Friedensbildung: Das Hamburger interdisziplinäre Modell 9783737002448, 9783847102441, 9783847002444

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Friedensbildung: Das Hamburger interdisziplinäre Modell
 9783737002448, 9783847102441, 9783847002444

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Ulrike Borchardt / Angelika Dörfler-Dierken / Hartwig Spitzer (Hg.)

Friedensbildung Das Hamburger interdisziplinäre Modell

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0244-1 ISBN 978-3-8470-0244-4 (E-Book) Trotz sorgfältiger Nachforschungen konnten nicht alle Rechteinhaber ermittelt werden. Wir bitten gegebenenfalls um Mitteilung. Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Ó Glwady Awo; Das Foto entstand 2010 im Rahmen des ART PEACE PROJECTS der Universität Hamburg (im Original mit dem Schriftzug »INCLUSION«). Druck und Bindung: g Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Ulrike Borchardt / Angelika Dörfler-Dierken / Hartwig Spitzer Friedensbildung als Angebot und Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Ermunterung zum Frieden Angelika Dörfler-Dierken Einfìhrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Angelika Dörfler-Dierken Frieden von unten: Die Friedensbewegung der 1980er Jahre

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Hartwig Spitzer Von der Atomkriegsangst zur professionellen Friedensforschung und -lehre: Friedensengagement von Naturwissenschaftlern in Hamburg . . .

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Angelika Dörfler-Dierken Muster der Aufreizung zum Krieg erkennen

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Ulrike Borchardt Einfìhrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wolfgang Schreiber Neue Kriege und humanitär begründete Interventionen . . . . . . . . . .

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2. Konfliktfelder und Konfliktdynamiken

Volker Matthies Lassen sich Kriege verhindern? Bestandsaufnahme der Debatte um Konfliktprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

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Inhalt

Ulrike Borchardt Zur Menschenrechtsproblematik an den EU-Außengrenzen . . . . . . . . 119 Sabine Kurtenbach Gewaltsame Lebenswelten: Jugendliche und Gewalt in Entwicklungsländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

3. Konstruktive Konfliktbearbeitung Ulrike Borchardt Einfìhrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Cord Jakobeit Grundlagen der europäischen Friedensordnung seit 1945: NATO, EU, OSZE, Europarat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Nils Zurawski Frieden trotz Spannungen? Warum der nordirische Friedensprozess ein Erfolg ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Mariska Kappmeier und Alexander Redlich Capacity Building: Aufbau von Kapazitäten für eine Kultur friedlicher Konfliktregulierung durch Mediation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Sven Bernhard Gareis Responsibility to Protect: Entwicklung, Anwendung und Perspektiven eines neuen Konzepts zum Schutz der Menschenrechte . . . . . . . . . . 207

4. Gewaltprävention und Gewaltnachsorge Hartwig Spitzer Einfìhrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Dieter Lünse und Katty Nöllenburg Gewaltprävention in Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Stefanie Woynar und Fionna Klasen Kinder im Krieg: Erfahrungen aus der Arbeit mit traumatisierten Kindersoldaten in Uganda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

Inhalt

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5. Versöhnungsarbeit Angelika Dörfler-Dierken Einfìhrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Fernando Enns Restaurative Gerechtigkeit als Friedensbildung: Die Möglichkeit zur Wiederherstellung von zerbrochenen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . 271 Otmar Hagemann Restorative Justice in der Praxis: Täter-Opfer-Ausgleich und Gemeinschaftskonferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Sofie Olbers Performing for Peace? Künstlerische Forschungs- und Lernformate . . . 307 Zu den Autorinnen und Autoren

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

Ulrike Borchardt / Angelika Dörfler-Dierken / Hartwig Spitzer

Friedensbildung als Angebot und Aufgabe

»Eine Kultur des Friedens stärkt Menschen und Gruppen darin, mit Konflikten offen, gewaltfrei und konstruktiv umzugehen. Da der Frieden in unserer Gesellschaft und global stets gefährdet ist, sind ständige Anstrengungen notwendig, um zu wechselseitiger Verständigung und Konfliktbewältigung zu gelangen und immer wieder neu auftretende Konflikte ohne Gewaltanwendung zu bewältigen. Dies gilt insbesondere für Konflikte in und zwischen Gruppen angesichts sozialer, wirtschaftlicher und politischer Spannungen bei zunehmender kultureller und religiöser Vielfalt. Denn Vielfalt kann ebenso eine Ressource für den Dialog wie eine Quelle für Abgrenzung oder Ausschluss unterschiedlicher Menschen und Gruppen gegeneinander sein. Konflikte entstehen immer wieder neu. Friedensbildung stärkt die Wahrnehmung von Konflikten und vermittelt Fähigkeiten zum konstruktiven Umgang mit Konflikten. Friedensbildung fördert die Kultivierung der Gesellschaft und die Arbeit an der eigenen Biografie – ohne die theoriegeleitete Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten friedlicher Klärung und nachhaltiger Lösung politischer und sozialer Konflikte zu vernachlässigen. Friedensbildung zielt auf eine Kultur des Friedens.« Mit diesen Worten stellt sich das ›Interdisziplinäre Lehrangebot Friedensbildung/Peacebuilding‹ an der Universität Hamburg der akademischen Öffentlichkeit vor und wirbt um Studierende aus allen Fachbereichen. Die Initiative wird durch Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer verschiedener akademischer Disziplinen und Wissenschaftskulturen in Zusammenarbeit mit dem ›Carl Friedrich von Weizsäcker–Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung‹ (ZNF) getragen. Das Angebot gibt es seit 2008. Es richtet sich insbesondere an Studierende in den Bachelor–Studiengängen. Es ermöglicht ihnen, Leistungspunkte für Allgemeinbildung im freien Wahlbereich zu erwerben. Viele Veranstaltungen, insbesondere die Ringvorlesung ›Friedensbildung – Grundlagen und Fallbeispiele‹, die in jedem Wintersemester angeboten wird, erreichen eine breite Öffentlichkeit, weit über den Kreis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Curriculum hinaus. Auch die Sommeruniversitäten und Exkursionen erfreuen sich großer Beliebtheit. Mehrfach erhielten Veranstal-

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Ulrike Borchardt / Angelika Dörfler-Dierken / Hartwig Spitzer

tungen aus dem Curriculum Preise für innovative und herausragende Lehre. Diese positiven Reaktionen haben uns dazu bewogen, die Vortragenden zu bitten, ihre Vorlesungen auszuarbeiten und in Buchform öffentlich zugänglich zu machen. Damit wollen wir zu einem breiteren Gespräch über Friedensbildung als Aufgabe der Universität und Thema in der akademischen Lehre beitragen. Die Einführung eines solchen Studienangebots hat an der Universität Hamburg eine Lücke auf diesem Gebiet gegenüber angelsächsischen Ländern geschlossen. Die Veranstalter konzentrieren sich auf die Analyse und Bearbeitung von Friedens– und Konfliktpotenzialen in und zwischen Gruppen. Im Zentrum steht die Vermittlung von Konzepten und Methoden zur Konfliktprävention, Konfliktvermittlung (Mediation), zur konstruktiven Konfliktbewältigung und zur Versöhnung. Der Hochschulstandort Hamburg ist seit Jahrzehnten in Fragen der Friedensbildung, der friedensorientierten Politikberatung und der wissenschaftlichen Friedensforschung ausgewiesen. Er verfügt über zahlreiche nationale wie internationale Kontakte. Seit der hohen Zeit der Friedensbewegung in den späten 1970er und den 1980er Jahren haben zahlreiche überregional bekannte Persönlichkeiten hier gewirkt: die evangelische Theologin Dorothee Sölle (1929—2003), der ehemalige General und Friedensforscher Wolf Graf von Baudissin (1907—1993), der Politiker Egon Bahr (*1922) und der Psychologe Friedemann Schulz von Thun (*1944). Schon in den 1960er Jahren gab der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker (1912—2007), der damals den Lehrstuhl für Philosophie innehatte, von Hamburg aus wesentliche Anstöße für die deutsche Friedensforschung. Das Bewusstsein der städtischen Eliten, vom Hafen, dem ›Tor zur Welt‹, und vom Handel abhängig zu sein, förderte schon früh die Einsicht, dass Geschäfte nur in einer einigermaßen friedlichen und sicheren Umwelt möglich sind. Deshalb wurde in Hamburg 1971 vom Senat der Stadt das ›Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik‹ (IFSH) an der Universität gegründet, zu dessen Gründungsdirektor Baudissin bestellt wurde. Im Jahr 2006 wurde das ZNF in der Universität mit einer Stiftungsprofessur aus Mitteln der ›Deutschen Stiftung Friedensforschung‹ (DSF) eingerichtet. Im Sommer 2008 trafen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen akademischen Fächerkulturen und Arbeitszusammenhängen der Universität Hamburg, um in Zusammenarbeit mit dem ZNF ein gemeinsam verantwortetes friedensorientiertes Studienangebot für Hamburger Studierende aus allen Disziplinen auf die Beine zu stellen: der ›Initiativkreis Friedensbildung‹ konstituierte sich. Heute gehören zu diesem Kreis Mitglieder der ›Arbeitsgruppe Beratung und Training‹ des Fachbereichs Psychologie, der ›Arbeitsstelle Theologie der Friedenskirchen‹ des Fachbereichs Evangelische Theologie, des Forschungszentrums der Stiftung ›Children for Tomorrow‹ vom Universitätsklini-

Friedensbildung als Angebot und Aufgabe

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kum Hamburg–Eppendorf, der ›Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung‹ (AKUF) vom Institut für Politikwissenschaft, des Fachbereichs Bewegungswissenschaft, des Arbeitsbereichs Philosophie und Religionspädagogik im Fachbereich Erziehungswissenschaft, der Hamburger ›Akademie der Weltreligionen‹ und des Instituts für Romanistik. Dieser interdisziplinär zusammengesetzte ›Initiativkreis Friedensbildung‹ bietet seit dem Sommersemester 2008 eine Vielzahl von Veranstaltungen und, seit dem Wintersemester 20010/11, zusätzlich ein strukturiertes, einjähriges Curriculum ›Friedensbildung/Peacebuilding‹ für Hamburger Studierende aus allen Disziplinen im freien Wahlbereich an.

Abbildung 1: Das jährliche Lehrangebot Friedensbildung/Peacebuilding (Titelblatt des kommentierten Veranstaltungsverzeichnisses) Ein Offizier der afghanischen Nordallianz füttert Tauben vor der Moschee von Maz–r-e Shar„f (Foto: Wolf Böwig, November 2001); Trauma–Therapie mit Kindersoldaten in Uganda mit Fionna Klasen und einem örtlichen Therapeuten (Foto: Fionna Klasen). Quelle: Initiativkreis Friedensbildung

Das Curriculum umfasst eine Ringvorlesung und ein Theorieseminar im Wintersemester sowie ein Anwendungsseminar und eine Sommeruniversität im Sommersemester. Dazu kommt ein breites und aktuelles Angebot frei wählbarer Veranstaltungen. Das Ziel der Vermittlung von zentralen Begriffen der Friedens– und Konfliktforschung – Frieden, Krieg, Gewalt und Konflikt – und der eigenen Auseinandersetzung damit besteht vor allem darin, einen reflexiven Umgang mit den alltäglichen Phänomenen des Unfriedens einzuüben. Ein zweiter Schwerpunkt ist die Vermittlung von Ansätzen für konstruktive Konfliktbearbeitung. Ein jeder der genannten und in den einschlägigen Diskussionen grundlegenden

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Ulrike Borchardt / Angelika Dörfler-Dierken / Hartwig Spitzer

Begriffe kann verschieden definiert werden – und die jeweils gewählte Definition strukturiert den Blick auf die Phänomene. Deshalb legt die ›Initiativgruppe Friedensbildung‹ Wert darauf, in die Definitionen nicht nur einzuführen, sondern Begriffe wie Gerechter Krieg, Gerechter Frieden, Strukturelle Gewalt, Restaurative Gerechtigkeit, Konflikttransformation und Versöhnungsprozesse jeweils auch kritisch zu diskutieren. Zudem geht es darum, die Opfer von gewaltsam ausgetragenen Konflikten in den Blick zu nehmen. Deshalb ist es notwendig, dass die Bedeutung von psychologischer Expertise für Peacebuilding–Prozesse erkannt wird. Psychologische Konstrukte wie Trauma, Posttraumatische Belastungsstörung, Resilienz und Interventionstechniken sollten breit bekannt sein. Die fünf Themenfelder dieses Sammelbandes bilden die interdisziplinäre Vielfalt der Perspektiven ab, die für den Hamburger Ansatz charakteristisch sind. Sie spiegeln zugleich unterschiedliche Zugangsweisen einzelner Fachdisziplinen auf die Phänomene von Unfrieden und Frieden, zerstörerischer Gewalt und Krieg, menschlicher Schutzbedürftigkeit und Versöhnungsfähigkeit. Die methodische und konzeptionelle Vielfalt der Ansätze und Überlegungen ermöglicht einen integrierten Blick auf das umfassende Feld der Friedensbildung unter Berücksichtigung individueller und kollektiver, politischer und religiöser, ethischer und psychologischer Herangehensweisen. Die Aufsätze gehen zurück auf Vorträge, die im Rahmen der Friedensbildung–Vorlesungen seit 2009 an der Hamburger Universität gehalten wurden. Sie sind für den Druck mit Literaturangaben, Anregungen zum Weiterdenken und Lektüreempfehlungen zum Weiterstudium ergänzt worden. Die Themenfelder, die uns beschäftigen, – Ermunterung zum Frieden, – Konfliktfelder und Konfliktdynamiken, – Konstruktive Konfliktbearbeitung, – Gewaltprävention und Gewaltnachsorge, – Versöhnungsarbeit, laden ebenso zu grundsätzlicher Reflexion wie zur vertiefenden Beschäftigung mit ihnen ein. Die Beiträge konzentrieren sich auf Teilperspektiven und Fallbeispiele, ohne den Anspruch einer zusammenhängenden Theoriebildung oder Theoriediskussion. Sie wollen Studierenden Anschauungsmaterial liefern und zum Nachdenken anregen. Im Wissen darum, dass es zum Erhalt und gegebenenfalls zur Wiederaufrichtung des Friedens zahlreicher Anstrengungen Vieler bedarf, möchten wir nicht nur Studierende der Natur–, Geistes– und Sozialwissenschaften sowie Lehrerinnen und Lehrer der human– und gesellschaftswissenschaftlichen Fächer ansprechen, sondern auch das Fachpublikum in Kirchen, Ziviler Kon-

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Friedensbildung als Angebot und Aufgabe

fliktbearbeitung und Erwachsenenbildung sowie die friedensorientierte, friedensbewegte und friedensinteressierte Öffentlichkeit. Wir danken allen denjenigen, die sich an dem Lehrprojekt Friedensbildung/ Peacebuilding beteiligt haben, die ihre Vorstellungen und Visionen, die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Forschung und ihre Fragen mit Studierenden der Hamburger Universität geteilt haben. Insbesondere danken wir allen denen, die sich als Vortragende an dem Projekt der interdisziplinären Ringvorlesung beteiligt haben. Sie sprechen mit ihren schriftlich ausgearbeiteten Vorträgen nun eine breitere Öffentlichkeit an. Ein herzlicher Dank geht abschließend an Frau Patricia Konrad (Dipl. – Pol.), die das Manuskript dieses Bandes mit großem Engagement betreut und die Druckvorlage für den Verlag erstellt hat. Die Herausgeberinnen und der Herausgeber sind zuversichtlich, dass das in der Vorlesungsreihe praktizierte Nachdenken über Frieden, im Innen- wie im Außenverhältnis von Menschen und Staaten, das Nachdenken über gesellschaftliche, politische und ökonomische Bedingungen, die Frieden wachsen lassen und stabilisieren, in Zeiten von Krisen, Konflikten und Kriegen uns Alle stärkt und schützt. Ulrike Borchardt

Angelika Dörfler–Dierken

Hartwig Spitzer

Nähere Informationen zum aktuellen Lehrangebot finden Sie auf der Webseite des ZNF unter : http://www.znf.uni-hamburg.de/Friedensbildung/

1. Ermunterung zum Frieden

Angelika Dörfler-Dierken

Ermunterung zum Frieden

Frieden zwischen Menschen und Staaten ist kein statischer Zustand, der durch Verträge und Absprachen, Grenzziehungen und Waffenstillstandsvereinbarungen erzielt und erhalten werden könnte, sondern ein lebendiges Geschehen, an dem Viele – nicht nur Politiker – beteiligt sind. Als in den Ländern des westlichen Militärbündnisses im geteilten Europa am Anfang der 1980er Jahre atomare Mittelstreckenraketen stationiert werden sollten, formierte sich eine breite Bewegung von Bürgerinnen und Bürgern, die dagegen protestierten. Sie wollten die Fragen der Friedenssicherung nicht länger den Politikern und Militärstrategen überlassen, sondern einen ›Frieden von unten‹ wirklich werden lassen. Die Kirchengeschichtlerin Angelika Dörfler-Dierken beschreibt die Anfänge der Friedensbewegung in der Bundesrepublik Deutschland als eine Phase unglaublicher Mobilisierung breiter Volksgruppen. Motiviert waren die Friedensbewegten von der Vorstellung, dass die Erhöhung der Rüstungsanstrengungen nicht mehr Sicherheit, sondern im Gegenteil weniger Sicherheit bedeuten würde. Die von der Vorstellung eines wirklichen, lebendigen, aktiven Friedens erregten Menschen entwickelten neue politische Aktionsformen und blieben dabei weitestgehend gewaltfrei. Vertrauensbildung, Abbau von Offensivwaffen und unilaterale Vorleistungen bei der Abrüstung schaffe mehr Frieden und Sicherheit in Europa als ein Rückfall in die Idee, nur ein Gleichgewicht hochgerüsteter Blöcke erlaube den Schutz von Freiheit und Recht. Ein Charakteristikum der Friedensbewegung war die Selbstorganisation von Mitgliedern verschiedener Berufsstände, die sich mit ihrer je spezifischen Expertise in die öffentlichen Diskussionen einbrachten: Der Physiker Hartwig Spitzer berichtet von seinen Erfahrungen als Hamburger Hochschullehrer, der sich in einer Friedensgruppe des Fachbereichs Physik der Universität und in einer Hamburg weiten Naturwissenschaftler-Friedensinitiative engagierte. Zum ersten Mal wird hier die Geschichte dieser Gruppen dargestellt. Sie strahlte aus in die bundesdeutsche Physi-

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Angelika Dörfler-Dierken

kerszene und liefert bis heute fachliche Beiträge zu Fragen der Rüstungskontrolle. Auch ›Normalbürger‹, die keine besondere Fachexpertise in Fragen der Rüstungsdynamik mitbringen, können Muster der öffentlichen Rhetorik von Politikern und Meinungsmachern erkennen, die mit einiger Wahrscheinlichkeit in der Rechtfertigung von kriegerischen Handlungen enden. Die Historische Friedensforschung hat inzwischen herausgearbeitet, dass Krieg eben nicht eine spontane Entladung überschüssiger Energien oder eine zyklisch wiederkehrende Störung zwischenstaatlicher Beziehungen ist, sondern von Menschen in Denken und Sprache vorbereitet wird. Angelika Dörfler-Dierken stellt deshalb wichtige rhetorische Muster und Figuren vor, mit Hilfe derer die Erregung der Massen auf Krieg hin geschürt wurde. Wer sich friedliche Verhältnisse zwischen Menschen und Staaten, Kulturen und Ethnien wünscht, der sollte Sensibilität entwickeln für kriegsaufreizendes Denken, Sprechen und Fühlen. Zum Frieden ermuntern wollen diese Aufsätze. Arbeit am Frieden bedarf eines historischen Bewusstseins ebenso wie der fachlichen Expertise und Vernetzung, der kritischen Selbstprüfung und der Mitarbeit an friedensorientierten politischen Prozessen.

Angelika Dörfler-Dierken

Frieden von unten: Die Friedensbewegung der 1980er Jahre

Friedensbewegte Erregung und die Logik der Emotionen Immer wieder geht es in diesem Band um kollektive Emotionen – vor allem solche, die anderen Menschen und Völkern schaden – wie sie etwa in Feindbildern oder Kriegsaufrufen sichtbar werden. In diesem Beitrag dagegen geht es um kollektive Emotionen positiver Art, um eine begeisterte und begeisternde, visionär-utopisch fühlende und denkende ›Erregungsgemeinschaft‹ (Ciompi/ Endert 2011). Eine solche Erregungsgemeinschaft waren die Friedensbewegten der 1980er Jahre des letzten Jahrhunderts in Westdeutschland. Mit dieser These dürfte ich Widerspruch hervorrufen, denn viele Zeitzeugen stellen als Movens für die vielfältigen Aktionen der Friedensbewegten vor allem die Angst vor dem durch das Wettrüsten der Supermächte als kurz bevorstehend erwarteten Weltuntergang heraus. Sie sagen, dass die Erregung durch die gemeinschaftlich erfahrene Angst vor dem ›atomaren Holocaust‹ hervorgerufen gewesen sei1. Für das Vorherrschen eines Gefühls von Angst sprechen sowohl die fiktionale als auch die natur- und sozialwissenschaftliche Literatur der Zeit, ebenso wie viele Filme (z. B. The Day After, 1983) und die Untergangsrhetorik großer Redner der Friedensbewegung. Aber : das Gefühl der Angst lähmt und individualisiert eher, als dass es lebendig macht. Die Aktionen der Friedensfreunde waren jedoch von lebendiger Energie getragen. Sie waren imstande, das Gefühl von Angst vor dem Weltuntergang in das Gefühl von lustvollem Aufbegehren umzuformen. Den Eindruck lustvoller Aktion vermittelten viele Parolen und Plakate und vor allem das Verhalten der Friedensbewegten bei den öffentlichen Großveranstaltungen2. In 1 In dieser Wortprägung verbinden sich der schon durch die Anti-Atomkraft-Bewegung in der öffentlichen Wahrnehmung negativ besetzte Begriff ›Atom‹ mit dem Begriff ›Holocaust‹. Der Begriff ›Holocaust‹ wurde Anfang der 1980er Jahre für die massenhafte Vernichtung der Juden in Westdeutschland gebräuchlich, seit ein entsprechend betitelter Film 1979 zeitgleich in allen dritten Fernsehprogrammen in Deutschland vor etwa 20 Millionen Zuschauern gelaufen war. 2 Der friedlich-lustvolle Charakter wurde allerdings bei einer Veranstaltung nicht aufrechter-

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Angelika Dörfler-Dierken

den allermeisten Fällen waren die Veranstaltungen der Friedensbewegung zwar vielleicht mit apokalyptischer Rhetorik3 und entsprechenden Bildern angekündigt. Aber diese Endzeitstimmung lähmte nicht, sondern inspirierte und motivierte zu vielfältigen individuellen und gemeinschaftlichen Aktionen: Demonstrationen, Sitzblockaden, Mahnwachen, Arbeitskreisen. Eine friedensorientierte Gegenkultur zur offiziellen Nachrüstungspolitik entstand: 200.000 Menschen bildeten beispielsweise eine 108 Kilometer lange Menschenkette zwischen dem europäischen Hauptquartier der US-amerikanischen Streitkräfte in Stuttgart und der als Standort für Pershing-II-Raketen vorgesehenen Kaserne in Neu-Ulm. Bis heute wirken manche Selbstinszenierungen von Nachrüstungsgegnern inspirierend – etwa der junge Mann, der sich (scheinbar) ein Brett vor den Kopf nagelte und darauf schrieb: »Ich bin für Nachrüstung!« – oder lustvoll–ironisch wie die Parole: »Petting statt Pershing«. Bis heute entfalten auch manche Lieder, die damals die Friedenskultur prägten, einen gewissen Charme wie etwa »Ob wir rote Träume hegen« des ostfriesischen Liedermachers Manfred Jaspers (*1947). Daraus ein paar Zeilen: »Aber ob wir Bomben wollen / Die den Menschen töten sollen, Tausendfach und fast im Nu / Oder uns dagegen wehren Und für Frieden Hoffnung nähren / Das tut, das tut was dazu. Ob wir immer weiter hetzen / Säbel rasseln, Messer wetzen, In Gedanken schlagen zu / Oder ob wir uns vertrauen Und dem Nachbarn Brücken bauen / Das tut, das tut was dazu. Drum ihr Schwestern, drum ihr Brüder / Alle einer Menschheit Glieder, Was auch jeder von uns tu, / Laßt uns leben ohne Waffen, Laßt uns neuen Frieden schaffen / Tun wir, tun wir was dazu!«4

halten, die als ›Schlacht am Weserstadion‹ in Bremen in die Geschichte eingegangen ist. Dort sollte am 6. Mai 1980 ein ›Feierliches Gelöbnis‹ von 1.200 Rekruten begangen werden; es endete mit 257 verletzten Polizisten, drei verwundeten Soldaten und zahllosen verletzten Demonstranten. Das Ereignis hat eine literarische Würdigung durch Sven Regener (*1961) in »Neue Vahr Süd« (2004) erfahren. Der Roman ist auch als Hörbuch greifbar, auf ihm fußt zudem ein Film (2010). 3 Der Wissenschaftstheoretiker Wuketits (2012) benennt mehrere Mechanismen der Politisierung von Katastrophen – auch solchen, die nie eingetroffen sind – und deutet sie sozialpsychologisch als Lust an der Katastrophe. Er kritisiert die Katastropheninszenierung, weil die Gefahr bestehe, dass die geforderten Vorsorgemaßnahmen zur Verhinderung der Katastrophe zur Diktatur führen könnten. Der Psychoanalytiker Rost (2012) beschreibt apokalyptische Ängste als abgewehrte Schuldgefühle angesichts des eigenen Wohlergehens, zieht aber keine Linie zur Friedensbewegung der 1980er Jahre in Westeuropa und den Vereinigten Staaten von Amerika. 4 Verfügbar auf der Webseite ›Liederlexikon‹ unter http://www.liederlexikon.de/lieder/ ob_wir_rote_gelbe_kragen/editionh/ [07. 07. 2013].

Frieden von unten: Die Friedensbewegung der 1980er Jahre

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Bemerkenswert an dieser Friedensbewegung ist die Idee, dass das eigene Handeln wirkmächtig ist, dass jeder Einzelne etwas für eine friedlichere Welt ohne Atomwaffen tun kann. Indem die Kritiker des ›Nachrüstungsbeschlusses‹ der NATO sich regelmäßig in lokalen Gruppen versammelten – es gab kaum einen Ort in Westdeutschland, an dem die evangelische Kirchengemeinde keine Friedensgruppe in ihren Räumen beherbergte – vergewisserten sie sich ihrer Ideale und spornten sich gegenseitig zu weiteren Anstrengungen an. Neben den Ortsvereinen politischer Parteien und den traditionellen kirchlichen Frauengruppen entstand dadurch eine lokal und regional verankerte Friedenskultur, getragen von Menschen, die ihre Überzeugungen weder in den Parteien noch in den Kirchen adäquat vertreten sahen.

Zeitgeschichtliche Forschung noch am Anfang Singulär in der westdeutschen Geschichte steht diese Friedensbewegung wegen der unglaublichen Mobilisationskraft, die sie entfaltete. Sie war tatsächlich eine Massenbewegung. Und sie artikulierte sich keineswegs nur in Westdeutschland – sie war vielmehr charakteristisch für die Verhältnisse in ganz Westeuropa und in den Vereinigten Staaten von Amerika. Auch östlich des Eisernen Vorhangs gab es entsprechende Bewegungen, allerdings vorerst noch – wegen der Repressionsmaßnahmen der Staatsmacht – in schwächerem Ausmaß. Die Friedensbewegung vom Beginn der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts kann noch nicht als angemessen erforscht gelten – weder für ihre deutsche Ausprägung noch für andere Staaten, noch hinsichtlich der internationalen Verflechtungen (erste Studien in Becker-Schaum/Gassert/Klimke 2012; Lipp/Lütgemeier-Davin/Nehring 2010). Das ist nicht zuletzt der Schutzfrist der Archive geschuldet, die im Allgemeinen 30 Jahre beträgt. Während dieser Zeitspanne sind die einschlägigen Akten für die wissenschaftliche Forschung nicht freigegeben. Zudem sind bis heute viele Akten, die den Vermerk »Nuklear« tragen, auch weiterhin nicht für Wissenschaftler einsehbar. Allerdings sind für die in Frage stehende Zeit viele andere ›Quellen‹ – ein Terminus technicus der Historiker – uneingeschränkt zugänglich: wie etwa Zeitungs- und Zeitschriftenberichte, Erinnerungen und Autobiographien der Akteure, Reden der Politiker im Deutschen Bundestag, Reden der Friedensaktivisten auf den großen Kundgebungen, Zeugnisse aus Kunst, Film und Fernsehen, Literatur und Kabarett sowie vor allem eine breite, ungemein populäre Literatur zur Diskussion der damaligen deutschen und europäisch-transatlantischen Sicherheitspolitik. Ganze Buchreihen mit einheitlich rot-gelbem Cover entstanden, häufig bei rororo aktuell, die beispielsweise fragten »Zuviel Pazifismus?« (1981) und von bekannten

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Intellektuellen verfasst oder herausgegeben wurden5. Dazu kommt eine breite zeitgenössische sozial- und naturwissenschaftliche Literatur. Die Friedensbewegung der 1980er Jahre ist historisch in einen breiten Strom von Friedensbewegten und -bewegungen einzuordnen, der spätestens vom Mittelalter an in Europa wirksam war und schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland kämpfte (vergleiche Bald/Wette 2010, 2008). Man kann die Bewegung der 1980er Jahre ›Neue Friedensbewegung‹ im Unterschied zu den früheren Friedensbewegungen nennen. Bis zur Wahl Helmut Kohls (*1930, Bundeskanzler 1982 – 1998) zum Bundeskanzler, solange die Friedensbewegten noch hoffen konnten, die Stationierung von Pershing-II-Raketen in Deutschland zu verhindern, polarisierte die Nachrüstungsdiskussion die deutsche Gesellschaft. Gespalten waren alle Parteien, häufig standen deren Jugendorganisationen auf Seiten der Friedensbewegten. Allerdings offenbarte die Wahl zum 10. Deutschen Bundestag am 6. März 1983, dass die Friedensbewegung ihr Ziel nicht erreicht hatte, auch wenn erstmals als neue Partei DIE GRÜNEN auf Anhieb 28 Sitze errang. Wahlforscher sagen, dass die Friedensfrage nur wenig Einfluss auf die Wahlentscheidung der Wähler hatte6. Trotzdem mobilisierte die Friedensbewegung viele ältere und vor allem junge Menschen. Das war der Allgegenwärtigkeit des Zweiten Weltkrieges im sozialen und politischen Leben geschuldet – auch wenn das Gefühl realer Bedrohung ein Stück weit nachgelassen hatte, schließlich hatte der Kalte Krieg schon über 30 Jahre Frieden erhalten. Und vielfältige Bemühungen um Verständigung und Versöhnung mit den Nachbarvölkern hatten erste Wirkungen erzielt: Junge Deutsche und junge Franzosen begegneten sich seit 1963 im Deutsch-Französischen Jugendwerk; eine Kommission von Deutschen und Polen untersuchte seit 1972 die jeweiligen Schulbücher auf Verteufelung des Nachbarn hin. Diese letztgenannte Initiative sowie die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze waren Ergebnisse der ›Entspannungspolitik‹ von Willy Brandt (1913 – 1992, Vizekanzler einer CDU-SPD-Koalition 1966 – 1969 und Kanzler einer SPD-FDP-Koalition 1969 – 1974), die eine Vielzahl von Begegnungen in den zwischen Ost5 Bei dem genannten Titel waren neben anderen der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll (1917 – 1985), der Plakatkünstler Klaus Staeck (*1938), die Journalistin Carola Stern (1925 – 2006) und der Berliner Bürgermeister und Pfarrer Heinrich Albertz (1915 – 1993) beteiligt. 6 Rattinger/Heinlein (1986) haben festgestellt, dass die Mehrheit der Wähler in ihrer Wahlentscheidung nicht von der Friedensfrage geleitet war : »Über die Bundestagswahl vom März 1983 läßt sich ziemlich sicher sagen, daß die Nachrüstungsproblematik für die Stimmabgabe der meisten Wähler kaum eine Rolle spielte« (ebd.: S. 260). »Der Raketenwahlkampf ging etwas an dem vorbei, was die große Mehrheit der Bevölkerung wirklich beschäftigte« (ebd.: S. 261).

Frieden von unten: Die Friedensbewegung der 1980er Jahre

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und Westdeutschland zerrissenen Familien ermöglichte und kurz mit dem Slogan ›Wandel durch Annäherung‹ charakterisiert werden kann.

Der lange Schatten des Zweiten Weltkriegs Die Nachkriegszeit war auch in den 1970er und 1980er Jahren noch bestimmt vom Schatten des Zweiten Weltkrieges. Ein großer Teil der lebenden bundesdeutschen Bevölkerung hatte die Wirklichkeit des Krieges am eigenen Leibe erfahren. Etwa fünf Millionen tote Soldaten hatte der Zweite Weltkrieg auf der Seite der deutschen Angreifer gefordert; das heißt, dass fünf Millionen Söhne und Ehemänner ›vermisst‹ oder ›gefallen‹ waren – wie man damals noch sagte: ›im Dienst für Führer und Vaterland‹. Es gab kaum eine deutsche Familie, die nicht eines solchen ›Kriegshelden‹ zu gedenken hatte. Angesichts des Leids klangen die Worte der öffentlichen Erinnerung an den Gedenktagen sowohl in West- als auch in Ostdeutschland ziemlich hohl – und die Worte im Familiengedächtnis klangen jahrzehntelang unendlich traurig. 12 bis 14 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene waren in den ersten Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs auf der Suche nach einer neuen Heimat in den Westzonen (nur die französische Besatzungszone nahm keine Flüchtlinge oder Vertriebenen auf) und der sowjetisch besetzten Zone unterwegs. Bis zum Mauerbau 1961 flüchteten zudem 2,7 Millionen Menschen aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in den Westen. Sie alle hatten ihre Wohnung, ihr Haus, ihren Grund und Boden verlassen. Sie brauchten Arbeit, Wohnung und Essen. Unzählige Menschen waren ›ausgebombt‹ worden. Fast ein Viertel des gesamten Vorkriegsbestandes an Wohnungen war zerstört worden. Diese Zahlen vermitteln eine Botschaft: Ein großer Teil der Deutschen war betroffen vom Krieg. Man kann in Anlehnung an Alexander (1908 – 1982) und Margarete Mitscherlichs (1917 – 2012) Essays, veröffentlicht unter dem Titel »Die Unfähigkeit zu trauern« (1967), von einer traumatisierten Gesellschaft sprechen. Weil die Abwehr der Schuldgefühle noch groß war und die antisowjetische Propaganda in der Bundesrepublik Deutschland die Bedrohung durch die Rote Armee in Anlehnung an das zu Hitlers Zeiten geprägte Bild der Russen beschwor, fürchtete die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung vorläufig noch die Bedrohung aus dem Osten. Das änderte sich erst in den späten 70er und frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts7. Die Generation der Enkel der Kriegsteilnehmer wusste aus den Erzählungen der Großeltern und Eltern, was 7 Vergleiche den Abdruck von offiziellen Statistiken zum Bedrohungsempfinden der westdeutschen Bevölkerung bei Theiler (2007: 358 f.).

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Krieg für sie persönlich und die Familie bedeutet hatte und was zukünftiger Krieg bedeuten würde. Diese junge Generation wusste um die Wunden, die Krieg schlägt – sie war aber zugleich nicht mehr so direkt betroffen, dass sie sprachlos gewesen wäre. Familiäre Narrationen delegitimieren militärische Konfliktbearbeitung Ein Beispiel aus meiner eigenen Familiengeschichte soll diese These vom antikriegerischen Zusammenklang dreier Generationen – Großeltern, Eltern und Kinder– etwas anschaulicher machen: Meine Mutter erzählte mir immer wieder davon, wie Kassel im Zweiten Weltkrieg gebrannt hatte. Hier wurden Panzer und Flugzeugmotoren gebaut. Am 22. Oktober 1943 hatten 569 Bomber, in England gestartet, die ganze Stadt in Schutt und Asche gelegt. Weil die Altstadt aus Fachwerkhäusern bestand und gut brennen würde, galt die Rüstungsschmiede als besonders lohnendes Ziel. Meine Mutter war 13 Jahre alt, als der Himmel bis nach Hofgeismar, ihrer Heimatstadt, für Tage rot leuchtete. Sie erzählte mir, dass die verbrannten Menschen derart zusammengeschrumpft gewesen seien, dass ein Mensch in ein Spankörbchen passte. Und sie hätte auch Überlebende gesehen, denen die Haare auf dem Kopf und die Augenbrauen gefehlt hätten, die kaum bekleidet und stinkend in Hofgeismar angekommen seien. Kein Wunder, dass solche Geschichten bei mir großen Eindruck hinterließen. Besonders das Detail, dass erwachsene Menschen im Verbrennungsprozess derart schrumpfen, dass sie in einen solchen Korb passen, wie wir ihn zum Pilze sammeln im Wald benutzten, beschäftigte mich sehr. Wenn ich die grundsätzliche mentale Übereinstimmung dreier Generationen, der Erwachsenen im Dritten Reich, der Kinder im Dritten Reich und der Kinder der Nachkriegszeit herausgestellt habe – die zwei älteren Generationen hatten den Zweiten Weltkrieg als prägendes Ereignis in ihrem Leben erfahren – dann deshalb, weil die Friedensbewegung sich von der Bewegung der Achtundsechziger genau in diesem Punkt unterscheidet: Die jüngeren Menschen und die älteren engagierten sich miteinander, nicht wie damals gegeneinander. Dazu kommt die hohe Glaubwürdigkeit, die der Generation der Großeltern durch ihre lebensgeschichtlichen Erfahrungen als Zeugen von Krieg und Wiederbewaffnung zuwuchs. Plakate der Friedensbewegung bilden auffällig oft drei Generationen zusammen ab (Fahlenbach/Stepane 2012). Das stützt meine These, dass die Gemeinschaft aller Altersgruppen mit den intergenerationellen Narrationen ein wichtiger Baustein für das Verständnis der Anschlussfähigkeit der Friedensbewegung in allen Generationen in Westdeutschland ist. Interfamiliäre Narratio-

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nen boten den fruchtbaren Boden, auf dem die Bewegung keimen und wachsen konnte.

Das Auseinandertreten von familiären Narrationen und Sicherheitspolitik So wie in meinem Kinderleben, so war der Krieg in vielen Familien in Ost- und in Westdeutschland präsent – mit je eigenen Konnotationen, aber doch Generationen übergreifend – selbst wenn er in manchen Familien »kommunikativ beschwiegen« (Hermann Lübbe) wurde. Präsent waren im öffentlichen Leben auch die Truppen der Besatzer, Befreier und späteren Verbündeten in allen vier ›Zonen‹ in Deutschland. Jährlich wurden sowohl in Westdeutschland als auch in Ostdeutschland große Manöver abgehalten. Im Warschauer Pakt wurde sogar der Angriffskrieg gegen den Westen geprobt. Die Ingredienzen des Kalten Krieges waren im öffentlichen Leben unübersehbar. Angesichts der unbestreitbaren Schuld Hitler-Deutschlands am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und der diversen Maßnahmen zur ›Reeducation‹8 war die öffentliche Diskussion nicht, wie nach dem Ersten Weltkrieg, revanchistisch geprägt. ›Nie wieder Krieg‹ lautete die Parole, welche den Ton der öffentlichen Diskussion angab, auch wenn natürlich Soldatenverbände oder manche politische Partei sich für Ansehen und Renten früherer Soldaten einsetzten. Sogar Franz Josef Strauß (1915 – 1988), einer der einflussreichsten CSU-Politiker in den Nachkriegsjahrzehnten und von 1956 bis 1962 Verteidigungsminister, soll im Bundestagswahlkampf 1949 gesagt haben: »Wer noch einmal ein Gewehr in die Hand nehmen will, dem soll die Hand abfallen.« Die Präambel des Grundgesetzes, mit der das deutsche Volk sich verpflichtete dem »Frieden der Welt zu dienen«, konnte sich jeder westdeutsche Bürger zu eigen machen. Lange ruhten die Pläne für eine Wiederbewaffnung Westdeutschlands in den Schubladen der zuständigen Politiker. Erst 1956 wurden die Bundeswehr in Westdeutschland und die Nationale Volksarmee (NVA) in der DDR aufgestellt. Viele Deutsche auf beiden Seiten des ›Eisernen Vorhangs‹ akzeptierten nicht, dass es faktisch zwei Staaten auf deutschem Boden gab: Sie sprachen von ›Ostdeutschland‹ oder ›sowjetisch besetzter Zone‹ und forderten die Wiedervereinigung der beiden Teilstaaten bei westlicher Orientierung. Dass Krieg weiterhin zur Realität der Welt gehören würde, wurde mit dem Koreakrieg 8 Mit diesem Begriff werden hier zusammenfassend alle Maßnahmen zur mentalen Neuausrichtung der deutschen Bevölkerung bezeichnet. Genannt werden sollen hier beispielhaft nur einige grundlegende Publikationen, welche die Gebildeten über die Nazi-Barbarei aufklären sollten: Sternberger, Dolf / Storz, Gerhard / Süskind, Wilhelm E.: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Hamburg 1957. Klemperer, Victor : LTI. Lingua Tertii Imperii. Notizbuch eines Philologen. Berlin 1947. Kogon, Eugen: Der SS-Staat. München 1946.

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(1950 – 1953) erstmals augenfällig. Weitere sogenannte Stellvertreterkriege folgten. Als die Truppen des Warschauer Pakts im August 1968 den Prager Frühling platt walzten, fürchtete mancher Deutsche das Schlimmste. Für das Kriegsbild der Deutschen war am Ende der 1960er und am Beginn der 1970er Jahre aber vor allem der Vietnamkrieg wichtig, gegen den die politische Jugendbewegung, die Außerparlamentarische Opposition (APO), heftig protestierte. Konnte sich der Gedanke der Notwendigkeit einer Wiederbewaffnung noch in der west- wie der ostdeutschen Gesellschaft durchsetzen – jeweils musste der Systemfeind bekämpft werden – war es am Ende der 1970er Jahre in Westdeutschland nicht mehr so, dass die andere Seite als ›Feind‹ wahrgenommen worden wäre. Zu eng war der Kontakt und Austausch mit dem Osten geworden, zu attraktiv erschienen manchen Teilgruppen westdeutscher Bürger Aspekte des sozialistischen Experiments. Die Bezogenheit der ost- und der westdeutschen Gesellschaften und Kulturen auf die jeweils andere Seite – man kann von zwei ›Referenzsystemen‹ sprechen – war durch die zurückliegende Politik der Entspannung schon weit vorangeschritten. Bürger in beiden Systemen maßen ihre Lebenserfahrungen an dem, was sie von der anderen Seite im persönlichen Austausch hörten oder im Fernsehen sahen. Nach den Erfahrungen mit der Entspannungspolitik Brandts war die Idee, die eigene Sicherheit durch Rüstungsanstrengungen zu verbessern, in der westdeutschen Gesellschaft und kleineren Teilen der ostdeutschen Gesellschaft nicht mehr vermittelbar. In diese gesellschaftliche Bewusstseinslage schlug die Bekanntgabe von Plänen zur Stationierung von neuen nuklearen Mittelstreckenraketen in Europa wie ein Blitz ein. Ende der 1970er Jahre wurde zunächst bekannt, dass die Sowjetunion eine solche Stationierung vorbereitete. In die Reichweite der neuen russischen Raketen fiel ganz Westeuropa. Jede Rakete konnte drei Sprengköpfe tragen – ein Abschuss konnte also zugleich Hamburg, Köln und Frankfurt zerstören. Die Raketen waren zielgenauer als ihre Vorgängermodelle, sie waren mobil und brauchten bis zum Zieleinschlag nur 15 Minuten. Der davon ausgehenden Gefahr wollten die westlichen Staatsmänner entgegenwirken. Die NATOStaaten reagierten mit dem sogenannten Doppelbeschluss von 1979. Verknüpft wurde dabei (deshalb heißt der NATO-Beschluss ›Doppelbeschluss‹) die Modernisierung des westlichen Arsenals an nuklearen Mittelstreckenraketen in Europa mit dem Angebot, die Raketenrüstung beiderseitig zu begrenzen (Albert/Niedhart 1993). Allerdings ergibt sich aus den bisher verknüpften Perspektiven der familiären, der gesellschaftlichen und der politischen Geschichte ein Problem: Wie stimmen die ›politischen‹ und ›familiären‹ Narrationen zusammen? Zwischen der Politik derer ›da oben‹ und den erfahrungsgesättigten Überzeugungen der Menschen ›unten‹ gab es hinsichtlich der Beurteilung von Krieg und Frieden Bruchstellen. Die anwachsende militärkritische Haltung breiter westdeutscher

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Bevölkerungskreise in den 1970er und 1980er Jahren lässt sich beispielsweise ablesen an der wachsenden Zahl der Wehrdienst- beziehungsweise – wie es zu delegitimierenden Zwecken hieß – Kriegsdienstverweigerer. Von immer mehr jungen Männern wurde dieses Grundrecht in Anspruch genommen9.

Abbildung: Kriegsdienstverweigerung in der Langzeitperspektive Quelle: Spiegel 1993/2

Eine ähnliche ›mentale Differenz‹ zwischen der Ebene der Politik und den Bürgern ist auch in der DDR zu beobachten. Vor allem unter dem Dach von evangelischen Kirchengemeinden bildete sich eine Friedensbewegung mit zahlreichen Friedensgruppen heraus, die im Unterschied zu der Friedensbewegung im Westen auch die Beachtung der Bürgerrechte in der DDR einforderte. Die Zahl der Bausoldaten – Soldaten, die zwar keinen Dienst an der Waffe, aber in Uniform Aufbauarbeit für den Sozialismus leisten mussten – nahm ständig zu. Das Recht auf einen Ersatzdienst als Bausoldat gab es in der DDR erst von 1964 an. Die Existenz dieser Möglichkeit wurde den Bürgern jedoch verschwiegen, das einschlägige Gesetzesblatt war ›zufällig‹ immer vergriffen. Trotzdem gab es mit den Jahren immer mehr solche Verweigerer des sogenannten nationalen Ehrendienstes in der NVA, denn die evangelischen Jugendpfarrer verbreiteten das Wissen um diese Möglichkeit. Allein zwischen 1962 und 1964 konnten 1.500 Wehrdienstverweigerer gezählt werden (Wenzke 2013: 337). Sie wurden zur »Basis einer staatlich unabhängigen Friedensbewegung« und »Quelle des politischen Widerstands und der späteren Opposition« (ebd.: 341). Schon 1965 behaupteten ostdeutsche Kirchenvertreter, dass diejenigen, die als Bausoldaten den Dienst mit der Waffe für den Sozialismus ablehnten, ein ›deutlicheres Zeichen‹ für Christi versöhnende Wirklichkeit in der Welt ablegten als diejenigen, die den Dienst an der Waffe leisteten. Und: Wie im Westen gab es auch im Osten 9 In der Bundesrepublik Deutschland ist das Recht auf Verweigerung des Dienstes an der Waffe seit 1949 im Grundgesetz (Art. 4.3) als Grundrecht garantiert. »Niemand darf gegen sein Gewissen zum Dienst mit der Waffe gezwungen werden.«

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Totalverweigerer, die in beiden deutschen Staaten mit Gefängnis bestraft wurden. Selbst einige der unter Zensurdruck stehenden DDR-Künstler griffen das Thema auf, nicht nur solche, die ausgewiesen wurden wie Wolf Biermann (*1936, ausgebürgert 1976) oder Nina Hagen (*1955, ausgebürgert 1976). Sogar die in der DDR sehr populäre Klaus-Renft-Combo trug den Fragen vieler Jugendlicher Rechnung, wenn sie sang (was ihr allerdings nur einmal öffentlich gelang): »Du, woran glaubt der, der zur Fahne geht, Ruhm der Fahne schwört, dabei stramm steht. Du, woran glaubt der, der nicht anlegt, der als Fahne vor sich her einen Spaten trägt. Du, woran glaubt der, der in’n Kahn geht und den Hintern quer zur Fahn’ dreht, und den Hintern quer zur Fahn’ dreht« (Glaubensfragen, 1975)10.

Natürlich wurde dieses Lied, das die Bausoldaten und die Totalverweigerer von den NVA-Soldaten unterschied, verboten – der Sänger kam in ein Stasigefängnis. Aber trotz aller Repression: Auch in der DDR gab es eine Friedensbewegung, allerdings unter den realsozialistischen Bedingungen mit einer sehr viel schmaleren sozialen Basis. Allein die evangelische Kirche war dort überhaupt kampagnenfähig, weil allein sie über Räumlichkeiten und Matrizenabzugsgeräte verfügte. Konzentrierten sich die Friedensarbeiter aus der evangelischen Jugendarbeit zuerst auf Werbung für und Unterstützung von Bausoldaten (im Sozialismus sollte jeder Wehrdienst leisten), so gewann die Bewegung durch Ablehnung des 1978 eingeführten Wehrkundeunterrichts an Profil.

1981 – Massenproteste in Westeuropa und in den USA Die wachsende Angst vor einem Nuklearkrieg in Europa einerseits und die abnehmende Akzeptanz der NATO-Politik andererseits führten zu Massenprotesten in Westeuropa. Am 10. Oktober 1981 demonstrierten 300.000 Menschen in Bonn auf dem Hofgarten. Weitere Großdemonstrationen folgten in Bonn am 10. Juni 1982 und am 22. Oktober 1983 (vergleiche Geiges 2012). Im Hyde Park in London waren es 250.000, in Amsterdam 400.000, in Brüssel 200.000, in Rom 500.000 Menschen, die sich an Großdemonstrationen beteiligten. Auch in New York wurde protestiert: im Juni 1982 von einer knappen Million. Verantwortlich waren für die Stationierungsentscheidung der westdeutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt (*1918, vergleiche: Wiegrefe 1993; Bald 2008), der amerikanische Präsident Jimmy Carter (*1924, Präsident 1977 – 1981), der französische 10 Der Liedtext ist im Internet verfügbar unter : http://www.renft.de/pages/texte/glaubens fragen.php [07. 07. 2013].

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Präsident Val¦ry Giscard d’Estaing (*1926, Staatspräsident 1974 – 1981) und der britische Premierminister James Callaghan (1912 – 2005, Premierminister 1976 – 1979). Der Sozialdemokrat Helmut Schmidt wurde 1982 durch ein konstruktives Misstrauensvotum von dem Christdemokraten Helmut Kohl abgelöst, der 1983 bei der Bundestagswahl knapp bestätigt wurde und sich immer für die Raketenstationierung ausgesprochen hatte. Auch alle anderen der genannten Politiker verloren ihre Ämter. Deren Nachfolger exekutierten die Stationierungsentscheidungen ohne Rücksicht auf Proteste. Zum ersten Mal gelang der Friedensbewegung eine Massenmobilisierung beim Hamburger Kirchentag, der vom 17. bis 21. Juni 1981 unter dem Motto ›Fürchtet euch nicht‹ stattfand. Bei der Abschlussdemonstration, die bezeichnenderweise unter dem Motto stand ›Fürchtet euch‹, skandierten die Demonstranten: »Es ist besser unsere Jugend besetzt leerstehende Häuser als fremde Länder«, »Ene mene miste, die Pershing in die Kiste«, oder, ganz einfach, »Hopp, hopp, hopp, Atomraketen stopp« (Hamburger Zeitung »Morgenpost«, 22. Juni 1981). Während der vorausgegangenen Veranstaltungen in den Messehallen hatten vor allem die angereisten Politiker aus der Bundesregierung unter Druck gestanden. Über den sozialdemokratischen Verteidigungsminister Hans Apel (1932 – 2011, Verteidigungsminister 1978 – 1982) hieß es bei den Kirchentagsbesuchern, er wolle aus ›Mitteleuropa ein atomares Schlachtfeld und am Ende 100 Millionen Tote‹ machen, obwohl er zu den sogenannten ›weißen Jahrgängen‹ (kein Wehrdienst in Wehrmacht oder Bundeswehr wegen des Geburtsjahres) gehörte und gewiss kein Militarist war. Um ihn am Reden zu hindern, sollten Sirenen, ›Friedens-Posaunen‹, Choräle und Weihnachtslieder ertönen; wenn er das Wort ›Frieden‹ aussprach, wollten sich die Demonstranten flach auf den Boden der Messehalle werfen. Die Parole gegen ihn lautete: ›Der Apel ist ein Hampelmann und der Reagan zieht daran‹. Die Stimmung in den Bevölkerungen der westeuropäischen Länder war beherrscht von der Diskussion der ›Rüstungsspirale‹ – also der Idee, dass ein Wettrüsten zwischen Ost und West in Gang war und sich noch verstärkte, das sich letztlich in der atomaren Vernichtung Mitteleuropas entladen könnte. Während die Befürworter des Nachrüstungsbeschlusses argumentierten, dass die Nachrüstung rational sei, weil sie eine Sicherheitslücke schließe und den Warschauer Pakt zuverlässig von Angriffen abhalte, argumentierten die Gegner des Nachrüstungsbeschlusses, ein einseitig erbrachter Vertrauensvorschuss des Westens würde die Sowjetunion zur Abrüstung ihrer eigenen Waffenarsenale ermuntern und die eigene Glaubwürdigkeit bei den Abrüstungsverhandlungen erhöhen. Interessant an dieser Argumentation ist der Gedanke eines einseitigen Vorschusses an Vertrauen in die andere Seite. Mehr Sicherheit sollte dadurch gewonnen werden, dass man auf die Intensivierung von Abschreckungsmaßnahmen verzichtete.

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Im Januar 1981 ließ das Ministerium für Staatssicherheit der DDR der Wochenzeitschrift ›Stern‹ anlässlich der Amtseinführung von Ronald Reagan (1911 – 2004, US–Präsident von 1981 – 1989) eine Liste zukommen, wo sich in Westdeutschland schon Atomsprengköpfe befanden. Es gab, das wird hier offensichtlich, mehrfach eine untergründige Zusammenarbeit zwischen Menschen aus der DDR und der BRD, es gab Spionage und Geheimnisverrat. Es ist nicht immer deutlich, wer aus welchen Motiven gehandelt hat. Sicher war den Menschen auf beiden Seiten klar, dass ein Atomkrieg alle töten würde. Niemand konnte sagen, es engagierten sich in der Friedensbewegung nur ein paar Kryptokommunisten, die dem Osten den Weg in den Westen bereiten wollten, auch wenn Willy Brandt tatsächlich die Kanzlerschaft an Schmidt abgeben musste, weil der DDR-Spion Günter Guillaume (1927 – 1995) es bis zu seinem Berater gebracht hatte. Die ost- und die westdeutsche Gesellschaft waren einander ›Referenzgesellschaften‹, ihre Staaten ›Referenzstaaten‹. ›Geh‹ doch nach drüben!‹, hieß es häufig zu jemanden, der den Doppelbeschluss und die bundesrepublikanischen Verhältnisse kritisierte. Die DDR-Regierung ihrerseits sperrte Regimegegner ein oder wies sie aus. Den ›Krefelder Appell‹ unterschrieben in Westdeutschland mehr als vier Millionen Menschen. Hauptautor war nach seiner eigenen Auskunft General Gert Bastian (1923 – 1992). Dieser war gerade aus Protest gegen die Nachrüstungspolitik aus der Bundeswehr ausgeschieden. Bis heute wird behauptet, dass der ›Krefelder Appell‹ sowie weite Teile der Friedensbewegung überhaupt, von kommunistischen Gruppen initiiert und gesteuert worden seien. Tatsächlich aber war diese Steuerung ein ›Fehlkalkül‹, denn die friedensbewegten Menschen waren von Herkunft und Überzeugungen her sehr unterschiedlich; sie ließen sich nicht wie eine kommunistische Partei auf Linie trimmen (Walter 2012). Im ›Krefelder Appell‹ hieß es: »Alle Mitbürgerinnen und Mitbürger werden […] aufgerufen, diesen Appell zu unterstützen, um durch unablässigen und wachsenden Druck der öffentlichen Meinung eine Sicherheitspolitik zu erzwingen, die – eine Aufrüstung Mitteleuropas zur nuklearen Waffenplattform der USA nicht zulässt, – Abrüstung für wichtiger hält als Abschreckung und die Entwicklung der Bundeswehr an dieser Zielsetzung orientiert.«

Voraussetzung für diesen hohen Mobilisierungsgrad war die seit 1968 entstandene alternative Infrastruktur, getragen von der Anti-AKW-, der Ökologie- und der Frauenbewegung, zu der auch diverse linksalternative Gruppen zählten. Sie schlossen sich zu dem einen Ziel zusammen: die Stationierung neuer Raketen im Westen zu verhindern. Deshalb nennt man die Neue Friedensbewegung eine ›Ein-Punkt-Bewegung‹. Von Bedeutung für die Mobilisierung war auch die Existenz von Friedens-

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forschungsinstituten wie etwa die ›Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung‹ in Frankfurt am Main (HSFK, 1970 gegründet) und das ›Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg‹ (IFSH, 1971 gegründet, vergleiche Brzoska 2011). Schon früher, in den Jahren 1957/58 während der ersten Anti-Atomkrieg-Bewegung, war die ›Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft‹ (FEST) in Heidelberg gegründet worden. Zahlreiche Liedermacher und Aktionskünstler prägten die Szene mit Wortwitz und eingängigen Rhythmen. Der bekannte und vielseitige Künstler Joseph Beuys (1921 – 1986) dichtete beispielsweise 1982 einen Hit, der ›Sonne statt Reagan‹ hieß und die ›Politik der Stärke‹ des amerikanischen Präsidenten Reagan kritisierte. Aber auch jeder andere konnte sich als Aktivist fühlen: Ein selbstgemaltes Plakat am Kinderwagen, eine Pershing aus Pappmache auf dem Autodach – das waren weit verbreitete Protestformen. Wer minimalen Aufwand einbringen, aber maximalen Ertrag erzielen wollte, der erklärte seine Wohnung oder sein Haus zur ›atomwaffenfreien Zone‹ durch einen Aufkleber an der Klingel oder ein Schild im Vorgarten. ›Entrüstet Euch!‹ konnte man auch auf die Schilder schreiben – und die Doppeldeutigkeit der Aufforderung war durchaus intendiert. Wichtig dürfte auch gewesen sein, dass herausgehobene Protagonisten der Friedensbewegung internationale Erfahrungen hatten: die deutsch-amerikanische Friedensaktivistin und Galionsfigur der Grünen, Petra Kelly (1947 – 1992), und die in den Vereinigten Staaten von Amerika, am ›Union Theological Seminary‹ in New York lehrende Theologin Dorothee Sölle (1929 – 2003) oder der Berliner sozialistische Theologe Helmut Gollwitzer (1908 – 1993), der schon in den 1950er Jahren gegen die Wiederbewaffnung protestiert hatte, ebenso wie der in engem Kontakt mit den Spitzenmilitärs der NATO-Mitgliedsstaaten stehende General Bastian, der auch versuchte, eine Friedensgruppe von NATO-Generälen zu gründen11. Und nicht zuletzt: Wichtige gesellschaftliche Gruppen brachten ihren Sachverstand ein. Naturwissenschaftler gründeten Friedensgruppen, die Ärzte gegen Atomkrieg verabschiedeten Appelle und Resolutionen, Informatiker gründeten ein ›Forum für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung‹12. Auch viele Prominente aus der Wissenschaft engagierten sich: Zum Beispiel am 1. September 1983 (in Erinnerung an Hitlers Überfall auf Polen) mit einer Sitzblo11 Die erste Analyse transnationaler Netzwerke wichtiger Protagonisten der Friedensbewegung und transnationaler Organisationen stammt von Holger Nehring (2012). Die Jahrestagung des ›Arbeitskreises Historische Friedensforschung‹ 2013 wird sich im Oktober in Hamburg unter dem Titel »Gespannte Verhältnisse – Frieden und Protest in Europa in den 1970er und 1980er Jahren« den internationalen Verbindungen der Friedensbewegung widmen. 12 Die unterschiedlichen Gruppen werden in der Dissertation von Corinna Hauswedell (1997) vorgestellt.

