende „Abschaffung oder Umwandlung der autonomen Körperschaften in obrigkeitliche Staatsorgane“ evozierten das neue Selbstverständnis des Bürgertums, das sich nun primär durch die „Nichtzugehörigkeit zu anderen ständischen Verbänden“ definiere und aufgrund der ständischen Ungebundenheit daher den größtmöglichen Spielraum der Vergesellschaftung jenseits des Politischen in Anspruch nehme. 91 Freilich beschränkt sich Manheims Studie über die Soziologie der Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert auf kleine Gesellschaften im Sinne von Zusam-

|| 88 David Hume: Of the First Principles of Government. Zitiert nach: Elisabeth Noelle-Neumann: Öffentliche Meinung. Die Entdeckung der Schweigespirale. Berlin 1996, S. 103. 89 Vgl. Kabale und Liebe II/7; FA 2, S. 610: Ferdinand will den „Offiziers-Degen auf das Mädchen werfen“, um sich der Ehre entblößt mit Louise gemeinsam der öffentlichen Beschämung ausliefern lassen. 90 Vgl. Dieter Borchmeyer: Tragödie und Öffentlichkeit, S. 76f. 91 Vgl. Ernst Manheim: Aufklärung und öffentliche Meinung. Studien zur Soziologie der Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, hg. von Norbert Schindler. Stuttgart/Bad Cannstatt 1979, S. 118–120.

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menschlüsse auserlesener Einzelner.92 Darüber hinaus begreift er das Verhältnis der Öffentlichkeit und der Herrschaftsmacht als ein unabhängiges Nebeneinander. Im Zuge des Strukturwandels, wie ihn Habermas schildert, lässt sich aber eine Politisierung der bürgerlichen Öffentlichkeit registrieren. Kants Idee vom freien „öffentlichen Gebrauch“ der eigenen Vernunft ermutigt die konstruktive publizistische Meinungsäußerun, die gls Beförderung der Aufklärung verstanden wird, sofern sie die Befolgung des Obrigkeitsbefehls nicht hindert.93 Auf diese Weise wird der sich heranbildenden öffentlichen Meinung eine „legislative Kompetenz“ zuerkannt,94 weil sie einen offenen Diskurs über öffentliche Angelegenheiten in Gang setzt. Dabei verhält sich die Öffentlichkeit der hoheitlichen Gewalt gegenüber nicht selten kritisch und zwingt oft die Letztere zur Legitimation, da sie das Interesse des bürgerlich-merkantilistischen Frühkapitalismus vertritt.95 Der Adressat der Obrigkeit verwandelt sich in deren Kontrahenten. Die beiden Funktionen einer bürgerlichen Öffentlichkeit, nämlich „Kritik und Legislative“,96 vereinigten sich schließlich in der Französischen Revolution, deren Bemühungen, das Prinzip der Volkssouveränität und des Parlamentarismus zu etablieren, trotz des vorübergehenden Scheiterns untilgbar fortdauern. Offenbar wird an die allgemeine Diskutierbarkeit des Politischen die Vorstellung vom öffentlichen Charakter des Rechts angeknüpft. Die „Form der Publizität“ bildet, wie Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden analysiert hat, die Grundlage des öffentlichen Rechts, weil es ohne sie „keine Gerechtigkeit (die nur als öffentlich kundbar gedacht werden kann), mithin auch kein Recht, das nur von ihr erteilt wird, geben würde.“97 Die generelle Mitteilbarkeit wird also als Substrat der Gerechtigkeit begriffen, da zum einen das Recht eine objektiv-allgemeine Geltung beinhaltet und daher öffentlich vertretbar sein muss, und zum anderen der Zwang

|| 92 Zu den Forschungsgegenständen Manheims gehören z.B. die „Sprachorden“, die „patriotischmoralischen und die deutschen Gesellschaften“ sowie das Freimaurertum, aber nicht die öffentliche Meinung der Gesellschaft als Summe aller zwischenmenschlichen Beziehungen. 93 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.): Was ist Aufklärung? Thesen, Definitionen, Dokumente. Stuttgart 2010, S. 9–18, hier S. 11: „[Z]u dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.“ 94 Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 119. 95 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 82. 96 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 173. 97 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: Anita und Walter Dietze (Hg.): Ewiger Friede? Dokumente einer deutschen Diskussion um 1800. Leipzig/Weimar 1989, S. 82– 115. Vgl. insbesondere „Anhang II. Von der Einhelligkeit der Politik mit der Moral nach dem transzendentalen Begriffe des öffentlichen Rechts“, S. 112. Zu Theorien der Öffentlichkeit vgl. auch Torsten Liesegang: Öffentlichkeit und Öffentliche Meinung. Theorien von Kant bis Marx (1780– 1850). Würzburg 2004.

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der Publizität zum aufrichtigen Informieren jede verheimlichte Manipulation aus partikularen Interessen unmöglich macht. Gerade aufgrund dieser auch zeitgenössisch evidenten Verbindung der Öffentlichkeit und der Gerechtigkeit erhält Ferdinands „teuflischem Mittel“, den verbrecherischen Aufstieg des eigenen Vaters aufzudecken, seine innere Plausibilität. Denn die Ver-Öffentlichung bedeutet, die vertuschte Gesetzwidrigkeit vor ein urteilendes Publikum zu stellen und die dafür Verantwortlichen dadurch öffentlich zur Verantwortung zu ziehen – genau so hatte Schiller in seiner Schaubühnen-Rede die Öffentlichkeitsfunktion des Theaters als höhere Gerichtsinstanz besonders betont. Die Drohung zur Publizität ist zugleich die Forderung nach Gerechtigkeit. Habermas, der die bürgerliche Öffentlichkeit primär als eine Machtinstitution innerhalb der staatlichen Herrschaftshierarchie beschreibt, hat allerdings in seiner Untersuchung den Bestand und den Zusammenhalt des Bürgertums stillschweigend vorausgesetzt. Es erscheint idealisiert als eine einheitliche Gruppe mit derselben Zielsetzung und formiert sich zu einer solidarischen Opposition gegen die unbefugten Eingriffe der fürstlichen Willkür. Dass aber das Bürgertum nicht nur Subjekt, sondern auch Objekt jener zerstörerischen Wirkung der Publizität ist, muss ebenfalls ernstgenommen werden. Im Gegensatz zu dem Optimismus der Aufklärung, die die öffentliche Meinung als Ausdruck der allgemeingültigen Vernunft feiert, ist erfahrungsgemäß doch nicht zu verleugnen, dass der Konsens manchmal zum Vorurteil, die Öffentlichkeit zum Klatsch verzerren kann. Da der Prozess der Vergesellschaftung durch Öffentlichkeit einer gegenseitigen Verständigung bedarf, steht das Mitglied eines Zusammenschlusses, das sich die Integrationspflicht auferlegt hat, unter dem Zwang der Homogenisierung. Sowohl gegenüber der Herrschaft als auch gegenüber dem Einzelnen in der Gesellschaft vermag die Öffentlichkeit ihre Wirksamkeit zu entfalten. Während sie dort als kritische Instanz eine Legitimationsfunktion übernimmt, gilt sie hier, wie Elisabeth Noelle-Neumann analysiert, als „Mittel sozialer Integration, sozialer Stabilität.“98 Die regulierende Macht der Öffentlichkeit zwingt innerhalb des vorgegebenen sozialen Rahmens zum Konformismus, fordert das Einhalten von herrschenden Normen und Regeln, und schließt fernerhin das vom vorgeschriebenen Konsens abweichende Individuum aus, indem sie es diskreditiert. Weil sich das Bürgertum nun wesentlich über die Ehre definiert, so wird die Bewahrung der Ehre, die in erster Linie von der öffentlichen Anerkennung abhängt, zur Hauptaufgabe des bürgerlichen Einzelnen. Dadurch erhält die Meinung der anderen, die nicht selten vom konventionellen Denken oder dem unreflektierten Urteilen herrührt, eine faktische Hoheit jenseits aller Hinterfragbarkeit.

|| 98 Vgl. Elisabeth Noelle: Öffentliche Meinung und Soziale Kontrolle. Tübingen 1966, S. 10; vgl. ferner S. 20: „Öffentliche Meinung ist eine Kraft, die nach zwei Seiten wirkt: Sie integriert einerseits die Herrschaft und andererseits den einzelnen mit der Gesellschaft.“

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Schon der Anfang von Kabale und Liebe deutet diese innere Problematik einer bürgerlichen Öffentlichkeit an: „Einmal für allemal. Der Handel wird ernsthaft. Meine Tochter kommt mit dem Baron ins Geschrei. Mein Haus wird verrufen.“ (I/1; FA 2, S. 565) „Geschrei“ und Verrufensein – beide Zeichen eines möglichen Ehrverlusts – kündigen zwar die nahende Krise der Familie Miller an, werden aber nicht etwa von der moralischen Verwerflichkeit einer ständeüberschreitenden Liebesbeziehung, sondern von der ablehnenden öffentlichen Meinung hergeleitet, denn vom Skandalösen kann nur in Bezug auf ein negativ wertendes Publikum die Rede sein. Dass eine derart rigorose, mit moralischem Regulierungsapparat versehene, bürgerliche Öffentlichkeit, die letztendlich über die Zugehörigkeit des einzelnen Mitglieds zur Sozietät entscheidet, auch tödlich wirken kann, zeigt Hebbels bürgerliches Trauerspiel Maria Magdalene.

6.3.5 Die Öffentlichkeit in Maria Magdalene Hebbels Maria Magdalene ist nicht nur eine Tragödie der Ehre, sondern zugleich eine von der unerträglichen Schwere der Öffentlichkeit. Denn es handelt sich bei der Ehre weniger um die Anerkennung eines vorhandenen ethischen Vorzugs als vielmehr um die lediglich formelle gesellschaftliche Akzeptanz in der Form des öffentlichen Ansehens. „Nicht mehr Tugend und Untugend selbst, sondern deren gesellschaftlicher Widerschein, ihr Image als Ehre und Schande, zählen in Hebbels Stück.“99 Diesen „Widerschein“ gewinnt der Einzelne jedoch nicht kraft seiner sittlichen Qualität, sondern allein durch die Interaktion mit der öffentlichen Meinung, deren unentrinnbare Gewalt sich in Hebbels bürgerlichem Trauerspiel entfaltet. Schon 1839 notiert Hebbel das tragische Potential einer absoluten Abhängigkeit von der öffentlichen Meinung: „Wie Andere ihn betrachten und wofür sie ihn halten: das ist die Atmosphäre, worin der Mensch lebt und der beste kann in der schlechtesten ersticken.“ (TBR 1443 / TBW 1505) Die psychologische Grundlage für den „Fetisch Reputation“100 ist aber weniger das aktive Streben nach Ehre, sondern, wie Noelle-Neumann zu Recht hervorhebt, die Angst vor Missachtung und Unbeliebtheit, kurz die „Isolationsfurcht“,101 die einen Konformitätszwang über jedes einzelne Mitglied der Gemeinschaft verhängt. Schopenhauer definiert deshalb die Ehre, objektiv betrachtet, als „die Meinung anderer von unserem Wert“, subjektiv gesehen, jedoch als „unsere Furcht vor dieser Meinung“.102 Während der Philosoph noch in || 99 Theo Elm: Das soziale Drama. Von Lenz bis Kroetz. Stuttgart 2004, S. 145. 100 Ludger Lütkehaus: Friedrich Hebbel: „Maria Magdalene“, S. 47. 101 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann: Öffentliche Meinung, S. 62ff. 102 Arthur Schopenhauer: Aphorismen zur Lebensweisheit. In: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 4: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften I, Hg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1993, S. 431.

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dieser Furcht eine Möglichkeit von „heilsame[r]“ Wirkung auf das Subjekt sieht,103 zeichnet der Dichter in seinem Werk eher die destruktive Macht der öffentlichen Meinung und die Wirkung der Angst vor Isolation nach. Statt von Schuld sprechen die Protagonisten deshalb konsequent von Schande, da Erstere – sofern sie nicht bloß juristisch-faktizistisch, sondern auch voluntaristisch begriffen wird104 – die Verletzung des subjektiven Gerechtigkeitsgefühls bedeutet, Letztere die allgemeine Verachtung, also eine öffentliche Beschämung. Im frühneuzeitlichen Strafsystem unterscheidet sich die Ehrenstrafe dadurch von der Schandstrafe, dass jene hauptsächlich auf „juristische Ausgrenzung“ in Form von Rechtverwirkung und Rechtsentzug, diese jedoch auf „soziale Verachtung“ abzielt.105 Beachtenswert ist auch der Sachverhalt, dass die Schandstrafe meistens von unteren Gerichtsdienern vollzogen wird.106 Schande ist nichts anderes als der publik gemachte Ausdruck der Geringschätzung des Einzelnen, sie kann zu dessen sozialer Degradierung und Isolation und schließlich zum Ehrverlust führen. Darum vermag Meister Anton, den nur die Ehre zusammenhalten könne, alles zu ertragen, „nur nicht die Schande.“ (II/1; W 2, S. 41) Als Vater eines des Diebstahls Beschuldigten kann er nicht einmal bei einem Langfinger, der ihm sogar als Vetter frech die Hand reicht, Achtung finden, sondern nur bei dem Holzhändler, der wegen seiner Taubheit von der Öffentlichkeit abgetrennt ist (II/1; W 2, S. 41f.). Auch der Kaufmann Wolfram hofft der Last der Öffentlichkeit zu entgehen. Er versucht zwar mit Bestechung das Schweigen der Dienerschaft über den Wahnsinn seiner Frau zu erkaufen, jedoch umsonst: Denn „Hunderte“ haben die Symptome einer Verrückten gesehen (II/3; W 2, S. 44). Es ist in erster Linie nicht die geistige Erkrankung seiner Frau, sondern das Gesehenwerden sowie der sich möglicherweise heraus ergebende Ansehensschaden, dem die wahre Furcht des Kaufmanns gilt. Mit seiner Bemühung, den sich im „obersten Boden“ (II/3; W 2, S. 44) abspielenden Wahnsinn eines Weibes sorgfältig vor den wertenden Augen der Öffentlichkeit zu verbergen, stellt sich Wolfram übrigens in eine Reihe mit anderen zeitgenössischen Figuren wie einem Mr. Rochester107 und beweist nur einmal mehr, dass nicht eine Tatsache, sondern das öffentliche Bekanntwerden dieses vermeintlich beschä-

|| 103 Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke Bd. 4, S. 431. 104 Zur faktizistischen und voluntarischen Schuldauffassung vgl. Claudia Benthien: Tribunal der Blicke, S. 71. 105 Vgl. Satu Lidman: Um Schande. Profil eines Frühneuzeitlichen Strafsystems. In: Sylvia KesperBiermann u.a. (Hg.): Ehre und Recht. Ehrkonzepte, Ehrverletzungen und Ehrverteidigungen vom späten Mittelalter bis zur Moderne. Magdeburg 2011, S. 197–216, hier S. 201. 106 Satu Lidman: Um Schande, S. 201. 107 Publiziert ist Charlotte Brontës Jane Eyre im Jahre 1847, nur drei Jahre später als Hebbels Maria Magdalene. Zu dieser Thematik vgl. das Standardwerk von Sandra M. Gilbert und Susan Gubar: The Madwomen in the Attic. The women writer and the nineteenth-century literary imagination. New Haven 1984.

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menden Tatbestands der eigentliche Alptraum eines Ehrenhaften ist. Daher kann nur ein Schwur zur Verheimlichung eines reputationsgefährdenden Sachverhalts, etwa jenes Gelöbnis Klaras, dass sie dem Vater „nie – Schande – machen – will“ (I/7; W 2, S. 36), gutgeheißen werden. Denn einem auf die äußerliche Form der Ehre Fixierten wie Meister Anton ist nur an der Vermeidung der öffentlichen Erniedrigung gelegen. Schließlich ist die von ihm imaginierte Strafe ja nicht die Einkerkerung im Anschluss an eine juristische Verurteilung, sondern das Spießrutenlaufen (I/7; W 2, S. 36). Tatsächlich wird Karl nach seiner Gefangennahme nicht unmittelbar dem Bürgermeister übergeben, sondern wie bei tatsächlichen Spießrutenlaufen „Straß’ auf, Straß’ ab“ vom Gerichtsdiener durch die ganze Stadt geführt (III/11; W 2, S. 69). Das historische Spießrutenlaufen, eine militärische Strafmaßnahme, war wegen seiner brutal entehrenden Wirkung während der preußischen Heeresreform abgeschafft worden.108 Wieder einmal wird hier evident, wie obsolet das formelle Ehrverständnis schon geworden ist. Selbst die Materialität der Öffentlichkeit wird kunstvoll in Hebbels bürgerliches Trauerspiel integriert und fungiert als Katalysator der Katastrophe. Einflussreich ist zum einen der verbale Druck der gesellschaftlichen Konvention, das Gerede also, welchem auch Klara unterliegt. Weder aus Liebe noch aus freiem Willen, sondern lediglich wegen der Unerträglichkeit des „Spott[s] und Hohn[s] von allen Seiten“ gibt sie dem Drängen Leonhards nach. An ihr wird die abgründige Gewalt der öffentlichen Meinung demonstriert.109 Zum anderen spielt auch die schriftliche Publizität, nämlich die Zeitung, eine entscheidende Rolle. Die polizeiliche Bekanntmachung des Diebstahls beim Kaufmann Wolfram, die aus dem Wochenblatt vorgelesen wird (I/6. W 2, S. 32f.), erweckt den Verdacht und bereitet den todbringenden Auftritt des Gerichtsdieners Adam vor, der mit einem beschriebenen „Papier“ des Untersuchungs- und Haftbefehls ins Hause dringt (I/7; W 2, S. 34). Wenn die fiktive Identität der zum Leserpublikum versammelten Privatleute in Habermas’ Analyse noch die Grundlage der entstehenden oppositionellen bürgerlichen Öffentlichkeit bildet,110 so zeigt gerade diese leserliche Publizität ihre bindende Macht im Prozess der internen Verständigung des Bürgertums. Die Objektivität und Dauerhaftigkeit der Schrift macht eine Verheimlichung unmöglich und das einmal öffentlich Verkündete unwiderruflich. Mit der Presse wird die Schande irreversibel. Da Klaras Schwangerschaft, die Hausdurchsuchung, aber auch die voreilige Gefangennahme von den Medien der Öffentlichkeit ausgelöst sind, darf diese zusammenfassend doch als Ursprung der bürgerlichen Tragik begriffen werden. || 108 Vgl. Wolfgang Frühwald: Die Ehre der Geringen, S, 77. Vgl. Reinhart Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848. München 1989, insbesondere „Exkurs I: Über die langsame Einschränkung körperlicher Züchtigung“, S. 641–659. 109 Vgl. Herbert Kaiser: Friedrich Hebbel, S. 54. 110 Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 121.

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Die Veräußerlichung der Ehre zu einem reinen formalen Sozialstatus in der Öffentlichkeit verrät dabei ihre Widersprüchlichkeit. Während der öffentliche Charakter des Rechts Transparenz und allgemeine Verifizierbarkeit fordert, lässt sich die Aufrechthaltung der Ehrbarkeit nur durch Öffentlichkeitsentzug realisieren. Die Pflege des gesellschaftlichen Ansehens hat eine kategorische Abtrennung des öffentlichen vom privaten Leben, ja die Verdrängung des Letzteren zugunsten des Ersteren zur Folge. Zwar ist die Konsolidierung der Autonomie der Privatsphäre eine nötige Voraussetzung für ein wirksames Auftreten in der Öffentlichkeit, jedoch wird jede private Angelegenheit, wie Hebbels bürgerliches Trauerspiel veranschaulicht, bei einem mechanischen Ehrverständnis ausschließlich in Bezug auf den zu wahrenden öffentlichen Schein der ehrlichen Person gedeutet und bewertet. Eine potentielle Gefährdung desselben wegen einer skandalösen Übertretung der konventionellen Grenzen, etwa in Form einer unehelichen Schwangerschaft, die allerdings selbst in diesem Dramas kein unerhörter Einzelfall ist,111 wird dadurch im Keim erstickt, dass ihr der Zugang zur Öffentlichkeit verwehrt wird. Sie muss verschwiegen und unsichtbar gemacht werden. Pointiert formuliert: Die Ehre ist nur durch Unehrlichkeiten zu bewahren. In der Schlussszene der Maria Magdalene spitzt sich die Problematik der Ehre und Öffentlichkeit radikal zu. Um dem Vater keine Schande zu machen, wählt Klara in Stille den Freitod. Meister Anton reagiert, da er den Zusammenhang ihres Selbstmords ahnt, zynisch-kaltblütig „Alles gut“ (III/11; W 2, S. 70). Dennoch kann Klara ihm „Nichts erspar[en]“, weil eine Magd sie in den Brunnen hineinspringen sieht (III/11. W 2, S. 70). Wiederum ist es nicht der Tod der Tochter mit dem ungeborenen Enkelkind im Leib, nicht einmal der dem Ehrenkodex zuwiderlaufende Suizid an sich,112 sondern die Augenzeugin, also das öffentlichen Gewahrwerden dieser Tat, was Meister Anton eigentlich aufbringt. Für ihn zählt allein die formale Ehre. Er macht sich von der „Zunge“ der nichtswürdigen „Schlange“, vom „Kopfschütteln und Achselzucken der Pharisäer“ abhängig (III/11. W 2, S. 70). Es wirkt wie tragische Ironie, dass am Ende nicht die Rehabilitierung des Tischlermeisters steht, sondern ein „Tumult“ um die Leiche entsteht. Die lediglich an öffentliche Anerkennung gebundene Ehre wird letztendlich unter öffentlichem Aufsehen zugrunde gerichtet. Ein ausschließlich an äußerem Ansehen haftender, angeblich sittlich rigoroser Ehrbegriffs ist in seinem problematischen Abhängigkeitsverhältnis von der Öffentlichkeit moralisch fragwürdig. Um das symbolische Kapital der Ehre zu vermehren und sicherzustellen, ist ihm keinen Preis zu noch – nicht einmal die Menschlichkeit.

|| 111 Vgl. Leonhards zynisches Wort: „Du sprichts, als ob Du die Erste und Letzte wärst! Tausend haben das vor Dir durchgemacht, und sie ergaben sich darein, Tausende werden nach Dir in den Fall kommen und sich in ihr Schicksal finden […].“ III/2; W 2, S. 56f. 112 Zum Selbstmord vgl. Helmut Möller: Die kleinbürgerliche Familie im 18. Jahrhundert, a. a. O. S. 205.

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Manfred Durzak zufolge hat Hebbel mit seiner Maria Magdalene darauf aufmerksam gemacht, „daß eine sich nur von der öffentlichen Anerkennung durch die andern her definierende honorige Bürgerlichkeit einem Prozess der Verdinglichung anheimfällt.“113 Die konkrete Handlung des Einzelnen wird allein unter der Perspektive einer formalistisch-veräußerlichten Logik der Reputation aufgefasst. Weder auf die inneren Beweggründe noch auf die Wesenhaftigkeit des Individuums wird Rücksicht genommen. Die in ihrer Entstehung emanzipatorisch konzipierte bürgerliche Moral verwandelt sich unter dem Druck der etablierten Öffentlichkeit in ein regelrechtes Zwangssystem. Mit Hebbels Maria Magdalene, so stellt Arthur Eloesser fest, „hat sich das bürgerliche Drama, einst ein Organ des Emanzipationskampfes, gegen das Bürgertum selbst gekehrt.“114 Denn es ist eine „Tragödie des Bürgertums.“ Angesichts der Verdinglichung der zwischenmenschlichen Verhältnisse zu Bestandteilen eines versteinerten Ehrgefüges ist es allzu konsequent, dass die bürgerliche Ethik des Mitgefühls und die Hervorhebung der Sympathie in der Gattungstradition 115 bei Hebbel rückgängig gemacht werden. Vor allem wird die Mitleidsfähigkeit verlernt. Die Männer schämen sich der Tränen mehr als der Sünden (I/3; W 2, S. 14); die Tränen des Meister Anton, die einzigen aus dem so gut wie verstopften „Tränenbrunnen“, werden schnell getrocknet und mit einer „plötzlichen Wendung“ verabschiedet (I/5; W 2, S. 29). Die Tränen, diese „ewige Beglaubigung der Menschheit“ (FA 3, S. 220), besitzen keine Aktualität mehr. So steht Meister Anton „fest“,116 ohne innere Rührung, bis zum Ende. Die Verhärtung der Moral- und Ehrvorstellung und die Gefühlsabstinenz kennzeichnen die Diskrepanz zwischen Hebbels bürgerlichem Trauerspiel und der euphorischen Mitleidsästhetik der Gattung. Jedoch nicht die Existenzberechtigung, sondern die Problematik dieser tränenlosen Welt wird am Ende evident. Das Nachsinnen des Meister Anton verdeutlicht das geahnte Missverhältnis der gegenwärtigen Welt und der Idealvorstellung einer bürgerlichen Gesellschaft der gegenseitigen Einfühlung. Sein Unverständnis ist sein Armutszeugnis. Insofern steht Hebbel, wirkungsästhetisch betrachtet, trotz seiner Kritik dennoch seinen Vorgängern nahe.

|| 113 Manfred Durzak: Die Selbstaufhebung der bürgerlichen Moral: Hebbels Maria Magdalene. In: ders.: Kleist und Hebbel. Zwei Einzelgänger der deutschen Literatur, hg. von Hans-Christoph Graf von Nayhauss und Anne-Cristin Nau. Würzburg 2004, S. 189–201, hier S. 196. 114 Arthur Eloesser: Das bürgerliche Drama. Seine Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert. Berlin 1898, S. 218 115 Vgl. Lothar Pikulik: Gefühlskult contra Leistungsethik. Über das Verhältnis von Bürgerlichkeit und Empfindsamkeit in Deutschland. Göttingen 1984. 116 Vgl. die Szenenanweisung zu Maria Magdalene III/11; W 2, S. 71.

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6.4 Der politische Stellenwert des bürgerlichen Trauerspiels 6.4.1 Der politische Gehalt von Kabale und Liebe Auf das politisch-kritische Potential des bürgerlichen Trauerspiels, das nicht selten dem Standeskonflikt entstammt, ist eingangs bereits hingewiesen worden. In Schillers Kabale und Liebe tritt diese Sprengkraft besonders vehement zu Tage. Die Kritik an Absolutismus wirkt deshalb so eindringlich, weil sie sich nicht allein gegen individuelles Fehlverhalten richtet, sondern zu einer vielschichtigen „Systemkritik“ ausgeweitet ist.117 Schonungslos wird der Hof als Ort der Intrige entlarvet. In dieser moralisch korrupten Welt herrschen Meuchelmord,118 Mätressenwirtschaft,119 Meineid120 und willkürliche Manipulation des Rechts.121 Die Landeskinder werden wider Willen als Söldner nach Amerika verkauft (II/2. FA 2, S. 590f.). Nicht zuletzt wird auch die Kleinstaaterei moniert: Die fliehende Lady wird schon innerhalb einer Stunde über die Grenze sein (IV/9; FA 2, S. 649). Gleichzeitig wird die problematische Seite der Bürger ebenfalls aufgedeckt, denn keineswegs liefert Schillers bürgerliches Trauerspiel ein idealistisch stilisiertes Bild des Bürgertums. Aus übermäßiger Freude über die Schenkung des gesamten Goldbeutels springt der Musikus „wie ein Halbnarr in die Höhe“, bleibt „mit unverwandten Augen auf das Gold hingeheftet“,122 und nimmt mit seinem Verhalten die Geldgier des kapitalistischen Besitzdenkens vorweg. Zwar will er das Geld in die Erziehung der eigenen Tochter investieren. Jedoch verrät das pädagogische Programm lediglich den bürgerlichen Willen zur Assimilation an die höfische Gesellschaft: Das Mädchen solle „Französisch lernen aus dem Fundament, und Menuettanzen, und Singen, daß mans in den Zeitungen lesen soll; und eine Haube soll sie tragen wie die Hofratstöchter, und seinen Kidebarri, wie sies heißen, und von der Geigerstochter soll man reden auf vier Meilen weit – “ (V/5; FA 2, S. 666). Es stehen also nicht nur stehen die höfische Sprache und „der höfische Gesellschaftstanz schlechthin“ (FA 2, S. 1496) auf dem Lehrplan, auch die Bekleidung orientiert sich

|| 117 Vgl. Katharina Grätz: „Kabale und Liebe“ oder: Politik und Moral. In: Bernd Rill (Hg.): Zum Schillerjahr 2009 – Schillers politische Dimension. München 2009, S. 35–44, hier S. 39. 118 Vgl. Wurms Erzählung von dem Attentat auf dem Ex-Präsidenten in III/1; FA 2, S. 612. 119 Vgl. Die vulgäre Bemerkung des Präsidenten, dass bei einer höfischen Hochzeit „wenigstens ein halb Duzend der Gäste – oder der Aufwärter – das Paradies des Bräutigams geometrisch ermessen kann.“ I/5; FA 2, S. 578. 120 Vgl. die Angst des Präsidenten, dass sein eigener Sohn Ferdinand seine „falschen Briefe und Quittungen“ aufdecken würde. III/2; FA 2, S. 617. 121 Vgl. Die Drohung des Präsidenten; „Die Gerechtigkeit soll meiner Wut ihre Arme borgen.“ II/6; FA 2, S. 608. 122 Vgl. die Szenenanweisung zu V/5; FA 2, S. 665f.