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ckade vor dem amerikanischen Raketenlager Mutlangen. Von Roman Herzog (*1934), dem damaligen Innenminister von Baden-Württemberg und späteren Bundespräsidenten (1994 – 1999), ist der Ausspruch überliefert: »Ich werde der Weltpresse doch nicht das Schauspiel bieten, den Nobelpreisträger Böll von der Straße tragen zu lassen.« Ganz besonders aktiv waren viele Mitglieder und Pfarrer der evangelischen Kirche, sie bildeten einen besonderen Nähr- und Resonanzboden für die Friedensbewegung, weil sie deren Thema mit ihrer eigenen Friedensbotschaft vom Friedensgott verknüpfen konnten. Gott habe den Deutschen die Waffen aus der Hand geschlagen – das habe die Niederlage nach dem ungerechten Zweiten Weltkrieg (so schon Gustav Heinemann in den 1950er Jahren) gezeigt. Jetzt müsse man den Anfängen zum Kriege wehren und in den Spuren der Bergpredigt Jesu wandeln (Wiechmann 2011). Der Hamburger Kirchentag des Jahres 1981 gab dieser Bewegung erstmals Gesicht und Gewicht. Und das »Heidelberger Friedensmemorandum« aus der schon erwähnten FEST formulierte, dass eine »Abschreckung, die auf der Drohung mit dem Einsatz von Kernwaffen beruht, […] wegen ihrer Widersprüchlichkeit keine dauerhafte Stabilität« garantieren könne (1983, These 5). Die Logik der Abschreckung wird hier empirisch und ethisch delegitimiert. Von jetzt an sollte der Leitsatz verantwortungsvoller Politik nicht mehr lauten: ›Si vis pacem para bellum – wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor‹, sondern: Frieden kann nur durch friedensförderliches Handeln, durch die Herstellung von Vertrauen auf beiden Seiten, vorbereitet werden. 1983, seit auf dem Wittenberger Kirchentag13 ein Schmied ein Schwert zu einer Sichel umgeschmiedet hatte, wurde das Logo ›Schwerter zu Pflugscharen‹ populär und zum Inbegriff nicht nur des Friedenswunsches, sondern auch der Kritik an mangelnder Demokratie in der DDR (Eckert 2012). Über den Ökumenischen Rat der Kirchen wirkten die Protestanten aus der DDR weit in die westliche kirchliche Friedensbewegung hinein. Auf vielen Kundgebungen in Westdeutschland sprachen in den 1980er Jahren auch Theologen aus der DDR. Daraus ergibt sich die Erkenntnis: Die Friedensbewegung spannte ein Netzwerk über die Staaten und die Machtblöcke hinweg. Wichtige Protagonisten in diesem Netzwerk waren Vertreter der Kirchen, die mehr Reisefreiheit als andere Bürger der DDR genossen.

13 Die Lutherstadt Wittenberg liegt in Ostdeutschland.

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Geschichtliche Beurteilung Seit Mitte der 1980er Jahre hat die Beschäftigung mit sicherheits- und außenpolitischen Fragen niemals mehr dieselbe Bedeutung erlangt wie damals, als Frieden von den Menschen ›unten‹ durch einseitige Schritte zur Abrüstung gefordert wurde. Hier liegt meines Erachtens das Besondere der damaligen Friedensbewegung: Ihre Vertreter forderten den Ausstieg aus der politischen Logik der Kombination von nuklearer Abschreckung und nuklearer Rüstungskontrolle. Sie forderten von den Politikern ihres Landes einseitige Vorleistungen, Vertrauensvorschuss – und sie waren ganz sicher, dass das nicht der ›Ausverkauf des Westens‹ sein würde. Umstritten ist in der Geschichtswissenschaft und bei den Politologen, welche Bedeutung der NATO-Doppelbeschluss und die Friedensbewegung für den weiteren Verlauf der Geschichte bis hin zur Wiedervereinigung Deutschlands und die Auflösung der Sowjetunion hatten. Diskutiert wird, ob und bis zu welchem Grade die ›harte Haltung‹ der NATO einen Beitrag (möglicherweise sogar den entscheidenden Beitrag) dazu leistete, dass der Kalte Krieg überwunden beziehungsweise von der Sowjetunion ›verloren‹ wurde. Gegen diese Sichtweise kann eingewendet werden, dass gerade die Friedensbewegung half, Vertrauen zwischen den aufgerüsteten Militärblöcken zu bilden, was dann Michail Gorbatschow (*1931) das Einlenken erlaubte. Insgeheim gab es Zusammenarbeit zwischen Ost und West, jeweils mit der Idee, den anderen Staat im eigenen Sinne zu beeinflussen. Aber ist es überhaupt sinnvoll, mit den Kategorien von Sieg und Niederlage, von Erfolg oder Misserfolg zu arbeiten? Sind diese Kategorien nicht mehr der zeitgenössischen Kampfstimmung verpflichtet als der historischen Wirklichkeit? Vielleicht müsste man aus heutiger Perspektive sagen: Gerade beides, die harte Haltung der Politiker, die sogar ihre Ämter für die Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses zur Disposition stellten, und die Friedensbewegung mit ihren vielfältigen Kontakten zwischen Ost und West haben die Verhältnisse verändert. Es gilt als gesichert, dass die sowjetische Führung auch deshalb einlenkte, weil sie die enorm hohen Kosten der Hochrüstung nicht mehr aufbringen konnte. Am 22. November 1983, wenige Tage nach der Wahl Kohls, stimmte der Deutsche Bundestag der Stationierung von nuklearen Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles zu und am Tag darauf begannen die Arbeiten dafür. Zugleich brach die UdSSR die Genfer Abrüstungsverhandlungen ab. Bis 1986 wurden 64 der geplanten 96 Cruise Missiles im Hunsrück und 108 Pershing-II-Raketen, vor allem in Baden-Württemberg, stationiert. 1988 begann der Rückbau, nachdem Reagan und Gorbatschow am 8. Dezember 1987 einen Vertrag zur Abschaffung

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aller Raketen mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometer ausgehandelt hatten. 1983 hat die Friedensbewegung ihr Ziel nicht erreicht. Als 1985 in der UdSSR Gorbatschow an die Macht kam, zeichnete sich ein Ende des Blockantagonismus und des Wettrüstens ab. Seitdem ist das Bewusstsein der atomaren Bedrohung aus den Köpfen sowie aus der politischen Diskussion weitgehend verschwunden, obwohl die Welt noch immer voller Atomwaffen ist. Das Vertrauensparadigma, das für die Friedensbewegung von großer Bedeutung war, ist durch ein Sicherheitsparadigma verdrängt worden. Und ›Krieg‹ ist auch in der Bundesrepublik Deutschland erneut zu einer Möglichkeit politischen Handelns geworden, verbunden mit der Vorstellung, man könne seine zerstörerischen Wirkungen auf weit entfernte Weltregionen beschränken. Die einstige Friedenspartei DIE GRÜNEN war in einer rot-grünen Bundesregierung im Jahr 1999 für den ersten (völkerrechtlich umstrittenen) Kriegseinsatz der deutschen Geschichte – im Rahmen eines Systems gegenseitiger und kollektiver Sicherheit – nach Ende des Zweiten Weltkriegs mitverantwortlich: den Kosovo-Krieg. Überwiegend wurde die Intervention von den verantwortenden Politikern als ›humanitäre Intervention‹ bezeichnet. Zurück zur Friedensbewegung der 1980er Jahre: Der Minimalkonsens der heterogenen Bewegung locker assoziierter Friedensbewegter in der Bundesrepublik Deutschland lag in dem Versuch der Verhinderung der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenwaffen. Die Forschung unterscheidet drei Richtungen, die sich in dieser ›Ein–Punkt–Bewegung‹ zusammenfanden und nach der Wahl Kohls wieder voneinander entfernten: die kirchlich–pazifistische, die linke und grüne und die kommunistische, deren Gruppierungen stark unter dem Einfluss der DDR standen14. Insgesamt konnte diese Bewegung gegen die Stationierung einer neuen Generation von atomar bestückten Raketen Einfluss gewinnen: – durch ihre Offenheit für die Beteiligung eines Jeden auf seine je eigene Weise, – durch ihre lokale Verankerung und überregionale Aktionen mit großer Fernsehtauglichkeit, – durch die Einheit von Wissenschaft, Kunst und Bauch im Rahmen einer Friedenskultur, – durch eine internationale Vernetzung, – vor allem aber durch die Problematisierung des traditionellen Konzepts von Sicherheit durch Rüstung.

14 Richter unterscheidet »Christen, Unabhängige, Linke/das von der DDR heimlich unterstützte KOFAZ-Spektrum (Komitee für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit), Sozialdemokraten und Grüne/Alternative sowie sonstige Gruppen« (2012: 184).

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Fragen zum Weiterdenken Was erzählen Ihre Eltern und Großeltern über Krieg und Frieden, über die Friedensbewegung der 1980er Jahre und die sicherheitspolitische Wende der 1990er Jahre? Und was können Sie über die Geschichte Ihrer Heimatregion während des Kalten Krieges herausfinden? Ist die (mangelnde) Zustimmung der Deutschen zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr als Spätfolge der Friedensbewegung zu interpretieren?

Leseempfehlungen Dörfler-Dierken, Angelika: Die Bedeutung der Jahre 1968 und 1981 für die Bundeswehr. Gesellschaft und Bundeswehr : Integration oder Abschottung. (Militär und Sozialwissenschaften 44) Baden-Baden 2010. Naumann, Klaus (Hg.): Nachkrieg in Deutschland. Hamburg 2001, S. 267 – 318. Silomon, Anke: »Schwerter zu Pflugscharen« und die DDR. Die Friedensarbeit der evangelischen Kirchen in der DDR im Rahmen der Friedensdekaden 1980 bis 1982. Göttingen 1999. Wette, Wolfram (2008): »Eine stille Revolution – Deutschlands Weg vom Militarismus zur zivilen Gesellschaft«, in: Budzinski, M. (Hg.): Das Maß des Friedens ist der Frieden selbst. Konstruktiver Pazifismus im 21. Jahrhundert. Bad Boll 2008, S. 14 – 38.

Zahlreiche Quellen sind in folgenden Spezialbibliotheken zugänglich: Dokumentensammlung zum gewaltfreien Widerstand, Arche Aktiv, Normannenweg 17, 20537 Hamburg. Sammelgebiet Friedens- und Konfliktforschung der Staats- und Universitätsbibliothek, Hamburg.

Literatur Albert, Reiner / Niedhart, Gottfried: »Vom System- zum Machtkonflikt: Die Sowjetunion in der westdeutschen Bedrohungswahrnehmung«, in: Sywottek, A. (Hg.): Der Kalte Krieg – Vorspiel zum Frieden. Münster 1993, S. 69 – 88. Bald, Detlef / Wette, Wolfram (Hg.): Friedensinitiativen in der Frühzeit des Kalten Krieges. 1945 – 1955. (Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung 17) Bremen 2010. Bald, Detlef / Wette, Wolfram (Hg.): Alternativen zur Wiederbewaffnung. Friedenskonzeptionen in Westdeutschland 1945 – 1955. (Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung 11) Bremen 2008.

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Angelika Dörfler-Dierken

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Frieden von unten: Die Friedensbewegung der 1980er Jahre

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Hartwig Spitzer

Von der Atomkriegsangst zur professionellen Friedensforschung und -lehre: Friedensengagement von Naturwissenschaftlern in Hamburg

Mut zum Umdenken »Stell Dir vor, es ist Frieden und alle machen mit.«

»Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.« Das war einer der Sprüche der Friedensbewegung der 1980er Jahre. Es war ein Spruch, der die Logik des normalen Denkens durchbrach. Wenn Krieg ist, sind natürlich Menschen mittendrin. Menschen haben ihn vorbereitet, Menschen wollen politisches Kapital daraus schlagen oder schlichtweg Profit mit dem Krieg machen. Menschen werden als Feinde aufgebaut, um die eigenen Reihen zu mobilisieren. Menschen werden Kriegsopfer. Mut zum Umdenken war damals am Ende der 1970er Jahre nötig. Die Stimmung in der bundesdeutschen Bevölkerung, insbesondere bei der jungen Generation, war alles andere als rosig. Die Jahre der Vollbeschäftigung in den 1960er und frühen 1970er Jahren lagen weit zurück. Zwei Ölpreissprünge hatten zu wirtschaftlichen Einbrüchen geführt1. Das tödliche Ende der Geiselnahme während der Münchener Olympiade von 1972 und die Attentate durch die Baader-Meinhof-Gruppe hatten zu einer von Politik und Medien geschürten Terrorangst und harten staatlichen Reaktionen geführt. Die Aufbruchsstimmung der Studentenbewegung von 1968 war verflogen. Zukunftsangst machte sich breit. ›No Future‹ war eine der Parolen bei jungen Leuten. Es gab Parallelen zu heute. Der NATO-Beschluss vom 12. Dezember 1979 zur Stationierung neuer nuklearer Mittelstreckenraketen in Europa löste dann ein Erwachen und Umdenken aus. Er brachte größeren Teilen der Bevölkerung ins Bewusstsein, was schon länger im Gange war : das nukleare Wettrüsten zwischen den USA und der 1 Der Rohölpreis stieg 1973 nach dem israelisch-arabischen Yom-Kippur-Krieg auf das Dreifache.

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Sowjetunion. Die Militärs beider Seiten bereiteten sich auf einen großen Krieg mit nuklearen, chemischen und konventionellen Waffen vor und übten ihn in groß angelegten Manövern, auch wenn er politisch und militärisch nicht gewollt war. Die führenden Politiker und Militärplaner der USA und der Sowjetunion sowie ihrer Verbündeten hielten sich an die alte römische Devise ›Si vis pacem para bellum – wenn du den Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor‹. Dieser Logik haben sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Rahmen der Friedensbewegung entzogen. Dieser Beitrag soll zeigen, wie sich Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler in Hamburg etwa ab 1983 gegen die Hochrüstung und für Rüstungskontrolle, Abrüstung und Verständigung zwischen Ost und West engagiert haben. Wer waren die Akteure, was hat sie bewegt, in welchem Maße waren sie erfolgreich? Was ist davon geblieben? Lässt sich etwas daraus lernen für die heutige, deutlich komplexere Weltlage? Die Geschichte der Naturwissenschaftler-Friedensbewegung in Hamburg ist kein Heldenepos. Es waren immer nur Minderheiten, die sich engagiert und positioniert haben: damals in den 1980er Jahren etwa hundert Personen, heute deutlich weniger. Aber es ist gelungen, die naturwissenschaftliche Friedensforschung und -lehre in der Universität und am ›Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik‹ (IFSH) zu verankern. Es gibt Zuspruch von Studierenden, die über den Tellerrand hinausgucken und sich engagieren wollen. Es gibt eine stetige Nachfrage nach Hamburger Expertise aus Politik und Medien. Das ist ein Tropfen auf dem heißen Stein. Aber ohne diesen Tropfen wären Hamburg und die Republik ärmer. Am Anfang war das Erschrecken Im Winter 1981 war eine Gruppe von Stipendiatinnen und Stipendiaten des Evangelischen Studienwerks bei mir zuhause zu Gast. Holger Hoffmann, ein Physikstudent, hatte darauf gedrungen, einen Text von Edward P. Thomson, »Exterminismus als letztes Stadium der Zivilisation«, zu besprechen (1980)2. Der Artikel wies zunächst auf die wachsende Overkill–Kapazität durch Kernwaffen hin. Die USA und UdSSR verfügten im Jahr 1979 über 14.200 nukleare Sprengköpfe auf weitreichenden, sogenannten strategischen Trägersystemen3. In dem Beitrag hieß es: »Die 2 Thomson, Edward P.: »Exterminismus als letztes Stadium der Zivilisation«, in: »Die Befreiung« (1980), übersetzt aus New Left Review, Nr. 21. Kopie im Archiv des Autors. Vergleiche auch New Left Review (Ed.), Exterminism and Cold War, Verio Editions London, 1982. Hierin speziell der Beitrag von Edward Thomson: »Notes on Exterminism, the Last Stage of Civilization«. 3 Unter Einschluss der sogenannten taktischen Atomwaffen (mit kurzer Reichweite) verfügten die USA und die Sowjetunion 1985 insgesamt über circa 50.000 Atomsprengköpfe. Jeder Sprengkopf – ein potentielles Hiroshima. Der amerikanische Physiker Frank von Hippel brachte das beim Moscow International Forum »For Nuclear Free World, For Survival of

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heutige Militärtechnologie löscht jedes Element von »Politik« aus. Ein auf Ausrottung gerichtetes System steht dem anderen gegenüber, und der entscheidende Vorgang wird der Logik des Vorteils folgen – innerhalb der Parameter der Ausrottung.« Ich war schockiert und fühlte mich bei einem Trugschluss ertappt. Bis in die 1970er Jahre war ich selbst, wie viele andere auch, von der Tragfähigkeit der gegenseitigen Abschreckung überzeugt gewesen. Die beiden nuklear hoch gerüsteten Großmächte, die USA und UdSSR, verfügten über genügend Zweitschlagskapazität, um der anderen Seite nach deren etwaigem Angriff einen verheerenden Schaden zuzufügen. Auf Englisch sprach man von der Doktrin der Mutual Assured Destruction (MAD). Die Diskussion über den Artikel von Thomson brachte mich zum Umdenken. Bereits die Androhung der Auslöschung der anderen Seite ist fatal und moralisch unhaltbar. Was angedroht wird, muss auch geübt und in ständiger Einsatzbereitschaft gehalten werden. Die Gefahr der Folgen einer Fehlreaktion ist zu groß. Das vermeintliche ›Gleichgewicht des Schreckens‹ ist kein stabiles, sondern ein instabiles Gleichgewicht. Nur wer die Logik der Abschreckung überwindet, kann einen tragfähigen Frieden schaffen. Die Zweifel setzten bei mir noch an einer anderen Stelle an: bei meiner eigenen Rolle als Forscher. Ich hatte mich zwanzig Jahre lang für mein Arbeitsgebiet, die Elementarteilchenphysik, begeistert und keine wichtige Konferenz ausgelassen. Ich hatte mich mit dem Thema identifiziert. Das Thema war intellektuell spannend, die Methoden waren innovativ, die Arbeitsbedingungen sehr gut, die internationalen Kontakte anregend. Der Zweck schien die Mittel zu heiligen. Der Zweck, das war nach allgemeiner Lesart die wertfreie Suche nach naturwissenschaftlicher Wahrheit, nach einer Erweiterung des physikalischen Erkenntnishorizonts. Bis mir klar wurde, dass die Sache doch nicht ganz so wertfrei, sondern von Konkurrenz- und Selbsterhaltungskämpfen begleitet war. Auf jedem Forschungsprojekt, auf jedem Großgerätebau, liegt der Druck, ein erfolgreiches Nachfolgeprojekt vorzubereiten und wissenschaftspolitisch durchzusetzen – aus Selbsterhaltungsinteresse. Berichte aus großen amerikanischen Waffenlabors und deutschen Rüstungsfirmen zeigten ähnliche Dynamiken. Dort arbeiteten ebenfalls Forscher und Ingenieure, die sich voll mit ihrem Thema identifizierten. Die Methoden waren innovativ, die Arbeitsbedingungen gut. Es gab einen Mankind«, 14. bis 16. Februar 1987, wie folgt auf den Punkt: »Die USA und die UdSSR besitzen jeweils die zehn– bis hundertfache Fähigkeit zur Zerstörung der modernen Zivilisation« [Quelle: Mitschrift des Autors].

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Zweck, der die Mittel heiligte: die nationale Sicherheit. Aber : Auf jedem Waffenentwicklungsprojekt lag der Druck, ein erfolgreiches Nachfolgeprojekt zu konzipieren, es den Militärs schmackhaft zu machen und politisch durchzusetzen. Waffenlabors und Rüstungsfirmen treiben Rüstungswettläufe zwischen konkurrierenden Mächten und den technologischen Wettlauf zwischen Angriffswaffe und Abwehrsystemen an – aus Selbsterhaltungs- und Profitinteresse. Ich hatte damals etwas begriffen: einen kategorischen Imperativ für eine berufliche Doppelstrategie: »Du sollst dein Fach, dein Handwerk, deinen Beruf meistern und dich mit ihm identifizieren, aber nur so sehr, dass dir noch Kraft und Offenheit für fachübergreifendes kritisches Engagement im Interesse des Gemeinwohls bleibt.«

Der Nährboden in Hamburg Gesellschaften haben eine gewisse Ähnlichkeit mit Ökosystemen. Jeder Standort hat seine eigenen wachstumsfördernden und wachstumshemmenden Faktoren. In Hamburg gab es durchaus widersprüchliche Voraussetzungen. Im Zweiten Weltkrieg war Hamburg als größte Industriestadt Deutschlands eine riesige Rüstungsschmiede. Zahlreiche der an der Universität verbliebenen Physiker arbeiteten für die Rüstungsforschung und -entwicklung (Renneberg 1991). Der Prominenteste unter ihnen war der Physiko-Chemiker Paul Harteck (1902 – 1985). Er führte bereits 1940 ein Experiment mit Uran durch. Er wollte die Neutronenvermehrung durch Kernspaltung in einer Schichtung von Uranoxid und Trockeneis (CO2) messen, das als Neutronenmoderator diente (u. a. Schaaf 1999). Später entwickelte er eine Zentrifuge zur Anreicherung des Uranisotops U235, das für Kernspaltung in Kernreaktoren und Atombomben benötigt wird. Er kam mit seinem Team allerdings nicht über wenige Prototypen hinaus (u. a. Schirach 2012: 167 – 171; Schaaf). Nach dem Krieg mussten die ersten Physikstudenten erst einmal Trümmersteine klopfen, um zerstörte Institutsgebäude wiederaufzubauen, bevor sie zur Vorlesung gehen konnten. Die braune Vergangenheit und die Verwicklung der eigenen Professoren in der Rüstungsforschung wurden verdrängt. Dies änderte sich Ende der 1950er Jahre. Auf dem Rathausmarkt fand 1958 unter dem Motto ›Kampf dem Atomtod‹ mit 100.000 Teilnehmern die bis dahin größte Demonstration gegen die militärische Nutzung der Kernenergie statt (FZH 2009). Der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker (1912 – 2007) war im Jahre 1957 auf einen Lehrstuhl für Philosophie der Universität Hamburg berufen worden und hielt seine legendäre Vorlesungen über Plato, Kant und philosophische Probleme der Naturwissenschaften im überfüllten Audimax. Er hatte sich von 1939 bis

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1942 intensiv mit der Physik von Atombomben beschäftigt. Er sei damals als junger Wissenschaftler, wie er später selbstkritisch urteilte, von der ›Wahnidee‹ besessen gewesen, so weit in die Physik der Bombe vorzudringen, dass er schließlich mit diesem Wissen politisch auf Hitler hätte einwirken können (Schirach 2012: 247). Inzwischen hatte er umgedacht. Er war Triebkraft und Hauptautor der Erklärung der ›Göttinger 18‹ von 1957. Diese Gruppe prominenter Kernphysiker und Chemiker warnte vor den von Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876 – 1967) betriebenen Plänen zur Bewaffnung der Bundeswehr mit Atomwaffen und verweigerten sich der Mitarbeit an einem etwaigen deutschen Atomwaffenprogramm (unter anderem Braun 2009). Von Weizsäcker betrieb die Gründung der ›Vereinigung Deutscher Wissenschaftler‹ (VdW), die sich seit 1959 dafür einsetzt, dass Wissenschaftler ihre Verantwortung in der Gesellschaft wahrnehmen. Er gründete 1964 die Forschungsstelle der VdW in Hamburg, die unter anderem eine groß angelegte Studie zu den Folgen eines Nuklearkrieges erarbeitete (Weizsäcker 1971). Bei Weizsäckers Weggang an ein neu geschaffenes Max Planck-Institut in Starnberg im Jahr 1970 folgten ihm die meisten seiner Mitarbeiter. Die naturwissenschaftliche Expertise für Rüstungskontrolle war damit aus Hamburg abgezogen. Aber der Boden war vorbereitet4. Viele der Hörer von Weizsäckers Vorlesungen gehörten zur nachwachsenden Generation von Entscheidungsträgern. Die Universität Hamburg bekam nach den Studentenunruhen von 1968 eine neue Struktur mit mehr demokratischer Teilhabe und einen neuen jungen Präsidenten, den Theologen Dr. Peter Fischer-Appelt. Fischer-Appelt setzte sich gezielt für die Verständigung mit den kommunistisch regierten Ländern Osteuropas ein und schloss zahlreiche Partnerschaften mit osteuropäischen Universitäten ab (Fischer-Appelt 2012). Es gab also einen Nährboden an der Universität für das Friedensthema und die Verständigung über die Blockgrenzen hinweg. Aber erst der Nachrüstungsbeschluss und Impulse aus anderen Hochschulorten veranlassten friedensbewegte Naturwissenschaftler in Hamburg dazu, sich zusammenzuschließen und gemeinsam zu artikulieren. Eine Vorbildfunktion hatten unter anderem das 1981 gegründete ›Forum Naturwissenschaftler für Frieden und Abrüstung e.V.‹ in Münster und das Seminar ›Physik und Rüstung‹ im Fachbereich Physik der Universität Marburg (1983), deren Rundbriefe und Skripte bundesweite Verbreitung fanden5. Die stärkste Wirkung ging aber von dem bundesweiten Kongress »Verantwortung 4 Im Jahre 1971 errichtete der Senat der Hansestadt auf Betreiben der Hamburger Politiker Helmut Schmidt und Hans Apel sowie des ehemaligen Bundeswehrgenerals, Wolf Graf von Baudissin, das ›Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik‹ an der Universität Hamburg (IFSH). 5 Das Skript zum Marburger Seminar wurde in vier Auflagen gedruckt. Bundesweit wurden davon circa 10.000 Exemplare gekauft (Altmann/Liebert/Neuneck 2004: 274).

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für den Frieden« im Juli 1983 in Mainz aus. Eine Gruppe von Professoren, darunter der Münchener Physiker Hans-Peter Dürr, der Kölner Genetiker Peter Starlinger und der Göttinger Geologe Jürgen Schneider, hatten den Kongress mit starker Unterstützung von zwei jungen Wissenschaftlern, Reiner Braun und Ekkehart Sieker, organisiert. Die Gruppe konstituierte sich mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als ›Mainzer 23‹ in bewusster Anlehnung an die ›Göttinger 18‹ von 1957. Corinna Hauswedell (1997) hat das Selbstverständnis, die Forderungen und die gegensätzlichen Reaktionen in Politik, Medien und anderen Teilen der Friedensbewegung differenziert beschrieben. Der Kongress fand schnell bundesweit Resonanz. Zwei politische Ereignisse im Jahre 1983 haben die Dynamik und Themensetzung der Naturwissenschaftler-Friedensbewegung in den folgenden Jahren entscheidend beeinflusst: zum einen die Stationierung von, mit Nuklearsprengköpfen ausgerüsteten, amerikanischen Pershing-II-Raketen in Westeuropa. Zum anderen die ›Star Wars‹-Rede des US-Präsidenten Ronald Reagan vom 23. März 1983. Reagan verkündete die Absicht der US-Regierung, im Rahmen einer »Strategic Defense Initiative (SDI)« Abwehrsysteme gegen angreifende Atomraketen zu entwickeln und sie damit »unschädlich und überflüssig« (»obsolete and impotent«) zu machen (unter anderem Labusch/Maus/ Send 1984)6.

Erste Initiativen an der Universität und bei DESY Wie schon vorher in Münster und Marburg kam ein wesentlicher Anstoß zur Beschäftigung mit der Rüstungsproblematik von Mitgliedern der jüngeren Generation. Im Fachbereich Physik der Universität Hamburg entstand eine studentische Friedensinitiative. Auf Initiative dieser Studierenden beschloss der Fachbereichsrat Physik bereits am 9. Juli 1983 einstimmig: »Der Fachbereichsrat appelliert an die Angehörigen des Fachbereichs Physik, sich mit der Frage der nuklearen Rüstung kritisch auseinanderzusetzen und in geeigneter Form zu dem

6 Siehe auch auf Candide’s Notebooks, verfügbar unter : http://pierretristam.com/Bobst/li brary/wf-241.htm [16. 06. 2013]. Es lohnt sich, Reagans Rede nachzulesen, auch aus heutiger Perspektive. Reagan hinterfragte einerseits das Primat der Abschreckungsdoktrin: »Im Verlauf dieser Diskussion wurde ich immer fester davon überzeugt, dass der menschliche Geist in der Lage sein müsse, sich darüber zu erheben, mit anderen Nationen und Menschen dadurch umzugehen, dass man ihre Existenz bedroht.« Andererseits hing er der (irrigen) Vorstellung an, dass ein Raketenabwehrprogramm den Weg zur Beseitigung von Nuklearwaffen ebnen würde.

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Problem Stellung zu nehmen7.« Es waren auch Studierende, die den Anstoß für die Einrichtung eines Seminars ›Physik und Rüstung‹ gaben. »Wir meinen, Physik hat sehr viel mit Rüstungspolitik zu tun. An unserem Fachbereich werden die Menschen ausgebildet, die später direkt oder indirekt für Rüstung forschen. Heute sind das weltweit mehr als 50 Prozent von uns. Und was machen die anderen von uns? Sie jagen Neutrinos und Quarks, Phononen und Photonen nach – scheinbar wertfrei, unschuldig und weltfremd. Genau hier setzt […] meine Kritik ein. Wir müssten dazu beitragen, dass Lösungen zur Rüstungsproblematik gefunden werden, gerade weil wir Wissenschaftler sind oder werden wollen« (Stefan Nann, studentischer Initiator des Seminars ›Physik und Rüstung‹8).

Das Seminar ›Physik und Rüstung‹ Ende 1983 kam ein Hamburger Physikstudent, Stefan Nann, mit zwei Kommilitonen in mein Büro mit einem Anliegen. Sie wollten im Sommersemester 1984 – nach dem Marburger Vorbild – ein Seminar ›Physik und Rüstung‹ durchführen und mich als Mitveranstalter gewinnen. Es war ihr erklärtes Ziel, das Seminar als reguläre Lehrveranstaltung im Vorlesungsverzeichnis anzukündigen und nicht als eine rein studentische Arbeitsgruppe durchzuführen. Die drei hatten sogar schon ein fertiges Seminarprogramm und die Namen von Interessenten für die Vorträge mitgebracht. Ich zögerte. Mir war seit meinem Studienbeginn von Kollegen und Lehrern vermittelt worden: »Wissenschaft ist wertfrei, die Verantwortung für die Anwendung von Wissenschaft liegt allein bei der Politik. Wer Physik und Politik vermischt, gilt als unseriös9.« Ich wollte vermeiden, mich von konservativen Kollegen im Fachbereichsrat und Institut mit diesen Argumenten blockieren und isolieren zu lassen. Ich sagte den beiden Studenten unter der Bedingung zu, dass ich zwei weitere Professoren als Mitveranstalter gewinnen könnte. Das gelang: Ich fand in meinen Kollegen Johann Bienlein (DESY) und Gunnar Lindström (Fachbereich Physik) zwei engagierte Mitstreiter, die das Seminar ›Physik und Rüstung‹ mit mir bis weit in die 1990er Jahre durchgeführt haben. Es gelang, die Seminare als Wahlpflichtveranstaltung im Lehrangebot des Fachbereichs in der Kategorie Proseminare zu platzieren. Diese 7 Quelle: Brief der Professoren G. Andersson–Lindström, P. Kotthaus und G. Zimmerer an die Professoren, Dozenten und Assistenten des Fachbereichs Physik der Universität Hamburg, Archiv des Autors. 8 Zitiert aus: Bienlein/Lindström/Spitzer/Mitglieder der Friedensinitiative am Fachbereich Physik (Hg.), 1984. 9 Diese Haltung war (auch) eine Abwehrreaktion auf die Versuche im Dritten Reich und den kommunistisch regierten Staaten, die Wissenschaft ideologisch zu überformen und zu beeinflussen.

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Kategorie war bei einer vorangegangenen Reform des Studienplans mit vergleichsweise geringen inhaltlichen, aber klaren didaktischen Vorgaben eingeführt worden. Ad hoc-Gruppe zu Fragen des Wettrüstens und der Rüstungskontrolle Neben der Studentenaktion ergriffen auch einige der ›Väter‹ in Hamburg von sich aus die Initiative. Im Herbst 1983 trafen sich erstmals elf Professoren des Fachbereichs Physik der Universität Hamburg und von DESY in einer ad hocGruppe zu Fragen des Wettrüstens und der Rüstungskontrolle10. Die Gruppe hatte sich das Ziel gesetzt, mit naturwissenschaftlicher Expertise in die öffentliche Debatte um das nukleare Wettrüsten und das SDI-Programm einzugreifen11. Dabei gab es durchaus Meinungsverschiedenheiten über das politische Vorgehen. Einige Mitglieder wollten eine ›Trennung von der studentischen Thematik‹ und plädierten für ›Hemmung gegenüber Politisierung‹. Andere waren offener für Kooperation mit der studentischen Friedensinitiative und den eher politisch argumentierenden ›Mainzer 23‹. Man einigte sich auf folgende Schritte: – Gegenseitige Information über aktuelle Entwicklungen, insbesondere aus Kontakten mit Fachkollegen in den USA und der UdSSR sowie von der bundesweiten Naturwissenschaftler-Friedensinitiative, – inhaltliche Zuarbeit für ein Dossier der ZEIT zum SDI-Programm der USA, – Gespräche über die Gefahren des Wettrüstens mit Hamburger Bundestagsabgeordneten12, – Vorbereitung des Seminars ›Physik und Rüstung‹ im Fachbereich Physik, 10 Mit dabei waren die Professoren Bienlein (DESY), Duhm, Kotthaus, Lindström, Scobel, Sonntag, Spitzer, Wick und Zimmerer sowie ein Vertreter der ›Großvätergeneration‹, Prof. em. Willibald Jentschke, der Gründungsdirektor des deutschen Elektronen–Synchrotrons (DESY). Jentschke hatte im Zweiten Weltkrieg kernphysikalische Untersuchungen unter anderem mit Uran durchgeführt, war aber nicht in das Uranprojekt des deutschen Heereswaffenamtes eingebunden gewesen (Schaaf/Spitzer 1997). Später stieß auch der Leiter der Theorie-Abteilung von DESY, Prof. Hans Joos, zu der ad hoc–Gruppe. 11 Prof. Zimmerer schreibt dazu im Rückblick: Ich persönlich war fest davon überzeugt, dass die Nachrüstung unnötig und gefährlich sei und habe mich daher der Initiative angeschlossen. Ich möchte meinen Kindern in die Augen sehen können, so meine Motivation. Heute tönen Politiker, die geschichtliche Entwicklung habe den NATO–Doppelbeschluss bestätigt. Vergessen wird hierbei der Umstand, dass der angebliche Erfolg des Doppelbeschlusses einem Mann zu verdanken ist, Gorbatschow nämlich, der genau das tat, was wir von unserer Seite forderten: Über den eigenen Schatten springen» (Quelle: Private Mitteilung an den Autor, 19. April 2013). 12 Es kamen drei Gespräche mit den Abgeordneten Jürgen Echternach (CDU), Dirk Fischer (CDU) und Klaus Francke (CDU) zustande. Sie verliefen freundlich, aber wenig nachhaltig. Die Gruppe versäumte es ›nachzufassen‹.

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– Planung von einschlägigen Vorträgen im Physikalischen Kolloquium und bei DESY sowie einer großen Veranstaltung ›Naturwissenschaftler warnen vor der Militarisierung des Weltraums‹ im Auditorium Maximum der Universität (5. Juli 1984), – Austausch mit einem Offizier der US-Marine zur Rüstungsdynamik in den USA: »The US peace movement has not gotten anywhere in getting contact with decision making circles in the US. Protests are not enough«13, – Sammlung von Unterschriften unter einen Appell internationaler Wissenschaftler zur Verhinderung von Waffensystemen im Weltall (Herbst 1984). Darin hieß es: »Der Weltraum muss frei von allen Waffen bleiben. Seine Erschließung sollte nur dem Frieden und dem Wohl der ganzen Menschheit dienen.« Der Appell wurde von 39 Physikern des Fachbereichs und am DESY unterschrieben14. Das war ein eindrucksvolles Ergebnis. Die ad hoc-Gruppe hatte aber Ende 1984 bereits ihren Zenit überschritten. Die Mehrzahl der Beteiligten ›stieg aus‹. Die Übrigen engagierten sich ab September 1984 bei monatlichen Hamburg-weiten Treffen von friedensengagierten Naturwissenschaftlern. Die Jahre 1983/1984 waren die formative Phase für das Friedensengagement von Hamburger Physikern15. Die verschiedenen Statusgruppen (studentische Friedensinitiative, ad hoc-Gruppe von Professoren) haben sich zunächst bewusst getrennt organisiert. Längerfristige Wirkungen entstanden nur aus dem integrierten Vorgehen im Seminar ›Physik und Rüstung‹ und in der Hamburger Naturwissenschaftlerinitiative.

Vereinsgründung und Friedenswoche 1985 Im ganzen Bundesgebiet hatten sich inzwischen zahlreiche berufsbezogene Friedensinitiativen gebildet: Ärzte, Informatiker, Juristen, Künstler, Pädagogen, Psychologen. Am 8. Juli 1985 war auch in Hamburg die Zeit für die Bildung einer eigenen Organisation gekommen und für den Schritt an die Öffentlichkeit. In einem großen Seminarraum trafen sich 70 Personen zur Gründungsversamm13 Referat von K. Shipps (USA) in der ad hoc-Gruppe am 21. 6. 1984, Quelle: Mitschrift des Autors. 14 Unter den Unterzeichnern waren 16 der etwa 40 Professoren des Fachbereichs Physik. Damals gab es noch keine Professorin im Fachbereich Physik und kaum festangestellte Physikerinnen bei DESY. 15 Es gab ähnliche, wenn auch kleinere Initiativen in den Fachbereichen Chemie, Informatik, Mathematik und Medizin sowie an der Fachhochschule Hamburg und der Technischen Universität Hamburg-Harburg.

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lung der Hamburger Naturwissenschaftler-Initiative ›Verantwortung für den Frieden‹16,. Zur Gründungsversammlung hatten 22 Professoren aus drei Hamburger Hochschulen und 19 weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufgerufen. Die Vereinsgründung wurde bereits am 8. August 1985 ins Vereinsregister eingetragen. In der Satzung heißt es: »Der Zweck des Vereins ist es, durch wissenschaftliche Arbeit – insbesondere durch Bildungsarbeit in den Bereichen Naturwissenschaften, Ingenieurwissenschaften, Mathematik und Informatik – zur Förderung des Friedens, der Verständigung unter den Völkern und der Abrüstung beizutragen.« Die Mitglieder trafen sich einmal im Monat zu einem Plenum. Da ging es gleich zur Sache. Eine bundesweite Friedenswoche vom 11. bis 16. November 1985 stand vor der Tür. Das Schwerpunktthema war die Militarisierung des Weltraums. Impulse von den ›Mainzer 23‹ Die bundesweit tätigen ›Mainzer 23‹ hatten – jeweils mit lokalen Partnern am 7. und 8. Juli 1984 in Göttingen einen Kongress »Verantwortung für den Frieden – Naturwissenschaftler warnen vor der Militarisierung des Weltraums« durchgeführt. Prominentester Sprecher war der amerikanische Astronaut Russel Schweickart, der an einer NASA-Mission zum Mond teilgenommen hatte. Ein weiterer Kongress »Naturwissenschaftler warnen vor chemischen und biologischen Waffen« folgte am 17. und 18. November 1984. Die ›Mainzer 23‹ hatten sich inzwischen in der ganzen Republik vernetzt. Sie sprachen Kolleginnen und Kollegen in 60 Hochschulorten und Forschungseinrichtungen an, um sie für die Durchführung einer bundesweiten Friedenswoche vom 11. bis 16. November 1985 zu gewinnen. Das wurde in Hamburg aufgegriffen. Die Friedenswoche wurde von den Präsidenten von drei Hamburger Hochschulen eröffnet (Universität, Fachhochschule, Hochschule für Wirtschaft und Politik). Sie umfasste neun Veranstaltungen mit insgesamt 2.000 Teilnehmenden. Höhepunkt war ein öffentlicher Kongress am 9. und 10. November 1985 mit einem breit gefächerten Themenspektrum (siehe Abbildung 1)17. 16 In den Vorstand wurden gewählt: Der Chemiestudent Iver Lauermann (Universität Hamburg), Dr. Christa Nöbl (Fa. Valvo), Prof. Dietrich Rabenstein (Fachhochschule Hamburg), Dipl. Phys. Siegfried Schwarz (Technische Universität Hamburg-Harburg) und Prof. Hartwig Spitzer (Universität Hamburg). Der Mitgliedsbeitrag wurde mit monatlich DM 10,– (Studierende und Arbeitslose DM 3,-) festgesetzt. Am Ende des Jahres 1985 hatte der Verein 78 Mitglieder. Im Jahr 1995 wurde der Verein in NaturwissenschaftlerInnen-Initiative ›Verantwortung für Frieden und Natur‹ umbenannt. 17 Vier Hauptvorträge sind wiedergegeben in: »Bewaffnung des Weltraums, Ursachen – Gefahren – Folgen« (Lindström 1986).

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Abbildung 1: Das Plakat des Kongresses »Militarisierung des Weltraums« Der Kongress fand am 9. und 10. November 1985 statt18 (Quelle: Archiv des Autors). 18 Träger der Friedenswoche: Prof. H. Baisch, Dr. U. Beisiegel, Dr. M. Breindl, Prof. W. Detel, Prof. H. tom Dieck, Prof. E. Grimmel, Prof. F. Hölzer, Dr. H. Jeske, Prof. W. Kahlke, Dr. H. Kalthoff, Prof. W. Kerby, Dr. W. Kirstein, Prof. G. Koch, Prof. G. Lindström, Prof. R. Memming, Prof. B. Neumann, Prof. C. P. Ortlieb, Prof. W. Ostertag, Prof. P. Petersen, Prof. H. Rittstieg, Prof. L. Schäfer, Dr. M. Schöberl, Prof. H. Spitzer, Prof. F. Steffensky, Prof. U. Steinvorth, Prof. C. Tiedemann, Prof. R. Valk, Prof. G. Weyers: alle Universität Hamburg; Norbert Aust, Dr. W. D. Hund, Prof. N. Paech, Prof. H. Schul: alle Hochschule für Wirtschaft und Politik Hamburg; Prof. L. Huber, Prof. G. Bischoff-Kümmel, Prof. P. Kunkel, Prof. I. Kurz, Prof. O. Naatz, Prof. D. Rabenstein, Prof. R. Sorg: alle Fachhochschule Hamburg; Prof.

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Was hat die Woche gebracht? Der Höhepunkt der Friedensbewegung, der ›Heiße Herbst‹ von 1983, war überschritten. Michail Gorbatschow war in der Sowjetunion an die Macht gekommen und redete von Perestroika (Wandel) und Glasnost (Offenheit). Aber die Rüstungsprogramme in Ost und West liefen weiter. Das Ergebnis der Friedenswoche war eine neue Nachdenklichkeit. Das lässt sich aus der Presseerklärung zum Abschluss der Woche heraushören. Darin hieß es: »[…] Viele Wissenschaftler spüren, dass die Verwendung von Forschungsergebnissen im Rüstungswettlauf nicht in Ordnung ist. […] Rüstungsforschung ist einer der Motoren des Wettrüstens. Die Bundesrepublik ist daran in erschreckender Weise beteiligt. Die direkten staatlichen Ausgaben für Rüstungsforschung (Einzelplan 14) stiegen von 1982 bis 1986 um über 50 % von 1.6 auf 2.6 Milliarden Mark.« Die Erklärung betonte abschließend »die Einsicht, dass äußerer und innerer Friede zusammengehören. Frieden ist nicht nur Abwesenheit von Kriegen, sondern eine Gestaltungs- und Lebensaufgabe. Was wir brauchen, sind Wege aus der Polarisierung« (Trägerkreis ›Woche der Hamburger Hochschulen für Frieden und Abrüstung‹, 1985).

Der Kongress »Wege aus dem Wettrüsten« 1986 Die Gruppe ›Mainzer 23‹ begann im Herbst 1985 um Unterstützung für ein Vorhaben zu werben: Ein großer internationaler Kongress »Wege aus dem Wettrüsten« sollte im Herbst 1986 stattfinden – und zwar in Hamburg (vergleiche Abbildung 2). Die Sprecher der ›Mainzer 23‹ baten Hamburger Kolleginnen und Kollegen um Unterstützung vor Ort. Die Bedingungen in der Hansestadt waren günstig. Sowohl Uni-Präsident Fischer-Appelt als auch der Wissenschaftssenator Professor Dr. Klaus Michael Meyer-Abich, ein ehemaliger Mitarbeiter von Carl Friedrich von Weizsäcker, waren der Sache gegenüber aufgeschlossen. Die friedensengagierten Naturwissenschaftler in Hamburg verfügten über eine organisatorische Basis19. Auch das internationale Umfeld H. Subke: Fachhochschule Wedel; Dipl. Phys. S. Schwarz: Technische Universität Harburg; Prof. J. Bienlein: DESY. In Zusammenarbeit mit: ›Hamburger Naturwissenschaftler-Initiative – Verantwortung für den Frieden, e.V.‹; Bund Demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) – Sektion Hamburg; GEW, Hamburg; AStA der Universität Hamburg. 19 Diese Basis reichte allerdings nicht aus, um die Organisation eines internationalen Kongresses allein zu bewältigen. Der Vorstand der Naturwissenschaftler-Initiative sagte seine Mitträgerschaft zu unter der Bedingung, dass ein extern bezahltes Konferenzsekretariat in Hamburg eingerichtet würde. Das Sekretariat wurde schließlich über das IFSH von der Hamburger Wissenschaftsbehörde finanziert. Darüber hinaus trug das Kölner Büro der bundesweiten Initiative wesentlich zur Organisation bei. Die Satellitenübertragung wurde in Deutschland vom Westdeutschen Rundfunk und in den USA von der ›Union of Concerned Scientists‹ organisiert.

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hatte sich zum Besseren geändert, seitdem Michail Gorbatschow die Führung der Sowjetunion übernommen hatte. Die ›Union of Concerned Scientists‹, die größte nuklearkritische Umweltorganisation der USA, sagte ihre aktive Teilnahme zu. Die Beteiligung und das Programm sprengten alle bisherigen Maßstäbe: Insgesamt kamen 3.000 Teilnehmende sowie Sprecherinnen und Sprecher aus 16 Ländern (aus Ost und West). 25 Arbeitsgruppen mit einem breiten Themenspektrum ergänzten die Plenarsitzungen. Ein Höhepunkt war eine Satellitenschaltung mit Diskussionspartnern in Hamburg und Washington, die von Washington aus in 400 Orte in den USA übertragen wurde. Ein zweiter Höhepunkt war die Präsentation der »Hamburg Proposals for Disarmament«. Darin heißt es: – Ein Verbot jeglicher Kernwaffentests ist notwendig und kann angemessen verifiziert werden. – Einschneidende Verringerungen der Zahl der Atomwaffen sind möglich und würden unsere Sicherheit erhöhen. – Weltraumwaffen müssen verboten werden. – Nicht-nukleare Streitkräfte müssen verringert und mit einer nicht-offensiven Struktur ausgestattet werden. – Chemische Waffen müssen vollständig verboten und die Konvention über biologische Waffen sollte gestärkt werden (Kerby/Rilling 2006).

Abbildung 2: Das Plakat »Wege aus dem Wettrüsten« in seiner englischen Fassung Die Veranstalter bemerkten erst nach der Drucklegung, dass die Anfangsbuchstaben das Wort ›WAR‹ ergeben.

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Fazit: Was hat der Kongress in Hamburg und international bewirkt? Erstens haben die ›Hamburg Proposals‹ eine umfassende Rüstungskontrollagenda formuliert und fachlich begründet. Ihre Wirkung blieb in den westlichen Hauptstädten gering. Anders war es in Moskau. Zwei sowjetische Teilnehmer, die Mitglieder der ›Akademie der Wissenschaften der UdSSR‹ Eugheniy Velichov und Roald Sagdejev, hatten als Berater direkten Zugang zu Generalsekretär Gorbatschow. Es begannen die fruchtbaren Jahre, in denen sich die sowjetische Führung für eine umfassende Rüstungsbegrenzung öffnete, sowohl bei nuklearen als auch bei konventionellen Streitkräften. Der Vertrag zur vollständigen Abrüstung der sowjetischen und amerikanischen Mittelstreckenraketen wurde am 8. Dezember 1987 unterzeichnet. Auch die Regierung der USA unter Präsident Reagan hatte sich bewegt. Zweitens beschäftigten sich ein Teil des Kongresses und ein vorangegangenes internationales Expertenseminar mit technischen Verfahren zur Überprüfung von Rüstungskontrolle bei verschiedenen Waffenkategorien20. Die Verifikationsforschung unterlag in den 1960er und 1970er Jahren noch strikter Geheimhaltung. Jetzt aber betraten Naturwissenschaftler mit ziviler Herkunft das Feld und erschlossen Verifikationsexpertise in offener Forschung und für öffentliche Debatten. Das galt insbesondere für den Nachweis von Nuklearexplosionen. Das Thema Verifikation wurde der Fokus für Forschungsarbeiten in Hamburg. Das Medienecho war beträchtlich: Die WELT, die FAZ und der Bayernkurier polemisierten im Vorfeld und unterstellten eine Steuerung durch ›Moskau‹ beziehungsweise die ›Deutsche Kommunistische Partei‹. Das Hamburger Abendblatt, die Frankfurter Rundschau, die ZEIT und der Westdeutsche Rundfunk berichteten ausgewogen.

CENSIS: Eine Forschungsgruppe entsteht Zwei Jahre später war die Zeit für den Beginn eigener Forschungsarbeiten gekommen. Es gab zwei aktuelle Themenfelder : Die Dynamik der Rüstungsmodernisierung und technische Verfahren zur Rüstungskontrolle. Für beide Themenfelder war und ist naturwissenschaftliche Expertise erforderlich. Eine genügende Anzahl von Hamburger Professoren hatte sich seit 1984 in Seminaren und Konferenzen kennengelernt und mit der Materie vertraut gemacht. Im 20 Es fand eine Internationale Arbeitstagung »Naturwissenschaftliche Aspekte der Verifikation von Rüstungsbegrenzungsverträgen«, Hamburg 13. und 14. November 1986, mit finanzieller Unterstützung der ›Stiftung Volkswagenwerk‹ statt. Die Ergebnisse sind in zwei Berichten des IFSH dokumentiert (Spitzer 1987).

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Herbst 1988 schlossen sich dann eine Professorin und sechs Professoren aus den Fachbereichen Informatik, Mathematik und Physik zur ›Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft und Internationale Sicherheit‹ (›Center for Science and International Security‹ – CENSIS) zusammen21. Die Einrichtung der Arbeitsgruppe wurde vom Universitätspräsidenten als informelle Forschungsgruppe bestätigt. Sie bekam später auch einen Sachmitteletat, aber keine Nachwuchsstellen aus Universitätsmitteln. Glücklicherweise hatte die ›Stiftung Volkswagenwerk‹ im Jahr 1988 ein größeres Förderprogramm zur Rüstungskontrollforschung ausgeschrieben. Zwei Anträge aus Hamburg waren erfolgreich. Doktoranden und ein promovierter Wissenschaftler konnten eingestellt werden. Bald kam der Physiker Götz Neuneck vom IFSH dazu22. Drei Forschungsprojekte wurden aus der Taufe gehoben Mathematische Untersuchungen zur Abrüstung und Stabilität (Leitung: Prof. Kerby): Hier sollten zum Beispiel Rüstungswettläufe zwischen zwei Parteien mit Methoden der Spieltheorie modelliert werden ebenso wie der Übergang zu einer stabilitätsorientierten Rüstungsstruktur auf niedrigerem Niveau. Verifikation bei konventioneller Abrüstung in Europa mit Fernbeobachtung / Bildverstehen von Multispektralbildern (Leitung: Professoren Dreschler-Fischer, Bienlein und Spitzer): Die USA und die Sowjetunion nutzten damals Schwarz-Weiß-Fotos von Aufklärungssatelliten mit hoher Auflösung zur Überwachung von Rüstungskontrolle. Das Hamburger Projekt sollte die Nutzbarkeit von multispektralen (farbigen) Luftbildern für die Unterstützung von Verifikation untersuchen. Die Gruppe hat mit Hilfe des Deutschen Zentrums für Luftund Raumfahrt (DLR) fünf Bildflugkampagnen durchgeführt. Physikalische und informatische Fragen des Bildverstehens wurden dann Themen zahlreicher Diplom- und Doktorarbeiten. Modernisierung und Stabilität: Die Auswirkung neuer konventioneller Waffentechnologien (Leitung: Prof. Lindström, später Dr. Neuneck und Prof. Spitzer): Das Projekt untersuchte technologische Trends bei konventioneller Rüs21 Es waren die Informatiker/in Leonie Dreschler-Fischer und Rüdiger Valk, die Mathematiker Hans Daduna, William Kerby und Claus-Peter Ortlieb sowie die Physiker Bienlein, Lindström und Spitzer. 22 Der damalige Direktor des IFSH, Egon Bahr, und sein Stellvertreter, Dieter Lutz, hatten schon früh erkannt, dass zum Verständnis und zur Einhegung des Wettrüstens auch naturwissenschaftliche Expertise gebraucht würde. Sie stellten den Physiker G. Neuneck ein.

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tung, die zu neuen Rüstungswettläufen und militärischen Ungleichgewichten führen können – zum Beispiel die Wettläufe zwischen Panzer und Panzerabwehr und zwischen Raketen und Raketenabwehr. Jede Effizienzsteigerung eines Waffensystems treibt die Entwicklung von Abwehrsystemen und Gegenmaßnahmen an. Welche Begrenzungen sind möglich? Die Akteure haben die Themen komplementär zu den Arbeitsfeldern von zwei, bereits vorher eingerichteten ›Schwestergruppen‹ gewählt: Eine Gruppe in Bochum (später Dortmund) bearbeitete die Verifikation konventioneller Abrüstung mit Nahsensoren. Die ›Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Abrüstung und Sicherheit‹ (IANUS) in Darmstadt untersuchte und untersucht heute noch schwerpunktmäßig die militärische Nutzung von Kernenergie und die zivil-militärische Dual-Use Problematik. Eine weitere Gruppe in Kiel arbeitete zum Umstieg von Rüstungsfirmen auf zivile Produktion (Kronfeld u. a. 1993; Neuneck 2003; Altmann/Liebert/Neuneck 2004). Die Gruppe in Hamburg wuchs schnell. 1995 waren es – außer den Professoren – fünf Diplomanden, sechs Doktoranden und vier promovierte Wissenschaftler. Sie arbeiteten an drei Standorten: im Fachbereich Mathematik an der Bundesstraße, im Fachbereich Informatik in Stellingen und im IFSH (damals noch am Falkenstein in Blankenese). Was unterschied die Arbeit von der Arbeit ›normaler‹ Forschungsgruppen? Es war die Verknüpfung eines dreifachen Anspruchs: Erstens sollten Studierende fachnah arbeiten, um sich für ihren Studienabschluss beziehungsweise die Promotion im eigenen Fach zu qualifizieren (Fachzentrierung). Zweitens sollten Studierende Methoden und Erkenntnisse aus mindestens zwei Fachrichtungen kennenlernen: zum Beispiel Mathematik und Politikwissenschaft, Physik und Informatik beziehungsweise Physik und Technik (Interdisziplinäre Vernetzung). Und drittens sollten die Arbeiten einen Bezug zu aktuellen Problemen der Rüstungskontrolle haben (Politische Relevanz). Einige Mitglieder der Gruppe haben sich genügend sachkundig gemacht, um kompetent an rüstungskontrollpolitischen Debatten teilnehmen zu können und den Fachleuten in Bundestag und in Ministerien auf Augenhöhe begegnen zu können. Das waren bei CENSIS insbesondere Neuneck und der Autor23. Die jüngeren Mitglieder arbeiteten meist fachnah an Fragen der mathematischen Modellierung beziehungsweise der physikalisch-informatischen Methodenentwicklung für das 23 Dr. Neuneck (heute Professor Neuneck) wurde zu einem Experten für eine Vielzahl von Rüstungstechnologien und deren sicherheits- und rüstungskontrollpolitischen Bedeutung. Der Autor betreibt seit 1990 Begleitforschung zum Vertrag über den ›Offenen Himmel‹. Dieser erlaubt kooperative Beobachtungsflüge von Vancouver bis Wladiwostok im Dienste von Transparenz und militärischer Vertrauensbildung.

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Bildverstehen. Gleichwohl profitierten sie vom interdisziplinären, politikbezogenen Ansatz. Denn die Motivation und das Verständnis für fachzentriertes Arbeiten wachsen, wenn es in einem größeren fachübergreifenden Sinnzusammenhang eingebettet ist. Insgesamt wurden im Rahmen von CENSIS zwischen 1990 und 2004 siebzehn Diplom- und elf Doktorarbeiten abgeschlossen. Fast alle Abgänger haben Stellen in kleinen und mittleren innovativen Firmen sowie in Schulen und Forschungsinstituten gefunden. Fast alle haben das Arbeitsgebiet gewechselt beziehungsweise wechseln müssen. Es gibt kaum Stellen für naturwissenschaftliche Rüstungskontrollforschung.

Fazit: Was hat die Arbeit von CENSIS für die Universität Hamburg und bundesweit erbracht? Die Bilanz fällt ernüchternd aus, wenn man übliche Maßstäbe der Forschungsbewertung wie den ›Citation Index‹ anwendet24. Ähnliches gilt für die Öffentlichkeitsarbeit. Die großen öffentlichen Debatten zu den Gefahren der Hochrüstung waren in den 1980er Jahren geführt worden. Die Bedrohungslage hatte sich entspannt. Die Gründung von CENSIS war der Beginn einer stilleren formativen Phase. Studierende konnten lernen, aus ihrem Fach heraus über den Tellerrand zu schauen. Das Themenfeld wurde in der Universität als Forschungsbereich sichtbar gemacht und gehalten. Es wurde sichtbar für die Universitätsleitung und für Professoren der drei Fachbereiche. Das zahlte sich im Jahr 2002 aus, als sich ein ›window of opportunity‹ öffnete: Die Möglichkeit, Stiftungsmittel für die Einrichtung einer Professur für Naturwissenschaft und Friedensforschung einzuwerben. Wer mit seinem spezifischen Profil und seinen Zielen wahrgenommen und gefördert werden will, muss sich deutlich artikulieren. Mitglieder von CENSIS haben sich deshalb auch bundesweit engagiert, insbesondere gemeinsam mit den ›Schwestergruppen‹ in Bochum, Darmstadt und Kiel. 1996 gründeten die naturwissenschaftlich orientierten Friedensforscher aus den vier Standorten sowie weitere Interessierte den ›Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit‹ (FONAS e.V.)25. Die Gründung hat die interne Vernetzung durch halbjährliche Treffen und die Außenwirkung erheblich verstärkt. FONAS veranstaltet in lockeren Abständen Fachgespräche zu 24 Die Veröffentlichungen der physikalischen Arbeiten zur Fernerkundung und zum ›Open Skies-Vertrag‹ sind auf der Webseite CENSIS ( http://censis.informatik.uni-hamburg.de) unter ›Publications‹ aufgeführt. 25 Siehe im Internet unter www.fonas.org .

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rüstungskontrollpolitischen Themen in Bonn beziehungsweise Berlin. Die Fachgespräche richten sich an Abgeordnete, Referenten in Ministerien und Bundestag sowie an Fachjournalisten (Neuneck 2003). Physiker aus dem FONAS-Kreis haben im Jahre 1998 den ›Arbeitskreis Physik und Abrüstung‹ (heute ›Arbeitsgemeinschaft für Physik und Abrüstung‹, AGA) innerhalb der Deutschen Physik gegründet26. Die Vortragsveranstaltungen des AKA beziehungsweise AGA bei der jährlichen Frühjahrstagung erreichen Hunderte von Studierenden.

Neue Themen nach der Wende von 1989/1990 Die politische Wende von 1989/1990 brachte zunächst eine große Erleichterung. Die Blockkonfrontation zwischen Ost und West löste sich weitgehend auf. Der ›Dritte Weltkrieg‹ war ausgeblieben. Die konventionellen Streitkräfte auf beiden Seiten wurden so stark reduziert, dass heute große Offensiven in Europa politisch und militärisch kaum noch möglich sind. Neue Themen drängten sich in den Vordergrund: Umweltprobleme und die Notwendigkeit einer nachhaltigen Entwicklung. Große Hoffnungen wurden mit der UN-Konferenz für ›Umwelt und Entwicklung‹ in Rio de Janeiro (1992) verbunden. In diese eher optimistische Stimmungslage schlugen der zweite Golfkrieg (Anfang 1991) und die Jugoslawienkriege (ab 1991) wie Blitze ein. Der Golfkrieg löste noch einmal größere Proteste von Teilen der Friedensbewegung aus. Die Jugoslawienkriege erzeugten dagegen ratloses, bis zur Lähmung gehendes Erschrecken. Krieg war wieder möglich geworden – mitten in Europa und mit deutscher Beteiligung. Wie haben die friedensengagierten Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler in Hamburg reagiert? Das Themenspektrum wurde erweitert. Die Naturwissenschaftler-Initiative setzte in ihren Namen den Zusatz »Verantwortung für Frieden und Natur«. In Veranstaltungen der jährlichen Friedenswoche im November wurden auch Umweltthemen aufgegriffen. Das bisherige Proseminar ›Physik und Rüstung‹ im Fachbereich Physik bekam ab 1992 wechselnde neue Themen wie nachhaltige Umweltgestaltung, Technologiedynamik, Technikgestaltung, Kernenergie, Klimaschutz und erneuerbare Energien. Das Seminar ›Mathematik und internationale Sicherheit‹ wandte sich Fragen von Demokratie und Kooperation zu. Die bundesweite Naturwissenschaftler-Friedensinitiative erweiterte ihre Thematik in »Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit«. Die 1980er Jahre waren Jahre der Bewegung gewesen mit Verbindung zu den 26 Siehe im Internet unter www.dpg-physik.de/dpg/gliederung/ag/aga/index.html .

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Protesten der ›großen‹ Friedensbewegung. Die 1990er Jahre wurden Jahre der Professionalisierung. Die Hamburger Naturwissenschaftler-Initiative ging bereits 1990 von monatlichen zu nur noch gelegentlichen Treffen über. Es wurde schwieriger, neue und vor allem jüngere Mitglieder zu gewinnen. Es blieb ein aktiver Kern, der sein Engagement mit eigener Lehr- und Forschungstätigkeit verbinden konnte27. Einige weitere Mitglieder beteiligten sich an den jährlichen Ostermärschen der Friedensbewegung oder sie organisierten Vortragsveranstaltungen in der Universität im Rahmen von Friedenswochen, jeweils im November. Die letzte der Friedenswochen fand Ende der 1990er Jahre statt. Heute, im Jahr 2013, steht die Hamburger Naturwissenschaftler-Initiative vor der Auflösung, während die bundesweite Initiative mit circa 300 Mitgliedern weiter arbeitet und die VdW sogar Mitglieder gewonnen hat.

Die Gründung des Zentrums für Naturwissenschaft und Friedensforschung (ZNF) Neue Themenfelder brauchen eine Verankerung in einer Institution, um längerfristig wirksam zu werden. Die Gründung von CENSIS war ein erster Schritt gewesen zur Etablierung von naturwissenschaftlicher Friedensforschung an der Universität Hamburg. Aber bei CENSIS waren es Projekte auf Zeit. Sie liefen aus, als zwei der Hauptakteure, Professor Kerby und der Autor, in den Jahren 2001 beziehungsweise 2003 in den Ruhestand gingen28. Der Forschungsverbund FONAS hatte schon 1998 in einem Forschungsmemorandum die Einrichtung von Stiftungsprofessuren für Naturwissenschaft und Friedensforschung gefordert. Das wurde unter anderem von der Bundestagsabgeordneten Edelgard Bulmahn (SPD) aufgegriffen, die ab Herbst 1998 im Rahmen der rot-grünen Koalition die Leitung des Bundesministeriums für Forschung und Technologie (BMFT) übernahm. Sie war dann federführend bei der Einrichtung der ›Deutschen Stiftung Friedensforschung‹ (DSF) im Jahr 200129. Professor Dieter Lutz, der damalige Direktor des IFSH, wurde erster Vorsitzender des Stiftungsrates der DSF. Er setzte sich erfolgreich dafür ein, dass 27 Das Proseminar zu ›Physik und Gesellschaft‹, das aus dem Seminar ›Physik und Rüstung‹ hervorgegangen ist, wird seither in jedem Semester durchgeführt, auch heute noch (siehe auf der Webseite CENSIS unter ›Teaching‹: http://censis.informatik.uni-hamburg.de). Das ist ein schöner Erfolg. 28 Neuneck führt seine Arbeiten im Rahmen der ›Interdisziplinären Forschungsgruppe Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien‹ (IFAR) des IFSH weiter (siehe www.ifsh.de und www.ArmsControl.de). 29 Das Stiftungskapital von 50 Millionen DM wurde aus dem Haushalt des BMFT bereitgestellt (siehe www.bundesstiftung-friedensforschung.de).

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die Stiftung im August 2002 Fördermittel von 1,25 Millionen Euro (verteilt über fünf Jahre) für die Einrichtung einer ›Carl Friedrich von Weizsäcker-Stiftungsprofessur für Naturwissenschaft und Friedensforschung‹ ausschrieb. Förderbedingung war unter anderem die Zusage, die Professur nach fünf Jahren dauerhaft aus Hochschulmitteln zu finanzieren. Dr. Jürgen Lüthje war damals Präsident der Universität Hamburg. Er – wie auch der Kanzler Werner Halfmeier – waren für Friedensforschung aufgeschlossen. Lüthje lud am 19. September 2002 Dekane und Aktive aus mehreren Fachbereichen und dem IFSH an seinen großen runden Tisch im Hauptgebäude der Universität. Am Ende bekräftigten alle Anwesenden die Absicht, eine Bewerbung um die Stiftungsmittel zu unterstützen – unter zwei Bedingungen: Zum einen sollte die Nachfolgefinanzierung der Stiftungsmittel nach fünf Jahren komplett von der Universität übernommen werden. Zum anderen sollte – mit der Professur als Kern – ein ›Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung‹ (ZNF) eingerichtet werden, das von insgesamt zehn Fachbereichen der Universität und dem IFSH getragen wird30. Götz Neuneck und der Autor haben den Antrag mit wesentlicher Unterstützung aus den beteiligten Einrichtungen und dem Forschungsreferat der Universität erstellt. Die Universität Hamburg bekam im März 2004 nach einer umfassenden Begutachtung durch eine, zum Teil international besetzte Kommission den Zuschlag. Am 1. März 2006 war es soweit. Der Physiker Dr. Martin Kalinowski trat seinen Dienst als Stiftungsprofessor an. Das ZNF erwachte zum Leben31. Kalinowski baute ein international wettbewerbsfähiges Forschungsprogramm zum Nachweis der heimlichen Erzeugung von Spaltmaterialien für Kernwaffen auf. Eine kleinere, bereits vorher bestehende Forschungsgruppe für Biowaffenkontrolle wurde ins ZNF integriert. Parallel dazu entwickelte Kalinowski ein attraktives Lehrangebot, das überwiegend von Studierenden der Naturwissenschaften wahrgenommen wird. Das ZNF führt aber auch Veranstaltungen für Studierende aller Fakultäten durch, insbesondere die ›Carl Friedrich von Weizsäcker-Friedensvorlesung‹ (jährlich) und Rollenspiele zu Verhandlungen internationaler Verträge (in jedem Semester). Das Lehrangebot im Rahmen des ZNF für Studierende aller Fakultäten wurde seit 2009 ganz wesentlich erweitert: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus fünf Fakultäten haben sich zum ›Initiativkreis Friedensbildung/Peacebuil30 Diese Bedingungen hatten einen Preis. Sie ermöglichten den damaligen Konsens. Lüthje wusste genau, dass er auf großen Widerstand gestoßen wäre, wenn nur ein oder zwei Fachbereiche die Auslösung der Stiftungsmittel hätten übernehmen müssen. Die zweite Bedingung erzeugte aber auch einen enormen Anspruch von Erwartungen der zehn Fachbereiche (heute aller sechs Fakultäten) an die Professur und das Zentrum. Das ZNF ist die einzige Einrichtung, die von allen Fakultäten der Universität getragen wird. 31 Siehe im Internet unter www.znf.uni-hamburg.de .

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ding‹ zusammengeschlossen. Sprecher ist Professor Alexander Redlich (Fachbereich Psychologie). Der Kreis führt jährlich eine Ringvorlesung ›Friedensbildung‹ sowie Seminare und eine Exkursion durch. Studierende lernen, wie Konflikte konstruktiv bearbeitet werden können32. Das Angebot wird gut angenommen: 300 Studierende aus über 40 verschiedenen Studiengängen nehmen jährlich teil. Das ZNF schlägt mit seinem Gesamtangebot eine Brücke zwischen den Naturwissenschaften und den Geistesund Sozialwissenschaften. Es greift zwei von Weizsäckers Lebensthemen auf, den Weltfrieden und den gesellschaftlichen Frieden. Es ist in seiner Art einzigartig in Deutschland. Qualität zieht Qualität an. Die Hamburger Klimaforschung hat im letzten Jahrzehnt Weltrang erreicht. Das war die Basis für die erfolgreiche Einwerbung von Fördermitteln der DFG für einen Exzellenz-Cluster. Kalinowski und Prof. Michael Brzoska, der jetzige Direktor des IFSH, waren als ›Principal Investigators‹ von Anfang an dabei. Für den Teilbereich ›Klima und Konflikt‹ wurde inzwischen der Physiker und Friedensforscher Jürgen Scheffran berufen. Damit hat Hamburg inzwischen drei Arbeitsgruppen beziehungsweise Zentren der naturwissenschaftlichen Friedensforschung: die Gruppe IFAR des IFSH, das ZNF und die Gruppe von Prof. Scheffran (http://clisec.zmaw.de)33.

Fazit Soziale Bewegungen kommen und gehen, globale Herausforderungen bleiben. Die deutsche Naturwissenschaftler-Friedensbewegung der 1980er Jahre hat ihre Kraft aus drei Quellen bezogen: erstens aus der Wahrnehmung der Bedrohung durch einen großen Krieg mitten in Deutschland, zweitens aus der Emanzipation von einem historisch gewachsenen Dogma, dem Dogma der wertfreien Wissenschaft (genauer : dem Dogma, dass Wissenschaft wertfrei betrieben wird) und zuletzt durch die Einsicht in die Dynamik von Rüstungswettläufen, die durch naturwissenschaftlich-technische Entwicklungen und deren Akteure angetrieben werden. Insgesamt war es ein Prozess der politischen Selbstermächtigung (Zepp 2012). Friedensbewegte Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler haben in Hamburg und bundesweit ihre Expertise in Rüstungskontrolldebatten 32 Siehe im Internet unter www.znf.uni-hamburg.de/Friedensbildung . 33 Prof. Kalinowski hat sich ab 1. April 2012 für drei Jahre zur internationalen Nuklearteststopp-Organisation in Wien beurlauben lassen. Er wird in dieser Zeit von Prof. Gerald Kirchner (Universität Bremen) vertreten.

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und Rüstungskontrollforschung eingebracht. Sie tun das heute noch. Sie haben hauptsächlich Themen aufgegriffen, für die vertieftes naturwissenschaftlichtechnisches Verständnis nötig ist: die Wirkung und Kontrolle von ›Hightech‹Waffen wie Kernwaffen. Sie haben es mit der Hydra der Rüstungsdynamik zu tun. Dieser – oft technologisch getriebenen – Schlange wachsen immer neue Köpfe nach, solange Rüstungsforschung und Rüstungsentwicklung weltweit organisiert und finanziert werden (Altmann u. a. 2011: 415 – 437). Es wird also eine kritische Begleitforschung auf absehbare Zeit gebraucht werden34. Naturwissenschaftler konnten und können eine solche kritische Begleitforschung in Hamburg durchführen, weil diese Art von Forschung in der Universität und im IFSH institutionalisiert worden ist und finanziert wird. Die Akteure sind sich dessen bewusst, dass sie damit nur einen sehr begrenzten Teil einer Friedensforschungsagenda bearbeiten können. Sie greifen in der Lehre weitergehende Aspekte auf. Es ist eine kleine Gruppe von Aktiven, die sich da engagiert. Das Ergebnis kann sich sehen lassen und fällt insbesondere bei Studierenden auf fruchtbaren Boden. Fragen zum Weiterdenken Unter welchen Bedingungen entstehen und wachsen soziale Bewegungen wie die Naturwissenschaftler-Friedensbewegung? Was waren die Voraussetzungen und Gelingensfaktoren für die Transformation der Hamburger Naturwissenschaftler-Friedensbewegung zur Professionalisierung als naturwissenschaftliche Friedensforschung? Zwischen welchen Staaten und in welchen Regionen finden heute Rüstungswettläufe statt?

Leseempfehlungen Altmann, Jürgen / Kalinowski, Martin / Kronfeld-Goharani, Ulrike / Liebert, Wolfgang / Neuneck, Götz: »Naturwissenschaft, Krieg und Frieden«, in: Schlotter, P. / Wisotzki, S. (Hg.): Friedens- und Konfliktforschung. Baden-Baden 2011, S. 410 – 446. Hauswedell, Corinna: Friedenswissenschaften im Kalten Krieg. Baden-Baden 1997. Kronfeld, Ulrike / Baus, Wolfgang / Ebbesen, Björn / Jathe, Markus (Hg.): Naturwissenschaft und Abrüstung. Forschungsprojekte in deutschen Hochschulen. Münster/ Hamburg 1993, 302 Seiten 34 Rüstung tötet auch ohne Krieg – durch militärische Altlasten wie Landminen und durch den Entzug von Mitteln, die für eine nachhaltige Entwicklung gebraucht würden. In Kriegen und bewaffneten Konflikten sterben allerdings die meisten Opfer nicht durch Hightech-Waffen, sondern durch Kleinwaffen (vergleiche http://salw-guide.bicc.de ). Die Forschung zur Kontrolle von Kleinwaffen ist Aufgabe der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Das Thema ›small arms‹ ist aber auch eine Aufgabe für eine neue Friedensbewegung.

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Literatur Altmann, Jürgen / Liebert, Wolfgang / Neuneck, Götz: »Dem Missbrauch von Naturkräften entgegentreten – Naturwissenschaftliche Forschung für Abrüstung und Frieden«, in: Eckern, U. / Herwartz-Emden, L. / Schultze, R.-O. (Hg.): Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland – Eine Bestandsaufnahme. Wiesbaden 2004, S. 265 – 283. Altmann, Jürgen / Kalinowski, Martin / Kronfeld-Goharani, Ulrike / Liebert, Wolfgang / Neuneck, Götz: »Naturwissenschaft, Krieg und Frieden«, in: Schlotter, P. / Wisotzki, S. (Hg.): Friedens- und Konfliktforschung. Baden-Baden 2011, S. 410 – 446. Braun, Reiner u. a. (Hg.): Wissenschaft – Verantwortung – Frieden: 50 Jahre VDW. Berlin 2009. Bienlein, Johann / Lindström, Gunnar / Spitzer, Hartwig / Mitglieder der Friedensinitiative am Fachbereich Physik (Hg.): Physik und Rüstung, Bd. I. Hamburg 1984, unveröffentlicht. [Exemplare sind einsehbar in der Bibliothek des Fachbereichs Physik, Jungiusstraße 9, 20355 Hamburg sowie in der Staats- und Universitätsbibliothek]. Fischer–Appelt, Peter : Die Universität als Kunstwerk. Beiträge aus sechs Jahrzehnten. (Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 22) Berlin/Hamburg 2012. Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) (Hg.): »Kampf dem Atomtod«. Die Protestbewegung 1957/58 in zeithistorischer und gegenwärtiger Perspektive. München 2009. Hauswedell, Corinna: Friedenswissenschaften im Kalten Krieg. Baden-Baden 1997. Kerby, William / Rilling, Rainer (Hg.): Wege aus dem Wettrüsten. (Schriftenreihe Wissenschaft und Frieden 8). Marburg/Bonn/Münster 1987, 482 Seiten. Kronfeld, Ulrike / Baus, Wolfgang / Ebbesen, Björn / Jathe, Markus (Hg.): Naturwissenschaft und Abrüstung. Forschungsprojekte in deutschen Hochschulen. Münster/ Hamburg 1993, 302 Seiten. Labusch, Reiner / Maus, Eckart / Send, Wolfgang (Hg.): Weltraum ohne Waffen. München 1984. Lindström, Gunnar (Hg.): Bewaffnung des Weltraums, Ursachen – Gefahren – Folgen. Hamburg 1986. Neef, Wolfgang: »Zur künftigen Politik der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative«, in: Wissenschaft und Frieden 2008/1, S. 63 – 66; siehe auch: www.natwiss.de. Neuneck, Götz: »Missbrauch von Naturkräften eingrenzen«, in: Wissenschaft und Frieden, 2003/21 (4), S. 27 – 31. Renneberg, Monika: »Die Physik und die physikalischen Institute an der Hamburger Universität im ›Dritten Reich‹«, in: Krause, E. / Huber, L. / Fischer, H. (Hg.): Hochschulalltag im »Dritten Reich«. Die Hamburger Universität 1933 – 1945. Teil 3: Mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät, medizinische Fakultät, Berlin/Hamburg 1991, S. 1097 – 1118. Schaaf, Michael: Schweres Wasser und Zentrifugen – Paul Harteck in Hamburg (1934 – 1951). Verfügbar unter : http://censis.informatik.uni-hamburg.de/publications/ Art_M_Schaaf_Harteck.pdf [16. 06. 2013]. Schaaf, Michael: Der Physiko-Chemiker Paul Harteck (1902 – 1985), Dissertation, Historisches Institut der Universität Stuttgart, 1999. Gedruckt als CENSIS-Report 33, Universität Hamburg 1999; im Bestand der Staats– und Universitätsbibliothek.

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Schaaf, Michael / Spitzer, Hartwig: Zum 85. Geburtstag von Willibald Jentschke: Deutsches Elektronen–Synchrotron, Interner Bericht H1 – 97 – 01, Hamburg 1997. Schirach, Richard von: Die Nacht der Physiker. Berlin 2012. Spitzer, Hartwig (Hg.): Scientific Aspects of the Verification of Arms Control Treaties. Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Vol. 19 und 20, IFSH, Hamburg 1987. Trägerkreis ›Woche der Hamburger Hochschulen für Frieden und Abrüstung‹: Presseerklärung, 1985 (16. November), Archiv des Autors. Thomson, Edward P.: »Notes on Exterminism, the Last Stage of Civiliation«, in: New Left Review(Hg): New Left Review (Ed.), Exterminism and Cold War, Verio Editions London, 1982/21. Weizsäcker, Carl Friedrich von (Hg.): Kriegsfolgen und Kriegsverhütung. München 1971. Zepp, Marianne: »Ratio der Angst. Die intellektuellen Grundlagen der Friedensbewegung«, in: Becker-Schaum, C. u. a. (Hg.): »Entrüstet Euch!«. Nuklearkrise, NATODoppelbeschluss und Friedensbewegung, Paderborn 2012, S. 135 – 150.

Angelika Dörfler-Dierken

Muster der Aufreizung zum Krieg erkennen

›Jemanden aufreizen‹ – die Formulierung beschwört Emotionen herauf. ›Aufreizung‹ zielt auf die Sinne und ›schreit‹ gewissermaßen danach, dass auf den auslösenden Reiz reagiert wird. Dass Gefühle – und speziell ›aufgereizte‹ Gefühle – Menschen zum Handeln bewegen können, ist bekannt. Häufig wurden Emotionen gezielt ›geweckt‹, um Menschen für Krieg zu begeistern. Da mag dann alle Vernunft ausgeblendet worden sein. Emotionen wirken eben stärker als Gedanken. Die Beschäftigung mit Emotionen und deren Wirkmächtigkeit kam in den letzten Jahren in vielen akademischen Disziplinen in Gang. In Bezug auf die Geschichtswissenschaft spricht man sogar schon von einem emotional turn1. Ute Frevert (*1954) hat die These aufgestellt, dass die Erfahrung emotionaler Verführbarkeit während der 12-jährigen Herrschaft Hitlers und des nationalsozialistischen Systems zu einer Tabuisierung des Nachdenkens über die Wirkmächtigkeit von Emotionen in der Geschichte geführt hat. Damals seien die Gefühle der Zuhörer und Zuschauer bei den großen Reden Hitlers und seiner Getreuen kalkuliert hervorgerufen und die Erregung der Zuhörenden gezielt gelenkt worden. Daran habe man sich in der Nachkriegszeit nicht mehr gerne erinnern wollen – deshalb seien Emotionen in der deutschen Geschichtswissenschaft lange nicht beachtet und erforscht worden (Frevert 2008). Freverts Beobachtungen und Überlegungen sind durchaus einleuchtend. Sie macht nicht nur darauf aufmerksam, dass wir Heutigen uns von Emotionen leiten lassen, sondern auch darauf, dass Gefühle immer noch gezielt hervorgerufen, gesteuert und ausgenutzt werden können. Geschichtsmächtig wurden und werden beispielsweise Gefühle von ›Scham‹ und ›Ehre‹, wenn als »Theater 1 Vergleiche den Literatur- und Forschungsüberblick in transdisziplinärer Perspektive von Weber (2008). Vergleiche auch für ein historisches Beispiel Frevert (2012) zu Friedrich II., der auf der Klaviatur der Gefühle seiner Untertanen virtuos zu spielen vermochte. Frevert untersucht die Selbstinszenierung des Preußenkönigs gegenüber seinen Untertanen, die gezielte Lenkung der öffentlichen Meinung, zum Beispiel durch symbolische Handlungen, und die Selbstpräsentation als genialer Feldherr.

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der Emotionen« (Kolesch: 2006) inszenierte Politik sich ihrer bedient. Damit das funktioniert, müssen die Gefühle der Bevölkerung entsprechend (vor)gebildet werden. Auch ein so elementares Gefühl wie Angst ›haben‹ Menschen nicht einfach, sondern sie ›lernen‹ sich zu fürchten – statt vor Hexen vor einer drohenden Klimakatastrophe. Zustimmung und Fügsamkeit von Anhängerschaften müssen erzeugt und modelliert werden. Für Forscherinnen und Forscher, ja für jeden Menschen, geht es daher darum, sich solcher eigenen und fremden Emotionen, mit ihnen korrespondierender Einstellungen und daraus möglicherweise resultierender Verhaltensweisen bewusst zu werden. Es gilt, sich klar zu machen, dass und wie sie durch geschicktes Gefühlsmanagement als Ressourcen und Resonanzräume für bestimmte Ambitionen genutzt werden. »Gefühle machen Geschichte« titelt deshalb eine neuere Publikation (Ciompi/Endert 20112). Psychologen und Neurologen können Erregung mit ihren Methoden messen und beschreiben: Es handelt sich um eine Empfindung und ein dadurch provoziertes Verhalten – ausgelöst durch eingetretenen oder erwarteten Schmerz, durch die Angst vor Verlust oder Strafe, durch Verlockung, durch Erwartung von Belohnung oder von Spaß. Erregung löst körperliche Reaktionen aus: beispielsweise Schweiß, Pulssteigerung, Engegefühle oder auch Hochgefühle wie Lust. Man verwendet in der psychologischen Fachliteratur den Begriff ›Erregungsniveau‹ (auch Aktivierungsniveau oder Aktivation) vor allem dann, wenn man die Voraussetzungen für gelingendes Lernen beschreiben will. ›Erregung‹ ist ein neutraler Terminus. ›Erregung‹ ist an sich nicht problematisch. Menschen suchen Erregung in Aktivitäten wie Achterbahn fahren oder Horrorfilme anschauen. Erregt sind Verliebte oder Menschen bei Demonstrationen. Sogar das Lesen von Gedichten kann erregend wirken. Jeweils werden Gefühle hervorgelockt und manchmal können diese solcher Art sein, dass sie das Individuum überfluten und seine Handlungen leiten, egal ob es ›gute‹ oder ›schlechte‹ Gefühle sind.

Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan: Aspekte aktueller Gefühlspolitik Bei einem Blick in die jüngste Vergangenheit wird schnell deutlich, dass das ›Gefühlsmanagement‹ im politischen Bereich nicht so einfach ist wie es nach der Vorrede scheinen könnte: Bei Feuergefechten mit Aufständischen in Afghanistan sind am Karfreitag 2010 drei Soldaten der Bundeswehr ums Leben gekom2 Vergleiche dazu auch die Rezension von Frevert (2011).

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men. Die ›zentrale Trauerfeier‹ fand unter Beteiligung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (*1954) und des damaligen Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg (*1971) in der kleinen Dorfkirche in Selsingen statt. Millionen Bundesbürger hingen an diesem Freitagnachmittag vor den Bildschirmen und lauschten nicht nur den Militärgeistlichen der beiden christlichen Großkirchen, sondern auch den beiden Politikern. Der Verteidigungsminister nahm das bis zu seinem Amtsantritt verpönte K(rieg)-Wort zur Bezeichnung der soldatischen Erfahrung mehrstündiger Gefechte in den Mund und machte aus Bundeswehrsoldaten ›Helden‹ (Dörfler-Dierken 2012). So versuchte er, die Emotionen der deutschen Bevölkerung wie der Soldatinnen und Soldaten auszurichten auf ein Ziel hin: die Zustimmung zu der Behauptung der Notwendigkeit des Bundeswehreinsatzes gegen die Taliban in Afghanistan. Zwar mag die Trauerfeier das Bedürfnis der Kameraden der Getöteten und vieler ihrer Freundinnen und Freunde nach Anerkennung und Wertschätzung für den Dienst der Bundeswehr befriedigt haben, tatsächlich aber sind nach dieser Trauerfeier die Umfragewerte der Zustimmung zum Afghanistaneinsatz in der deutschen Bevölkerung auf einen Tiefstand gesunken (Bulmahn 2011: 51 – 62). Unzweifelhaft hat der staatliche Trauerakt Emotionen hervorgerufen: Tränen und betroffene Gesichter wurden durch das Medium Fernsehen transportiert. Die Betroffenheit schlug dann schnell um in die Frage: »Was sollen unsere Mitbürger in Uniform dort?« und sie provozierte die Forderung: »Bundeswehr ‹raus aus Afghanistan!« Bald darauf wurde der Abzug der Kampftruppen für 2014 verkündet. Gerade durch die Zustimmung heischenden rhetorischen Anstrengungen des adligen Ministers ist deutlich geworden, dass die große Mehrheit der Deutschen einen ›Krieg‹ in Afghanistan nicht mittragen will. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs sind sie ein friedensorientiertes Volk. Sie setzen mehrheitlich – wie ihre kontinentaleuropäischen Nachbarn – auf friedliche Mittel der Konfliktschlichtung (Jacobs 2010). Vielleicht klingen vielen Bürgerinnen und Bürgern noch die Parolen der Nachkriegszeit und der Friedensbewegung der 1980er Jahre in den Ohren3. Seit Selsingen beschwören deshalb die Politiker das Ende des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan, übrigens zusammen mit dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama (*1961), der als wichtigster Vertreter der ISAF-Nationen als Erster vom Abzug der Kampftruppen 2014 sprach.

3 Vergleiche die Beiträge von Dörfler-Dierken und Spitzer in diesem Band.

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Abbildung 1: Typen sicherheitspolitischer Einstellungen Tauben, Pragmatiker, Falken und Isolationisten in Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, Großbritannien und den USA 2007 (Angaben in Prozent). Quelle: Transatlantic Trends Topline Report 2008 (zit. nach Jacobs, 2010: 216)4

Bekanntlich ist Sprache ein sehr elastisches Medium und kennt zwischen Krieg und Frieden viele Abstufungen. Gesprochen wird heute von Einsätzen zur ›Friedenserzwingung‹ oder von solchen mit ›robustem Mandat‹, um zu suggerieren, dass militärische Gewalthandlungen manchmal das probate Mittel zur Herbeiführung von Frieden seien. Deshalb ist es sinnvoll, sich den Gehalt der Begriffe deutlich vor Augen zu stellen: Krieg meint die Aufhebung aller Regeln, die das menschliche Verhalten in der friedensorientierten Zivilgesellschaft leiten. Das grundlegende Gebot menschlichen Miteinanders ›Du sollst nicht töten‹ gilt im Krieg nicht. Krieg ist ein »Referenzrahmen« (Neitzel/Welzer 2011) menschlichen Handelns, der aus einfühlsamen Familienvätern »Handwerker des Tötens« (in Anlehnung an Norbert Gstrein) macht. »Die Kriegsgewalt öffnet einen Deutungs- und Handlungsraum, den es im Zivilleben nicht gibt: Töten, vergewaltigen, mächtig oder auch gnädig sein zu können – alle diese neuen Möglichkeiten gehen auf den geöffneten Gewaltraum und die an ihn gebundenen Deutungsmuster zurück« (Neitzel/Welzer 2011: 393).

4 Gemessen wurde die Zustimmung zu den im Folgenden wiedergegebenen Items, die vier Typen sicherheitspolitischer Einstellungen spiegeln: Tauben = Krieg ist nicht notwendig, um Gerechtigkeit zu erlangen. Ökonomische Macht ist wichtiger als militärische Macht; Pragmatiker = Krieg ist manchmal notwendig, um Gerechtigkeit zu erlangen. Ökonomische Macht ist wichtiger als militärische Macht; Falken = Krieg ist manchmal notwendig, um Gerechtigkeit zu erlangen. Militärische Macht ist wichtiger als ökonomische Macht; Isolationisten = Krieg ist nicht notwendig, um Gerechtigkeit zu erlangen. Militärische Macht ist wichtiger als ökonomische Macht.

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Erregung, Krieg und Religion Worte haben Männer dazu mobilisiert, den Straßenanzug aus- und die Uniform anzuziehen; Frauen sind bis heute sehr viel seltener als Soldatinnen an Kriegen beteiligt als Männer. In ganz Europa standen jahrhundertelang kriegsorientierte Gesellschaften einander gegenüber. Mobilisiert wurden die Menschen häufig mit religiös konnotierten Formeln. Für religiöse Erregungsgemeinschaften ist charakteristisch, dass eine transzendente Größe als ›Erreger‹ vorgestellt wird. ›Deo lo vult – Gott will es‹, riefen schon die Kreuzfahrer. Religion ist ein zutiefst stimulierendes, im tiefsten Inneren eines Menschen gegründetes System von handlungsleitenden Überzeugungen. Religiösen Überzeugungen ist mit ›objektiven‹ und ›vernünftigen‹ Sachargumenten kaum beizukommen. Viele Theologen und Religionspsychologen sagen, dass Religion selbst eine Erregungserfahrung reflektiert. Scheu oder Angst vor Gott gilt als religiöse Grunderfahrung. Das mysterium tremendum ist zugleich das mysterium fascinans, ein Geheimnis, das den Menschen in seinen Bann schlägt. Religiöse Rituale helfen, die Angst vor dem Göttlichen zu lindern. Die Aufgabe von Theologen und Pfarrern beziehungsweise Priestern besteht in dieser Perspektive darin, Menschen zu helfen, mit dem Göttlichen umzugehen, die eigene Erfahrung von Machtlosigkeit – am deutlichsten spürbar beim Tod geliebter Menschen oder bei der Erfahrung eigener Krankheit und Bedrohung – in Bezug auf ein Höheres zu reflektieren. So ermöglicht Religion Erregungserfahrungen von Hingabe, Entgrenzung und Verschmelzung. Die Überzeugung, in Einklang mit einem Göttlichen zu handeln, sich selbst als aufgehoben in einem höheren Sinnzusammenhang zu erfahren, verführt viele Menschen – auch zu irrational scheinenden Aktivitäten. Gerade kriegerische Handlungen haben eine Affinität zu Religion. Denn es geht um Leben und Tod, um den Kampf zwischen Gut und Böse. Das kann man bis heute am amerikanischen »war on terror« (Ronald Reagan 1971, wieder aufgegriffen von George W. Bush nach den Anschlägen des 11. September 2001) gegen die »Achse des Bösen« (George W. Bush, 2002) aufzeigen. Bush ruft nicht zur Verteidigung einer speziellen Religion auf. Das tut allerdings die andere Seite, die zwar auch gegen ›das Böse kämpft‹, aber zugleich für Allah und seinen Propheten. Religion und Krieg sind seit den ältesten Tagen der Menschheit eng verbunden: Religionsagenten wie Seher, Priester oder Heilige spielten häufig eine wichtige Rolle vor, im und nach dem Kampf; Heilsversprechen für getötete Kämpfer und Dämonisierung des Gegners sind bis heute geläufig. Sakralisierung des Krieges und Verklärung des Soldatentodes als ›Opfer‹ für die Gemeinschaft der Überlebenden sind noch immer üblich (Dörfler-Dierken 2008).

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Diese Phänomene erklären sich zwanglos daraus, dass Krieg5 das Tötungstabu zeitweilig mit Blick auf bestimmte Individuen oder Gruppen außer Kraft setzt und Gemeinschaften von exaltiert erregten Kämpfern schafft. Um liebevolle Familienväter zu Soldaten zu machen, werden gerne Rituale verwendet. Zur Mobilisierung bedarf es überdies der Schaffung von Sinnhorizonten und Feindbildern. Die Zeit des Krieges muss von der Friedenszeit abgegrenzt werden, weil im Krieg andere Regeln als im zivilen Leben gelten. Im Krieg müssen Menschen dazu bewegt werden, sich über das Tötungstabu hinwegzusetzen. Religion, hier unspezifisch gebraucht für das Ensemble von Grundorientierungen eines Individuums, erweist sich immer wieder als ein extrem starker Motivator zum Krieg. Zu dem Schluss, dass persönliche Überzeugungen das Verhalten bestimmen, kommt auch die militärische beziehungsweise militärsoziologische Forschung zur Kampfmoral. Gegenwärtig wird die Bedeutung militärischer Kohäsion (Kameradschaft) für die Kampf- beziehungsweise Einsatzmoral als relativ gering, die Bedeutung normativer Überlegungen beziehungsweise die Überzeugung, dass der Einsatz trotz aller damit verbundenen Probleme sinnvoll ist, dagegen als recht hoch eingeschätzt (Biehl 2004). Die Bedeutung von religiösen Überzeugungen für die Beteiligung an militärischen Handlungen erklärt sich zwanglos daraus, dass im Krieg die menschliche Tötungshemmung und das kulturell eingeprägte Tötungstabu zeitweilig außer Kraft gesetzt werden. Wer selbst im besten Alter mit dem Tod rechnen muss, wer erlebt, dass andere sterben, der fragt nach dem Warum – und er fragt nach seinem eigenen Nachleben. Deshalb erfolgt militärische Mobilisierung durch die Schaffung von religiös geprägten Sinnhorizonten. Religion bietet dem Individuum die Möglichkeit, den eigenen Tod oder den des Kameraden, den des Gegners oder Zivilisten in einen Sinnhorizont einzubetten. Die Grundliteratur der Christen, die Bibel, bietet eine Vielzahl von ›Mustern‹ an, die für die eigene Deutung des Kriegserlebens fruchtbar gemacht werden können: Das Alte Testament beispielsweise enthält ganze Bücher, die von Kriegen und vom Handeln der Kinder Gottes im Krieg berichten. Im Neuen Testament ist zwar der Gedanke des Friedens leitend, aber es ist auch daraus abgeleitet worden, dass der Soldat sich, so wie Jesus für seine Gemeinde, für das eigene Volk ›opfern‹ müsse (Dörfler-Dierken 2008). Religiöse Überzeugungen haben vielfach kriegsaufreizend gewirkt, religiös motivierte Erregungsgemeinschaften haben Kriege geführt. Deshalb ist es hoch bedeutsam, dass die theologische und die religionswissenschaftliche Forschung in den letzten Jahren verstärkt den Friedensbezug der Weltreligionen heraus5 Hier unspezifisch gebraucht für die völkerrechtlich geregelte bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Staaten ebenso wie für den sogenannten asymmetrischen Krieg, den Guerillakampf und den Bandenkrieg.

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Abbildung 2: Ein Engel stärkt Soldaten, Phantasie auf einer Bildpostkarte aus dem Ersten Weltkrieg Quelle: Universität Osnabrück, Bildpostkarten–Sammlung Prof. Giesbrecht (im Internet unter : http://www.bildpostkarten.uni-osnabrueck.de/displayimage.php?pos=-2289 [24. 10. 2013]).

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gearbeitet haben6. Trotzdem herrscht in vielen Gegenden der Erde noch immer die Überzeugung vor, kriegerisch-gewaltsame Auseinandersetzungen seien vom jeweiligen Gott gewollte Handlungsweisen. Noch immer werden religiöse Unterschiede und Differenzen zur Begründung für die Entstehung von gewaltsamen Auseinandersetzungen angeführt und für die Motivation der beteiligten Soldaten oder Kämpfer instrumentalisiert. Kriegsorientierte Akteure nutzen das Potential der Religionen für ihre Interessen. Das kann man nicht einfach abstellen oder verbieten, denn bloße Vernunftgründe helfen nicht. Existentiell erfahrener kriegsorientierter Erregung kann wohl eher mit friedensorientierter Erregung gewehrt werden, denn Religion kann zum Krieg ebenso wie zum Frieden anregen. Und die politologische und ethnologische Forschung hat herausgefunden, dass gerade »religionsbasierte« Friedensstifter und Mediatoren (Weingardt 2007) bei den Verfeindeten als besonders glaubwürdig gelten. Religion ist also eine Ressource für Konfliktverschärfung sowie für Konflikteinhegung.

Typen zum Krieg aufreizender Rede Einige der Muster kriegsaufreizender Rede aus der Vergangenheit werden im Folgenden beispielhaft skizziert.

Vor dem Krieg: Verteufelung des Feindes und Beschwörung eigener Stärke Viele christliche Theologen und Pfarrer, evangelische ebenso wie römisch-katholische, hatten keine grundsätzlichen Zweifel an der Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit von Krieg und Töten. Zum Zweck der Mobilisierung der Menschen perhorreszierte beispielsweise Ernst Moritz Arndt (1769 – 1860), Theologieprofessor in Greifswald, anlässlich der sogenannten Befreiungskriege gegen Napoleon Bonaparte (1769 – 1821) 1812 die feindliche Armee zum Satan: »Denn der Satan ist gekommen, Er hat sich Fleisch und Bein genommen, Und will der Herr der Erde sein« (zitiert nach Greschat 1997).

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768 – 1834) pries diesen Krieg als »Befreiung aus dem Sklavenstande«. 6 Vergleiche beispielsweise das von dem römisch-katholischen Theologen Hans Küng initiierte »Projekt Weltethos« mit der »Erklärung zum Weltethos« und der umfangreichen Literatur. ›Gewaltlosigkeit‹ und ›Frieden‹ sind demnach ebenso wie die ›Goldene Regel‹ Kernelemente einer jeden Religion.

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Abbildung 3: Werbeplakat für den Eintritt ins Militär von 1762/1763 Quelle: Bilder und Zeugnisse der deutschen Geschichte, Sammlungen des Deutschen Historischen Museums. Berlin 1997, S. 2367.

Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts hieß es dann, Krieg mache lebendig, reinige die Luft, erwecke aus dem Sündenschlaf und biete die Chance zu wahrer Frömmigkeit. Historische und kirchengeschichtliche Forschungen haben viele Beispiele dafür gesammelt, wie aus bestimmten kulturellen Erscheinungen Krieg mit einer gewissen Zwangsläufigkeit hervorzugehen scheint. Man nennt solche Kulturen bellizistisch, auf bellum (Krieg) hin orientiert. Festgestellt hat man beispielsweise, dass das nationalkriegerische Gemeinschaftsideal, wie es beispielsweise in den deutschen Sänger-, Schützen- und Turnvereinen am Vor7 Unter dem Bild stand auf dem Werbeplakat: »[…] wird kund und zu wissen gethan, daß diejenigen, so Lust haben, Ihro Majestät, dem König von Frankreich, unter dem hochlöblichen Infanterie–Regiment von Anhalt zu dienen, dieselben haben sich allhier bey dem Herrn Hauptmann besagten Regiments […] zu melden.« Versprochen wurde den potentiellen Soldaten nicht nur Geld, Bewaffnung, Kleidung, Speise und Trank, Branntwein und Spaß, sondern auch Unterricht in der französischen Sprache, Alphabetisierung, Unterricht im Tanzen und Fechten, Erfahrung der französischen Lebensweise und Kultur. Danach, so stellt das Werbeplakat fest, würden viele Zivilisten »streben und doch nicht anders als durch Verschwendung ihres Vermögens dazu gelangen.« Zum Schluss wird denjenigen, die dem Werber einen brauchbaren Soldaten zuführen, ein guter Lohn versprochen.

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abend der Einigungskriege (also vor 1864) gepflegt wurde, Kriegsbegeisterung gefördert hat bis hin zum Sieg über Frankreich im Jahr 1871. Im 19. Jahrhundert und noch am Beginn des 20. Jahrhunderts, waren (fast) alle Männer, auch die aus höherem sozialen Stand, von der Möglichkeit durchaus angetan, ihre Männlichkeit im Uniformrock und mit Waffenschmuck zu realisieren, denn es wurde regelrecht ein Kult um den Offizier getrieben. Während der deutsche Mann sich ›zackig‹ inszenierte, verurteilte er den französischen Mann als ›weibisch‹. Deutsche Männer pflegten die Erinnerung an die Helden aus dem Befreiungskrieg 1813. Ihr kriegsorientiertes Pathos war – sozialhistorisch betrachtet – geeignet, von Problemen der ökonomischen Entwicklung des in Kleinstaaten zersplitterten Deutschlands abzulenken, und – konfessionsgeschichtlich betrachtet – abzulenken von dem schroffen Antagonismus zwischen deutschen Katholiken und Protestanten. So haben Historiker und Kirchengeschichtler eine Vielzahl von Faktoren identifiziert, die alle zusammenwirkten und im Kriegseintritt kulminierten. Politikerreden, Predigten, Lieder, ja selbst Matrosenanzüge für kleine Jungen wurden der Forschung zu Indikatoren für kriegsorientierte Erregung. Oft bedurfte es nur eines Funkens und die Stimmung explodierte: die Truppen marschierten. Ein zweites Beispiel aus dem 20. Jahrhundert soll deutlich machen, dass solche Prozesse der Formierung einer Gesellschaft hin zu einer kriegsbereiten Erregungsgemeinschaft nicht nur anonym ablaufen, sondern durchaus einzelne und identifizierbare Individuen die Macht haben, Menschen zum Krieg zu verleiten. Es sind eben nicht anonyme Mächte, Kräfte, Moden, ökonomische, politische oder religiöse Gegensätze, die sich ›irgendwie‹ bis hin zum Krieg steigern, sondern Menschen tragen dafür Verantwortung – sowohl diejenigen, die Krieg einfordern als auch diejenigen, die sich ihnen anschließen. Am 10. November 1938 hielt Adolf Hitler (1889 – 1945) eine Geheimrede vor etwa 400 Journalisten und Spitzenfunktionären aus dem NS-Propaganda-Apparat, in der er erläuterte, er habe bisher vom Frieden sprechen müssen, um von der eigenen Aufrüstung propagandistisch abzulenken. Jetzt ginge es darum, die deutsche Bevölkerung zu mobilisieren. Hitler sagte: »Der Zwang war die Ursache, warum ich jahrelang nur vom Frieden redete. Es war nunmehr notwendig, das deutsche Volk psychologisch umzustellen und ihm langsam klarzumachen, dass es Dinge gibt, die, wenn sie nicht mit friedlichen Mitteln durchgesetzt werden können, mit den Mitteln der Gewalt durchgesetzt werden müssen. Dazu war es aber notwendig, nicht etwa nur die Gewalt als solche zu propagieren, sondern es war notwendig, dem deutschen Volk bestimmte außenpolitische Vorgänge so zu beleuchten, dass die innere Stimme des Volkes selbst langsam nach der Gewalt zu schreien begann. Das heißt also, bestimmte Vorgänge so zu beleuchten, dass im Gehirn der breiten Masse des Volkes ganz automatisch allmählich die Überzeugung ausgelöst

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wurde: wenn man das eben nicht im guten abstellen kann, dann muß man es mit Gewalt abstellen; so aber kann es auf keinen Fall weitergehen«8 (zitiert nach Wette 1991: 174 f.).

Die Umstellung der Propaganda, so fuhr Hitler fort, sei seit Monaten planmäßig begonnen, planmäßig fortgeführt und verstärkt worden. Die »pazifistische Platte« habe sich jetzt »bei uns abgespielt« (ebd.). Gemäß den Weisungen des Diktators stand das Jahr bis zum Beginn des Krieges im September 1939 im Zeichen einer planmäßigen psychischen Mobilmachung für den Krieg. Durch eine Intensivierung der Wehrmachtspropaganda sollte das Selbstvertrauen des deutschen Volkes zu seiner eigenen Kraft und zu seinen militärischen Machtmitteln gestärkt werden. Die Wehrmacht wurde nun durch alle zur Verfügung stehenden Publikationsmittel in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Ganz allmählich und eher indirekt machte die Propaganda die Bevölkerung auch mit einem Kriegsziel vertraut. Es gehe, wie nun mehrfach zu vernehmen war, um die Sicherstellung der Ernährung des deutschen Volkes, was nur durch die Erweiterung seines Lebensraums möglich sein werde. Deutlich wird hier, dass Kriegsaufreizung ausschließlich in einer Situation Erfolg haben kann, in der das Vertrauen auf die eigene Kraft und Stärke sowie auf die eigenen Waffen groß ist. Menschen lassen sich nur dann für einen Krieg erregen, wenn sie sich in einer Situation zu befinden meinen, in der sich ihnen die kriegerische Lösung der von ihnen empfundenen Probleme nahe legt. Wer sich hoffnungslos unterlegen weiß, wird den Krieg als Abenteuer ablehnen. Nur wem Erfolg winkt, der wird ihn beginnen. Kriegsorientierte Erregung – auch das wird hier deutlich – ist kein gesellschaftlicher Normalzustand; sie muss herbeigeführt werden. Deutlich macht dieses Beispiel überdies, dass Religion nicht unbedingt identisch mit christlicher Religion sein muss, sondern dass auch der Staat selbst und die ›völkische Gemeinschaft‹ mit religiöser Dignität ausgestattet werden können.

8 Wer einwenden würde, es handele sich hier um eine Geheimrede — das heißt, sie hätte keine öffentliche Wirkung erzielen können — der übersieht, dass die geladenen Journalisten ja diejenigen waren, die am nächsten Morgen und in den nächsten Wochen die Artikel in den Tages- und Wochenzeitungen schrieben, die entweder die kriegsorientierte Stimmung weiter anheizen oder sie kritisieren konnten. Gerade Journalisten, die gut ›gefüttert‹ wurden, was den Willen des Führers anbelangte, ließen sich gerne für entsprechende Ziele einspannen. Sie lebten im Bewusstsein ihrer Bedeutung für den Führer und konnten sich vom früheren ›Meinungskampf‹ zwischen den Vertretern der ›brotlosen Kunst‹ endgültig verabschieden. Dafür überboten sie sich jetzt als Erfüllungsgehilfen Hitlerscher Pläne, in die sie sich eingeweiht fühlen durften.

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Im Krieg: Gebet für den Sieg, Ergebung in den Willen des strafenden Gottes, Opferrhetorik Während des Krieges müssen zum einen Soldaten dazu gebracht werden, das zu tun, was ihnen ihre Vorgesetzten befehlen, auch gegebenenfalls gegen ihre eigenen inneren Widerstände. Zum anderen müssen die zivilen Gesellschaften dazu gebracht werden, ihre Soldaten zu unterstützen. Das war im Zeitalter der Kabinettkriege im 18. Jahrhundert noch weitgehend unnötig, weil kein anständiger Bauer oder Bürgersmann seinen Sohn in die Fürstenheere schickte – lieber kaufte man ihn frei. Als aber, in Vorbereitung auf den Befreiungskrieg gegen Napoleon, in Preußen die allgemeine Wehrpflicht eingeführt worden war, war die Unterstützung des geplanten Kriegszuges durch die Mütter der Soldaten, durch ihre Bräute, Ehefrauen und Töchter unumgänglich. Besonders die Frauen müssen also dazu gebracht werden, den Feind, dem ihre Männer und Söhne sich stellen sollen, als so gefährlich anzusehen, dass sie den leiblichen Einsatz ihrer Lieben für notwendig halten. Ihre Ängste um die im Felde Stehenden dürfen nicht ins Unendliche wachsen, ihr Vertrauen in die militärische und politische Führung muss gestärkt werden. Deshalb hat Kriegsberichterstattung eine große Bedeutung. Sie muss vom Vorrücken, von Siegen und positiven Entwicklungen berichten, die zukünftigen Vorteile nach Kriegsende golden ausmalen und dadurch verhindern, dass die Zweifel an der sogenannten ›Heimatfront‹ allzu groß werden. Auf Feldpostkarten aus der Zeit des Ersten Weltkriegs (1914 – 1918) finden sich auffällig häufig Gebete. So zeigt ein Bild beispielsweise ein niedliches kleines Mädchen, das auf dem Bett kniend folgendes Nachtgebet spricht: »Lieber Gott, lass’ Deutschland siegen Und die Feinde Haue kriegen. Sorg’, dass der böse Krieg bald aus Bring’ Väterchen gesund nach Haus« (Alzheimer 2009: 93).

Meist war die Aufgabe der Pfarrer an der Heimatfront während des Ersten und des Zweiten Weltkriegs darauf gerichtet, zu beruhigen und Ergebung in den Willen Gottes zu erwirken. Man könne nur beten, dass der Geliebte oder Ehemann lebendig zurückkomme. Geduldig ertragen werden müsse die schwere Zeit. Gelingen konnte diese Beruhigung nur, weil die Vorstellung, man müsse der Obrigkeit gehorsam sein, tief in den Köpfen der Gläubigen evangelischen wie katholischen Bekenntnisses verankert war und die Höherschätzung des himmlischen als des irdischen Lebens zu den Grundbausteinen christlicher Identität zählt. Dazu kam ein zweites Muster : Krieg wurde – gerade in theologisch konservativen Kreisen – als ›Strafe Gottes‹ wahrgenommen. Krieg wurde damit zu einem Geschehen, auf das einfache Christen keinen Einfluss haben, das sie aus Gottes Hand annehmen und erleiden müssen. Das Deutungsmuster

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›Strafe Gottes‹ ist seit dem Mittelalter gleich geblieben, über alle Entwicklungen der Kriegstechnik hinweg (Sack 2008). Aber nicht nur die Daheimgebliebenen, auch die Soldaten mussten auf Kriegskurs gebracht und gehalten werden; schließlich sind es verschiedene Dinge, sich in der Heimat als zukünftiger Held zu wähnen und dann im Schützengraben zu zittern. Für die Aufreizung der Soldaten im Gefecht waren zwar die militärischen Vorgesetzten verantwortlich, faktisch erfüllten aber auch Feldgeistliche entsprechende Aufgaben. Sie feuerten die Soldaten mit dem Versprechen himmlischen Lohnes an und halfen ihnen, mit ihrer Angst umzugehen. Überraschend groß ist die Zahl von Gebeten, die in der Heimat und in den Schützengräben auf Postkarten verbreitet wurden: zum Beispiel das »Gebet während der Schlacht«. Es geht auf ein Gedicht Theodor Körners (1791 – 1813) aus dem Jahr 1813 zurück: »Gott, dir ergeb ich mich! Wenn mich die Donner des Todes begrüßen, Wenn meine Adern geöffnet fließen, Dir, mein Gott, dir Ergeb’ ich mich! Vater, ich rufe Dich« (Alzheimer 2009: 95).

Pfarrer gehörten auch zur kriegserregten Kameradschaft der Soldaten im Feldlager und auf dem Gefechtsfeld. Besonders gerne erinnerten sie sich nach dem Krieg daran, dass sie sogar unter feindlichem Feuer die christliche Botschaft verkündigen konnten. Zum Beispiel: Ein Pfarrer ritt während des Deutsch-Französischen Krieges neben seinen Soldaten her und rief laut: »Soldaten, wir gehen dem Feinde entgegen. Seid getreu bis in den Tod9. Kraft meines Amtes vergebe ich Allen, die bußfertig ihre Sünden bereuen und sich des Verdienstes Jesu Christi im Glauben getrösten, im Namen des dreieinigen Gottes ihre Sünden« (Vogt 1984: 418 f.).

Nach dem Krieg veröffentlichte dieser Pfarrer einen Bericht von seiner ›Heldentat‹. Solche Selbstinszenierung sollte dem Gottesmann einen Platz im nationalen Heldendiskurs verschaffen. Danach galt es geradezu als Kennzeichen eines guten Feldgeistlichen, auch unter feindlichem Beschuss den Soldaten die göttliche Gnade zuzusprechen. Als Erster hat der Vater von Friedrich dem Großen, der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. (1688 – 1740, König ab 1713), Feldprediger in Dienst ge-

9 Die Wendung »Seid getreu bis in den Tod« geht zurück auf die Offenbarung 2,10, wo den Getreuen die »Krone des Lebens« versprochen wird. Gemeint ist hier natürlich nicht die Treue zu Obrigkeit oder Staat, sondern diejenige zu Jesus Christus.

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nommen, um die Disziplin seiner Truppen zu verbessern. Im »Reglement vor die Königlich Preußische Infanterie« von 1726 heißt es: »Weilen ein Kerl, welcher nicht Gott fürchtet, auch schwerlich seinem Herrn treu dienen und seinen Vorgesetzten rechten Gehorsam leisten wird, als[o] sollen die Officiers den Soldaten wohl einschärfen, eines christlichen und ehrbaren Wandels sich zu befleißigen; weshalb die Officiers, wenn sie von eines Soldaten gottlosem Leben in Erfahrung kommen, selbigen vornehmen, und wenn er sich nicht bessert, den Kerl zum Priester schicken müssen« (Ihlenfeld 1935: 29).

Die Feldgeistlichen, im Preußen des 18. Jahrhunderts meist junge Pietisten aus Halle, die im Waisenhaus gelernt hatten, wie man junge Menschen prägt, hatten den in den Dienst gepressten Soldaten christliche Pflichterfüllung beizubringen und deren Angst vor Verwundung und Tod in gelassene Akzeptanz des Willens Gottes umzuformen. Erfolgen sollte diese moralische Aufrüstung der Soldaten unter anderem bei der täglichen Andacht, die genau eine Viertelstunde lang sein durfte. Militärmusik und Religion Der Zucht diente auch das Abendritual, Zapfenstreich genannt nach dem Zapfen, der in das Branntweinfass geschlagen wurde. Wenn die Pfeifer und Trommler mit dem Profoss, dem verantwortlichen Offizier, das entsprechende Signal gegeben hatten, musste Schluss sein mit Spiel und Trunk. Nach den Befreiungskriegen in den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das Abendritual zum musikalischen Abendzeremoniell weiter, zum ›Großen Zapfenstreich‹. 1813 hörte der preußische König Friedrich Wilhelm III. (1770 – 1840) das Abendlied der russischen Soldaten. Da er wollte, dass seine Truppen »auch in Hinsicht auf die Gottesverehrung keinen anderen nachstehen sollen«, befahl er, dass nach dem üblichen Zapfenstreich ein Abendlied zu spielen und von den Soldaten ein stilles Gebet ohne Kopfbedeckung zu sprechen sei. Zum musikalischen Hintergrund nur so viel: Der einleitende Militärmarsch erinnert an die Zeiten, als der Marschschritt der Soldaten von Trommel und Flöte angegeben wurde: Der Ordinairschritt (Normalschritt) betrug 72 Schritte pro Minute, paradiert wurde mit 80 Schritten, der Geschwindmarsch umfasste 108 bis 118 Schritte in der Minute. An den Parademarsch erinnert die einleitende Musik. Gesungen oder still gebetet wird dann nach dem Befehl: »Helm ab zum Gebet!« Die Melodie zum Gebetslied stammt von dem russischen Komponisten Dimitrij Sterpanowitsch Bortnjanski (1751 – 1825), der Text von dem niederrheinischen Pietisten Gerhard Tersteegen (1697 – 1769). Der Text lautet: »Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesus offenbart; ich geb mich hin dem freien

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Triebe, mit dem auch ich geliebet ward. Ich will anstatt an mich zu denken, ins Meer der Liebe mich versenken.« Heute wird meist nur noch die Musik gespielt, aber nicht mehr das Lied gesungen. 1838 hat der preußische Generalmusikdirektor Friedrich Wilhelm Wieprecht (1802 – 1872) den Großen Zapfenstreich mit 200 Spielleuten und 1.000 Musikern vor dem preußischen König und dem Zaren erstmals aufgeführt. Seitdem gehört der ›Große Zapfenstreich‹ zum staatlichen Ehrenzeremoniell. Aus dem militärischen Signal zur Nachtruhe wurde ein gesellschaftliches Großereignis, welches nicht nur das soldatische, sondern auch das zivile Herz rühren soll. Militärmusiker in Uniform spielen, Uniformierte halten die Fackeln – perfekte abendliche Inszenierung von Gefühlen der Erhebung. Die Nazis haben den ›Großen Zapfenstreich‹ so häufig zur Aufführung gebracht, dass ihn dann nach dem Zweiten Weltkrieg erst einmal niemand mehr hören wollte. Allerdings wird die Aufführung des ›Großen Zapfenstreichs‹ seit einiger Zeit immer öfter im Fernsehen übertragen, etwa bei der Verabschiedung von Bundeskanzlern oder Verteidigungsministern. Religion spielt noch heute im Lager in den Einsatzländern der Bundeswehr eine große Rolle: Militärgeistliche sind vor Ort, ihre christlichen Engel-Amulette finden guten Absatz, Gottesdienst und ›Kirchencocktail‹ (die Möglichkeit, nach dem Gottesdienst ein Getränk zu sich zu nehmen) sind die einzigen Momente, welche die Eintönigkeit der Lagerwoche durchbrechen. Die Zustimmung der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr zum Wirken der Militärseelsorge ist überwältigend groß. Die beiden christlichen Großkirchen haben mit ihrer militäraffinen, teilweise bellizistischen Mentalität und Tradition gebrochen. Sowohl die evangelische wie auch die römisch-katholische Kirche in Deutschland haben sich darauf festgelegt, dass das Paradigma des ›Gerechten Krieges‹ zu überwinden sei durch das Paradigma des ›Gerechten Friedens‹10. Nach der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges haben sie radikal umgedacht und sich von ihren früheren Botschaften distanziert. Gott ist ein Gott des Friedens – das ist spätestens seit der Friedensbewegung der 1980er Jahre ihr Credo. Zugleich rechnen beide Kirchen in ihren Friedensdenkschriften und -worten mit der Notwendigkeit, um der Verantwortung für menschliches Lebens willen, Frieden notfalls auch durch den Einsatz militärischer Mittel erzwingen zu müssen. 10 Vergleiche die sogenannten Friedensdenkschriften: Aus evangelischer Perspektive, zuletzt: »Aus Gottes Frieden leben — für gerechten Frieden sorgen«. Eine Denkschrift des Rates der EKD (Gütersloh 2007). Aus römisch-katholischer Perspektive die Verlautbarungen der Deutschen Bischöfe, zuletzt: »Gerechter Friede« (Bonn 2000). Vergleiche zur Diskussion Dörfler-Dierken/Portugall (2010).

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Nach dem Krieg: Erinnerungspolitik und Revanchegelüste Nach dem Krieg bedeutete allzu häufig in der europäischen Geschichte: vor dem Krieg. Tatsächlich wurde 1989 zwar der Kalte Krieg beendet, Frieden ist damit aber längst nicht eingezogen – nicht in Europa und schon gar nicht weltweit. Im Gegenteil: Sicherheitsdenken, Notwendigkeit der Abwehr von Gefahren mit militärischen Mitteln und die Erwartung, dass Menschen vor der Willkür von Despoten geschützt werden müssen, haben Krieg als Mittel der Politik wieder hoffähig gemacht. Deshalb dürfte es nicht uninteressant sein sich klarzumachen, wie aus einer durch Krieg gerade äußerlich befriedeten wieder eine kriegsorientierte Gesellschaft wird. Als Beispiel dient wieder die deutsche Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Neben den vielen am Anfang schon genannten Erscheinungen wirkte sich jetzt auch die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg (1618 – 1648) kriegsaufreizend aus. Dieser Krieg war eines der einschneidendsten Ereignisse der europäischen Geschichte, tief in der kulturellen Erinnerung der europäischen Nationen verankert. Der Westfälische Frieden (1648) von Münster und Osnabrück, das erste große Friedenswerk Europas, wurde von der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert an nicht mehr als erfreuliches Friedensereignis erinnert, sondern vielmehr als Beginn nationaler Schmach. Aus den während des 17. und 18. Jahrhunderts gefeierten ›Friedensfesten‹ – entstanden als Veranstaltungen zur Feier von Versöhnung nach der kollektiven Erfahrung von Gewalt – wurden Feste zur Feier des Sieges des Protestantismus über den Katholizismus. Selbsterhebung und Demütigung dominierten, je nach konfessioneller Zugehörigkeit. Von den Kriegsgräueln wurde weiterhin erzählt, aber jeweils so, dass die andere Konfessionspartei als schuldig dargestellt wurde. Die bisher in lateinisch und deutsch herausgebrachten und im Schulunterricht übersetzten Friedensverträge wurden vom Ende des 18. Jahrhunderts an nicht mehr für Unterrichtszwecke nachgedruckt. Die Friedensorientierung trat in der Erinnerung zurück, die Kriegsorientierung dominierte. Die Kriegserinnerung diente also nicht mehr dem Frieden, sondern der Entstehung einer neuerlich kriegsorientierten Kultur. Das Beispiel macht klar, wie wichtig es ist, sich selbst nach dem Krieg darüber Rechenschaft abzulegen, wie »der (letzte) Krieg in den Köpfen« (Sack 2009) kollektiv und kommunikativ erinnert wird. Gefährlich ist neben der Versimpelung des zurückliegenden Krieges, der heroisierenden Kriegserzählung und der Inszenierung von Dolchstoßlegenden auch die Pflege einer Kultur der Niederlage. Denn Unterlegenheitsgefühle schüren Rachegelüste.