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an der höfischen Mode Frankreichs.123 Das Bürgertum, das sich kraft des ethischen Vorzugs durch Abgrenzung vom Hof definiert, strebt letztendlich doch die Annäherung an jenen gehobenen Lebensstil an. Das Auftreten der selbstbewussten Bourgeoisie ist überschattet von der faktischen machtpolitischen Überlegenheit des Adels 124 und dem eigenen kulturellen Minderwertigkeitsgefühl, das zu jenem Wunsch nach Verhoflichung führt.

6.4.2 Das kritische Potential von Maria Magdalene Da Hebbel die Ableitung des Tragischen aus „allerlei Äußerlichkeiten“ wie einem Standeskonflikt in einer Liebesaffäre ablehnt, löst sein bürgerliches Trauerspiel keine unmittelbare Fürstenkritik aus. Überhaupt fehlt Maria Magdalene eine politisch mobilisierende Kraft, weil ihr an jeglicher Geschichtsdynamik mangelt. Der historische Hintergrund sei, wie Erich Auerbach trefflich diagnostiziert, „gänzlich unbeweglich“, außerdem scheine „Kleinbürgermoral“ ebenfalls „vollkommen ohne jede geschichtliche Bewegung“ zu sein. 125 Die Personen, so kritisiert Heinz Schlaffer, befänden sich „in einem Zustand, der die Struktur einer überholten Frühzeit in die Gegenwart fortführt.“126 Der Stillstand der Zeit wird ferner dadurch veranschaulicht, dass der heimkehrende Sekretär die Möbelstücke im Haus des Meister Anton wie „alt[e] Bekannt[e]“ wiederfindet (II/5; W 2, S. 46). Der unveränderte Innenraum der Wohnung von der Tischlerfamilie symbolisiert zugleich die Stagnation der Sozialstruktur wie die Erstarrung der Mentalität, die, analphabetisch,127 einer historischen Vorzeit angehört. Vor allem ist dieser temporale Stilstand lebenserstickend. „Mir ist“, so klagt Klara, „als wär’ ich auf einmal tausend Jahr alt geworden, und nun stünde die Zeit über mir still, ich kann nicht zurück und auch nicht vorwärts.“ (II/5; W 2, S. 49) Offenbar vermochte das Stück selbst auf der Bühne eine lähmende, ja vernichtende Wirkung auf das Publikum auszuüben. Rückblickend erinnert sich Heinrich Laube an den || 123 Kidebarri, die entstellte Form von cul de Paris, bezeichnet ein Modekissen in Paris. Gerade die verdeutschte Wortbildung nach französischer Aussprache vergrößert noch den Karikatureneffekt. Vgl. FA 2, S. 1496. 124 Vgl. das symptomatische Schüchtern des Musikus Miller vor der Wut des Präsidenten, nachdem er ihn die autoritäre Hoheit innerhalb der eigenen Vierwände vergeblich zu behaupten versucht hatte: Als der wütende Präsident ihm nähertritt, zieht er sich „sachte“ zurück und sagt: „Das war nur so meine Meinung, Herr – Halten zu Gnaden.“ II/6; FA 2, S. 607. 125 Vgl. Erich Auerbach: Mimesis, S. 481. 126 Heinz Schlaffer: Hebbels ästhetischer Historismus. In: Hannelore Schlaffer und Heinz Schlaffer: Studien zum ästhetischen Historismus. Frankfurt a. M. 1975, S. 121–139, hier S. 122. 127 Zum Analphabetismus des Tischlerehepaars vgl. Meister Antons Antwort auf die Frage des Gerichtsdieners, ob er lesen könne: „Soll ich können, was nicht einmal mein Schulmeister konnte?“ I/7; W 2, S. 34.

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tieferschütternden Eindruck der Leipziger Aufführung von Maria Magdalene unter der Leitung von Heinrich Marr: Ich kannte Hebbel schon seit Anfang der Dreißiger Jahre. […] Ich war ferner dabei, als mit seiner ‚Maria Magdalen[e]‘ ein erster Versuch der Aufführung gemacht wurde. Dies geschah in Leipzig und ist mir unvergeßlich geblieben […]. Ich halte dies bürgerliche Schauspiel von ihm für seine beste dramatische Arbeit. […] Dies fand ich bestätigt, als die Aufführung an uns, die wir ein kleines Publicum waren, vorüberging. Aber unauslöschlich kam ein anderer Eindruck über mich in jener Vorstellung, der Eindruck vernichtender Traurigkeit. Als der Vorhang zum letztenmale gefallen war, herrschte in dem kleinen Zuschauerkreise helle Verzweiflung. Wir gingen von dannen wie von einer Hinrichtung.128

Sein kritisches Potential schöpft das bürgerliche Trauerspiel Hebbels weniger aus tendenziösen Implikationen zeitpolitischer Vorfälle, von denen der Autor sich im Vorwort eindeutig distanziert,129 als vielmehr aus dem Kontrast der gegenwärtigen Wirklichkeit und der entrückten ideellen Grundlage. Im Hintergrund des Stücks bewegen sich „die Ideen der Familie, der Sittlichkeit, der Ehre, mit ihren Tag- und Nacht-Seiten“, schreibt Hebbel nach Fertigstellung von Maria Magdalene an Elise Lensing.130 Sichtbar werden die „Ideen“ nicht durch plakatives Propagieren, sondern allein durch den Untergang der von ihnen abgefallenen Welt. Es sind vor allen Dingen die „Nacht-Seiten“ der Ideen, ja die Ideologie der Ehre und der Öffentlichkeit in der Enge des bürgerlichen Universums, mit denen sich das Hebbelsche bürgerliche Trauerspiel auseinandersetzt. Diese Ideen treten, wie oben analysiert, nur in ihren irdischen Zerrbildern als Macht und Zwang auf und verweisen dadurch auf die Notwendigkeit ihrer fundamentalen Regeneration. Wenn das Drama, wie Hebbel im Vorwort fordert, den „jedesmaligen Welt- und Menschen-Zustand in seinem Verhältniß zur Idee“ veranschaulichen soll (W 11, S. 40; Hervorhebung im Original), so demonstriert es vor allem die Unhaltbarkeit des Status quo in Bezug auf das „Alles bedingend[e] sittlich[e] Centrum“ (W 11, S. 40), auf dem die dargestellte bürgerliche Gesellschaft basiert. Dennoch ist in der Kritik die Möglichkeit eines neuen Anfangs enthalten. Die verlernten Tränen verweisen nicht zuletzt auf ihre frühere Existenz. Tatsächlich ist jeder, Meister Anton und Leonhard nicht ausgenommen, des Mitleids fähig. Jener schenkt seinem Lehrmeister „ganz in der Stille“ die tausend Taler, gleichsam aus einer ethischen Notwendigkeit heraus, die keine Bedenken zulässt (I/5; W 2, S. 30). Dieser ist keineswegs moralisch indifferent, da er doch Reue wegen der voreiligen

|| 128 Heinrich Laube: Das Burgtheater, S. 260f. 129 Vgl. Hebbel Vorwort zu Maria Magdalene: „Man soll die Flöte nicht nach dem Brennholz, das sich allenfalls für den prophezeiten Weltbrand aus ihr gewinnen ließe, abschätzen […].“ W 11, S. 51. Zu Hebbels Ablehnung einer politischen Deutung von Schillers Person und Werken vgl. Kap. 3.1.3 der vorliegenden Arbeit. 130 B 281, an Elise Lensing, datiert 5. Dezember 1843. WAB 1, S. 522.

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Entjungferung Klaras empfindet: „Die arme Klara! Sie dauert mich, ich kann nicht ohne Unruhe an sie denken! Daß der eine verfluchte Abend nicht wäre!“ (III/1; W 2, S. 54) Die monologische Sprechsituation bekräftigt die Echtheit des Schuldgewissens. Jedoch gelingt es keinem aus jener „mittleren Stadt“, in der sich die Tragödie abspielt, die innere Wurzel der Humanität zu entfalten, weil sie alle dem formalen Gesetz der Ehre und dem Druck der Öffentlichkeit verpflichtet sind. Sie alle machen sich von den Meinungen der anderen abhängig, von der veräußerlichten Form des Moralrigorismus also, der primär auf den Schein anstatt auf das Wesen, das durchaus vorhanden ist, Wert legt. Die Intention des Dichters ist insofern nicht die restlose Negation des Vorhandenen, sondern dessen Neubegründung, die durch eine Rückbindung an die substantielle Auffassung der Sittlichkeit erfolgen kann. Aus diesem Grund besteht die welthistorische Aufgabe der dramatischen Dichtung, wie Hebbel sie versteht, darin, „den äußeren Haken“ der gesellschaftlichen Ordnung gegen „den inneren Schwerpunct“ zu vertauschen (W 11, S. 43; Hervorhebung im Original), um auf diese Weise die bestehenden Institutionen auf „ein besseres Fundament“ zurückzuführen anstatt sie komplett abzuschaffen. Die Grundhaltung seines bürgerlichen Trauerspiels ist also restaurativ-revolutionär, weil die Kritik keine radikalen Neuerungen, sondern Wiederherstellungen des entfremdeten Ursprünglichen bewerkstelligen soll.

6.4.3 Aufführung als politisches Ereignis: Maria Magdalene 1848 Dennoch ist Hebbels Maria Magdalene ein Drama der Revolution. Zum einen entspricht die restaurative Haltung dem Begriff der revolutio, also der Wiederkehr der „alten legitimen Ordnung“,131 zum anderen konnte sich die Breitenwirkung des Stücks erst nach ihrer Wiener Aufführungen im Revolutionsjahre 1848 entfalten. Bis zu diesem Zeitpunkt unterlag das bürgerliche Trauerspiel der Zensur, was ihm schon bei der Ankunft in Wien vorhergesagt worden war.132 „Es bedurfte erst einer Revolution“, kommentiert Hartwig Sievers, „um dem bürgerlichen Trauerspiel Hebbels den Weg auf die Wiener Hofbühne freizumachen. Und diese Revolution kam und mit ihr die Zensur- und Preß-freiheit.“133 Hebbel selbst glaubte auch, die Zulassung seiner Maria Magdalene der Revolution verdanken zu müssen. Am 28. März trug er in sein Tagebuch ein: „Die großen Welt-Ereignisse greifen auch in meinen kleinen Privatkreis hinein. Das Hofburgtheater wird meine Stücke spielen […].“ (TBR 4295 / TBW 4380) Dass Maria Magdalene am 8. Mai zum ersten Mal, und zwar „un-

|| 131 Vgl. Dieter Borchmeyer: Goethe und Schillers Sicht der niederländischen Revolution. In: Otto Dann u.a. (Hg.): Schiller als Historiker, S. 149–156, hier S. 150f. 132 Paul Bornstein (Hg.): Friedrich Hebbels Persönlichkeit, Bd. 1, S. 193. 133 Hartwig Sievers: Hebbels „Maria Magdalene“ auf der Bühne, S. 43.

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verkürzt und unverändert“ (TBR 4310 / TBW 4396), wie Hebbel selbst notierte, aufgeführt werden konnte, schien das Resultat des Wiener Aufstands zu sein, dessen Ausbruch am 13. März die Flucht Metternichs auslöste und schon am folgenden Tag die Aufhebung der Zensur bewirkte.134 „Wenn man weiß, wie es hier vor dem 13ten März stand und wie unmöglich damals gewesen wäre, auch nur den an die Bibel erinnernden Titel des Stücks durch die Censur zu bringen, so hat man schon darin einen schlagenden Beweis, um wie viel weiter wir vorwärts gekommen sind“, schrieb Hebbel an Rötscher.135 Maria Magdalene errang einen bedeutenden Bühnenerfolg. Bei der Premiere wurde Hebbel „am Schluß jedes Acts gerufen und mußte, als der dritte zu Ende ging, erscheinen […].“136 Binnen zehn Tagen war Maria Magdalene drei Mai, im Jahre 1848 insgesamt neun Mal gespielt worden.137 Die Sensation des Hebbelschen bürgerlichen Trauerspiels kann zunächst auf dessen Gehalt zurückgeführt werden. Das letzte Wort des Meister Anton, dass er die Welt nicht mehr verstehe, erweitert den Problemhorizont des Stücks: Es wird von der Darstellung einer kleinbürgerlichen Familie, dessen zentrales Symbol die Enge ist,138 auf diejenige der Gesamtheit der sozialhistorischen Realität gehoren. Dadurch bleibt das kritische Potential nicht mehr auf ein spezifisches Milieu der Gesellschaft beschränkt, sondern das Stück verschärft sich zu einer Generalabrechnung mit dem Bestehenden. Darüber hinaus tritt noch ein zeitlicher Aspekt hinzu: Schon im Vorwort wird die dramatische Bezogenheit auf die innere Spannung der Zeit dergestalt angedeutet, dass das Drama als „Produkt der Zeit“ eine welthistorische Krise voraussetzt und dadurch mit der „entscheidende[n] Veränderung“ kalkuliert (W 11, S. 40; Hervorhebung im Original), nämlich mit dem Übergang des Vergangenen zum Zukunftsfähigen. Um mit dem Berliner Ästhetiker Heinrich Theodor Rötscher,

|| 134 Vgl. die öffentliche Mitteilung des Regierungs-Präsidenten von Gestieticz über die Zugeständnisse des kaiserlichen Hofs am 14. März 1848: „Se. k. k. Apostol. Majestät haben die Aufhebung der Zensur und die alsbaldige Veröffentlichung eines Preßgesetzes allergnädigst zu beschließen geruhet.“ Zitiert nach: Walter Grab (Hg.): Die Revolution von 1848/49. Eine Dokumentation. Stuttgart 1998, S. 39. 135 B 607, an Heinrich Theodor Rötscher, datiert 17. Mai 1848. WAB 1, S. 1041. 136 B 607, an Heinrich Theodor Rötscher, datiert 17. Mai 1848. WAB 1, S. 1042. 137 B 607, an Heinrich Theodor Rötscher, datiert 17. Mai 1848. WAB 1, S. 1041: „Die Aufführung, sammt den ersten beiden Wiederholungen, ist nun vorüber, die vierte Repräsentation findet morgen Statt […].“ Vgl. auch Hebbels Jahresrückblick 1848 in TBR 4395 / TBW 4481. 138 Vgl. Martin Stern: Das zentrale Symbol in Hebbels „Maria Magdalene“. In: Helmut Kreuzer (Hg.): Hebbel in neuer Sicht. Stuttgart 1963, S. 247–266. Kritisch urteilt jedoch Juliane Vogel, die in Hebbels bürgerlichem Trauerspiel weniger den Ernst um die Problematik als den gewollten tragischen Formalismus sieht: „Nur mittelbar sind Enge und Einschluss der Maria Magdalene Gegenstand eines soziologischen Interesses, in erster Linie konstituieren sie eine literarische Gattung, die sich durch die strenge Beachtung der Einheitsregeln vor den Kontigenzbildungen der Wirklichkeit radikal zu verschließen suchte.“ Juliana Vogel: Realismus und Drama. In: Christian Begemann (Hg.): Realismus. Epoche – Autoren – Werke, S. 173–188, S. 176.

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der maßgeblich für die Berliner Inszenierung 1848 verantwortlich war, zu sprechen, geht es bei Maria Magdalene konkret darum, die Unzulänglichkeit der „gang u gäben Moral“, unter der ein „nach höherer Ordnung der Dinge“ mitleidswürdiges Schicksal jetzt dem „Verdämniß“ anheimfallen müsse, ästhetisch wie politisch zu problematisieren und zu überwinden.139 Gerade der Stillstand der Zeit im Stück macht die Revitalisierung und Dynamisierung, wie sie nur durch eine Revolution möglich sind, unbedingt nötig. Ferner lässt sich die Aufführung in Wien als Grund für den politischen Stellenwert des Stücks betrachten. Das Theater wird zu einer öffentlichen Instanz transformiert, die vor einem versammelten Publikum Anklage erhebt gegen die moralische Korruptheit des Hofs, dessen Machtintrigen nur im Verborgenen funktionieren. Primär konstituiert sich die kritische Öffentlichkeit auch nicht mehr innerhalb des Schauspiels selbst. Vielmehr partizipiert das bürgerliche Trauerspiel unmittelbar am öffentlichen Diskurs, insofern das Aufführungsverbot ein öffentlich zu vertretendes Urteil ist, die Erlaubnis hingegen den Sieg der selbstbewusst gewordenen, oppositionellen bürgerlichen Öffentlichkeit darstellt. Das Theater avanciert „zum Ort einer kollektiven Symbolisierung des revolutionären Geschehens“.140 Einer Gesprächsnotiz zufolge soll Hebbel, als seinem Stück eine düstere Aussicht bei der Zensur prophezeit wurde, erklärt haben: „Wenn sie es wagen, das Stück nicht zu geben, so mögen sie auch die Verantwortung vor der Öffentlichkeit übernehmen.“141 Rötscher spielt ebenfalls kurz nach dem Märzaufstand erfolgreich die Öffentlichkeit gegen die „gränzenlose Borniertheit“ der Direktion des Königsstädtischen Theaters aus: Nach den Märztagen im Anfang April forderte ich nun die Aufführung der Maria Magdalen[e]. […] Ich hatte [in einem Brief] erklärt, daß man sich endlich genöthigt sehen würde, öffentlich zu erklären, daß man sich hartnäckig weigere, Maria Magdalen[e] zu geben, […] daß man sich also geflissentlich dem Fortschritt verschließe.“142

Aus „Furcht“ gab die Intendanz die Aufführung frei.143 Die in Kabale und Liebe literarisch angedeuteten, von Habermas144 analysierten Druckmechanismen der Öffentlichkeit als einer kritischen Kompetenz realisiert sich in der Revolution. Deshalb konnte ein Berliner Theaterkritiker resümieren: „Der Flügelschlag der neuen Zeit hat auch dieses Werk mit sich emporgetragen.“145

|| 139 Vgl. B 554, von Heinrich Theodor Rötscher, datiert 17. Dezember 1848. WAB 1, S. 974. 140 Vgl. Meike Wagner: Theater und Öffentlichkeit im Vormärz. Berlin, München und Wien als Schauplätze bürgerlicher Medienpraxis. Berlin 2012, S. 18. 141 Paul Bornstein (Hg.): Hebbels Persönlichkeit, Bd. 1, S. 194. 142 B 601, von Heinrich Theodor Rötscher, datiert 3. Mai 1848. WAB 1, S. 1037. 143 B 601, von Heinrich Theodor Rötscher, datiert 3. Mai 1848. WAB 1, S. 1037. 144 Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 161–195. 145 Zitiert nach Hartwig Sievers: Hebbels „Maria Magdalene“ auf der Bühne, S. 39.

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Ebenso wie der Kampf der bürgerlichen Öffentlichkeit gegen die absolutistische Souveränität wird auch der Ständekonflikt nicht mehr nur in der Dichtung, sondern auch in der Realität ausgetragen, was die politische Brisanz des Dramas noch einmal erhöhte. Die Wiener Premiere der Maria Magdalene fand nämlich am Burgtheater statt, einer höfischen Institution, die den Zeitgenossen – etwa Hebbels Freund Sigmund Engländer – als „Privatunterhaltungsanstalt einer satten Aristokratie“ galt: Die Hochadligen, die nach dem französischen Modenartikel frisirt waren, sahen mit Vergnügen in den Übersetzungen auch im Theater einen französischen Modeartikel vor sich. Das Volk wurde nicht anders vertreten, als durch Iffland’sche Jammerstücke, wobei dem Logenpublikum so zu Muthe war, wie den alten Römern wenn sie ihre Sklaven einkauften und sie früher ganz nackt betrachteten […].146

Der Hunger und die Armut des Volks dienten, so Engländer, nur der Belustigung der höfischen Gesellschaft. Mit Maria Magdalene jedoch, einem „wirkliche[n] Volksstück“, sei die Hofbühne nun vom „Volk“ „in Besitz“ genommen.147 Gerade die Abwesenheit der höfischen Gesellschaft bei der Aufführung wird von Engländer als Zeichen der Volkstümlichkeit, die Selbstthematisierung des Bürgertums als Errungenschaft der Freiheit auch im ästhetischen Bereich gefeiert. Nicht nur in Form von schriftlicher Kommunikation oder mimischer Darstellung, sondern auch performativ wird die bürgerliche Emanzipation auf die Bühne gebracht. Deshalb konnte Engländer schlussfolgern, dass die zensurfreie Aufführung dieser rein bürgerlichen Tragödie in einem Hoftheater ein „politisches Ereignis“, „eine Manifestation des frei gewordenen Volks“ war.148 Im zeithistorischen Kontext der Aufführung war Hebbels bürgerliches Trauerspiel doch ein Stück mit politischer Implikation geworden.

|| 146 Siegmund Engländer: Die Aufführung der Maria Magdalena von Hebbel auf dem Hofburgtheater zu Wien im Mai 1848. Zitiert nach: Hans Wütschke: Hebbel in der zeitgenössischen Kritik, S. 195. 147 Hans Wütschke: Hebbel in der zeitgenössischen Kritik, S. 196. 148 Hans Wütschke: Hebbel in der zeitgenössischen Kritik, S. 196.

7 Legitimität und Autonomie des Subjekts: Hebbels Demetrius und Schillers Demetrius 7.1 Die Entstehung des Hebbelschen Demetrius 7.1.1 Hebbels Demetrius-Plan im Schiller-Jahr 1859 Es ist zweifelsohne eine der merkwürdigsten Gegebenheiten in der Rezeptionskonstellation, dass das letzte Stück sowohl Schillers als auch Hebbels denselben Gegenstand, nämlich die Geschichte des falschen Demetrius, behandelt und es in beiden Fällen lediglich ein Fragment geblieben ist. Dass Hebbel bei der Konzeption seines Demetrius-Projekts gezielt auf seinen großen Vorgänger anspielt, belegt der nicht minder eigentümliche Sachverhalt, dass die erste schriftlich überlieferte Erwähnung des Demetrius-Plans ausgerecht am 10. November 1857, sprich am Geburtstag Schillers, in einem Brief Hebbels an den Erben von Schillers Verleger, Georg von Cotta, mit dem Hebbel Anfang des Jahres über die Gesamtausgabe seiner Gedichte mit Erfolg verhandelt hatte,1 erfolgte: Er hoffe seine früheren Stücke in seinen Nibelungen, aber auch in „meinem Demetrius, der mich jetzt beschäftigt und dem ich den bewunderungswürdigen großen Schillerschen Plan zu Grunde lege“, noch weiter zu überbieten. 2 Neben der durchdachten werkpolitischen Strategie 3 Hebbels zeugt diese Ankündigung seines Vorhabens zugleich von seinem stoffgeschichtlichen Bewusstsein, dass jede neue Bearbeitung jener Episode aus der Smuta zwangsläufig eine Auseinandersetzung mit der Schillerschen Vorarbeit voraussetzt. Sogleich fing Hebbel an, sich in Quellenstudien zu vertiefen.4 Seine ursprüngliche Absicht war es wohl, den neuen Demetrius als Festgabe zur Weimarer SchillerFeier 1859 zu liefern. Nach der erfolgreichen Aufführung seiner Genoveva zum Geburtstag des Großherzogs Carl Alexander schrieb Hebbel seiner Frau Christine am 26. Juni 1858: „Demetrius ist hoch willkommen!“5 Offenbar hat sich das Gerücht um den Demetrius schnell verbreitet. Hebbels Freund Karl Debrois van Bruyck beglückwünschte den Dichter am 17. Juli desselben Jahres, dass er „durch den Aufenthalt in

|| 1 B 1700, an Georg von Cotta, datiert 31. Januar 1857. WAB 3, S. 384. 2 B 1779, an Georg von Cotta, datiert 10. November 1857. WAB 3, S. 478. 3 Zum Begriff vgl. Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Berlin/New York 2007. 4 Vgl. B 1786, an Emil Kuh, datiert 16. November 1857: „Die Nibelungen rühren sich nicht […]. Uebrigens ist es mir recht, wenn sie den ganzen Winter schlafen; dann schreib’ ich ein Stück – Sie werden Sich wundern! – der russischen Geschichte. Schon liegt Karamsin in elf Bänden auf meinem Tisch.“ WAB 3, S. 488. 5 B 1887, an Christine Hebbel, datiert 26. Juni 1858. WAB 3, S. 615. https://doi.org/10.1515/9783110660920-007

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Weimar einen neuen Anreiz“ zur Ausführung seines Demetrius-Projekts erhalten habe, „womit Sie der Nazion und den Manen des großen Mannes zugleich ein so schönes Geschenk darbrächten“.6 Mit Begeisterung ging Hebbel an die Arbeit und konnte schon am 4. August vermelden, dass er die „Eröffnungs-Scene zum Demetrius“, „hundert Jamben in Einem Zug“, geschrieben habe.7 Währenddessen avancierte der Hebbelsche Demetrius-Plan auch zu einem öffentlichen Thema,8 dergestalt dass Hebbel die Anfrage, ob er tatsächlich „den Demetrius für die Weimarische Bühne zur Aufführung bei der 100jährigen Schillerfeyer“ dichte,9 nicht ohne Stolz bestätigte: „Es ist vollkommen richtig, daß ich in Folge getroffener Uebereinkunft mit der General-Intendanz für die Großherzogl. Hofbühne zu Weimar den Demetrius bearbeite.“10 Allerdings scheiterte das anfangs euphorisch angekündigte Vorhaben, da die Weimarer Schiller-Feier im April 1859 wegen ungünstiger Zeitumstände11 abgesagt werden musste und sich das Projekt Die Nibelungen dazwischendrängte.12 Wie ein „Stein“ ruhte Demetrius (TBR 5905 / TBW 6052), bis Hebbel den Entwurf in seinem letzten Lebensjahr wieder aufnahm und ihm seine noch verbliebene Kraft aufopferte. Der letzte Tagebucheintrag Hebbels, datiert auf den 25. Oktober 1863, ist diesem monumentalen Fragment gewidmet: Eine große Leidens-Periode, die noch nicht vorüber ist, so daß ich sie erst später fixiren kann. Aber seltsam genug, hat seit 14 Tagen der poetische Geist angefangen, sich in mir zu regen, es entstanden anderthalb Acte des Demetrius, obgleich ich, durch Rheumatismen verhindert, kaum im Stande war, sie nieder zu schreiben, und wenn es so fort geht, darf | ich hoffen, das Stück im Winter unter Dach und Fach zu bringen. Wunderlich-eigensinnige Kraft, die sich Jah-

|| 6 B 1912, von Karl Debrois van Bruyck, datiert 17. Juli 1858. WAB 3, S. 643. 7 B 1924, an Julius Glaser, datiert 4. August 1858. WAB 3, S. 661. 8 Vgl. die Meldung der Leipziger „Illustrierten Zeitung“ am 7. August 1858 (Nr. 788, S. 91, rechte Spalte): „Theater. Nachdem sich Maltitz, Grimm, Kühne und Bodenstedt umsonst versucht haben, dem Schiller’schen ‚Demetrius’ einen befriedigenden Abschluß zu verschaffen, ist nunmehr Friedrich Hebbel von dem Großherzoge von Sachsen-Weimar veranlaßt worden, sich mit dieser schwierigen Aufgabe zu befassen. Das Stück soll dann zu Schiller’s 100. Geburtstage in Weimar aufgeführt werden.“ 9 B 1930, von Friedrich Anton Serre, datiert 12. August 1858. WAB 3, S. 668. 10 B 1931, an Friedrich Anton Serre, datiert 17. August 1858. WAB 3, S. 669. 11 Während das diesbezügliche Zirkular keinen Grund für die Absage nennt, darf der 1859 ausgebrochene sardinische Krieg als Ursache angenommen werden. Vgl. Hebbels Brief an Julius Campe am 29. April 1859: „Ihre Prophezeiung [= über den Krieg, M. M.] ist übrigens bereits vollständig in Erfüllung gegangen; das erste kleine Treffen ist geliefert und, wie ich höre, der junge Latour, Sohn des Kriegsministers von 1848, dabei gefallen. Wann wird’s enden und welche Episoden wird’s geben? Einstweilen geht in Weimar die Schiller-Apotheose in die Brüche und die Wiener Börse liegt in Zuckungen.“ (B 2029, WAB 3, S. 776.) 12 Schon Ende 1857 schwankte Hebbel, wie er im Tagebuch notiert, zwischen Fortsetzung von Die Nibelungen und „Vollendung des Schillerschen Demetrius“. TBR 5478 / TBW 5620.

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re lang so tief verbirgt, wie eine zurückgetretene Quelle unter der Erde, und die dann, wie diese, plötzlich und oft zur unbequemsten Stunde, wieder hervor bricht! (TBR 6005 / TBW 6176)

Leider ereilte ihn zuvor der Tod, der ihm, wie einst Schiller, die schöpferische Feder aus der Hand riss.

7.1.2 Quellen und Schwierigkeit Traut man Hebbels eigenem Bekenntnis, so ist Demetrius einer seiner ersten dramatischen Einfälle, der ihn „schon mit 18 Jahren“ beschäftigte (TBR 5478 / TBW 5620).13 Obgleich diesbezüglich konkrete Anhaltspunkte fehlen, so sind doch frühere Tagebuchaufzeichnungen Indizien für eine – allerdings komische – Gestaltung des Demetrius-Stoffs.14 Von Bedeutung ist aber vor allem die im Februar und März 1849 notierte literarische Konzeption von einem Prinzen, Der nicht weiß, daß er es ist, der in der Verborgenheit erzogen wird, in der Wuth einen Mord begeht und nun, da das Gesetz ihn packen will, da er selbst auch damit übereinstimmt, daß es geschehe, plötzlich erfährt, daß er über dem Gesetz steht; so wie auch diejenigen es erfahren, die ihn packen wollen. (TBR 4480 / TBW 4566)

Die strukturelle Analogie der hier konzipierten Konstellation zur „Sambor“-Szene bei Schiller erkennt Hayo Matthiesen,15 der deshalb der gängigen Meinung der Forschung widerspricht und die These aufstellt, dass Hebbel der Schillersche Entwurf, wie ihn Karl Hoffmeister 1840 im dritten Band seiner „Nachlese zu Schillers Werken“ veröffentlicht hatte,16 schon vor der Niederschrift seines Demetrius, bekannt gewesen sei und nicht erst nach der Fertigstellung des jetzigen „Vorspiels“ durch

|| 13 Vgl. des Weiteren B 193, an Friedrich Anton Serre, datiert 17. August 1858. WAB 3, S. 669. Hebbel bekannte im Brief, dass die Vollendung des Schillerschen Demetrius-Fragments „seit meinem achtzehnten Lebensjahre schon meine Absicht“ sei. 14 Vgl. hierzu TBR 1033 / TB 1047 aus dem Jahre 1838: „NB. Die Geschichte eines falschen Prinzen, der selber nicht weiß, was er ist, könnte zu einem Lustspiel höheren Styls einen trefflichen Stoff abgeben.“ Ähnlich ist in TBR 2172 / TBW 2231 auch von der Idee eines „höchsten Lustspiel[s]“ über einen „falschen Prinz[en]“ die Rede. 15 Vgl. Hayo Matthiesen: Untersuchungen über die Quellen zu Friedrich Hebbels historischen Dramen. Ein Beitrag zur Stoffgeschichte und zur Deutung des Dichters. Kiel 1965. Hayo Matthiesen: Hebbels „Demetrius“. Eine Untersuchung über die Quellen. In: Hebbel-Jahrbuch 31 (1975), S. 130– 181. 16 Karl Hoffmeister (Hg.): Nachlese zu Schillers Werken nebst Variantensammlung. Aus seinem Nachlaß im Einverständnis und unter Mitwirkung der Familie Schillers. 4 Bde. Stuttgart/Tübingen. 1840f. Zu Demetrius vgl. Bd. 3, S. 301–347.

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die zweite Auflage der Hoffmeisterschen Sammlung nachträglich über die ursprüngliche Konzeption Schillers informiert worden wäre.17 Gleichwohl wird die konzeptionelle Nähe durch die kritische Distanzierung relativiert, die in erster Linie die Unmöglichkeit einer bloßen Vervollständigung hervorhebt. Als Argument wird erneut die Kategorie der Subjektivität genannt, die bereits in Hebbels Auseinandersetzung mit Schillers Lyrik ein allgemeines Wertungskriterium sowohl für Kritik als auch für Anerkennung war (s. auch Kap. 4.2): „Wer könnte fortsetzen wollen, was der subjectivste aller Dichter […] angefangen hat? […] [M]an könnte eben so gut für ihn athmen, als für ihn dichten.“18 An den misslungenen Versuch Goethes sei ebenfalls erinnert.19 Anstatt das vorhandene Fragment fortzuführen, unternimmt Hebel deshalb den Versuch einer selbstständigen Neugestaltung, die allein den „Grundgedanken“, nicht aber einzelne Redepartien übernehme. So schreibt Hebbel an seinen Freund Felix Bamberg: „Man erwartet in ganz Deutschland die Fortsetzung des Schillerschen Torsos und schilt mich schon jetzt wegen meines Uebermuths; ich adoptire aber bloß den Grundgedanken und brauche von Schiller keinen Vers, wie Sie von Selbst errathen.“20 Die Unabhängigkeit von seine bewunderungswürdigen Vorgängers versucht Hebbel zu unterstreichen, indem er sie bereits in mehreren Briefen wiederholt beteuert.21 So hofft er, dem Anspruch auf Eigenständigkeit dadurch zu genügen, den eigenen Demetrius „mit Schillers Ziel ohne Schillers Weg“ zu Ende zu führen.22 Darüber hinaus stellt die Fülle der Materialien aus historischen Überlieferungen ein weiteres Gestaltungsproblem dar: Es sei „unermeßlich schwer, im Demetrius die unglaublich verwickelte Handlung auf wenige große Gruppen zurück zu führen und diese zu einer eng geschlossenen Kette zu gliedern.“23 Bereits Schiller sah sich mit derselben Schwierigkeit konfrontiert: Gegen die Ausführung des Demetrius sprächen nicht zuletzt „[d]ie Größe und der Umfang, daß es kaum zu übersehen“ sei (FA 10, S. 407). Die Problematik der adäquaten Verarbeitung des Stoffumfangszeigt sic

|| 17 Vgl. den Kommentar in W 6, S. X. 18 B 1955, an Adolf Stern, datiert 31. Oktober 1858. WAB 3, S. 700. 19 Vgl. Goethes Eintrag in „Tag- und Jahres-Heft“: „Als ich mich ermannt hatte, blickt’ ich nach einer entschiedenen großen Thätigkeit umher; mein erster Gedanke war den Demetrius zu vollenden. […] Nun aber setzten sich der Ausführung mancherlei Hindernisse entgegen, mit einiger Besonnenheit und Klugheit vielleicht zu beseitigen, die ich aber durch leidenschaftlichen Sturm und Verworrenheit nur noch vermehrte; eigensinnig und übereilt gab ich den Vorsatz auf […].“ Zitiert nach dem Kommentar in FA 10, 1002f. 20 B 1975, an Felix Bamberg, datiert 3. Dezember 1858. WAB 3, S. 719. 21 Vgl. etwa B 1953, an Julius Campe, datiert 27. Oktober 1858. WAB 3, S. 698; B 1955 an Adolf Stern, datiert 31. Oktober 1858. WAB 3, S. 700; ferner B 1969, an Kuno Fischer, datiert 25. November 1858, WAB 3, S. 712. 22 B 1979, an Carolyn von Sayn-Wittgenstein, datiert 14. Dezember 1858. WAB 3, S. 723. Hervorhebung im Original. 23 B 2651, an Adolf Stern, datiert 29. Januar 1863. WAB 4, S. 579.

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auch darin, dass das jetzige Vorspiel des Hebbelschen Demetrius ursprünglich der erste Akt in der Handschrift ist, und der jetzige fünfte der ursprünglich sechste sein würde,24 dass also die zunächst intendierte Fünfaktigkeit25 aufgrund der mannigfaltigsten Interessen nicht mehr aufrechterhalten werden könnte. Die Auflösung der klassischen Form der Fünfaktigkeit weist implizit auf den Mangel einer ordnungsstiftenden Leitidee für das Stücks hin, angesichts dessen die porträtierte Welt als Abbild geschichtlicher Kontingenz präsentiert wird. Das Scheitern des Versuchs, die sich aus unterschiedlichstem Movens speisende Handlungsvielzahl zu einer dramatischen Geschlossenheit zu konzentrieren, lässt sich durchaus als Andeutung einer desillusionierten Geschichtsauffassung interpretieren, die die Möglichkeit einer sinnvollen Organisation verworrener historischer Wirklichkeiten grundsätzlich in Frage stellt.

7.1.3 Psychologie und Umstände: Schiller-Kritik und Neukonzeption Hebbels oben erwähnter Anspruch auf Eigenständigkeit der Bearbeitung in Anbetracht der offenkundigen intertextuellen Konstellation seines Demetrius-Projekts hat zur Folge, dass er seine eigene dramatische Konzeption notwendigerweise als Abgrenzung von Vorarbeiten auffassen muss. Bezeichnend ist es nun, dass die um der Neufundierung desselben Stoffs willen formulierte Kritik an Schillers Fragment wesentliche Momente wiederaufnimmt, die bereits Hebbels früheren Auseinandersetzungen mit ihm zugrunde liegen. Konstant bleibt zunächst das psychologische Interesse, das er in seiner historiographischen Darstellung von Jeanne d’Arc als Korrektur der Schillerschen Vorlage mit Nachdruck hervorhebt und in seiner JudithTragödie zum Ausdruck bringt (vgl. Kap. 5.2.4, Kap. 5.3.3), um dann in der Briefwechsel-Rezension das Defizit einer authentischen psychologischen Motivierung bei Schiller zu konstatieren (vgl. Kap. 4.5.3). Deshalb muss für die Neugestaltung des Demetrius „eine ganz andere psychologische Grundlage“ gesucht werden (TBR 5478 / TBW 5620), sodass die eigene Konzeption durch Distinktion sowohl plausibilisiert als auch von der Last der Tradition befreit werden kann. Das Problem der Schillerschen Figuren ist Hebbel zufolge ihre Vorbestimmtheit, ihr endgültiges Sein ohne jegliche Modifikation durch das eigene oder des anderen

|| 24 Vgl. W 14, S. 85. Die Bezeichnung des Vorspiels war mit Bleistift in einer späteren Arbeitsphase hinzugefügt, da ursprünglich im Manuskript „I. Act. Angef., 31. July 1858“ stand. Überliefert ist ebenfalls ein Konzeptheft, das den Handlungsverlauf im „Act VI“ beinhaltet, der manche ähnliche Züge, insbesondere Schuiskois Kniefall vor der Marien-Säule, mit dem jetzigen fünften Akt aufweist. Vgl. W 14, S. 81–83. 25 Vgl. B 1953, an Julius Campe, datiert 27. Oktober 1858: „[I]ch verlasse Wien von jetzt an keinen Tag mehr, denn vier Acte Demetrius erfordern Zeit […]. Ein Act ist fertig, von Schiller benutze ich keinen Vers, nur den Grundgedanken […].“ WAB 3, S. 698.

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Handeln. Der Einwand gegen Schiller, den er vormals in seinem Aufsatz über Kleist und Körner 1835 geäußert26 und in seiner Briefwechsel-Rezension wiederholt27 hatte, wird hier abermals artikuliert. Dabei nimmt Hebbel vor allem die Figur Marina in den Fokus seiner Kritik. In den Entwürfen Schillers nämlich wird Marina, ähnlich wie Gräfin Terzky, als die „Bewegerin der Handlung“ (FA 10, S. 348),28 ja als „eine hellsehende politische Intriguantin“ mit „grenzlose[r] Herrschbegierde“ bezeichnet (FA 10, S. 423). Diese Darstellung einer „Tyrannin aus Lust“29 widerspricht nicht allein Hebbels Vorstellung von dem Weibe, das nur „durch Dulden“ zu tun vermag (TBR 1454 / TBW 1516) – konsequenterweise übergibt er das Amt der politischen Führung ihrem Vater Mniczek, um die „kindische Natur“ der Marina und ihre „völlig[e] politisch[e] Ignoranz“30 zu unterstreichen –, sondern sie verrät Hebbels Ansichten nach auch Schillers darstellerisches Unvermögen, die Psychogenese ihres Charakters erst im Drama schrittweise zu veranschaulichen. In diesem Sinne schreibt Hebbel an Prinzessin Marie von Sayn-Wittgenstein, Schiller setze in seinem Demetrius „wie immer, Alles voraus und giebt sich nie damit ab, die Wurzel der Menschen und der Dinge bloß zu legen; so ist Marina vom ersten Moment an die eingefleischte Herrschsucht, während doch die Czarin Katharina selbst einmal ein Mädchen von Marienburg war […].“31 Beanstandet wird das Fehlen einer glaubwürdigen Entwicklungsgeschichte der polnischen Palatina, die die Genese ihrer Machtgier hätte psychologisch erklären können. Diese Kritik, der auch Hebbels eigener Ästhetik des Werdens zugrunde liegt,32 führt zu seiner dramaturgischen Entscheidung, den „Sturm“ nicht wie bei Schiller „elementarisch“ in die Welt brausen, sondern „aus Athemzügen“ entstehen zu lassen. 33 Hebbel präferiert insofern eine psychogenetische Dramatik, die in erster Linie den Werdegang des Charakters plausibilisieren soll.

|| 26 Vgl. W 9, S. 56: „Schiller zeichnet den Menschen, der in seiner Kraft abgeschlossen ist und, wie ein Erz, nun durch die Verhältnisse erprobt wird […].“ 27 Vgl. W 11, S. 195: „Doch, wir wissen es längst, daß Schillers Stärke nicht im Motiviren lag, daß seine Bildungen uns höchstens die Hauptstämme der Nerven und Adern aufgedeckt zeigen, daß die so wichtigen Capillar-Gefäße aber immer unsichtbar bleiben […].“ 28 Vgl. auch FA 10, S. 373: „Marina ist die Bewegerin der ganzen Unternehmung.“ 29 Klaus Manger: Schillers Marina – Tyrannin aus Lust. In: Achim Aurnhammer u. a. (Hg.): Schiller und die höfische Welt. Tübingen 1990. S. 447–459. Allerdings muss die These Mangers, Marina sei aufgrund ihrer unumstrittenen Bedeutsamkeit in der gesamten Operation mit jenem „fabricator doli“ zu identifizieren (S. 452), zurückgewiesen werden. Denn Marina ist nicht die Initiatorin des Betrugs, sondern bedient sich desselben für die Realisierung ihrer Machtbestrebungen. 30 Hayo Matthiesen: Hebbels „Demetrius“, S. 152. 31 B 1949, an Marie von Sayn-Wittgenstein, datiert 2. Oktober 1858. WAB 3, S. 692f. 32 Vgl. Hebbels Formulierung in „Ueber den Styl des Dramas“: „Die Darstellung giebt den Werdeprozeß in seiner ganzen Tiefe und begleitet Alles, was sie in ihren Kreis aufnimmt, von der Wurzel bis zum Gipfel-Punct […].“ W 11, S. 71. Vgl. dazu Kap. 4.4.4. der vorliegenden Arbeit. 33 B 1949, an Marie von Sayn-Wittgenstein, datiert 2. Oktober 1858. WAB 3, S. 693.

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Neben der Psychologisierung fordert Hebbel gleichzeitig, die tragische Handlung auch aus den Zuständen der jedesmaligen im Hintergrund dargestellten Welt herzuleiten. Darin sieht er eine weitere Abgrenzungsmöglichkeit von der Schillerschen Vorlage. In einem Brief an seinen Freund Julius Glaser erklärt Hebbel sein selbstständiges Verfahren: „Allerdings kann für mein Drama nur die große und doch wieder in sich selbst zerrissene slavische Welt den Humus abgeben, während Schiller ohne Zweifel einzig und allein von dem allgemeinen menschlichen Moment des Factums angeregt wurde.“34 Zum einen rekurriert die organische Metapher der fruchtbaren Erde auf Hebbels Kritik an der Schillerschen Lyrik, die er als geschmacklose „Treibhauspflanzen“ mit „erkünstelter Farbe“ (TBR 139 / TBW 136) abwertend bezeichnet hat (vgl. Kap. 4.2.1). Zum anderen lässt sich diese Idee von der Verwurzelung der dramatischen Handlung in die konkrete geschichtliche Wirklichkeit auf Hebbels Ästhetik der lebendigen Gestalt zurückführen, die dem spannungsvollen Wechselverhältnis zwischen den handelnden Personen und der sie bedingenden Welt, die er mit der „Atmosphäre“ gleichsetzt,35 gleichsam einen leitmotivischen Stellenwert zuspricht. Dementsprechend will Hebbel in seinem neuen Demetrius-Drama im Gegensatz zu Schiller „statt eines Feuerwerks ein historisches Bild des ungeheuren Slaven-Reichs“ zeichnen.36 Mit dieser Kritik an der idealisierenden „bengalischen Flamme“ (W 11, S. 141) der Schillerschen Effektdramaturgie37 wiederholt Hebbel zugleich seinen Anspruch auf eine realistische Darstellung des tragischen Konflikts unter Berücksichtigung dessen Historizität. Die Potenzierung der Zustände als unabsetzbares Strukturelement der dramatischen Gestaltung gründet vor allem auf Hebbels Überzeugung, dass, wie er dem Intendanten des Weimarer Hoftheaters Franz Dingelstedt mitteilt, „alle Kraft des Dramas aus den Zuständen“ fließt.38 Allein aus „Volkszuständen“ schöpfe das Drama seine ganze Wirkung,39 und „Charactere, die nicht im Volksboden wurzeln, sind Topf-Gewächse.“40 Angesichts dieses Festhaltens an der Bedeutung der historischen Faktizität als Rahmenbedingung des Schauspiels verwundert es nicht, dass sich Hebbel vor Abfassung des Fragments einem gründlichen Quellenstudium widmete und eine Reise nach Krakau machte,41 um dadurch Kenntnisse des Lokalkolorits zu gewinnen. Dass sich daraus unerwarteterweise historische Parallelen ergeben, kraft derer das Drama zugleich an aktueller Brisanz gewinnt, offenbart sich exemplarisch

|| 34 B 1924, an Julius Glaser, datiert 4. August 1858. WAB 3, S. 1924. 35 Vgl. W 11, S. 5f; W 11, S. 40; sowie Kap. 4.3.4 der vorliegenden Arbeit. 36 B 1953, an Julius Campe, datiert 27. Oktober 1858. WAB 3, S. 698. 37 Vgl. Kap. 4.5.2 der vorliegenden Arbeit. 38 B 1977, an Franz Dingelstedt, datiert 14. Dezember 1858. WAB 3, S. 721. 39 B 1974, an Marie von Sayn-Wittgenstein, datiert 2. Dezember 1858. WAB 3, S. 718. 40 B 2001, an Marie von Sayn-Wittgenstein, datiert 27. Januar 1859. WAB 3, S. 744. 41 Vgl. hierzu B 1949, an Marie von Sayn-Wittgenstein, datiert 2. Oktober 1858. WAB 3, S. 691f.

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am Beispiel des angedeuteten Motivs der Aufhebung des Leibeigentums.42 So nimmt Hebbel im Zuge der Quellenuntersuchung 1858 mit regem Interesse zur Kenntnis, „daß es gerade Boris Godunow war, der diejenigen Institutionen in Rußland einführte, welche der jetzige Kaiser [= Zar Alexander II., M. M.] beseitigen zu wollen scheint.“43 Gleichzeitig werden die Zustände und damit die anonyme Masse des Volks als eine eigenständige Macht auch innerhalb des Dramas anerkannt, da sie nicht allein die Charaktere plausibilisieren, sondern ihre Wirkungsmöglichkeit begründen und beschränken können. Vom „Humus“ des Volksbodens entfernt wäre es um die Kräfte der Helden geschehen: Sie wären ohnmächtig, eben nur „TopfGewächse.“ Buchenswert ist es indessen, dass Schiller Hebbels Überzeugung von der grundlegenden Macht der Zustände, aus denen erst die Kraft der Tragödie schöpft, durchaus teilte. An Goethe schreibt er während seiner Arbeit an Wallenstein: „Da der Hauptcharakter eigentlich retardierend ist, so tun die Umstände eigentlich alles zur Krise und dies wird, wie ich denke, den tragischen Eindruck sehr erhöhen.“44 Angesichts der Gewalt der entpersonifizierten „Umstände“ wird der vermeintlich autonome Protagonist zum Geschöpf seiner Mitwelt,45 wodurch die Tragizität des sich in der geschichtlich-machtpolitischen Bestimmtheit unrettbar verfangenden Subjekts, dessen Versuche der Selbstbehauptung allesamt vergeblich sind, gesteigert werden kann. Insofern lässt sich schlussfolgern, dass Hebbels Selbstpositionierung zwecks der ästhetischen Abgrenzung und Unabhängigkeit von Schiller ihn – ein weiteres Mal – in dessen Nähe geführt hat.

|| 42 Vgl. Hebbels Demetrius (II/ 9; W 7, S. 67): „Gieb die Bauern wieder frei.“ 43 B 1979, an Carolyn von Sayn-Wittgenstein, datiert 14. Dezember 1858. WAB 3, S. 724. Zur schrittweisen Einschränkung der Freizügigkeit der Bauern – schon seit Iwan IV. – aufgrund drastisch zunehmender Verwüstungen bebaubarer Landflächen vgl. Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution. 2. Aufl. München 2013, S. 352f. Zur endgültigen Aufhebung der Leibeigenschaft unter Alexander II, der ungeachtet anderslautender Empfehlungen aus dem Umkreis seines Regierungsapparats dennoch auf ein irreversibles Befreiungswerk bestand, vgl. S. 884–891. 44 Vgl. Schillers Brief an Goethe, datiert 2. Oktober 1797. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 8.1: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Text, hg. von Manfred Beetz. München 1990, S. 429. 45 Hartmut Reinhardt vertritt auch die These der faktischen Heteronomie Wallensteins. Allerdings sieht er den Grund dieser Heteronomie in dem selbsttäuschenden Sternglauben. Der Untergang der nur scheinbaren Autonomie des Subjekts dient Reinhart zufolge dazu, gewissermaßen ex negativo das Freiheitsbewusstsein im Zuschauer zu erwecken. Vgl. Hartmut Reinhardt: Die Wege der Freiheit. Schillers „Wallenstein“-Trilogie und die Idee des Erhabenen. In: Wolfgang Wittkowski (Hg.): Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Tübingen 1982, S. 252– 272.

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7.2 Die „Grundgedanken“ des Schillerschen Demetrius 7.2.1 Legitimität und Gerechtigkeit Wenn Hebbel vom „Grundgedanken“ des Schillerschen Demetrius-Fragments spricht, so soll dieser, gemäß dem Forschungskonsens gemäß, in erster Linie im dramatisch vollzogenen Diskurs über die Legitimation gesucht werden. In der Demetrius-Gestalt finde, so die überzeugende These Ernst Osterkamps, die zeitgenössische Problematik der Legitimität politischer Herrschaft angesichts des Aufstiegs Napoleons ihren angemessenen Ausdruck.46 Gerade die Diskrepanz zwischen der subjektiven und der faktischen Legitimität führt zum tragischen Fall des russischen Prätendenten.47 Mit dem Begriff der „subjektiven Prinzen“ untersucht Jochen Schmidt die „Krise der Legitimität“ vor dem Hintergrund des Geniedenkens um 1800, indem er die potentiellen Herrscherfiguren, vor allem Romanow und Demetrius, als Repräsentanten unterschiedlicher Legitimationsmodelle deutet: Während Romanow „traditional-dynastische Legitimität“ für sich beanspruchen dürfe, repräsentiere Demetrius „die charismatische Legitimität“, die freilich einer Selbsttäuschung entspringe. 48 Auf Schmidts einleuchtende Interpretation weist Mirjam Springer verschiedenen Orts hin. 49 Das Scheitern des „subjektive[n] Prinzentum[s]“ begreift Schmidt durchaus als Schillers Kritik an der „Genie-Ideologie“, die verstärkt auf „die Inthronisierung des autonomen Subjekts“ gerichtet sei.50 Deshalb sei der Idealhorizont in Schillers Demetrius eine „umfassende Legitimation“,51 die aus der Einheit der charismatischen mit der traditionell-dynastischen Legitimität hervorgehe. Dass sich Schmidt hier impliziert auf Max Webers gründliche Analyse der Legitimitätsformen beruft, liegt auf der Hand. In „Wirtschaft und Gesellschaft“52 untersucht Weber die Voraussetzungen aller herrschaftlichen Ordnungen und findet sie im Glauben an die Legitimität des Herrschers. Bekanntlich definiert Weber im Rahmen seiner Herrschaftssoziologie drei Idealtypen der Legitimität, nämlich die ratio-

|| 46 Ernst Osterkamp: Von Demetrius zu Dimitrij. Der Charakter des falschen Zaren in Schillers Demetrius-Plan und in Dvoraks Oper Dimitrij. In: Bayerische Staatsoper: Antonin Dvorák: Dimitrij. Programmheft. München 1992, S. 90–105. 47 Vgl. Frank Suppanz: Person und Staat in Schillers Dramenfragmenten. Zur literarischen Rekonstruktion eines problematischen Verhältnisses. Tübingen 2000, S. 294–387, insbesondere S. 361ff. 48 Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 456. 49 Vgl. Mirjam Springer: „Legierungen aus Zinn und Blei“. Schillers dramatische Fragmente. Frankfurt a. M. 2000, S. 165f. Ferner vgl. Mirjam Springer: Demetrius. In: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 239–242. 50 Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 458. 51 Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 459. 52 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hg. von Johannes Winckelmann. 5. Aufl. Tübingen 1972.

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nale, die traditionale und die charismatische. Während die rationale Legitimation auf objektive Ordnung und Satzung, die traditionale auf „das ewig Gestrige“ (FA 4, S. 162) der Gewohnheit beruhe,53 basiere die charismatische auf „persönliche[m] Vertrauen in Offenbarung.“54 Bedeutsam ist Webers These von der zwingenden Macht des Charismas, die die Subordination unabhängig von der öffentlichen Meinung als unabdingbar bezeichnet: „Die Anerkennung ist pflichtmäßig.“55 Damit wird im Hinblick auf Schillers Demetrius begreiflich, warum die Weigerung Leo Sapiehas, Demetrius militärisch zu unterstützen und Russland den Krieg zu erklären (FA 10, S. 531f.), gar mit Morddrohungen einhergeht: „[D]ie Nicht-Teilnahme an dem formal voluntaristisch rekrutierten Kriegszug eines Führers wurde in aller Welt mit Spott entgolten.“ (FA 10, S. 526) Genau besehen erfüllt der Schillersche Demetrius allerdings keineswegs restlos jedes Kriterium eines charismatischen Herrschers. Zweifelsohne besitzt jener eine charismatische Ausstrahlung: Neben dem schriftlichen Zeugnis wird „kräftiger noch aus seiner schlichten Rede / Und reinen Stirn“ (FA 10, S. 526) die Wahrheit verkündet; Nach seinem Einzug in Russland ist er „ein Gott der Gnade für alle“ und wird als „die aufgehende Sonne des Reichs“ begrüßt (FA 10, S. 399). Doch sein entscheidendes ist die Rechtmäßigkeit des dynastischen Erbes. Demetrius beruft sich nicht auf das Charisma, sondern auf die traditionale, patrimoniale Legitimität, die für Weber allein „auf Grund der Heiligkeit altüberkommener (‚von jeher bestehender‘) Ordnung und Herrengewalt“56 gegeben ist: „Daß ich den Thron erobre meiner Väter.“ (FA 10, S. 528) Eher ließe sich Boris Godunow, der Usurpator aus „Verdienst“ (FA 10, S. 540), dessen „Fürstentugend“ in „allen Landen“ gerühmt wird (FA 10, S. 464),57 als Stellvertreter einer „plebiszitäre[n] Herrschaft“ charakterisieren, die nach Max Weber eine Variante der charismatischen Legitimation darstellt:58 Denn Boris „schont das Volk und stürzt die edeln Häuser“, und wird nur deshalb einstimmig zum Zaren gewählt, „[w]eil er dem Volk die Stimmen abgestohlen“ habe

|| 53 Zur Problematik der Legitimität sowohl des „monarchischen Systems“ als auch der charismatischen Persönlichkeit in Wallenstein-Trilogie vgl. vor allem Jochen Schmidt: Freiheit und Notwendigkeit. Wallenstein. In: Günter Sasse (Hg.): Schiller. Werk – Interpretationen. Heidelberg 2005, S. 85–104, hier insbesondere S. 92ff. 54 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 124. 55 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 141. 56 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 130. 57 Vgl. weitere Konzeptionen Schillers von der würdigen Herrschaft Godunows: „Boris herrscht würdigt.“ (FA 10, S. 328) „Seine Fürsorge und königliche Milde bei der großen Hungersnoth, seine Gerechtigkeitspflege, seine Wachsamkeit und Klugheit in Bewahrung des Friedens und Vertheidigung des Reiches, seine Einsicht und Eifer in Beförderung des Volkswohls etc.“ FA 10, S. 443. 58 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 157. Man darf nicht vergessen, dass Weber schon am Anfang des vergangenen Jahrhunderts auf die Gefahr eines aus dem demagogischen Charisma abgeleiteten „Parteiführertums“ hinwies, das schließlich in die plebiszitäre „Führerdemokratie“ münden wird (S. 157).