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Friedenskultur als Aufgabe Vor dem Krieg muss mobilisiert werden, während des Krieges muss die Motivation zum Krieg aufrecht erhalten werden, und die Zeit nach dem Krieg ist oftmals nur eine kurze Phase vor dem nächsten Krieg. In allen drei Phasen kann kriegsorientierte Erregung eine wichtige Rolle spielen. Die mitteleuropäische Geschichte der letzten Jahrhunderte stellt ein reiches Reservoir von Erfahrungen zur Verfügung, die als Instrumente genutzt werden können, um Kriegsorientierung in einer Gesellschaft zu erkennen. Ich erinnere stichpunktartig an einige Punkte: – Herstellung von Feindbildern und Verteufelung des Feindes; – Schaffung einfacher Dualismen; – Förderung von Revanche- und Rachegelüsten; – Inszenierung von Verteidigungsnotwendigkeiten; – Forderung der Überwindung nationaler Schmach; – Erhöhung der Gewaltbereitschaft gegen Fremde; – Förderung der Opferbereitschaft für den Staat; – Erhöhung des Staates über das Individuum; – Unterdrückung friedensorientierter Stimmen; – Unterdrückung von innergesellschaftlichem Pluralismus; – Förderung eines Kults der Härte und der Selbstdurchsetzung; – Inszenierung einer homogenen Gesellschaft. Indem man im Rückblick erhebt, welche Ereignisse und Maßnahmen wie gewirkt haben – indem man beispielsweise erkennt, dass es nicht nur eine belanglose ›Mode‹ ist, wenn kleine Jungen in Matrosenanzüge gekleidet werden – kann man erkenntnisleitende Fragen für die Gegenwart entwickeln. Sensibilität für gegenwärtige Entwicklungen wächst durch Einblicke in die historische Forschung, »Sprachsensibilität« (Wengeler 2000: 280) gehört auch und in besonderer Weise dazu. Die Gefährdung einer Gesellschaft durch kriegsorientierte Entwicklungen im Blick zu behalten, ist meines Erachtens gerade in einer Situation sinnvoll, die wie die Gegenwart vom Schlagwort Frieden beherrscht wird. Denn das Maß an kriegsorientierter Erregung, das Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in Zukunft zeigen, das Maß an kriegsorientierter Erregung, das die Medien, die Gesellschaft und auch solche Organisationen wie die Kirchen zeigen, dürfte die Entwicklung auf den gegenwärtigen und zukünftigen Konflikt- und Kriegsfeldern beeinflussen. Zwar betont die Historische Friedensforschung, dass sich in Deutschland nach und nach eine ›Friedenskultur‹ etabliert habe, aber »diese Entwicklung ist […] keineswegs notwendig in allen gesellschaftlichen Bereichen verankert und durchaus fragil« (Schilling 2000: 109). Zu erinnern ist an dieser Stelle an die eingangs skizzierte Diskussion um

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die Verwendung des Begriffs ›Krieg‹ zur Bezeichnung der Wirklichkeit, der sich Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr und deren Verbündete in Afghanistan aussetzen. Zu erinnern ist auch an die Entscheidung zum Kosovofeldzug im Jahr 1999, der durch eine emotionalisierende sowie simplifizierend-dualistische politische und mediale Kampagne initiiert und begleitet wurde. Der erste Schritt zum Krieg hin ist kriegserregtes Denken und Sprechen – mentale und verbale Kriegslüsternheit. Fragen zum Weiterdenken In welcher Situation leben wir in Europa und speziell in der Bundesrepublik Deutschland heute: in einer kriegsorientierten oder in einer friedensorientierten Kultur? Sehen Sie mögliche Anzeichen für kriegsorientierte Erregung?

Leseempfehlungen Biehl, Heiko / Giegerich, Bastian / Jonas, Alexandra (Hg.): Strategic Cultures in Europe. Security and Defence Policies Across the Continent. (Schriftenreihe des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr 13) Wiesbaden 2013. Holzem, Andreas (Hg.): Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens. Paderborn u. a. 2011. Krumeich, Gerd / Lehmann, Hartmut (Hg.): »Gott mit uns«. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Göttingen 2000. Kühne, Thomas (Hg.): Von der Kriegskultur zur Friedenskultur? Zum Mentalitätswandel in Deutschland seit 1945. (Jahrbuch für Historische Friedensforschung 9) Münster 2000. Schreiner, Klaus (Hg.): Heilige Kriege. Religiöse Begründungen militärischer Gewaltanwendung. Judentum, Christentum und Islam im Vergleich. München 2008. Seliger, Marco: Sterben für Kabul. Aufzeichnungen über einen verdrängten Krieg. Hamburg u. a. 2011.

Literatur Alzheimer, Heidrun (Hg.): Glaubenssache Krieg. Religiöse Motive auf Bildpostkarten des Ersten Weltkrieges. Begleitbuch zur Ausstellung ›Glaubenssache Krieg‹ im Fränkischen Freilandmuseum Windsheim. (Schriften und Kataloge des Fränkischen Freilandmuseums des Bezirks Mittelfranken 55) Bad Windsheim 2009. Biehl, Heiko: »Kampfmoral und Einsatzmotivation«, in: Gareis, S. B. / Klein, P.: Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. Wiesbaden 2004, S. 268 – 276. Bulmahn, Thomas / Fiebig, Rüdiger / Hilpert, Caroline: Sicherheits- und verteidigungspolitisches Meinungsklima in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der Be-

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Angelika Dörfler-Dierken

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2. Konfliktfelder und Konfliktdynamiken

Ulrike Borchardt

Konfliktfelder und Konfliktdynamiken

Friedensbildung setzt Kenntnis und Analyse von Konfliktfeldern und ihren Dynamiken voraus. Entscheidend für sinnvolle und langfristige Friedensbildung ist die sorgfältige Untersuchung wichtiger Kulminationspunkte. Dieses Ziel streben die in diesem Abschnitt des Buches veröffentlichten Beiträge an: Wolfgang Schreiber, Konflikt- und Friedensforscher und Leiter der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) am Institut für Politikwissenschaft der Universität Hamburg, setzt sich in seinem Beitrag mit der Problematik der ›neuen‹ Kriege, ihrer medialen Instrumentalisierung und ihrer Bedeutung für humanitäre Interventionen kritisch auseinander. Er thematisiert die Problematik der Gewichtung der Relation zwischen quantitativen und qualitativen Daten der jeweiligen Kriegsdefinitionen und stellt ihre widersprüchlichen Konsequenzen für ihre Validität dar : Während die quantitativen Daten gegen die These der ›neuen‹ Kriege sprechen, bleibt ihre qualitative Analyse nicht ohne Konsequenzen für die politischen Handlungsoptionen. So leistet insbesondere ihre mediale Wirkung für die Legitimierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr einen entscheidenden Beitrag. Volker Matthies, Friedens- und Konfliktforscher mit dem Schwerpunkt Konfliktprävention, liefert in seinem Beitrag eine differenzierte und teilweise ernüchternde Bilanz der Debatte um die Wirkungsmechanismen der Konfliktprävention. Dass und weshalb Konfliktprävention häufig nicht ihr Ziel erreicht, wird nachvollziehbar erklärt. Ob sie dennoch eine Möglichkeit zur effektiven Umsetzung friedenspolitischer Ziele bietet, wird anhand verschiedener Beispiele erläutert. Besondere Relevanz für die erfolgreiche Anwendung präventiver Instrumente haben seiner Ansicht nach friedenspolitische Ansätze, die ›local ownership‹ in den Vordergrund stellen. Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Borchardt zeichnet die Entstehung und Praxis der EU-Politik zur Unterbindung der sogenannten illegalen

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Migration nach. Im Zentrum ihrer Argumentation steht der normative Anspruch der EU nach strikter Respektierung der Menschenrechte und ihrer dazu im krassen Gegensatz stehenden Flüchtlings- und Migrationspolitik. Ihr Beitrag analysiert diese Widersprüche und diskutiert Alternativen zur derzeitigen sicherheitslastigen Migrationspolitik. Die Politikwissenschaftlerin und Lateinamerika-Expertin Sabine Kurtenbach geht der Frage nach, in welchen ›Lebenswelten‹ Jugendliche Gewalt erfahren und durch diese Gewalterfahrungen selbst zu Gewalttätern werden. Ihr Fokus sind die Länder des globalen Südens. Neben strukturellen Faktoren allgemeiner Rahmenbedingungen und Entwicklungsmuster sowie sozialer Integrationsmechanismen interessieren sie vor allem Fragen der Identitätsbildung, die zu einer tatsächlichen Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen führen können.

Wolfgang Schreiber

Neue Kriege und humanitär begründete Interventionen

Wissenschaftliche Konzepte erweisen sich in unterschiedlichem Maße als relevant in der Öffentlichkeit. Themen der Friedens- und Konfliktforschung tendieren vielleicht häufiger dazu, eine öffentliche Rolle zu spielen. Dabei spielt für die Wahrnehmung wissenschaftlicher Thesen nicht unbedingt ihre Akzeptanz in den betreffenden Wissenschaften selbst eine Rolle. Obwohl unter Fachwissenschaftlern mehr als umstritten, gilt die These von den ›neuen Kriegen‹ auch mehr als zehn Jahre nach ihrer erstmaligen Ausformulierung in weiten Teilen der Öffentlichkeit als gängiges (Erklärungs)Modell der aktuellen Konfliktforschung. Im ersten Teil dieses Beitrags werden zunächst unterschiedliche Konzepte der Autorinnen und Autoren der ›neuen Kriege‹ dargestellt und mit der wissenschaftlichen Diskussion kontrastiert. Im zweiten Teil wird eine Brücke in die Politik geschlagen, die unter Umständen erklärt, warum die These der ›neuen Kriege‹ sich in der Öffentlichkeit weiterhin einer großen Zustimmung erfreut.

Entwicklung des Konzepts der ›neuen Kriege‹ Der Begriff der ›neuen Kriege‹ wurde 1999 von der britischen Friedensforscherin Mary Kaldor unter dem programmatischen Titel »Old and New Wars« eingeführt. In Deutschland wurden »die neuen Kriege« durch den Politikwissenschaftler Herfried Münkler 2002 nochmals unter dem gleichnamigen Buchtitel in die wissenschaftliche und öffentliche Debatte eingespeist.

Kaldors Unterscheidung zwischen ›alten‹ und ›neuen‹ Kriegen Um den Begriff der ›neuen Kriege‹ plausibel zu machen, skizziert Kaldor »die Stadien der alten Kriege« (Kaldor 2000: 27) in der zeitlichen Entwicklung vom 17. bis späten 20. Jahrhundert anhand von fünf Dimensionen: politische Ordnung, Kriegsgründe, Art der Streitmacht, Militärtechnik und Kriegsökonomie.

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Die Kriegsgründe zum Beispiel entwickelten sich wie folgt: Staatsräson, Erbfolgekriege und Grenzstreitigkeiten wurden nach Kaldor im 19. Jahrhundert durch nationale Konfrontation abgelöst. Für das frühe 20. Jahrhundert waren dann sowohl nationale als auch ideologische Konfrontationen kennzeichnend, die Jahrzehnte später von der ideologischen Konfrontation allein abgelöst wurden. Bei der Militärtechnik geht die Entwicklung von Feuerwaffen und Belagerungen bis hin zu Nuklearwaffen. Die Kriegsökonomie reicht von der Zentralisierung des Steuer- und Kreditwesens über die Mobilmachungswirtschaft des frühen Jahrhunderts bis zum militärisch-industriellen Komplex des späten 20. Jahrhunderts. Dagegen bleibt Kaldors Konzept für ›neue Kriege‹ etwas vage und wird in nur zwei Kapiteln unter den Stichworten ›politische Ziele‹ und ›globalisierte Kriegswirtschaft‹ entfaltet, aber nicht systematisch in das zuvor entwickelte Schema integriert. Als zentrale Unterschiede zu früheren Kriegen sieht Kaldor die Kriegsziele, die Art der Kriegsführung und ihre Finanzierung (Kaldor 2000: 15 – 20). Das Hauptziel der ›neuen Kriege‹ ist dabei eine Politik der Identität, wobei Identität von Kaldor als beispielsweise religiös oder ethnisch basiert verstanden wird. Bei der Kriegsführung wird »versucht, die Konfrontation auf dem Schlachtfeld zu vermeiden« (Kaldor 2000: 18). Dabei wird auf Erfahrungen des Guerillakampfes wie auch der Aufstandsbekämpfung zurückgegriffen. Vor dem Hintergrund der Politik der Identität steht dabei die Destabilisierungsstrategie des Anti-Guerillakampfes im Vordergrund, was zu Massenvertreibungen als strategisches Ziel führt. Im Hinblick auf die Finanzierung legt Kaldor die Betonung auf eine sogenannte globalisierte Kriegswirtschaft, die sich durch eine Dezentralisierung und hohe Außenabhängigkeit auszeichnet.

Münklers Konzept der ›neuen Kriege‹ Im Gegensatz zu Kaldors knappen Überblick verwendet Herfried Münkler in seinem Buch wesentlich mehr Raum auf die historische Entwicklung des Krieges seit dem 17. Jahrhundert (Münkler 2002: 59 – 129). Ein Grund dafür sind Parallelen, die Münkler zwischen den ›neuen Kriegen‹ und dem Dreißigjährigen Krieg in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts sieht (Münkler 2002: 9, 75 – 89). Auch für Münkler sind es drei Charakteristika, welche die ›neuen Kriege‹ auszeichnen (Münkler 2006: 134): An erster Stelle steht die Privatisierung des Krieges. Danach sind Staaten nicht länger die Monopolisten des Krieges, sondern »para- und substaatliche Akteure haben das Gesetz des Handelns übernommen.« Als zweiter Punkt folgt die Entwicklung unüberwindbarer militärischer Asymmetrien und daraus resultierend eine Asymmetrisierung der Kriegsgewalt durch ansonsten unterlegene Akteure. Als letztes Charakteristi-

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kum für sein Theorem der ›neuen Kriege‹ nennt Münkler die Entmilitarisierung des Krieges: Ebenso wie Staaten nicht mehr Monopolisten des Krieges sind, ist das Militär nicht länger Monopolist der Kriegsführung. Eine Folge davon ist, dass zunehmend Zivilisten und Infrastruktur zum Ziel der Kriegsführung werden1. Münkler nimmt für sich in Anspruch, die Unterscheidung zwischen ›alten‹ und ›neuen‹ Kriegen theoretisiert zu haben, wohingegen Kaldor auf einer beschreibenden Ebene verblieben sei. In der Tat liest sich Münklers Argumentation auch aufgrund seiner intensiveren Beschäftigung und Darstellung der Entwicklung der ›alten Kriege‹ wesentlich plausibler als Kaldors. Hinzu kommt, dass sich Kaldor für die Entwicklung ihres Konzepts der ›neuen Kriege‹ fast ausschließlich auf das Beispiel des Bosnienkrieges bezieht2, während Münkler seine Überlegungen mit einer Fülle von Beispielen illustriert.

Operationalisierung des Konzeptes der ›neuen Kriege‹ Die offensichtliche Schwäche sowohl in Münklers als auch Kaldors Argumentation liegt darin, dass sie ihre Konzeptionen der ›neuen Kriege‹ im Gegensatz zum klassischen zwischenstaatlichen Krieg entwickeln. Diesem versuchen zwei der wenigen grundsätzlichen Befürworter des Begriffs der ›neuen Kriege‹, Monika Heupel und Bernhard Zangl, in der wissenschaftlichen Diskussion Abhilfe zu verschaffen, indem sie ein Konzept zur Unterscheidung ›alter‹ und ›neuer‹ innerstaatlicher Kriege entwickeln und dieses an vier Kriterien festmachen: den Gewaltakteuren, der Gewaltökonomie, den Gewaltmotiven und den Gewaltstrategien (Heupel/Zangl 2004: 350 – 356). Bei den Gewaltakteuren werden in den ›alten Kriegen‹ sowohl die staatlichen als auch die nichtstaatlichen Kampfverbände zentral geführt, während diese in den ›neuen Kriegen‹ eher dezentral oder auch ganz unabhängig operieren. Die Gewaltökonomie basierte intern in den ›alten Kriegen‹ auf einer freiwilligen Unterstützung durch die Bevölkerung und extern durch befreundete Staaten. 1 Die Begrifflichkeiten wechseln bei Münkler zum Teil leicht. In seinem Buch steht als erstes Kriterium noch der Begriff der »Entstaatlichung« im Vordergrund, der aber im Einklang mit späteren Beiträgen Münklers auch als »Privatisierung kriegerischer Gewalt« bezeichnet wird. Statt dem Begriff der ›Entmilitarisierung‹ verwendet Münkler an gleicher Stelle den der »Autonomisierung« oder »Verselbständigung« vordem militärisch eingebundener Gewaltformen (Münkler 2002: 10 f.). 2 Kaldor nennt im ersten Satz ihres Buches noch den Krieg um Berg-Karabach im Kaukasus, um für ihr Konzept Geltung über die Kriege in Bosnien-Herzegowina und Kroatien hinaus zu beanspruchen, und beruft sich ansonsten nur sehr allgemein auf »Berichte von Kollegen über ihre Erfahrungen in Afrika« (Kaldor 2000: 7).

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Diese werden abgelöst durch Plünderungen einerseits und Einbindung in Schattenglobalisierung und organisierte Kriminalität andererseits. Die Gewaltmotive kehren sich nach Meinung der Autoren um. Früher standen ideologische oder identitätsbezogene Motive im Vordergrund und ökonomische waren zweitrangig, in den ›neuen Kriegen‹ ist es umgekehrt. Bei den Gewaltstrategien setzten Rebellen in der Vergangenheit auf Nadelstiche gegen Regierungstruppen und klammerten die Bevölkerung aus Gewalthandlungen aus; in den ›neuen Kriegen‹ verüben sie auch grausame Gewalthandlungen gegen die Bevölkerung. Die staatlichen Gewalthandlungen dagegen richteten sich bereits in den ›alten Kriegen‹ nicht nur gegen die Rebellen, sondern auch gegen die Bevölkerung. Hier tritt in den ›neuen Kriegen‹ eine Zunahme der bewussten Gewaltakte gegen die Bevölkerung auf. Neben dieser Operationalisierung von ›alten‹ und ›neuen‹ innerstaatlichen Kriegen beanspruchen Heupel und Zangl, über eine reine Illustrationslogik hinauszugehen und ihre Thesen, wenn schon keiner Test-, so doch einer Plausibilisierungslogik zu unterwerfen (ebd.: 347 ff.). Der Begriff der Illustrationslogik richtet sich dabei sowohl gegen Münkler und andere Befürworter des Begriffs der ›neuen Kriege‹ als auch gegen deren Kritiker. Die jeweiligen Argumente werden in dieser Logik durch jeweils passende Fallbeispiele illustriert, Gegenbeispiele werden dabei zu Einzelfällen oder Ausnahmen deklariert. Eine Testlogik würde bedeuten, alle Kriege, oder zumindest eine repräsentative Auswahl, seit 1945 auf die oben genannten Kriterien hin zu untersuchen, um festzustellen, ob es eine signifikante Veränderung im Kriegsgeschehen gibt, die eine Verschiebung von ›alten‹ hin zu ›neuen‹ Kriegen belegen würde. Da eine solche breite Datenbasis fehlt, greifen Heupel und Zangl zu dem, was sie eine Plausibilisierungslogik nennen: »Dabei werden Fälle zwar nicht so ausgesucht, dass das Risiko maximiert wird, die These zu widerlegen; doch die Fälle werden auch nicht so ausgesucht, dass von vornherein feststeht, dass sie die These bestätigen« (ebd.: 348). Für ihre Untersuchung wählen die Autoren Kriege aus, die vor 1990 begonnen und anschließend noch weitergeführt wurden3. Anhand der Untersuchung der Kriege in Kambodscha, Afghanistan und Angola gelangen Heupel und Zangl zu dem Schluss, dass die These vom Wandel von ›alten‹ zu ›neuen‹ Kriegen im Rahmen des Endes des Ost-West-Konflikts plausibel ist4. 3 Heupel und Zangl fokussieren beim Wechsel von ›alten‹ zu ›neuen‹ Kriegen sehr stark auf das Ende des Ost-West-Konflikts. Münkler und Kaldor sind da weniger eindeutig und nennen als Zeitraum die vorangegangenen 10 bis 20 Jahre, was den Umbruch bereits etwas früher, in die 1980er Jahre, datieren würde (Kaldor 2000: 7; Münkler 2002: 13). 4 Ob die Fallauswahl, die Heupel und Zangl treffen, diesem Kriterium gerecht wird, kann man allerdings in Frage stellen. Alle drei ausgewählte Kriege waren vor 1990 stark mit dem OstWest-Konflikt verbunden, so dass ein Wandel in einem Punkt, nämlich der Gewaltökonomie, mit dem Wegfall der externen Unterstützung zwangsläufig erfolgen musste. Dieser Wandel

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Kritik am Begriff der ›neuen Kriege‹ Zu den prominentesten Kritikern der These der ›neuen Kriege‹ gehören zwei Wissenschaftler, die sich zweifellos am längsten mit Kriegen beschäftigt haben. Sowohl J. David Singer, einer der Gründer von Correlates of War (CoW), in dessen Rahmen eine Datenbank von Kriegen seit 1816 aufgebaut wurde, als auch Klaus Jürgen Gantzel, der in Hamburg die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) mit einer bis 1945 zurückreichenden Kriegedatenbank gegründet hat, wehren sich vehement gegen den Begriff (Gantzel 2002; Henderson/Singer 2002)5. Aufgrund der mehr oder weniger Gleichsetzung der ›alten‹ mit zwischenstaatlichen Kriegen verweist Gantzel darauf, dass die ›neuen Kriege‹ eigentlich offensichtlich nichts anderes als innerstaatliche Kriege seien (Gantzel 2002: 2). In der Tat scheinen innerstaatliche Kriege bereits den von Münkler aufgestellten Kriterien zu genügen. In solchen Kriegen sind Staaten bereits per Definition nicht die Monopolisten des Krieges, da sie ja von mindestens einem nichtstaatlichen Akteur herausgefordert werden. Auch das zweite Kriterium, die Asymmetrisierung, ist in innerstaatlichen Kriegen eher die Regel als die Ausnahme, da Rebellengruppen gegenüber den staatlichen Sicherheitskräften häufig nur bestehen können, wenn sie Guerillataktiken anwenden. Und generell gelten innerstaatliche Kriege als brutaler als zwischenstaatliche, was sich in höheren Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung niederschlägt6. Entsprechend zeigen die Kritiker an einer Fülle von Beispielen, dass die entwickelten Kriterien für die ›neuen Kriege‹ bereits häufig bei früheren Kriegen in den letzten 200 Jahren anzutreffen waren (Gantzel 2002: 3 – 15; Henderson/ Singer 2002: 175 – 179)7. Zahl und Dichte der Beispiele legen nahe, dass es sich hierbei doch um mehr handelt als nur um eine reine Illustrationslogik. Der empirische Gegenbeweis stößt allerdings auf eine Schwierigkeit: Münkler zum Beispiel räumt ein, dass die einzelnen Kriterien der ›neue Kriege‹ sich auch in könnte zudem auch Veränderungen in den anderen Untersuchungsdimensionen zur Folge gehabt haben. 5 Sowohl Gantzel als auch Henderson und Singer beziehen ihre Kritik nicht nur auf den Begriff der ›neuen Kriege‹, sondern auch auf Bezeichnungen wie etwa globaler Kleinkrieg, postmoderne Kriege, Kriege der dritten Art, die von anderen Autoren benutzt wurden, die für ihre Abgrenzung zu früheren Kriegen ähnliche Kriterien wie Kaldor oder Münkler entwickelt haben. Alternativen zum Begriff der ›neuen Kriege‹ diskutiert und verwirft Münkler (2002: 43 – 48). 6 So weist zum Beispiel Matthies (2005: 38) darauf hin, »dass das Regelwerk des humanitären Völkerrechts für den inneren Krieg schon immer eine weitaus geringere Dichte und Durchsetzungsfähigkeit aufwies als für den klassischen Staatenkrieg.« 7 Ähnlich gehen zum Beispiel auch Chojnacki (2005: 81 – 92), Kahl/Teusch (2004: 386 – 400), Kalyvas (2001: 102 – 116), Matthies (2005: 36 – 39) und Schlichte (2006: 113 – 121) vor.

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früheren Kriegen finden lassen: »Das entscheidend Neue an den neuen Kriegen ist das Zusammentreffen mehrerer Faktoren, die für sich genommen oft gar nicht so neu sind […]« (Münkler 2005: 24).

Empirie und die ›neuen Kriege‹ Michael Brzoska gewinnt dem Buch von Münkler nicht zu Unrecht auch einige positive Seiten ab. Dazu zählen vor allem eine Fülle von Ideen und Hypothesen, die sich aus dem umfassenden Ansatz ergeben, die die methodologischen Schwächen ausgleichen (Brzoska 2004: 108). Des Weiteren kann man Münkler nicht vorwerfen, in seiner Darstellung die Komplexität von Kriegen, ihren Ursachen und Erscheinungsformen unzulässig zu vereinfachen, wie dies bei anderen Autoren der Fall ist, deren Thesen eine gewisse öffentliche Aufmerksamkeit erhalten haben8. Obwohl Münkler seine These mit einer Fülle von historischen und aktuellen Beispielen illustriert, stehen einige seiner Grundannahmen in krassem Widerspruch zu den empirischen Erkenntnissen über das Kriegsgeschehen. Zunächst einmal war der ›klassische Staatenkrieg‹, anders als von Münkler behauptet, zumindest zahlenmäßig nicht der dominante Kriegstyp im 19. Jahrhundert. So weist CoW (Sarkees/Wayman 2010: 579 – 587), das einzige Datenbankprojekt zu Kriegen, welches auch Kriege für die Zeit vor 1945 erfasst, für den Zeitraum von 1816 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 125 innerstaatliche Kriege gegenüber nur 38 zwischenstaatlichen auf (vergleiche Abbildung 1)9. Selbst in Europa, das in Münklers Darstellung eindeutig im Zentrum steht, ereigneten sich in diesem Zeitraum mehr inner- als zwischenstaatliche Kriege. Dazu kommen vor allem noch 125 sogenannte ›extrasystemische Kriege‹. Dabei handelte es sich im 19. Jahrhundert vor allem um solche Kriege, die von europäischen Mächten im 8 Zuletzt war dies zum Beispiel bei Harald Welzer (2008) der Fall, der in seinem Buch »Klimakriege« die Komplexität der Kriegsursachen vereinfachend auf den Klimawandel reduziert hat. 9 Diese Fehlwahrnehmung betrifft aber nicht nur Münkler, sondern ist in der Wissenschaft auch sonst weit verbreitet. So schrieb selbst Gantzel (2003: 307) noch: »Das große zahlenmäßige Übergewicht innerer Kriege stellt eine grundlegende historische Umwälzung dar.« Dabei wertete er allerdings veraltete Daten von CoW aus. Dieses Projekt hatte innerstaatliche Kriege ursprünglich gar nicht erfasst und bei der ersten Berücksichtigung etwa zwei Drittel der entsprechenden Kriege des 19. Jahrhunderts ›übersehen‹, die Teil der aktuellen Datenbank sind. Zugleich finden sich in der aktuellen Datenbank für das 19. Jahrhundert weniger als halb so viele zwischenstaatliche Kriege wie in der älteren Version. Letzteres erklärt sich vor allem daraus, dass ursprünglich für zwischenstaatliche Kriege eine Gesamtzahl von 1.000 Opfern gefordert wurde, für innerstaatliche die Zahl aber pro Jahr notwendig war. In der neuesten Version der Datenbank ist dieses auf 1.000 Opfer pro Jahr vereinheitlicht.

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Zuge ihrer kolonialen Eroberungen gegen solche Gegner geführt wurden, die über keine Staaten verfügten.

Abbildung 1: Inner– und zwischenstaatliche Kriege Quelle: Wolfgang Schreiber, Auswertung der CoW–Daten in Sarkees/Wayman (2010)

Auch das von Münkler gezeichnete Bild über das aktuelle Kriegsgeschehen entspricht nicht den empirischen Erkenntnissen. Der These der ›neuen Kriege‹ zufolge werden diese vor allem aus Selbstzweck geführt, da die Fortführung der Kriege für die Beteiligten profitabler sei als selbst eine siegreiche Beendigung. Dies hätte zur Folge, dass ›neue Kriege‹ lange andauern. Nun hat aber die Zahl der Kriege seit ihrem Höhepunkt im Jahre 1992 stark abgenommen. Darüber hinaus ist auch die durchschnittliche Dauer der Kriege in den letzten 20 Jahren entgegen Münklers Annahme nicht wieder gestiegen. So hatten die 1989 geführten Kriege im Schnitt 14 Jahre angedauert. Seither schwankt dieser Wert zwischen 4 und 8,5 Jahren, wobei sich insbesondere kein Trend zu wieder länger dauernden Kriegen abzeichnet (vergleiche Abbildung 2)10.

10 Vergleiche für frühere Auswertungen Schreiber 2001 und 2010. Aktualisierte Berechnungen auf Grundlage der AKUF-Kriegedatenbank. Die durchschnittliche Kriegsdauer ist hier als Median angegeben, das heißt, die eine Hälfte der Kriege dauerte länger, die andere kürzer als der jeweils angegebene Wert.

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Abbildung 2: Durchschnittliche Dauer von Kriegen Quelle: Wolfgang Schreiber, Auswertung der AKUF–Kriegedatenbank

Problematik der Gewichtung der Relation zwischen quantitativen und qualitativen Daten Sprechen also die quantitativen Daten gegen die These der ›neuen Kriege‹, so bleibt es trotzdem schwierig, die These abschließend zu widerlegen. Dazu wäre es notwendig, alle Kriege einer bestehenden Datenbank oder aber zumindest eine repräsentative Auswahl einer Einteilung in ›alt‹ oder ›neu‹ anhand zum Beispiel der von Heupel und Zangl herausgearbeiteten Kriterien zu unterziehen. Dies stößt auf erhebliche Probleme, da unser Wissen über eine ausreichende Zahl von Kriegen für eine solche Untersuchung höchst unterschiedlich ist. Generell lässt sich sagen, dass wir über Kriege der Vergangenheit häufig nur über geschichtliche Darstellungen informiert sind, die vor allem politische Konstellationen oder militärgeschichtliche Entwicklungen im Blick hatten, nicht aber Fragestellungen der Kriegsökonomie oder Menschenrechte. Umgekehrt liegen uns über eine Reihe von aktuellen Kriegen genau zu diesen Fragen detaillierte Untersuchungen vor allem von Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen vor. Die Frage ›alt‹ oder ›neu‹ könnte also weniger die Realität der betrachteten Kriege betreffen, als die Frage der zur Verfügung stehenden Informationen und der Blickwinkel, unter denen diese Kriege jeweils analysiert wurden.

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›Neue Kriege‹ und humanitäre Interventionen Die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen der These der ›neuen Kriege‹ und humanitären Interventionen ist nicht neu. Insbesondere Jürgen Wagner (2007) hat Kaldor und Münkler in diesem Zusammenhang als Wegbereiter eines Euro-Imperialismus kritisiert11.

Kaldors kosmopolitische Initiative Mary Kaldor sieht als Antwort auf die ›neuen Kriege‹ eine kosmopolitische Initiative (Kaldor 2000: 177 – 217). Diese umfasst neben der Stärkung von Friedensgruppen vor Ort und einem Aufbau der lokalen Wirtschaft auch humanitäre Interventionen (ebd.: 179). Zwar schreibt Kaldor von der Erfordernis, dafür »einen neuen Typus von Soldat und Polizist in einem zu schaffen« (ebd.: 205). Wirklich konkret wird sie aber erst im Nachwort zur deutschen Ausgabe zu einem Zeitpunkt, an dem der Kosovo-Krieg bereits beendet wurde. Hier führt sie aus: »Eine humanitäre Intervention unter Einsatz von Bodentruppen mit dem Ziel der Vermeidung von Opfern auf allen Seiten wäre erforderlich gewesen, wenn die auch das Risiko von Opfern unter den internationale Kontingenten eingeschlossen hätte« (ebd.: 256). Zwiespältig bleibt an dieser Stelle Kaldors Verhältnis zur britischen Außenpolitik unter Tony Blair. Einerseits sieht sie dessen »Doktrin der Internationalen Gemeinschaft« (Blair 1999) im Kosovo-Krieg noch nicht als wirklich umgesetzt an, da die Methoden der Intervention »eher mit einem traditionellen Kriegskonzept in Einklang« standen (ebd.: 241). Andererseits sprach sie sich zum 50. Jahrestag des Bestehens der NATO und während des Kosovo-Krieges ganz offen für einen »gütigen Imperialismus« britischer Prägung aus (Kaldor 1999)12.

11 Einerseits ist diese Kritik durchaus zutreffend, da Kaldor und Münkler beide dem Imperialismus auch positive Seiten abgewinnen und dies auch gar nicht leugnen. Andererseits können die von Wagner zur Illustration angeführten Beispiele Afghanistan und Irak einen Euro-Imperialismus kaum belegen, da es sich in beiden Fällen um von den USA geführte Militäroperationen handelt, wobei im Falle des Irak diese auch nur von Teilen der europäischen NATO-Partner unterstützt wurde. 12 Kaldor bezieht sich dabei auf verschiedene Optionen zur Weiterentwicklung der NATO. Dabei sah sie als Extreme einerseits eine deutsche Position für die Beibehaltung eines reinen Verteidigungsbündnisses und andererseits eine US-Position zur Bekämpfung asymmetrischer Bedrohungen durch Terroristen und ›Schurkenstaaten‹. Beide Extreme werden von ihr zugunsten einer britischen Position verworfen, die sie als »benign imperialism« bezeichnet.

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Münklers Verhältnis zu militärischen Interventionen Auch Münkler belässt es in seinem Buch nicht bei einer Analyse der ›neuen Kriege‹, sondern beschäftigt sich in seinem Schlusskapitel ebenfalls mit militärischen Interventionen und schreibt dabei von einer »Interventionserfordernis zum Schutz von Menschenrechten und zur Beendigung von Bürgerkriegen« (Münkler 2002: 222 – 231). Anders als Kaldor versucht Münkler die realen Bedingungen, unter denen solche Interventionen stattfinden, aber nicht zu negieren, sondern es steht für ihn außer Frage, dass »solche Maßnahmen sich keineswegs nur nach den Standards einer Politik der Menschenrechte richten« (ebd.: 228). Auch Münkler kann sich dabei durchaus mit dem Imperialismusbegriff anfreunden: »Die Grundintuition der prinzipiellen Kritik [Hervorhebung im Original] an einer Politik des humanitär motivierten Interventionismus, der zufolge dieser in einer engen Verbindung mit imperialen Strukturen steht, ist also durchaus richtig. Die Frage dagegen ist, ob dies prinzipiell negativ zu akzentuieren ist, wie dies die Imperialismustheorien tun […]« (Münkler 2008: 96 f.).

Für Münkler steht dabei das negative Interesse der Expansion des Zentrums zur Ausplünderung der Ränder kollektiven Gütern wie Frieden, Sicherheit und wirtschaftlicher Wohlstand gegenüber, die das imperiale Zentrum hervorbringt. Zwar ist sich Münkler – wie oben erwähnt – darüber im Klaren, dass machtpolitische oder ökonomische Interessen bei humanitären Interventionen eine nicht geringe Rolle spielen. Zugleich sieht er aber diese Interessen in den meisten Fällen innerhalb der Eliten als eher gering an. Folglich unterscheidet Münkler deshalb zwischen mindestens zwei Typen humanitärer militärischer Interventionen: solche, bei denen die »ganz fraglos vorhandenen humanitären Absichten« durch politische Interessen gestützt werden, und solche, auf die sich die Intervenierenden eher unwillig und auf äußeren Druck eingelassen haben (Münkler 2008: 102).

Epplers Forderungen an einen modernen Pazifismus An dieser Stelle ist es sinnvoll, noch einen weiteren Autor der Debatte einzuführen: Erhard Eppler, eine der wichtigen Persönlichkeiten der Friedensbewegung der 1980er Jahre, lehnt zwar in seinem Buch für die von ihm beschriebenen Phänomene den Begriff des Krieges explizit ab (Eppler 2002: 86 – 97). Ansonsten aber besteht in der Analyse eine enge Verbindung insbesondere zu Münkler, so dass Brzoska sich in seinem Essay zur Debatte über die ›neuen Kriege‹ in Deutschland vor allem auf Münkler und Eppler bezieht (Brzoska 2004). Auch

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Eppler verweist angesichts der aktuellen Gewaltformen auf eine »Notwendigkeit des Intervenierens« (2002: 107) und zwar ähnlich wie Kaldor mit einer Mischung aus Militär und Polizei (2002: 109 – 113)13. Eppler fordert aber mehr : »Die militärische Intervention ist neu zu bewerten. Die künftigen Aufgaben eines modernen Pazifismus sind neu zu bedenken« (Eppler 2002: 103, 115). Sinngemäß bedeutet dies nichts anderes, als dass für Eppler die ›neuen Kriege‹ einen ›neuen Pazifismus‹ erforderlich machen (Brzoska 2004: 113).

Die ›neuen Kriege‹, humanitäre Interventionen und die Öffentlichkeit Der Zusammenhang zwischen ›neuen Kriegen‹ und humanitär begründeten militärischen Interventionen führt mich zum letzten Abschnitt dieses Beitrags. Die Bedeutung der These der ›neuen Kriege‹ liegt weniger in der Wissenschaft, in der sie – wie oben skizziert – überwiegend auf Ablehnung gestoßen ist, sondern in ihrer öffentlichen Wirkung. Anna Geis hat im Zusammenhang mit der Debatte über die ›neuen Kriege‹ auf die politische Funktion von Begriffen hingewiesen (Geis 2010: 62 f.) und sich dabei vor allem mit dem Begriff des Krieges befasst, der ja bekanntlich in der deutschen politischen Öffentlichkeit vor allem im Zusammenhang mit dem Einsatz in Afghanistan lange Zeit tabuisiert war. Aber auch das Adjektiv ›neu‹ hat vor allem eine öffentliche Bedeutung, denn es suggeriert im Zusammenhang mit dem Begriff Krieg eine Andersartigkeit. ›Neue Kriege‹ sind fundamental anders als ›alte‹. Die Neuartigkeit von Kriegen wurde von Journalisten in den letzten Jahrzehnten allerdings bereits mehrfach behauptet: So identifizierte die Reporterin Martha Gellhorn, die von 1937 bis 1987 über 50 Jahre hinweg von verschiedensten Kriegsschauplätzen berichtet hat, mindestens drei Kriege als neuartig: Spanien 1937, Java 1946 und Vietnam 1966 (Gellhorn 2012: 16, 41, 381). Weitreichende Auswirkungen hatte der Begriff der ›neuen Kriege‹ aber erst in der aktuellen Debatte. Seine Herkunft aus der Wissenschaft verlieh ihm einerseits ein größeres Maß an Autorität. Andererseits verband sich die Etablierung des Begriffs der ›neuen Kriege‹ zumindest in Deutschland mit der seit Ende des Ost-West-Konflikts und insbesondere der Kriege im ehemaligen Jugoslawien geführten Debatte über Auslandseinsätze der Bundeswehr (Brzoska 2004: 13 Im Gegensatz zu Eppler und Kaldor hält Münkler das Konzept einer Verpolizeilichung des Militärs, zumindest was ein humanitäres Eingreifen bei Menschenrechtsverletzungen anbetrifft, für gescheitert, bevor es überhaupt richtig implementiert werden konnte (Münkler 2008: 89 f.).

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113 f.). In diesem Zusammenhang trug das ›Neue‹ der Kriege dazu bei, eine neue Reaktion auf diese Kriege zu legitimieren. Münkler hat im Zusammenhang mit humanitären militärischen Interventionen die Rolle der Öffentlichkeit und insbesondere der Medien hervorgehoben, die Regierungen insbesondere dann, wenn politische oder wirtschaftliche Interessen fehlen, zum Eingreifen gegen Menschenrechtsverletzungen drängen (Münkler 2008: 101). In diesem Zusammenhang nennt er die Folgen der medialen Präsentation als verheerend für die politische Öffentlichkeit, da sie über die Probleme von Interventionen hinwegtäuschen, obwohl die verworrenen Konstellationen von Bürgerkriegen eigentlich bekannt und entsprechend analysiert sind (Münkler 2008: 104). Allerdings geht Münkler nicht darauf ein, dass die These der ›neuen Kriege‹, formelhaft in Medien und Öffentlichkeit wiederholt14, ebenfalls eine Vereinfachung darstellt, die mit Blick auf die Debatte über militärisches Eingreifen nicht ohne Folgen geblieben ist. Frage zum Weiterdenken Welche Thesen der Friedens- und Konfliktforschung sind Ihnen aus Medien oder Alltag geläufig?

Leseempfehlung Bakonyi, Jutta / Hensell, Stephan / Siegelberg, Jens (Hg.): Gewaltordnungen bewaffneter Gruppen. Ökonomie und Herrschaft nichtstaatlicher Akteure in den Kriegen der Gegenwart. Baden-Baden 2006. Frech, Siegfried / Trummer, Peter I. (Hg.): Neue Kriege. Akteure, Gewaltmärkte, Ökonomie. Schwalbach/Ts 2005. Geis, Anna (Hg.): Den Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und Kriegstheorien in der Kontroverse. Baden-Baden 2006. Krumwiede, Heinrich-W. / Waldmann, Peter (Hg.): Bürgerkriege: Folgen und Regulierungsmöglichkeiten. Baden-Baden 1998.

14 Ein eigenes Thema wäre Münklers Präsenz in deutschen Medien. Dabei wären nicht nur themenbezogene Interviews interessant, sondern auch seine Charakterisierung zum Beispiel als Ein-Mann-Think-Tank in entsprechenden Reportagen (Lau 2003; vergleiche auch Stephan 2007).

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Literatur Blair, Tony : »Speech before the Chicago Economic Club«, in: PBS Newshour 22, 1999 (April), verfügbar unter : http://www.pbs.org/newshour/bb/international/jan-june99/ blair_doctrine4 – 23.html [21. 06. 2013]. Brzoska, Michael (2004): »›New Wars‹ Discourse in Germany«, in: Journal of Peace Research 2004/41, S. 107 – 117. Chojnacki, Sven: »Gewaltakteure und Gewaltmärkte. Wandel der Kriegsformen?«, in: Frech, S. / Trummer, P. I. (Hg.): Neue Kriege. Akteure, Gewaltmärkte, Ökonomie. Schwalbach/Ts. 2005, S. 73 – 99. Eppler, Erhard: Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt? Frankfurt am Main 2002. Gantzel, Klaus Jürgen (2003): »Über die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg. Tendenzen, ursächliche Hintergründe, Perspektiven«, in: Wegner, B. (Hg.): Wie Kriege entstehen. Zum historischen Hintergrund von Staatenkonflikten. Paderborn u. a. 2003, S. 299 – 318. Gantzel, Klaus Jürgen: Neue Kriege? Neue Kämpfer? Arbeitspapier 2/2002 der Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung, Universität Hamburg 2002. Geis, Anna: »Die Kontroversen über die »neuen« Kriege der Gegenwart: Wie sinnvoll ist die Rede vom »Neuen«?«, in: Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (Hg.): Söldner, Schurken, Seepiraten. Von der Privatisierung der Sicherheit und dem Chaos der »neuen« Kriege. Wien/Berlin 2010, S. 61 – 74. Gellhorn, Martha: Das Gesicht des Krieges. Reportagen 1937 – 1987. Zürich 2012. Henderson, Errol A. / Singer, J. David: »«New Wars« and Rumors of »New Wars««, in: International Interactions 2002/28, S. 165 – 190. Heupel, Monika / Zangl, Bernhard: »Von »alten« und »neuen« Kriegen – Zum Gestaltwandel kriegerischer Gewalt«, in: Politische Vierteljahresschrift 2004/45, S. 346 – 369. Kahl, Martin / Teusch, Ulrich: »Sind die »neuen Kriege« wirklich neu?«, in: Leviathan 2004/32, S. 382 – 401. Kaldor, Mary : Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung. Frankfurt a. Main 2000. Kaldor, Mary : »A Benign Imperialism«, in: Prospect 1999 (20. April), Verfügbar unter http://www.prospectmagazine.co.uk/magazine/abenignimperialism [21. 06. 2013]. Kalyvas, Stathis N.: »«New« and »Old« Civil Wars. AValid Distinction?«, in: World Politics 2001/54, S. 99 – 118. Lau, Jörg: »Der Ein-Mann-Think-Tank«, in: ZEIT online 2003 (30. Oktober), verfügbar unter : http://www.zeit.de/2003/45/P-M_9fnkler [21. 06. 2013]. Matthies, Volker : »Eine Welt voller neuer Kriege?«, in: Frech, S. / Trummer, P. I. (Hg.): Neue Kriege. Akteure, Gewaltmärkte, Ökonomie. Schwalbach/Ts. 2005, S. 33 – 52. Münkler, Herfried: »Humanitäre militärische Interventionen. Eine politikwissenschaftliche Evaluation«, in: Münkler, H. / Malowitz (Hg.): Humanitäre Interventionen. Ein Instrument außenpolitischer Konfliktbearbeitung. Grundlagen und Diskussion. Wiesbaden 2008, S. 89 – 112. Münkler, Herfried: »Was ist neu an den neuen Kriegen? – Eine Erwiderung auf die Kritiker«, in: Geis, A. (Hg.): Den Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und Kriegstheorien in der Kontroverse, Baden-Baden 2006, S. 133 – 150.

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Münkler, Herfried: »Die neuen Kriege«, in: Frech, S. / Trummer, P. I. (Hg.): Neue Kriege. Akteure, Gewaltmärkte, Ökonomie. Schwalbach/Ts. 2005, S. 13 – 32. Münkler, Herfried: Die neuen Kriege. Reinbek bei Hamburg 2002. Sarkees, Meredith Reid / Wayman, Frank Whelon: Resort to War 1816 – 2007. Washington D.C. 2010. Schlichte, Klaus: »Neue Kriege oder alte Thesen? Wirklichkeit und Repräsentation kriegerischer Gewalt in der Politikwissenschaft«, in: Geis, A. (Hg.): Den Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und Kriegstheorien in der Kontroverse. Baden-Baden 2006, S. 111 – 131. Schreiber, Wolfgang: »Neue Kriege oder neue Gewaltkonflikte? Das Kriegsgeschehen unter den Vorzeichen der Globalisierung«, in: Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (Hg.): Söldner, Schurken, Seepiraten. Von der Privatisierung der Sicherheit und dem Chaos der »neuen« Kriege. Wien/Berlin 2010, S. 47 – 60. Schreiber, Wolfgang: »Die Kriege in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und danach«, in: Rabehl, T. / Schreiber, W.: Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF): Das Kriegsgeschehen 2000. Daten und Tendenzen der Kriege und bewaffneten Konflikte. Opladen 2001, S. 11 – 46. Stephan, Hans-Christoph (2007): »Politikberater Herfried Münkler. Ein Zettel unter der Tür«, in: SPIEGEL online, 2007 (23. März), verfügbar unter : http://www.spiegel.de/ unispiegel/jobundberuf/politikberater-herfried-muenklerein-zettel-unter-der-tuer-a468930.html [21. 06. 2013]. Van Crefeld, Martin: Die Zukunft des Krieges. München 2001 [2. Aufl.]. Wagner, Jürgen: »Intellektuelle Brandstifter : »Neue Kriege« als Wegebereiter des EuroImperialismus«, in: Die neuen Kriege, Moers 2007, S. 28 – 44. Verfügbar unter http:// kuepeli.files.wordpress.com/2008/03/europasneuekriege-komplett.pdf [21. 06. 2013]. Welzer, Harald: Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird. Bonn 2008.

Volker Matthies

Lassen sich Kriege verhindern? Bestandsaufnahme der Debatte um Konfliktprävention1

›Vorbeugen ist besser als Heilen‹, so lautet eine alte Lebensweisheit, die sicher einfacher anzumahnen als zu befolgen ist. Die Diskrepanz zwischen der Einsicht in die Vernunft präventiven Handelns und dem davon abweichenden tatsächlichen Verhalten scheint die Hauptursache für die derzeit häufig anzutreffende Enttäuschung über die bescheidenen bisherigen Erfolge der Konfliktprävention zu sein. Der Gedanke der ›Prävention‹ ist wohl uralt und findet sich in verschiedensten gesellschaftlichen Problemfeldern. Auch die Verhütung von Kriegen war stets ein Anliegen menschlicher Gesellschaften. Ein Netzwerk von Regeln, Normen und Institutionen, Verwandtschaftsbeziehungen und diplomatischen Umgangsformen diente der rechtzeitigen Dämpfung und Einhegung von Gewaltkonflikten. Aber auch Abschreckung durch eigene Stärke, Gegen-MachtBildung und womöglich Präventivkriege sollten drohende Angriffe potentieller Gegner vereiteln. Im Kern handelte es sich hierbei jedoch um individuell-eigennützige Strategien der Kriegsverhütung. Denn es ging ja nicht darum, jeden Krieg zu verhüten, sondern nur jene, die nicht im Interesse des eigenen Kollektivs lagen. Erst nach den Schockwirkungen des Ersten und Zweiten Weltkrieges kam es in Gestalt des Völkerbundes und der Vereinten Nationen (UN) zu institutionellen Ansätzen einer kollektiv-gemeinnützigen Kriegsverhütung mit ihrem Hauptzweck, ›die Welt von der Geißel des Krieges zu befreien‹. Doch in der politischen Realität des Ost-West-Konflikts konzentrierte sich das Ziel der Kriegsverhütung wesentlich auf die Verhinderung eines neuerlichen, eventuell nuklearen Weltkrieges. Den zahlreichen, lokal und regional begrenzten, meist innerstaatlichen Gewaltkonflikten und ›Stellvertreterkriegen‹ in der Dritten Welt

1 Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine überarbeitete und aktualisierte Fassung des Textes »Der schwierige Weg zu einer »Kultur der Prävention«: Konzept, Umsetzungsprobleme und Forschungsbedarf«, von Volker Matthies, erschienen in: Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (Hg.)/Projektleitung: Thomas Roithner : Krieg im Abseits, Wien/ Berlin 2011, S. 250 – 265.

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widmete man demgegenüber weit weniger präventionspolitische Aufmerksamkeit. Erst nach dem Ende des Kalten Krieges öffnete sich diese verengte Perspektive der Kriegsverhütung. Ausgehend von konzeptionellen Anstößen der UN (»Agenda für den Frieden«, 1992) entfaltete sich das neuere Präventionskonzept, dessen erklärtes Ziel die Verhütung jeden Krieges auf der Welt ist. Allerdings standen der Euphorie und Hochkonjunktur des Präventionsanliegens in den 1990er Jahren angesichts zahlreicher ausbleibender oder fehlgeschlagener Präventionsbemühungen schon bald vielfach enttäuschte Hoffnungen gegenüber.

Enttäuschte Präventionshoffnungen Das Friedensgutachten des Jahres 2009 näherte sich der Thematik der Prävention mit einer Märchenstunde: »Häufig heißt es am Beginn von Märchen: »es war einmal…« und am Schluss: »Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.« Dazwischen finden sich in gedrängter Form Erzählungen von Entscheidungsdilemmata, von Hoffnungen und Enttäuschungen. Die zitierten Anfangs- und Schlusssätze bilden auch einen geeigneten Rahmen, um zu beschreiben, wie die politische Konjunktur der Idee der Prävention verläuft« (Moltmann 2009: 268).

Die sich in diesen Zeilen offenbarende pessimistische Grundstimmung ist schon seit einigen Jahren weit verbreitet. So wurde die Frage aufgeworfen, ob das Versprechen effektiver Prävention nur ein »bloßer Etikettenschwindel« (Eismann 2002) oder ob das Präventionsanliegen nur eine »Große Illusion« (Carment/Schnabel 2003) sei? Nach dem neuerlichen Versagen der internationalen Gemeinschaft in Darfur (Sudan) seit dem Jahre 2004, also zehn Jahre nach dem nicht verhüteten Völkermord in Ruanda, schien die Hochkonjunktur der Prävention endgültig beendet zu sein, wie die OECD im Jahre 2009 lapidar konstatierte: »Today it cannot be said,[…] that the international community is in a position to prevent another Rwandan genocide. Conflict early warning faces challenges similar to those it faced 15 years ago – and there are new challenges on the horizon« (OECD 2009: 1). Und im bereits zitierten Friedensgutachten heißt es: »Trotz aller Anstrengungen reagiert die Politik weiterhin hilflos, kurzatmig oder gar opportunistisch auf aufziehende oder bereits ausgebrochene Gewaltkonflikte, geschweige denn, dass sie ihnen von Vornherein entgegenwirkt« (Moltmann 2009: 268). Ungeachtet jahrelanger Bemühungen um Konfliktprävention scheint also das alte Denken und Handeln einer reaktiv-kurativ orientierten ›Krisen-Industrie‹ immer noch vorzuherrschen.

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Abbildung 1: Versagen der internationalen Gemeinschaft in Darfur Kofi Annan in einem Flüchtlingslager im Nord–Sudan. Quelle: UN / Eskinder Debebe, 2004.

Dabei ist der Bedarf an Krisenprävention offensichtlich auch weiterhin sehr groß, wie schon ein kurzer Blick auf einige, leider nicht verhütete, Gewaltkonflikte der letzten Jahre deutlich macht2. Schließlich stellten auch die desaströsen Militäreinsätze im Irak und in Afghanistan sowie die langjährigen, weithin erfolglosen Friedensmissionen der UN und Afrikanischen Union (AU) vor allem im Kongo (Osten) und im Sudan (Darfur) die Sinnhaftigkeit von Präventionsbemühungen erneut unter Beweis. Zudem mehren sich Warnungen vor destruktiven Folgen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise in weiten Teilen der Welt sowie vor möglichen künftigen Gewaltkonflikten im Gefolge des globalen Klimawandels (Woocher 2009: 4 f.; Ulbert 2013). Ebenso stellen neuartige Gewaltformen, wie vor allem die sich ausbreitende transnationale organisierte Kriminalität, die Konfliktprävention vor neue Herausforderungen (Zyck/Muggah 2012). Auch die Kombination von Gewaltkonflikten, Naturkatastrophen und chronischer Armut erfordert künftig noch mehr Kapazitäten für verbesserte Analyse, Frühwarnung und Prävention im Falle von dramatischen humanitären Notlagen, wie es sich im Jahr 2011 am Beispiel der massiven Hungersnot am Horn von Afrika eindringlich zeigte (Bailey 2012).

2 Zum Beispiel die Unruhen in Kenia (2008), der Georgienkrieg (im August 2008, Feichtinger u. a. 2010), die politischen Konflikte in Thailand (2009, 2010), die Auseinandersetzungen in Kirgistan (2010), Bürgerkriege in Libyen (2011), Syrien und Mali (2012).

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Blick zurück: das Konzept der Prävention und seine Genese Das Präventionskonzept ist historisch ein Produkt des weltpolitischen Umbruchs nach dem Ende des Kalten Krieges. Angesichts neu ausbrechender Gewaltkonflikte und sich ausbreitender Staatszerfallsprozesse in den 1990er Jahren (Jugoslawien, Liberia, Somalia) und des offenkundigen Versagens des herkömmlichen Krisenmanagements sowie unter der Schockwirkung des Genozids in Ruanda zeigte sich eine gravierende konzeptionelle Lücke in der internationalen Friedens- und Sicherheitspolitik. Aus diesem Erfahrungshintergrund schien Vorbeugung ein hilfreiches Konzept auf der Suche nach angemesseneren, effektiveren und kostengünstigeren Strategien zu sein. Durch die Verhütung von Gewaltkonflikten ersparte man sich womöglich unerwünschte politisch-militärische Eskalationsrisiken und humanitäre Katastrophen sowie aufwendige Hilfseinsätze und Wiederaufbaumaßnahmen. In der Grundlogik des Präventionsanliegens schien die Vorsorge allemal humaner, politisch klüger und auch billiger zu sein als die immens kostspielige reaktiv-kurative Nachsorge. Zudem bot sich das Präventionskonzept auch als ein willkommenes Legitimationsvehikel für verunsicherte staatliche Bürokratien und internationale Organisationen sowie für neue Handlungsspielräume auslotende zivilgesellschaftliche Akteure an. Selbst das Militär, das nach dem Kalten Krieg ebenfalls nach neuer Legitimation suchte, schrieb sich schon bald die Aufgabe der ›Konfliktverhütung‹ auf seine Fahnen. So bildete sich ein kollektiv-gemeinnütziges Verständnis von Vorsorgemaßnahmen heraus, das überall auf der Welt durch Frühwarnung und präventives Handeln sich anbahnenden Gewaltkonflikten vorbeugen wollte. Über die Jahre blühte eine ›Frühwarn-Industrie‹ auf, es kam zu einer zunehmenden Institutionalisierung und Professionalisierung des Präventionsprojektes. Begünstigt wurde diese Hochkonjunktur der Vorbeugung vor allem durch zwei Faktoren: Durch ein neues, kooperatives Klima in der Weltpolitik nach dem Ende des Kalten Krieges und durch eine Wiederaufwertung der UN, die für eine multilaterale Konfliktbearbeitung eintrat und eine ›Kultur der Prävention‹ propagierte. Im Zuge der terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 allerdings wurde der kollektiv-gemeinnützige, friedenspolitische Gedanke der Prävention wieder in den Hintergrund gedrängt. Das Konzept wurde stark sicherheitspolitisch überlagert und in ein individuell-eigennütziges Verständnis im Sinne von ›Terror-Prävention‹ umgedeutet. Darüber hinaus kam es im Zusammenhang mit zunehmenden Staatszerfallsprozessen und Wiederaufbaubemühungen vor allem nach den Kriegen im Irak und in Afghanistan zu einer weiteren Überlagerung des ursprünglichen Vorsorgeanliegens durch Konzepte der post-konfliktiven Staaten- und Nationenbildung. Eine gewisse, allerdings nicht lang an-

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haltende Auffrischung des Präventionskonzepts erfuhr dieses dann im Kontext der Debatte über eine ›Schutzverantwortung‹ der internationalen Gemeinschaft gegenüber von Genozid und Kriegsgräueln bedrohten Menschen. Hierbei sollte der Prävention eindeutiger Vorrang (vor der Reaktion und dem post-konfliktiven Wiederaufbau) eingeräumt werden (Responsibility to Prevent). Präventionsphasen und Faktoren Das Grundkonzept der Prävention, das sich in den 1990er Jahren sowohl in der Wissenschaft als auch in der Politik weitgehend konsensfähig herausbildete (Carnegie Commission 1997), ging von idealtypischen Verlaufsformen gewaltträchtiger Konflikte aus. Es entwickelte sich daraus ein sehr weit gefasstes, dynamisches Verständnis von Prävention, aus dem sich ein grobes Ablaufschema präventiven Handelns in drei Phasen ableiten ließ: Erstens geht es dabei um die Verhinderung der Entstehung und des Ausbruchs gewalttätiger Konflikte überhaupt (Primärprävention); zweitens um die Verhinderung einer horizontalen und vertikalen Eskalation bereits ausgebrochener Gewaltkonflikte (Sekundärprävention) und drittens um die Verhütung eines Wiederausbruchs bereits beendeter Gewalthandlungen (Tertiärprävention). Prävention wird also auf einem Kontinuum von Eskalations- und Deeskalationsprozessen angesetzt und schließt die Phase der Nachkriegszeit und das Projekt der post-konfliktiven Friedenskonsolidierung mit ein. Mit Blick auf Ursachen, Nährböden und Hintergrundbedingungen krisenhafter Gewalteskalationen unterschied das Konzept der Prävention zwischen Strukturfaktoren (zur Bezeichnung der tieferen Wurzeln von Gewaltkonflikten), Prozessfaktoren (zur Bezeichnung der Antriebe des Handelns gewaltbereiter Akteure) und Auslösefaktoren (zur Bezeichnung von unmittelbar Gewalthandlungen auslösenden Ereignissen und Entwicklungen). Ausgehend von dieser Einsicht in die Struktur- und Prozessbedingungen von Gewaltkonflikten wurden zwei grundlegende Stoßrichtungen präventiven Handelns vorgeschlagen: Zum einen die eher langfristige ›Strukturelle beziehungsweise Strukturorientierte Prävention‹, die an den tiefer liegenden Ursachen gewaltträchtiger gesellschaftlicher Verhältnisse und Entwicklungen ansetzen will (auch ›Peace-Building‹ genannt); zum anderen die eher kurz- bis mittelfristige ›Operationale beziehungsweise Prozessorientierte Prävention‹, der es um die Beeinflussung des Verhaltens gewaltbereiter Akteure und die Blockierung beziehungsweise Umkehrung gewaltträchtiger Eskalationsprozesse in einem bereits zugespitzten Konflikt geht.

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Kritik am Präventionskonzept Sehr früh schon gab es etliche gewichtige Einwände gegen das Präventionskonzept und dessen Umsetzung, die sich auf die folgenden Problemaspekte beziehen:

Diffuse Begrifflichkeit und Konzeptualisierung von Prävention In weiten Teilen der wissenschaftlichen Diskussion, der politischen Rhetorik und der operativen Praxis herrschen eine diffuse Begrifflichkeit und Konzeptualisierung der ›Konflikt-Prävention‹ und des ›Peace-Building‹ vor, die einer kohärenten Wahrnehmung und Vorgehensweise entgegenstehen (Tschirgi 2004: 2; Zyck/Muggah 2012). Verschiedene Akteure, Agenturen, Bürokratien, Organisationen und Regierungen verwenden je nach ihren spezifischen Mandaten, Weltsichten und Eigeninteressen in ihren Präventions-Agenden sehr unterschiedliche Definitionen, Begriffe, Konzepte und Strategien, die nur zum Teil miteinander in Einklang zu bringen sind (Barnett u. a. 2007: 37 ff.; 44 ff.). Durch die enorme thematische Ausweitung des Präventionskonzeptes vor allem in Gestalt der strukturorientierten Prävention und der Einbeziehung der Entwicklungszusammenarbeit »droht der Kerngedanke der Prävention, nämlich der Gewalteskalation von Konflikten vorzubeugen, zu verflachen« (Moltmann 2009: 273; vergleiche auch Woocher 2009: 2).