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(FA 10, S. 464f.). Als einen „rein ‚plebiszitären‘ charismatischen Herrscher“ bezeichnete Weber allerdings auch Napoleon. 59 Obwohl der Name Bonapartes kein einziges Mal in Schillers Œuvre erwähnt wird, weist Walter Müller-Seidel mit gutem Grund darauf hin, dass der französische Kaiser trotz kategorischer Nichtnennung dennoch stets im Hintergrund in Schillers späteren Dramen gegenwärtig sei.60 Wenn in der Forschung gerne nach möglichen Napoleon-Bezügen in Schillers politischen Helden gesucht wird,61 so könnten, nebenbei bemerkt, die wenigen Skizzen über Boris ebenfalls aufschlussreich sein. Demetrius verkörpert demnach nicht den reinen Typus der charismatischen Legitimität, sondern begründet seinen Anspruch auf die Zarenwürde vor allem mit traditionellen erbrechtlichen Argumenten. Darüber hinaus vertritt er einen Universalismus der Gerechtigkeit, dem eine formale Legitimationskraft innewohnt: „Es ist die große Sache aller Staaten / Und Thronen, daß gescheh’ was rechtens ist“ (FA 10, S. 528). An dieser Stelle vollzieht sich die Konvergenz der Legitimität mit der Legalität, weil die Rechtfertigung hier ihrem etymologischen Ursprung gemäß allein kraft Recht und Gerechtigkeit wirksam ist. Da die Forderung nach Gerechtigkeit wegen ihres formalen Charakters nicht von ihrer Substanz abhängt, so lässt sich diese Variation der Legitimität verallgemeinernd auf jedes Subjekt übertragen: „[D]er unterdrückte hat / Ein heilig Recht an jede edle Brust.“ (FA 10, S. 520) Demetrius strebt insofern nicht primär nach Etablierung einer Herrschaftsmacht, sondern nach der Rehabilitation des Rechts. Sein Rechtverständnis manifestiert sich auch darin, dass er nach dem tödlichen Zweikampf mit dem Palatinus auf Gesetz beruft – „Gerechtigkeit und Gesetz ist / auf meiner Seite“ (FA 10, S. 462) – obgleich er als Fremdling nicht einmal „die gemeinen Rechte des Bürgers“ genießt (FA 10, S. 414).

|| 59 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 141. 60 Vgl. Walter Müller-Seidel: Friedrich Schiller und die Politik. München 2009. Zu Schillers „Gegnerschaft“ gegenüber dem französischen Kaiser vgl. S. 212–226. Darüber hinaus macht Müller-Seidel in Bezug auf die „Wallenstein“-Trilogie ebenfalls auf Max Webers Begriff der charismatischen Legitimität aufmerksam, vgl. S. 126 und S. 248f. Aber auf das Demetrius-Fragment geht der SchillerKenner hier nur beiläufig ein. 61 Einen ersten Hinweis gibt zunächst Hans-Günther Thalheim: Es seien „Züge Napoleons, seines Auftretens und Wirkens als das Besondere und zugleich Politisch-Aktuelle in den Charakter des Demetrius eingegangen.“ Vgl. Hans-Günther Thalheim: Schillers Demetrius als klassische Tragödie. In: ders.: Zur Literatur der Goethezeit. Berlin (DDR) 1969, S. 194–240, hier S. 213. Ausführlicher legt Fritz Martini eine mögliche Analogie aufgrund der Herrschaft ohne Legitimität nahe: Es lasse sich nämlich wohl behaupten, „daß ihm [= Schiller, M. M.] bei der Gestaltung der Demetrius-Figur eine Analogie zu Napoleon vorschwebte. Der ‚subjektive Prinz‘, der sich selbst aus anonymer Niedrigkeit zum höchsten Gewalthaber erhob […], erscheint der Demetrius-Figur verwandt. […] Durch Napoleon erhielt das Problem der Legitimität eine neue Aktualität.“ Vgl. Fritz Martini: Demetrius. In: Walter Hinderer (Hg.): Schillers Dramen. Neue Interpretationen. 2. Aufl. Stuttgart 1983, S. 316–347, hier S. 341.

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7.2.2 Krise des Selbstglaubens Die eigentliche Quelle seiner Herrscherlegitimation ist jedoch Demetrius’ Glaube an sich selbst. Diese Selbstgewissheit erfährt er zunächst durch eine sich ihm offenbarende „gewiße Götterstimme“, die sein „ungeheure[s] Streben ins Mögliche“ rechtfertigt (FA 10, S. 417). Dadurch erhält Schillers Demetrius messianische Züge,62 die zusätzlich durch das Kundtun seiner Zielsetzung, nämlich der allgemeinen Befreiung der Menschheit, verstärkt werden: Die „schöne Freiheit“ will er pflanzen, und „aus Sklaven […] Menschen“ machen (FA 10, S. 538). Diese göttliche Stimme ist allerdings nichts anderes als die innere Zuversicht in sich selbst, die für die Glaubwürdigkeit der herrschaftlichen Selbstermächtigung zu bürgen vermag: „Nicht bloß an Zeichen, die betrüglich sind, / In tiefster Brust, an meines Herzens Schlägen“ (FA 10, S. 525) fühlt Demetrius die Wahrhaftigkeit seines Berufenseins. Deshalb konstatiert Peter Szondi vollkommen zu Recht, dass dieser Selbstglaube „grundlegend“ sei, denn weder seine „hohe Erscheinung“ noch die „Überredungskünste“ Marinas könnten derart wirksam auf die polnische Reichsversammlung Einfluss ausüben wie „des Demetrius Glaube an sich selbst.“63 Szondi stimmt insofern mit der Einsicht Nietzsches überein, der „[dem] Punct der Ehrlichkeit beim Betruge“ genau auf den Grund geht: Bei allen großen Betrügern ist ein Vorgang bemerkenswerth, dem sie ihre Macht verdanken. Im eigentlichen Acte des Betrugs […] inmitten der wirkungsvollen Szenerie überkommt sie der G l a u b e a n s i c h s e l b s t : dieser ist es, der dann so wundergleich und bezwingend zu den Umgebenden spricht. […] Denn die Menschen glauben an die Wahrheit dessen, was ersichtlich stark geglaubt wird.64

Nicht anders legt Marina die Faszinationskraft des Demetrius aus: „Er glaub an sich, so glaubt ihm auch die Welt, / Laß ihn die glückliche Dunkelheit bewahren, / Die eine Mutter großer Thaten ist – [.]“ (FA 10, S. 544) An die Notwendigkeit des Selbstbetrugs hält Schiller aus wirkungsästhetischen Überlegungen ebenfalls fest, weil „ohne den Glauben die Rührung aufhört.“ (FA 10, S. 433) Demetrius müsse der echte „entschiedenerweise 1) nicht seyn, aber er muß 2) sich selbst dafür halten“ (FA 10, S. 340), um nicht allein die Welt, sondern vor allem das Publikum von seiner postulierten Identität zu überzeugen: „Besonders aber

|| 62 Vgl. Karl Heinrich Hucke und Olaf Kutzmutz: Demetrius. In: Helmut Koopmann: SchillerHandbuch, S. 534–555. Zum Messianismus und biblischen Anspielungen im Demetrius vgl. vor allem S. 548f. 63 Peter Szondi: Der tragische Weg von Schillers Demetrius. In: ders.: Schriften, hg. von Jean Bollack u. a. 2 Bd. Frankfurt a. M. 2011, Bd. 2, S. 135–154, hier S. 141. 64 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band. Nr. 52. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Bd. 2, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1988, S. 72f.

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muß er selbst an sich glauben, und dieß muß eine solche Wirkung thun, daß selbst der Unglaube des Zuschauer nicht dagegen aufkommen kann, oder derselbe doch wißentlich fortgerissen wird.“ (FA 10, S. 419) Es spricht hier der Dichter des Fiesko, der kraft bewusster Affektlenkung „des Zuschauers Seele am Zügel“ führen will (FA 2, S. 558), um dadurch den größtmöglichen theatralischen Effekt zu erzielen. Diese unerschütterliche Zuversicht wird außerdem dramaturgisch dadurch gesteigert, dass jede potentiell dekonstruktive Selbstreflexion über die Echtheit der Legitimation ausgeklammert wird. Nicht nur sei die Lebensgeschichte unhinterfragt „candidé“ zu erzählen (FA 10, S. 336), sondern das „Sentimentale“, das auf eine nüchterne Distanzierung des erkennenden Bewusstseins vom realen Sein andeutet, solle ebenfalls unberücksichtigt bleiben: „Nichts sentimentales darf aber hier statt haben; das Sentiment muss immer naiv bleiben.“ (FA 10, S. 436; Hervorhebung im Original) Die Naivität des Glaubens an sich selbst entspricht Schillers eigener Vorstellung von dem „große[n] Staatsmann und Feldherr[n]“, die alle „einen naiven Charakter zeigen“, sobald sie „durch ihr Genie“ groß geworden seien (FA 8, S. 720). Die Problematik des legitimierenden Selbstglaubens besteht jedoch darin, dass dieser ebenso wie die schriftlichen Zeugnisse – etwa jene Eidesformel in Wallenstein (FA 4, S. 101) – leicht zu verfälschen und zu manipulieren sind. Darum wird der Fall des Demetrius in Schillers Entwurf als eine Tragödie der getäuschten Selbsterkenntnis konzipiert: „Er glaubt an sich selbst, in diesem Glauben handelt er und daraus entspringt das Tragische. Gerade diese Sicherheit, womit er an sich selbst glaubt, ist das Furchtbare und, in dem es ihn interessant macht, erweckt es Rührung.“ (FA 10, S. 436) Insofern ist Szondis These, dass der äußere „Schicksalsweg“ zugleich das tragische innere „Bewußtseinsweg“ sei, zuzustimmen.65 Die These allerdings, dass sich im Selbstbetrug des Demetrius ein psychisches Defizit, das Unvermögen also, zwischen „den Produkten seiner Einbildungskraft (Wahnsinnsidee) und realen Gegenständen“ zu unterscheiden,66 dingfest machen ließe, ist anzuzweifeln, da es letztendlich keine konkreten Indizien gibt, die gegen seine zarische Herkunft sprächen und die Berechtigung seines strebsamen Geists widerlegten. In der scheinbaren Übereinstimmung von subjektiver Ambition und vorgetäuschter objektiver Rechtfertigung liegt das unentrinnbare tragische Schicksal Demetrius’, dass er, der selbst in der „Niedrigkeit“ mit „Größe des Sinnes und des Muths“ auftritt (FA 10, S. 414), sich dem Betrug nicht entziehen kann und notwendigerweise der Täuschung verfallen muss. Die konzeptionelle Entscheidung Schillers, die Tragik des Demetrius zunächst aus seinem trügerischen Selbstglauben abzuleiten, führt konsequenterweise dazu,

|| 65 Peter Szondi: Der tragische Weg von Schillers Demetrius, S. 138. 66 Barbara Mahlmann-Bauer: Die Psychopathologie des Herrschers. Demetrius, ein Tyrann aus verlorener Selbstachtung. In: Georg Braungart und Bernhard Greiner (Hg.): Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches Schaffen. Hamburg 2005, S. 107–137, hier S. 124.

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dass die Struktur des Stücks einer tragischen Ironie gleichkommt.67 Insofern wird das Stück in die Nähe des Sophokleischen König Ödipus rückt: Trotz zahlreicher Aufklärungsanspielungen im Bericht seiner Lebensgeschichte68 wird dieser „Akt der Individuation“69 zum Beginn einer Selbsttäuschung, sodass Mirjam Springer darin den ersten Ansatz einer „postidealistischen kritischen Auseinandersetzung mit dem Subjekt-Begriff“ feststellt, in der das um seine Wesenhaftigkeit gebrachte Subjekt lediglich als „Effekt von Sprache und Ideologie“ konzeptualisiert, als Konstrukt fremder Vorstellungen entzaubert wird. 70 Die tragische Dialektik des SelbstBewusstseins wird ferner dadurch hervorgehoben, dass die Anagnorisis und die Selbstentfremdung stets in denselben Augenblick fallen: Der russische Jüngling wird von seinem eigentlichen Selbst entfremdet, als er kraft verschiedener Requisiten seine vermeintliche Identität als Zarewitsch wiedererkennt; nachdem er aber durch jenen fabricator doli seine wirkliche Geburt erfahren und ihn aus Wut umgebracht hat, fragt er nach sich selbst, „als ob er eine fremde Person wäre, so unähnlich fühlt er sich selber […].“ (FA 10, S. 402) Die doppelte Peripetie zeigt nicht allein die Wendung des Glücks in Demetrius’ politischer Laufbahn, sondern vor allem die tragische Einheit von Erkenntnis und Verhängnis. Der Glaube an sich selbst als Quelle der Legitimation gerät dadurch in die Krise, und die Auflösung desselben führt zur endgültigen Entzweiung des Selbst: Die Enthüllung seiner wahren Geburt habe ihm „den Glauben an mich selbst entrißen – Fahr hin Muth und Hoffnung! Fahrt hin du frohe Zuversicht zu mir selbst! Freude! Vertrauen und Glaube! – / In einer Lüge bin ich befangen, / Zerfallen bin ich mit mir selbst!“ (FA 10, S. 400) Mit seinem „Glückwechsel“ geht aber auch ein „Charakterwechsel“ einher:71 Der Verlust der Zuversicht und das Wissen um den Betrug münden zugleich in einen entscheidenden Charakterwandeln des Demetrius. So glaubt Demetrius Schillers Konzeption zufolge bis zu seinem Einzug in Moskau an sich selbst, hier jedoch „wird er an sich irre, einer entdeckt ihm seine wahre Geburt und dieß bringt eine schnelle unglückliche Veränderung im Charakter des Betrogenen hervor.“ (FA 10, S. 328) Wenn Schiller in seinem letzten Brief an Körner den darin allerdings nicht

|| 67 Peter Szondi spricht hier von der „dialektischen Identität“ des Ursprungs von Glück und Unglück, die, der These in seinem Versuch über das Tragische folgend, die „einzige Konstante“ im Diskurs über das Wesen des Tragischen von Schelling bis Scheler darstelle. Vgl. Peter Szondi: Der tragische Weg von Schillers Demetrius, S. 144. Vgl. ferner Peter Szondi: Versuch über das Tragische, S. 205. 68 Vgl. exemplarisch das Wort des Demetrius: „Und jetzt fiels auch wie Schuppen mir vom Auge!“ FA 10, S. 525. 69 Mirjam Springer: Endlose Geschichte. Schillers letztes Drama Demetrius. In: Michael Hofmann u. a. (Hg.) Schiller und die Geschichte. München 2006, S. 226–238, hier S. 234. 70 Mirjam Springer: Endlose Geschichte, S. 234. 71 Vgl. Schillers Konzeption in seinen „Skizzen“: „Intereßante Bestandstücke sind. 1) Demetrius Glückwechsel und Charakterwechsel.“ FA 10, S. 403.

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namentlich genannten Demetrius als „Gegenstück zu der Jungfrau v[on] Orleans“ bezeichnet (FA 12, S. 740), so ist dies vor allem auf die in beiden Dramen wirkungsmächtig vorgeführte Krise des Selbstglaubens zurückzuführen.72 Doch wie die Figur der Jungfrau (s. Kap. 5.4.4) ist auch die Gestalt des Demetrius nicht statisch erdacht, sondern unterliegt der inneren Dynamik einer Bewusstseinsproblematik. Insofern trifft Hebbels Generalkritik an den unbeweglichen Charakteren Schillers, die eingangs geschildert worden ist, abermals nicht zu.

7.2.3 Usurpation des Scheins und Last der vollbrachten Tat Die tragische Verschmelzung von Erkenntnis und Entfremdung im Moment der Entstehung und der Aufhebung des Selbstglaubens hat zur Folge, dass die Konturen der Identität in zunehmendem Maß zu verwischen scheinen. Die Radikalität des Demetrius-Projekts liegt darin, dass es keinen erlösenden Rückbezug zum eigentlichen Sein mehr geben kann; eine utopische Zusammenführung der objektiven und subjektiven Legitimität wie im Falle Warbecks ist ausgeschlossen. Aber auch die Möglichkeit, die Maskerade kraft Rückbesinnung auf das ursprüngliche Ich, zu der etwa Lady Milford noch im Stande war, endgültig und unwiderruflich abzuwerfen, ist ebenfalls nicht gegeben. Von der unerwiderten Liebe enttäuscht, vom grausamen Soldatenhandel erschreckt und von der Seelengröße Louises überwältigt, fasst Lady Milford den Entschluss, ihrer schändlichen Existenz als fürstliche Mätresse zu entsagen, sich an ihre britische Herkunft erinnernd. Es ist die gleiche Aufklärungsmetapher, deren sich ihr Abschiedsbrief bedient: „Drei Jahre währte der Betrug. Die Binde fällt mir von den Augen [.]“ (IV/9; FA 2, S. 649) Vor allem weiß sie sich umzutaufen und findet mit ihrem ursprünglichen Namen „Johanna Norfolk“ zu ihrer ursprünglichen Freiheit und Identität als „brittische Fürstin“ (IV/9; FA 2, S. 649) zurück, die – um mit Ferdinand von Walter zu sprechen – „[d]ie freigeborene Tochter des freiesten Volks unter dem Himmel“ ist (II/3; FA 2, S. 595). Der Namenstausch versinnbildlicht des Rollenspiels glückliches Ende, das zugleich einen Rückgewinn der eigenen Identität bedeutet. Dieser Ausweg aber ist Demetrius versperrt. Er bleibt in seiner Rolle gefangen und will sie, da er nicht mehr auf seine „eigene[] innere[] Ueberzeugung“ zurückgreifen kann, despotisch mit „Mord und Blut“ behaupten (FA 10, S. 401).

|| 72 Szondi spricht in seinem Versuch über das Tragische von der „Verblendung durch die innere Stimme“, die die beiden Stücke verbinde. Die These, dass deshalb in Demetrius schon der Wurzel einer Kritik des Idealismus zu erblicken sei, ist nur mit Einschränkung zu bejahen, denn dies trifft bei dem letzten dramatischen Versuch Schillers, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, aus anderen Gründen zu. Vgl. Peter Szondi: Versuch über das Tragische, S. 240ff.

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Es vollzieht sich ab diesem Moment ein Prozess, den Max Kommerell in seinem Schiller-Essay unter dem Zwischentitel „Das Handeln und der Schein“73 untersucht hat und der nicht unpassend als die Usurpation des Scheins über das Sein bezeichnet werden kann. Die psychologische Prägnanz der Schillerschen Dramatik besteht laut Kommerell darin, dass sie nicht allein eine „Geheimgeschichte der entstehenden Tat“, sondern auch „die Geschichte der getanen Tat“ dokumentiere, die ebenso offen wie geheim sei: „offen, sofern sie [= die Tat, M. M.] die Lage der Dinge verändert; geheim, sofern sie zurückwirkend den Selbstbesitz des Handelnden selten steigert, meist schmälert; und vielleicht auch, sofern sie an dem Begriff, den sich die andern über den Handelnden bilden, weiterschafft.“74 Hellsichtig erkennt Kommerell die zerstörerische Rückwirkung der Tat auf das Subjekt, die sich vor allem am Beispiel des Demetrius nach seinem Mord an X ablesen lässt: „Schon ist er der alte nicht mehr, ein tyrannischer Geist ist in ihn gefahren […].“ (FA 10, S. 401) Er weist aber zugleich auf jene meinungsmodifizierende Macht der Tat hin, die das öffentliche Ansehen des Subjekts, den „Schein“ also, erst definiert. Die herkömmliche Dichotomie von Sein und Schein wird aufgehoben, denn der Schein als das „Gesehenwerden“ der Tat sei an sich „höchst seiend, ist die Wirkung des Tuns […].“75 Damit ist eine weitere Schlüsselproblematik des Demetrius angesprochen: Das handelnde Subjekt wird gezwungen, sich von seiner Rolle und seiner Tat bestimmen zu lassen, „bis das Schemen in ihn hineinschlüpft und selbst sein Eigentliches wird.“76 Demetrius ist Zarewitsch, weil alle ihn dafür halten; restlos mit dieser Rolle identifiziert, tut er nach der Entlarvung bedenkenlos alles, was die Authentizität derselben simulieren kann.77 Unter der fremdbestimmten Hülle verliert er jedoch seine Identität, sodass sein eigentliches Selbst schließlich zur Marionette seines Amts erniedrigt wird. Die Ohnmacht des Seins zeigt sich am erschütterndsten in dem Augenblick, als das ursprüngliche Ich gleichsam zum letzten Mal aus der Selbstentfremdung hervorleuchtet, als Demetrius nach sich selbst wie nach einem Fremden fragt: „An diese süßen schmelzenden Erinnerungen knüpft sich […] die furchtbare Gegenwart, die Gewalt ohne Liebe, die schwindlichte Höhe ohne Ruhe, kurz seine volle Czarsmacht an, und die Grausamkeit packt schnell wieder seine gequälte Seele.“ (FA 10, S. 403) Es ist die Herrschermacht des Zaren, die den letzten Funken des nicht mehr selbstbedingten Seins des Demetrius erstickt. Das Subjekt wird von seiner Rolle, die die Tat evoziert, vollständig verschlungen. Obwohl nur am Rande auf das Fragment eingehend, bring Kommerell die tiefgreifende Tragik || 73 Max Kommerell: Schiller als Psychologe. In: ders.: Geist und Buchstabe der Dichtung. 6. Aufl. Frankfurt a. M. 2009, S. 175–242, hier S. 208ff. 74 Max Kommerell: Schiller als Psychologe, S. 208. 75 Max Kommerell: Schiller als Psychologe, S. 209f. 76 Max Kommerell: Schiller als Psychologe, S. 211. 77 Vgl. FA 10, S. 403: „Er [= Demetrius] ist grausam gegen alle, welche sich einen Zweifel an seiner Person merken laßen […].“

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des Demetrius auf den Punkt: „Der Handelnde muß scheinen […], aber wenn er es einmal zu scheinen begann, wird es ihm unentrinnbarer als was er eigentlich ist.“78

7.2.4 Spielball fremder Leidenschaften: Heteronomie des Subjekts Neben der Unhaltbarkeit des Selbstglaubens und der Übermacht des Scheins besteht die dritte tragische Dimension des Schillerschen Demetrius-Fragments in der Dekonstruktion der Autonomie des Subjekts als reiner Illusion. Wenn Demetrius vor seinem Eintritt in den Wirbel der Geschichte noch kühn die Eigenständigkeit seiner Unternehmung hervorhebt – „Doch meiner eignen Kraft will ich verdanken, / Aufs neu, was die Geburt mir einst gegeben“ (FA 10, S. 472) –, so wird er in Wahrheit doch vom Dichter als Spielball fremder Leidenschaften konzipiert: „Demetrius wird eine tragische Person, wenn er durch fremde Leidenschaft, wie durch ein Verhängniß, dem Glück und dem Unglück zugeschleudert wird […].“ (FA 10, S. 324) Die Heteronomie des vermeintlich autonom Handelnden avanciert zum Grund der Tragik, weil er nur „von der Gewalt fremder Leidenschaft“, die sich seiner Kontrolle entzieht, geführt wird und „gleichsam nur ein Mittel und eine Nebensache“ ist (FA 10, S. 454). Demetrius ist ein fremdbestimmtes Individuum, „mehr passiv als aktiv, mehr getragen von Zufall, Glück und Wahn als ein Handelnder“, wie ihn Fritz Martini porträtiert.79 Mit ihm werde, so die überzeugende These Springers, „[d]er Mythos vom geschichtsmächtigen Einzelnen unterlaufen“, weil er selbst „erschaffen“ sei.80 Einen Schritt weiter geht Eberhard Lämmert, der das Fragment grundsätzlich als Drama der politischen Heteronomie bezeichnet, in dem die „forcierte Bewegtheit“ der Geschichte sich zum eigentlichen Gegenstand verselbstständigt habe: Da der Titelheld „zwar der Katalysator, nie aber der Beweger der dramatischen Handlung“ sei,81 so erscheine das „mouvement“ der Geschichte „erstmals nicht als Folie für tragische Konflikte, […] sondern als die Sache selbst“,82 denn, so charakterisiert Schiller synthetisch den gesamten Handlungsverlauf des Demetrius, „Das aufgezogene Uhrwerk geht ohne sein Zuthun.“ (FA 10, S. 345; Hervorhebung im Original) In seiner treffsicheren Bündigkeit argumentiert Herbert Kraft völlig zu Recht, das Schillersche Fragment führe „die Schicksalhaftigkeit des Menschen in der Manipulation

|| 78 Max Kommerell: Schiller als Psychologe, S. 220. 79 Fritz Martini: Demetrius, S. 320. 80 Mirjam Springer: Demetrius, hier S. 240. 81 Eberhard Lämmert: Schillers Demetrius und die Grenzen der poetischen Gerechtigkeit. In: Walter Hinderer (Hg.): Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne, S 17–32, hier S. 23. 82 Eberhard Lämmert: Schillers Demetrius und die Grenzen der poetischen Gerechtigkeit, S. 26.

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des an seiner Selbstbestimmung festhaltenden Individuums vor.“83 Schiller selbst betont ebenfalls das Schicksalhafte in der Tragödie des Demetrius, da die fremden Leidenschaften doch einem „Verhängnis“ gleich eine verbindliche und steuernde Gewalt auf das Subjekt ausüben. Das Fatum des Einzelnen, das sind die Anderen. Dieses Verhängnis, dem Demetrius ausgesetzt ist, sieht Kraft in der „machtpolitischen Konstellation“ verankert, die die Vielzahl egoistischer Interessenlagen widerspiegele.84 Demetrius ist ein Geschöpf jenes fabricator doli, der ihn als Zarewitsch „erschaffen“ hat (FA 1ß, S. 449). Marina, die „Bewegerin der Handlung“ (FA 10, S. 348), bedient sich Demetrius’ Selbstglaubens wie eines Werkzeugs zur Befriedigung ihrer „grenzenlose[n] Herrschbegierde“ (FA 10, S. 423): „Demetrius ist ihr nur ein Mittel, sie glaubt nicht an seine Neigung und denkt nur darauf, ihn von sich abhängig zu machen.“ (FA 10, S. 374) Deshalb begnügt sie sich mit dem vorgeblichen Demetrius, ohne ihn wirklich als legitimen Erben der Zarenkrone anerkennen zu wollen. 85 Als „nöthige Vorsicht“ lässt sie schließlich die ursprünglich für Demetrius angeworbene Truppe ihr die Treue schwören, sodass kein Zweifel mehr daran bestehen kann, dass die vermeintliche Legitimität des Demetrius nur ein Zwischenglied ihrer Intrigenkette bildet. Fürst Leo Sapieha wehrt sich vehement gegen den Bruch des Friedensvertrags mit Russland, nicht nur weil er „oligarchisch“ denkend (FA 10, S. 494) der Masse kategorisch misstraut – „Mehrheit ist der Unsinn“ (FA 10, S. 553) – oder weil er einst der Friedensstifter war,86 sondern weil er „Gegner des Mnischek“ ist (FA 10, S. 429) und ferner „Palatinus von Kiow“ (FA 10, S. 506), einer Stadt, die Marina entschieden von ihrem Vater fordert und für sich beansprucht: „Kiow muß mein seyn, und du sollst regieren.“ (FA 10, S. 552) Überhaupt herrschen unter dem polnischen Adel „Ehrgeiz, Ämtergier, Rivalitäten, Privatzweck und Privatneid“ (FA 10, S. 429). Im Streit um die Echtheit des Demetrius wird also der Machtkampf der Parteien ausgetragen, die jeweils ihre eigenen Interessen verfolgen. Auch der polnische König Sigismund, der als Gegenbild zur absolutistischen Zarenmacht von manchem gar als Repräsentant einer „mehr oder weniger republikanische[n]“ Legitimation der Herrschaftsgewalt durch Vereinigung der Stände gewürdigt wird,87 folgt in Wirklichkeit allein einem machtpolitischen Kalkül. Er hofft,

|| 83 Herbert Kraft: Schillers „Demetrius“ als Schicksalsdrama. Mit einer Bibliographie „Demetrius in deutscher Dichtung“. In: Ulrich Gaier und Werner Volke (Hg.): Festschrift für Friedrich Beißner. Bebenhausen 1974, S. 226–236, hier S. 226. 84 Herbert Kraft: Schillers „Demetrius“ als Schicksalsdrama, S. 227. 85 Vgl. Schillers Konzeption in „Szenar“ (FA 10, S. 423): „Sie [= Marina, M. M.] nimmt die ganze Sache so auf, daß man sieht, es sei ihr nicht darum zu thun, dasß Demetrius der wahre Czarowiz sey, wenn er nur dafür gelten kann.“ 86 Vgl. die Rede Leo Sapiehas: „Ich hab mit Moskau Frieden abgeschloßen, / Und ich bin Mann dafür, daß man ihn halte.“ FA 10, S. 532. 87 Vgl. Mirjam Springer: Endlose Geschichte, S. 232.

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zur Festigung seiner Herrscherposition, sowohl die Macht Russlands als auch diejenige des polnischen Adels durch Demetrius’ Feldzüge zu schwächen, ohne formal das Friedensabkommen aufzukündigen. So notiert Schiller in seinem „Szenar“: „Es ist ihm [= Sigismund, M. M.] nicht unlieb, wenn Moscau beunruhigt wird – wenn sie die Unruhigen Rokoszianer in diesem Krieg entladen – wenn einige Große sich erschöpfen. […] Politisch genug hat Sigismund nur Worte angewendet aber Thaten gespart.“ (FA 10, S. 428) Eine Umsetzung seiner Machtstrategie gewinnt umso mehr an Dringlichkeit, da der „stürmevolle“ Reichstag mit der Schlichtung des Zwists zwischen dem König und dem rebellischen Adelsbund, dem „widerspenstige[n] Rokosz“ (FA 10, S. 517), beendet wird, indem der uneingeschränkten Machtausübung Einhalt geboten wird: Der König muss versprechen, „die bißherigen Exorbiantien abzuschaffen, und die Pacta Conventa zu halten.“ (FA 10, 430) Sigismunds Intention wird, Schillers ursprünglichem Plan gemäß, von Marina durchschaut.88 Ihre Ermutigungen für Demetrius haben konsequenterweise nur die Funktion, das eigene machtpolitische Unterfangen in Gang zu setzen. Ihr Einblick in das gänzlich von Privatinteressen geleitete Kalkül des monarchistisch gesinnten Wahlkönigs der polnischen Adelsrepublik führt dazu, dass das Privatinteresse nun endgültig zur Grundlage historischen Handelns aller geworden ist. Daraus macht Marina keinen Hehl: „[E]r [= König Sigismund, M. M.] ist falsch, sorgt er für sich, so sorgen wir fürs unsre.“ (FA 10, S. 542) Das vermeintliche Recht der Unterdrückten, das die Unterstützung für Demetrius legitimiert, entpuppt sich als Selbsttäuschung angesichts des machtpolitischen Egoismus, der die polnische Reichsversammlung bestimmt. Demetrius ist aber nicht allein Gegenstand politischer Machtkämpfe, sondern auch Werkzeug religiöser Intrige. So erwägt Schiller unter anderem, die Konspiration von einem „Religionseiferer“ ausgehen zu lassen, der den Betrug „absichtlich schmiedet“ (FA 10, S. 326). Auf eine mögliche Kirchenintrige weisen etliche Textstellen aus der Gesamtkomposition des Demetrius hin. So wird im „Studienheft“ beispielsweise die Betrugsidee auf einen „rachsüchtigen und intriguanten Geistlichen“ zurückgeführt, „welchen Boris schwer beleidigt“ (FA 10, S. 337). Dieser Geistliche sei „ein Feind des Boris und ein Anhänger der von diesem verfolgten Parthey“ (FA 10, S. 341). Während in dieser Phase noch das persönliche Ressentiment überwiegt und der Geistliche nicht konfessionell bestimmt ist, konzipiert Schiller im weiteren Verlauf die entworfene Kirchenintrige als Jesuitenkomplott. Auf den späteren Seiten des „Studienhefts“ notiert er: „Die Catholiken, besonders die Jesuiten, müßen auch geschäftig seyn, ja vielleicht kann die Hauptintrigue von || 88 Vgl. FA 10, S. 428: „Marina kann die Politik des Königs aussprechen […].“ Dass sie dies auch tut, zeigt ihr Zwiegespräch mit Odowalsky: „Der König versteht sich mit dem Sapieha. Es ist ihm sehr gelegen, daß sich mein Vater deßen Macht er fürchtet durch diese Unternehmung schwächt, daß sich der Adel der ihm furchtbar war in diesem fremden Kriegeszug entladet und erschöpft, doch will er selbst neutral im Kampfe bleiben, und sind wir Sieger denkt er Rußland zu schwächen, sind wir besiegt, so hofft er in Pohlen frei mit uns zu walten.“ FA 10, S. 542.

Die „Grundgedanken“ des Schillerschen Demetrius | 239

ihnen ausgehen.“ (FA 10, S. 366) Angedeutet wird dieser Gedanke schon früh, als Schiller den „Erzbischoff zu Räsen“, Ignatius aus Cypern, ins Spiel bringt, der aber „heimlich katholisch“ ist und als Patriarch Demetrius in Moskau krönen soll. (FA 10, S. 321) Die Absicht, die russisch-orthodoxe Kirche zu unterwandern und den neuen, allerdings von der Kirche geschaffenen Zar zum Katholizismus konvertieren zu lassen, liegt auf der Hand. Deshalb soll Demetrius/Grischka im Gefängnis „eine Scene mit dem Jesuiten“ haben, „der ihn katholisch machen will“ (FA 10, S. 386).89 Hier ist an die Omnipräsenz der Jesuitenintrige in Schillers Werk zu erinnern,90 die, sei es im epischen Versuch des Geisterseher, sei es in der historiographischen Darstellung des Dreißigjährigen Kriegs,91 sei es an einzelnen dramatischen Figuren92 oder gar an jenem Spruch Wallensteins: „Ich hasse / Die Jesuiten“ (FA 4, S. 246), doch überall abzulesen ist. In jedem dieser Fälle unterliegt der anfänglich selbstbestimmte Held bald jesuitischer Manipulation, sodass am Ende nur von einer Heteronomie des politischen Handelns gesprochen werden kann. Dieser Konflikt um die Autonomie spitzt sich in der Figur des Demetrius dergestalt zu, dass er von vornherein Produkt fremder Hinterlist ist und das einzige Moment seiner Selbstbestimmung sich allein in der Tötung des ursächlichen Verschwörers verwirklichen kann. Es gehört zur oben analysierten Struktur der tragischen Ironie, dass ausgerechnet dieser Befreiungsakt der Willensfreiheit ein tödlicher ist, der jenen gewaltsamen Gesinnungswechsel evoziert und ihn rettungslos der gebietenden Macht des einmal angenommenen Scheins ausliefert, von dem er sich nicht mehr loslösen kann. Insofern erscheint Demetrius als eine tragische Figur der Heteronomie und das ganze Stück als das Ende der „Heldentragödie“,93 weil es die Wunschvorstellung eines unabhängigen, sich auf Selbstglauben stützenden Subjekts verunmöglicht und || 89 Vgl. auch FA 10, S. 388: „Ein Jesuit könnte mit eingeführt werden.“ 90 Vgl. hierzu die lesenswerte Untersuchung von Ritchie Robertson: Schiller and the Jesuits. In: Nicholas Martin (Hg.): Schiller: National Poet – Poet of Nations. A Birmingham Symposium. Amsterdam 2006, S. 179–200. Robertson stellt einleuchtend fest, dass Schiller – wie seine Zeitgenossen – die Jesuiten zwar oft negativ als „political conspirator“ und „terrorist“ betrachtet, doch gerne in seinem literarischen Schaffen den Orden darstellt, um dadurch politische Intrige zu gestalten. Robertson konstatiert: „Schillers interest in Jesuits was primarily literary. Their sinister reputation added spice to plays that expressed Schiller’s fascination with conspiracies.“ (S. 198) Zu Schiller und den Geheimbünden vgl. nach wie vor Hans-Jürgen Schings: Die Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illumination. Tübingen 1996. 91 Vgl. etwa zur Gestalt des Kaiser Rudolfs II.: „Indem Rudolph eins seiner Erbländer nach dem andern verlor, wurde die Kaiserwürde nicht viel besser von ihm behauptet. […] Es war genug, daß der Kaiser durch Jesuiten regiert und durch Spanische Ratschläge geleitet wurde“ (FA 7, S. 47) ; dder über Ferdinand II.: Dieser wurde „auf der Akademie zu Ingolstadt durch Jesuiten erzogen und unterrichtet“ (FA 7, S. 86). Folgenrichtig wird Ferdinand weniger Seiten später als den „Sklave[n] Spaniens und der Jesuiten“ (FA 7, S. 91) bezeichnet. 92 Vgl. exemplarisch die Konvertierung Mortimers durch die „Gesellschaft Jesu“ in Maria Stuart, I/6; FA 5, S. 26. 93 Vgl. Mirjam Springer: „Legierungen aus Zinn und Blei“, S. 173.

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zerstört: Denn „zum wahrhaft tragischen Handeln“, so lehrt Hegel, gehöre „das Prinzip der individuellen Freiheit und Selbstständigkeit oder wenigstens die Selbstbestimmung“, der eigenen Entscheidung Rechnung zu tragen.94 Dieses Moment der Selbstbestimmung fehlt Demetrius jedoch gänzlich. Es lässt sich deshalb zusammenfassend behaupten, dass die Desillusionierung der Handlungsautonomie jener zentrale „Grundgedanke“ des Schillerschen Demetrius-Fragments ist.

7.3 Exkurs: Hebbels Napoleon-Bild 7.3.1 Das welthistorische Individuum: Hebbels Don Karlos-Lektüre Auf den konstruktiven Stellenwert der Napoleon-Figur bei Schillers Gestaltung seiner politischen Helden, insbesondere im Hinblick auf den Legitimitätsdiskurs zu seinem Demetrius-Fragment, ist bereits hingewiesen worden. Bemerkenswert ist es nun, dass Hebbel das Werk Schillers ebenfalls im Kontext des Aufstiegs von Napoleon gelesen hat. In einem „Schiller und Napoleon“ betitelten Epigramm nennt Hebbel den Dichter als ein „Verdienst des großen französischen Kaisers, / Welches der Donnerer sich um die Germanen erwarb; / Hätte Napoleon nicht die Erde erschüttert, so wären / Carlos, Fiesco und Tell in der Geburt schon erstickt.“ (W 6, S. 353) Freilich darf es als philologischer Anachronismus gelten, wenn die Entstehung von Die Verschwörung des Fiesko zu Genua (1783) und Don Karlos (1787) auf Napoleons weltgeschichtliche Rolle zurückgeführt würde, da dieser erst 1799 mit jenem Staatsstreich am 18. Brumaire die höchste Machtposition als erster Konsul erhielt. Nur die szenische Verklärung des eidgenössischen Freiheitsmythos aus dem Jahre 1804 kann als eine unmittelbare Reaktion auf die Auflösung der Helvetischen Republik infolge der Intervention Napoleons ein Jahr zuvor gelesen werden.95 Doch Hebbel argumentiert hier nicht primär historisch, sondern ideengeschichtlich. Dass die Gestalt Fieskos als Präfiguration eines charismatischen Herrschers und somit als Vorwegnahme der Erfolgskarriere Napoleons gedeutet werden kann, hat die Forschung bereits herausgearbeitet.96 Was den Don Karlos anbelangt, so hängt diese Lesart mit Hebbels erneuter Lektüre von diesem Stück im Jahre 1843 zusammen. Als Hebbel an Heiligenabend dieses Jahres in Paris keinen Schlaf fand, las er „seit langer Zeit zum ersten Mal wieder“ Schillers Don Karlos, der, wie Hebbel am

|| 94 Hegel: Ästhetik, Bd. 2, S. 557. 95 Zur politischen Konstellation der Schweiz während Schillers Arbeit an seinem Wilhelm Tell vgl. Barbara Piatti: Tells Theater, S. 96–10596 Vgl. hierzu Rolf-Peter Janz: Die Verschwörung des Fiesco zu Genua. In: Walter Hinderer (Hg.): Schillers Dramen. Stuttgart 1992, S. 68–104. Janz argumentiert (S. 73): „In Fiesco findet sich so der politische Weg literarisch präfiguriert, den Napoleon Bonaparte und Louis Napoleon beschritten haben.“

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Weihnachtstag in seinem Diarium notiert, mit dessen „großen Elemente[n]“ einen „überraschend-mächtigen Eindruck“ auf ihn gemacht habe, welcher die „mangelnde Gestaltungskraft“ gar überwiege (TBR 2886 / TBW 2966). Die Ambivalenz von überwältigender Wirkung und kritischer Distanzierung im Rezeptionsverhältnis ist hier erneut erkennbar. Die Kritik richtet sich bekanntermaßen wieder an Schillers defizitäre Motivierungskunst, die nicht, wie Hebbel fordert, „die Motive selbst wieder motivirt, daß sie das Nerven- und Adergeflecht nicht bloß in seinen Hauptstämmen, sondern bis zum Haar-Gewebe herab, bloßlegt“ (TBR 2886 / TBW 2966). Der Ansatz neurologischer Metaphern steht im Einklang mit seiner sonstigen Schiller-Kritik, etwa in der Briefwechsel-Rezeption, die hier vorweggenommen wird.97 Der eigentliche Vorwurf betrifft aber die Konzeption der beiden Protagonisten des Stücks, Karlos und Posa. Mit Recht, so stellt Hebbel fest, ziehe Schiller die welthistorische Lösung des Dramas einem „Familiengemählde in einem fürstlichen Hauße“98 vor, das zwar nicht „groß“, doch „individuell-wahr“ gewesen wäre. Da der Prinz aber, der teleologisch fundierten universalgeschichtlichen Grundidee entsprechend, „durch seine Leidenschaft über sich selbst erhöht ∫hinaus-∫, und im Interesse der flandrischen Provinzen und der ganzen Menschheit zum welthistorischen Repräsentanten der liberalen Ideen erhoben werden“ könne, dürfe er „seinem Vater nicht in die Hände fallen“ – „er durfte nicht sterben“ (TBR 2886 / TBW 2966). Bereits in Hebbels Ansicht über die Jungfrau von Orléans wurde die Rechtfertigung der notwendigen Existenz des historischen Subjekts vom Standpunkt einer gegenwärtigen Geschichtsauffassung aus angedeutet: „Daß Frankreich selbständig bleiben, daß Gott ein Wunder thun mußte, um dies zu veranlassen: dies war nöthig, weil von Frankreich die Revolution ausgehen sollte.“ (TBR 2003 / TBW 2064) Wichtig an dieser Stelle ist jedoch vor allem die Idee des mit einem weltgeschichtlichen Auftrag ausgestatteten großen Individuums, das zum Hauptgegenstand der dramatischen Gestaltung erklärt wird. Das Drama wird dieser Auffassung nach zum Ort universalhistorischer Untersuchung, in dem die verborgende Triebkraft der Geschichte, nämlich der große Einzelne, veranschaulicht wird. Hebbels Vorstellung von der historischen Einzelpersönlichkeit als Inkarnation der Weltgeschichte stimmt mit den „welthistorischen Betrachtungen“ Jacob Burckhardts überein, der die Notwendigkeit der „historischen Größe“ mit Nachdruck unterstreicht:99 „Die Geschichte liebt es bisweilen, sich auf einmal in einem Men|| 97 Vgl. W 11, S. 195: „Doch, wir wissen es längst, daß Schillers Stärke nicht im Motiviren lag, daß seine Bildungen uns höchstens die Hauptstämme der Nerven und Adern aufgedeckt zeigen, daß die so wichtigen Capillar-Gefäße aber immer unsichtbar bleiben […].“ 98 Vgl. Schillers Brief an Heribert von Dalberg, datiert 7. Juni 1784. Zitiert nach FA 3, S. 1075. 99 Jakob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Mit einer Einleitung und textkritischem Anhang von Rudolf Stadelmann. Neske. o.J. Vgl. insbesondere Kap. V: „Das Individuum und das Allgemeine (Die historische Größe)“, S. 253–299. Dieses Werk,

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schen zu verdichten, welchem hierauf die Welt gehorcht.“100 Die Sendung des großen Individuums, „um Dinge zu vollbringen, die nur ihm möglich, und dabei notwendig seien“,101 erläutert Burckhardt am Beispiel von keinem Geringeren als Napoleon, dem „Weltgeist zu Pferde“. Das große Individuum wird zum Agenten der Weltgeschichte stilisiert, dessen Bestimmung Burckhardt zufolge darin bestehe, einen „Willen“ zu vollziehen, „der über das Individuelle hinausgeht, und der je nach dem Ausgangspunkt als Wille Gottes, als Wille einer Nation oder Gesamtheit, als Wille eines Zeitalters bezeichnet wird.“102 Neben dem der weltgeschichtlichen Konstruktion widersprechenden Tod des Karlos gerät auch die Figur des Marquis Posa in die Kritik. Hebbel erscheint es nicht plausibel, dass der Marquis seinen ganzen Plan dem Karlos verborgen hält.103 Die Unfähigkeit zu vertrauen und die unermessliche Selbstüberschätzung werden aber schon von Schiller als Fehler des Marquis Posa, die die Tragödie erst verursachen, aufgezeigt. Im elften seiner „Briefe über Don Karlos“ schreibt Schiller: „Geräuschlos, ohne Gehülfen, in stiller Größe zu wirken, ist des Marquis Schwärmerei. Still, wie die Vorsicht für einen Schlafenden sorgt, will er seines Freundes Schicksal auflösen, er will ihn retten, wie ein Gott – und eben dadurch richtet er ihn zu Grunde.“ (FA 3, S. 464) In dieser Hinsicht fällt trifft Hebbels Schiller-Kritik mit Schillers Selbstkritik zusammen. Erst vor dem Hintergrund seiner Lektüre des Don Karlos wird Hebbels Konzeption von einem Napoleon-Drama begreiflich. Zunächst müsse die Motivierung eine historische sein,104 und dann müsse dieser Held der Tragödie heroisierend als weltgeschichtlicher Heiland profiliert werden: „Napoleon könnte allerdings der Held || zwar postum veröffentlicht, gibt Burckhardts Reflexionen über den „dämonischen Machtmenschen“ (S. 18) seit den 1860er Jahren bis zu seinem Tod wieder und kann in gewisser Hinsicht als Abbild zeitgenössischer Gedankenströmungen gelten. Friedrich Gundolf, der die „Dichter und Helden“ predigt, sieht in seinem 1907 veröffentlichten Aufsatz über Jakob Burckhardt gerade darin dessen Aktualität für das beginnende 20. Jahrhundert. Gundolf zufolge habe Burckhardt die Notwendigkeit der großen Männer zu „unserem Leben“ entschieden betont und dadurch „eine dauernde Wahrheit meisterhaft formuliert und mit nachdrücklichem Pathos auch die heutige Gesinnung des geistigen Menschen“ ausgesprochen. Friedrich Gundolf: Jakob Burckhardt und seine „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“. In: ders.: Beiträge zur Literatur- und Geistesgeschichte, Hg. von Victor A. Schmitz und Fritz Martini. Heidelberg 1980, S. 58–71, hier S. 68. Vgl. ferner Friedrich Gundolf: Dichter und Helden. 2. Aufl. Heidelberg 1923. 100 Jakob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 278. 101 Jakob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 283. 102 Jakob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 292. 103 Vgl. TBR 2886 / TBW 2966: „Aber die Catastrophe im Motive, | welche die Catastrophe mit dem Marquis herbei führen! Er spielt das allergewagteste Spiel und findet nicht für nothwendig, oder auch nur für gut, dem Prinzen den leisesten Wink mitzutheilen […].“ 104 Vgl. TBR 767 / TBW 781: „Ein Drama, welches Napoleon zum Gegenstand hat, muß sich gewissermaßen Vergangenheit, Gegenwart u Zukunft zugleich zur Aufgabe setzen, muß ihn durch die Vergangenheit motiviren u die Zukunft durch ihn. Eine ungeheure Aufgabe!“

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einer echten Tragödie seyn. Der Dichter müßte ihm alle ∫die∫ großen, auf das Heil der Menschheit abzielenden Tendenzen, deren er auf Sct Helena gedachte, unterlegen […].“ (TBR 998 / TBW 1012) Anstatt eines Schauspiels in Grabbescher Manier105 ist hier von einer Tragödie die Rede. Das nötige hamartia besteht aber in der übermäßigen Selbstzuversicht, die weltgeschichtlichen Fortschritte im Alleingang verwirklichen zu wollen: Der Dichter müsse Napoleon „nur den einen Fehler begehen lassen, daß er sich die Kraft zutraut, Alles durch sich selbst, durch seine eigne Person, ohne Mitwirkung, ja Mis Mitwissen, Anderer ausführen zu können.“ (TBR 998 / TBW 1012) Abermals ist es das Unvermögens zu vertrauen, wie es bereits bei Marquis Posa der Fall war. Allerdings wird die tragische Konzeption auf einer weltpolitischen Ebene erweitert. Denn selbst wenn dies „der Fehler eines Gottes“ sei, so ist es doch hinreichend, Napoleon zu stürzen, „besonders in unserer Zeit, wo weniger der Einzelne, als die Masse, sich geltend macht […].“ (TBR 998 / TBW 1012) Die Faszination Hebbels für das „Tat-Genie“ Napoleon, der Peter Michelsen detailliert nachgegangen ist,106 erfährt im Tragödienentwurf eine Umkehrung: Die „Hypertrophierung des Individuums“107 wird überschattet von der eingreifenden „Masse“, die als eine zwingende Macht dem Individuum gegenübertritt und sich trotz des postulierten Mangels an weltgeschichtlicher Bedeutsamkeit, die allein dem historischen Großen zukommt, dennoch gegen ihre Erniedrigung wehrt. Das Napoleon-Drama wird also als eine Tragödie des herausragenden Individuums konzipiert, das gerade aufgrund seiner Überlegenheit und damit der Unintegrierbarkeit in die geltende Mitwelt untergehen muss.

7.3.2 Problematik des Großen in der Welt Die „Aporien der Größe“108 bestehen insofern zum einen in der kategorischen Antithese des heroischen Einzelnen und der ihm unterlegenen Welt, die ihm nur als brauchbares Werkzeug zur Erreichung eines welthistorischen Zwecks dient;109 zum || 105 Vgl. hierzu Hebbels Kritik an Grabbes Napoleon oder die hundert Tage in TBR 766 / TBW 780: „Grabbes Napoleon: Es ist, als ob ein Unterofficier die große Armee commandirte: man hört überall Lärm genug, aber man sieht nicht, man erfährt nur gelegentlich, daß der Lärm auch etwas bedeute.“ Hebbel kritisiert hier die Ideen- und Bedeutungslosigkeit der lose aneinander gereihten Szenen. 106 Vgl. Peter Michelsen: Friedrich Hebbels Tagebücher, S. 44f. 107 Peter Michelsen: Friedrich Hebbels Tagebücher, S. 45. 108 Vgl. Barbara Beßlich: Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800–1945. Darmstadt 2007, S. 263–269. 109 Vgl. dazu TBR 1306 / TBW 1326: „Napoleons größter Irrthum war, daß er die Menschen nur als Massen, nicht als Individualitäten, sah, und daß er auch, wenn eine Individualität sich bei ihm geltend zu machen wußte, in ihr nur die Kraft, nicht aber ihre eigenthümliche Richtung, ehrte u nutzte.“ Derselbe Gedanke wird in Hebbels Demetrius als Technik des Regierens gelobt. So etwa erklärt Mniczek: „Mein Zar, kein Ding auf Erden ist so schlecht, / Daß es nicht irgendwo unschätz-

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anderen aber auch darin, dass das große Individuum letztendlich von der Masse überrollt, ja verschlungen wird. Nicht allein dem Unverständnis seiner Mitwelt, sondern vor allem ihrem „Selbst-Erhaltungs-Trieb“ fällt der Heros zum Opfer: Ob man, wenn man zu Napoleons Zeit gelebt hätte, ihn richtig gewürdigt haben würde? Ich zweifle. Großen Erscheinungen gegenüber regt sich zunächst immer der Selbst-ErhaltungsTrieb, die kleine, die von ihr verschlungen zu werden in Gefahr steht, muß ihr widerstreben, wenn sie auch, sobald sie wirklich verschlungen ist, die Nothwendigkeit und den Nutzen davon erkennt. (TBR 2885 / TBW 2965)

Deshalb sei eine Würdigung Napoleons zu seinen Lebzeiten gar nicht möglich. Denn die Tragik des welthistorischen Individuums liegt gerade darin, dass die individuelle Größe notwendigerweise am Gemeinen zerbricht. Der in seinen ästhetischen Schriften programmatisch angekündigte Gegensatz zwischen dem Individuum und dem „Ganzen“, dessen Teil Ersteres „trotz seiner unbegreiflichen Freiheit“ dennoch bleibt (W 11, S. 3), muss dem Verständnis des Tragischen am Beispiel der NapoleonGestalt entsprechend in der Auslöschung des Außerordentlichen münden. Durchaus in diesem Sinne notiert Hebbel in seinem Tagebuch: Die Versöhnung im Tragischen geschieht im Interesse der Gesammtheit, nicht in dem des Einzelnen, des Helden […]. Das Leben ist der große Strom, die Individualitäten darin sind Tropfen, die tragischen aber Eisstücke, die wieder zerschmolzen werden müssen u sich, damit dies möglich sey, an einander abreißen u zerstoßen. (TBR 2588 / TBW 2664)

Letzten Endes bleibt nichts anderes, als die Notwendigkeit des Fortbestands der prosaischen Welt selbst um den Preis des tragischen Untergangs eines großen Individuums. Gleich zum zweiten Mal schreibt Hebbel 1843 in sein Diarium: „Es giebt nur Eine Nothwendigkeit, die, daß die Welt besteht; wie es den Individuen aber in der Welt ergeht, ist gleichgültig.“ (TBR 2750 / TBW 2828) Angedeutet wird diese Problematik schon in Hebbels erstem Drama Judith. Dem Jubel des Volks, dessen „Schlächter-Mut“ (V; W 1, S. 80) Judiths Ekel erregt,110 setzt diese die Trauer um Holofernes entgegen: „Ja, ich habe den ersten und letzten Mann der Erde getödtet, damit Du (zu dem Einen) in Frieden Deine Schaafe weiden, Du (zu einem Zweiten) Deinen Kohl pflanzen und Du (zu einem Dritten) Dein Handwerk treiben und Kinder, die Dir gleichen, zeugen kannst!“ (V; W 1, S. 79) Der Sieg über das Holofernessche Heer dient nur dem Zweck des Selbsterhalts der Ebräer, deren Mangel an heroischer Größe einst die Tat Judiths provoziert hat. Während die Tö|| bar wäre […]. / Dein Amt ist nun, die Stelle zu ermitteln, / Wo jedes einzig ist und einzig nützt […].“ II/ 4; W 6, S. 53. 110 In einer Buchbesprechung aus dem Jahre 1840 – zur gleichen Zeit als Judith – äußert sich Hebbel schon kritisch über die Masse: „Ich will der Menschheit ihre Progression nicht absprechen […] Aber so viel ist ausgemacht, daß die Menschen sich bis jetzt in Masse noch immer miserabel bei der Parade ausnehmen.“ W 10, S. 406.

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tung des Holofernes zugleich die Beseitigung einer Existenzbedrohung bedeutet und die vorgegebene Feindschaft jenes Spannungsverhältnis zwischen dem großen Individuum und der Masse relativiert, wiederholt sich die gleiche kritische Konstellation noch einmal in Die Nibelungen. Es handelt sich um Dietrichs Erzählung von Siegfrieds mythischer Geburt,111 die in einer Sternenstunde des Millenniums geschieht, um die Weltgeschichte wieder in Bewegung zu setzen und die brüchige Welt dadurch zu erneuern. Jedoch widersetzt sich die Mitwelt dem mythisch vorgesehenen Heiland: Es ist, als ob die Welt, In ihrem tieffsten Grunde aufgewühlt, Die Form verändert. Das Vergangene Ringt aus dem Grabe, und das Künftige Drängt zur Geburt, das Gegenwärt’ge aber Setzt sich zur Wehre. (W 13, S. 373)

Den Widerstand leistet die Gegenwart dadurch, dass sie die Vermählung des Riesenpaars, aus der ein das Jetzige ersetzendes Geschlecht der „Wunder-Kinder“ (W 13, S. 374) hätte entspringen können, sabotiert: Wenn diese Beiden sich Vermählen, kommt ein anderes Geschlecht Und droht der Menschheit mit dem Untergang. Dann aber regt auch die sich, wie noch nie, Und eine zweite Braut, mit jedem Reiz Geschmückt, den je ein Weib besessen hat, Tritt mit der ersten in den Kampf. Wenn sie Den Sieg behält, so ist die Welt gerettet Und rollt auf’s Neue Tausend Jahre fort, Doch sind die Drei dem Tode auch geweiht Und immer kleiner wird das ird’sche Maaß. (W 13, S. 374)

Vor dem Hintergrund dieses mythischen Zusammenhangs ist die Vermählung von Siegfried und Kriemhild als der Versuch der Welt zu sehen, die Verbindung zwischen Siegfried und Brunhild zu unterminieren, um dem vorbestimmten Untergang zu trotzen und die eigene Daseinsfrist zu verlängern. Nicht nur wird allen dreien ein

|| 111 Vgl. W 13, S. 371–374. Hebbel streicht sie allerdings aus dem Nibelungen-Manuskript. Diese Szene erfährt noch zu wenig Aufmerksamkeit der Forschung. Bisher ist nur Hartmut Reinhardt auf sie eingegangen. Vgl. Hartmut Reinhardt: Der verschlossene Brunnen. Über den Mythos vom Riesenpaar in Hebbels „Nibelungen“-Trilogie und seine Sekretierung. In: Hebbel-Jahrbuch (63) 2008, S. 85–102. Reinhardts Fokus liegt allerdings eher auf dem Spannungsverhältnis zwischen dem Mythos und der psychologisierenden Dichtung. Übrigens diene diese Episode Reinhardt zufolge der Entlastung Hagens (S. 88). Jedoch stellt sie dadurch die Handlungsfreiheit des Menschen wieder in Frage.