Umgang mit der Gewaltfrage Ferner wurde oftmals die Frage aufgeworfen, ob denn jeglicher Konfliktaustrag und jedwede Veränderung gesellschaftlicher Strukturen bei Anzeichen von Gewalttätigkeit verhütet werden sollten? Hätte zum Beispiel die Französische Revolution mit ihren bahnbrechenden zivilisatorischen Errungenschaften ihrer Gewaltexzesse wegen verhindert werden sollen? »Läuft eine uneingeschränkte Befürwortung von Prävention Gefahr, im Namen der Vermeidung von Gewaltanwendung ungerechte […] Machtverteilung zu stützen?«, fragte Pia Bungarten (zitiert in Matthies 2000: 27). Die Antwort auf diese Frage im normativen Sinne des Präventionskonzeptes lautet eindeutig: Prävention will keineswegs gesellschaftliche Konflikte und sozialen Wandel verhindern. Das entscheidende Ziel ist jedoch, gewaltsame Konfliktaustragung zu verhüten oder zumindest gering zu halten, also ›Gewaltprävention‹ zu betreiben. Doch bei der Frage des Mitteleinsatzes greift das vorherrschende, von staatlichen Akteuren dominierte

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Präventionskonzept allerdings auch auf die Androhung von Gewalt und auf militärische Instrumente zur Verhütung von Gewaltkonflikten zurück.

Problematische Phaseneinteilung präventiven Handelns Problematisch erscheint auch das weit gefasste, dynamische Verständnis von Prävention, das vorbeugende Maßnahmen nicht nur vor und während eines Gewaltkonfliktes, sondern sogar noch nach dessen Ende vorsieht. Das wesentliche Ziel von Präventionsbemühungen in der post-konfliktiven Konsolidierungsphase ist es, das Wiederaufleben von Gewalthandlungen zu verhüten. Doch erscheint es gerade in dieser Phase fragwürdig von Prävention zu sprechen, denn eigentlich hätten ja genuine Präventionsbemühungen den vorangegangenen gewaltsamen Konfliktaustrag verhindern und damit auch die nachsorgende Konfliktbearbeitung überflüssig machen sollen. Daher sollte der Primär- und Sekundärprävention der Vorrang vor der Tertiärprävention zukommen (Woocher 2009: 2, 15). Blickt man jedoch auf die präventionspolitische Praxis, so erkennt man deutlich eine höchst problematische und von Kritikern als »perverse Präferenz« (Schnabel 2002: 26) bezeichnete Prioritätensetzung zugunsten der Friedenskonsolidierungsphase. Dies zeigte sich auch in der 2005 etablierten neuen UN-Kommission für Friedenskonsolidierung, der ursprünglich eine pro-aktive, genuin präventive Rolle zukommen sollte. In einer Studie zur »Konfliktprävention zwischen Anspruch und Wirklichkeit« wird denn auch die mangelnde Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft zum pro-aktiven Engagement moniert: »Viel eher scheinen die relevanten internationalen Akteure bereit zu sein, Krisenmanagement in bereits ausgebrochenen Konflikten zu betreiben und die Konfliktprävention auf die Zeit danach zu verschieben« (Feichtinger/Jurekovic 2007: 5). Auch hinsichtlich der Präventionspolitik der Europäischen Union (EU) fällt auf, »dass der Großteil der ESVP-Operationen seit 2003 erst in der Nachkriegsphase erfolgt. […] Offenbar tut sich die EU nach wie vor schwer damit, bei akut werdenden Konfliktfällen sofort vorbeugend in Aktion zu treten« (Rummel 2007: 51; siehe auch Duke 2011). Schließlich aber sollte die Prävention ja gerade auch deshalb als besonders attraktiv gelten, weil sie nicht nur humaner und politisch klüger, sondern auch kosteneffektiver ist als die immens aufwendige reaktiv-kurative Krisenbearbeitung.

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Bevorzugung externer Präventionsakteure gegenüber lokalen Akteuren In der Präventionsliteratur besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass die wichtigsten Akteure von Konfliktprävention die politisch Verantwortlichen und Handlungsträger in den Krisengesellschaften selbst sind: Der »Carnegie Commission on Preventing Deadly Conflicts« zufolge sollte ein »anerkannter Grundsatz sein, dass diejenigen mit der größten Handlungsfähigkeit auch die größte Verantwortung zum Handeln tragen. Diejenigen Führer, Regierungen und Menschen, die möglichen gewaltsamen Situationen am nächsten sind, tragen die Hauptverantwortung, präventive Maßnahmen zu unternehmen« (Holl 1999: 46). Daher propagierte die Kommission auch »lokale Lösungen für lokale Probleme«. Andererseits widmen sich dann doch die meisten Studien zur Konfliktprävention überwiegend der Rolle externer Akteure im Kontext der internationalen Gemeinschaft, also den Staaten, zwischenstaatlichen Zusammenschlüssen sowie international agierenden nichtstaatlichen Organisationen. Dies scheint jedoch eine problematische Schwerpunktsetzung zu sein, da jede Präventionspolitik externer Akteure als Erfolgsvoraussetzung eine tragfähige gesellschaftliche Basis im Krisenland braucht, also wichtige Teile der dortigen Bevölkerung, die das von außen herangetragene Präventionsanliegen aus eigenem Interesse und Willen mittragen.

Unzulänglichkeit der Frühwarnung Nicht ganz zu Unrecht hat der norwegische Friedensforscher Johan Galtung die Frühwarnung einmal als ein »intellektuelles und politisches Minenfeld« bezeichnet (Galtung 1996). Zum einen ist hier auf die begrenzte Prognosefähigkeit der Frühwarnung hinzuweisen, deren Vorhersagen sich im Grunde immer noch zwischen ›Kaffeesatz und Hightech‹ bewegen. Denn komplexe Gesellschaftsentwicklungen sind nicht-lineare, ›chaotische‹ Prozesse, denen mit generalisierten Modellen nur schwer prognostisch beizukommen ist. Auch im besten Fall der Vorhersage kann es sich letztlich nur um eine allenfalls hochgradig plausible Wahrscheinlichkeitsaussage handeln. Zum anderen sollten sich Frühwarner zudem immer ihrer Norm- und Interessensgebundenheit bewusst und sich darüber im Klaren sein, dass es keine politisch wirklich neutrale Frühwarnung geben kann. Zudem wurde von Frühwarnforschern aus dem Süden vor einem ›Informations-Imperialismus‹ westlich dominierter Frühwarneinrichtungen gewarnt. Allgemein wurde und wird auch auf widersprüchliche Einschätzungen und Bewertungen von Daten und Informationen hingewiesen, auf die Rolle von Ignoranz, Vorurteilen und Perzeptionsverzer-

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rungen sowie auf die Möglichkeiten der Manipulierung von Daten und Informationen. Divergierende Erkenntnisinteressen, Wahrnehmungsraster, Analyserahmen und Doppelarbeit verschiedener Frühwarneinrichtungen erschweren bis heute eine kohärente Frühwarnung. Schließlich wurde auch die vorherrschende Ausrichtung der Frühwarnung auf spektakuläre makro-politische Gewaltkonflikte wie Krieg und Völkermord sowie die damit verbundene Suche nach Eskalationsfaktoren kritisiert. Eine solche Fokussierung vernachlässige zum einen die Beobachtung weitaus häufigerer, weniger dramatischer lokaler Konflikte (Wulf/Debiel 2009: 26) und zum anderen die große friedenspolitische Bedeutung von Deeskalationsfaktoren.

Lücke zwischen erfolgter Frühwarnung und ausbleibendem präventiven Handeln Als Hauptproblem von (prozessorientierter) Prävention staatlicher Akteure gilt die (plakativ so genannte) ›Lücke‹ zwischen ›early warning‹ und ›early action‹, also die immer wieder beobachtbare Diskrepanz zwischen erfolgender Frühwarnung und ausbleibendem präventiven Handeln, wie sie zum Beispiel in extremer Form in Ruanda 1994 auftrat. Diese Lücke wird in der Regel auf zweierlei Weise erklärt. Zum einen wird auf Kommunikationsprobleme zwischen der Frühwarnung und der politischen Entscheidungsebene hingewiesen. Der Frühwarnung wird vorgeworfen, zu wenig die Kontextbedingungen der politischen Praxis zu berücksichtigen und dieser zu wenig politiktaugliche Analysen und Handlungsoptionen vorzulegen. Zum anderen wird die Lücke durch den ›Mangel an politischem Willen‹ zum präventiven Handeln erklärt, der wiederum wesentlich aus mangelnden Interessen staatlicher Akteure resultiere. Dieser Erklärung zufolge muss vorbeugendes Handeln oder Nichthandeln in den Kontext herkömmlicher Interessens- und Machtpolitik eingeordnet und von der Wahrnehmung und Definition vitaler nationaler Interessen abhängig gemacht werden. Nicht so sehr die Stärke eines Warnsignals sei wichtig, sondern vor allem die Stärke der relevanten, potentiell betroffenen Eigeninteressen. Zudem scheinen auch noch weitere normative, mentale und bürokratische Restriktionen zum Mangel an politischem Willen beizutragen (Matthies 2000: 59 ff.; Wulf/ Debiel 2009: 26 ff.; Woocher 2009: 13 f.).

Defizitäre Evaluation präventiven Handelns Bei der Suche nach den Erfolgsbedingungen von Konfliktprävention stellen sich etliche konzeptionelle und methodische Probleme. Vor allem gilt es zu klären,

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was denn unter einem ›Erfolg‹ zu verstehen ist. In vereinfachender Weise könnte prozessorientierte Prävention dann als erfolgreich gelten, wenn es ihr gelingt, einen kurzfristig bevorstehenden gewaltsamen Konfliktaustrag zu verhindern. Strukturorientierte Prävention wäre dann erfolgreich, wenn es ihr gelänge, über längere Zeiträume hinweg die Fähigkeit krisenanfälliger Gesellschaften zum friedlichen Wandel aufzubauen und zu stärken. In beiden Fällen handelt es sich bei ›Erfolg‹ um empirisch-analytisch schwer zu erfassende ›Nicht-Ereignisse‹, also um das kurzfristige und längerfristige Ausbleiben kollektiver Gewalthandlungen. Hier zeigt sich die Problematik des Zusammenhangs von Erfolg und Kausalität. Denn es kann kaum schlüssig nachgewiesen werden, dass es durch gezielte Präventionsbemühungen zum Ausbleiben eines Gewaltkonflikts gekommen ist beziehungsweise dass es ohne Präventionsanstrengungen zu einem Gewaltkonflikt gekommen wäre. Die Analyse und Bewertung von Präventionswirkungen bestimmter Maßnahmen der jeweiligen Akteure ist in der Regel weitaus schwerer zu bewerkstelligen als die nachträgliche Ursachenanalyse eines manifesten Krieges (Mucha 2012).

Probleme der realpolitischen Umsetzung Angesichts all dieser hier skizzierten Probleme stellten kritische Einwände gegen die Konfliktprävention deren politische ›Machbarkeit‹ überhaupt in Frage3. Den konträren Auffassungen in dieser Frage lagen offensichtlich divergierende anthropologische Prämissen und theoretische Positionen im Bereich der internationalen Politik zugrunde. Während Anhänger des ›Idealismus‹ die Möglichkeiten einer kollektiv-gemeinnützigen Politik der Vorbeugung weithin positiv und optimistisch einschätzten, neigten Protagonisten des ›Realismus‹ demgegenüber eher zu Skepsis und Pessimismus. Sie bezweifelten neben der Machbarkeit von Präventionspolitik auch deren Gemeinnützigkeit, da sich letztlich doch individuell-eigennützige nationalstaatliche Macht- und Interessenpolitik durchsetzen würde. In der Tat ist Prävention »[…] als eine Form kollektiven Handelns extrem voraussetzungsreich. Sie erfordert eine geteilte Wahrnehmung der Relevanz von Risiken und Konflikten, eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit, ein geteiltes Mandat sowie die Bereitschaft zur frühzeitigen und zugleich dauerhaften Bereitstellung von Ressourcen für Konfliktprävention. Katastrophale Konflikt- und Notlagen müssten vor ihrem Eintreten absehbar sein. Unzuverlässige Konfliktprognosen, Indifferenz, Fatalismus, Opportunis-

3 Siehe hierzu exemplarisch die Kontroverse zwischen Stedmann und Lund in »Foreign Affairs« im Jahre 1995 (Matthies 2000: 23 f.).

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mus, Pragmatismus und die Probleme des Kollektivhandelns stehen einer kollektiven Prävention entgegen« (Heinemann-Grüder 2007: 127).

Doch sollte diese zu Recht ernüchternde Einschätzung nicht Grund zum Pessimismus, sondern Anlass dafür sein, die Forschung und das politische Handeln im Problemfeld der Prävention weiter voranzutreiben.

Forschungs- und Handlungsbedarf im Problemfeld Prävention Forschungs- und Handlungsbedarf besteht vor allem bei der Optimierung der Frühwarnung, bei der Reduzierung oder Schließung der ›Lücke‹, bei der stärkeren Würdigung des Präventionspotentials lokaler Akteure sowie bei der Wirkungsforschung.

Identifikation von Hot Spots Die benannten Probleme der bislang ›sub-optimal‹ aufgestellten Frühwarnung bedürfen der weiteren Bearbeitung (Wulf/Debiel 2009: 24). Dies zeigte sich im Jahr 2011 eindringlich am Beispiel der mehr oder minder gewalttätigen politischen Umbrüche in Nordafrika, von denen zum Beispiel alle Instanzen der EU völlig überrascht wurden. Doch hatte bereits das Versagen der Frühwarnung im Falle der Unruhen in Kenia zu Anfang 2008, wo offenkundig die polarisierende Wirkung des Wahlkampfes lokal wie international unterschätzt worden war (Abuom 2012), die internationale Diskussion über die Defizite der Frühwarnung und über ›Conflict Early Warning and Response Mechanisms‹ (EWRs) wieder neu belebt. Hierbei geht es sowohl um eine Verbesserung der Qualität ihrer Informationen und der Zuverlässigkeit ihrer Prognosen als auch um eine bessere Integration ihrer Arbeit in politische Entscheidungsprozesse. Gleichwohl wird die Frühwarnung wohl auch weiterhin mit »Ungewissheiten« (Boeckelmann/Mildner 2011) und »ungeplanten Situationen« (Lippert/Perthes 2011) rechnen müssen. Interessante Entwicklungen im Bereich der Frühwarnung vollziehen sich seit einigen Jahren beim Aufbau von regionalen und lokalen ›early warning systems‹ und Präventionsmechanismen (Wulf 2009) wie zum Beispiel dem ›Continental Early Warning System‹ (CEWS) der AU (International Peace Institute 2012). Leider besteht bis heute ein gravierender Mangel an strategischen Zukunftsanalysen, die sich vor allem mit möglicherweise neu aufkommenden Gewaltkonflikten im Zuge des Klimawandels auseinandersetzen (Brzoska u. a.

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2011/12; Gleditsch 2012; Wissenschaft & Frieden 2012). Aufgabe der Frühwarnund Präventionsforschung wäre es hierbei, die von der Klimafolgenforschung bereits identifizierten ›Hot Spots‹ genauer zu untersuchen, deren mögliche Gewaltformen zu eruieren und entsprechend angepasste Präventionsstrategien zu entwerfen.

Identifikation der Black Box zwischen ›early warning‹ und ›early action‹ Die Präventionsforschung muss darüber hinaus bemüht sein, noch genauer als bisher, die ›Lücke‹ zwischen ›early warning‹ und ›early action‹ zu erklären und dabei mehr Licht in das Dunkel der ›Black Box‹ von Krisenentscheidungsprozessen auf staatlich-politischer Ebene zu bringen. Wie und von wem werden Informationen im Kontext von Frühwarnketten gewonnen, weitergegeben, ausgewertet und politisch bewertet? In welchen formellen/informellen Strukturen werden Entscheidungen über mögliche Präventionsmaßnahmen vorbereitet und gefällt? Welche Situationsdefinitionen und Interessenswahrnehmungen spielen dabei eine Rolle? Zur Beantwortung solcher Fragen besteht noch ein großer Bedarf an systematischen Akteurs-, Fall- und Prozessanalysen. Als Fernziel wäre ein allgemein anerkanntes Konzept der Prävention zu erarbeiten, »das eine logische Schrittfolge von der Situationsanalyse bis zu frühzeitigem und angemessenem Handeln enthält«, wie bereits vor einigen Jahren angemahnt wurde (Spelten 2004: 230).

Präventionspotential lokaler Akteure Dringend geboten ist auch eine stärkere Fokussierung der Präventionsforschung und des präventiven Handelns auf die lokalen Akteure und Gesellschaften vor Ort. Denn das von den Wortführern des Präventionsanliegens ursprünglich propagierte Postulat der ›local ownership‹ sollte endlich ernst genommen werden: »Auf der deklamatorischen Ebene wird dies nicht bestritten. Auf der konzeptionellen Ebene und auf der Finanzierungsebene sieht dies jedoch anders aus« (EED 2009: 11); hier dominieren immer noch die staatlichen Akteure der westlichen Industrieländer und die zwischenstaatlichen Organisationen. Die Bedeutung des ›local ownership‹ Es ist nach langjährigen Erfahrungen mit zahlreichen gescheiterten und/ oder problematischen Eingriffen sowie militärischen Interventionen externer staatlicher Akteure unverkennbar, dass das stärkste Friedenspotential sich in den Krisengesellschaften selbst befindet. Im Sinne der

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Nachhaltigkeit konstruktiver Konfliktbearbeitung kann es letztlich wohl nur ›lokale Lösungen für lokale Probleme‹ geben. Weitaus unterschätzt wird in der Regel das Agieren der politisch-staatlichen Entscheidungsträger, Machteliten und zivilgesellschaftlichen Akteure in den Krisenregionen selbst. Aus dieser Erkenntnis wiederum resultiert »die Priorität lokaler Initiativen und deren Unterstützung anstelle von Aufoktroyierung von fremden Ansätzen« (Schweitzer 2009: 10). Die lokalen Akteure sind es, »die letztlich den Schlüssel zu Krieg und Frieden in den Händen halten, während das Eingreifen von externer Seite meistens hilfreich, manchmal essentiell, aber manchmal auch schädlich sein kann, nämlich wenn es zur Marginalisierung und Schwächung dieser lokalen Akteure führt« (Schweitzer 2009: 62). Daher wäre es dringend erforderlich, mehr Erkenntnisse über das bislang vernachlässigte Präventionspotential in den Krisengesellschaften selbst zu gewinnen.

Entwicklung von geeigneten Evaluierungsinstrumenten Schließlich muss auch weiterhin eine Evaluierung von Erfolgen und Misserfolgen der Prävention betrieben werden. Gravierende Unklarheiten und Wissenslücken gibt es weiterhin bezüglich des Zusammenhangs von Kausalität und Präventionswirkung (Melander/Pigache 2007). Ebenso fehlt es immer noch an ausreichend profundem Wissen über die Tauglichkeit und Wirksamkeit von Akteuren und der präventionspolitischen ›toolbox‹, also der Verfahren und Instrumente‹ der Krisenprävention. Dabei kann es sich jedoch nicht um ›onesize-fits-all-Lösungen‹ handeln, sondern nur um auf den jeweiligen Einzelfall zugeschnittene und maßgeschneiderte Herangehensweisen (Woocher 2009: 10). Zudem handelt es sich bei Präventionsbemühungen meist um nicht-lineare Prozesse mit Fortschritten und Rückschlägen, bei denen sich Erfolgsmomente nicht immer leicht bestimmen lassen. Daher gilt es, differenziertere Maßstäbe als bisher an die Messung des ›Erfolgs‹ oder ›Misserfolgs‹ von Prävention anzulegen (Woocher 2009: 12). Immerhin hat die Präventionsforschung bereits vor etlichen Jahren damit begonnen, durch komparative Studien über makropolitische ›Erfolgsgeschichten‹ (zum Beispiel im Baltikum, in Mazedonien, in Südafrika) und ›Misserfolgsgeschichten‹ (zum Beispiel in Ex-Jugoslawien und in Ruanda) systematisch nach diesbezüglichen Schlüsselfaktoren zu suchen (Jentleson 2000; Mucha 2012). Ergänzt werden diese Studien durch vielfältige Berichte von Akteuren der zivilen Konfliktbearbeitung über lokale Friedensarbeit und Präventionsbemühungen, die jedoch leider kaum öffentlich wahrgenommen werden, da sie in-

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ternational im Vergleich mit makro-politischen Gewaltgeschehnissen als wenig spektakulär gelten (Brockmeier/Diepen 2013). Auch ›verpassten Präventionschancen‹ (sogenannte ›missed opportunities‹) sollte weiterhin nachgespürt werden, wobei es sich allerdings nicht um eine wohlfeile ›akademische‹ ex-post ›Beckmesserei‹ handeln darf. Vielmehr ist eine seriöse und schlüssige kontrafaktische Analyse gefragt, die entgegen dem tatsächlichen Verlauf der Geschehnisse auf plausible Weise argumentieren kann, dass ein anderer, besserer Verlauf der Dinge möglich gewesen wäre, wie sie am Beispiel des Bürgerkriegs in Syrien 2012 ansatzweise von Hanne-Margret Birckenbach versucht wird (Birckenbach 2012: 44 ff.). Unter dem Eindruck des Kosovokrieges schrieb Tobias Debiel seinerzeit: Kontrafaktische Analysen dürfen nicht zu der Annahme verleiten, »die Wahrnehmung »verpasster Chancen« hätte automatisch zu einem anderen Verlauf der Dinge geführt. Dennoch: Es erscheint notwendig, Entscheidungsabläufe zu hinterfragen, Alternativoptionen durchzubuchstabieren» und zu fragen, welchen Einfluss alternative Modelle der Konfliktregelung hatten, die von der Wissenschaft und Politikberatung entwickelt wurden (zitiert in Matthies 2000: 120). Insgesamt steht also eine systematische Wirkungsforschung, die komparative Studien mit politischem Erfahrungswissen und ›best practices-Erkenntnissen‹ zivilgesellschaftlicher Friedensarbeit kombiniert, noch weithin aus4.

Fazit und Ausblick Nach fast zwei Dekaden der Debatte über Konfliktprävention hat das neue Paradigma des vorbeugenden, pro-aktiven Handelns das alte Paradigma des reaktiv-kurativen Umgangs mit Gewaltkonflikten immer noch nicht abgelöst. Andererseits ist durchaus zu würdigen, dass es, ungeachtet des eingangs erwähnten konjunkturellen Abschwungs der Präventionsthematik, doch auch gewisse Fortschritte gab: etwa bei der nationalen und internationalen Normsetzung und Normausbreitung, bei konzeptionellen Anpassungen und Veränderungen, beim Aufbau von Infrastrukturen und Institutionen, bei der Ausbildung von Personal und der Bereitstellung von Geldern (Woocher 2009: 6 ff.) sowie bei der Professionalisierung der Präventivdiplomatie der UN (United Nations 2011; Einsiedel/Pichler 2012). In Teilen der politischen Eliten hat zudem ein Sensibilisierungs- und Lernprozess eingesetzt. Auf der operativen Ebene hat sich ferner eine professionelle Subkultur der Konfliktprävention herausgebildet, innerhalb derer nicht zuletzt zahlreiche Akteure der zivilen Konfliktbearbeitung eine von den Medien und der Öffentlichkeit leider nur wenig beachtete kon4 Zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure siehe Paffenholz (2010).

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struktive Arbeit leisten. Ungeklärt ist das Problem der schwierigen Kommunizierbarkeit des Präventionsanliegens in der Öffentlichkeit: »Es ist die Crux von Prävention und Friedensarbeit« (FriEnt 2009: 12), dass die Medien und die Öffentlichkeit diese und ihre Erfolge nur selten zur Kenntnis nehmen. »Wenn aber Konflikte gewaltsam eskalieren, dann erhalten sie umso häufiger internationale Aufmerksamkeit« (ebd.: 12). Da auf dem Nachrichtenmarkt gerade schlechte Nachrichten gute Nachrichten sind, gilt die Präventionsthematik als wenig spektakulär und daher als unattraktiv. Immerhin gibt es Ansätze zu einer Art von Friedens- beziehungsweise Präventionsjournalismus und damit zu einer konstruktiven Rolle von Medien und Journalisten bei der präventiven Konfliktbearbeitung (Legatis 2012). Dennoch bedürfen die Probleme der Krisenkommunikation im Nachrichtenprozess dringend weiterer Forschungsbemühungen (Maier u. a. 2012). Zusammenfassend ist einzuräumen, dass die Rede von Prävention einfacher ist als derselben Taten folgen zu lassen. Denn effektive Prävention setzt sowohl den politischen Willen als auch die konzeptionelle, materielle, instrumentelle und operative Fähigkeit diverser Akteure zu vorbeugendem Handeln voraus. Dies gilt auch für die deutsche Präventionspolitik. Dem im Jahre 2004 von der Bundesregierung verabschiedeten ›Aktionsplan Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung‹ mangelt es bis heute an einem deutlichen Umsetzungswillen der Politik sowie an einer klaren regionalen und sektoralen Prioritäten- und Schwerpunktsetzung (Heinemann-Grüder 2012). Dem koordinierenden Ressortkreis fehlt es nach wie vor an politischer Steuerungskompetenz und Ressourcen. Der anhaltende Ressort-Egoismus behindert eine bessere Abstimmung zwischen den Ministerien. Schließlich ist es nicht gelungen, die Anliegen ziviler Krisenprävention auf wirkungsvolle Weise in der Öffentlichkeit zu propagieren. Doch ist der Erfolg von Prävention vor allem auch von den Kontextbedingungen vor Ort abhängig, also von den gesellschaftlichen Verhältnissen und Konfliktdynamiken in den Krisengesellschaften selbst. Andererseits gibt es gar keine vernünftige Alternative zum Projekt der Prävention, das allerdings einer stärkeren politischen und gesellschaftlichen Dynamik bedarf. Denn leider muss abschließend konstatiert werden, dass eine wohlwollende Rhetorik der Politik (›Kultur der Prävention‹) deren tatsächlichem präventiven Handeln immer noch weit vorausgeht. Frage zum Weiterdenken Ist Kriegsverhütung beziehungsweise Konfliktprävention angesichts der genannten kritischen Einwände und ihrer vielfältigen Defizite letztlich nur eine ›große Illusion‹ oder hat sie tatsächlich eine Chance auf friedenspolitische Umsetzung?

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Leseempfehlung Birckenbach, Hanne-Margret: »Friedenslogik statt Sicherheitslogik. Gegenentwürfe aus der Zivilgesellschaft«, in: Wissenschaft & Frieden 2/2012, S. 42 – 47. Feichtinger, Walter / Jurekovic, Predag (Hg.): Konfliktprävention zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Wien 2007. Matthies, Volker 2000: Krisenprävention. Vorbeugen ist besser als Heilen. Opladen 2000.

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Ulbert, Cornelia: »Systemische Risiken: Prävention und Krisenbewältigung«, in: Globale Trends 2013. Frieden – Entwicklung – Umwelt. Frankfurt am Main 2012, S. 223 – 243. United Nations: Preventive Diplomacy : Delivering Results, Report of the United Nations Secretary General, 2011. Wissenschaft & Frieden: Klimawandel und Sicherheit 2012/30 (3). Woocher, Lawrence: Preventing Violent Conflict. Assessing Progress, Meeting Challenges, United States Institute of Peace, Special Report 231. Washington 2009. Wulf, Herbert (Hg.): Still Under Construction. Regional Organisation’s Capacities for Conflict Prevention, INEF-Report 2009/97. Wulf, Herbert / Debiel, Tobias 2009: Conflict Early Warning and Response Mechanisms: Tools for Enhancing the Effectiveness of Regional Organisations? A Comparative Study of the AU, ECOWAS, IGAD, ASEAN/ARF and PIF. Working Paper no.49, Regional and Global Axes of Conflict, Crisis States Working Papers Series 2, LSE, Development Studies Institute (DESTIN), London 2009. Zyck, Steven A. / Muggah, Robert 2012: »Preventive Diplomacy and Conflict Prevention: Obstacles and Opportunities«, in: Stability. International Journal of Security & Development, 2012/1 (1), S. 68 – 75.

Ulrike Borchardt

Zur Menschenrechtsproblematik an den EU-Außengrenzen

»Mittelmeer : Über 1.500 Tote und Vermisste in 2011«, so lautet die Überschrift der Presseerklärung der UN Refugee Agency (UNHCR) von Ende Januar 2012 (UNHCR 2012). Wie die Pressesprecherin des UNHCR betonte, entspricht diese Zahl einer Verdoppelung der bisherigen Jahreshöchstzahl von 2007, als 630 Menschen tot aus dem Mittelmeer geborgen wurden. Die tatsächliche Zahl der Todesopfer, die seit Anfang der 1990er Jahre von verschiedenen NGOs gezählt wurden, übersteigt mittlerweile die 10.000-Marke (vergleiche Fortress Europe 2011). Damit ist das Szenario, das der britische Autor William Nicholson in seinem fiktiven Film »Der Marsch« von 1990 entwarf, heute zur Realität geworden. In Nicholsons Film geht es um den ›Marsch‹ sudanesischer Armutsflüchtlinge unter Führung eines Mahdi, eines religiösen Führers, an die marokkanische Mittelmeerküste, um von dort aus nach Europa zu gelangen. Sehr überzeugend schildert der Film die Hilflosigkeit der für Flüchtlingsfragen zuständigen EG-Kommissarin, die auf Verhandlungen setzt, letztendlich aber von EG-Grenzschutztruppen in ihren Verhandlungsbemühungen torpediert wird. Was 1990 im Rahmen der europäischen Medieninitiative »Eine Welt für alle« von fast allen europäischen Fernsehanstalten gezeigt wurde, ist heute Realität. Dies zeigen die eingangs genannten Zahlen, die das Scheitern einer europäischen Flüchtlingspolitik verdeutlichen. Im Folgenden möchte ich versuchen, diese erschreckende Entwicklung der europäischen Grenzschutzpolitik mit ihren menschenrechtswidrigen Praktiken zu erklären. Die zentrale Fragestellung lautet: Wie ist es zu erklären, dass die Europäische Union (EU), die sich klar und eindeutig auf die Verteidigung der Menschenrechte beruft und nahezu alle relevanten Menschenrechtserklärungen verbindlich unterzeichnet hat, diese offensichtlich in ihrem Umgang mit Flüchtlingen – und dies nicht nur an ihren Außengrenzen – weitestgehend außer Kraft setzt? Im Kern geht es also um die Vereinbarkeit demokratischer Normen der EU mit der zunehmenden Versicherheitlichung des Migrationsthemas. Beginnen werde ich mit dem Bekenntnis der EU zu eben diesen demokratischen Normen und ihrer vollen Respektierung der Menschenrechte. Diesen

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normativen Anspruch werde ich dann mit erfolgten administrativen und institutionellen Weichenstellungen der EU konfrontieren: mit den Vereinbarungen von Schengen II (1990) und Dublin II (2003), den Interessen der Nationalstaaten an Abschottung und der Rolle der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX (2004). Dabei werde ich auch die Ausdehnung der ›Außengrenzen‹ nach innen thematisieren: konkret die Problematik der Flüchtlingslager innerhalb der EU-Mitgliedsländer. Am Schluss will ich mögliche Alternativen für eine europäische Flüchtlingspolitik aufzeigen, die menschenrechtliche Standards tatsächlich respektiert.

Das Bekenntnis der EU zur Einhaltung der Menschenrechte In der ›Joint Communication‹ der EU-Kommission und des Hohen Vertreters der EU für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) an das Europäische Parlament und den Rat zum Thema »Human Rights and Democracy at the Heart of EU External Action – Towards a More Effective Approach« vom 12. Dezember 2011 heißt es: »All human rights – civil, political, economic, social and cultural – are universal in nature, valid for everyone, everywhere. Respect for human rights and fundamental freedoms is at the core of the European Union. The protection and promotion of human rights is a silver thread running through all EU actions both at home and abroad. On human rights and democracy, the EU must be principled when it comes to the norms and values it seeks to uphold, creative in the ways it does so, and absolutely determined to achieve concrete results« (COM 2011 (a): 4).

Ein klareres und deutlicheres Bekenntnis ist kaum vorstellbar. Dies wird auch im Vertrag der Europäischen Union deutlich, wo es in Artikel 21 heißt: »The Union’s action on the international scene shall be guided by the principles which have inspired its own creation, development and enlargement, and which it seeks to advance in the wider world: democracy, the rule of law, the universality and indivisibility of human rights and fundamental freedoms, respect for human dignity, the principles of equality and solidarity, and respect for the principles of the United Nations Charter and international law« (COM 2011 (a): 5).

In Artikel 13 der ›Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte‹ von 1948 wird das Recht auf Bewegungsfreiheit postuliert: »Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.« Die EU-Kommission ist sich durchaus dessen bewusst, dass ihr Handeln an diesen normativen Kriterien gemessen wird. Sie sieht ihre größte Herausforderung darin, diese eindeutigen Bekenntnisse zu den Menschenrechten tatsächlich zu sichern und zu implementieren. Sie kommt aber gleichzeitig zu

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widersprüchlichen Aussagen: So betont sie für den Bereich ›Freiheit, Sicherheit und Recht‹, in dem es um polizeiliche und rechtliche Zusammenarbeit im Kampf gegen Drogen, organisiertes Verbrechen, Funktion und Unabhängigkeit der Justiz, Grenzschutz, Menschenhandel, Mobilität und Migration geht, die entscheidende Bedeutung des Schutzes der Grundrechte (COM 2011 (a): 14). Dass sie so unterschiedliche Problemfelder wie »Kampf gegen Drogen, organisiertes Verbrechen […], Menschenhandel, Mobilität und Migration« auf eine Stufe stellt, zeigt bereits deutlich, dass innerhalb des Bereichs ›Freiheit, Sicherheit und Recht‹ offensichtlich die Sicherheitsdimension überwiegt. Hier wird bereits der Bezug zur Versicherheitlichung der Migration deutlich. In ihrer gemeinsamen Erklärung an das Europäische Parlament, den Rat, das europäische ökonomische und soziale Komitee und das Komitee der Regionen vom 25. Mai 2011 zum Thema »A new response to a changing neighbourhood« (COM 2011 (b)) betont die Kommission insbesondere die Bedeutung von Mobilität und persönlichen Kontakten für das gegenseitige Verständnis und die ökonomische Entwicklung. Zur Verbesserung dieser Mobilität und der Vertiefung persönlicher Kontakte stellt die Kommission ausgewählten Partnerländern der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) Visa-Erleichterung in Aussicht. Im Gegenzug dazu erwartet sie die Mithilfe bei der Rücksendung irregulärer Migrantinnen und Migranten, die sich in den ENP-Ländern1 im Transit aufhalten. Konkret heißt es in der Verlautbarung: »Partner countries are also important countries of origin and transit for irregular migrants. Cooperation on fighting irregular migration is essential to reduce the human suffering and diminished security that is generated. Such cooperation will be one of the conditions on which Mobility partnerships will be based« (COM 2011 (b): 11).

Auch hier findet sich wieder ein Hinweis auf die bereits erwähnte Tendenz zur Versicherheitlichung von Migrationsmanagement: »Kooperation im Kampf gegen irreguläre Migration ist essentiell für die Minderung menschlichen Leids und abnehmende Sicherheit.« Wodurch dieses menschliche Leid hervorgerufen wird und welches die tatsächlichen Gründe für die abnehmende Sicherheit sind, wird nicht thematisiert.

1 Die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) umfasst folgende Drittstaaten: Algerien, Armenien, Aserbaidschan, Ägypten, Georgien, Israel, Jordanien, Libanon, Libyen, Moldawien, Marokko, Tunesien, Ukraine und Weißrussland.

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Gründe für die zunehmende Versicherheitlichung des EU-Migrationsmanagements In zahlreichen Publikationen, die sich mit dem Thema der zunehmenden Versicherheitlichung des EU-Migrationsmanagements befassen (unter anderem Bigo/Tsoukala 2008), wird der 11. September 2001 als einschneidendes Datum für diese Entwicklung in der EU-Migrationspolitik genannt. Tatsächlich liegen die Anfänge der Versicherheitlichung weitaus früher. Im Folgenden werden die verschiedenen Etappen, die zu einer zunehmenden Versicherheitlichung des EU-Migrationsmanagements führten, kurz aufgezeigt und erläutert. Zu Beginn steht das Durchführungsabkommen von Schengen2, dem 1991/92 auch sämtliche EU-Mittelmeerstaaten beitraten. 1995 fielen dann bei den meisten Mitgliedsländern die Grenzkontrollen an den Binnengrenzen der EU weg (siehe unter anderem Auswärtiges Amt 2012). Für die EU-Bürger bedeutete dieses Abkommen eine große Erleichterung, insbesondere für den freien Warenund Personenverkehr. Drittstaaten-Angehörige und Asylantragsteller dagegen sahen sich mit zunehmenden Verschärfungen von Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen konfrontiert.

Das Ende des Kalten Krieges und die zunehmende Versicherheitlichung der Migrationspolitik3 Die Verschärfung der Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen für DrittstaatenAngehörige hängt nicht allein mit der schrittweisen Implementierung des Schengen-Abkommens zusammen, sondern ist auch auf das Ende des Kalten Krieges zurückzuführen: So fanden insbesondere Flüchtlinge aus dem Ostblock während des Kalten Krieges eine freundliche Aufnahme in Westeuropa, vor allem in der Bundesrepublik Deutschland. Sie dienten nicht allein als Beweis für die Attraktivität der westlichen Demokratien, sondern waren ebenso als qualifizierte Arbeitskräfte willkommen. Als dann die bis dahin schier unüberwindlichen Grenzen zwischen den Blöcken zu ›normalen‹ Staatsgrenzen wurden, wurden aus den bis dato willkommenen ›Brüdern und Schwestern‹ plötzlich für unsere Sozialsysteme bedrohliche ›Flüchtlingsströme‹, die mit vollkommen übertriebenen Zahlenangaben von bis zu sechs Millionen beziffert wurden 2 Das Schengener Abkommen wurde am 19. Juni 1985 von der Bundesrepublik Deutschland, von Frankreich, Belgien, Luxemburg und den Niederlanden im luxemburgischen Grenzort Schengen unterzeichnet. 3 In einigen Teilen basiert das folgende Unterkapitel auf einem von mir veröffentlichten Artikel »Migrations- und Flüchtlingspolitik der EU im Spannungsfeld von Sicherheit, ökonomischer Notwendigkeit und Menschenrechten« (Borchardt 2007).

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(Bade 2000: 378 ff.). Diese Entwicklung galt auch für Migrantinnen und Migranten in der ehemaligen DDR. So mussten die meisten der aus den sozialistischen Brüderländern stammenden Migrantinnen und Migranten aus Kuba, Angola und Vietnam bereits kurz nach der Wiedervereinigung Deutschland verlassen und in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Auf familiäre Bindungen und gelungene Integration wurde wenig Rücksicht genommen. In der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung spiegelt sich der Diskurswechsel vom ökonomisch nützlichen Migranten zum potentiellen Sicherheitsrisiko ebenso wider : So lag der Schwerpunkt zahlreicher Studien in den 1980er und auch 1990er Jahren bei Fragen des Arbeitsmarktes und sozialer Belange. Sie umfassten sowohl ökonomische, soziologische wie auch kulturelle Ansätze. Politikwissenschaftler und Experten für internationale Beziehungen behandelten das Migrationsthema erst viel später (vergleiche Wihtol de Wenden 2003). Im Vordergrund des Interesses standen hier zunächst der Zusammenhang zwischen Migration und Globalisierung sowie internationale Themen wie Flüchtlinge, transnationale Netzwerke oder Menschenrechte (Zolberg 1985; Sassen 1995). In den 1990ern erfolgte dann eine Veränderung des Fokus der Sicherheitsstudien von Ost-West- zu Süd-Nord-Fragen. Innenpolitik erhielt nun den Vorrang vor strategischen Studien. In diesem Kontext wurde Migration als zukünftiges Sicherheitsproblem definiert. Bigo (2001) erklärt die Analyse der sozialen Bedrohung durch Migration als Konstrukt von Sicherheitsexperten, die nach dem Ende des Kalten Krieges um ihre berufliche Zukunft bangten. Er zeigt deutlich die Grenzverschiebungen zwischen äußerer und innerer Sicherheit und das Auftauchen von Migration als Thema der globalen Sicherheit auf. Dabei verweist er auf den Kampf verschiedener ›Sicherheitsexpertengemeinden‹ um eine Hierarchisierung von Bedrohungen nach dem Ende der Bipolarität. Das Verwischen der Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit sieht er als Konsequenz der Veränderung von vier Bereichen: – Der konstruierten Bedrohung eines vermeintlichen nationalen Identitätsverlustes, – der Art und Weise, wie verschiedene Organisationen diese ›Veränderungen‹ als Bedrohungen konstruieren, – ihrem Interesse einen möglichst großen Anteil an Forschungsgeldern, Aufgaben und Legitimation für ihre jeweiligen Konstrukte zu erhalten, – in der Art und Weise, wie politische, bürokratische und mediale Akteure soziale Veränderung als politisches oder Sicherheitsproblem konstruieren oder nicht (Bigo 2001: 122). Ob es sich dabei um ein ›Konstrukt‹ sicherheitspolitischer Experten handelt, kann an dieser Stelle nicht abschließend behandelt werden. Auffällig ist allerdings, dass nach dem Ende des Kalten Krieges Migration Eingang in den stra-

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tegischen Diskurs von NATO und den Ministerien für Außen- und Sicherheitspolitik fand. Als wichtigste Themen gelten Migrationsströme (die Furcht vor ›Invasion‹) sowie – insbesondere nach den Anschlägen des 11. September 2001 – der islamistische Terrorismus. Hinzuzufügen bleibt die Tatsache, dass Wahrnehmung und Bewertung von Sicherheitsrisiken subjektiv sind. Sie können durch öffentliche Diskurse der Medien wesentlich beeinflusst und verändert werden.

Auswirkungen des Sicherheitsdiskurses auf das EU-Migrationsmanagement Wurde die europäische Migrationspolitik von 1973/74 bis 1989 auf europäischer Ebene hauptsächlich als Nebenprodukt der Diskussion über den Aufbau eines gemeinsamen Marktes diskutiert, ist sie seit dem Ende des Kalten Krieges bis heute zu einem eigenständigen Thema geworden. Dies insbesondere, wenn die vier Grundfreiheiten – Freizügigkeit der Bewegung von Kapital, Gütern, Dienstleistungen und Personen – tangiert sind. Dies geht einher mit einer Sicherheitsdimension von Migration. Die Anfangsphase der EU-Migrationspolitik ist gekennzeichnet durch widersprüchliche Wünsche: Einerseits einen gemeinsamen Markt herzustellen und andererseits gleichzeitig nationalstaatliche Kompetenzen bei Migrationsfragen aufrecht zu erhalten. Der erste gemeinsame Schritt zur Vereinheitlichung bestand in der Erstellung einer Liste von ›Visa-Staaten‹ (1989 im sogenannten ›Palma-Dokument‹ festgehalten). Vorbereitungen zu diesem Schritt wurden in der Schengen-Gruppe seit 1985 getroffen. Diese hielt außerhalb des institutionellen Regelwerks der EU regelmäßige Treffen zu sicherheitsrelevanten Fragen ab, die sich durch den Wegfall der Personenkontrollen an den europäischen Binnengrenzen ergeben hatten. Für die Abschaffung der Personenkontrollen wurden folgende sicherheitsrelevante ›Ausgleichsmaßnahmen‹ im Schengener Durchführungsabkommen (SDÜ) von 1990 festgelegt: – Die Einführung eines einheitlichen ›Schengen-Visums‹ für die Einreise und den kurzfristigen Aufenthalt von Drittstaaten-Angehörigen im ›SchengenRaum‹, – die Bestimmung des für einen Asylantrag zuständigen Mitgliedsstaates, – Maßnahmen gegen grenzüberschreitenden Drogenhandel, – polizeiliche Zusammenarbeit, – Zusammenarbeit im Justizwesen (Auswärtiges Amt 2012). Der nächste wichtige Schritt zu einer Harmonisierung der EU-Migrationspolitik betraf die ›Dublin-Regelung‹ (1990). Hier wurde festgelegt, dass nur ein Land für

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Asylgewährung zuständig ist. Damit sollte dem unerwünschten ›Asylshopping‹ in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten ein Riegel vorgeschoben werden. 2003 kam es zur Verabschiedung der ›Dublin-II-Regelung‹: Explizit wurde das Land zur Annahme und Bearbeitung von Asylanträgen bestimmt, in das die Antragstellerin oder der Antragsteller als erstes eingereist ist. Logischerweise ist dies ein Land mit einer Außengrenze der EU. Diese Regelung bedeutet konkret für die in Deutschland davon betroffenen Asylsuchenden, dass sie in die Länder zurückgeschickt werden, in denen sie erstmals europäischen Boden betreten haben4 (Jesuit Refugee Service Europe 2013). Die Dublin-II-Richtlinie bezieht sich auf das ›One-chance-only‹-Prinzip, was bedeutet, dass Asylsuchende nur in einem Land einen Antrag stellen dürfen. Dies ist normalerweise das Land der Einreise. Betrachtet man die größten Flüchtlingsströme, die Verteilungskonflikte innerhalb der EU erzeugen, also aktuell aus Afghanistan, Irak und Syrien, kommen die meisten dieser Flüchtlinge über die Türkei nach Griechenland in die EU. Die deutsche NGO Pro-Asyl verfasste 2007 einen Bericht über die Situation von Flüchtlingen in griechischen Aufnahmelagern. Er trägt den bezeichnenden Titel »The truth may be bitter, but it must be told« (Pro-Asyl 2007). Hier finden sich detaillierte Berichte über die Behandlung von besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen, die unter unmenschlichen Bedingungen leben und deren Menschenrechte klar verletzt werden. Hinzu kommt, dass Griechenland nicht das Prinzip des non-Refoulement5 befolgt. Nach Angaben des UNHCR hat Griechenland die geringste Rate von Asylgewährungen in Europa – lediglich 0,61 Prozent der Antragsteller erhalten tatsächlich Asyl. Aufgrund dieser beklagenswerten Umstände beendete Norwegen die Rückführung von Asylantragstellern nach Griechenland, schiebt aber inzwischen selbst Asylsuchende nach Afghanistan ab. Schweden, das die größte Zahl irakischer Flüchtlinge beherbergt (2.400 Menschen), folgte. Inzwischen hat auch Deutschland, nach langem Zögern, seine gängige Praxis für eine bestimmte Zeit ausgesetzt, Flüchtlinge nach Griechenland zurückzuführen. Grund hierfür ist nicht zuletzt die politische und ökonomische Krise Griechenlands.

4 Der Anfang Juni 2013 erschienene Bericht des Jesuiten–Flüchtlingsdienstes ›Protection Interrupted‹ befasst sich eindringlich mit den Menschenrechtsverletzungen, die das ›Dublin-IIAbkommen‹ für Asylsuchende erzeugt. 5 Darunter versteht man das Verbot der Abschiebung von Asylantragstellern in Länder, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit aufgrund ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung bedroht wird, festgelegt in Artikel 33 der ›Genfer Flüchtlingskonvention‹.

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Eine Erweiterung der EU-Kompetenzen im Bereich Migration fand 19996 im Rahmen des Amsterdamer Vertrages statt. Hier ging es um die Festschreibung der – Harmonisierung der Aufnahmekriterien, – gemeinsamen Kriterien zur Behandlung der sogenannten ›illegalen Immigration‹, – Festlegung einer Arbeitsmigrationspolitik, – Behandlung von Drittstaaten-Angehörigen, – gemeinsamen Maßnahmen zur Beseitigung des Migrationsdrucks (›AfrikaStrategie‹7) (Europäische Union 1997). Sicherheitsfragen erlangten ein eindeutig größeres Gewicht: Schengen II (SDÜ) wurde Teil des Amsterdamer Vertrages; Freiheit der Bewegung, Immigration und Asyl kamen unter den Kompetenzbereich der Kommission, der ersten Säule des Maastrichtvertrages, und wurden somit Teil des ›acquis communitaire‹. Mit anderen Worten: Die Nationalstaaten traten wesentliche Kompetenzen im Bereich Migration, Asyl und des freien Personenverkehrs an die ›supranationale‹ Säule ab.

Abbildung 1: Dreidimensionaler Grenzzaun von Melilla Quelle: Jos¦ Palazûn, 2008

6 Der Amsterdamer Vertrag wurde 1997 aufgesetzt, trat aber erst 1999 in Kraft. 7 Die sogenannte ›Afrika-Strategie‹ wurde unmittelbar im Anschluss an die Grenzvorfälle in den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla im Oktober 2005 beschlossen, als Hunderte subsaharischer Migranten den Grenzzaun von marokkanischer Seite aus stürmten. Dabei kam es auch zu Todesfällen.

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Externalisierung als Instrument der EU-Migrationssteuerung Eines der zentralen Mittel der Migrationskontrolle sieht die EU in der sogenannten Externalisierung. Dabei ist Externalisierung eigentlich ein ökonomischer Begriff und bedeutet die Delegierung einer oder mehrerer Aufgaben eines Unternehmens an einen externen Akteur. Er beinhaltet auch die Delegierung von Verantwortung auf diesen Akteur. Im Zusammenhang mit Migrationskontrolle bedeutet Externalisierung die Verlagerung bestimmter Kontrollaufgaben an den EU–Außengrenzen sowie die Übertragung von Verantwortlichkeiten im Rahmen der Grenzkontrollen an Drittstaaten außerhalb der EU. Diese Übertragung von Verantwortlichkeiten bezieht sich sowohl auf die Gewährung von Asyl als auch auf die Kontrolle der Migration und der Grenzen (vergleiche Rodier 2006; Morice/Rodier 2010). Die EU übergab die Kontrollfunktionen zur Einreise nach Europa in zunehmenden Maßen an die Ursprungsländer beziehungsweise an Drittstaaten. Die Politik der sukzessiven Auslagerung von Einreisekontrollen steht in Zusammenhang mit der Bekämpfung der ›illegalen‹ Migration8. Die Entwicklung einer Politik gegen die ›illegale‹ Migration wurde 1999 auf dem Gipfeltreffen von Tampere beschlossen. Die Verstärkung des Grenzkontrollsystems wurde dabei als prioritär eingestuft. Zwei Jahre später, auf dem Gipfel von Laeken (2001), folgte der Beschluss zur effizienteren Kontrolle der Außengrenzen, demzufolge die Regelung aller Fragen im Zusammenhang mit den Außengrenzen eine gemeinsame EU-Aufgabe ist. Seitdem wurden folgende Maßnahmen zur Externalisierung der Grenzkontrollen umgesetzt: – Die Verlagerung der Grenzkontrollen auf die Konsulate und Botschaften durch die Einführung von immer komplizierteren Visa-Regeln und Anforderungen für die Gewährung von Visa. Darin liegt einer der Gründe für das Ansteigen der ›illegalen‹ Migration. Im März 2001 beschloss die Justiz- und Innenministerkonferenz eine Regelung9, mit der eine Liste von Drittstaaten, deren Ausreisende für die Grenzüberschreitung visapflichtig sind oder nicht, festgelegt wurde. Mitgliedstaaten haben freilich die Möglichkeit, ›Ausnahmen‹ zu erlauben. – Die Übertragung der Verantwortung für die Verhinderung der Einreise ›illegaler‹ Personen an die Transportunternehmen10. 8 Als ›illegale‹ Migration gilt ein Einreiseversuch ohne Visum des betretenen Staates. Wichtig ist der Hinweis darauf, dass internationale und transnationale Organisationen, wie die UN und ihre Unterorganisationen, von ›irregulärer‹ Migration spricht. Die EU dagegen als supranationale Institution sprechen, ebenso wie die klassischen Nationalstaaten, von ›illegaler‹ Migration. Diese Bezeichnung widerspricht jedoch dem Recht auf Bewegungsfreiheit. 9 Nr. 539/2001 vom 15. März 2001; JOCE L 81/1. 10 Direktive 2001/51/CE.

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– Gemeinsame Überwachung der Seegrenzen (2003). – Einführung von Verbindungsbeamten11. Diese Verbindungsbeamten stammen aus den EU-Mitgliedstaaten. Ihre Aufgabe ist es, die Beamten in Drittländern oder Transit-Staaten in ihren Grenzkontrollaufgaben zu unterstützen. Ihre Funktion besteht in erster Linie in der Verhinderung ›illegaler‹ Migration, der Rückführung ›illegaler‹ Migrantinnen und Migranten und im Migrationsmanagement. Gravierende Folgen dieser Maßnahmen bestehen auf drei Ebenen: – Die Möglichkeit, das allen politisch Verfolgten zustehende Recht auf Asylbeantragung wahrzunehmen, wird ausgehebelt beziehungsweise beschränkt. – Die Wahrnehmung des Menschenrechts auf freie Bewegung wird stark eingegrenzt. – Der Schauplatz humanitärer Katastrophen und menschlicher Tragödien beim Versuch der Migration wird von den EU-Außengrenzen in Drittstaaten verlagert. Gleichzeitig besteht eine Diskrepanz zwischen der mangelnden Stringenz der Maßnahmen zur Beseitigung von Migrationsursachen in den Herkunftsländern einerseits und der Perfektionierung der Abschottungsmaßnahmen andererseits. In dem ebenfalls 2004 verabschiedeten »Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union« wird die Bedeutung der Zusammenarbeit mit Drittländern zur Bekämpfung der ›illegalen‹ Migration noch einmal bekräftigt. So heißt es unter Abschnitt 1.6.1, der sich mit der externen Dimension von Asyl und Zuwanderung befasst: »Der europäische Rat stellt fest, dass unzureichend regulierte Wanderungsbewegungen zu humanitären Katastrophen führen können. Er verleiht seiner großen Besorgnis über die menschlichen Tragödien Ausdruck, die sich im Mittelmeer bei Versuchen abspielen, illegal in die Europäische Union einzureisen. Er ruft alle Staaten auf, stärker zusammenzuarbeiten, um den Verlust weiterer Menschenleben zu verhindern« (EU-Rat 2005: C53/5).

Zur Bekämpfung der ›illegalen‹ Einwanderung empfiehlt der Europäische Rat unter anderem die Schaffung einer Europäischen Grenzschutztruppe (EU-Rat 2005 C53/6) sowie die »feste Ansiedlung von Verbindungsnetzen für Einwanderungsangelegenheiten in den relevanten Drittländern« (ebd.). Dieser Vorschlag wurde auch vom damals noch amtierenden Bundesinnenminister Schily aufgenommen, der »Überlegungen […] zur Errichtung einer EU-Aufnahmeeinrichtung in Nordafrika« (BMI 2005) anstellte. 11 Beschluss 19/02/04; vergleiche Verordnung (EG) Nr. 377/2004 des Rates vom 19. Februar 2004, Amtsblatt der EU ( Nr. L 64/1 – 64/4 vom 2. März 2004).

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Die Rolle der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX in der Flüchtlingsabwehr Die bislang wichtigste Maßnahme zur Abwehr ›illegaler‹ Migrantinnen und Migranten sowie von Flüchtlingen bildet die Einrichtung und Arbeit der europäischen Grenzschutz-Agentur FRONTEX, die ihren Sitz in Warschau hat12. Die Gründung von FRONTEX steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Verabschiedung des bereits erwähnten Haager Programms, schließlich muss die Freiheit der Europäer auch entsprechend gesichert werden. Eine der wichtigsten Einsätze von FRONTEX im Jahr 2006 betraf die Überwachung der Seewege von Mauretanien und Senegal zu den Kanarischen Inseln. Für diese Unternehmung standen 3,5 Millionen Euro zur Verfügung. 2,8 Millionen Euro davon zahlte FRONTEX aus eigenem Budget, der Rest kam von Frankreich, Deutschland, Italien, Portugal, den Niederlanden, Norwegen und Großbritannien. Laut einer Presseerklärung von FRONTEX konnten die Überwachungsmaßnahmen zur Rückführung von 6.076 ›illegalen‹ Migranten bei der Aktion unter dem Namen ›Hera‹ beitragen. Mehr als 3.500 seien bereits an der afrikanischen Küste von ihrem lebensgefährlichen Plan abgehalten worden (FRONTEX 2006). Insgesamt kamen 2006 über 31.000 afrikanische Migrantinnen und Migranten über See auf die Kanarischen Inseln. Nach Schätzungen kanarischer Behörden kamen dabei weitere 6.000 Menschen, darunter auch zahlreiche Kinder, ums Leben (El Pa†s vom 10. 01. 2007). Angesichts ständig steigender Flüchtlingszahlen in Italien, Spanien und Griechenland drängten die Mittelmeeranrainerstaaten der EU Brüssel, die Überwachung der Grenze im Mittelmeerraum ›gerechter‹ zu koordinieren. Insbesondere Spanien hatte eine führende Rolle bei der Durchsetzung von FRONTEX. Die Aufgabe von FRONTEX besteht neben der Abwehr von Flüchtlingen auch in der Erstellung von Risikoanalysen möglicher zukünftiger ›Flüchtlingsströme‹. Ihr Etat von ursprünglich 6,3 Millionen Euro im Jahr 2005 stieg 2011 auf 118,187 Millionen Euro (FRONTEX 2012 (b): 6). Dies ist ein deutlicher Hinweis auf die zunehmende Bedeutung dieser Agentur. Zur Abwehr von Flüchtlingen gehört auch die bereits erwähnte Rückführung ›illegaler‹ Migrantinnen und Migranten in ihre Herkunftsländer. FRONTEX koordiniert die Rückführung zwischen den Residenzstaaten und den Herkunftsländern, um nach eigener Darstellung sicherzustellen, dass humanitäre Standards eingehalten werden und die Rückführung kostengünstig und effizient erfolgt (FRONTEX: Missions and Tasks).

12 Obwohl bereits 2004 beschlossen, verfügt FRONTEX erst seit Oktober 2007 über eine allgemein zugängliche Website (www.frontex.europa.eu).

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Abbildung 2: Hauptherkunftsländer von Flüchtlingen und irregulären Migranten Quelle: FRA (2013: 22)

Dieser Aufgabe der Rückführung kann FRONTEX jedoch nur gerecht werden, wenn es bei seiner Abwehrfunktion von den Herkunfts- und Transitländern der Flüchtlinge unterstützt wird. Dazu dienen die bereits erwähnten Rückführungsklauseln. Diese sind Teil der Aktionspläne, die die EU im Rahmen der ENP mit Drittstaaten ausgehandelt hat. Während des ›Arabischen Frühlings‹ zeigte sich jedoch, dass das allein auf vermeintliche Sicherheit ausgerichtete Grenzschutzsystem sofort zusammenbricht, wenn die Vertragspartner auf der anderen Seite des Mittelmeers nicht mehr zur Kooperation bereit sind. Szenen wie die der 6.000 tunesischen Flüchtlinge, die auf Lampedusa Schutz suchten, sind letztlich die Konsequenz einer verfehlten EU-Flüchtlingspolitik, die allein auf Abwehr zielt, menschenrechtliche Bedenken völlig ausblendet und stattdessen auf die Zusammenarbeit mit diktatorischen Regimen setzt(e) (Borchardt 2011). Anstieg der Aufklärung ›illegaler‹ Grenzübertritte durch FRONTEX Laut Angaben der ›Annual Risk Analysis 2012‹ (FRONTEX 2012 (a)) stieg die Aufklärung ›illegaler‹ Grenzübertritte an den Außengrenzen der EU von 104.000 in den Jahren 2009 und 2010 auf beinahe 141.000 Menschen, was einem Anstieg von 35 Prozent entspricht (FRONTEX: 2012 (a): 4). Die meisten dieser ›illegalen‹ Grenzübertritte erfolgte von Tunesiern (20 Prozent), Afghanen (16 Prozent) und Pakistanis (11 Prozent) (ebd.). Mehr als 64.000 ›Illegale‹ wurden auf dem Weg nach Italien aufgegriffen – eine Folge des Umsturzes in Tunesien sowie des Krieges in Libyen. 2010 lag die Zahl der ›Boatpeople‹ im zentralen Mittelmeerraum dagegen lediglich bei 5.000 (ebd.). Aber nicht allein im Mittelmeerraum stieg die Zahl der

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›Illegalen‹: Auch über die Landesgrenze zwischen der Türkei und Griechenland wurden 55.000 Flüchtlinge erfasst, was einem Anstieg um 12 Prozent im Vergleich zu 2010 entspricht. Dagegen sank die Zahl der ›illegalen‹ Grenzüberschreitungen von Albanien nach Griechenland um 85 Prozent (von fast 35.300 auf 5.270), eine direkte Konsequenz der VisaErleichterungen für albanische Staatsbürger. Im westlichen Mittelmeerraum wurden etwas weniger als 8.500 ›Illegale‹ aufgegriffen, was lediglich sechs Prozent der gesamten EU ausmacht. Die meisten dieser irregulären Migrantinnen und Migranten kamen aus Algerien, Marokko oder Subsahara-Afrika. Ganz sachlich stellen die Autoren der Studie fest, dass die hohe Zahl an ›illegalen‹ Grenzübertritten, die sich seit 2008 zwischen 100.000 und 150.000 bewegt, einen Markt für kriminelle Organisationen geschaffen hat. Dieser erleichtert den Aufenthalt ›Illegaler‹ in der EU. Als mögliche Konsequenz daraus wird konstatiert: »There is an increasing risk that these secondary movements are adding to the pull factors for illegal crossings of the EU external borders« (FRONTEX 2012 (a): 5). In Anlehnung an Bigo könnte man aus der Studie folgern, dass die Sicherheitsexperten weiterhin dafür sorgen, nicht ›überflüssig‹ zu werden. Ein weiteres Problem kam in den letzten Jahren hinzu: Die von Migrationsbewegungen am meisten betroffenen EU-Staaten leiden gleichzeitig stark an den Folgen der seit 2008 anhaltenden ökonomischen und politischen Krise. Es wird befürchtet, dass die aus der Krise resultierenden Budget-Kürzungen das Korruptionsrisiko erhöhen können, was zu weiterer ›illegaler‹ Migration führen kann (ebd.). Nicht unerwähnt lassen will ich die zunehmende Rolle von FRONTEX im Inneren des Schengenraumes. FRONTEX ist zunehmend auf internationalen europäischen Flughäfen, Bahnhöfen und Busbahnhöfen aktiv, um sogenannte ›Visa-Overstayers‹13 auszumachen und sie in ihre Herkunftsländer abzuschieben. In diesem Zusammenhang wurden die neuen Personal- und Reisepässe mit biometrischen Daten eingeführt, die die Fälschung von Personalausweisen erheblich erschweren. Auffällig an diesen willkürlichen Personenkontrollen ist die Tatsache, dass in erster Linie ›fremdländisch‹ aussehende Personen kontrolliert werden, ein Hinweis auf rassistische Clich¦s des mit den Personenkontrollen beauftragten Sicherheitspersonals (vergleiche Cremer 2013). 13 Darunter versteht man Personen, die mit einem ursprünglich gültigen Visum in den Schengenraum eingereist sind, das jedoch in der Regel nur für drei Monate gewährt und anschließend ungültig wird.