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tragischer Tod prophezeit, vielmehr wird mit ihrem Tod auch die erst einzuleitende Zukunftsperspektive eines Neubeginns zugunsten der Fortdauer der Gegenwart bereits im Keim erstickt. Die Oberhand behält gegenüber dem „Riesenkind“ (W 13, S. 374) die zusammengeschrumpfte Welt, denn „immer kleiner wird das ird’sche Maaß“. Es zeichnet sich in der sagenhaften Erzählung von Siegfrieds Herkunft also jene Tragik des großen Individuums ab, die, wie Hebbels Entwürfe einer NapoleonTragödie verdeutlichen, in der Notwendigkeit des Untergangs des Helden liegt, der sich ungeachtet, ja gerade aufgrund all seiner Vorzüge gegenüber der banalen Existenz der Gesamtheit ihr dennoch beugen muss. Dass diese Konzeption einer tragischen Napoleon-Gestalt mit Hebbels SchillerLektüre zusammenhängt, wurde bereits angesprochen. Der Kuriosität halber sei hier noch angemerkt, dass diese Episode zur Geburt Siegfrieds ausgerechnet am hundertsten Geburtstag Schillers gedichtet wurde. Am 10. November 1859 notiert Hebbel in seinem Tagebuch: „Schillers hundertjähriger Geburtstag. Ich habe eine HauptScene am 2ten Theil der Nibelungen geschrieben, Siegfrieds Geburt behandelnd. Der letzte und tiefste Brunnen hat gesprungen.“ (TBR 5620 / TB 5765) Mit dieser Szene wird auch die „letzte und tiefste“ Tragizität entworfen, die dann in seinem letzten Stück Demetrius zur Entfaltung kommen wird. Es ist, wie Ernst Osterkamp mit Recht konstatiert, jenes „Grundthema“ des Hebbelschen Werks: „die Auslöschung des großen Individuums durch die nivellierenden Kräfte der Geschichte.“112

7.4 Unmöglichkeit des Subjekts: Hebbel mit Schiller 7.4.1 Das tragische Rechtsbewusstsein Strebt Hebbel mit seiner eigenständigen Demetrius-Bearbeitung danach, jenen „großen dramatischen Grundgedanken“ Schillers zu adaptieren,113 so besteht die konzeptionelle Aneignung zunächst in der Entscheidung, Schiller gleich den russischen Zarewitsch als einen „betrogenen Betrüger“ zu gestalten, der zumindest bis zu seiner Entlarvung unwissentlich Schuld auf sich lädt. Anders als Schiller macht Hebbel seinen Demetrius jedoch zum leiblichen Sohn Iwans des Schrecklichen, um dadurch genetisch-genealogisch das Charisma des Demetrius zu beglaubigen. Es seien die gleichen Züge, die gleiche Stimme und de gleiche finstere, zornige Blick, anhand derer Marfa ihren verstorbenen Gatten in Demetrius wiedererkennt und ihn mit ihrer Umarmung anerkannt (II/8; W 6, S. 63). Die charismatische Ausstrahlung des Demetrius, die in Hebbels Vorspiel den polnischen Edelleuten noch ein Dorn im

|| 112 Ernst Osterkamp: Von Demetrius zu Dimitrij, S. 98. 113 B 1955, an Adolf Stern, datiert 31. Oktober 1858. WAB 3, S. 700.

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Auge war (Vorspiel 1; W 6, S. 6), vermag nun die Mitmenschen in seinen Bann zu ziehen: „Doch reißt er alles / Unwiderstehlich hin.“ (II/1; W 6, S. 52)114 Dennoch weicht der Hebbelsche Demetrius an einem bedeutsamen Punkt von Max Webers Bestimmung der charismatischen Führung ab. Eines der Kennzeichnen einer charismatischen Herrschaft sei Weber zufolge ihre spezifische Irrationalität „im Sinne der Regelfremdheit“.115 Es gelte nicht die formale, sondern die willkürliche Rechtsprechung, da das genuine Charisma seiner revolutionären Natur gemäß keine Überlieferung vorbehaltslos respektiere, sondern „neue Gebote“ mit dem charakteristischen Satz „es steht geschrieben, – ich aber sage euch“ verkünde und schaffe. Die Rechtsschöpfungen innerhalb der charismatischen Herrschaft seien höchst situativ, „von Fall zu Fall“, allein „kraft konkretem Gestaltungswillen“ legitimiert.116 Im absoluten Gegensatz zu diesem beschriebenen Modell des Charismas steht allerdings das rigorose Rechtsbewusstsein des Hebbelschen Demetrius, der nur sein Recht „behaupten oder fallen“ will (Vorspiel 14; W 6, S. 28). Exemplarisch zeichnet sich dies bereits in seiner Zurückweisung von Schuiskois Bitte an, die Leibeigenschaft und das Verbot standesübergreifender Ehe aufzuheben. Dem Prinzip einer überpersönlichen Rechtstaatlichkeit folgend, sollen beide Angelegenheiten „im Staatsrat erst erwogen sein“ (II/9; W 6, S. 67). Und selbst wenn Demetrius gerne bereit sei, durch Ausübung seiner Zarenmacht das uneheliche Kind von dem Sohn Schuiskois’ zu retten, solle dies geschehen, „ohne das Gesetz zu streichen“ (II/9; W 6, S. 68). Er erklärt den Respekt vor dem Gesetz gar zu seiner Handlungsmaxime: „Doch wird gescheh’n, was recht und billig ist.“ (II/ 9; W 6, S. 67) Deshalb will Demetrius sich der Gerichtsbarkeit überantworten, sobald die Illegitimität seiner Herrschaftsansprüche mit der Enthüllung seiner eigenen Herkunft zu Tage getreten ist: „Ich stelle mich sogleich vor ihr [= der Bojaren, M. M.] Gericht.“ (IV/10. W 6, S. 125) Dem evozierten Bild einer charismatischen Größe gegenüber, die „im Kometen-Glanz“ mit „rotem Siegeswert“ die Welt überwältigt, zeigt sich Demetrius zwar keineswegs unempfänglich, doch das Bild des Eroberers passe nicht zu seinem enormen Rechtsbewusstsein: Paßt dieses Bild auf mich? Ritt ich den Blitz? Ich ritt ein Manifest, Ich sprach mein Erbtheil an, und mit dem Recht Erlischt der Anspruch. (IV/10; W 6, S. 127)

|| 114 Auf das Charisma als eine der Kernproblematiken des Hebbelschen Demetrius weist auch Joachim Müller hin. Vgl. Joachim Müller: Bemerkungen zur Kernproblematik und dramatischen Dialektik von Hebbels „Demetrius“. In: Hebbel-Jahrbuch (17) 1962, S. 114–142. 115 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 141. 116 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 141.

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Bis zum letzten Punkt hält Demetrius an der Notwendigkeit einer legitimen Abstammung fest. Seine edle Geburt gebe ihm nicht allein die Möglichkeit uneingeschränkter Machtausübung, sondern vor allem das „Recht, zu sein, wie ich nun einmal bin“ (Vorspiel 13; W 6, S. 27). Sein unerschütterliches Rechtsbewusstsein und sein Bestreben, der eigenen Existenz einen legitimen Grund zu gewährleisten, bedingen letztlich seinen Untergang. Aus dieser „Ausprägung der Rechtlichkeit, die sich nicht beflecken will“,117 ist jedoch nicht auf ein „Geltungsdefizit“118 des Demetrius zu schließen. Die Bereitschaft, seiner Machtposition nach der Aufdeckung des Betrugs sofort zu entsagen, ist nicht als das Zusammenspiel von „innere[m] und äußere[m] Versagen“ auszulegen.119 Demetrius fehlt keineswegs die „individuelle Souveränität“,120 die er schließlich durch sein hartnäckiges Festhalten an formaler Regelkonformität hinlänglich bewiesen hat.121 Wollte man dennoch die Tragizität des Demetrius auf seinen „Mangel an Gestaltungskraft“122 zurückführen, so ist dem entgegenzusetzen, dass die Entfaltung und der Einsatz ebendieser Kraft ein verbrecherisches Handeln und die Usurpation zu Folge hätte: Ich seh’ es ein, Daß ich die Czaren-Maske weiter tragen Und Frieden und Gewissen opfern muß, Wenn ich euch retten will, und bin bereit. (IV/12; W 6, S. 129)

Es ist dieser unausweichliche Konflikt zwischen der notwendigen politischen Skrupellosigkeit um des Selbsterhalts willen und dem unabdingbaren Rechtsbewusstsein, der das tragische Schicksal des Demetrius bestimmt. Übrig bleibt allein die resignativ-zynische Einsicht, dass Gebote und Gesetze der pragmatischen Politik zum Opfer fallen müssen. So sagt Mniczek zu Demetrius: „Denkst Du die Deinen durch die zehn Gebote / Zu zügeln? Hoff’s es nicht! Du hoffst umsonst.“ (IV/1; W 6, S. 100)

|| 117 Vgl. Hartmut Reinhardt: Apologie der Tragödie, S. 415. 118 Monika Ritzer: „Mit Schillers Ziel ohne Schillers Weg“: Hebbels Demetrius. In: Hebbel-Jahrbuch (61) 2006, S. 93–110, hier S. 106. 119 Monika Ritzer: Vom klassischen Erbe zum historischen Bild. Hebbels Version des Demetrius. In: Mirjam Springer (Hg.): Der dreifache Demetrius. Schiller – Hebbel – Braun. Marbach am Neckar 2005, S. 17–32, hier S. 30. 120 Monika Ritzer: „Mit Schillers Ziel ohne Schillers Weg“, S. 105. 121 Allerdings sieht Herbert Kraft in Demetrius’ Weigerung, das Gesetz zur Bauernbefreiung sofort zu erlassen, dessen politische „Schwäche“. Vgl. Herbert Kraft: Poesie der Idee, S. 274. 122 Vgl. Monika Ritzer: „Mit Schillers Ziel ohne Schillers Weg“, S. 107.

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7.4.2 Heteronomie und Kirchenintrige Hebbels Demetrius scheitert jedoch nicht allein an dem unrealistischen Anspruch, in seinem politischen Handeln stets dem Gesetz zu folgen, sondern auch an fehlenden Möglichkeiten zur Selbstbestimmung. Eine weitere Übereinstimmung mit der Schillerschen Vorlage besteht nämlich darin, dass beide Dramatiker in der Gestaltung ihrer Titelfigur entschieden die Heteronomie des Subjekts akzentuiert haben. Während Schiller wie oben hervorgehoben um des Effekts willen die Illusion der Autonomie zunächst aufrechterhält, so arbeitet Hebbel schon von Anfang an dezidiert daran, die Selbstbestimmung des Individuums desillusionierend als Täuschung dem Publikum vor Augen zu führen. Der Hebbelsche Demetrius ist das Produkt einer Jesuitenintrige. Während die geheimen Machenschaften des Jesuitenordens bei Schiller nur in den Entwürfen angedeutet sind, lässt Hebbel den Mönch Gregory selbst offen bekennen, dass er Jesuit sei (IV/6; W 6, S. 114). Die Intrige zielt auf einen Zusammenschluss der römisch-katholischen und der russisch-orthodoxen Kirche ab, wozu Demetrius auserkoren wird: „Du bist ersehn, den Kirchenspalt zu schließen, / Der Abendland und Morgenland zerreißt, / Und mit dem Untergang die Welt bedroht.“ (IV/6; W 6, S. 114) Das Gerücht um die Existenz des vermeintlich ermordeten Zarewitsch sind in Wirklichkeit „klug und listig“ ausgedachte Worte (Vorspiel, 9; W 6, S. 21; III/5; W 6, S. 112), die jedes Wahrheitsgehalts entbehren. Dass der Prätendent in diesem Komplott lediglich ein austauschbares Werkzeug darstellt, ist daran zu erkennen, dass noch ein drittes Kind im Falle eines Fehlschlags während des Kindertauschs als Ersatz bereitsteht.123 Demetrius ist nichts mehr als ein beliebig manipuliertes Objekt der intriganten Kirchenoberer. Ganz in diesem Sinne sprich Gregory zum KardinalLegaten: „Er ist in Deiner Hand. Du kannst ihn heben / Und stürzen, wie Du willst.“ (Vorspiel 10; W 6, S. 23) Dieser erwidert, nachdem er seinen Plan für das „heilige Werk“ des Kirchenzusammenschlusses umrissen hat, nicht ohne Selbstgefälligkeit: „Wird er nicht Wachs in meinen Händen sein?“ (Vorspiel 10; W 6, S. 24) Dass Schiller eine Szene zwischen Grischka/Demetrius und einem Jesuiten, „der ihn katholisch machen will“ (FA 10, S. 386), geplant hatte, könnte Hebbel aus Hoffmeisters Nachlese entnommen haben.124 Er kennt und schätzt auch Schillers Geisterseher.125 Allerdings zeugt es von Hebbels ästhetischer Radikalität, dass er die bei Schiller nur im Hintergrund behandelte Kirchenintrige dramatisch mit aller || 123 Vgl. Barbaras Bekenntnis: „Ja, für alle Fälle / War noch ein dritter Knabe da.“ IV/10; W 6, S. 123. 124 Vgl. Karl Hoffmeister (Hg.): Nachlese zu Schillers Werken nebst Variantensammlung, Bd. 3, S. 316. 125 Vgl. TBR 188 / TBW 185, ferner TBR 3414 / TBW 3500: „Dieser Roman ist eine gewaltige Composition und, obgleich nicht vollständig ausgeführt im Detail, doch im Großen und Ganzen vollständig beisammen, wie mancher andere Torso, der eben nur für das ungeweihte Auge | Torso ist.“

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Deutlichkeit darstellt. Während in seinen früheren Dramen, etwa in Herodes und Mariamne oder Die Nibelungen, das Christentum noch als erlösende Umrahmung des tragischen Geschehens implementiert werden konnte, 126 tritt die römischkatholische Kirche in Demetrius ausschließlich als Verschwörungsorgan auf. Und dies tut Hebbel in einer Zeit, in der, wie er Anfang 1863 brieflich seinem Freund Klaus Groth mitteilt, „auf dem K. K. Hofburg-Theater zu Wien kaum der Kapuziner in Wallensteins Lager, nicht aber der Pater Domingo im Don Carlos auftreten darf, woraus wohl von selbst folgt, daß die Erscheinung des Papstes unmöglich ist.“127 Auf die Zensurbedingungen nimmt er jedoch keine Rücksicht. Auffällig ist, dass Hebbel in seinen Zeilen lauter zwielichtige Geistliche aus Schillers Werken anführt, als ob er sich in Bezug auf seine ästhetische Radikalität auf Schiller berufen wollte, der doch in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung die Verachtung der Urteile der Zeit lehrt und die Künstler auffordert, ihr Werk „schweigend in die unendliche Zeit“ zu werfen (FA 8, S. 585). Dass Hebbel mit dieser Forderung vertraut ist und sie ferner in „Mein Wort über das Drama!“ fast wörtlich zitiert hat (W 11, S. 17), darauf ist bereits hingewiesen worden (s. auch Kap. 4.3.4). Angesichts der dauerhaften Manipulation durch die Instrumentalisierung des Demetrius wirkt es wie eine bittere, tragische Ironie, dass dieser das Ersuchen der Kirche, den Katholizismus als Staatsreligion zu etablieren, mit dem Argument der Glaubensfreiheit zurückweist. Die Kalkulation des Kardinal-Legaten beruht auf das Prinzip des cuius regio, eius religio, das 1555 im Augsburger Religionsfrieden festgelegt wurde: „In Deutschland selbst ist man der Völker sicher, / Wenn man den Fürsten hat, denn diese müssen / Ihm in den Himmel, wie zur Hölle, folgen, / Und ob er dreimal wechselt mit dem Weg.“ (Vorspiel, 10; W 6, S. 24)128 Demetrius aber besteht auf der Selbstbestimmung jedes Einzelnen in der Glaubensfrage und verbietet sich jeden Versuch, dem Volk eine Glaubensrichtung vorzuschreiben: „Nein, nein, mein Volk soll beten, wie es will!“ (IV/7; W 6, S. 116) Ausgerechnet derjenige, der als bloßes Instrument geistlicher Konspiration nicht einmal über seinen eigenen Glauben entscheiden darf,129 verteidigt das Recht der konfessionellen Selbstbestimmung. Dadurch steigert die Tragizität der Demetrius-Gestalt, die aus der Unmöglichkeit individueller Autonomie resultiert.

|| 126 Vgl. der Auftritt der heiligen drei Könige in Hebbel Herodes und Mariamne (V/8; W 2, S. 354ff.) sowie das letzte Wort seiner Nibelungen: „Im Namen dessen, der am Kreuz erblich!“ Die Nibelungen. Dritte Abtheilung. Kriemhilds Rache. V/14, W 4, S. 337. 127 B 2640, an Klaus Groth, datiert 3. Januar 1863. WAB 4, S. 560. 128 Vgl. ferner Hebbels Demetrius, IV/6; W 6, S. 115: „In Deutschland selbst bestimmt der Fürst den Glauben [.]“ 129 Zur Konfessionsmanipulation über Demetrius vgl. Vorspiel 10; W 6, S. 23: „[E]r ist bis diesen Tag / Noch ungetauft und braucht die Ketzerei / Nicht abzuschwören, die ihn nie befleckt.“

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7.4.3 Ökonomie und Opportunismus Der Hebbelsche Demetrius ist jedoch nicht allein einer von Jesuiten geleiteten Intrige, sondern auch interessenoritierter Machtpolitik schonungslos ausgeliefert. Hinter dem „heiligen Werk“ der Kirchenzusammenschluss steckt die Besessenheit des Kardinal-Legaten, den Stuhl Petri für sich zu behaupten (Vorspiel 10; W 6, S. 24). Schuiskoi, der „nächste Erbe“ der Zarenkrone (IV, 2. W 6, S. 110), sinnt nach der abgeschlagenen Bitte um das Heiratsrecht nach Rache, Verrat und Machtergreifung: „Und wer darf / Mich tadeln, daß ich den Betrüger wieder / Verlasse, wenn man ihn entlarvt, und mich / An seine Stelle setze, um den Stuhl / Einstweilen warm zu halten?“ (II/13; W 6, S. 70) Ihm ist Demetrius lediglich ein dienstbares Mittel zur Erlangung der Herrschewürde: „Du bist der Stein in Boris Weg, / Bricht er den Hals, so kommt es Dem zustatten / Der Dich als Schemel zu gebrauchen weiß.“ (II/13; W 6, S. 71) Überhaupt ist es eine Zeit der Emporkömmlinge: Boris hat sich „vom Stall heraus / Den Weg zum Czaren-Thron“ gebahnt (II/9; W 6, S. 68), der Kardinal-Legat war auch einst nur ein „armes Bauernkind“ (Vorspiel 10; W 6, S. 24). Von diesem Zeitgeist des politischen Aufstiegs hebt sich Demetrius’ Insistieren auf erbrechtliche Legitimität und rechtmäßiges Regieren entschieden ab. Mehr noch: Sein Beharren auf bestehendes Recht, und zwar unabhängig von konkreten machtpolitischen Konstellationen, bleibt konsequent. Dadurch wird Hebbels Demetrius zu einem unbeweglichen Charakter, dessen Überzeugung verfestigt ist und der nun „wie ein Erz, durch die Verhältnisse erprobt wird.“ (TBR 117 / TBW 114) Demetrius erscheint als eine „gehaltene“, zu jeder situationsbedingten Anpassung unfähige Gestalt, als ebenjene Figurenschöpfung also, die Hebbel in seinen Jugendjahren just bei Schiller kritisiert hatte. Zum Ende seiner künstlerischen Entwicklung neigt sich Hebbel nun doch diejenigen Merkmalen, die er einst als Symptom von Schillers unzulänglichem Gestaltungsvermögen sah, zu. Das Schaffen und Gestalten eines unbeweglichen Charakters dient aber der Veranschaulichung der ihn umgebenden Welt. Im deutlichen Gegensatz zum unbeirrbaren Rechtsbewusstsein des Demetrius stehen der Opportunismus und die Profitorientierung des Wirtschaftsdenkens seiner Zeit. Im Schillerschen DemetriusFragment spielt bereits jener englische Handelsschiff, der die Nachricht über die „Auferstehung“ des Demetrius zu Marfa überbrachte,130 auf den Welthandel als Medium des „Waren- und Nachrichtenverkehrs“131 und damit als Quelle der Öffentlichkeit an. Darauf folgt der zentnerschwere Satz: „Was doch der Mensch nicht wagt für den Gewinn!“ (FA 10, S. 572) Am Beispiel des Hebbelschen Mniczek ist zu sehen, dass man um des „Gewinns“ willen tatsächlich alles wagt: „Das aber ist gewiß:

|| 130 Vgl. FA 10, S. 572: „Es ist ein engelländisch Handelsschiff / Den neuen Weg hat es zu uns gefunden.“ 131 Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 70ff.

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mein letzter Pfenning / Zog jetzt mit mir zu Feld und blinkt als Nagel / An irgend eines Reiterpferdes Huf.“ (II/8; W 6, S. 64) Auf Mniczeks Logik des Geldes, die über die Tragik entscheidet, hat Reinhardt mit Recht aufmerksam gemacht.132 Überhaupt ist Mniczek auf seinen eigenen ökonomischen Vorteil bedacht: Er versteht sich als Investor und seine Tochter als „Pfand“ (IV/2; W 6, S. 103). Die einmal vorgetäuschte Parole, für die „Rechte“ des Demetrius kämpfen zu wollen,133 weicht dem Vokabular einer geschäftsmäßigen Spekulation, die im zwischenmenschlichen Verhältnis allein die „große Wechsel-Rechnung“ sieht (IV/10; W 6, S. 126). Das Gesetz der gegenseitigen Verpflichtung134 ist Mniczek zufolge nichts anderes als die Notwendigkeit des Zahlungsausgleichs nach dem Motto von Leistung und Gegenleistung. Insofern muss Demetrius’ unabänderliches Festhalten am Recht zwangsläufig bei seinem Finanzmäzen, für den die Rechtsprinzipien nur relativ sind, auf Unverständnis stoßen. Darüber hinaus wird die gesamte Welt des Hebbelschen Demetrius derart von einer historischen Kontingenz dominiert, dass keine eindeutige Position mehr erkennbar ist. Der polnische Adlige Poniatowsky, zunächst Parteigänger von Marinas Bräutigam Odowalsky, wird nach dessen Totschlag und der Verkündung der Zarengeburt Demetrius’ der Erste sein, der dem neu entdeckten Zarewitsch Vivat zuruft (Vorspiel 14; W 6, S. 28). Am vollkommensten jedoch wird der Geist des Opportunismus durch den Kosakenhetman Otrepiep verkörpert, der der eigentliche Königsmacher ist: Er verbreitet Gerüchte um das Überleben des Zarewitschs, bahnt als „Schutzgeist“ des Demetrius diesem den Weg zum Zarenthron (IV/ 5; W 6, S. 112), stellt sich jedoch, nachdem er von Demetrius abgewiesen worden ist, aus Groll in den Dienst Schuiskois.135 Vor allem verdreht er je nach Bedarf die Wahrheit. In der Schlacht siegt Demetrius’ Heer über die Truppe Schuiskois.136 Um aber Demetrius zu diskreditieren und Schuiskoi in ein günstigeres Licht beim Volk zu setzen, ersinnt Otrepiep eine alternative Fassung des Kriegsverlaufs: Schuiskoi hätte Demetrius geschlagen und „ging doch / Mit seinem ganzen Heer zu ihm hinüber –“ (III/4; W 6, S. 80) Der Ausgang der Schlacht wird verkehrt, und zwar so, als ob Otrepiep von Schillers Solticov gewusst hätte: „Die Borissovische Armee siegt gewißermaaßen wider ihren Willen […] Solticov erklärt sich für ihn [= Demetrius, M. M.], rein aus

|| 132 Hartmut Reinhardt: Der Rest ist Resignation, S. 54f. Reinhardt sieht aus diesem Grund in Hebbels Demetrius einen „Realismus“ wider Willen, vgl. S. 58. 133 Beispielsweise versichert Mniczeks Marfa, dass die Menschen „unwiderstehlich“ angetrieben seien, „sich zu vereinen, / Um Deines Sohnes Rechte durch zu fechten.“ II/8; W 6, S. 64. 134 Vgl. die berühmten Worte Mniczeks „Der Himmel selbst ruht auf gespaltnen Kräften, / Die ganze Welt auf Stoß und Gegenstoß: / Denkst Du, der Mensch ist davon ausgenommen? / Pflicht gegen Pflicht, das ist auch sein Gesetz!“ IV/10; W 6, S. 126. 135 Vgl. Otrepiep: „Der rechte Weg ist der, den Schuiskoi geht.“ III/ 4; W 6, S. 81. 136 Vgl. Schuiskois schmeichelhafte Worte: „Mein Fürst, Du hast den Sieg davon getragen […].“ II/9; W 6, S. 66.

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Gewißenspflicht […].“ (FA 10, S. 440; Hervorhebung im Original) Aber selbst beim Fürsten Schuiskoi gegenüber offenbart Otrepiep sein opportunistisches Lügentalent: Als Schuiskoi vor der Mariensäule kniet, meint Otrepiep die Frau kopfschüttelnd gesehen zu haben, was er zunächst als ein „böses Zeichen“ gegen jenen wissen will, kehrt jedoch seine Verleumdung sofort in Heilrufe um, das Kopfschütteln der Jungfrau nun als Beweis für die Unersetzbarkeit von Schuiskoi deutend (V/8; W 6, S. 136f.). Nicht nur Demetrius, sondern auch die objektive Wahrheit ist wie Wachs der Verfälschung und willkürlichen Manipulation schutzlos preisgegeben. Wenn man in der Komposition des Hebbelschen Demetrius-Fragments „die gewohnte sichere Hand“ des Dichters vermisst,137 so ist dies keineswegs ein Signal für dessen Minderwertigkeit, sondern ein Indiz für die Komplexität der Bedingungen politischen Handelns, die hier problematisiert werden. In keinem anderen Stück Hebbels sei, wie Monika Ritzer zu Recht konstatiert, „ein solch anarchisches Chaos aus Leidenschaft und Interesse“ erkennbar, das Geschehen „derart perspektivlos“.138 Diese Perspektivlosigkeit der Geschichte ist nicht allein dem Fehlen einer, die geschichtliche Kontingenz bewältigenden, Erlösungsfigur wie Romanow geschuldet. Vielmehr sind es der grundsätzliche Utilitarismus und Opportunismus sowie die Unverzichtbarkeit eines Otrepiep im politischen Geschäft, die das von Demetrius vertretene Ideal der moralischen Integrität im politischen Handeln als Illusion untergraben. Sowenig wie Fiesko des Mohren Muley Hassan, sowenig kann Demetrius des Kosaken Otrepiep entbehren. Wieder ist es Mniczek, der die Lehre des politischen Pragmatismus jenseits von Gut und Böse ausspricht: Otrepiep sei „ein Lügner, Späher und Verräther, / Dem Judas selbst noch schaamrot weichen muß. / Und das ist, was Du brauchst, wie’s liebe Brot.“ (IV/1; W 6, S. 101)

7.5 Karneval und Schiffbruch: Weltgeschichte als erhabenes Objekt Die Einführung der Otrepiep-Gestalt verleiht dem Demetrius-Fragment Hebbels einen komischen Anstrich, der besonders im fünften Akt hervorscheint. Mit der Volksversammlung am „großen Platz“, 139 wo hunderte herumirrende Menschen einander auslachen (V/1; W 6, S. 131), mit dem Brand von Moskau und schließlich mit der Maskerade der Bojaren140 erhält das Stück gegen Ende auch karnevalistische

|| 137 Vgl. etwa Wolfgang Wittkowskis Kritik: „Hebbels so viel weiter gediehenes Fragment weist nicht entfernt den dichterischen Glanz auf, den Schiller seinen eineinhalb Akten und manchen Teilen der Entwürfe gab. Auch die Komposition läßt die gewohnte sichere Hand vermissen.“ Wolfgang Wittkowski: Demetrius. Schiller und Hebbel. In: JbDSG 3 (1959), S. 142–179; hier S. 169. 138 Monika Ritzer: Vom klassischen Erbe zum historischen Bild, S. 21. 139 Vgl. die Szenenanweisung zum V. Akt: „Kreml. (Nach. Großer Platz.)“ W 6, S. 130. 140 Vgl. die Szenenanweisung zu V/6: „Basmanow und Mstislawski (in Masken).“ W 6, S. 134.