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Menschenrechtsverletzungen durch FRONTEX Insgesamt stellt die ›Annual Risk Analysis 2012‹ reichhaltige Daten zur Verfügung – ausgenommen sind Zahlen über verstorbene Flüchtlinge auf See oder an Land wegen unterlassener Hilfeleistung. Für die Erfassung dieser Statistiken ist die Öffentlichkeit auf Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch, Amnesty International, Pro-Asyl und andere NGOs angewiesen. Stellvertretend für die mittlerweile zahlreichen Berichte und Dokumentationen über Menschenrechtsverletzungen im Rahmen der EU-Flüchtlings›abwehr‹ möchte ich den Bericht der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Goldsmith University London, den sie 2012 im Auftrag der NGO-Initiative ›Watch the Med‹ verfassten, kurz darstellen. Hintergrund der Veröffentlichung »Left-to-Die Boat« ist ein Vorfall, der sich unmittelbar nach Beginn des libyschen Bürgerkrieges zwischen der libyschen, tunesischen, maltesischen und italienischen Küste abspielte: Report des »Left-to-Die Boat« Am 27. März 2011 geriet ein Boot mit 72 Flüchtlingen, das von Tripolis aus in Richtung Italien gestartet war, in Seenot. 14 Tage lang bekamen die Bootsinsassen keine Hilfeleistung, obwohl zahlreiche Schiffe von FRONTEX, NATO und nationalen Küstenwachen in der Nähe waren. Als das Boot schließlich wieder an der libyschen Küste landete, waren nur noch neun der ursprünglich 72 Insassen am Leben. Detailliert rekonstruieren die Autoren der Studie die Umstände und Verantwortlichkeiten für diesen Vorfall. Aufgrund zahlreicher Satellitenfotos und Zeugenberichten gibt es keinen Zweifel am Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung. Wer die tatsächliche Verantwortung für diesen Tatbestand trägt, bleibt jedoch umstritten, da sich keine der in den Vorfall verwickelten Institutionen, weder die NATO noch FRONTEX oder die nationalen Küstenwachen, zu einem Schuldeingeständnis bereit erklärten. Wie bei derartigen Fällen üblich, fand eine gegenseitige Zuweisung beziehungsweise Ablehnung von Verantwortung für den Tod von 63 Flüchtlingen statt. Wie die Autoren gleich zu Anfang ihrer Studie betonen, ist dieser tragische Vorfall kein Einzelfall. Seine besondere Brisanz erhält er jedoch durch die Tatsache, dass sich keines der zahlreichen, in dieser Region patrouillierenden Schiffe trotz intensivster Beobachtung verantwortlich fühlte, den in Seenot geratenen Bootsinsassen zu helfen (Heller/Pezzani/Studio 2012). Nachdem FRONTEX zunehmend, aufgrund eindeutig unterlassener Hilfeleistung gegenüber in Seenot geratenen Flüchtlingen, durch Menschenrechtsorganisationen, das Europa-Parlament und kritische Medien kritisiert worden war,

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sah sie sich gezwungen, Menschenrechtsorganisationen als Berater in ihre ›Rettungsaktionen‹ mit einzubeziehen. Ein Ergebnis dieser Maßnahme ist die Unterstützung von Drittstaaten bei ihrer Ausbildung von Grenzbeamten auch in Fragen menschenrechtlicher Standards im Umgang mit Transitflüchtlingen. Ob solche Maßnahmen tatsächlich Wirkung zeigen, bleibt bislang mehr als unklar, zumal eines der Grundprobleme von FRONTEX nicht gelöst ist: Als primär auf ›Sicherheit‹ bedachte Agentur ist FRONTEX auf die Zusammenarbeit mit EU-Mitgliedstaaten und Drittländern angewiesen, deren Interessenlage jedoch alles andere als übereinstimmend ist. Beispielhaft für die Unstimmigkeiten ist folgender Sachverhalt: Die kurzfristig durch die Ereignisse des ›Arabischen Frühlings‹ angestiegene Flüchtlingszahl führte zu einer Infragestellung des Schengenraumes bei den Schengenmitgliedern insgesamt. So begann nämlich Italien den Bootsflüchtlingen aus Tunesien und Libyen Touristenvisa auszustellen, mit denen diese dann weiter zu Verwandten, insbesondere nach Frankreich, Belgien und in die Niederlande reisten. Daraufhin gab es ein kurzfristiges Treffen der Innenminister der Schengenstaaten, die ein Abkommen verabschiedeten, demzufolge jedes Schengen-Mitglied seine Mitgliedschaft für maximal zwei Jahre aufkündigen kann. Gemeint ist damit die Wiedereinführung nationaler Grenzkontrollen (ZEIT 2013).

Alternativen zur sicherheitslastigen EU-Migrationspolitik14 Obwohl meine bisherige Argumentation darauf schließen lässt, dass die EU Migrationsmanagement nahezu alternativlos als Sicherheitspolitik betreibt, gab und gibt es dennoch ernstzunehmende Versuche, aus dieser einseitigen und letztendlich kurzsichtigen Sichtweise herauszukommen. Dazu zählt der bereits 1995 begonnene ›Barcelona-Prozess‹. In seiner ursprünglichen Intention sollte dieser in erster Linie den freien Warenverkehr zwischen der EU und den südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeeres erleichtern. Man vertrat die Auffassung, dass ›Co-development‹ die geeignete Strategie sei, Migration aufzuhalten. Durch Exporterleichterungen für Agrarprodukte und Textilien und verstärkte öffentliche und private Investitionen in den Südländern des Mittelmeeres sollte der Migrationsdruck in die EU abgemildert werden. Durch den Anreiz nachhaltiger Investitionen, insbesondere im Bereich der arbeitsintensiven Landwirtschaft und verarbeitenden Industrie, sollten zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden. Auf der anderen Seite setzt sich die Kommission für eine stärkere Anwerbung 14 Für zahlreiche konstruktive Überarbeitungsvorschläge danke ich insbesondere Hartwig Spitzer, Angelika Dörfler und Conni Gunßer.

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von Migrantinnen und Migranten in speziellen Arbeitsbereichen ein. In der »Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zum 10. Jahrestag der Partnerschaft Europa-Mittelmeer« (KOM (2005 (b)) wird Europa als »beliebtestes Ziel von Einwanderern aus dem Mittelmeerraum« bezeichnet. Unter dem Abschnitt ›Justiz, Sicherheit und Freiheit, einschließlich Migration und sozialer Integration‹ wird betont, dass Migration und soziale Integration von Migrantinnen und Migranten ein »besonders sensibles« Thema darstellen: »Fast 5 Millionen Bürger aus den Mittelmeer-Partnerländern haben ihren rechtmäßigen Wohnsitz in der EU. Die meisten stammen aus Marokko, Algerien und der Türkei15. Die demographische Entwicklung in der EU führt allerdings dazu, dass in Zukunft weitere Einwanderer als Arbeitskräfte benötigt werden (COM 2004). Statt sich auf die Verringerung des Migrationsdrucks zu konzentrieren, sollten die Partner sich auf ein strategisch orientiertes Konzept einigen, das sicherstellt, dass den Nutzen der Migration für aller Partner optimiert. Zu einem solchen Konzept gehört auch eine verstärkte Zusammenarbeit bei der Verhinderung der menschlichen Tragödien, die sich im Mittelmeer bei dem Versuch ereignen, illegal in die EU zu gelangen. Es muss daher zu den prioritären Zielen der Partnerschaft gehören, einem weiteren Verlust von Menschenleben vorzubeugen« (KOM 2005 (b):15).

Die dazu propagierte Strategie heißt »Migration und Entwicklung«. Der zuständige deutsche Entwicklungsminister Dirk Niebel bezeichnete dieses, seit 1995 von der Kommission vertretene Konzept, in einem Beitrag in der entwicklungspolitischen Zeitschrift E+Z als »Triple-Win-Strategie«, von der nicht nur Herkunftsländer und Migrantinnen und Migranten profitieren, sondern auch die Empfängerländer (Niebel 2012: 456 f.). Erwünscht sind hochqualifizierte Migrantinnen und Migranten, vor allem aus dem IT-Bereich sowie – möglichst günstige – Arbeitskräfte für den Pflegebereich und saisonale Arbeitskräfte im Landwirtschafts- und Touristikbereich. Eine wichtige Rolle spielt in dieser Strategie die in der EU lebende Diaspora, die einen Großteil ihrer Lohneinkommen in ihre Herkunftsländer zurücksendet. Niebel nennt die eindrucksvolle Summe von 370 Milliarden US-Dollar, die Migranten im Jahre 2011 weltweit an ihre Familien in Entwicklungsländern überwiesen haben sollen – der Betrag wäre nahezu das Dreifache der weltweiten staatlichen Entwicklungshilfe (Niebel 2012: 457). Einige Diasporagemeinden und europäische NGOs unterstützen zahlreiche Kooperationsprojekte16 in ländlichen Regionen ihrer Herkunftsländer, zum Beispiel die Elektrifizierung von Dörfern oder den Bau von Hospitälern und Schulen. 15 In dieser Zahl sind nicht bereits eingebürgerte ehemalige Drittstaatsangehörige eingeschlossen. 16 Besonders erfolgreich sind die Projekte der französisch-marokkanischen NGO »Migration et D¦veloppement«, die zahlreiche Wiedereingliederungsprogramme mit Rückkehrern aus Frankreich im Gebiet des Anti-Atlas durchführen (vergleiche dazu Daoud 2005).

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Schließen möchte ich mit einigen Empfehlungen, die ich in meinem Beitrag zum »Scheitern der EU Mittelmeerpolitik« im Friedensgutachten 2011 gab: »Bei der Unterstützung von Bildungsoffensiven kann man die in der EU lebende Diaspora aus den betroffenen Staaten zu Rate ziehen. Überhaupt geht es vorrangig um eine Stärkung der Brückenfunktion von Migranten und Migrantinnen, und damit einhergehend um die Erleichterung des Transitregimes zwischen beiden Ufern des Mittelmeeres. All diese Maßnahmen lassen sich in demokratisch verfassten Nachbarstaaten wesentlich problemloser und effektiver umsetzen als in autokratischen Regimen, die die Menschenrechte mit Füßen treten. Die EU trägt eine hohe Verantwortung für die demokratische Stabilisierung der Länder Nordafrikas, denn sie ist mitverantwortlich für langjährige menschenunwürdige Praktiken an ihren Außengrenzen« (Borchardt 2011: 75).

Auch für die Zukunft ist mit einer Migration aus Bürgerkriegs- und Armutsregionen in Afrika und dem Mittleren Osten in die EU zu rechnen. Starkes Gefälle in der sozialen und menschlichen Sicherheit erzeugt einen unvermeidlichen Migrationsdruck. Die EU ist dieser Entwicklung gegenüber in einer Zwickmühle. Sie gräbt an ihrer eigenen Menschenrechtsbasis und Glaubwürdigkeit, wenn sie dauerhaft Doppelstandards der Bewegungsfreiheit nach innen und nach außen anwendet. Kurzfristig sollten die EU–Staaten, die nicht an den EU–Außengrenzen liegen, einen größeren Beitrag leisten: durch Aufhebung der Dublin–II–Regelung, durch finanzielle Unterstützung der Länder an den Außengrenzen wie Griechenland, Spanien und Italien sowie durch eine gerechtere Aufteilung bei der Bearbeitung von Asylverfahren und der Aufnahme von irregulären Migrantinnen und Migranten. Fragen zum Weiterdenken Deutschland musste in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts zwei große Migrationsbewegungen bewältigen: Zum einen die Aufnahme und Integration von Millionen von Vertriebenen und Flüchtlingen aus den verlorenen ehemaligen deutschen Ostgebieten, zum anderen die Migration von sogenannten Gastarbeiten seit den 1960er Jahren. Welche Probleme traten auf und wie wurden sie bearbeitet? Wie ist das Ergebnis zu bewerten? Fragen Sie hierzu Ihre Großeltern! Was sind Voraussetzungen für gelingende Integration von Migrantinnen und Migranten? Wie würden Sie den Arbeitsauftrag von FRONTEX modifizieren?

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Leseempfehlung FRA: Fundamental rights at Europe’s southern borders. Luxemburg 2013. Verfügbar unter : http://fra.europa.eu/sites/default/files/fundamental-rights-europes-southernsea-borders_en.pdf [24. 06. 2013]. Kasparek, Bernd / Hess, Sabine (Hg.): Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa. Berlin 2012. Sassen, Saskia: Migranten, Siedler, Flüchtlinge. Von der Massenauswanderung zur Festung Europa. Frankfurt am Main 2000 [3. Aufl.]. Um jeweils auf dem aktuellen Stand zu Migrations– und Flüchtlingsfragen zu bleiben, empfehle ich folgende Webseiten: FRONTEX: www.frontex.europa.eu Migration und Bevölkerung: www.migration-info.de Pro–Asyl: www.proasyl.de

Literatur Auswärtiges Amt: Schengener Übereinkommen (Stand: 29. 05. 2012). Verfügbar unter http://www.auswaertiges-amt.de/DE/EinreiseUndAufenthalt/Schengen_node.html [18. 06. 2013]. Bade, Klaus J.: Europa in Bewegung. München 2000. Bigo, Didier / Tsoukala, Anastassia (Hg.): Terror, Insecurity and Liberty. Illiberal practices of liberal regimes after 9/11. London/New York 2008. Bigo, Didier : »Migration and security«, in: Guiraudon, V. / Joppke, C. (Hg.): Controlling a New Migration World. London/New York 2001, S. 121 – 149. BMI: Effektiver Schutz für Flüchtlinge, wirkungsvolle Bekämpfung illegaler Migration — Überlegungen des Bundesministers des Innern zur Errichtung einer EU-Aufnahmeeinrichtung in Nordafrika, 2005. Verfügbar unter http://www.proasyl.de/texte/mappe/ 2005/104/8.pdf [18. 06. 2013]. Borchardt, Ulrike: »Das Scheitern der EU-Mittelmeerpolitik«, in: Friedensgutachten 2011, S. 61 – 75. Borchardt, Ulrike: »Migrations- und Flüchtlingspolitik der EU im Spannungsfeld von Sicherheit, ökonomischer Notwendigkeit und Menschenrechten«, in: Luedtke, R.-M. / Strutynski, P. (Hg.): Von der Verteidigung zur Intervention. Kassel 2007, S. 24 – 39. Borchardt, Ulrike: Das Migrationsproblem im westlichen Mittelmeerraum. Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung, Universität Hamburg, Arbeitspapier Nr. 80/ 1994, nachgedruckt in: Herrenalber Protokolle 111 (1996), S. 57 – 88. Commission of the European Communities (COM 2004): Green Paper on an EU Approach to Managing Economic Migration (COM (2004) 811 final). Cremer, Hendrik: »Racial Profiling« – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1a Bundespolizeigesetz, 2013. Verfügbar unter : http://www.institut-fuermenschenrechte.de/uploads/tx_commerce/Studie_Racial_Profiling.pdf [27. 06. 2013]. Daoud, Zakya: Marocains de l’autre rive. Paris 2005.

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Ulrike Borchardt

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Sabine Kurtenbach

Gewaltsame Lebenswelten: Jugendliche und Gewalt in Entwicklungsländern1

Jugendliche werden mit ihren Vorstellungen, Ambitionen und Problemen vielfach erst dann wahrgenommen, wenn ihr Verhalten auffällig wird, wenn sie einzeln oder in Gruppen in der Öffentlichkeit laut, unhöflich oder gar gewaltsam auftreten. Die Rede von der Jugend ›außer Rand und Band‹ zieht sich durch die deutsche und europäische Geschichte. Diese Debatte ist auch in vielen Entwicklungs- und Transformationsgesellschaften virulent. Dies ist bedeutsam, weil wir in einer Zeit leben, in der 12- bis 24-jährige Menschen etwa ein Viertel der Weltbevölkerung stellen (World Bank 2006), wovon ein Großteil in den Ländern des globalen Südens lebt. Die quantitative Dimension ist enorm, unabhängig davon, wie man die sehr heterogene Gruppe der Jugendlichen gegenüber Kindern und Erwachsenen abgrenzt2. Die Debatte über die spezifische Rolle Jugendlicher bezüglich alltäglicher Gewalt und gewaltsamer Konflikte wird durch eine Skandalisierung in den Medien und in der Politik geprägt. Als Mitglieder von Banden, Gangs oder bewaffneten Gruppen werden Jugendliche hier überwiegend als Täter wahrgenommen. Junge Männer gelten, vor allem wenn sie aus ethnischen oder religiösen Minderheiten stammen, als Bedrohung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung und werden zu einem neuen Feindbild. Die Diskussion um Kinder im bewaffneten Konflikt oder Kindersoldaten sieht junge Menschen

1 Der Beitrag erschien ursprünglich unter dem Titel »Jugendliche und Gewalt« in: Kurtenbach, Sabine / Blumör, Rüdiger / Huhn, Sebastian (Hg.): Jugendliche in gewaltsamen Lebenswelten. Wege aus den Kreisläufen der Gewalt. (Eine Welt Band 24) Baden-Baden 2010, S. 21 – 35. Wir danken dem Verlag für die Abdruckerlaubnis. 2 Es existiert keine allgemein verbindliche Definition von Jugend. Der Weltjugendbericht der Vereinten Nationen (UN-DESA 2007) bezieht die Altersgruppe zwischen 15 und 24 Jahren ein, die Weltgesundheitsorganisation die Gruppe der 15 bis 29 Jahre alten Menschen (WHO 2002). Das internationale Völkerrecht dagegen kennt keine eigenständige Kategorie der Jugendlichen; dort fallen junge Menschen bis zur Erreichung des 18. Lebensjahrs unter die Kinderrechts- und Kinderschutzkonvention, danach gelten sie als Erwachsene.

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Sabine Kurtenbach

dagegen – selbst bei direkter Beteiligung an der Gewalt – überwiegend als Opfer, sei es anderer Akteure, sei es der direkten oder der strukturellen Gewalt3. Die Bezeichnung von jungen Gewalttätern als Kind oder Jugendlicher ist damit immer auch ein Indiz für die Perspektivwahl des Betrachters und seine Einschätzung der Beteiligten als Täter oder Opfer (McEvoy-Levy 2006: 4). Gleichzeitig werden die Problemlagen und Handlungsoptionen von Jugendlichen überwiegend punktuell betrachtet beziehungsweise erst dann, wenn ihr Verhalten von der Umwelt als Problem wahrgenommen wird. Viele Einzelfallstudien zeigen, dass Jugendliche über ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit an und Widerstandskraft gegenüber Veränderungen ihres persönlichen Umfelds verfügen und nur ein geringer Prozentsatz von Jugendlichen gewalttätig wird. Vor diesem Hintergrund stehen Forschung und Praxis vor der Herausforderung, über Einzelfälle hinaus diejenigen Faktoren zu identifizieren, die das Gewaltverhalten und/oder die Widerstandskraft von jungen Menschen beeinflussen. Um dieser Frage nachzugehen, ist es notwendig danach zu fragen, in welchen Lebenswelten junge Menschen Gewalt erfahren und Gewalt ausüben. Dazu werden im Folgenden zunächst unterschiedliche Dimensionen und Formen der Gewalt dargestellt, mit denen Jugendliche in Entwicklungsländern tagtäglich konfrontiert sind. Risikofaktoren für Jugendgewalt stehen dann im Mittelpunkt des zweiten Abschnitts. Hier zeigt sich ein hohes Maß an Gemeinsamkeiten zwischen unterschiedlichen Formen der Gewalt, auch wenn diese sich in ihrer Organisation und Zielsetzung unterscheidet. Bisher sind jedoch die Folgen des Aufwachsens in und mit Gewalt überwiegend auf der individuellen Ebene und hier vor allem mit Blick auf die körperliche und psychische Gesundheit betrachtet worden (zum Beispiel Machel 1996, 2001). Im letzten Teil des Aufsatzes wird dagegen nach den Auswirkungen gewaltsamer Lebenswelten auf zentrale Statuspassagen ins Erwachsenenleben gefragt. Denn gerade hier können sowohl Ursachen für Pfade zwischen gewaltsamen Lebenswelten, als auch Möglichkeiten des Auswegs gefunden werden.

Dimensionen und Formen der Gewalt Jugendliche sind in vielfältiger Weise von Gewalt betroffen und/oder an ihr beteiligt. Dies gilt sowohl für Formen struktureller Gewalt als auch für direkte 3 Siehe Peter Imbusch 2010; als Gefahr werden Jugendliche in der Debatte um die sogenannte Jugendblase wahrgenommen (z. B. Heinsohn 2003, Mainwaring 2005, 2007). Zu Kindern als Opfer siehe die Berichte der Sonderbeauftragten des UN Generalsekretärs zu Kindern im bewaffneten Konflikt GraÅa Machel (1996, 2001) sowie die laufende Berichterstattung der hier tätigen Nichtregierungsorganisationen wie der »Watchlist on Children in Armed Conflict« (www.watchlist.org).

Gewaltsame Lebenswelten

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physische Gewalt. Deren Spektrum reicht von häuslicher und innerfamiliärer Gewalt über Gewalt innerhalb von Peer-Gruppen bis hin zu organisierter kollektiver Gewalt im Krieg4. Auch wenn die Datenlage prekär ist, gibt es zumindest einige Indikatoren, die die Dimension der Problemlagen aufzeigen. Jugendliche besonderes von Armut betroffen Armut und Ungleichheit sind zentrale Faktoren struktureller Gewalt, die den Lebensalltag der meisten jungen Menschen in Entwicklungsländern bestimmen. Dies geht einher mit dem Aufwachsen in Haushalten in extremer Armut, dem nur rudimentären Zugang zu Bildung sowie fehlenden Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt (Blumör 2008). Gleichzeitig sind Jugendliche von krisenhaften Entwicklungen wie der Weltwirtschaftskrise 2008 in besonders hohem Maß betroffen. Der Globale Beschäftigungsbericht der ILO (2009: 11 – 13) schätzt, dass infolge der Krise weltweit zwischen 4,9 und 17,7 Millionen Jugendliche arbeitslos werden und die Arbeitslosenquote für Jugendliche damit von 12,1 Prozent auf 13 Prozent oder 15,1 Prozent steigt. Die Prognose für Erwachsene ist mit 0,5 Prozent bis 1,2 Prozent Anstieg wesentlich günstiger. Am schlechtesten sind die Aussichten für Jugendliche in Lateinamerika und Zentral- und Südosteuropa, das heißt in Ländern mit mittlerem Pro-Kopf Einkommen. Mit einer Quote von 24,1 Prozent ist die Jugendarbeitslosigkeit in Nordafrika am höchsten.

Jenseits struktureller Gewalt sind Jugendliche auch von direkter physischer Gewalt weit mehr betroffen als andere Bevölkerungsgruppen. Der Bericht des UN-Generalsekretärs (UN 2008: 4) zur Implementierung des Weltaktionsplans für Jugendliche weist darauf hin, dass Mord, Krieg und interpersonale Gewalt bei Jugendlichen weltweit zu den häufigsten Todesursachen gehören. Vor allem junge Männer im Alter zwischen 15 und 29 Jahren sind hier – außer in Asien – in weit höherem Maß Opfer der Gewalt (siehe Tabelle 1). Auch wenn Homizidraten schwer zu vergleichen sind, weil sie von den jeweiligen Regierungen unterschiedlich erhoben und unter Umständen auch manipuliert werden, geben sie doch erste Hinweise auf die quantitative Dimension des Problems sowie auf Unterschiede zwischen den Weltregionen5. Während die Gewalt in Lateinamerika vor allem der Alltagskriminalität und dem 4 Siehe hierzu Legge (2008), Dauite u. a. (2006), UN–DESA (2007, 2005), WHO (2002). 5 Auch in den Regionen und innerhalb einzelner Länder unterscheidet sich das Gewaltniveau signifikant. So lassen sich beispielsweise in Guatemala gravierende Unterschiede zwischen einzelnen Departementen, indigener und mestizischer Bevölkerung, Städten und Land sowie Männern und Frauen feststellen (Kurtenbach 2008: 24 – 25).

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Sabine Kurtenbach

organisierten Verbrechen zugeschrieben wird, sind die Homizidraten in Afrika in hohem Maße vom Kriegsgeschehen beeinflusst. Tabelle 1: Homizidraten in unterschiedlichen Weltregionen (gewaltsame Tode je 100.000 Einwohner)

Afrika Asien Europa Lateinamerika & Karibik

Homizidrate in Gesamtbevölkerung1

Unter männlichen Jugendlichen (15 – 17) 1

Unter jungen Männern (15 – 29)2

22,2 5,8

15,64 3,93

34,1 6,0

8,4

5,72

15,1

27,5

37,66

89,7

6,37

21,4

Nordamerika 6,5 Quellen: 1WHO (2006); 2 WHO (2002)

Auch die Beteiligung von Jugendlichen an Kriegen und bewaffneten Konflikten lässt sich schwer quantifizieren, weil es keine verlässlichen Daten gibt. Nach einer Schätzung von UNICEF sind derzeit weltweit circa 300.000 Kinder an bewaffneten Konflikten beteiligt6. Diese Zahl kursiert seit den 1990er Jahren weitgehend unverändert in der internationalen Debatte; nachprüfen lässt sie sich nicht. Sie diente aber erfolgreich der Alarmierung der Weltöffentlichkeit7. Die vorherrschende Fokussierung auf Kinder blendet aber zwei wichtige Aspekte aus beziehungsweise nimmt sie erst allmählich auf: Erstens, das Problem der ›Kindersoldaten‹ ist keineswegs neu und hängt nicht in erster Linie mit veränderten Formen der Kriegsführung in der letzten Dekade zusammen wie dies in internationalen Berichten immer wieder betont wird. Im Gegenteil – junge Menschen waren immer und zu jeder Zeit an Krieg und Gewalt beteiligt. Dies gilt für die europäische Geschichte ebenso wie für den US-amerikanischen Bürgerkrieg oder zwischenstaatliche Kriege in Ländern des Südens wie den Krieg zwischen Iran und Irak. Zweitens ist die relativ willkürliche Abgrenzung zwischen Kindern und Erwachsenen mit der Erreichung des 18. Lebensjahrs bei der Debatte um ›Kindersoldaten‹ noch unsinniger als in anderen Kontexten. Kinder in der ersten Lebensdekade stehen den vielfältigen Auswirkungen von 6 Verfügbar unter : www.unicef.org/emerg/files/childsoldiers.pdf [14. 06. 2013]. 7 Bilder von kämpfenden Kindern mit Gewehren und Macheten taten das ihre, um das Problem in die Wohnzimmer der Welt zu transportieren. Die hierauf folgende Debatte hat eines bewirkt: Das internationale System, vor allem die Vereinten Nationen, haben das Problem der Auswirkungen von Krieg und Gewalt auf junge Menschen zur Kenntnis genommen und 119 Staaten haben sich mit der Unterzeichnung des Zusatzprotokolls zur Kinderrechtskonvention über ›Kinder in bewaffneten Konflikten‹ verpflichtet, keine Minderjährigen zu rekrutieren. Allerdings ist die Mehrheit der ›Kindersoldaten‹ ganz offensichtlich in nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen aktiv, die von völkerrechtlichen Vereinbarungen nicht erfasst werden.

Gewaltsame Lebenswelten

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Krieg und Gewalt besonders schutzlos gegenüber – das ist unbestritten. Direkt beteiligt an den Kampfhandlungen sind aber überwiegend junge Menschen in der zweiten und dritten Lebensdekade. Warum hier der 18. Geburtstag einen Einschnitt darstellen soll, ist nicht nachvollziehbar. Zur Beteiligung an Gewalt von Jugendlichen jenseits von organisierten kollektiven Gewaltkonflikten existieren für Entwicklungsländer nur wenig quantitative Daten. Die in diesen Kontexten ausgeübte Gewalt wird als ›kriminelles‹ oder ›abweichendes‹ Verhalten wahrgenommen und bekämpft. Diese Phänomene werden überwiegend unter der Perspektive der Disziplinen Kriminologie, Pädagogik, Psychologie und Jugendstrafrecht diskutiert. Nur wenn es sich um scheinbar oder real grenzüberschreitende Organisationen handelt – wie dies in Zentralamerika immer wieder behauptet wird – erreicht das Thema die internationale Politik. Obwohl sich die Gewalt, mit der Jugendliche konfrontiert sind, im Grad ihrer Organisation, der Zielsetzung und Dauer stark unterscheidet, zeigt ein Vergleich der Risikofaktoren, die zu Gewaltverhalten Jugendlicher beitragen, eine Reihe von Gemeinsamkeiten.

Risikofaktoren und gewaltsame Lebenswelten Jugendgewalt und sozialer Wandel So wie Jugend ein von historischen und kulturellen Entwicklungsmustern geprägtes Konstrukt ist, wird auch Jugendgewalt eng mit den Prozessen des sozialen Wandels, vor allem mit der Verstädterung, in Verbindung gebracht. Jugendgewalt ist aber auch hier kein neues Phänomen, sondern hat vor allem einen anderen gesellschaftlichen Stellenwert und Bezug. Denn in überwiegend traditional strukturierten und stark integrierten Gesellschaften gibt es Möglichkeiten mit dieser Gewalt tolerant umzugehen. Sie wird entweder in ritualisierten Formen geduldet oder hat einen fest umgrenzten Platz auf Festen, in Initiationsriten oder als Statuspassage8. Diese Gewalt leistet dann durchaus einen Beitrag zur Integration von Jugendlichen, im Kontext der Anonymisierung und Verstädterung wird sie dagegen meist als Kontroll- und Ordnungsverlust über die Jugendlichen bewertet.

8 Dies gilt für die europäische Geschichte (zum Beispiel die schlagenden Verbindungen in Deutschland oder englische Colleges) ebenso wie für außereuropäische Gesellschaften. Siehe hierzu Dubet (1997: 221 – 223, 2003: 941 – 943) sowie Kilb (2009: 12 – 18).

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Die Analyse derjenigen Risikofaktoren, die Jugendliche jenseits von Ritualen zur Gewalt greifen lassen, unterscheidet drei Ebenen (Imbusch 2010a, Heitmeyer/ Legge 2008, WHO 2002: 29 – 38): die strukturelle Ebene allgemeiner Rahmenbedingungen und Entwicklungsmuster, den spezifischen Kontext von Staat, Gesellschaft und kollektiven Organisationen sowie Risiken in der Erfahrungswelt und Persönlichkeitsstruktur des einzelnen Individuums. Im Bereich von Strukturen und Entwicklungsmustern gelten vor allem die Auswirkungen rapiden sozialen Wandels als Risiko, weil sie sich negativ auf den Vollzug zentraler Statuspassagen sowie die Zukunftsmöglichkeiten von Jugendlichen auswirken können. Prozesse des demographischen Wandels, Urbanisierung und Migration werden hier diskutiert. Hier besteht ein direkter Zusammenhang zu Formen struktureller Gewalt. Veränderungen der demographischen Zusammensetzung von Entwicklungsgesellschaften werden vor allem in Hinblick auf die Entstehung sogenannter ›Jugendblasen‹ für eine Zunahme der Gewalt verantwortlich gemacht. Ein Anteil der Alterskohorte von 15- bis 24Jährigen von mindestens 20 Prozent der Bevölkerung gilt als Gewalt fördernd, weil – so die Annahme – ein Überschuss an jungen Männern ohne Zukunftsperspektive entstehe. Diskutiert wird diese These im Kontext der sogenannten ›neuen‹ Kriege in Afrika, islamistischer Gewalt, Terrorismus, Jugendbanden und organisierter Kriminalität. Statistische Untersuchungen zeigen aber, dass dieser Zusammenhang, wenn überhaupt, alleine nicht signifikant ist (Urdal 2006; Wagschal/Schwank/Metz 2007). Urbanisierung und Migration sind zwei Phänomene sozialen Wandels, die wichtige Auswirkungen für Jugendliche haben. 2008 lebte erstmals die Hälfte aller Menschen in Städten (UNFPA 2007). Der Weltbevölkerungsbericht 2006 (UNFPA 2006: vi) schätzt, dass ein Drittel der 191 Millionen Migranten, die 2005 ihr Heimatland verließen, zwischen 15 und 30 Jahren alt war. Die Zahl der internen Migranten ist sicher noch wesentlich höher, obwohl es hierfür keinen Zensus gibt. Land-Stadt-Migration kann die Zukunftsoptionen gerade für Jugendliche stark verbessern, wenn sie auf diesem Weg unsicheren Lebensbedingungen, Gewalt oder mangelndem Zugang zu sozialer Infrastruktur oder Bildung entkommen. Der aktuelle Bericht des UN-Entwicklungsprogramms stellt fest, dass Migranten selbst in Gesellschaften mit bewaffneten Auseinandersetzungen ihr Niveau menschlicher Entwicklung um bis zu 23 Prozent verbessern können (UNDP 2009: 67). Der zweite Risikofaktor wird von den Kapazitäten und dem politischen Willen geprägt, mit denen Staat, Gesellschaft und deren Akteure den Herausforderungen des sozialen Wandels und den spezifischen Bedürfnissen von Jugendlichen begegnen. Zentrale Fragen sind hierbei, ob Mechanismen der Integration existieren sowie ob und wie diese gegenüber marginalisierten Jugendlichen funktionieren. Formen der Integration und Kontrolle werden dabei ge-

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prägt von den existierenden Ordnungen im Bereich von Politik, Wirtschaft und Norm- und Wertesystemen (Kurtenbach 2008a). Demokratische Regime akzeptieren – zumindest theoretisch – die Gleichheit aller Bürger und müssen deshalb ein Mindestmaß an Zugang zu Bildung, Jobs und sozialen Dienstleistungen zur Verfügung stellen. Bei der Sanktionierung und Kontrolle der Gewalt sind sie an rechtsstaatliche Mindeststandards gebunden. In autoritären Regimen kann der Zugang zu sozialen Basisdienstleistungen dagegen an die Mitgliedschaft in bestimmten sozialen, politischen, religiösen oder ethnischen Gruppen oder Klientelnetzwerken gebunden sein. Sanktionierung und Kontrolle der Gewalt erfolgen hier vielfach auch durch selektive oder gar verallgemeinerte Repression. Die Wirtschaftsordnung gestaltet die Perspektiven Jugendlicher durch ökonomische Konjunkturen und Notwendigkeiten. Der Bedarf an billigen oder qualifizierten Arbeitskräften wirkt sich beispielsweise auf die Bildungssysteme aus, während Rentenökonomien weitgehend unabhängig von solchen Überlegungen funktionieren. Und schließlich spielt die symbolische Ordnung gerade im Zusammenhang mit Gewalt eine große Rolle, weil vorherrschende Normen und Werte die Anwendung von Gewalt sowohl legitimieren als auch delegitimieren können. Dies wirkt sich maßgeblich auf den generellen Umgang mit Gewalttätern und damit auch mit gewalttätigen Jugendlichen aus. Auf der Ebene individueller Risikofaktoren spielen persönliche Erfahrungen mit Gewalt eine große Rolle. Dies kann in unterschiedlichen Zusammenhängen – zu Hause, in der Schule oder in der Gruppe von Gleichaltrigen – geschehen. Es gibt viele Hinweise darauf, dass Opfer von Gewalt selbst gewalttätig werden. Andere Risikofaktoren auf der individuellen Ebene liegen in der Zerstörung primärer sozialer Netzwerke, dem Mangel an Anerkennung und fehlenden Perspektiven für die eigene Zukunft. Daneben werden immer wieder auch situative Faktoren wie der Einfluss von Alkohol und anderen Drogen genannt (vergleiche WHO 2002: 29 – 38). Aber selbst dort, wo alle diese Risiken zusammentreffen, greift nur ein geringer Teil der Jugendlichen zu Gewalt. Andere intervenierende Akteure und Faktoren im unmittelbaren Umfeld spielen bei diesem Schritt offensichtlich eine zentrale Rolle. Untersuchungen zur Motivation jugendlicher Kombattanten in sehr unterschiedlich strukturierten bewaffneten Konflikten kommen zu sehr ähnlichen Ergebnissen9 :

9 Zur Diskussion um die Einbeziehung von Kindern und Jugendliche in bewaffnete Konflikte und Gruppen siehe Brett/Specht (2004), Boyden/de Berry (2004), Abbink (2005), Dowdney (2005), zur Gangforschung Kersten (2002) sowie Hagedorn (2006, 2008).

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Abbildung 1: Einfluss der Peer–Group Straßenkinder in Sao Paolo/Brasilien. Quelle: UN / Claudio Edinger (1986).

– Ein Bruder, eine Schwester oder ein Freund in einer bewaffneten Gruppe üben eine große Sogwirkung aus; – die Zugehörigkeit zu sozialen Organisationen oder Netzwerken kann die Widerstandskraft gegenüber der Gewalt stärken oder verringern, – Schulen und Arbeitsmarkt spielen eine zentrale Rolle nicht nur bei der Integration, sondern auch bei der Sozialisation in die gesellschaftlich vorherrschenden Werte und Normen. Die folgende Tabelle (2) fasst die Risikofaktoren auf dem Weg in die Gewalt zusammen. Tabelle 2: Risikofaktoren auf dem Weg in die Gewalt Ebenen Risikofaktoren

Individuum Gesellschaft Politisches Regime, Persönliche GeWirtschaftsordnung, walterfahrung, Zerstörung primä- symbolische Ordnung rer sozialer Netzwerke, mangelnde Anerkennung und Perspektiven

Struktur Rapider sozialer Wandel, Verstädterung, demographischer Wandel, Armut

Kapazitäten zur Inte- Formen sozialer Familie, Schule, Peergruppe, Drogration und Kontrolle Kohäsion und Legenkonsum gitimität Organisationsformen Banden und Gangs, bewaffnete Gruppen (staatlich, nichtstaatlich, privat) mit unterschiedlicher Zielsetzung Intervenierende Akteure und Faktoren

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Auf der Basis der hier nur kursorisch dargestellten Risikofaktoren lassen sich dann zunächst zwei – sich allerdings teilweise überlappende – Kontexte für Jugendliche unterscheiden, die als gewaltsame Lebenswelten konstruiert werden können: die Slums der Großstädte und unterschiedliche Formen von bewaffneten Konflikten, vom klassischen Guerillakrieg bis zu Formen des bewaffneten Kampfes mit politischer, wirtschaftlicher oder anderer Zielsetzung. Eine dritte Lebenswelt, in der Jugendliche ähnlichen Risikofaktoren ausgesetzt sind, die das Leben in den marginalisierten Slums und im bewaffneten Konflikt prägen und den Weg in die Gewalt erleichtern können, sind Lager von Flüchtlingen oder intern Vertriebenen. Organisierte Gewaltkonflikte stellen auch jenseits von bewaffneten Gruppen eine gewaltsame Lebenswelt für Jugendliche dar, weil nicht nur junge Kombattanten hier vor sehr spezifischen Herausforderungen stehen, sondern auch Flüchtlinge und Vertriebene; eine Gruppe, in der Kinder und Jugendliche einen überproportional hohen Anteil stellen. Etwa 50 Prozent der Flüchtlinge sind Kinder, das sind derzeit 15 Millionen Menschen, die unter das Mandat des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge fallen (UNHCR 2006: 10). Nimmt man die nicht erfassten Vertriebenen und Flüchtlinge hinzu, so dürfte die Zahl weit größer sein. Lager und Flüchtlinge sind aber bei weitem nicht die Schutzräume, die sie eigentlich sein sollten. Die Organisationsformen und die Gewalttätigkeit von Jugendlichen in diesen Lebenswelten variieren entlang der Permanenz und Legitimation der Gewalt. Straßencliquen, Banden und Gangs im urbanen Umfeld sind nicht zwangsläufig gewalttätig, auch wenn viele Gang-Definitionen kriminelles Verhalten als konstitutives Element beinhalten10. Diese Gruppen verfügen zwar über eine gewisse Stabilität und Permanenz, die meisten Jugendlichen wachsen allerdings aus ihnen heraus, sobald sie zentrale Statuspassagen ins Erwachsenenleben vollzogen haben – z. B. die ökonomische Unabhängigkeit oder die Gründung einer eigenen Familie. Quasi am anderen Ende des Spektrums lassen sich bewaffnete Gruppen mit staatlicher, para-staatlicher oder nicht-staatlicher Anbindung in urbanen und/oder ländlichen Gegenden verorten. Hier handelt es sich meist nicht ausschließlich um Jugendliche, sondern vielfach um Gruppen mit gemischter Altersstruktur, auch wenn Jugendliche vielfach einen Großteil der Mitglieder – seltener der Führungskader – stellen. Der Zusammenhalt dieser Gruppen beruht denn auch nicht auf der Zugehörigkeit zu einer Alterskohorte, sondern auf einem gemeinsamen vielfach politisch oder ökonomisch begründeten Projekt, für das Gewalt angewandt wird. Schon deshalb ist hier keine Rede von ›Jugend‹-Gewalt. 10 Zum Problem der Definition und Abgrenzung zwischen Gangs und anderen Jugendgruppen siehe Klein /Maxson (2006: 4 f.) sowie Covey (2003: 16 ff.); zur Kritik Kersten (2002) sowie Hagedorn (2008: xxiv ff.).

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Die Herausforderung besteht nun darin zu verstehen, wie diese Lebenswelten das Aufwachsen der Jugendlichen, ihre Statuspassagen ins Erwachsenenleben sowie ihre Zukunftsperspektiven beeinflussen.

Was passiert in gewaltsamen Lebenswelten? Das Aufwachsen in einem Umfeld potenzieller oder realer Gewalt hat für Jugendliche eine Reihe von negativen Auswirkungen, bietet ihnen – und das wird in der Debatte vielfach vergessen – aber gleichzeitig auch Chancen. Krieg und Gewalt zerstören die für Kinder und auch Jugendliche wichtigen primären sozialen Netzwerke und Infrastruktureinrichtungen (im Gesundheitswesen ebenso wie im Bildungssystem). Diese Erfahrungen prägen die Jugendlichen vielfach ihr Leben lang, beeinflussen Einstellungen, Normen und Werte, werden narrativ an die folgenden Generationen weitergegeben und leben fort. Dies zeigt sich in vielen auf der Basis von zwischenstaatlichen oder innerstaatlichen Kriegen geformten Stereotypen ebenso wie in der Erinnerung an symbolische Orte oder Gegebenheiten. Krieg und Gewalt können aber auch eine Möglichkeit der sozialen Mobilität sein oder den Vollzug von anderenfalls blockierten Statuspassagen ermöglichen (Hart 2008; Brett/Specht 2004). Aus diesem Grund ist es wichtig, die Interaktion zwischen direkter Gewalterfahrung und dem Aufwachsen in den drei Lebenswelten zu analysieren. Im Folgenden geschieht dies mit Blick auf zentrale Statuspassagen, Identität und Formen der sozialen Organisation.

Statuspassagen Der Weltentwicklungsbericht 2007 (World Bank 2006) unterscheidet fünf Statuspassagen auf dem Weg ins Erwachsenenleben: Lernen für das Leben und die Arbeit, die Aufnahme von Arbeit, das gesunde Aufwachsen, eine Familie gründen und Bürgerrechte erhalten. All diese Statuspassagen werden durch das Aufwachsen in gewaltsamen Lebenswelten beeinflusst. Verletzungen und Verstümmelungen können in diesen Lebenswelten zu den Alltagserfahrungen von Kindern und Jugendlichen gehören. Dies kann direkt oder indirekt durch Gewalt verursacht sein. So können Jugendliche in den Slums der Großstädte beispielsweise Ziel direkter körperlicher Angriffe von Gleichaltrigen, der Polizei oder bewaffneter Gruppen sein. Sie können aber auch verletzt werden, weil es keine oder nur unzureichend funktionierende Institutionen zu ihrem Schutz gibt. Auch der Mangel an einem Mindestmaß an Infrastruktur im Gesundheitswesen kann zu lang nachwirkenden Gesundheitsschäden führen. Dies gilt

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unabhängig davon, ob Jugendliche Opfer oder Täter der Gewalt sind. Mädchen und junge Frauen sind in diesen Kontexten einem erhöhten Risiko von sexueller Gewalt ausgesetzt. Formale Bildung ist heute ein zentraler Mechanismus für die Inklusion oder Exklusion von Jugendlichen in den formalen Arbeitsmarkt. In den Slums der Großstädte fehlen Schulen und Lehrer meist ebenso, wie der politische Wille in die Ausbildung marginalisierter Jugendlicher zu investieren. Diese Probleme hängen eng mit der Frage der ökonomischen Unabhängigkeit zusammen. Viele Jugendliche in den Slums fungieren in zerstörten Rumpffamilien als Haushaltsvorstände und arbeiten, um ihre Familien zu unterstützen. Aufgrund fehlender Bildung und geringen Erwerbsmöglichkeiten liegen ihre einzigen Möglichkeiten meist im informellen Sektor. Dort sind sie nur selten in der Lage genug zu verdienen, um einen eigenen Hausstand zu gründen. Stattdessen unterstützen sie die bestehenden sozialen Primärnetzwerke und werden von ihnen unterstützt. Die Gründung einer eigenen Familie – als Entscheidung, nicht aufgrund einer ungeplanten Schwangerschaft – ist unter diesen Rahmenbedingungen extrem schwierig11. Die Problemlagen für Jugendliche in Flüchtlings- und Vertriebenenlagern unterscheiden sich in diesen Bereichen, sind aber ebenso ernst. Humanitäre Hilfe und Nothilfe ermöglichen dort zumindest ein Minimum an Zugang zu Gesundheit und Bildung, deren Qualität aber von Fall zu Fall stark variiert. Wirtschaftliche Unabhängigkeit ist dagegen meist erst möglich, wenn die Lager verlassen werden. Die Situation für weibliche Flüchtlinge kann sich hier anders darstellen, wenn verbreitete Unsicherheit etwa zu einer frühen Heirat führt, die vermeintlichen Schutz vor sexuellen Übergriffen bieten soll. Ein zentraler Punkt in Flüchtlings- und Vertriebenensituationen ist die Dauer des Lagerlebens. Studien zu palästinensischen Jugendlichen zeigen eindrucksvoll, was es bedeutet in diesem Kontext geboren zu sein, aufzuwachsen und keinen realen Ausweg zu haben (Horst 2006; Chattny 2007; Hart 2008). Mitglied einer bewaffneten Gruppe zu sein, gefährdet die Gesundheit, weil Jugendliche dort unterschiedliche riskante Aufgaben übernehmen – als Boten, Spione oder auch als ›Kanonenfutter‹ an vorderster Front (Dowdney 2005; Brett/ Specht 2004). Ausbildung bedeutet hier vor allem, den Umgang mit der Waffe zu lernen. Paul Richards (2008) hat im Kontext der Kriege Westafrikas davon gesprochen, dass Jugendliche Gewalt lernen, ein Prozess, der sich in vielen Teilen der Welt wiederholt, weil er eine zentrale Voraussetzung für das tägliche 11 Saskia Sassen (2007) zeigt, dass neue Arbeitsregime besonders junge Menschen dauerhaft marginalisieren, weil es für Ungelernte kaum noch gering bezahlte Jobs im formalen Arbeitsmarkt gibt, die bisher der Beginn sozialer Mobilität nach oben waren. Dies führe dazu, dass junge Menschen ihre Identität jenseits der Arbeitswelt suchen und entwickeln.

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Überleben im Kontext der Gewalt ist. Andererseits kann Gewaltanwendung für Jugendliche eine Chance auf ökonomische Unabhängigkeit und sozialen Aufstieg bedeuten, und zwar unabhängig davon, ob diese politisch oder ökonomisch motiviert ist.

Identität und soziale Organisation Die Entstehung von Identitätsmustern ist eng mit Bildung und Sozialisierung und bestehenden Formen der sozialen Kohäsion verbunden. Jugendliche entwickeln nicht nur Geschlechterrollen, die Identitätsbildung führt auch in anderen Bereichen zur Übernahme (oder Ablehnung) von Normen und Werte aus dem Bereich des Privaten in die Gesellschaft hinein. Dies prägt die Einstellungen meist ein Leben lang (Watermann 2005). Jugendliche verfügen aber auch über eine Vielfalt an Identitäten, die durch das Heranwachsen im gewaltvollen Kontext und in der vorherrschenden permanenten Unsicherheit beeinflusst werden. Identitäten spielen dann bei der Mobilisierung und Rekrutierung in die Gewalt nicht nur bei Jugendlichen eine große Rolle. Im Kontext von Gewaltkonflikten erfolgt vielfach die Reduktion multipler Identitäten zugunsten der Konstruktion exklusiver, sich von anderen abgrenzenden Identitäten, basierend auf Religion, Nation oder Ethnie (Sen 2008). Verschiedene Entwicklungen lassen sich hier in den jeweiligen Lebenswelten beobachten. Migration – unabhängig davon, ob sie freiwillig oder erzwungen ist – stellt einen Einschnitt im Leben von Jugendlichen dar, die ihre Biographie in eine Zeit davor und danach unterteilen (Loizos 2007: 193). Dies geht meist einher mit dem Fehlen eines Gefühls an Zugehörigkeit zu einer Nation, einer Gemeinschaft oder sogar einer Familie. Gleichzeitig erfordert die Veränderung des Alltags eine Reihe von Anpassungen des täglichen Lebens und seiner Routinen – im Falle grenzüberschreitender Flucht unter Umständen sogar der Sprache. Da junge Menschen sich in diesem Kontext oft leichter anpassen als Erwachsene, können bestehende altersbasierte Hierarchien verändert oder aufgebrochen werden. Kinder und Jugendliche, die für ihre Eltern übersetzen oder schreiben, brechen zumindest teilweise aus diesen untergeordneten Rollen und der damit verbundenen Hierarchie aus. Gleichzeitig können Marginalisierung und Ablehnung durch aufnehmende Umgebung aber auch bestehende Identitäten verstärken12. Dies zeigen zahlreiche Untersuchungen zur zweiten Generation von Flüchtlingen und Migranten. In dieser Situation dienen Peer-Gruppen und andere verfügbare soziale Netzwerke dann als Ersatz. Jugendbanden und Gangs in den Slums entstehen auf der Basis solcher Prozesse (Hagedorn 2008: 11 – 22). In 12 Vergleiche zu Erfahrungen in Ayacucho (Peru) Strocka (2008).

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Flüchtlingslagern kann dies durch die gemeinsame Erfahrung als Opfer der Gewalt ergänzt werden. Bei bewaffneten Gruppen ist die Situation ein wenig anders. In Bezug auf junge Männer ist vielfach von gewaltsamer Männlichkeit die Rede. Diese entsteht vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen vorherrschenden Männlichkeitsidealen und der Unmöglichkeit diese im Umfeld von Armut und Marginalisierung umzusetzen (Correia/Bannon 2006). Unter dieser Perspektive kann die Anwendung von Gewalt einen Ausweg bieten, die Statuspassage auf dem Weg vom Kind zum Erwachsenen zu vollziehen. Für junge Frauen kann der Kontext der Gewalt dagegen zur Verfestigung traditioneller Rollenmuster führen (etwa durch frühe Schwangerschaft oder Heirat). Gleichzeitig bietet sie ihnen unter Umständen aber auch die Möglichkeit aus diesen auszubrechen (Coulter/Persson/Utas 2008: 30 – 33). Und schließlich sind Jugendliche – wie andere gefährdete Gruppen auch – zu ihrem eigenen Schutz und für das tägliche Überleben in einem Umfeld, in dem grundlegende Dienstleistungen nicht verfügbar sind, in hohem Maße auf soziale Netzwerke angewiesen. Dies ist selbst in Flüchtlings- und Vertriebenenlagern wichtig, obwohl es dort wenigstens minimalen Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung gibt. In allen Lebenswelten erfüllen diese Netzwerke, die vielfach auf einer gemeinsamen Herkunft, Religion oder Ethnie basieren, wichtige Funktionen. Gleichzeitig können sie aber auch der Rekrutierung in bewaffnete Gruppen unterschiedlichster Zielsetzung dienen13. Auch die GangForschung betont diese Aspekte der Gruppensolidarität (Hagedorn 2008). Ein zweiter Aspekt ist der Schutz vor Gewalt. Die Mitgliedschaft in einer bewaffneten Gruppe kann die einzige Möglichkeit sein, sich vor der Gewalt eben dieser Gruppe oder rivalisierender Gewaltakteure zu schützen. Zeugnisse von jungen Kombattanten in der ganzen Welt betonen, dass das Bedürfnis nach Schutz ein zentrales Motiv für den Anschluss an diese Gruppen ist. Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass die negativen Auswirkungen der Gewalt auf Gesundheit und Bildung in den drei Lebenswelten vergleichbar sind, während der eigene Griff zur Waffe Jugendlichen die ökonomische Unabhängigkeit ermöglichen kann. Die Herausbildung von Identitätsmuster und sozialen Organisationen in gewaltsamen Lebenswelten erfüllt für alle Jugendliche zentrale Funktionen, sowohl im täglichen Überleben als auch auf dem Weg ins Erwachsenenleben. All diese Konsequenzen der Gewalt und die Funktionen, die die bewaffneten Gruppen für Jugendliche bei einzelnen Statuspassagen, der Identitätssuche und 13 Für Gruppen mit politischen Zielen ist dies offensichtlich. Naylor (2002) zeigt aber auch, dass soziale Netzwerke auf erweiterten Verwandtschaftsbeziehungen die Basis für kriminelle Organisationen wie die italienische Mafia in den USA sind.

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der Notwendigkeit sozialer Organisation haben, müssen bei der Analyse von Teufelskreisen und der Suche nach Auswegen systematisch einbezogen werden. Erst dann lassen sich Alternativen aus gewaltsamen Lebenswegen entwickeln. Fragen zum Weiterdenken Welche Rolle spielen Männlichkeitsvorstellungen bei der Beteiligung von Jugendlichen an Gewalt? Was sind umfassende Strategien der Jugendgewaltprävention?

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3. Konstruktive Konfliktbearbeitung

Ulrike Borchardt

Konstruktive Konfliktbearbeitung

Dass Konflikte nicht allein militärisch zu lösen sind, verdeutlichen die Beiträge im dritten Abschnitt dieses Readers. Cord Jakobeit, Politikwissenschaftler, zeigt anhand seiner Folien die grundlegenden institutionellen Weichenstellungen, die die europäische Friedensordnung seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges maßgeblich bestimmt haben: Zwar kann Europa nicht auf Friedenssicherung durch militärische Stärke verzichten – dies zeigt die intensive militärische Zusammenarbeit Europas mit den USA und anderen Mitgliedstaaten der NATO. Dennoch stehen Friedenssicherung durch wirtschaftlichen Erfolg im Rahmen der EU, durch Vertrauensbildung im Rahmen von KSZE/OSZE und durch die Einhaltung von Menschenrechtsnormen als wichtigste Aufgabe des Europarats im Vordergrund des Interesses. Dass diese ›zivile‹ Art der Friedenssicherung nicht unumstritten ist, zeigt insbesondere der Bedeutungsverlust von Europarat und OSZE. Nils Zurawski, Kriminologe und Soziologe, begründet in seinem Artikel zum nordirischen Friedensprozess, weshalb dieses äußerst langwierige und von zahlreichen politischen Rückschlägen begleitete Verfahren dennoch als Erfolg bezeichnet werden kann. Im Zentrum seiner Analyse stehen die Faktoren, die die sich lange Zeit feindlich und unversöhnlich gegenüberstehenden Konfliktparteien zur Herausbildung einer allmählichen Gesprächsbereitschaft zur Lösung des Konfliktes veranlassten. Mariska Kappmeier und Alexander Redlich, beide Psychologen und Mediationsforscher, analysieren in ihrem Beitrag die Rolle von Mediation zum Aufbau von Kapazitäten für eine friedliche Konfliktregulierung am Beispiel Moldawien-Transdniestrien. Mediation ist eines der Verfahren zur konstruktiven Konfliktbearbeitung. Mediatoren treten als unparteiliche Vermittler auf. Sie ermöglichen es den Konfliktparteien – unter Voraussetzung einer grundsätzlichen Verhandlungsbereitschaft – eine gemeinsam getragene Lösung zu erarbeiten, ohne dass die Mediatoren die Lösung selbst vorgeben. Politisch und/oder kulturell aufgeladene Konflikte zwi-

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Ulrike Borchardt

schen mehreren Parteien stellen dabei besondere Anforderungen an die Qualifikation und die Vorgehensweise von Mediatoren. Der Politikwissenschaftler Sven Gareis zeichnet in seiner Analyse zur »Responsibility to Protect« (R2P) ein kritisches und differenziertes Bild dieser als »neues Konzept zum Schutz der Menschenrechte« deklarierten Strategie. Die entscheidende Neuerung und gleichzeitig nach wie vor relevante Problematik betrifft ein verändertes Verständnis von Souveränität: Im Vordergrund steht der »Schutz der Bürger vor gravierenden Menschenrechtsverletzungen«, dem jeder Staat grundlegend verpflichtet ist und dessen »Erfüllung unter internationaler Beobachtung steht« (Gareis, S. 210 f.). Als aktuelle Folie dient ihm der Libyen-Einsatz der NATO 2011, dem der Autor kritisch gegenübersteht. Seine zentrale Frage lautet: Wie kann das Konzept der Schutzverantwortung zugunsten des tatsächlichen Schutzes der Menschenrechte weiterentwickelt werden? Notwendig wäre ein gemeinsames Verständnis von R2P, bei dem die Prävention im Vordergrund steht und nicht die militärische Intervention.

Cord Jakobeit

Grundlagen der europäischen Friedensordnung seit 1945: NATO, EU, OSZE, Europarat1 Europäische Friedensordnung Gliederung: 1) Einleitung 2) Was sind und was leisten internationale Regierungsorganisationen? 3) Frieden durch militärische Stärke: NATO 4) Frieden durch wirtschaftlichen Erfolg: EU 5) Frieden durch Vertrauensbildung: KSZE/OSZE 6) Frieden durch (Menschenrechts)Normen: Europarat 7) Frieden nach 1989/91: ›Interlocking institutions‹ oder variable Geometrie? 8) Fazit

1 Hier wird die Powerpoint Präsentation des Vortrags »Grundlagen der europäischen Friedensordnung von 1945«, der am 10. Januar 2013 von Professor Cord Jakobeit in der Ringvorlesung ›Friedensbildung – Grundlagen und Fallbeispiele‹ gehalten wurde, abgedruckt.

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Cord Jakobeit

Europäische Friedensordnung 1) Einleitung These: Der »Frieden von unten« in Europa nach 1945 war immer auch eine Reaktion auf die (zum Teil unbefriedigenden) Versuche des »Friedens von oben«. Seit 1945: Wandel in Europa vom historischen Brandherd der internationalen Politik zu einer Insel des Friedens Der wahrscheinlich spektakulärste Wandel in der Geschichte der internationalen Beziehungen Aber: Kriege im ehemaligen Jugoslawien (1991–1995), in Tschetschenien (1994–1996 sowie 1999–2009), in Serbien/Kosovo (1998–1999) und in Georgien (2008)

Europäische Friedensordnung 2) Was sind und was leisten internationale Regierungsorganisationen? IGOs (governance by governments) werden definiert durch: völkerrechtliche Verträge (Prinzipien, Normen, Regeln, Verfahrensweisen) ein ständiges Sekretariat beziehungsweise eine Bürokratie eine Form der Finanzierung durch Beiträge der Staaten Im Bereich der Wahrung der Sicherheitsinteressen und des Friedens werden IGOs gesehen als Instrumente der Staaten zur Hegemonie, Koordination oder zum Schutz im Selbsthilfesystem (Realismus) funktionale Notwendigkeiten zur Kooperation und zur Sicherung von Gewinnen durch Informationsgewinnung und zur Reduktion von Transaktionskosten (Institutionalismus)

Grundlagen der europäischen Friedensordnung seit 1945

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Europäische Friedensordnung 2) Was sind und was leisten internationale Regierungsorganisationen? Im Bereich der Wahrung der Sicherheitsinteressen und der Wahrung des Friedens werden IGOs gesehen als Formulierer eigenständiger Interessen, Normen und Werte zur Wahrung des Friedens (Konstruktivismus) der Logik von Interdependenz und Integration folgend als »Sicherheitsgemeinschaften« (Karl W. Deutsch), in denen Staaten sich zusammentun und auf das souveräne Recht zur militärischen Gewaltanwendung verzichten (Liberalismus) IGOs sollten als beides gesehen werden, Akteure und Instrumente.

Europäische Friedensordnung 3) Frieden durch militärische Stärke (NATO) Gründungsjahr: 1949 Historischer Hintergrund: Zweiter Weltkrieg, Erklärungen: Realismus, Machttheorie, Militärallianz, kollektive Verteidigung Ziele: »to keep the Americans in, keep the Russians out and keep the Germans down« (Lord Ismay, Erster Nato-Generalsekretär) Mitgliedschaft: Gründung: USA, Kanada, Benelux, Dänemark, Frankreich, Island, Italien, Norwegen, Portugal, United Kingdom, Deutschland (1955) 2013: 28 Staaten (26 in Europa)

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Cord Jakobeit

Europäische Friedensordnung 3) Frieden durch militärische Stärke (NATO) Instrumente: Beistandsklausel, Streitkräfte, militärische Friedenswirkungen: Abschreckung (?), Kohäsion der Mitglieder (aber: Griechenland/Türkei), Ermöglichung der westeuropäischen Konzentration auf ökonomischen Wiederaufbau und Erfolg aufgrund der kollektiven Verteidigung »Unfriedens«wirkungen »Weltpolizist«, Streit zwischen »Atlantizisten« und »Europäisten«

Europäische Friedensordnung 4) Frieden durch wirtschaftlichen Erfolg (EU) Gründungsjahr: EGKS (1951), Römische Historischer Hintergrund: Zweiter Weltkrieg, Bedeutungsverlust (West) Europas, Friedensnobelpreis 2012 Erklärungen lismus, Frieden durch Freihandel und Integration Zielsetzungen: Kontrolle der deutschen Rüstungsindustrie (EGKS), ESVP, Beistandsklausel (Lissabon)

Grundlagen der europäischen Friedensordnung seit 1945

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Europäische Friedensordnung 4) Frieden durch wirtschaftlichen Erfolg (EU) Mitgliedschaft: Erweiterungen von 6 auf 9 (Dänemark, United Kingdom – 1981 und 1986),15 (Schweden, Finnland, Österreich – 1995), 25 (acht mittelosteuropäische Staaten plus Malta und Zypern – 2004), 27 (Bulgarien und Rumänien – 2007), 28 (Kroatien am 1. Juli 2013) Friedenswirkungen: Wirtschaftliche Integration und Erfolg, gradueller Souveränitätsverzicht, Koordination fast aller Politikbereiche, regionale Integration als Modell für die Welt, »Unfriedens«wirkungen: Abschottung nach außen (Nachbarschaftspolitik und »Festung Europa«), Doppelmoral in der Entwicklungspolitik, »schwaches« Krisenmanagement in der Gegenwart (»EURO-Krise«)

Europäische Friedensordnung 5) Frieden durch Vertrauensbildung (KSZE/OSZE) Mitgliedschaft: 35 (1975), 57 (2013) = USA, Kanada, alle Staaten Europas, Türkei, Zypern, alle Nachfolgestaaten der Sowjetunion Instrumente: Schlussakte von Helsinki (1975), Vertrag über konventionelle Streitkräfte (1990), OSZE (1995) = Beratungsforum für Sicherheitsfragen (Terrorismus), Inspektionen, Wahlbeobachtung, Menschenrechte Friedenswirkungen: Zentraler Rahmen für friedliche Transformation in Europa (1975—1992), Forum für alle (einschließlich Russland und aller östlichen Staaten) in Europa „Unfriedens“wirkungen: Marginalisierung durch NATO und EU, Machtlosigkeit in den Kriegen der 1990er Jahre

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Europäische Friedensordnung 6) Frieden durch (Menschenrechts)Normen: Europarat Gründungsjahr: 1949 Historischer Hintergrund: 2. Weltkrieg (Initiative der USA) Erklärungen: Wertegemeinschaft, Liberalismus, Konstruktivismus Zielsetzungen: Stärkung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Mitgliedschaft europäische Staaten (1949), Deutschland (1950), Osteuropäische Staaten (ab 1990), 2011: 47 Mitglieder und Weißrussland als Beitrittskandidat

Europäische Friedensordnung 6) Frieden durch (Menschenrechts)Normen: Europarat Instrumente: Europäische Menschenrechtskonvention

bildung und –kontrolle im Bereich der Menschenrechte Friedenswirkungen: Durchsetzung von Menschenrechten durch gerichtliche Kontrolle, Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit »Unfriedens«wirkungen von Staaten angewiesen, Budgetprobleme, im Schatten von EU und NATO, regionale Reduktion auf den östlichen Rand Europas

Grundlagen der europäischen Friedensordnung seit 1945

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Europäische Friedensordnung 7) Frieden nach 1989/91: ›Interlocking institutions‹ oder variable Geometrie? Konzept der »interlocking institutions« Zusammenarbeit und gegenseitige Ergänzung von UN, NATO, EU, OSZE, WEU und Europarat – Anfang der 1990er Jahre gescheitert Konzept der »variablen Geometrie« flexible interinstitutionelle Kooperationsmuster in der Sicherheitspolitik (mit Dominanz durch NATO und EU)

Europäische Friedensordnung 8) Fazit Die »pluralistische Sicherheitsgemeinschaft« in Europa nach 1989/91 wird durch den Bedeutungsverlust von Europarat und OSZE geschwächt Viele Fragen bleiben offen: Abgrenzung: Wer gehört zu Europa? Wem gehört Europa: Wollen wir ein Europa der Regierungen, der Multis und Banken oder eines der Europäerinnen und Europäer? Ausgrenzung: Soll (kann) es bei Europa als der »Insel der Seeligen« bleiben? Muss das als »Festung Europa« verteidigt werden? Außenwirkung und Vorbildfunktion: (Wie) will sich Europa Ausprägung variabler Geometrie: Wer hat das Sagen, wer wann das Recht zum ›opting out‹?

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Weiterführende Fragen Glauben Sie, dass die Krise des EURO das Ende der EU einläutet und dass damit auch die Europäische Friedensordnung in Gefahr geraten wird? Halten Sie die angelaufene Stationierung von zwei Patriot-Raketenabwehrbatterien zur »Verstärkung der integrierten Luftverteidigung der NATO« an der türkisch–syrischen Grenze für eine angemessene Reaktion auf den Bürgerkrieg in Syrien?

Leseempfehlungen Grimmel, Andreas / Jakobeit, Cord (Hg.): Politische Theorien der Europäischen Integration. Ein Text- und Lehrbuch. Wiesbaden 2009. Jachtenfuchs, Marukus / Knodt, Mich¦le (Hg.): Regieren in internationalen Institutionen. Opladen 2002. Lutz, Dieter S. / Tudyka, Kurt P. (Hg.): Perspektiven und Defizite der OSZE. Baden-Baden 2000. Klotz, Sabine: Zivile Konfliktbearbeitung: Theorie und Praxis. (FEST, 204 Seiten) Heidelberg 2003. Roithner, Thomas (Hg.): Europas Beitrag zum Frieden: vom militärischen und zivilen Krisenmanagement. (Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung, 16) Münster 2000. Schimmelfennig, Frank: Internationale Politik. Paderborn 2013 [3. Auflage]. Zürn, Michael / Zangl, Bernhard (Hg.): Verrechtlichung – Baustein für Global Governance. (Eine Welt 18) Bonn 2004.

Nils Zurawski

Frieden trotz Spannungen? Warum der nordirische Friedensprozess ein Erfolg ist

»Flammt der Konflikt wieder auf ?« – so lautet die Zwischenüberschrift in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 4. September 2012 (König 2012), in dem von gewalttätigen Auseinandersetzungen einzelner Gruppen in Belfast berichtet wird. So oder ähnlich gab es seit dem Friedensschluss von 1998, dem so genannten Karfreitagsabkommen, immer wieder Medienberichte über die Situation in der britischen Provinz im Norden Irlands. Wann immer es zu Auseinandersetzungen kam, wurde in der deutschen Medienöffentlichkeit gefragt, ob der Frieden fragil sei, ob es eine Rückkehr zu alten Verhältnissen geben könnte oder ob gar der Friedensprozess am Ende sei. Diese Überlegungen gehen davon aus, dass Frieden jegliche Abkehr von Gewalt bedeutet und mit dem Abkommen, geschlossen nach anstrengenden Verhandlungen und 30 Jahren Bürgerkrieg, nun alles vorbei und anders sei. Das war und ist nicht der Fall. Gleichzeitig lässt sich behaupten, dass der Frieden in Nordirland stabil ist und nach 14 Jahren enorme gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Veränderungen stattgefunden haben, die diese Behauptung rechtfertigen. Marcel Baumann (2008) spricht von einer Zwischenwelt, in der sich Nordirland befindet. Mit dem Begriff der Zwischenwelt soll deutlich werden, dass Frieden kein Endprodukt ist, sondern ein sich stets wandelnder Prozess, der im Idealfall zu einer dauerhaften Abkehr von Gewalt und zu einer gesteigerten Kommunikation zwischen den (ehemaligen) Konfliktparteien führt. Medien und auch Politiker, die auf klare Ergebnisse und Endprodukte fixiert beziehungsweise angewiesen sind, nehmen solche Zwischenwelten in der Regel nicht wahr und können so diese auch nicht als Handlungsräume nutzen. Friedensansätze, die sich nur auf das Endprodukt beschränken, sind zum Scheitern verurteilt, wie die vielen internationalen Initiativen zum Israel/Palästina-Konflikt seit Jahrzehnten zeigen. So kompliziert Konflikte sind, so vielschichtig und komplex sind auch Friedensprozesse, in denen es allein mit einem Verzicht auf gegenseitige Gewalt noch lange nicht getan ist – auch wenn das ein notwendiger erster Schritt sein kann. Das Karfreitagsabkommen von 1998 war der Höhepunkt für alle Hoffnungen und Vorstellungen von dem, was Frieden von dort an sein sollte. Dabei ist diese

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Vereinbarung viel eher der zwischenzeitliche Wendepunkt in einem Friedensprozess, der so lange währt wie der Konflikt selbst. Adrian Guelke (2009) spricht von einer langen Geschichte der »constructive ambiguities«, die den Konflikt begleiteten und die auch nach 1998 die Politik und die Arbeit am Frieden bis heute mit prägen. Kritiker bemängeln genau diese ›konstruktiven Unklarheiten‹, die das Abkommen beinhaltete. Diese unklaren Aussagen ließen Spielraum für eigene Interpretationen, so dass alle Akteure und Parteien dem Vertrag zustimmen konnten. Für einige Kritiker ist dies das grundlegende Problem des Friedens (vergleiche Dingley 2005). In positiver Wendung von einer konstruktiven Unklarheit zu sprechen, ist in der Rückschau sicherlich einfacher als während des Abkommens oder in der direkt darauf folgenden Zeit. Aber gerade diese Phase macht es auch unverständlicher, wieso bei lokalen Auseinandersetzungen überhaupt gemutmaßt werden kann, ob die dort stattfindende Gewalt zurück zu alten Verhältnissen führt. Für Nordirland war der Weg lang von einem fragilen Frieden, in dem die Logiken des Konfliktes nur durch den Willen der beteiligten Akteure unterdrückt werden konnten, hin zu einem stabilen Frieden, in dem Gewalt nicht grundsätzlich das Erreichte in Frage stellt. Um zu verstehen, wieso der Friedensschluss von 1998 heute als Erfolg angesehen werden kann und die nordirische Gesellschaft dennoch von Segregation und dem Misstrauen gegenüber der jeweils anderen Gruppe mit geprägt ist, bedarf es eines Blickes auf die Geschichte des Konfliktes. Dabei gibt es nicht die eine Geschichte, sondern nur verschiedene Perspektiven, aus denen heraus sich der Konflikt erklären lässt beziehungsweise mit denen die Gründe für die 30 Jahre lang andauernde Gewalt veranschaulicht werden können. Diese Perspektiven verdeutlichen, wieso die gegenwärtige Gesellschaft eine Gesellschaft im Frieden ist – trotz des langjährigen Konfliktes, einer bis heute andauernden Trennung verschiedener Bevölkerungsgruppen sowie einer Reihe nicht gelöster Probleme und nach wie vor bestehender Erinnerungen an den Konflikt, die Bestandteil eines kollektiven Gedächtnisses sind. Das weitere Vorgehen für diesen Aufsatz sieht daher vor, dass zunächst verschiedene Blickwinkel auf die nordirische Geschichte und den Konflikt zwischen 1968 und 1998 vorgestellt werden. Die gegenwärtigen politischen Diskussionen und sozialen Debatten in Nordirland nehmen immer wieder Bezug auf die Geschichte des Konfliktes, die dabei durchaus auch 800 Jahre weiter zurückreichen kann als der Bürgerkrieg selbst. Bei den Perspektiven, mit denen der Konflikt betrachtet werden soll, handelt es sich weniger um alternative Deutungen von Geschichte, das betreiben die einzelnen Gruppen in Nordirland ohnehin dauerhaft und zum eigenen Vorteil. Es werden vielmehr verschiedene Aspekte des Konfliktes in den Vordergrund gestellt, die auch auf die heutige Gesellschaft Einfluss haben und oft überhaupt erstmals als Probleme wahrgenommen werden.

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Die Gründe des Konfliktes – Perspektiven des Friedens Um nachzuvollziehen, zu welchen Bedingungen Frieden möglich ist und warum heute auftretende Gewalt in Nordirland kein Zeichen eines wieder aufflammenden Konfliktes ist, ist es hilfreich zu verstehen, wieso es zum Konflikt 1968 kam. Doch schon hier beginnt das Problem einer Analyse, denn es gibt gute Argumente – Für und Wider – das Anfangsdatum vorzuverlegen. Die ›Troubles‹, wie die Zeit zwischen 1968 bis zum Karfreitagsabkommen 1998 von den Nordiren genannt werden, sollen hier als zeitlicher Analyserahmen für den Konflikt dienen. Diese mögen als zunächst letzte gewalttätige Inkarnation eines Konflikts gelten, dessen Anfänge je nach Betrachtungsweise unterschiedlich weit zurückreichen. Damit ist bereits die erste Perspektive angesprochen, mit der sich der Konflikt betrachten lässt: die historischen Wurzeln und die sich daraus ergebende Logiken des Gegeneinander von Protestanten und Katholiken. Die so selbstverständliche Einteilung der Konfliktparteien jedoch zeigt, dass es mit einer historischen Betrachtung allein nicht getan sein wird. Ebenso wenig wie mit einer Analyse, die sich allein auf Religion als zentralen Faktor bezieht. Es bieten sich weitere Ansätze an den Konflikt zu beschreiben: man kann seine politischen und sozialen Aspekte berücksichtigen oder ihn als einen imperialen Konflikt analysieren. Religion sowie eine Analyse der beteiligten Parteien, die eben nicht auf zwei konfessionell verschiedene Gruppen zu reduzieren sind, sind zwei weitere Facetten einer Interpretation. Geschichte, Politik, sozial-ökonomische Situation, Kolonialismus, Religion, beteiligte Akteure sowie die Bedeutung von Gewalt – das sind mögliche Perspektiven, anhand derer ein Überblick über die Ambivalenzen des Konfliktes gegeben werden kann. Das Ziel ist auf der einen Seite zu zeigen, dass ein Frieden nicht einfacher sein kann als der Konflikt selbst. Auf der anderen Seite aber auch, dass es für einen Frieden nötig sein kann nach vorne blicken zu können und bestimmte Aspekte der Vergangenheit und bestehende Strukturen einfach zu ignorieren. Nordirland bietet hierfür ein gutes Beispiel, dessen Erfolg allerdings nur bedingt eins zu eins auf andere Konflikte übertragen werden kann. Anhand der angeführten Kriterien soll nun nicht in verschiedenen Versionen der Verlauf des Konfliktes unterschiedlich erzählt werden. Vielmehr geht es mir darum zu zeigen, dass ein Konflikt ein manchmal verwirrendes Geflecht verschiedener Dimensionen ist, das man nur entwirren kann, in dem man nach bestimmten Erzählfäden sucht und nicht wahllos hineinfasst. Im Folgenden geht es zunächst um verschiedene dieser Erzählfäden, respektive Perspektiven, mit denen dann der Friedensprozess und dessen ambivalenter Erfolg nachgezeichnet werden sollen.

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Geschichte Keine historische Erzählung des Konfliktes in Nordirland beginnt 1968 oder auch nur wenige Jahre zuvor, ganz gleich wie umfangreich ein Werk ist. Auf deutsch gibt es zwei neuere Bücher zur Geschichte Nordirlands und des Konfliktes1. Beide verorten die Ursprünge 1169 beziehungsweise 1171; Jahre, in denen Invasoren aus England nach Irland kamen, um nach der Macht zu greifen. Mit diesen Jahreszahlen verbinden die katholischen Iren2 den Beginn britischer Fremdherrschaft, die seit 800 Jahren andauert. Der Umstand, dass daraus mittlerweile fast 850 Jahre geworden sind, dieses aber selten thematisiert wird, zeigt, dass die Zahl 800 an sich bereits zu einer Chiffre mutiert ist, auf deren Exaktheit es nicht so genau ankommt. Es ist vor allem der katholisch-nationalistisch-republikanische Teil der Bevölkerung Nordirlands, der darauf Bezug nimmt. Für die Protestanten Nordirlands beginnt die eigene Geschichte auf der Insel im 17. Jahrhundert mit der geplanten Besiedlung von Teilen Irlands mit protestantischen Siedlern, treue Gefolgsleute der britischen Krone. Der Sieg Wilhelms III. (Wilhelm von Oranien) über den katholischen James II. beendete die unklare Situation über die Herrschaft Irlands, wobei es wohl eher um einen Kampf verschiedener Königsgeschlechter um den britischen Thron ging, der seitdem nur von Protestanten besetzt werden konnte (Elvert 1993). Mit dem Sieg etablierte sich eine Ungleichheit zwischen den alt-eingesessenen, zumeist katholischen Iren, und den neuen Protestanten, die über Gesetze und Herrschaftsformen auch institutionell verstetigt wurde. Für fast alle weiteren wichtigen Daten der irischen Geschichte, auf die auch in Nordirland Bezug genommen wurde, liegen hier die Wurzeln. Insbesondere gilt das für den Freiheitskampf der zumeist katholisch-nationalistisch orientierten Iren für eine eigene Nation, eine Republik.

1 Eines ist rund 150 Seiten dick, das andere hat mehr als 500, vergleiche. Otto beziehungsweise Kandel, beide 2005. 2 Die Bezeichnungen für die Konfliktparteien sind nicht einfach oder immer eindeutig. So bezeichnet protestantisch in der Regel die Gruppe derer, die eine Union mit Großbritannien erhalten wollen, auch Unionisten oder Loyalisten, letztere sind radikale, gewaltbereite Unionisten. Auf katholischer Seite sind die analogen Bezeichnungen (moderate) Nationalisten und (radikale) Republikaner wie etwa die IRA und Sinn Fein. Katholiken und Protestanten haben sich somit zu Kategorien entwickelt, die mehr als nur die Religion angeben, sondern im Zusammenhang mit der Politik Nordirlands auch eine ethno-politische Zuweisung vornehmen.

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Die Teilung Irlands Die Geburtsstunde der Unabhängigkeit ist der Überfall auf das Hauptpostamt in Dublin am Ostermontag, den 24. April 1916. Der Angriff auf das Postamt symbolisiert den irischen Bürgerkrieg bis hin zur Teilung der Insel 1921 und die endlich erfolgreiche Ausrufung der Republik Irland 1922. Der Überfall steht bis heute für die unabhängige Nation Irlands, Nordirland hingegen wurde 1921 unter eine eigene Regierung gestellt, in der die pro-britischen, protestantischen Vertreter die Mehrheit und als Folge auch die institutionalisierte Macht innehatten. Es ist fast eine Ironie des Schicksals, dass das Jahr 1916 auch für die Protestanten von zentraler Bedeutung ist, wenn auch das Ereignis dazu fernab von Irland in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges in Frankreich an der Somme lag. Dort wurde die 36. Ulster Division, in der viele protestantische, aber auch katholische Iren waren, am 1. Juli 1916 im Kampf mit der deutschen Armee um die Hälfte dezimiert. Für die Protestanten ist dies bis heute ihr Opfergang für die britische Krone – und daher von unauslöschlicher historischer Bedeutung für ein protestantisch, pro-britisches Selbstverständnis. Diese Bedeutung rührt auch daher, dass diese Division zu einem großen Teil aus der 1912 gegründeten protestantisch-unionistischen Miliz Ulster Volunteer Force (UVF) gebildet wurde, die freiwillig in den Krieg für Großbritannien zog3. Die anschließenden 40 Jahre sind für den Konflikt ohne nennenswerte geschichtliche Ereignisse. Nordirland wurde aus sechs der neun Grafschaften der irischen Provinz Ulster gebildet. Die Teilung der Bevölkerung in Protestanten und Katholiken war gelebter Alltag, aber nicht so strikt wie es aus heutiger Sicht erscheinen muss. Eine zunehmende Segregation fand erst im Zuge der gewaltsamen Verschärfung des Konfliktes nach 1968 wieder statt. Historische Daten sind in Nordirland bis heute wichtig. Sie sind mehr als Ereignisse, die in der Schule gelehrt werden; sie stellen vielmehr eine gelebte Realität dar, in dem die Gedenktage oft aufwendig gefeiert werden. Sie werden auch dazu genutzt, die eigene Überlegenheit oder den Freiheitswillen ein weiteres Mal zu untermauern und offen zur Schau zu stellen (vergleiche Abbildung 1). Die verwendeten Symbole prägen den Alltag und die Stadtbilder. Sie sind visuell ebenso allgegenwärtig wie im politischen und sozialen Geschehen. Die Ereignisse und deren Konsequenzen haben auch Jahrhunderte später einen 3 Die UVF sollte nach 1970 wieder zu zweifelhaftem Ruhm als paramilitärische Gruppe in den ›Troubles‹ kommen. Auch hier ist der Bezug zu historischer Bedeutung unübersehbar und war im konkreten Fall für die protestantische Seite essentiell zur Rechtfertigung und Legitimierung eigener gewalttätiger Handlungen.

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realen Bezug und sind nicht nur ein diffuses Geschichtsverständnis, sondern Teil der gelebten Identität. Für das Verständnis vom Miteinander der Gruppen in Nordirland sind diese Daten zentral. Eine Kommunikation, die zu einem stabileren Frieden führt, kann nicht umhin sich mit der Bedeutung dieser Ereignisse für die jeweiligen Gruppen auseinanderzusetzen. Bisher bieten die meisten Ereignisse keine Möglichkeit einer gemeinsamen Auseinandersetzung über Geschichte, denn die Daten sind Ausdruck einer Geschichte gegeneinander. Ihr Einfluss macht bis heute die Überwindung des Konfliktes in den Köpfen so schwierig.

Abbildung 1: Parade einer Oranier–Loge in Nord–Belfast Quelle: Nils Zurawski, 2009

Politik Diesseits großer historischer Ereignisse und ihres Gedenkens, welches sich über die Jahrhunderte auch immer wieder veränderte, neu entdeckt und interpretiert wurde, kann ein Blick auf die Politik Nordirlands helfen, die Gründe für den Gewaltausbruch 1968 und den andauernden Konflikt zu verstehen. In Nordirland, welches nach der Trennung Irlands im Vereinigten Königreich verblieb, war die Politik der britischen Regierung und der lokalen Administration darauf ausgerichtet, einen ›protestantischen Staat für protestantische Bürger‹ zu etablieren und durchzusetzen. Dazu bedienten sich die Regierenden verschiedener Mittel, um sicherzustellen, dass die Machtverhältnisse den Status quo erhielten und diesen nicht in sein Gegenteil, schlimmstenfalls zum Anschluss an die Republik Irland, verkehrten. Das nordirische Parlament war somit eine widersprüchliche Institution. Errichtet als Zugeständnis an die irische Unabhängigkeit, besaß es seit der Teilung Irlands 1921 weitgehende Autonomierechte. Es war eine Kopie des britischen Parlaments und darauf ausgerichtet, die Herrschaft der protestantischen, unionistischen Bevölkerung in Nordirland zu stärken

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(O’Leary/McGarry 1995; Barton 1999; Kandel 2005). Die ebenfalls in Nordirland lebenden Katholiken wurden bei Wahlen, Arbeit und Vergabe von Sozialwohnungen vielfach benachteiligt. Eine politische Teilhabe war nur zu den Bedingungen der protestantischen Machthaber möglich. Der Widerstand der Irish Republican Army (IRA) gegen diesen Staat wurde nach der Teilung bis in die 1960er Jahre immer geringer und beschränkte sich in der Regel auf Anschläge an der Grenze oder auf Aktionen in Irland selbst. Sie verlor nicht zuletzt deswegen an Bedeutung, da ihr Hauptquartier immer noch in Dublin war und sie sich somit den neuen Bedingungen noch nicht angepasst hatte. In den 1960er Jahren verlagerte sich ihr Kampf und Engagement nach Nordirland (vergleiche English 2003). Dort hatten die protestantischen Unionisten inzwischen eine hegemoniale Macht verfestigt, unter anderem mit einer Polizei und deren Hilfstruppen, die fast ausschließlich protestantisch besetzt und niemals neutral waren. So betrachtet hat der Nordirland-Konflikt seine Wurzeln im britischen Imperialismus, der nicht unbedingt 850 Jahre weit zurückreichen muss, sondern auf Strategien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts basiert. Der Konflikt hätte aus dieser Perspektive somit seinen Ursprung nicht vorrangig in der historisch gewachsenen gesellschaftlichen Spaltung in Katholiken und Protestanten, sondern in der britischen Politik, die die Spaltung der Gruppen zum Machterhalt verstärkt hatte – das ›divide et impera‹ einer Kolonialmacht. Somit ist der Konflikt nur zum Teil historisch im Sinne einer Gesellschaftsspaltung ›Katholiken gegen Protestanten‹, er ist auch das Ergebnis einer Instrumentalisierung dieser Spaltung, die durch diese Politik vermeintlich alternativlos wurde. Der Protest der 1960er Jahre, als sich Bürger mit katholischem und protestantischem Hintergrund für mehr Bürgerrechte und Gleichbehandlung bei Wahlen sowie gegen Polizeiwillkür stritt, half dabei, die Macht der lokalen Regierung zu unterminieren. 1972 wurde das Parlament suspendiert und Nordirland direkt von London aus regiert. Eine generelle Verbesserung der politischen Situation war damit keineswegs erreicht, die Probleme waren nur verlagert worden: Nordirland war nach wie vor Teil des britischen Königreiches, nicht selbstregiert, und die Gesellschaft tief gespalten. Dennoch ergaben sich aus den Protesten und der Suspendierung heraus neue Möglichkeiten politischer Partizipation, die auch als Mittel des Protestes genutzt worden sind. Die Wahlen von inhaftierten IRA-Freiwilligen während des Hungerstreiks von 1981 in das britische Unterhaus waren erfolgreicher Ausdruck einer neuen, eher politischen Strategie des Konfliktes. Generell aber hatte vor allem die katholische Bevölkerung, die während des Konfliktes zunehmend als deckungsgleich mit den Unterstützern der IRA oder ihrer selbst wahrgenommen wurden, weiterhin unter dem System der direkten Herrschaft aus London zu leiden. Sie wurde systematisch diskriminiert und hatte kaum politische Partizipationsmöglichkeiten. Das erklärte Ziel der britischen Regierung war es, Nordirland als Teil des

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Abbildung 2: Sichtbare Spaltung: Peace lines um Shankill Road/Cupar Way Quelle: Nils Zurawski (Zaun um das Wohnviertel Shankill Road/Belfast, 2010) – Der Bau dieser sogenannten Friedenslinien wurde 1969 nach Unruhen beschlossen. Der Stacheldraht sollte von der Armee bewacht werden, um weitere gegenseitige Ausschreitungen im jeweiligen Viertel der Anderen zu verhindern.

Königreiches zu halten – auch wenn die Briten dazu spezielle Gesetze erlassen mussten und die Bürgerrechte verletzten, sich auf einen Krieg mit der IRA einließen und mit ihrer Politik der harten Hand, vor allem durch Premierministerin Margret Thatcher, mehr Teile der Bevölkerung gegen sich aufbrachten, als dies gegenüber der Zeit vor 1960 noch der Fall gewesen wäre. Der unionistische Staat trat auf der Stelle. Proteste an seiner hegemonialen und erstarrten Politik waren vor allem dazu angetan, die Spaltung der Gesellschaft zu forcieren und immer mehr Bürger gegen sich aufzubringen. Rolle Großbritanniens Aus der politischen Perspektive heraus wird ersichtlich, dass Großbritannien selbst dazu beitrug, dass der Konflikt so lange dauerte und so heftig geführt wurde. Damit sollen keine Gewaltakte irgendwelcher Art und Partei gerechtfertigt werden. Dennoch wird deutlich, dass die verfolgte britische Politik nie Teil einer Lösung, sondern immer auch Teil des Problems selbst war. Die Idee, ein System der All-Parteien-Regierung in dem Abkommen festzuschreiben, folgt der Idee, dass es andere Formen demokratischer Repräsentation gibt, in der nicht die Mehrheit und der Wahlsieger allein die Regierung übernehmen müssen, sondern immer alle Parteien beteiligt werden. Diese Idee zum Maßstab politischen Handelns zu machen, liegt in der bis dahin verfolgten Politik der Ausschließung von gesellschaftlichen und politischen Gruppen begründet. Dass auch das

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nordirische Parlament nach 1998 wiederholt suspendiert wurde, weil sich verschiedene Kontrahenten vor Ort nicht einigen konnten oder eine Politik bewusster Blockade betrieben, darf durchaus als politische Schwäche Großbritanniens im Umgang mit dem Frieden angesehen werden. Die Verantwortlichen in London mussten erst lernen, die Macht dort wieder den gewählten Vertretern zurückzugeben, auch wenn diese zum Teil ihre ehemaligen Gegner waren. Neue politische Strukturen können allerdings nicht davon ablenken, dass der Konflikt eine Spaltung der Gesellschaft über 30 Jahre lang befördert hat, die nicht mit einem Vertrag und gutem Willen allein überwunden werden können.

Soziale Ungleichheit Jenseits von Geschichte und Politik lässt sich der Konflikt auch als ein sozialer Konflikt beschreiben. Die Spaltung der beiden Bevölkerungsgruppen in Protestanten und Katholiken, deren konfessionelle Identitätsbezeichnung sich jenseits von Religion und Kirche durchgesetzt hatte, war im alltäglichen Leben deutlich spürbar. Auch wenn es ökonomische Ungleichheiten zwischen den Gruppen gab, so verdeckte die Spaltung, dass auch viele protestantische Arbeiter von der Politik benachteiligt wurden. Doch allein die Unterteilung der Bevölkerung in diese beiden Gruppen ließ Diskussionen darüber nicht zu. Auch soziale Probleme wurden mit der Spaltung der ethno-politischen Gemengelage erklärt. Dabei trafen die Folgen des wirtschaftlichen Niedergangs der britischen Industrie beide Gruppen in annähernd gleichem Maße. Auch waren weite Teile beider Gruppen mehr oder weniger von dem undemokratischen und sehr einseitigen Wahlrecht4 in fast gleichem Maße benachteiligt – denn der nordirische Staat war hauptsächlich für eine protestantische Mittelschicht von Vorteil. Die protestantischen Arbeiter und Unterschicht waren davon ebenso ausgeschlossen wie fast die gesamte katholische Bevölkerung. Doch solange Erstere glaubten, von ›ihrem‹ Staat profitieren zu können, hielten sie zu ihm. Erst eine Veränderung der Politik unter dem regierenden Minister O’Neill in den 1960er, der damit die Chancengleichheit verbessern wollte, ließ die Protestanten zweifeln und unter anderem glauben, die Katholiken würden ihnen nun alles wegnehmen. Gleichzeitig regte sich Widerstand neuerer Art, der sich auf die Bürgerrechte 4 Das Wahlrecht in Nordirland folgte nicht den Veränderungen im Rest des Königreiches, was bedeutete, dass bis 1996 ein Wahlrecht galt, das Unternehmer und Landbesitzer mit mehreren Stimmen ausstattete und somit bevorteilte. Die Forderung der Bürgerrechtsbewegung ›one man, one vote‹ richtete sich genau dagegen. In der Mehrzahl waren die Nutznießer dieses Wahlrechts Protestanten, weswegen der Widerstand dagegen auch als katholische Agitation wahrgenommen wurde.

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bezog und vielfach von einer neuen, dem britischen Wohlfahrtsstaat erwachsenen Schicht junger Katholiken angeführt wurde. Auch Protestanten schlossen sich dieser Bewegung an, die von der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und Martin Luther King inspiriert waren. Ihre Forderungen waren hauptsächlich auf eine gleichberechtigte politische und wirtschaftliche Teilhabe in Nordirland fokussiert. Sie wollten vor allem das ungerechte Wahlrecht, welches Katholiken, mehrheitlich in den Arbeiter- und Unterschichten zu finden, deutlich benachteiligte, abschaffen. Grundsätzlich wollten sie die strukturelle Ungleichbehandlung von Protestanten und Katholiken beenden und forderten gleiche Möglichkeiten jenseits der Spaltungspolitik für alle ein. Die Klagen der Katholiken jedoch kamen bei vielen Protestanten in gleicher Lage nicht gut an, denn diese hatten das Gefühl, der britische Sozialstaat versorge sie bereits gut und es sei mehr Dankbarkeit zu erwarten. Aus Interviews, die ich 2000 und 2001 kurz nach dem Friedensschluss in Nordirland geführt hatte, wurde besonders deutlich, dass sich beide Seiten in ähnlichen Lagen befanden. Die Protestanten glaubten aber daran, dass ihnen etwas zugunsten der Katholiken weggenommen würde, wenn es zu einem Mehr an Gleichberechtigung käme. Es kämpften Menschen miteinander, die nichts hatten. Der gewalttätige Konflikt wurde auf beiden Seiten der gesellschaftlichen Spaltung hauptsächlich von der Arbeiter- und Unterschicht getragen. Sie stellten die Kämpfer der Paramilitärs, unter ihnen fanden sich viele der Opfer. Sie wollten einerseits die strukturelle und offene Diskriminierung ihrer Gruppe beenden und andererseits eine politische Wende herbeiführen5. Die soziale Spaltung, welche in Nordirland sowohl an den konfessionellpolitischen Grenzlinien als auch ganz klassisch entlang von Schichten sichtbar war, wäre eine Chance für die Mobilisierung der Benachteiligten beider Gruppen gewesen. Die ohnehin bestehende Spaltung der Gesellschaft, in der die armen Protestanten gegen die armen Katholiken mobilisiert werden konnten, machte jedoch eine soziale Lösung der Spaltung zunichte. Ein Klassenkampf für mehr soziale Gerechtigkeit aller Bürger hätte die unionistische Mittelschicht noch mehr fürchten müssen. So aber war es ein Leichtes, den protestantischen Mob auf Demonstranten zu hetzen, galt die Bürgerrechtsbewegung doch als von der IRA infiltriert. Das Argument, dass diese Leute den Protestanten ihren Besitz und Privilegien streitig machen wollten, konnte auf der vorhandenen Abneigung aufbauen. Der Niedergang der unionistischen Regierung in den 1960er Jahren war somit begleitet von einem Wiedererstarken einer vor allem auf Identität 5 Das vordergründige Ziel war bei den Katholiken immer das vereinigte Irland, jedoch kann man vermuten, dass diese Forderung im Laufe der Zeit eine rhetorische blieb, während andere politische und soziale Ziele tatsächlich immer wichtiger wurden.

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setzenden Politik. Je mehr der Konflikt zunahm, desto stärker wurde das Argument der Identität. Die bei gezielter Betrachtung sehr ungenauen Begriffe ›Protestant‹ und ›Katholik‹, welche immer weniger die Konfession meinten als vielmehr eine politische Haltung oder bestenfalls ein angenommene Zugehörigkeit markierten, wurden immer starrer, je erbitterter der Konflikt mit Gewalt ausgetragen wurde. Mit den beiden Begriffen (katholisch, protestantisch) wurde eine Feindschaft angenommen, die der Lebensrealität der Menschen nicht unbedingt entsprach, über die aber alles entschieden und geregelt wurde. Die in der Politik und Geschichtsschreibung angelegten Strukturen und Argumente kamen nun voll zum Tragen. Die Spaltung ließ sich mit tragischer Leichtigkeit auf beiden Seiten zur Mobilisierung der jeweils eigenen Gruppe gegen die anderen instrumentalisieren. Dabei spielten auch die Paramilitärs auf beiden Seiten eine wichtige Rolle, in dem sie sich in ihrer Rolle als Verteidiger der protestantischen oder katholischen Bevölkerung der sozialen Frage annahmen: Die republikanischen Gruppen (IRA, INLA) engagierten sich, da das Verhalten des Staates zeigte, dass dieser nicht an einer Emanzipation der katholischen Bevölkerung interessiert war ; die loyalistischen Paramilitärs (UVF, UDA und später abgespaltene Untergruppen) waren enttäuscht vom Staat, dem sie nicht mehr zutrauten, sie zu schützen und es daher selbst in die Hand nahmen. Dabei setzen sie nicht nur auf militärische Strategien, sondern wurden zu einem sozialen Machtfaktor innerhalb der jeweiligen Gruppe. Keine der paramilitärischen Gruppen soll hier als Samariter dargestellt werden, davon sind alle weit entfernt. Wenn man aber übersieht, dass diese Gruppen auch eine soziale Funktion hatten und einen entsprechenden Rückhalt in der Bevölkerung, dann wird man nicht begreifen, wieso der Konflikt in dieser Art so lange andauern konnte. Soziale Gerechtigkeit lange unbeachtet Die in den 1960er kurz gestellte Frage nach einer allgemeinen sozialen Gerechtigkeit trat hinter Fragen der Terrorbekämpfung, des Befreiungskampfes, der Verteidigung und später auch der Suche nach einem Frieden zurück. Und bis in die 1990er Jahre hinein hatte niemand einen Friedensprozess so konzipiert, dass auch soziale Fragen ein Teil davon waren. 1998 saßen zum ersten Mal alle beteiligten Parteien, einschließlich der IRA sowie ihrer loyalistischen Counterparts, mit am Verhandlungstisch; ein Umstand, der wohl maßgeblich zum Erfolg geführt hat und der in der Rückschau auch für eine Stabilisierung des Friedens trotz innerer Spannungen verantwortlich war.

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Gewalt und beteiligte Akteure Gewalt lässt sich schwerlich messen. Man kann die durch den Konflikt Getöteten aufzählen, sie nach Gruppen einteilen, nach Opfern, Tätern, Konfession und Art des Anschlages. Damit kann man aber nur etwas quantifizieren, das nicht wiedergibt, wie Gewalt ausgeübt wurde, wie viele Menschen tatsächlich Schaden durch den Konflikt genommen haben – die Hinterbliebenen, Verletzten, seelisch Verkrüppelten bleiben dabei außen vor. Schätzungen, die im Zuge des Friedens von 1998 die Kosten der ›Troubles‹ beziffern wollten, rechnen mit zehnmal so vielen direkt Betroffenen und Traumatisierten wie tatsächlich Getöteten, rund 4.000 Menschen (Fay/Morrissey/Smyth 1999). Zu den Kosten zählt aber auch, dass der Konflikt die ganze Region lahmlegte, 30 Jahre lang Entwicklungen verhinderte und letztlich die ganze Gesellschaft und ihre Strukturen in Beschlag genommen hat. Der Umgang mit und die Bedeutung von Gewalt in der politischen Auseinandersetzung ist ein Vermächtnis des Konfliktes. Um die Bedeutung des Aspektes von Gewalt im Konflikt und letztlich auch im kollektiven Gedächtnis Nordirlands deutlich zu machen, will ich hier kurz die einzelnen Akteure beleuchten und auf die Geschichte der Gewalt verweisen. Beides ist für den Frieden von zentraler Bedeutung. Die Konfliktparteien Ohne die vielen historischen Verwerfungen, Phasen und Entwicklungen im Einzelnen nachzuvollziehen, kann man sagen, dass es in der Geschichte vor allem drei Konfliktparteien gegeben hat: – die katholisch-irische Bevölkerung, die nur zum Teil tatsächlich auf keltische Einwanderer zurückgeht, vielfach aber auf Immigranten aus Frankreich, England und Wales, die im ausgehenden Mittelalter auf die Insel kamen; – die Protestanten, die in verschiedenen Phasen nach Irland, überwiegend nach Nordirland kamen; – und schließlich die britische Krone und ihr Staat, die die Kolonie Irland über Jahrhunderte verwalteten und beherrschten. Das Verhältnis von Protestanten und britischem Staat war dabei nicht immer einfach, denn in England und Schottland wurden auch Nicht-Anglikaner verfolgt, die dann nach Nordirland auswichen, weshalb dort heute ein Vielzahl protestantischer Kirchen anzutreffen sind, die neben der britischen Staatskirche dort eine sichere Heimat gefunden hatten.

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Die Konfliktparteien zwischen 1968 und 1998 Für die ›Troubles‹ zwischen 1968 und 1998 lassen sich die Akteure und Konfliktparteien etwas detaillierter differenzieren. Neben der katholischen und protestantischen Bevölkerung mit ihren oft entgegengesetzten Vorstellungen über die Zukunft der Provinz (Anschluss an Irland versus Verbleib im Königreich), gab es sowohl den britischen Staat als auch seine nordirischen Vertreter, die letztlich eine sehr autonome und in weiten Teilen diskriminierende Politik verfolgten. Für die Bevölkerung stehen als konkrete Konfliktparteien die paramilitärischen Gruppen auf beiden Seiten; die IRA aber als Synonym für den Konflikt. Diese hatte sich Ende der 1960er Jahre als Provisional IRA neugegründet und abgespalten. Die alte IRA verlor an Bedeutung, die Provos waren von nun an die IRA und sind es bis heute. Weiterhin muss man die fast ausschließlich protestantische Polizei und ihre Hilfstruppen als eigenen Akteur zählen, die neben ihren generellen Aufgaben durchaus eine eigene Politik verfolgte (Ellison/Smyth 2000). Außerdem spielte ab 1969 die britische Armee eine Schlüsselrolle. Nachdem sie ursprünglich gerufen wurde, um dem beginnenden Konflikt zwischen den Gruppen als Puffer zu entschärfen, entwickelte sie sich zu einem Instrument der Terrorbekämpfung. Sie wurde in kürzester Zeit in einen langwierigen GuerillaKrieg mit den republikanischen Paramilitärs verstrickt, aus dem es keinen siegreichen Ausstieg geben sollte. Am Rande beteiligt war auch die Regierung der Republik Irland, die bei Friedensverhandlungen auftrat oder im Zuge des Konfliktes auch bei der Unterstützung der IRA in manchen Fällen eine unklare Rolle gespielt hat. Schließlich muss man auch noch die politischen Parteien, die Kirchen und Traditionsvereine – wie die protestantischen Oranier-Logen – hinzufügen, letztere als Ausdruck der Pflege protestantischer Identität in Irland, die vor allem den Sieg Wilhelms III. über James II. erinnern und feiern (Bryan 2000). Allein die kurze Auflistung der beteiligten Gruppen zeigt, dass es mit einer Forderung einer Aussöhnung zwischen Katholiken und Protestanten nicht so einfach getan ist, da es zu viele Schauplätze des Konfliktes gibt, die mit Interessen verbunden sind. Zwischen den verschiedenen Akteuren gab und gibt es bis heute Verbindungen, vor allem wenn es um die Ausübung von Gewalt geht. Die Geschichte der britischen Herrschaft in Irland ist eine Geschichte der Gewalt, die nicht unüblicher ist als andere Verläufe kolonialer Herrschaft. Mit der Unterdrückung einer Bevölkerungsgruppe anhand ihrer Konfession, die weniger auf einem theologischen Disput als auf eine politische Entscheidung und sozioökonomische Strukturen zurückgeht, bekam diese Herrschaft einen stark diskriminierenden Charakter. Dieser verfestigt sich über die Zeit und verselbst-

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ständigt sich mit dem Ergebnis, dass eine Analyse, ob der Konflikt Ausdruck oder Ursache der Spaltung ist, immer schwieriger wird. Die Klärung dieser Frage aber ist nicht unwichtig für eine Annäherung der Gruppen untereinander hin zu einem gesellschaftlichen Frieden, der auch die andauernde Spaltung und die damit verbundenen Spannungen beseitigen kann.

Gewaltlinien Gewalt gegen die katholische Bevölkerung durchzog die britische Herrschaft in Irland, wobei mal spezielle Gesetze gegen Katholiken erlassen wurden, mal spezielle Truppen für Ordnung auf dem Land sorgten, die ganz klar entlang dieser Trennlinie der Konfession orientiert waren. Deshalb äußerte sich auch jeglicher Widerstand in Gewalt und nur in geringem Maße in Verhandlungen und politischen Strategien. Letztere hatten nur selten Erfolg, so dass auch frühere Selbstbestimmungsbewegungen wie zum Beispiel die so genannten ›United Irishman‹ im 18. Jahrhundert oder später die ›Fenier‹ im 19. Jahrhundert auf Gewalt vertrauten, während die Protestanten Bürgerwehren gegen die sich neu formierenden Katholiken aufstellten – sowohl im 18. und 19. Jahrhundert als auch seit den 1960er Jahren. Diese Selbstbestimmungsbewegungen waren nicht zwingend religiös konnotiert oder gar motiviert, sondern richteten sich gegen eine britische Fremdherrschaft und stritten für eine Unabhängigkeit Irlands. Gegenseitige Gewalt prägt das Verhältnis zwischen den Gruppen und auch zwischen dem britischen/nordirischen Staat und der katholischen Bevölkerung. Zwar nicht unbedingt dauerhaft, aber immer wieder in verschiedenen Phasen. Entscheidend dabei ist, dass die Gewalt immer auch anhand von Schlüsselereignissen erinnert werden kann: wie etwa der Osteraufstand von 1916 in Dublin, der zu einem Bürgerkrieg in den 1920er Jahren führte, oder Anschläge der IRA auf Protestanten. Mit jeder neuen Gewalteskalation wurden so immer neue Erinnerungsmomente geschaffen, die die Spirale aus Gewalt, Erinnerung und Gegengewalt stetig beschleunigten. Versuche des britischen Staates, den Widerstand der IRA und letztlich der gesamten katholischen Bevölkerung mit Gewalt zu brechen, endeten häufig in gewaltsamen Katastrophen. Beispiele für Gewalteskalation in Nordirland Einer der tragischen Höhepunkte hierbei war sicherlich der sogenannte Bloody Sunday am 30. Januar 1972, als die britische Armee 13 unbewaffnete Demonstranten einer Kundgebung im nordirischen Derry ›gegen die Politik einer Verhaftung ohne Anhörung (internment)‹ erschoss. Auch die Strategie der britischen Regierung 1981, mit Härte auf die Hungerstreiks von IRA– und INLA–Häftlingen zu reagieren, die ihrer

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Meinung nach der Bewegung den Rest geben sollte, erreichte genau das Gegenteil6 (vergleiche Abbildung 3). Beide Ereignisse zählen zu den größten (unfreiwilligen) Rekrutierungskampagnen der IRA. Die Hungerstreiks galten als Beginn eines erfolgreichen politischen Kampfes, der mit der Kombination von ›Waffen und Wahlurne‹ zum Erfolg führen sollte. Und beide Ereignisse sind bis heute zentrale Erinnerungsmomente im Gedächtnis der katholischen Bevölkerung.

Abbildung 3: Bobby Sands Quelle: Nils Zurawski (Falls Road, Sinn Fein Office, Juni 2009)7

Diesen Gewalterfahrungen stehen Anschläge, gezielte Morde aller Seiten (katholische und protestantische Paramilitärs sowie Polizei und Militär) und immer wieder Ausschreitungen zwischen den Gruppen gegenüber, so dass letztlich alle Beteiligten den Status von Opfern und Traumatisierten beanspruchen können. Diese Ausschließlichkeit der Erfahrungen und des Umganges mit Gewalt hat eine Kommunikation über Jahre völlig aussichtslos gemacht. Die von mir geführten Interviews aus den Jahren 2000 und 2001 zeigen deutlich, dass die Erfahrungen zwar fast austauschbar waren, was die Gewalt und die persönlichen 6 Mit den Hungerstreiks wollten die Gefangenen der IRA sowie der kleineren Irish National Liberation Army (INLA) erreichen, dass ihnen der Status als politischer Häftling erhalten blieb – Margret Thatcher wollte in ihrem Kampf diese Gefangenen zu gewöhnlichen Kriminellen machen und so das politische Anliegen des Kampfes vergessen machen. 7 Bobby Sands war einer der zehn politischen Häftlinge, die 1981 im Gefängnis während eines Hungerstreiks starben. Während der Haft wurde er vor seinem Tod im April als Abgeordneter in das britische Parlament gewählt.

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Schicksale angehen, die Einordnung aber einem ›Wir-Sie-Schema‹ folgte. Ein Frieden war ohne den Bezug zu einer gemeinsamen Erzählung von Geschichte und einer offenen Debatte über erlebte Gewalt, gelebte Geschichte und ihre Bedeutung für die eigene Identität nicht möglich. Die konstruktiven Ambivalenzen des Karfreitagsabkommen haben für diese Auseinandersetzungen überhaupt erst die Räume geschaffen, neben wirtschaftlichen und allgemein politischen Aspekten gegen Ende der 1990er Jahre.

Frieden trotz Spannungen Seit den ersten Waffenstillständen von 1994 haben diese – bis auf wenige Ausnahmen – bis heute gehalten und das Abkommen von 1998 überhaupt erst möglich gemacht. Die Entwicklung vom militärischen Konflikt zu einem demokratischen politischen System mit eigener Verwaltung hat Nordirland seitdem geprägt. Der Konflikt, wie er bis dahin Nordirlands Leben bestimmte, war und ist vorbei – dafür bestehen andere Konflikte weiter und mit ihr auch neue Formen der Gewalt, die nun auf andere Art und Weise gelöst werden müssen (Jarman 2004). Wie bereits zu Beginn des Beitrages angeführt, bedeutet Frieden Arbeit. Die Zwischenwelt, in der Nordirland sich befindet, wird bestimmt von der Suche nach neuen Identitäten und Aufgaben in einer Gesellschaft, die bis 1998 auf Konflikt eingerichtet war. Erfolgsfaktoren des Abkommens waren dabei sicherlich auch, dass die Paramilitärs, allen voran die IRA, eingebunden wurden und dass die Gefangenen freikamen, die heute bei der Umsetzung der Friedensstrategien vielfach eine zentrale Rolle spielen. Und dennoch gibt es immer noch Gewalt, auch solche, die sich explizit gegen den Frieden als solchen richtet. Diese geht hauptsächlich von neuen Splittergruppen der IRA8 aus, die den Frieden als einen Ausverkauf ihrer Ideale ansehen. Die beschriebenen Dimensionen des Konfliktes haben deutlich gemacht, dass Frieden in Nordirland nicht weniger bedeutet, als die Schaffung neuer Institutionen, den radikalen Bruch mit einigen Traditionen wie zum Beispiel dem Namen und der Zusammensetzung der Polizei oder eine Hinwendung zu neuen Problemen, die nun nicht mehr unter der Prämisse einer gesellschaftlichen Spaltung angesehen werden dürfen. Das alles fordert viel von den Menschen, hat ihnen aber seit 1998 auch eine veränderte wirtschaftliche Lage gebracht, die mittlerweile immer weniger bereit sind aufzugeben. Das Karfreitagsabkommen war nicht das Allheilmittel für die Lösung des Konfliktes, aber bestimmt die Möglichkeit, sich dezidiert mit den Ursachen der noch verbliebenen Gewalt und der andauernden Konflikte zu befassen. So sind die Paramilitärs auch heute noch stark und ein Machtfaktor in 8 Continuity IRA oder Real IRA, vereinzelt auch loyalistische Gruppen.

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ihren Stadtvierteln. Es gelingt aber immer weniger, die von ihnen ausgeübte Gewalt allein mit der anderen Gruppe zu erklären. Die Gewalt in Nordirland hat sich (nicht in jedem Fall zum Besseren) gewandelt – auf der anderen Seite haben sich auch die Strategien der Lösung massiv geändert. Der Staat tritt mehr und mehr als Rechtsstaat auf und gewinnt das Vertrauen der Bürger, so dass seine Strategien zunehmend anerkannt werden und eine gemeinsame Zukunft für die Menschen in Nordirland vorstellbar wird. Unruhen zwischen einzelnen kleinen Gruppen, neue Formen der Kriminalität, oft auf Basis alter paramilitärischer Organisationen, selbst Anschläge auf Soldaten (wie zum Beispiel im März 2010) bedrohen nicht den Friedensprozess, wie er seit 1998 in Gang ist. Der Fahnendisput 2012/2013 Im Herbst 2012 bis zum Januar 2013 gab es vor allem in Belfast einen fast bizarren Streit darüber, wie oft der Union Jack, die Fahne des Vereinigten Königreiches, über dem Belfaster Rathaus wehen darf. Die beschlossene Beschränkung auf 50 Tage im Jahr rief bei den Protestanten Verbitterung und heftigen Protest hervor. Straßenschlachten und gewalttätige Demonstrationen waren über Wochen hinweg an der Tagesordnung. Fast sah es so aus, als wenn die Situation eskalieren und den Friedensprozess doch in Frage stellen würde. Dass die Situation auf dem Verhandlungswege und letztlich mit friedlichen Mitteln gelöst wurde, zeigt, dass die Gesellschaft an innerer Stärke gewonnen hat – auch wenn ich davon überzeugt bin, dass solche und ähnliche Situationen noch häufiger vorkommen werden. Die Bedeutung von Symbolen, einer darauf ausgerichteten Erinnerungskultur und ihre Bedeutung für die aktuelle Politik sind viel zu ausgeprägt, als dass man diese Faktoren unberücksichtigt lassen könnte. Die Spannungen sind Teil des Aushandlungsprozesses einer neuen nordirischen Gesellschaft, deren Geschichte geprägt war von Spaltung und Gewalt – sie sind aber nicht deren Ende. Vielmehr ist der Wille vorhanden, trotz solcher Spannungen an vielen anderen Stellen weiterzumachen, Lösungen zu finden und ein ›normales‹ Leben zu führen. Der Entschluss ist Ausdruck eines stabilen (Un) Friedens, der weit entfernt vom Konflikt vergangener Tage ist, trotz noch ungelöster sozialer, politischer und wirtschaftlicher Probleme und vorkommender Gewalt. Diese Gewalt stellt den Staat nicht in der gleichen Weise in Frage, wie sie das einmal getan hat. Die Möglichkeiten aller den Frieden zu gestalten, sind vielfältig. Die konstruktiven Ambivalenzen lassen das zu – das bedeutet aber auch ein hohes Maß an Geduld und Frustrationstoleranz, damit der Prozess weiterhin positive und gewaltarme Entwicklungen befördern kann und andere Geschichte sein lässt. Der Frieden ist deshalb ein Erfolg, weil die Menschen in Nordirland die

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Chance ergriffen haben, trotz der fehlenden gemeinsamen (oder als gemeinsam empfundenen) Geschichte eine Veränderung herbeizuführen – und das erfolgreich seit 1998. Die Bedingungen waren aufgrund der aufgeführten Aspekte und Dimensionen nicht einfach und sind es nach wie vor nicht. Aber 14 Jahre Friedensarbeit sind dabei durchaus bedeutsamer als eine gewalttätige Auseinandersetzung, deren Ursachen nur von einer Gesellschaft in den Griff bekommen werden können, die sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt, die offensichtlichen Widersprüche anerkennt und in die Verhandlungen mit einbezieht. Daran vorbeizuschauen, hieße keine Verantwortung übernehmen zu wollen, sondern die Schuld abzuwälzen. Fragen zum Weiterdenken Eignet sich das Friedensmodell ›Nordirland‹ als Vorbild für andere Konflikte in der Welt wie zum Beispiel Israel/Palästina? Kann Frieden die bestehenden Spaltungen tatsächlich überwinden oder verlagern diese sich nur in andere gesellschaftliche gewaltlose, aber dennoch konfliktträchtige Sphären? Gibt es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Wohlstand und der Bereitschaft zum gewaltsamen Konflikt? Was bedeutet das für die Zukunft Nordirlands?

Leseempfehlungen Conflict Archive on the Internet (CAIN): Online-Ressource zu allen Aspekten des Konfliktes, mit Texten, Filmen und Fotos, verfügbar unter http://cain.ulst.ac.uk/. Hirschbiegel, Oliver (Regisseur): Five Minutes of Heaven mit: Liam Neeson und James Nesbitt, 2009 (Film über Versöhnung, Schuld, Rache und Vergebung zwischen verfeindeten Parteien im Friedensprozess). Northern Ireland Community Research Council: What made Now in Northern Ireland? Belfast 2008. Wilson Robert McLiam: Eureka Street, Belfast. Frankfurt/Main 1999 (Roman).

Literatur Barton, Brian: A Pocket History of Ulster. Dublin 1999. Baumann, Marcel: Zwischenwelten: Weder Krieg noch Frieden. Über den konstruktiven Umgang mit Gewaltphänomenen im Prozess der Konflikttransformationen. Wiesbaden 2008. Bryan, Dominic: Orange parades: the politics of ritual, tradition, and control. London 2000. Dingley, James: »Constructive Ambiguity and the Peace Process in Northern Ireland«, in: Low Intensity Conflict & Law Enforcement 2005/13 (1), S. 1 – 23.

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Ellison, Graham / Smyth, Jim: The crowned harp: policing Northern Ireland. London 2000. Elvert, Jürgen: Geschichte Irlands. München 1993. English, Richard: Armed struggle: the history of the IRA. London 2003. Fay, Marie-Therese / Morrissey, Mike / Smyth, Marie: The Cost of the Troubles. London 1999. Guelke, Adrian: »Constructive Ambiguities: Peacebuilding in Northern Ireland«, in: Demilitarizing Conflicts. Learning Lessons in Northern Ireland, Palestine and Israel. (Loccumer Protokolle 2009/64 (08)), S. 15 – 25. Jarman, Neil: »From War to Peace. Changing Pattern of Violence in Northern Ireland 1990 – 2003«, in: Terrorism and Political Violence 2004/16 (3), S. 420 – 438. Kandel, Johannes: Der Nordirland-Konflikt: von seinen historischen Wurzeln bis zur Gegenwart. (Politik- und Gesellschaftsgeschichte) Bonn: 2005. König, Michael: »Gewalttätiger Gruß aus der Vergangenheit«, in: Süddeutsche Zeitung 2012 (04.09.). Verfügbar unter : http://sz.de/1.1458543 [08. 05. 2013]. Otto, Frank: Der Nordirlandkonflikt: Ursprung, Verlauf, Perspektiven. München 2005. O’Leary, Brendan / MacGarry, John: The politics of antagonism: understanding Northern Ireland. Conflict and change in Britain series: a new audit. London 1995.