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Züge. Einen „Carneval“ (IV/13; W 6, S. 129) nennt es auch Demetrius, als er seine wahre Herkunft erfährt hat und die „Czaren-Maske“ (IV/13; W 6, S. 129) aus Rücksicht auf seine Mitmenschen wider Willen weiterträgt. In der Tat kann die geschichtliche Welt in Demetrius als karnevalesk im Sinne Michail Bachtins bezeichnet werden. Der öffentliche Platz wird von Bachtin als Arena karnevalistischer Exzentrizität und Symbol der „Allgegenwart des Volks“, das Sinnlichkeit durch eine Lachkultur auslebte141 verstanden. Die „hervorstechendste karnevalistische Handlung“, nämlich Wahl und Sturz eines Karnevalkönigs,142 findet ihre Parallele im Aufstieg und Fall des Demetrius. Vor allem aber sind es die Ambivalenz der Identität und die Relativität der Werte im Karneval,143 die es erlauben, die Bachtinsche Theorie auf das Hebbelsche Dramenfragment anzuwenden. Wiederum ist die Schlüsselfigur Otrepiep, der als Demetrius getarnt das Gerücht um sein Überleben eingeleitet, als „altes Weib“ incognito „auf den Märkten prophezeit“ (IV/5; W 6, S. 112), der selbst im Stück die verschiedensten Rollen als Mönch oder Kosakenhauptmann durchgespielt hat. Weder eine eindeutige Identität noch eine objektive Wahrheit kann es im Hinblick auf die allgemeine Ambiguität noch geben. Der einzige Unterschied – allerdings auch einer wesentlicher – zwischen der theoretischen Synthetisierung und prätheoretischer Dichtung besteht jedoch darin, dass es sich bei Hebbels Stück weniger um eine fröhliche Parodie als vielmehr um den tragischen Ernst handelt. Es sei hier die Vermutung erlaubt, Hebbels Otrepiep dürfe als Konkretisierung jenes zweiten Demetrius’ gelten, mit dem Schiller möglicherweise seine Tragödie beschließen wollte: „Der Mensch [= der zweite Demetrius, M. M.] ist ein Cosak von verwegenem Muth, der schon vorher vorgekommen und sich zu einem kecken Abentheuer und zur Glücksritterschaft geschickt angekündigt hat.“ (FA 10, S. 461) Eine Personalunion des Pseudo-Demetrius und des entlaufenen Mönchs Grischka Otrepiew144 legen sowohl die Quellenvorlagen beider Autoren145 als auch neuere

|| 141 Vgl. Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Übers. von Alexander Kaempfe. Frankfurt a. M. 1990, hier S. 56. 142 Vgl. Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval, S. 50. 143 Vgl. Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval, S. 51: „Der Karneval „verkündet nichts, er verkündet die fröhliche Relativität eines jeden. […] Absolute Verneinung ist dem Karneval genauso fremd wie absolute Behauptung.“ Ferner S. 53: „Sehr bezeichnend für das karnevalistische Denken sind Gestaltenpaare, die nach dem Kontrastprinzip (hoch und niedrig, dich und dünn) oder nach dem Prinzip der Identität (Doppelgänger, Zwillinge) ausgewählt werden.“ 144 Der Hebbelsche Otrepiep ist ist ebenfalls ein „weggelauf’ne[r] Mönch“. II/6; W 6, S. 58. 145 Zu Schillers Konzeption der Demetrius-Grischka-Figur vgl. den Kommentar in FA 10, S. 1025: „Indem Schiller dem noch nicht entdeckten Demetrius diesen Namen [= Grischka, die Diminutivform von „Grigorei“, M. M.] gibt, übernimmt er die von Müller 5, S. 191–196 [= Gerhard Friedrich Müller: Sammlung Rußischer Geschichte, St. Petersburg 1760, Bd. 5; M. M.] vertretene Ansicht, daß Demetrius und der Mönch Grischka Otrepiew identisch seien […].“ Schiller exzerpiert in seinem Studienheft auch Müllers These der Identität: „Geschichte des Grischka Otrepiew 194 sq“ (FA 10, S. 353). Der russische Historiker Karamsin, dessen Werk über die Geschichte Russlands als Quelle

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historische Forschung146 nahe. Da beide Stücke unvollendet geblieben sind, müssen freilich etwaige Mutmaßungen über das Bühnenpersonal sowie über den endgültigen Ausgang des jeweiligen Dramas Spekulationen bleiben. Nicht unerheblich ist es allerdings, dass Schiller einen möglichen Schluss mit dem zweiten falschen Demetrius zumindest in Erwägung gezogen hat: Wenn alles hinweg ist, so kann einer von der Menge zurückbleiben, welcher das Czarische Sigel sich zu verschaffen gewußt hat oder zufällig dazu gelangt ist. Er blickt in diesem Fund ein Mittel, die Person des Demetrius zu spielen und gründet diese Hofnung noch auf manche andere Umstände […]. Dieser Monolog des 2ten Demetrius kann die Tragödie schließen indem er in eine neue Reihe von Stürmen hinein blicken läßt und gleichsam das Alte von neuem beginnt. (FA 10, S. 461)

Die Geschichte avanciert nun vollends zu einer karnevalistischen Maskerade, die kein Ende nehmen will. Ihre Endlosigkeit ist aber weniger auf die faktische Fragmentarität zurückzuführen als vielmehr auf den Zirkelschluss des Rollenspiels, das wieder von vorn anfängt. Letztendlich zeigt sich die Geschichte als „Kampf der Kräfte in ewiger Wiederkehr, der nicht mehr in eine teleologische Ausrichtung gestellt werden kann.“147 Sähe man in der wahrscheinlichen Neuauflage des Betrugs allein die Gefahr, dass die Tragödie durch das „bös-ironische Satyrspiel“ von diesem „KosakenGauner“ aufgehoben und zur „Komödie des Absurden“ abfiele,148 so verkennte man die tiefgreifende Tragik einer desillusionierten Geschichtsauffassung Schillers, die mit pessimistischem Anklang in seiner späteren Abhandlung „Über das Erhabene“ zum Ausdruck gebracht wird. Die optimistische Sichtweise der Universalgeschichte, deren innere Systematik sich kraft eines teleologischen Organisationsprin-

|| für Hebbels Demetrius dient, berichtet über die Herkunft und den Werdegang des „PseudoDemetrius“: „Ein armer Bojaren Sohn, ein Galizier, Jury Otrepjew, […] diente bei den Romanow’s und dem Fürsten Boris Tscherkassky im Hause […] Schon keimte und reifte in der Seele des Grüblers ein wunderbarer Gedanke, […] der Gedanke, daß sich ein kühner Betrüger die Leichtgläubigkeit der Russen, die sich noch immer mit Rührung des Demetrius erinnerten, zu Nutze machen, und zur Ehre der himmlischen Gerechtigkeit den Heiligenmörder strafen könne!“ Vgl. [Nicolai Michailowitsch] Karamsin: Geschichte des Russischen Reichs. Bd. 10. Leipzig 1827, S. 102f. Vgl. auch Hayo Matthiesen: Untersuchungen über die Quellen zu Friedrich Hebbels historischen Dramen, S. 227. 146 Zu neuerer Forschung vgl. Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands, S. 288: Überwiegend stimmt die Forschung mit der These überein, dass der falsche Demetrius in Wahrheit „ein entlaufener Mönch namens Griša (Grigorij) Otrep’ev gewesen“ sei. 147 Hartmut Reinhardt: Apologie der Tragödie, S. 417. 148 Vgl. Fritz Martini: Demetrius, S. 337: „Bestünde aber dann nicht die Gefahr, daß er gegenüber Boris und Demetrius zur Parodie, die Geschichte zum bös-ironischen Satyrspiel würde, was den Rang beider Hauptfiguren beschädigen, letztlich das Tragische der Tragödie aufheben müßte? Zur Tragödie als Komödie des Absurden wäre dieser Kosaken-Gauner ein Abstieg, und ein solcher ist Schiller nicht zu erwarten.“

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zips rekonstruieren149 und deren Verlauf sich als kontinuierlicher Fortschritt des menschlichen Geschlechts stilisieren lässt,150 weicht der Auffassung der Weltgeschichte als „erhabenes Objekt“ (FA 8, S. 835), angesichts dessen sich die „Harmonie zwischen dem Wohlsein und Wohlverhalten“ als reine Lüge erweisen muss (FA 8, S. 837). Entworfen ist in dieser theoretischen Schrift ein Panorama moralischer Anarchie: Es sind die geschichtlich vielfach überlieferten „pathetischen Gemälde der mit dem Schicksal [ringenden, M. M.] Menschheit, der unaufhaltsamen Flucht des Glücks, der betrogenen Sicherheit, der triumphierenden Ungerechtigkeit und der unterliegenden Unschuld“, die „die tragische Kunst nachahmend vor unsre Augen bringt.“ (FA 8, S. 838) Ein ebenso düsteres Weltbild zeichnet auch das Demetrius-Fragment. Zwar wird darin noch eine Erlösungsperspektive in Gestalt des Romanow eröffnet, doch dieser ist einstweilen ins Exil verbannt und lässt den Machtkämpfen und Ränkespielen den gesamten Handlungsraum. Es vollzieht sich sowohl in „Über das Erhabene“ als auch im Demetrius-Fragment eine Revokation des einst euphorisch ankündigten „universalhistorische[n] Konzept[s]“: „Keine Aussicht auf ein irdisches Paradies der Vernunft und des Friedens, keine dem menschlichen Glücksverlangen entgegenkommende Teleologie“ biete sich dem nüchternen Blick des Historikers noch dar, sondern nur, wie hier Wolfgang Riedel klar erkennt, das nackte Chaos.151 Der einzige Ausweg steht Schiller zufolge lediglich dem reinen Zuschauer offen, der die Unbegreiflichkeit der Geschehnisse „zum Standpunkt der Beurteilung“ macht (FA 8, S. 835). Die Bekanntschaft mit denselben dient allein der „Inokulation des unvermeidlichen Schicksals“, indem das betrachtende Subjekt kraft reflexiven Rückbezugs an die eigene Independenz erinnert wird.152 Das Vergnügen am tragischen Gegenstand entspringt nicht mehr, wie die frühere Abhandlung „Über

|| 149 Vgl. Schillers Ausführung in seiner Antrittsvorlesung „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte“: Der philosophische Geist erhebe das „Aggregat zum System, zu einem vernunftmäßigen zusammenhängenden Ganzen“, indem er „einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt, und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte“ hineinbringe. FA 6, S. 427f; Hervorhebung im Original. 150 Vgl. etwa die Stilisierung des zerstörerischen Dreißigjährigen Kriegs zu einem notwendigen Stadium im Prozess der europäischen Vereinigung: „Aber Europa ging ununterdrückt frei aus diesem fürchterlichen Krieg, in welchem es sich zum ersten Mal als eine zusammenhängende Staatengesellschaft erkannt hatte.“ (FA 7, S. 12f.) Die Geschichte der Revolution der „vereinigten Niederlande“ sei nichts Geringeres als ein „neues unverwerfliches Beispiel“ dafür, „was Menschen wagen dürfen für die gute Sache, und ausrichten mögen durch Vereinigung.“ FA 6, S. 41; Hervorhebung im Original. 151 Wolfgang Riedel: „Weltgeschichte ein erhabenes Object“. Schillers Abschied von der Geschichtsphilosophie. In: ders.: Um Schiller, S. 279–300, hier S. 292f. 152 Vgl. Mingchao Mao.: Theater als ein erhabenes Objekt. Zu Schillers erzieherischer Forderung nach der Freiheit des Zuschauers. In: Literaturstraße. Chinesisches-deutsches Jahrbuch für Sprache, Literatur und Kultur 17 (2016), S. 243–254.

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die tragische Kunst“ noch behauptet hat, der Auflösung der „Unzufriedenheit mit dem Schicksal“ in „ein deutliches Bewußtsein einer teleologischen Verknüpfung der Dinge“ (FA 8, S. 261), sondern dem Selbstbewusstsein der selbstbestimmenden Vernunft, die gerade in der „wilden Ungebundenheit der Natur ihre eigene Unabhängigkeit dargestellt findet.“ (FA 8, S. 834) Das „relativ Große“ der äußeren Welt in ästhetischer Wiedergabe wird für den Menschen zum Spiegel, „worin er das absolut Große in ihm selbst erblickt.“ (FA 8, S. 832) In diesem Sinne fungiert das Theater des erhabenen Objekts als komplementäre Ergänzung zum Programm ästhetischer Erziehung153 – ein Konzept, dessen Gültigkeit aber im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Erhabenen innerhalb der Philosophie der Romantik, insbesondere bei Schelling und Solger, mehr und mehr in Frage gestellt wird (s. Kap. 3.2.5). Dennoch bestätigt zweierlei die Idee der Selbstrettung durch den Abschied vom Geschichtsoptimismus und den Rückzug ins reine Zuschauersein: zum einen die Dominanz der Kontingenz in der historischen Realität, zum anderen die Machtlosigkeit des Individuums im Wirbel verschiedener Interessen, die die Realisierung des teleologischen Geschichtsbild des Fortschritts, aus „Sklaven“ freie „Menschen“ zu machen, verhindert. Der weltgeschichtliche Traum beider Demetrii nach Ordnung und Legitimität wird obsolet, gar lächerlich. Während der Schillersche Demetrius an seiner aufgezwungenen Rolle scheitert, verliert sich der Hebbelsche Demetrius im Strudel der Umstände: „Ich bin der Kapitain von einem Schiff, / Das scheitert; rasch in’s sich’re Boot mit Euch, / Dann zünde ich die Pulverkammer an.“ (IV/13; W 6, S. 129) Auf die ideengeschichtliche Tradition der nautischen „Daseinsmetapher“ des Schiffbruchs geht bekanntlich Hans Blumenberg in seinem einleuchtenden Essay ein.154 Es handelt es sich bei dieser „offenen Wunde der Aufklärung“ 155 zunächst um die Rechtfertigung der Tragödie als Kunstform und Quelle des Vergnügens. In seinen tragödientheoretischen Überlegungen setzt sich Schiller ebenfalls mit der Problematik der süßen Empfindung des Zuschauers eines Schiffbruchs, wie sie von Lukrez thematisiert wird,156 auseinander. Anders als Lukrez will Schiller die „Lust“ beim

|| 153 Vgl. FA 8, S. 838: „Das Schöne macht sich bloß verdient um den Menschen, das Erhabene um den reinen Dämon in ihm; und weil es einmal unsre Bestimmung ist, auch bei allen sinnlichen Schranken uns nach dem Gesetzbuch reiner Geister zu richten, so muß das Erhabene zu dem Schönen hinzukommen, um die ästhetische Erziehung zu einem vollständigen Ganzen zu machen […].“ Hervorhebung im Original. 154 Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a. M. 1997. 155 Carsten Zelle: Schiffbruch vor Zuschauer. Über einige popularphilosophische Parallelschriften zu Schillers Abhandlung über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts. In: JbDSG 34 (1990), S. 289–316, hier S. 315f. 156 Vgl. Lucretius Carus: Von der Natur der Dinge, II. Buch, v. 1: „Süß ist's, anderer Not bei tobendem Kampfe der Winde / auf hochwogigem Meer von fernem Ufer zu schauen […].“ In: ders.: Von

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Anblick einer Katastrophe nicht topographisch aus der sicheren Position des Betrachters ableiten,157 sondern aus der Selbstvergewisserung der eignen geistigen Independenz von der akuten Bedrohung, die die reflexive Distanz von der unmittelbaren Kausalität der physischen Welt auf das moralische Ich bewerkstelligt: Nicht weil wir uns durch unser gutes Geschick diesem Leiden entzogen sehen […], sondern weil wir unser moralisches Selbst der Kausalität dieses Leidens, nehmlich seinem Einfluß auf unsre Willensbestimmung entzogen fühlen, erhebt es unser Gemüt und wird pathetisch erhaben. (FA 8, 420)

Diese auf das Konzept des weltgeschichtlichen Erhabenen andeutende Argumentation Schillers übergeht Blumenberg, obwohl sich die von ihm behandelte Philosophie Schopenhauers in Bezug auf die Schiffbruchproblematik der gleichen Strategie der Transzendierung der konkreten Grenzerfahrung in die Sphäre der reinen Vorstellung bedient. Es sind die „Duplizität“ des Bewusstseins als leidendes und erkennendes Subjekt, sowie die Gleichzeitigkeit der „Selbstgefährdung und Selbststeigerung“, die sich im Moment des Wahrnehmens offenbaren: Der Zuschauer, so Schopenhauer, empfindet sich zugleich als Individuum, als hinfällige Willenserscheinung, […] ein verschwindendes Nichts ungeheuren Mächten gegenüber; und dabei nun zugleich als ewiges ruhiges Subjekt des Erkennens, welches als Bedingung des Objekts der Träger ebendieser ganzen Welt ist und der furchtbare Kampf der Natur nur seine Vorstellung, es selbst in ruhiger Auffassung der Ideen, frei und fremd allem Wollen und allen Nöten. Es ist der volle Eindruck des Erhabenen.158

Nicht unzutreffend kommentiert Blumenberg: „Der Zuschauer übersteigt sich in der Reflexion zum transzendentalen Zuschauer.“159 Dass aber Schopenhauers quietistische Auslegung der Schiffbruchmetapher der historischen Dynamik des 19. Jahrhunderts nicht mehr gerecht werden kann, zeigt Blumenberg anhand der Transformation desselben Bildes bei Jakob Burckhardt. In der Einleitung zur „Geschichte des Revolutionszeitalters“ stellt Burckhardt die Schwierigkeit objektiver Geschichtsbetrachtung folgendermaßen dar:

|| der Natur der Dinge. Übersetzt von Karl Ludwig von Knebel, hg von Dr. Otto Güthling. Leipzig, o. J. S. 97. Vgl. hierzu Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer, S. 31ff. 157 Vgl. Schillers Aufsatz „Über die tragische Kunst“: „[E]s dürfte schwer sein, mit dem Lucrez zu glauben, daß diese unnatürliche Lust aus einer Vergleichung unsrer eigenen Sicherheit mit der wahrgenommenen Gefahr entspringe.“ FA 8, S. 251. 158 Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke. Bd. 1: Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band, Hg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1993, hier Drittes Buch, §39, S. 291. 159 Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer, S. 66.

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Sobald wir uns die Augen ausreiben, bemerken wir freilich, daß wir auf einem mehr oder weniger gebrechlichen Schiff, auf einer der Millionen Wogen dahintreiben, welche durch die Revolution in Bewegung gesetzt worden sind. Wir sind diese Woge selbst. Die objektive Erkenntnis wird uns nicht leicht gemacht.160

Der Historiker als Zuschauer, so fasst Blumenberg überzeugend zusammen, habe seine „festen Standort“ verloren,161 da er selbst sowohl Passagier des brüchigen Schiffs als auch Teil jener ihn forttreibenden Naturgewalt ist. Die Option eines sicheren Rückzugs mithilfe subjektiver Reflexivität, die noch dem Theoretiker Schiller möglich schien, gibt es nicht mehr. Und dies ist die Situation, mit der sich Hebbels Demetrius konfrontiert sieht; denn für ihn löst die Ausweglosigkeit den Willen zum Untergang aus. Anders als sein Pendant im Schillerschen Fragment ist er aufgrund seines unbefleckten Rechtsbewusstseins sogleich bereit, die Zarenkrone aufzugeben und mit reinem Gewissen der Anarchie der partikularen Interessen den Rücken zu wenden: So will er sich unverzüglich dem Gericht der Bojaren stellen, da ihn noch „keine Schuld“ drücke (IV/10; W 6, S. 125). Allein er sieht sich gezwungen, anders zu handeln. Er unterliegt nicht sosehr seiner ihm auferlegten Rolle, aber doch der formalen Verantwortung gegenüber seiner Mitwelt, deren ethische Fragwürdigkeit und egoistische Antriebe im Verlauf des Stücks hinlänglich aufgedeckt wurden. Er ist der Kapitän, der – freiwillig oder nicht – für die Sicherheit aller Passagiere haften muss. Der moralischen Mysophobie des Demetrius setzt Mniczek die „Pflicht“ gegenüber seinen Mitmenschen gleich mit doppeltem Nachdruck entgegen: „Und ich? Und wir? […] Doch ich? Und wir?“ (IV/10; W 6, S. 126) „Pflicht gegen Pflicht“ (IV/10; W 6, S. 126) ist auch des Menschen Gesetz. Die Verpflichtung überwiegt die Legitimität: Mit dem „Recht“ erlischt zwar der „Anspruch“, aber nicht die „Pflicht“. Bis zum Schluss bleibt Demetrius ein fremdbestimmtes Wesen, dessen Lebenssinn nur im Nutzen der anderen besteht. Präfiguriert wird der hier dargestellte Zwang durch die Mitwelt bereits in der Schlussszene von Die Räuber. Die als eine geschlossene Einheit auftretenden Räuber versperren Karl den Rückweg in die Arme seiner Liebe Amalia: „[D]u bis unser! Mit unserem Herzblut haben wir dich zum Leibeigenen angekauft, unser bist du, und wenn der Erzengel Michael mit dem Moloch ins Handgemeng kommen sollte!“ (V/2; FA 2, S. 157) Während sich Karl von seiner Verpflichtung mit der Opferung Amalias befreit, muss sich Hebbels Demetrius um der Selbsterhaltung anderer willen selbst aufopfern. Die oben angedeutete tragische Problematik des großen Einzelnen wie eines Napoleon lässt sich an dieser Stelle wiedererkennen, und zwar dergestalt, dass die Größe eines einzelnen dem Fortbestand vieler notwendiger-

|| 160 Zitiert nach: Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer, S. 74. 161 Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer, S. 74. Blumenberg kommentiert weiter (S. 76): „Die Unmöglichkeit des Zuschauers, die Beinahe-Unmöglichkeit des Historikers, ist die Pointe der paradoxierenden Zuspitzung des metaphorischen Themas bei Burckhardt.“

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weise untergeordnet werden muss. Darin liegt für Hebbel die Tragizität des Helden im postheroischen Zeitalter: „[D]as Thun ging, wie es natürlich war, von Vielen aus, das Leiden ergoß sich über ein einziges Haupt.“ (W 11, S. 280) Es ist die Zeit der Könige nicht mehr. Gerade im Zeitalter der entrückten Transzendenz avanciert die Masse zur eigentlichen Regulierungsgewalt und gewinnt dadurch unbedingte Verbindlichkeit. Selbst wenn das Schicksal ausnahmsweise sein Schweigen bricht, wird sein Laut von der drohenden der Massenunruhe übertönt: Als Marfa sich mit aller Kraft gegen das Fortbringen des Kindersargs stemmt, deutet Mniczek allein „auf die Volksgruppe“: „Schau hin, / Wie die da steh’n und ihre frechen Köpfe / Zusammenstecken! […] / Straf’ sie Lügen, / Sonst wird es MarktGeschrei.“ (III/20; W 6, S. 95f) In der öffentlichen Inszenierung ihrer selbst und mit dem Mittel der Öffentlichkeit erreicht Masse den Höhepunkt seiner Macht, die, wie Marfa sofort einsieht, „fürchterlich“ ist (III/20; W 6, S. 96). Um die Herrschergewalt an sich zu reißen, muss sich Schuiskoi mit Rhetorik und Branntwein die Volksgunst erschmeicheln (V/4; W 6, S. 133). Dadurch wird das in der Konzeptionsphase erarbeitete ästhetische Programm der „Umstände“ im Feld des Politischen umgesetzt: Die Autonomie des Subjekts erleidet an den stürmischen Wogen der Volksmasse Schiffbruch. In seiner Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas schreibt der junge Georg Lukács: „Das alte Drama war das Drama der großen Individuen, das heutige ist das des Individualismus.“162 Die Krise des Individualismus, die sich in der Unhaltbarkeit des Subjekts bei zunehmenden äußeren Widerständen manifestiert, ist, so die vorliegende, die „letzte Wirkung“, in der sich Hebbel und Schiller mit ihren jeweiligen Bearbeitungen des Demetrius-Stoffs begegnen. Im gleichen Maße trifft bei beiden Dichtern die Diagnose der „anwachsenden Skepsis gegenüber allen idealistischen Konzepten von Subjektautonomie und Handlungssouveränität“163 zu, denn beide haben ihren Demetrius als heteronomes Instrument fremder Interessen konzipiert und den Anspruch auf Legitimität und Selbstständigkeit, der den gemeinsamen Ausgangspunkt bildet, als illusionär dekonstruiert. In beiden Fällen ist der vermeintliche Zarewitsch Produkt der Manipulation. „Die großen Menschen“, so führt Lukács fort, „glauben, etwas zu bewegen, obwohl sie, ohne es zu merken, von der Kraft der Ereignisse bewegt werden.“164 Das Subjekt werde „zum blinden Objekt von Vorgängen“165 und dadurch als Werkzeug funktionalisiert. Während Schiller seinen

|| 162 Georg Lukács: Werke. Bd. 15: Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas, hg. von Frank Benseler. Neuwied 1981, S. 96. 163 Herbert Kaiser: Zur Dialektik des Subjekts im dramatischen Handeln. Schiller (Wallenstein), Grillparzer (Das goldne Vließ), Hebbel (Die Nibelungen). In: ders.: Friedrich Hebbel – Schmerz und Form. Perspektiven auf seine Idee des Tragischen. Frankfurt a. M. 2006, S. 39–66, hier S. 39. 164 Georg Lukács: Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas, S. 218. 165 Herbert Kaiser: Der schöne Tod. Hebbel und die Tragödientheorien des jungen Lukács. In: ders: Friedrich Hebbel – Schmerz und Form, S. 151–165, hier S. 161.

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Demetrius an der Usurpation der einmal gespielten Rolle scheitern lässt, stellt Hebbel die abgründige Macht der Mitwelt und der anderen dar. In beiden Fragmenten präsentiert sich aber die historische Wirklichkeit als ungeheuerliche, von Kalkül und Opportunismus durchdrungene Kontingenz, fern jeglichen Erlösungshorizonts. Letztendlich ist die Einsicht in die Unmöglichkeit des selbstbestimmenden Subjekts angesichts der Anarchie der Weltgeschichte das endgültige Resultat einer lebenslangen Rezeption.

8 Resümee Hebbels Werk ist das Resultat seiner dauerhaften Arbeit an Friedrich Schiller. Zentrale Momente sowohl der ästhetischen Reflexion als auch der dichterischen Produktion Hebbels lassen sich auf eine intensive Schiller-Rezeption zurückführen. Dieser Aneignungsprozess ist jedoch weder eine unreflektierte Übernahme noch eine kategorische Ablehnung, sondern eine Einheit aus Kritik und Anerkennung, aus intentionaler Distanzierung und faktischer Annährung. Dieser ambivalente Grundcharakter des Rezeptionsverhältnisses zwischen Schiller und Hebbel ist das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung. Die Arbeit beginnt mit einem Überblick über die theoretischen Ansätze, die unter dem Sammelbegriff der Intertextualität firmieren (Kap. 1). Die universale Entgrenzung eines Intertextualitätsbegriffs zum allgemeinen Kennzeichen schriftlicher Kommunikation erweist sich als wenig heuristisch für eine literaturwissenschaftlich angelegte Studie. Ebenso wenig kann die psychoanalytisch geprägte These der Einflussangst signifikant zum Textverständnis beitragen. Aus diesem Grund sind allein die produktionsästhetisch bewusst gestalteten, auf konkreten thematischen Gemeinsamkeiten basierenden intertextuellen Bezüge Gegenstand der Untersuchung. Insgesamt ist festzustellen, dass sich Hebbel in seiner Schiller-Rezeption mit denselben Fragestellungen auseinandersetzt, mit denen sich auch Schiller einst beschäftigt hat. Allerdings stellt Hebbels vermeintliche Revision und Kritik an Schiller oftmals eine Fehllektüre dar, sodass seine Gegenentwürfe rückblickend als modifizierte Bejahung des Vorhandenen gelesen werden müssen. Deshalb begreift die vorliegende Arbeit die Hebbels Schiller-Rezeption als eine kritisch-kreative Aneignung. Zunächst werden die dichterischen Anfänge Hebbels im Lichte seiner SchillerRezeption betrachtet (Kap. 2). Die Analyse der Jugendlyrik Hebbels hat gezeigt, dass in dieser Phase der Schiller-Rezeption die formale und stoffliche Übernahme überwiegt. Zwar weisen die frühen Gedichte Hebbels eine metrische und thematische Nähe zu Schillers Lyrik auf, aber ihnen mangelt es zugleich an sprachlicher Pathetik und gesellschaftlicher Kritik, die wiederum für die Schillersche Jugendlyrik kennzeichnend ist. Das dramatische Fragment „Mirandola“, das in puncto Konzeption des tragischen Konflikts und Personenkonstellation zweifelsohne als Aneignung von Schillers Die Räubern gelten muss, beschäftigt sich mit der Problematik der Leidenschaft und deutet Hebbels Interesse für die psychischen Krisensituationen und eine adäquate Veranschaulichung derselben mit dramatischen Darstellungsmitteln an. Allerdings wird die sozialkritische Fragestellung der Jugenddramatik Schillers hier ebenfalls nicht entfaltet. Anschließend wird der zeitgenössische Kontext der Schiller-Rezeption Hebbels skizziert (Kap. 3). Schiller, der Zeitgenosse aller Epochen, wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts besonders populär, nicht zuletzt wegen einer politisierenden Deutung

https://doi.org/10.1515/9783110660920-008

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seiner Person und seines Werks als Vorwegnahme von Einheit und Freiheit, obwohl diese kultische Dichterverehrung die kritische Auseinandersetzung mit seinem Werk ohne Zweifel erschwert. In der allgemeinen Schiller-Rezeption, insbesondere aber bei den Feierlichkeiten zum Schiller-Jubiläum im Jahre 1859, dominiert die patriotische Apotheose Schillers zum Heiland der Kulturnation. Von dieser messianischen Verklärung des Dichters distanzierte sich Hebbel entschieden, da er in seiner Schiller-Rezeption hingegen die ästhetisch-poetologische Perspektive akzentuiert. Deshalb geht die vorliegende Studie im Anschluss der Schiller-Kritik aus der klassisch-romantischen Kunstperiode, die Hebbel zur Kenntnis genommen und analysiert hat, nach. Generell bemängelt er den überproportionalen philosophischen Gehalt, die Subjektivität und Absichtlichkeit des Gedankenausdrucks, den pathetischen Sprachstil sowie die Unzulänglichkeit der Figurenmotivierung in Schillers Dramen. Anhand der Auseinandersetzung mit dem Schicksalsbegriff und dem ästhetischen Konzept des Erhabenen in der romantischen Philosophie lässt sich aber auch zugleich feststellen, dass sich in der Philosophie des Tragischen ein Prozess der Depontenzierung des Individuums vollzieht, die die Ohnmacht des historischen Subjekts attestiert. Insofern entfernt sich diese Philosophie radikal von Schiller, obwohl sie sich in der Argumentation noch auf Schiller stützt. Durchaus in diesem Kontext der zeitgenössischen Schiller-Kritik bewegt sich Hebbels Rezeption der Schillerschen Ästhetik (Kap. 4). Schrittweise distanziert sich Hebbel von seiner jugendlichen Schiller-Begeisterung, indem er die Schillersche Lyrik für das unfruchtbare Zwitterprodukt aus Poesie und Reflexion hält. Jedoch wird, dem zeitgenössischen Ästhetikdiskurs entsprechend, die Notwendigkeit einer ideellen Fundierung keineswegs gänzlich bestritten. In dieser Hinsicht votiert Hebbel, sich des Schillerschen Begriffspaars von naiver und sentimentalischer Dichtung bedienend, für eine realistische Darstellung der irdischen Wirklichkeit als Symbol einer transzendentalen Seinsordnung. Jedoch erkennt Hebbel, dass der philosophische Gehalt in der Realität wurzeln muss, deren Eigendynamik allein anhand der dramatischen Gestaltung der Handelnden sichtbar werden kann. Dies führt zu seinem Einwand gegen die „gehaltenen“, unbeweglichen, in Hebbels Augen keiner Verwandlung und Modifikation fähigen Charaktere in Schillers Dramen. Deshalb plädiert Hebbel für eine Ästhetik der werdenden, lebendigen Gestalt, die allerdings bei genauerem Hinsehen als eine freilich erweiterte Aneignung von Schillers Idee der „lebenden Gestalt“ zu lesen ist, die Letzterer in den „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“ formuliert hat (Kap. 4.2 und 4.3). Obwohl Hebbel der Meinung ist, dass seine sprachphilosophischen Ansichten mit denjenigen Schillers aus seinen „Kallias“-Briefen in Einklang stehen, trifft dies nur bedingt zu. Lediglich seine Idee des Stils, die in der Verkörperung des Allgemeinen in der sprachlichen Darstellung besteht, kann auf Schillers Unterscheidung von „Begriff“ und „Anschauung“ zurückgeführt werden. Bedeutender ist hingegen die Beobachtung, dass Hebbels Sprachphilosophie im Wesentlichen dramenästhetisch gedacht ist, dass er ferner die „Darstellung“ als Veranschaulichung des Wer-

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dens begreift. Des Weiteren sieht Hebbel den Vorzug der deutschen Sprache in ihrer Fähigkeit, das Subjektive mit dem Objektiven, das Allgemeine mit dem Besonderen im dichterischen Ausdruck zu vereinigen und zu verschmelzen. Gerade diese Wertschätzung wird zum Ausgangspunk einer Rehabilitation der Schillerschen Dichtung (Kap. 4.4). Das wichtigste Dokument der Schiller-Rezeption Hebbels ist seine Rezension zu Schillers Briefwechsel mit Körner, die zunächst die früheren Einwände, etwa diejenigen gegen die schwülstige Rhetorik oder gegen das mangelhafte Gestaltungsvermögen, wiederaufnimmt, um dann darauf fußend eine eigene Ästhetik des „gesteigerten Lebens“ zu entwickeln. Die Aufgabe der Kunst besteht Hebbel zufolge nicht darin, einen absichtsvollen Kontrast zwischen Realität und Idealität zu entwerfen, sondern darin, die irdische Wirklichkeit als Sinnbild eines idealen Moments, dessen Wurzel seiner Überzeitlichkeit zum Trotz dennoch in der Zeit liegt, zu potenzieren und zu erheben (Kap. 4.5). Deshalb muss das dramatische Geschehen, das sich auf die historische Wirklichkeit beschränken soll, gehörig motiviert werden, indem die Psychodynamik der handelnden Person zur Triebkraft ihrer Tat wird, und doch als Objekt der Modifikation durch geschichtliche, gesellschaftliche oder machtpolitische Verhältnisse unterliegt. Jedoch verbindet das psychologische Interesse gerade Hebbel mit Schiller. Das als Korrektur konzipierte ästhetische Prinzip zeugt letztendlich von einer gedanklichen Wahlverwandtschaft (Kap. 4.6). Nach der dichtungstheoretischen Analyse wendet sich die Arbeit der Untersuchung von konkreten Dramentexten zu, die das beschriebene Spezifikum der Hebbelschen Schiller-Rezeption bestätigen und vertiefen sollen. Zunächst wird Hebbels Erstlingsdrama Judith als das Gegenstück zu Schillers Die Jungfrau von Orleans in den Blick genommen (Kap. 5). In seiner historiographischen Darstellung desselben Gegenstands kritisiert Hebbel vor allem die defizitäre psychologische Plausibilität in Schillers „romantischer Tragödie“. Er entwirft in seiner Judith im Unterschied zur stoffgeschichtlichen Tradition eine Tragödie der zerrissenen Seele, die von ihrem inneren Konflikt, dem Wanken zwischen sexueller Sinneslust einerseits und göttlichem Sendungsbewusstsein andererseits zugrunde gerichtet wird. Ausschlaggebend ist die kunstvoll eingebaute Verschiebung der Motive, die den heilsgeschichtlichen Auftrag als Vorwand zurücksetzt und die weibliche Sexualität als eigentliche Triebkraft der Tat enthüllt. Die beiden Titelfiguren sind nicht nur in den mannigfaltigen literarischbildlichen Überlieferungen, sondern auch in der zeitgenössischen Kritik oft parallelisiert worden. Tatsächlich hat sich Schiller in Die Jungfrau von Orleans ebenfalls mit der Semantik der tradierten Weiblichkeit auseinandergesetzt und die Tragik aus der unwiderstehlichen emotionalen Empfänglichkeit für Liebe entwickelt, wie in Hebbels Judith der Fall ist. Mithilfe von kulturwissenschaftlichen Termini wie Schuld und Scham lässt sich der Problemhorizont beider Dramen miteinander vergleichen, denn in beiden Stücken ist das Tragische weniger auf eine faktische Schuld als vielmehr auf das kognitive Schuldbewusstsein und das dies begleitende Schamge-

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fühl zurückführen. Der Gegenentwurf Hebbels zeigt insofern dieselbe Gestaltungsstrategie wie in Schillerscher Vorlage, sodass ihn die Kritik wiederum in die Nähe Schillers führt. Sodann beschäftigt sich die Untersuchung mit den bürgerlichen Trauerspielen der beiden Dichter, nämlich Hebbels Maria Magdalene und Schillers Kabale und Liebe (Kap. 6). Nach einem gattungsgeschichtlichen Rückblick, in dessen Zentrum die sozialkritische Dimension des bürgerlichen Trauerspiels steht, wird Hebbels Kritik an der Gattung zusammengefasst. Sein Vorwurf, dass der dramatische Konflikt von zufälligen Äußerlichkeiten herrühre, etwa dem Zusammenstoß der Stände in Liebesaffären, trifft unter anderem auch Schillers Kabale und Liebe. Deshalb strebt Hebbel seinerseits nach einer Regenerierung der Gattung durch eine Neufundierung des Tragischen in der Wesenheit des Bürgertums. Allerdings verbindet die beiden bürgerlichen Trauerspiele nicht nur die Problematisierung der patriarchalischen Familienstruktur mit starker Vater-Tochter-Bindung, sondern auch die Infragestellung des ständischen Kodexes der Ehre, der nicht mehr substantiell, sondern äußerlich-formell geworden ist. Da die Ehre nicht mehr von der inneren moralischen Integrität, sondern allein von der Meinung anderer abhängt, offenbart sich hier die Macht der Öffentlichkeit, die nicht nur im Kampf gegen die höfische Willkür eingesetzt werden kann, sondern auch als soziale Kontrollinstanz der bürgerlichen Gesellschaft einen Konformitätszwang auferlegt hat, der beängstigend, ja vernichtend auf das einzelne Individuum wirken kann. Diese Abgründigkeit der veräußerlichten Ehre und der Öffentlichkeit zeigt sich deutlich in Hebbels Maria Magdalene. Hier unterwerfen sich alle Figuren ausnahmslos der öffentlichen Meinung, und die verletzliche Ehre ist paradoxerweise allein durch Unehrlichkeiten zu bewahren. Während Schillers Kabale und Liebe neben der Generalanklage der moralischen Korruptheit des Absolutismus auch die Geldgier des Bürgertums und dessen Wunsch, sich dem höfischen Verhaltensmuster anzunähern, in Ansätzen parodiert, kritisiert Hebbel in Maria Magdalene vehement den fragwürdigen ethischen Rigorismus des Bürgertums, dessen heuchlerische Ehrfixierung sowie die despotische Macht der bürgerlichen Öffentlichkeit, sodass sich beide bürgerlichen Trauerspiele in ihrer sozialkritischen Zielsetzung wieder begegnen. Obwohl sich Hebbel – anders als Schiller in Kabale und Liebe – nicht explizit mit der Fürstengewalt auseinandersetz, war doch die Aufführungspraxis von Maria Magdalene ein politisches Ereignis, da das bürgerliche Trauerspiel 1848 nach der Revolution und der Aufhebung der Zensur im Wiener Hoftheater gespielt wurde und dadurch zu einem performativen Akt die Emanzipation des Bürgertums geworden ist. Abschließend gilt es, die beiden Demetrius-Fragmente, die die beiden dichterischen Laufbahnen leider allzu früh beenden, einer vergleichenden Analyse zu unterziehen (Kap. 7). Gerade die Entstehungszusammenhänge des Hebbelschen Demetrius machen eine Gegenüberstellung sinnvoll. Konfrontiert sehen sich sowohl Schiller als auch Hebbel zunächst mit der schieren Materialfülle. Die Kernproblematik der beiden dramatischen Versuche besteht aber in der Krise der politischen Legi-

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timität, die leicht einer Täuschung anheimfallen kann. Das vermeintliche Charisma des Demetrius ist in Wahrheit Produkt einer intriganten Manipulation, und er selbst lediglich das Werkzeug verschiedener egoistischer Interessen. Weder das Rechtsbewusstsein noch die weltgeschichtliche Zielsetzung ist noch im Stande, sich angesichts des Verlusts der Selbstbestimmung im politischen Handeln zu entfalten. Die Selbstgewissheit erweist sich als tragische Illusion. Während Schiller die Einheit von Erkenntnis und Verhängnis am Beispiel der Usurpation der einmal gespielten Zarenrolle über das eigentliche Sein des Demetrius darstellt, um die Tragik des Selbstglaubens dem Zuschauer vor Augen zu führen, inszeniert Hebbel den Zwang der Umstände und die Macht der Masse, um derentwillen das welthistorische große Individuum trotz seines unerschütterlichen Rechtsbewusstseins aufgeopfert werden muss. Es herrschen Opportunismus und ökonomisches Profitdenken in Hebbels Demetrius – ein düsteres Bild, das jedoch nicht nur mit Schillers Entwurf von einem zweiten Demetrius, der die ganze Verwirrung zum ausweglosen Kreislauf macht, übereinstimmt, sondern auch seiner Auffassung von der Weltgeschichte als erhabenes Objekt entspricht. Anders als für Schiller, der noch in der moralischen Independenz des Subjekts eine Zuflucht aus der historischen Anarchie durch Rückbesinnung auf das Potential der geistigen Freiheit sieht, ist dies allerdings nach der Dekonstruktion des Erhabenen für Hebbel nicht mehr möglich. Es gibt im allgemeinen Schiffbruch keine sichere Zuschauerposition mehr: Die Geschichte wird zum Karneval, in dem kein ordnungsstiftender Sinn, keine hoffnungsvolle Perspektive mehr sichtbar ist. Insofern teilen beide Demetrius-Fragmente sowohl den Grundgedanken – die Aporie der Autonomie und Legitimität des politischen Handelns, als auch die letzte Wirkung – die Einsicht in die Unmöglichkeit der Autonomie des Subjekts. Deshalb bestätigt sich die These der vorliegenden Studie zu Hebbels Arbeit an Schiller: Man schreibt, selbst wenn oder gerade weil man gegeneinander zu schreiben gedenkt, letztendlich doch miteinander.

Literaturverzeichnis Anmerkungen zur Zitierweise Die Werke Friedrich Hebbels werden, sofern nicht anders vermerkt, nach der von Richard Maria Werner besorgten Säkular-Ausgabe (Sigle ‚W‘) zitiert. Der Zitation der Briefe von und an Hebbel liegt die Wesselburener Ausgabe (Sigle ‚WAB‘) zugrunde, die Tagebücher greifen auf die von Monika Ritzer herausgegebene neue historisch-kritische Ausgabe (Sigle ‚TBR‘) zurück. Bei Zitaten aus W und WAB werden stets die Bandnummer und die Seitenzahl angegeben. Bei Briefen werden zusätzlich die Nummerierung in WAB, der Adressat beziehungsweise der Absender und das Datum des jeweiligen Briefs aufgeführt. Bei den Tagebüchern wird lediglich die Nummer jedes zitierten Eintrags in TBR angegeben. Zur Konkordanz wird zugleich die entsprechende Nummerierung in der von Werner herausgegebenen Ausgabe (Sigle ‚TBW‘) angegeben. Schillers Werke werden, sofern nicht anders vermerkt, aus der Frankfurter Ausgabe (Sigle ‚FA‘) zitiert. Wenn Dramen beziehungsweise Gedichte wiedergegeben werden, geschieht dies unter der Angabe des betreffenden Akts mit römischer Ziffer, der Szene sowie des entsprechenden Verses mit arabischer Ziffer.

Siglen W

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Register Alt, Peter-André 27, 79, 140, 201 Anders, Joachim 82f. Anschütz, Heinrich 55 Aristoteles 98, 141 Arnim, Bettine von 64 Assmann, Aleida 48 Auerbach, Erich 185, 192, 214 Aurnhammer, Achim 225 Bachtin, Michail 7, 254 Baltzer, Otto 155 Bamberg, Felix 21, 198, 223 Barone, Paul 76, 98 Bäuerle, Adolf 55 Begemann, Christian 89, 217 Behler, Ernst 67 Benthien, Claudia 183, 209 Berghahn, Klaus L. 76, 123, 126, 187 Berndt, Frauke 8f. Beßlich, Barbara 243 Beutler, Ernst 192 Bienert, Michael 134 Birck, Sixt 156 Bloch, Walther 163 Bloom, Harold 4f., 11f. Blum, Robert 43, 47 Blumenberg, Hans 23, 257ff. Borchert, Hans Heinrich 68 Borchmeyer, Dieter 189, 205, 216 Börne, Ludwig 69 Bornstein, Paul 18f., 22, 26ff., 33f., 84, 150, 216, 218 Brandt, Helmut 181 Brecht, Bertolt 187f. Brittnacher, Hans Richard 38 Broich, Ulrich 9ff., 24 Brontë, Charlotte 209 Bruyck, Karl Debrois van 3, 220f. Büchner, Georg 39, 143f. Buchwald, Dagmar 102 Burckhardt, Jacob 241f., 258f. Bürger, Gottfried August 67 Bürger, Peter 12 Burkhart, Dagmar 200 Campe, Julius 107, 221, 223f., 226

https://doi.org/10.1515/9783110660920-010

Carbe, Monika 13 Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach 19, 220 Carriere, Moritz 89 Casey, Timothy Joseph 67 Cassirer, Ernst 102, 105f., 108 Chèzy, Hermina von 67 Christian VIII. von Dänemark 18f., 92, 193 Corday, Charlotte 168 Cotta, Georg von 220 Courtine, Jean-François 79 Cranach, Lucas 157 Crome, Dorothea 13 Dalberg, Heribert Freiherr von 193, 241 Dann, Otto 137, 216 Danzel, Theodor Wilhelm 126 Darras, Gilles 135 De Pisan, Christine 154 Dingelstedt, Franz 122, 226 Dirksen, Jens 33 Durzak, Manfred 212 Düsing, Wolfgang 194 Eckermann, Johann Peter 60ff., 132 Eckhardt, Ludwig 93 Ehinger, Franziska 17 Eichendorff, Joseph von 81, 94 Elias, Norbert 183f. Eliot, T. S. 8f. Elm, Theo 208 Eloesser, Arthur 212 Engländer, Sigmund 19, 133, 159f., 192, 199, 219 Eppel, Peter 51f. Eßlair, Ferdinand 70 Feger, Hans 88, 121 Fenner, Birgit 74 Feuerbach, Ludwig 162 Fischer, Kuno 223 Floris, Frans 157 Fohrmann, Jürgen 42 Fontane, Theodor 50 Fouqué, Friedrich Baron de la Motte 146 Fowler, Frank M. 14, 16

286 | Register

Freud, Sigmund 160, 163f., 169 Freytag, Gustav 53 Friedrich Wilhelm IV. von Preußen 45, 47 Fröhling, Mareike 202 Frühwald, Wolfgang 94, 199, 210 Gansberg, Marie Luise 120 Gerhard, Ute 13, 42ff. Gerlach, U. Henry 13, 16 Gilbert, Sandra M. 209 Glaser, Julius 221, 226 Goethe, August 62 Goethe, Johann Wolfgang von 7, 19f., 23, 28, 42ff., 59ff., 67f., 83f., 96, 98ff., 107, 114, 120, 126, 132, 137, 154, 192, 198, 216, 223, 227 Görres, Guido 146 Gottschall, Rudolf 89 Grabbe, Christian Dietrich 243 Grätz, Katharina 213 Grawe, Christian 42, 45 Grillparzer, Franz 57 Grimm, Jakob 54 Groth, Klaus 250 Grüner, Joseph Sebastian 62 Gubar, Susan 209 Gundolf, Friedrich 242 Guthke, Karl S. 182f., 186, 189f. Gutzkow, Karl 19, 45, 52, 55, 166, 172f., 190 Habermas, Jürgen 175, 205ff., 210, 218, 251 Haferkamp, Dirk 17 Halm, Friedrich 51 Hammer-Tugendhat, Daniele 156f. Hauser, Arnold 186 Hebbel, Christine 1, 18ff., 26, 158, 185, 220 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 74, 82, 90, 98, 102, 171, 201, 240 Heiberg, Johan Ludwig 102f., 133 Heidegger, Martin 121 Heine, Heinrich 43ff., 66, 121, 157ff. Hermand, Jost 44 Herwegh, Georg 45 Hettner, Hermann 54 Hildermeier, Manfred 227, 255 Hinderer, Walter 25, 88, 118, 136, 230, 236, 240 Hoffmann, Volker 176f. Hoffmeister, Karl 222, 249 Hofmann, Michael 42, 46

Hölderlin, Friedrich 4, 6 Holtz, Bärbel 47 Horkheimer, Max 195f. Houben, Heinrich Hubert 185 Houwald, William Guild 14 Hucke, Karl Heinrich 231 Humboldt, Wilhelm von 20, 88f., 113, 174 Hume, David 204 Hus, Jan 30 Iffland, August Wilhelm 219 Immermann, Karl 5, 94f. Jacobus, Mary 164 Jähnig, Dieter 79 Janz, Rolf-Peter 240 Japp, Uwe 20 Jauß, Hans Robert 23f., 43 Jean Paul 58, 64ff., 69, 154 Kaiser, Herbert 201, 210, 260 Kaizl-Hebbel, Christine 22 Kant, Immanuel 206 Karamsin, Nicolai Michailowitsch 220, 254f. Karl Eugen von Württemberg 20 Keidel, Heinrich 74 Keller, Gottfried 5, 156 Keller, Werner 27 Kirschbaum, Engelbert 2, 155 Kleist, Heinrich von 20, 96f., 99f., 107, 144, 170, 172, 174f., 183, 225 Klimt, Gustav 155, 157 Klopstock, Friedrich Gottlieb 18 Kniffler, Carl 52 Kobelt-Groch, Marion 154f. Kommerell, Max 140, 202, 235f. Koopmann, Helmut 13, 42, 231 Körner, Christian Gottfried 20, 57, 110f., 115, 123ff., 130, 233 Körner, Joseph 68 Körner, Theodor 96f., 100, 170, 225 Koschorke, Albrecht 25, 156f., 174f. Koselleck, Reinhart 188f., 210 Košenina, Alexander 137 Kraft, Herbert 16, 82f., 157, 236f., 248 Krais, Julius 85, 87 Kreuzer, Helmut 120f., 170, 172, 175, 178, 217 Krippner, Friederike 109 Kristeva, Julia 7f., 11, 24

Register | 287

Kuh, Emil 20, 22, 31, 51ff., 88, 146 Kurscheidt, Georg 123, 126, 130 Kutzmutz, Olaf 231 Lämmert, Eberhard 4, 236 Lamport, Francis 14, 16 Laube, Heinrich 19f., 51, 55, 64, 185, 214f. Lazarus, Moritz 113 Le Brun de Charmettes, Philippe-Aleandre 146 Le Franc, Martin 154 Lensing, Elise 15, 17, 19ff., 32, 69, 85ff., 94, 143ff., 157, 168f., 191, 215 Lenz, Jakob Michael Reinhold 99 Lessing, Gotthold Ephraim 28, 185ff., 189, 194, 200f. Lidman, Satu 209 Liepe, Wolfgang 16, 82, 162 Liesegang, Thorsten 206 Link, Jürgen 60 Lochel, Elfriede 164 Logge, Thorsten 46, 48, 50ff. Loose, Emilie 13, 19f. Löwenich, Caroline von 156 Ludwig, Albert 47 Lukács, Georg 260 Lukrez 122, 257 Luserke-Jaqui, Matthias 106, 112, 123, 181 Luther, Martin 1, 155, 167f. Lütkehaus, Ludger 48, 182, 190, 197f., 201, 208 Mahlmann-Bauer, Barbara 232 Manger, Klaus 225 Manheim, Ernst 195f., 205f. Mann, Thomas 59 Manzoni, Alessandro 61 Mao, Mingchao 256 Marr, Heinrich 215 Marshall, James 54 Martin, Nicholas 239 Martini, Fritz 5, 121, 230, 236, 255 Martus, Steffen 220 Marx, Karl 197 Matt, Peter von 2 Mattenklott, Gert 6 Matthiesen, Hayo 222, 225, 255 Mayer, Hans 156, 172, 174f. Meetz, Anni 20, 70, 88 Meinhold, Wilhelm 99 Menke, Christoph 136

Meyer-Sickendiek, Burckhard 5f., 11 Michelangelo Buonarroti 2, 156 Michelsen, Peter 23, 83, 196, 243 Mix, York-Gothart 67 Möller, Helmut 200, 211 Mommsen, Katharina 63f. Moritz, Karl Philipp 133, 136f., 173 Mühler, Heinrich von 19 Müller, Joachim 84, 93, 133, 247 Müller-Seidel, Walter 140, 230 Napoleon Bonaparte 43, 72, 228, 230, 240, 242ff., 246, 259 Nietzsche, Friedrich 231 Nikolai, Friedrich 186 Nipperdey, Thomas 48 Nitsche, Stefan Ark 2 Noelle-Neumann, Elisabeth 205, 207f. Noltenius, Rainer 46ff. Novalis 65 Obermann, Karl 46f., 49 Oehlenschläger, Adam 19 Oellers, Norbert 12f., 42, 44, 50, 54, 57, 59, 64, 67f., 73f., 181 Oesterle, Günter 67, 88, 118 Oesterle, Ingrid 22 Ortloff, Johann Andreas 200 Oschmann, Dirk 113 Osterkamp, Ernst 88, 137, 139, 157, 161, 173, 228, 246 Palleske, Emil 19 Petersen, Julius 62 Peuchet, Jacques 197 Pfister, Manfred 9ff., 24 Pfizer, Gustav 60 Piatti, Barbara 43, 240 Pietsch, Lutz-Henning 139 Pikulik, Lothar 139, 212 Pinna, Giovanna 79 Plumpe, Gerhard 89 Proesler, Hans 200 Prutz, Robert 89 Putlitz, Gustav zu 18, 53 Raabe, Wilhelm 49 Rehlinghaus, Franziska 75

288 | Register

Reinhardt, Hartmut 16f., 81f., 106, 159, 164, 166, 192, 197, 200, 227, 245, 248, 252, 255 Riedel, August 156, 158 Riedel, Wolfgang 79, 135f., 256 Ritter, Wolfgang 133 Ritzer, Monika 248, 253 Robert, Jörg 112, 116 Robert, Ludwig 190 Robertson, Ritchie 239 Romano, Giulio 157 Rötscher, Heinrich Theodor 199, 217f. Rousseau, Emil 20, 144 Rousseau, Karl Julius 20, 144 Ruge, Arnold 23, 89f., 104 Rüsen, Jörn 105 Sacher-Masoch, Leopold von 158 Sadger, Isidor 164 Sasse, Günter 229 Sauder, Gerhard 181 Sayn-Wittgenstein, Carolyn von 223, 227 Sayn-Wittgenstein, Marie von 225f. Schacht, Heinrich 20 Scheler, Max 83 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 74, 76ff., 82f., 108, 233, 257 Schiewer, Gesine Lenore 113 Schings, Hans-Jürgen 187, 239 Schlaffer, Hannelore 214 Schlaffer, Heinz 200f., 214 Schlegel, A. W. 67ff., 76, 154 Schmidt, Heinrich 192 Schmidt, Jochen 4f., 228f. Schmidt, Julian 93, 129 Schmidt, Wolf Gerhard 112 Schöll, Adolf 104 Schopenhauer, Arthur 17, 208f., 258 Schoppe, Amalia 163 Schulz, Georg-Michael 34 Schuselka, Frank 51f. Schwab, Gustav 19, 45 Schwabach-Albrecht, Susanne 53 Sengle, Friedrich 16 Serre, Friedrich Anton 3, 221f. Shakespeare, William 68 Siebert, Horst 74, 82 Sievers, Hartwig 198, 216, 218 Simonis, Anette 101 Sokrates 30

Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 68, 74ff., 79ff., 108, 257 Solms-Salomon, Erika 110 Sommerfeld, Martin 156 Sophokles 233 Sowa, Wolfgang 52f. Spitteler, Carl 5f. Springer, Mirjam 228, 233, 236f., 239, 248 Stadler, Gabrielle 53 Stauss, Annemarie 43, 158 Steinebach, Friedrich 51 Stephan, Inge 174, 181 Stern, Adolf 223, 246 Stern, Hildegard 163, 173 Stern, Martin 217 Stich-Crelinger, Auguste 163, 169, 195, 198 Stiegler, Bernd 9 Stierle, Karlheinz 7, 10, 24 Streller, Siegfried 191 Strodtmann, Adolf 23 Sulzer, Johann Georg 136, 139 Suppanz, Frank 228 Szondi, Peter 78, 81, 83, 151, 186f., 189, 231ff. Thalheim, Hans-Günther 191, 230 Thomsen, Hargen 16 Thorvaldsen, Bertel 21 Tieck, Ludwig 58, 65, 69ff., 128, 154 Tischel, Andrea 166 Tonger-Erk, Lily 8f. Trapp, Marianne 84 Tropus, Karl 47, 49 Uechtritz, Friedrich von 74 Uhl, Friedrich 52, 60 Uhland, Ludwig 21, 60, 84ff., 164 Vernet, Horace 157f. Viehoff, Heinrich 85 Vischer, Friedrich Theodor 133f. Vogel, Juliana 217 Vogel, Juliane 24 Voßkamp, Wilhelm 42, 121 Wagner, Meike 218 Walzel, Oskar 82f., 101 Weber, Max 196f., 228ff., 247 Weber, Vinzenz P. 178 Weilen, Alexander von 146

Register | 289

Weinrich, Harald 200, 202 Werner, Richard Maria 124, 163 Werner, Zacharias 81 Wienbarg, Ludolf 71, 172ff., 180 Wilhelm I. von Preußen 47, 52f. Windfuhr, Manfred 5f. Wittkowski, Wolfgang 14ff., 144, 148, 179f., 227, 253 Wodianka, Stephanie 154 Wolzogen, Karoline von 19

Wuthenow, Ralph-Rainer 24 Wütschke, Hans 199, 219 Zaragoza, Gabrijela Mecky 164 Zelle, Carsten 106, 112, 257 Zeller, Bernhard 140 Zelter, Carl Friedrich 60, 100f. Zenger, Erich 155 Zerbst, Arne 77 Ziegler, Klaus 23, 82