Mariska Kappmeier und Alexander Redlich

Capacity Building: Aufbau von Kapazitäten für eine Kultur friedlicher Konfliktregulierung durch Mediation

Mediation: Kapazitäten für friedliche Konfliktbearbeitung Friedensbildungsprogramme sollen in verhärteten Konflikten, wie im Konflikt zwischen der Republik Moldawien und seiner abgespaltenen Provinz Transdniestrien, unter anderem eine Kultur gewaltfreier Konfliktbearbeitung in der Bevölkerung fördern. Anfang der 1990er Jahre wurde ›Capacity Building‹ von der UNDP (United Nations Development Programme) als ›State of the Art‹ für zivilgesellschaftliche Entwicklungsprozesse propagiert. Seither wurden viele Konzepte erarbeitet. Im Kern besteht Kapazitätenbildung darin, individuelle Kompetenzen zu vermitteln, institutionelle Strukturen zu gestalten und kulturelle Werte zu entwickeln sowie sie als Ressourcen für die friedliche Regulierung von Konflikten zu nutzen (UNESD 2006). Bei politischen Konflikten kann es sich sowohl um Konflikte zwischen nationalen, ethnischen und kulturellen Großgruppen als auch zwischen kommunalen oder organisationalen Interessengruppen handeln. Konflikte tendieren dazu, sich spaltend auf alle Mitglieder der beteiligten Gruppen auszuweiten. Subgruppen bedrohen sich gegenseitig durch nationalistische, religiöse oder rassistische Aktionen. Sachbezogene Auseinandersetzungen um Ressourcen werden meist durch gegenseitige Vorwürfe der Konfliktparteien aufgeheizt und durch gegenseitige kollektive Zuschreibungen negativer Eigenschaften bis hin zur Dämonisierung verkompliziert und verzögert, so dass langwierige politische Konflikte entstehen (Rothman 1997). Für die Lösung solcher Konflikte bedarf es in den Bevölkerungen einer Kultur friedlicher Konfliktbearbeitung. Die Mitglieder müssen kompetent über Konflikte und ihre Lösung kommunizieren können. Ihre Konfliktgespräche müssen durch institutionelle Strukturen und kulturelle Werte wie Selbstbestimmung, Selbstwirksamkeit, Gleichberechtigung und Gewaltfreiheit unterstützt werden (Höck u. a. 2011). In Zeiten politischer Spannungen zwischen Großgruppen hat es eine friedliche Kultur jedoch schwer sich zu entwickeln. Politische Konflikte fördern eher eine Kultur der gewalttätigen Durchsetzung eigener Interessen.

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Ein Konflikt ist aus Sicht der Mediation erfolgreich bearbeitet, wenn es zwischen den Parteien zu Vereinbarungen gekommen ist, die eine Lösung sachbezogener Anliegen zur annähernden Zufriedenheit aller Parteien sowie eine Normalisierung der Beziehungen erwarten lassen. Das heißt, Vorwürfe und Eigenschaftszuschreibungen finden nicht mehr kollektiv statt, sondern höchstens auf individueller Ebene. Mediatoren gehen davon aus, dass Vereinbarungen umso nachhaltiger sind, je größer der Einfluss derjenigen ist, die an der Umsetzung beteiligt sein werden. Dies sind in der Regel die Konfliktparteien selbst. Dementsprechend ist es am besten, wenn sie einen großen Einfluss auf die Konfliktbearbeitung und das Ergebnis haben: Sie handeln – wenn eine grundsätzliche Bereitschaft zur Lösung vorliegt – ihre Positionen eigenständig aus und entscheiden selbst über die Lösung. Denn wer selbst Einfluss auf die Lösung und ihre Details nimmt, ist meist besser informiert und motiviert als derjenige, dem die Lösung von außen beigebracht wird. Er ist darüber informiert, welche Interessen durch die Lösung befriedigt werden (Ziel) und wie die Lösung konkret umgesetzt wird (Weg). Er ist motiviert durch seine Identifikation mit der ausgehandelten Lösung. Diese wird gewissermaßen durch den Konfliktbearbeitungsprozess zum Teil der Person. Eigenständig handelnde Konfliktparteien können die Konfliktlösung wegen ihrer Informiertheit kompetent umsetzen und setzen sich Kraft ihrer Motiviertheit engagiert für den Erfolg ein. Sie wissen, was sie tun müssen und warum sie es tun. Hier wird davon ausgegangen, dass die für die Umsetzung erforderlichen materiellen und strukturellen Mittel zur Verfügung stehen. Mediation ist auf eigenständige Konfliktbearbeitung ausgerichtet. Mediation unterscheidet sich dadurch von Entscheidungen durch verantwortliche Dritte und Gerichtsbeschluss, dass Mediator(inn)en sich völlig aus der inhaltlichen Entscheidung heraushalten. Sie sollen keine Lösungen vorschlagen oder nahelegen und dürfen schon gar nicht darüber (mit)entscheiden. Im Sinne einer klaren und wahren Verständigung wirken sie ausschließlich auf das Prozessuale ein: Den Ablauf der Konfliktbearbeitung und die Kommunikation der Parteien über den Konflikt, damit diese nach Möglichkeit eine gemeinsam getragene, inhaltliche Entscheidung und passende Lösungen finden. Dies hat sich bei Konflikten zwischen zwei Parteien recht gut bewährt. Mit diesem Grundsatz hat sich Mediation in den westlichen Gesellschaften etabliert (Montada/Kals 2001).

Mehrparteien-Mediation: Konfliktlösung und -transformation Wenn es um Konflikte mit mehr als zwei Parteien geht, sprechen wir von einer ›Mehrparteien-Mediation‹. Hierbei haben die Mediatoren neben der Vermittlung zwischen den Parteien auch die Aufgabe, die Gruppendynamik zu mode-

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rieren. Es handelt sich um eine fortgeschrittene Form der Konfliktvermittlung, für die Mediatoren weitergebildet werden sollten. Bei einer Mehrparteien-Mediation bei kommunalen und organisationalen Konflikten in Krisengebieten können nicht nur Angehörige der gesellschaftlichen Basis zusammenkommen, sondern auch einflussreiche Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft. Diese Gespräche können mit Hilfe kompetenter Mediatoren professionell durchgeführt werden, die selbst Mitglieder der verfeindeten Bevölkerungen sind und gemeinsam ausgebildet wurden. Konfliktbearbeitung von politischen Konflikten mit Hilfe von Mehrparteien–Mediation geschieht letztlich in überschaubaren Gruppen. In den vergangenen 60 Jahren wurden mehrere Ansätze für die praktische Arbeit in solchen Gruppen entwickelt. Politische Konfliktbearbeitung findet somit in sozialen Kleingruppen statt, in denen einzelne Menschen mit ihren persönlichen Gewohnheiten, Sichtweisen, Gefühlen und Bedürfnissen aufeinander treffen. Ein Beispiel ist der Ansatz des sogenannten ›Interactive Problem-Solving Workshop‹ (Kelman 1986, 2004), der auf Arbeiten von Burton (1969) basiert. Dabei wird auf sozialpsychologisches Wissen zurückgegriffen, um die konstruktiven gemeinsamen politischen Ziele der Konfliktparteien zu erreichen (Fallstudien siehe Fisher 2005). Mehrparteien-Mediation muss sich daher der Schnittstelle von Politik und Individuum stellen. Diese Aufgabe erfordert, dass nicht nur eine sachliche Entscheidung politisch verhandelt, sondern zugleich auch das sozioemotionale Miteinander umgestaltet wird – in der Gesprächsgruppe selbst und für die Menschen, die davon betroffen sind. Wir bezeichnen diese Form der Konfliktvermittlung als politisch-psychologische Mehrparteien-Mediation, die Kenntnisse und Interventionen der Politikwissenschaft und der Psychologie heranzieht. Dabei geht es im Kern um Verletzungen und Bedrohungen der kollektiven Identität, um die Erkundung und Veränderung von gegenseitigen negativen Eigenschaftszuschreibungen (›Stereotypen‹, ›Kategorisierungen‹), die oft die Rechtfertigungen für die Möglichkeit gegenseitiger Aufhetzung von Bevölkerungen bieten (Rothman 2012). So gibt die Theorie der ›sozialen Identität‹ (Tajfel/Turner 1986) wichtige Hinweise für die Funktion von kollektiven Vorurteilen und Abwertungen der anderen Seite für die Aufwertung der eigenen Identität. Für die praktische Mehrparteien-Mediation im kommunalen oder organisationalen Bereich ziehen wir auch psychologische Erkenntnisse über Selbstbestimmung (Deci/Ryan 2002) als Grundlage eines partizipativen Vorgehens heran, um die Betroffenen selbst, so weit wie möglich, bestimmen zu lassen, welche Konfliktaspekte sie bearbeiten wollen, wie sie sich die Konflikte erklären und sie lösen wollen. Das im Folgenden beschriebene Projekt zielt darauf ab, die Entwicklung von Kulturen einer friedlichen Konfliktbearbeitung (Redlich 2011) in politischen Krisengebieten durch den Aufbau von Netzwerken kompetenter Mediatoren zu

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unterstützen. Diese sollen bei kommunalen und organisationalen Konflikten Workshops mit dialogbereiten Vertretern der Interessengruppen moderieren. Mit der Weiterbildung lokaler Mediatoren in Mehrparteien-Mediation sollen die Potentiale zur friedlichen Beilegung von Konflikten in den Bevölkerungen erhalten und ihre Kompetenzen ausgebaut werden. Damit werden Ressourcen zur Bewältigung der politischen Spannungen zwischen den Großgruppen im Bereich von Kommunen und Organisationen erschlossen. Überdies erwarten wir, dass diese Fachkräfte als Vorbilder und Multiplikatoren, im Sinne einer Kultur friedlicher Konfliktlösungen, auf ihre Gesellschaften ausstrahlen. Ergebnisse der Konfliktforschung haben gezeigt, dass bei festgefahrenen Konflikten wie in Moldawien ein höheres Engagement in der Bevölkerung initiiert und die Zivilgesellschaft gestärkt werden kann (Kotchikian 2006, 2008). Diese Stärkung kann durch Weiterbildungsmaßnahmen und Interventionen erreicht werden. Vor allem durch moderierte Dialoge bei Konflikten in der Zivilgesellschaft können Brücken zwischen den Konfliktbeteiligten geschlagen werden. Im Idealfall entwickelt sich ein institutionell, rechtlich, politisch und zugleich kulturell abgesichertes System gewaltfreier Konfliktregulierung. Nachhaltige Konfliktbearbeitung erfordert die Umgestaltung des Konfliktsystems, seine Transformation. Dabei geht es neben der Lösung des aktuellen Konfliktes zwischen den Konfliktparteien immer auch um die Umgestaltung eines instabilen, dysfunktionalen Konfliktsystems in ein (funktionales) Konfliktlösungssystem. Dies soll durch die Gestaltung von persönlichen und kollektiven Lernprozessen und Strukturen erreicht werden, die es den Betroffenen und Beteiligten erleichtern, zukünftige Konflikte frühzeitig zu erkennen und zu lösen. Kriterien der transformativen Mediation (Bush/Folger 2009) und Moderation (Freimuth/Barth 2013) verweisen auf Grundsätze wie Partizipation, Empowerment, Partnerschaftlichkeit, Allparteilichkeit, Verständlichkeit, Struktur, Transparenz, kulturelle Sensibilität, Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche (Sub)Kulturen und Ergebnisoffenheit. Der hier vertretene Mehrparteien-Mediationsansatz richtet sich sowohl auf die politischen als auch psychologischen Aspekte des Konflikts. Er deckt die Dynamik interpersoneller Beziehungen der in den Konflikt verwickelten Personen auf und regelt ihre Kommunikation vor dem Hintergrund des politischen Konflikts. Der Ansatz bringt die Konfliktparteien zusammen, so dass sie gemeinsam konkrete Maßnahmen planen können, um den Konflikt anzusprechen, zu klären und zu lösen. Mehrparteien-Mediation bietet eine klare Struktur und beherbergt ein breites Repertoire verschiedener Methoden, um den Prozess zu unterstützen (Stagge/Redlich 2007). In dieser Form der Mediation wird lösungsorientiertes Verhandeln mit Ansätzen der transformativen Mediation (unter anderem Thomann 2006) verknüpft. Während die eine Variante entscheidungs- und ergebnisorientiert ist

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und sich darauf konzentriert, konkrete Lösungen auszuhandeln, fokussiert die andere auf die Beziehungsklärung und -stärkung zwischen den Parteien. Die Mehrparteien-Mediation kombiniert beide Foki und konzentriert sich nicht nur auf die Problemlösung, sondern strebt auch eine tiefergehende Veränderung der Beziehung zwischen den Kontrahenten an. Diese Integration hebt den Ansatz von anderen Mediations-Konzepten ab, die in der Regel nur einen Schwerpunkt setzen. Der Mehrparteien-Mediationsansatz hingegen beinhaltet explizit die Klärung der emotionalen und motivationalen Hintergründe; die Parteien klären ihr Erleben des Konfliktes und ihre Beziehung. Dann folgen lösungsbezogene Schritte, indem Maßnahmen ausgehandelt und deren Umsetzung gesichert werden. Je nach Art des Konflikts widmet der integrierte Ansatz mehr Zeit für den einen oder anderen Schritt. Er lehnt aber weder die eine noch die andere Variante und die damit verbundene Wertvorstellung ab, sondern sieht beide als Potentiale und bildet Mehrparteien-Mediatoren in beiden Richtungen aus. Damit ermöglicht er eine situationsangepasste Schwerpunktsetzung: Bei Konflikten um Ressourcenverteilung oder andere sachliche Zielsetzungen liegt der Fokus auf dem Aushandeln von Sach- oder Strukturentscheidungen. In vielen Fällen, vor allem bei komplexen und langwierigen Konflikten, weisen Konflikte beide Aspekte auf. Dann muss der gesamte Prozess sowohl Lösungen für einzelne Sachprobleme entwickeln als auch Identitätsverletzungen und Beziehungsstörungen aufarbeiten.

Das Projekt in Moldawien-Transdniestrien Hintergrund des Konfliktes Die folgenden Überlegungen sollen am Beispiel des Spannungsgebiets Moldawien-Transdniestrien zeigen, wie man den Aufbau von Kapazitäten für eine Kultur friedlicher Konfliktbearbeitung systematisch fördern kann. Kurz bevor sich Moldawien im Zuge der Auflösung der Sowjetunion (31. Dezember 1991) als unabhängig erklärte, löste sich die Region Transdniestrien von Moldawien ab. Im Verlauf der nächsten Monate eskalierten die Spannungen zwischen Transdniestrien und Moldawien zu einem Sezessionskrieg, der durch die Intervention der russischen Armee beendet wurde. Transdniestrien ist ein De-facto Staat ohne internationale Anerkennung. Die Folgen des mangelnden politischen Friedens finden sich in verschiedenen zivilen Bereichen Moldawiens und Transdniestrien: Das Fehlen von konkreten Vereinbarungen und Verträgen sowie die Machtspiele der beteiligten politischen Akteure beeinflussen die Beziehung zwischen den beiden Zivilgesellschaften negativ (Kappmeier 2012).

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Abbildung 1: Landkarte Moldawien und Trandsniestrien Quelle: Alexander Redlich.

Die beiden Landesteile werden durch eine inoffizielle Grenze getrennt, die von russischen Truppen gesichert wird. Negative Auswirkungen dieser Grenze spüren vor allem die grenznahen Gemeinden auf beiden Seiten des Dniesters. So berichtet der Bürgermeister einer geteilten Gemeinde Während sein Teil der Gemeinde Moldawien unterstellt ist, liegen die gemeindeeigenen Felder auf dem Gebiet Transdniestriens. Transdniestrische und russische Soldaten kontrollieren die Grenze und regulieren den Zugang zu den Feldern aus seiner Sicht willkürlich. Vorhandene Regelungen werden gelegentlich nicht umgesetzt oder Verträge nicht verlängert. Die Beziehungen zwischen den beiden Gemeindeteilen sind durch Vorwürfe und Misstrauen gefärbt. So verlässt der Bürgermeister aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen nicht mehr unbewaffnet sein Haus. Zugleich sind beide Gemeindeteile als Folge des politischen Konfliktes mit einer hohen Arbeitslosen– und Migrationsquote konfrontiert. Beide Seiten misstrauen zutiefst der politischen Elite der jeweils anderen Seite und unterstellen dieser egoistische Ziele, die zu ihren Lasten erreicht werden sollen (Kappmeier 2012).

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In solchen Konflikten können lokale Mediatoren helfen. Ein geschultes moldawisch-transdniestrisches Mediatorenteam kann mit den Parteien auf beiden Seiten arbeiten. Nach Vorgesprächen könnten sie Dialogworkshops initiieren, an denen moldawische und transdniestrische Vertreter der zuständigen Behörden sowie Vertreter beider Gemeinden teilnehmen. Das Prinzip der Workshops ist es, einen möglichst offenen Dialog zwischen den Teilnehmern zu ermöglichen und vorhandene Spannungen abzubauen. In den Workshops können Ängste und Hoffnungen der Teilnehmer ausgelotet und die Parteien unterstützt werden, um konstruktive Lösungen zu finden. Darüber hinaus kann eine solche Konfliktlösung gewissermaßen Modell stehen für entsprechende Aktivitäten in anderen Konflikten. Mediatoren können als Vorbilder für konstruktive Konfliktbearbeitung dienen und die mit dem speziellen Ansatz der Mediation verbundenen Werte, Methoden und Verhaltensweisen vermitteln.

Entstehung des Mediations-Projektes Durch ausführliche Interviews untersuchte Kappmeier (2012) eine repräsentative Stichprobe einflussreicher Personen aus Moldawien und Transdniestrien (Wissenschaftler, Anwälte, Journalisten, Geschäftsleute, Lehrer und auch aktive Politiker). Die Ergebnisse zeigen, dass die Befragten die politische Elite weitgehend als Ursache des Konflikts sehen und keine nennenswerten ethnischen, religiösen oder nationalen Spannungen zwischen den Bevölkerungen benennen. Allerdings zeigen die Aussagen auch, dass die lange Dauer des Konflikts die beiden Bevölkerungen voneinander entfremdet und sich die Beziehungen zwischen ihnen verschlechtern. Inzwischen manifestiert sich der Konflikt auch in sprachlichen, gesetzlichen, institutionellen und historischen Aspekten. Sprachlich und historisch werden Trennungslinien zwischen rumänisch und russisch sprechender Bevölkerung betont, obwohl beide Sprachen auf beiden Seiten gesprochen werden. Wie im Eingangsbeispiel zeigt sich im Grenzgebiet eine beträchtliche Anzahl von ungelösten dauerhaften Konflikten. Seit 2012 findet eine konstruktive Entwicklung auf der politischen Ebene in dem Spannungsgebiet Moldawien-Transdniestrien statt, die sich in einer Reihe von politischen Gesprächen äußert, die von der ›Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa‹ (OSZE) regelmäßig organisiert werden. Dies bietet für unser Projekt günstige Bedingungen. Allerdings herrscht in der Region ein Mangel an erfahrenen lokalen Mediatoren. Es stehen somit keine personellen Kapazitäten zur Verfügung, um bei politischen, organisatorischen und kommunalen Konflikten deeskalierend und partizipativ einzugreifen (Kappmeier 2012).

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Dies wird durch eine weitere Untersuchung gestützt (Redlich/Kappmeier/Kilburg i.V.). Im Rahmen der Untersuchung wurden Interviews mit MediationsFachkräften über ihre Sicht von Mehrparteien-Konflikten in Kommunen und Organisationen sowie Möglichkeiten der Konfliktvermittlung durchgeführt. Nach Auffassung der Befragten gibt es eine große Zahl an Konflikten zwischen Arbeitsgruppen in moldawischen und transdniestrischen Behörden und Unternehmen, zwischen Behörden und Bevölkerung bei Großprojekten sowie innerhalb von Leitungsgruppen in Wirtschaftsorganisationen. Überdies gibt es interethnische Konflikte, die in einigen Kommunen auftreten. Die Befragten äußerten nahezu durchgängig die Auffassung, dass die oben genannten Konflikte von den Beteiligten zu oft und zu lange nicht als Konflikte identifiziert werden. Man kann sagen, dass die mangelnde Konfliktakzeptanz tiefere Ursachen in geringer Erfolgshoffnung und weit verbreiteter Misserfolgserwartung hat. Dies zeigt sich in der geringen Hoffnung in die Möglichkeit selbstbestimmter Interessenvertretung, im schwachen Selbstvertrauen, in einem tiefsitzenden Glauben an Hierarchie und Machtpotenziale. Wir bezeichnen dies als »Kultur der Konfliktvermeidung«. Für die fruchtbare Bearbeitung dieser Konflikte sehen die Befragten vor allem Probleme in den mangelnden personellen, institutionellen und kulturellen Kapazitäten. Die Befragungsergebnisse verweisen somit auf drei Zielsetzungen: Weiterbildung für Mehrparteien-Mediation (personelle Kapazitäten), Entwicklung eines grenzüberspannenden Netzwerks von Mediatoren (institutionelle Kapazitäten) und Förderung eines Wertgefüges der Konfliktakzeptanz (kulturelle Kapazitäten). Das bedeutet, die allgemeine Überzeugung zu vermitteln, dass Konflikte von den Konfliktparteien selbstbestimmt, gleichberechtigt und gewaltfrei bearbeitet werden können. Im Folgenden wird erläutert, wie das Konzept der Mehrparteien-Mediation in Kooperation mit regionalen Partnern an lokale Fachkräfte beider Seiten vermittelt wird, die ein grenzüberspannendes Netzwerk bilden.

Konkret: Aufbau von Kapazitäten durch Mediation In Moldawien-Transdniestrien soll eine Kultur friedlicher Konfliktbearbeitung durch den Aufbau eines grenzüberspannenden Netzwerks von lokalen Mehrparteien-Mediatoren gefördert werden. Dazu sind vier Entwicklungsstufen vorgesehen (siehe Abbildung 2). Kappmeier (2012) hat auf der ersten Stufe durch eine umfangreiche Konfliktanalyse identifiziert, welche Aspekte des politischen Konflikts aus Sicht von Vertretern der Zivilgesellschaft in Moldawien und Transdniestrien wichtig sind. Ein Hauptergebnis der Untersuchung war der Wunsch der Befragten nach der

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Abbildung 2: Schritte zum Aufbau eines lokalen Konfliktmediationsnetzwerks Quelle: Mariska Kappmeier / Alexander Redlich

systematischen Bearbeitung von Konflikten (Stufe 4) durch geeignete Fachkräfte, die auf Stufe 2 ausgebildet werden. Dafür ist der Aufbau eines Netzwerks von Mediatoren notwendig, welches die institutionellen Voraussetzungen für eine systematische Arbeit bereitstellt (Stufe 3). Das Projekt soll drei Aufgaben erfüllen (siehe Abbildung 3): Zum einen dient es der Kompetenzvermittlung der Teilnehmer. Es erweitert die personellen Ressourcen für die Behandlung von Konflikten in Kommunen und Organisationen. Der Kompetenzbegriff schließt neben theoretischem Wissen und praktischem Können auch entsprechende Werthaltungen ein. Daher gehört auch Selbsterfahrung und Reflexion zur Weiterbildung. Die Teilnehmer lernen, wie sie Spannungen und Konflikte in der Lerngruppe durch die Methoden der Mehrparteien-Mediation bearbeiten können. Zum Zweiten soll im Zuge der gemeinsamen Weiterbildung und Fallsupervision ein grenzüberspannendes Netzwerk von Mediatoren aufgebaut werden, die eine Brücke zwischen den antagonistischen Bevölkerungen bilden.

Abbildung 3: Drei Schwerpunkte der Kapazitätenbildung Quelle: Mariska Kappmeier / Alexander Redlich

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Zum Dritten stehen die Mediatoren später als Multiplikatoren zur Verfügung, um in ihren Bevölkerungen Werthaltungen, Denkmuster, Gefühlsverarbeitung und Praxis einer Kultur der selbstbestimmten, gleichberechtigten und gewaltfreien Konfliktbearbeitung zu vermitteln. Im Folgenden stellen wir die Weiterbildung ausführlich dar, deren Konzeptualisierung weitgehend abgeschlossen ist und gehen kurz auf die nächsten Schritte der Netzwerk- und Kulturbildung ein.

Personelle Kapazitätenbildung: Notwendigkeit eines kulturell angepassten Weiterbildungskonzeptes Mehrparteien-Mediation erfordert einen Aufbaukurs für bereits ausgebildete Mediatoren. Neben der genannten höheren Komplexität von MehrparteienKonflikten erfordert kulturelle Heterogenität sensible Konzepte, sowohl für die Mediation als auch für die Weiterbildung. Das bedeutet nicht, dass die Prinzipien der Mediation – Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Gewaltfreiheit – aufgegeben werden, wenn sie mit Wertprioritäten in der Region kollidieren wie etwa Akzeptanz von Machtdistanz und Streben nach Stärke. Mediation und Weiterbildung schaffen über ›dosierte Diskrepanzen‹ (Piaget 1986) im Bereich kultureller Wertvorstellungen konkrete Anforderungen zu ihrer Lösung beziehungsweise zur Entwicklung von Toleranz gegenüber Ambiguität und Ambivalenz. Das Format des Workshops als Weiterbildungsinstrument ermöglicht es, solche Diskrepanzen zu erkennen und zu reflektieren sowie gemeinsam zu bearbeiten. Daher wird eine gemeinsame Weiterbildung für moldawische und transdniestrische Fachkräfte angeboten. Durch diese Mischung bietet das Training günstige Bedingungen für das Selbsterfahrungslernen. Trotz der politischen Spannungen sind die Teilnehmer am Austausch mit der anderen Seite interessiert und als Mediationsspezialisten hochmotiviert, ihre Konflikte friedlich auszutragen. Rückgrat der Mehrparteien-Mediation und der Weiterbildung ist eine siebenstufige Handlungsstrategie (Abbildung 4). Wir skizzieren nur die wesentlichen Merkmale: Rahmenbedingungen, Grundstruktur der Weiterbildung, Lernen an eigenen Fällen und kulturelle Sensibilität.

Rahmenbedingungen und Grundstruktur der Trainingseinheiten In Moldawien-Transdniestrien umfasst die Weiterbildung in MehrparteienMediation jeweils zwei viertägige Kurse mit verschiedenen Teilnehmergruppen.

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Der Umfang wird im Laufe der nächsten Jahre ausgeweitet werden. Insgesamt wurden bisher etwa 30 Mediatoren in Mehrparteien-Mediation weitergebildet. Sie kamen jeweils zur Hälfte aus Transdniestrien und Moldawien. Für jeden Schritt der siebenstufigen Handlungsstrategie werden in kurzen Inputs zunächst die Begrifflichkeiten mit der zugrundeliegenden Theorie vermittelt: Es werden zentrale Leitfragen und Kriterien für den Abschluss des jeweiligen Schrittes gemeinsam herausgearbeitet. Sodann wird das praktische Vorgehen mit mindestens einer idealtypischen Methode illustriert. Diese Methode wird in Kleingruppen von den Teilnehmern selbst erprobt. Schließlich werden Erfahrungen aus der Kleingruppenarbeit im Plenum zusammengetragen. Dabei thematisieren die Teilnehmer besondere Schwierigkeiten. Die Kursleiter leiten die Teilnehmer dazu an, für schwierige Situationen Lösungsmöglichkeiten und alternative Methoden zu entwickeln (Redlich/Elling 2000).

Lernen an eigenen Fällen: Intervision Die Trainer illustrieren umfangreiche Teile des Gesamtkonzepts an Fällen der Gruppenmitglieder, indem sie (die Trainer) die Rolle der Mehrparteien-Mediatoren einnehmen und das fallspendende Gruppenmitglied den Fall mit den anderen Teilnehmern inszeniert. Diese Rollenspiel-Mediationen werden anschließend im Plenum reflektiert und im Hinblick auf die Behandlung des tatsächlichen Falls ausgewertet. Die Ausbildungsgruppe wird damit zugleich zur Intervisionsgruppe – einer professionellen Lerngruppe, deren Mitglieder sich einander bei ihren Konfliktberatungsfällen fachlich und emotional unterstützen. Dieser Teil der Weiterbildung dient den Teilnehmern als Modell für ihre zukünftige Intervision – eine zentrale Funktion des Mediatorennetzwerkes. Beispiel aus der Praxis Beispielsweise ging es in einem aktuellen Konfliktfall einer Teilnehmerin um einen Konflikt zwischen Lehrkräften und Schulleitung einer Schule, der eskaliert war und sich auf die zuständige Schulbehörde ausgeweitet hatte. Die Trainer moderierten die Auftragsgestaltung (Schritt 1) mit Teilnehmern, die die Rollen der Vertreter der Schulleitung, des Kollegiums sowie der Schulbehörde einnahmen. Überdies wurde die Sammlung von Themen und die Auswahl eines zentralen Teilthemas durchgeführt (Schritt 3): ›Vertrauen zwischen der Schulleiterin und stellvertretendem Schulleiter‹. Zu diesem konfliktträchtigen Thema klärten die ›Mediatoren‹ dann interessante Hintergründe auf (Schritt 4): Die Schulleiterin verdächtigte ihren Stellvertreter mangelnder Loyalität und Unterstützung des rebellierenden Kollegiums. Er kritisierte an ihr umgekehrt mangelnden Einsatz

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Abbildung 4: Sieben Schritte der Mehrparteien–Mediation Quelle: Mariska Kappmeier / Alexander Redlich

für Schule und Kollegium und die ›Pflege‹ ihrer privaten Kontakte zu hochrangigen Behördenvertretern. Die Auswertung des Rollenspiels befasste sich nicht nur mit den drei illustrierten Schritten in der Mediation, sondern darüber hinaus mit verschiedenen Optionen, von der wechselseitigen Kritik zum gegenseitigen Verstehen zu kommen. Eine neue Option zeigte die Möglichkeit, wie die Mediation dazu führt, das vorhandene Misstrauen zunächst einmal zu akzeptieren. Dadurch wurde der ständige Kritikpunkt (»Es ist schlimm, dass Du mir nicht vertraust«) und der Anspruch (»Du musst mir vertrauen«) vorläufig beseitigt. Auf dieser Klärung konnten schließlich in Schritt 4 vertrauensbildende Maßnahmen entwickelt werden: »Was muss der andere tun, damit Sie ein bisschen mehr Vertrauen entwickeln können?« Kulturelle Sensibilität im Umgang mit den Sprachen und Trainingsmethoden Auf dem Workshop wurden neben den englischen Fachbegriffen auch deren rumänische und russische Übersetzung verwendet. Beide Sprachen werden zwar auf beiden Seiten gesprochen. Doch während fast jede Person aus Moldawien auch Russisch spricht, kann die Mehrheit der Teilnehmer aus Transdniestrien kein Rumänisch. Von den Kompetenzen der Teilnehmer her könnte die

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Weiterbildung ausschließlich in russischer Sprache durchgeführt werden, die alle sprechen. Dies würde allerdings die Teilnehmer benachteiligen und irritieren, die die rumänische Sprache als Muttersprache haben. Überdies würde es alte Identitätsverletzungen aus der sowjetischen Zeit aktivieren, in der die rumänische Muttersprache zugunsten des Russischen aus dem öffentlichen Bereich verdrängt worden war. Sprache ist ein Kern der eigenen Identität. Die Sprache der anderen sprechen zu müssen, stellt eine Bedrohung der eigenen Identität dar, auch wegen der mit der eigenen Sprache eng verbundenen Erzählungen. Die andere Sprache vermittelt immer auch die Kultur der anderen. Es droht der schleichende Verlust der eigenen Kultur, die über Erzählungen tradiert wird. Auch im Training ist daher die Frage der Sprachverwendung von großer Bedeutung. Eine wichtige Grundlage der Zusammenarbeit ist die wechselseitige Akzeptanz der anderen Sprache. Um die Zusammenarbeit nicht mit Argumenten über sprachliche Konflikte und Konkurrenz zu gefährden, liegt das Augenmerk auf der Beibehaltung eines ausgewogenen Ansatzes. Daher wird in unseren Workshops das Englisch der Trainer sowohl ins Russische als auch ins Rumänische übersetzt. Zentrale Begriffe werden sorgfältig definiert und erläutert, damit die Übersetzungen den Sinn richtig wiedergeben. Dies erfordert intensive Begriffsfindungsarbeit mit den Übersetzern. Dafür ist nach unserer Auffassung die Fachkenntnis als Psychologe oder Mediator wichtiger als die Professionalität als Übersetzer (vergleiche auch Carroll 2011). Zusätzlich werden alle Materialien, die im Training zur Visualisierung der Inhalte und Prozesse verwendet werden, in den drei Sprachen dargeboten werden. Sprache als Kern der kulturellen Identität Die Sensibilität hinsichtlich der sprachlichen Gleichberechtigung wurde auch in folgender Episode deutlich: Bei der Planung eines Workshops für die transdniestrischen, moldawischen und deutschen Trainer, der in Hamburg stattfinden sollte, standen wir als Projektverantwortliche vor dem Problem, dass wir keine rumänische Übersetzung anbieten konnten. Alle wussten, dass die teilnehmenden Moldawier auch perfekt russisch sprachen. Eine russische Übersetzung für den Workshop konnte durch interessierte Hamburger Psychologie–Studierende zur Verfügung gestellt werden. Wir haben diese Problematik vorab bei den Moldawiern angesprochen. Russisch als Amtssprache innerhalb einer internationalen Kooperation außerhalb Moldawiens stellte für die moldawischen Teilnehmer keine Bedrohung ihrer Identität dar und war für sie vergleichbar mit Englisch als Amtssprache in internationalen Projekten. Innerhalb Moldawiens dagegen würde der Verzicht auf die rumänische Übersetzung

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eine Tradierung der alten Konfliktdynamik bedeuten. Das Rumänische wäre dem Russischen nicht mehr ebenbürtig. Selbstverständlich traten auch zwischen den lokalen Teilnehmern und den Trainern kulturbedingte Störungen auf. Wir haben zu Beginn eines jeden Workshop-Tages eine systematische Auswertung der Trainingseinheiten zur Anpassung und Optimierung von Inhalten und Trainingsmethoden eingeführt. Hierbei werden die Titel der Einheiten des Vortages auf dem Boden in chronologischer Reihenfolge vorgegeben und die Teilnehmer gebeten, links die Stärken und rechts die Schwächen / Verbesserungsvorschläge auf Kärtchen zu schreiben (siehe Abbildung 5).

Abbildung 5: Auswertung der Trainingseinheiten Quelle: Nina Kraneis

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So zeigten die systematischen Rückmeldungen der Teilnehmer, dass die westliche Art Konflikte eher direkt und offen zu benennen, einen zwar transparenten, aber auch übermäßig konfrontierenden Mediationsstil hervorgebracht hat, der für die Gebiete der ehemaligen UdSSR modifiziert werden muss. Für Bevölkerungen mit einem starken Habitus der Konfliktvermeidung müssen Konflikte in einer abgemilderten Form von Transparenz bearbeitet werden. In Kulturen, die einen konfliktvermeidenden Kommunikationsstil bevorzugen, kann die eindeutige Benennung von Konflikten zu Irritationen führen. Unsere Erfahrung zeigte, dass es wichtig ist, dass zunächst Gemeinsamkeiten der Konfliktparteien betont werden und auch die positiven Aspekte des Gegenübers wertschätzend benannt werden. Vor allem bei der Mehrparteien-Mediation mit ihrem ausgeprägten Öffentlichkeitscharakter müssen daher Methoden entwickelt werden, mit denen über Konfliktpunkte in einer indirekten, weniger konfrontativen Form gesprochen werden kann. Überdies muss ein besonderer Schritt in den Mediationsablauf systematisch eingebaut werden, so dass alle positiven Aspekte der Beziehung zwischen den Parteien gewürdigt werden. Dabei darf die Mediation allerdings nicht der Gefahr erliegen, Konflikte zu vermeiden oder zu harmonisieren. Die Akzeptanz eines Konfliktes kann sich nur langsam entwickeln.

Institutionelle Kapazitätenbildung: grenzüberschreitendes Mediationsnetzwerk Personelle Kompetenzen allein reichen nicht aus. Um sie in Kraft zu setzen, benötigt man eine Organisation. Effiziente Organisationen richten die Kompetenzen der zu ihnen gehörenden Personen auf die gemeinsamen Ziele aus und koordinieren sie. Dadurch werden die Kompetenzen der Organisationsmitglieder zielgerichtet gebündelt. Mehrparteien-Konflikte sind hochspezifisch. Die Dienstleistung ›Mediation‹ muss sich auf jeden Konflikt und seine Besonderheiten neu einstellen. Eine Mediationsorganisation, die als Dienstleistungen immer gleich ablaufende Routine-Vermittlungen anbietet, dürfte in vielen Fällen scheitern. Jede Mediation muss daher auf den spezifischen Konflikt hin maßgeschneidert sein. Mediationsfachkräfte müssen dazu ihre Konzepte, Werthaltungen und Methoden relativ rasch an neue Probleme unter veränderten Rahmenbedingungen anpassen können. Dies macht ihre hohe Kompetenz aus. Eine aktuelle bevorzugte Lösung wird in strategischen Netzwerken gesehen (Sydow 1992). Ein Netzwerk ist ein Bündnis von Spezialisten zum Zweck potentieller Kooperation. Netzwerke lassen sich vor allem durch das Merkmal gleichberechtigter Partnerschaft von formal-rationalisierten Organisationen

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unterscheiden, die hierarchisch aufgebaut sind und durch unterschiedliche Machtbefugnisse ihre Mitglieder gesteuert werden (Guenther 2007). Zusätzlich beruhen sie auf gegenseitigem Vertrauen, den spezifischen Kompetenzen der Partner und ihrer moralischer Verpflichtung auf gemeinsame Werte. Dadurch können sie differenzierte Leistungen hoher Spezifität anbieten. Aus den circa 30 Mediatoren, die im Rahmen unseres Projektes aus Moldawien und Transdniestrien in Wertehaltung, Konzepten und Methoden der Mehrparteien-Mediation weitergebildet wurden, hat sich eine Gruppe nun zu einem Mediationsnetzwerk formiert, um – Konfliktfälle in Kommunen und Organisationen zu bearbeiten und als Lehrmaterial im Netzwerk zu supervidieren, – weitere Mediatoren aus beiden Landesteilen fortzubilden und – die eigene Fortbildung im Bereich der Mehrparteien-Mediation fortzusetzen. Der Auf- und Ausbau institutioneller Kapazitäten in Form des Netzwerkes soll damit vorangetrieben werden

Perspektive: Aufbau kultureller Kapazitäten als übergreifende Zielsetzung Nach Hofstede (1993: 22 ff.) braucht jede Kultur sichtbare Zeichen (›Symbole‹), Vorbilder (›Helden‹), Wiederholungen (›Rituale‹) und erfolgreiche Erzählungen (›Mythen‹), die die kulturellen Wertvorstellungen prägnant im Sinne der bekannten ›Moral von der Geschichte‹ repräsentieren. Diese Wertvorstellungen liefern den Mitgliedern der Kultur eine gemeinsame Orientierung für ihr Handeln. ›Orientierung‹ bedeutet: Der Zusammenhang zwischen Werten und Handeln ist nicht zwingend. Man kann eher davon sprechen, dass Werte eine grobe Richtung weisen. Unsere Erhebung unter Mediatoren in der Region (siehe oben) ergab neben dem Wunsch nach Qualifizierung zur Mehrparteien-Mediation und Institutionalisierung eines grenzüberschreitenden Mediatorennetzwerkes auch die Forderung nach einer Veränderung der Konfliktkultur in der Bevölkerung. Aus Sicht der von uns befragten lokalen Experten ist das Bewusstsein eines selbstbestimmten, gleichberechtigten und gewaltfreien Umgangs mit Konflikten in den Bevölkerungen Transdniestriens und Moldawiens kaum verbreitet. Konflikte werden ungern akzeptiert und kaum angesprochen. Man glaubt, dass sie von den Betroffenen selbst nicht erfolgreich behandelt, sondern nur ›von oben‹ gelöst werden können. Weit verbreitet ist die Vorstellung, dass sich die mächtige Partei ohnehin durchsetzt sowie Respekt und Wertschätzung gegenüber dem Konfliktgegner nicht möglich sind, was auch negative Konsequenzen für die Bearbeitung politischer Konflikte hat: Wenn dialogbasierte Konfliktbearbeitung

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weitgehend unbekannt ist beziehungsweise ihre Prinzipien (Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, Gewaltfreiheit) allgemein angezweifelt werden, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Bevölkerung auch politische Konflikte ihren Eliten überlässt, den eigenen Einwirkungsmöglichkeiten nicht vertraut und gewaltund machtbasierte Konfliktbehandlungen bevorzugt. Damit wird keine nachhaltige Konflikttransformation erzeugt, sondern die bekannten Formen hierarchischer und machtorientierter Konfliktbehandlung perpetuiert. Erfolgreiche politische Verhandlungen beruhen nicht zuletzt auf einer Kultur friedlicher Konfliktbearbeitung in der Bevölkerung. Damit sind die Anforderungen für die Veränderung der Konfliktkultur definiert. Wir gehen davon aus, dass die Mitglieder des Mediationsnetzwerks als Vorbilder und Multiplikatoren im Sinne dieser selbstbestimmten Konfliktkultur auf ihre Gesellschaften ausstrahlen. Sie können in Schulen, Wirtschaftsunternehmen, Verwaltungsorganisationen und ähnlichen Institutionen über selbstbestimmte und gleichberechtigt ausgehandelte Konfliktlösungen berichten. Öffentliche Konflikte im kommunalen oder politischen Bereich können dabei die Möglichkeiten, Formen und Funktionen der Mediation für viele Menschen zeigen und attraktiv machen. Sie können dies in dreifacher Funktion tun: Erstens informieren sie über Mediation als alternative Methode, um Konflikte selbstbestimmt und gleichberechtigt zu bearbeiten. Zweitens vermitteln sie regelmäßig bei Konflikten in lokalen Kommunen und Organisationen. Damit kommen nicht nur Konfliktlösungen zustande. Die Konfliktparteien lernen zudem für weitere Konflikte, wie sie selbst damit umgehen können. Schließlich erleben sie direkt, wie Mediation funktioniert und können dann authentisch darüber berichten. Auch wenn die Netzwerkmediatoren (noch) nicht direkte politische Verhandlungen moderieren, leisten sie einen Beitrag zur Friedensförderung durch den Aufbau einer Kultur der Mediation. Drittens bilden die Mitglieder des Netzwerks weitere Mediatoren aus. Dafür wird im Rahmen des Projektes ein dreisprachiges Trainingshandbuch erstellt, das auf Englisch, Russisch und Rumänisch konkrete Anleitungen sowie Erfahrungen für Trainer bereitstellen. Das Trainingshandbuch soll in Zukunft die Multiplikationsfunktion der Netzwerkmitglieder als zukünftige lokale Trainer unterstützen und die Weiterbildung durch diese sichern. Darüber hinaus unterstützt es den grenzüberbrückenden Zusammenhalt der Mediatoren in der Region, da es eine gemeinsame Weiterbildung von russisch sprechenden Transdniestriern und rumänisch sprechenden Moldawiern ermöglicht. Die Fortführung des Projektes soll den hier immer wieder genannten Prinzipien der Mediation folgen. Die lokalen Kooperationspartner sollen die vollständige Verantwortung für das Projekt übernehmen, dabei ein hohes Maß an Handlungskompetenz entwickeln und als gleichberechtigte transdniestrische

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und moldawische Partner ohne Machtausübung weiterführen. Dabei bieten die genannten Kapazitäten eine wichtige Grundlage. Fragen zum Weiterdenken Worin bestehen Ihrer Meinung nach die wesentlichen Unterschiede zwischen einer Mehrparteien-Mediation und einer Zwei-Personen-Mediation? Worin bestehen die Herausforderungen, eine Kultur konstruktiver Konfliktaustragung in einer Gesellschaft auszubauen? Welche Stärken und Schwächen liegen dabei in den Trainingsmethoden der Kleingruppenarbeit?

Leseempfehlungen De River, Joe (Hg.): Handbook on Building Cultures of Peace. New York City 2009. Lederach, John Paul (Hg.): Building Peace: Sustainable Reconciliation in Divided Societies. Washington, D.C. 1997. Rothman, Jay (Hg.): From Identity-Based Conflict to Identity-Based Cooperation. New York 2012.

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Sven Bernhard Gareis

Responsibility to Protect: Entwicklung, Anwendung und Perspektiven eines neuen Konzepts zum Schutz der Menschenrechte

Spätestens seit der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN) am 17. März 2011 mit seiner Resolution 1973 militärische Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung in Libyen zugelassen hat, steht das Konzept der Internationalen Schutzverantwortung (Responsibility to Protect, R2P) wieder im Zentrum einer lebhaften weltweiten Debatte. Die anschließende Militäraktion der NATO, die maßgeblich zum Sturz des Regimes von Machthaber Muammar al–Gaddafi beitrug, wirft die Frage auf, aus welchem Anlass und in welchem Umfang sich die internationale Gemeinschaft der Menschenrechtslage in einem Staat annehmen und welche kollektiven Aktionen sie zum Schutz der Bevölkerung vor gravierenden Menschenrechtsverletzungen ergreifen darf. Im Kern geht es also um das Spannungsverhältnis zwischen nationaler Souveränität und den Ansprüchen der Staatengemeinschaft auf Berücksichtigung ihrer grundlegenden Prinzipien und Normen von Humanität. Zugleich geht es aber auch um die Frage, warum in durchaus ähnlich gelagerten Fällen extremer Gewaltanwendung gegen eine Zivilbevölkerung – wie etwa im zeitgleich begonnenen Bürgerkrieg in Syrien – externe Interventionen nicht stattfinden. In den Augen von Interventionskritikern belegt der von der NATO mit herbeigeführte ›regime change‹ in Libyen aber auch, dass die Schutzverantwortung als Vorwand für Interessen- und Machtpolitik westlicher Staaten, vor allem der USA, missbraucht werden kann. Diese Kritik wurde bereits durch die NATOIntervention im Kosovo 1999 sowie durch den Irak-Krieg 2003 ausgelöst1. Insofern setzt die Debatte um R2P jene um das Konzept der ›humanitären Intervention‹ fort2. Die Weigerung Russlands und Chinas im UN-Sicherheitsrat, verurteilende Resolutionen zur Lage in Syrien und insbesondere gegenüber dem 1 Die NATO-Intervention im Kosovo war nicht durch den UN-Sicherheitsrat bewilligt worden und stand daher auf einem wackligen völkerrechtlichen Fundament. Der Irak-Krieg 2003 wurde ebenfalls ohne UN-Mandat geführt, das Land wurde unter anderem von den USA wegen angeblichen Besitz von Massenvernichtungswaffen, die eine Bedrohung für die internationalen Staaten darstellen würden, angegriffen. 2 Vergleiche den Beitrag von Schreiber in diesem Band.

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Regime Bashar al-Assads mitzutragen, kann als eine Reaktion auf die aus ihrer Sicht extensive Auslegung der internationalen Schutzverantwortung durch die NATO in Libyen aufgefasst werden. Dabei bemühte sich die ›International Commission on Intervention and State Sovereignty‹ (ICISS) 2001 mit ihrem Konzept der ›Responsibility to Protect‹ nachdrücklich darum, den internationalen Menschenrechtsschutz und die Wahrung staatlicher Souveränität nicht als Spannungsfeld, sondern als einander bedingende Anliegen zu erfassen: Aus der Souveränität ergibt sich eine originäre Verantwortung von Staaten, Regierungen und Gesellschaften zum Schutz der Menschen vor gravierenden Verletzungen ihrer fundamentalen Rechte. Die Staaten bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung zu unterstützen, wäre demnach vor allen Interventionsüberlegungen die erste Aufgabe der internationalen Gemeinschaft. Zugleich war das Konzept der Schutzverantwortung aber auch eine Reaktion auf die kaum mehr für möglich gehaltene Welle der Gewalt, die nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation in zahllosen Bürgerkriegen zu großflächigen Menschenrechtsverletzungen bis hin zu ethnischen Säuberungen und Genoziden führten, für die exemplarisch die Tragödien von Ruanda (1994) und Srebrenica (Bosnien-Herzegowina, 1995) stehen. Die R2P wollte daher auch normative und prozedurale Grundlagen für ein internationales Vorgehen in Situationen entwickeln, in denen ein Staat nicht in der Lage oder nicht willens ist, schwersten Menschenrechtsverletzungen Einhalt zu gebieten. Doch sind dann auch in letzter Konsequenz gewaltsame Eingriffe von außen zulässig? Und in welchem Ausmaß? Im äußersten Falle muss sich also das Konzept der R2P mit ganz ähnlich gelagerten Schwierigkeiten auseinandersetzen wie humanitäre Interventionen. Wo also steht das Konzept der Internationalen Schutzverantwortung, zwölf Jahre nach der Vorlage des Konzepts durch die ICISS und acht Jahre nach ihrer Annahme durch die auf dem Weltgipfel der Vereinten Nationen im September 2005 versammelten Staats- und Regierungschefs? Inwieweit haben sich, ausgehend von R2P, neue Ansätze und Formen des internationalen Menschenrechtsschutzes entwickeln können und vor welchen Herausforderungen steht ihre weitere Implementierung? Diesen Fragen soll im vorliegenden Beitrag nachgegangen werden. Zunächst sollen aber die Schwierigkeiten der bisherigen Interventionen erläutert werden, die das Konzept und die Praxis der R2P maßgeblich beeinflussten. Danach soll auf die Entstehung, Anwendung und Perspektiven der Schutzverantwortung eingegangen werden.

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Von Humanitären Interventionen zur Schutzverantwortung Das Ende der Ost-West-Konfrontation markiert einen wesentlichen Ausgangspunkt der internationalen Bemühungen zum Schutz der Menschenrechte. Die ideologischen Blockaden, die einer weltweiten Strategie zum besseren Schutz der Menschenrechte jahrzehntelang entgegenstanden, waren weggefallen. Die Menschenrechtsidee erlebte eine beispiellose Renaissance – nicht zuletzt durch die ihnen gewidmete Weltkonferenz 1993 in Wien. Zugleich gewann der UNSicherheitsrat eine bis dahin ungekannte Handlungsfähigkeit, die er dezidiert auch zum Wohle der Menschen in Konflikt- und Bürgerkriegsländern einzusetzen begann. Beginnend mit der UN-Resolution 688 vom 5. April 1991 zur Situation der kurdischen Zivilbevölkerung im Nordirak befasste sich der Sicherheitsrat immer wieder mit der menschenrechtlichen und humanitären Situation in Ländern, forderte Schritte zu ihrer Verbesserung und beschloss selbst Maßnahmen bis hin zur Anwendung militärischer Einsätze. Während die Situation in den kurdischen Gebieten wegen einer möglichen Einbeziehung der Türkei in einen Krieg mit dem Irak noch einen internationalen Bezug erkennen ließ, erklärte der Sicherheitsrat bereits im darauffolgenden Jahr, bezogen auf Somalia, dass bereits das im Lande herrschende Ausmaß der menschlichen Katastrophe eine Bedrohung für den internationalen Frieden und die Sicherheit darstelle3. Mit dieser einstimmig gefassten Resolution wurde erstmals ein rein innerstaatlicher Vorgang als Friedensbedrohung qualifiziert, ohne dass der Sicherheitsrat dabei die durchaus vorhandenen internationalen Auswirkungen (zum Beispiel Flüchtlingsströme) als zusätzlich konstitutiven Bestandteil der Friedensbedrohung zur Begründung heranziehen musste. UNITAF (Restore Hope) bildete die erste militärische Intervention der Vereinten Nationen auf humanitärer Grundlage, die durch diese Resolution nach Kapitel VII der UN-Charta ermächtigte wurde. Sie stellte einen wesentlichen Schritt zur seither fortdauernden Erweiterung der funktionellen Zuständigkeit des Sicherheitsrates dar, die ihren Ausdruck in weiteren Interventionen etwa in Haiti, Ost-Timor, Sierra Leone oder Liberia fand. Diese Entwicklungen leiteten eine rasch fortschreitende Relativierung des Souveränitätsgrundsatzes ein (Ipsen 1992) und eröffnete den Vereinten Nationen, namentlich ihrem Sicherheitsrat, weitreichende Kompetenzen, auch aus humanitären und menschenrechtlichen Gründen in die Angelegenheiten souveräner Staaten einzugreifen. Zwar sieht die UN-Charta in ihrem Artikel 2, Ziffer 7 ein Interventionsverbot für Bereiche vor, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören. Dieses steht jedoch unter dem Vorbehalt 3 ›Constitutes a threat to international peace and security‹, UN-Resolution 794 (3. Dezember 1992).

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kollektiver Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der Charta. Deren Voraussetzung wiederum ist eine Feststellung durch den Sicherheitsrat gemäß Artikel 39, dass der Frieden bedroht oder gebrochen wurde beziehungsweise eine Angriffshandlung vorliegt. Insbesondere der Begriff der Friedensbedrohung überlässt dem Sicherheitsrat dabei einen weiten Ermessensspielraum (Pape 1997: 128, dort zahlreiche weitere Belege). Damit können auch innerstaatliche Vorgänge, die der Sicherheitsrat als Friedensbedrohung qualifiziert, der staatlichen ›domaine reserv¦‹ entzogen werden. Insgesamt verfolgte der Sicherheitsrat so auch auf dem Gebiet des Menschenrechtsschutzes eine Erweiterung seines Verständnisses von Frieden, das nun nicht mehr nur Störungen in zwischenstaatlichen Beziehungen erfasste, sondern auch Vorgänge, die zuvor als innerstaatliche Angelegenheiten galten (siehe Krieger 2006; Ghajati 2012: 176 f.; Heinz/Litschke 2012: 9 f.).

Das Konzept der Internationalen Schutzverantwortung In seinem Bericht »Wir, die Völker« zur Vorbereitung des Millennium-Gipfels im Jahr 2000 brachte der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan die Frage nach dem Souveränitäts-Interventions-Dilemma und den damit zusammenhängenden Interessenkonflikten zwischen Staaten und Mächten auf den Punkt: »Wenn eine humanitäre Intervention tatsächlich einen unannehmbaren Angriff auf die Souveränität darstellt, wie sollen wir dann auf ein Ruanda, ein Srebrenica oder auf alle schwerwiegenden und systematischen Menschenrechtsverletzungen reagieren, die gegen jedes Gesetz verstoßen, das uns unser gemeinsames Menschsein vorschreibt?« (Annan 2000: Ziff. 217).

Durch den Bericht des UN-Generalsekretärs angeregt, bemühte sich die kanadische Regierung, diese Frage in normativer wie konzeptioneller Hinsicht zu beantworten. Premierminister Jean Chr¦tien versammelte, unter dem Vorsitz des ehemaligen australischen Außenministers Gareth Evans sowie des algerischen Diplomaten Mohamed Sahnoun, zwölf internationale Experten in der ›International Commission on Intervention and State Sovereignty‹ (ICISS), die dann im Dezember 2001 ihren wegweisenden Bericht ›The Responsibility to Protect‹ vorlegte (ICISS 2001). Das Konzept der dort vorgestellten Internationalen Schutzverantwortung postuliert dabei ein verändertes Verständnis von Souveränität: Es erklärt den Schutz der Bürger vor gravierenden Menschenrechtsverletzungen zu den grundlegenden, sich aus dem Souveränitätsanspruch ergebenden Verpflichtungen eines jeden Staates (ebd.: 12 f.). Souveränität ist in dieser Sichtweise nicht länger das Recht eines Staates zur Abwehr äußerer Einflussnahmen, son-

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dern vor allem auch eine Aufgabenbestimmung nach Innen – deren Erfüllung unter internationaler Beobachtung steht. Die drei Säulen des ICISS-Konzeptes Entsprechend sieht die ICISS eine Responsibility to Prevent als Ausgangspunkt der Bemühungen um die Schutzverantwortung und damit als ersten Pfeiler ihres Konzepts an. Die Prävention umfasst bereits eine intensive internationale Befassung mit der Menschenrechtssituation eines betroffenen Landes – etwa über Frühwarnmechanismen oder ein breites Maßnahmenbündel zur Bekämpfung von Konfliktursachen (ICISS 2001: Kap. 3). Als zweiter Pfeiler sollen internationale Interventionen möglich sein, wenn ein Staat der Verpflichtung zum Schutz seiner Bürger trotz Hilfsangebote nicht nachkommen will oder kann. Die Interventionen können von gewaltfreien wirtschaftlichen oder politischen Sanktionen bis hin zur Anwendung militärischer Gewalt im Falle besonders schwerer Menschenrechtsverletzungen reichen (Responsibility to React, ebd.: 29 f.). Als dritten Pfeiler schlägt die Kommission eine Verantwortung für die Friedenskonsolidierung nach einer erfolgreichen Intervention vor (responsibility to rebuild); hier wird deutlich, dass die internationale Gemeinschaft mit der Entscheidung für ein Eingreifen gegebenenfalls sehr langfristige Verpflichtungen beim Wiederaufbau der durch den vorgängigen Konflikt und die Intervention betroffenen Staaten und Gesellschaften einzugehen hat (ebd.: Kap. 5). Wenngleich sich die ICISS erkennbar bemühte, in ihrem R2P-Konzept der Stärkung der einzelstaatlichen Souveränität und den Hilfen seitens der Staatengemeinschaft Vorrang vor einer schlussendlich auch gewaltsamen Intervention einzuräumen, stand die Responsibility to React von Beginn an im Fokus der internationalen Debatte. Der Erörterung der komplexen Frage, unter welchen Bedingungen ein Eingreifen der internationalen Gemeinschaft in eine innerstaatliche Krisensituation gerechtfertigt sein könnte, hatte die Kommission breiten Raum gegeben. Im Mittelpunkt standen dabei insgesamt sechs Kriterien, die eine mögliche Entscheidung über eine Intervention leiten sollen: – Als wichtigstes ›Schwellenkriterium‹ führt die Kommission den »Gerechten Grund« (just cause) ein, der in Fällen größter Verluste von Menschenleben mit oder ohne genozidaler Absicht beziehungsweise von ethnischen Säuberungen als gegeben angesehen wird. – Als vier weitere handlungsleitende Prinzipien werden die rechte Absicht, der letzte Ausweg, die Verhältnismäßigkeit der Mittel und schließlich die Geeignetheit der Intervention mit Hinblick auf ihre Erfolgsaussicht genannt.

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– Getroffen werden sollen Interventionsentscheidungen durch die richtige Autorität (right authority), als deren herausragende und vorrangige der UNSicherheitsrat gelten soll (ICISS 2001: 32 f.). In vielen Ländern lösten nicht nur die an die überbrachte Theorie des ›Gerechten Krieges‹ (bellum iustum) erinnernden Begriffe und Vorstellungen erhebliche Bedenken aus, sondern auch das Entstehen des Anscheins einer Legitimität von (westlichen) Interventionen unter dem Vorwand der Humanität. Darüber hinaus stieß das Konzept der ICISS auch eine lebhafte Debatte darüber an, ob der Sicherheitsrat, durch die UN-Charta mit der vorrangigen Verantwortung für den Weltfrieden ausgestattet, tatsächlich das letzte Wort bezüglich einer Interventionsentscheidung haben sollte. Hierzu stellte die Kommission die rhetorische Frage, wie im Falle einer Blockade des Sicherheitsrates zu verfahren sei: »It is a real question in these circumstances where lies the most harm: in the damage to international order if the Security Council is bypassed or in the damage to that order if human beings are slaughtered while the Security Council stands by« (ICISS 2001: 55).

Eine Interventionsentscheidung am Sicherheitsrat vorbei (wie etwa im Fall des Kosovo 1999) wird durch die ICISS also nicht ausgeschlossen – als Orientierungslinien sollen dabei die oben vorgestellten Kriterien dienen.

Die Bestätigung der R2P durch den Weltgipfel 2005 Es war gerade diese vermeintliche Ermächtigungsklausel für Interventionen, die in zahlreichen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas eine zunächst äußerst verhaltene Rezeption der internationalen Schutzverantwortung bewirkte. Hinzu kam, dass die R2P in der globalen öffentlichen Wahrnehmung durch die Anschläge des 11. September 2001 und deren Folgen praktisch verdrängt wurde. Die Sichtweise auf dieses Konzept änderte sich jedoch mit dem Bericht, den ein internationales Expertenpanel Ende 2004 vorlegte. In Vorbereitung des Gipfels zum 60. Jubiläum der Vereinten Nationen im Jahr 2005 hatte der damalige UNGeneralsekretär eine ›Hochrangige Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel‹ ins Leben gerufen, die sich in ihrem Bericht »Eine sicherere Welt: Unsere gemeinsame Verantwortung« auch der R2P annahm und feststellte: »Wir unterstützen die sich herausbildende Norm, der zufolge eine kollektive internationale Schutzverantwortung besteht, die vom Sicherheitsrat wahrzunehmen ist, der als letztes Mittel eine militärische Intervention genehmigt, falls es zu Völkermord und anderen Massentötungen, ethnischer Säuberung oder schweren Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht kommt und souveräne Regierungen sich als machtlos oder nicht willens erwiesen haben, diese zu verhindern« (Hochrangige Gruppe 2004: Ziff. 203).

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Die Hochrangige Gruppe setzte damit den Gedanken einer internationalen Schutzverantwortung wieder auf die Agenda der globalen Debatte. Allerdings postulierte das Gremium, dass die Schutzverantwortung nur vom Sicherheitsrat wahrzunehmen ist. Es schloss somit also eine außerhalb der UN-Charta liegende Ermächtigung zu einem internationalen Einschreiten aus. Zum anderen begrenzte die Gruppe die Tatbestände, bei deren Vorliegen die Schutzverantwortung ihre Anwendung finden kann, auf Völkermord, ethnische Säuberungen und gravierende Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht. Das Panel baute so eine Brücke zwischen den Befürwortern und den Skeptikern des R2P-Konzepts.

Abbildung 1: Verhinderung von Völkermord durch Internationale Gemeinschaft Exhumierung eines Massengrabes in Kroatien. Die Menschen starben bei der Belagerung der nahe gelegenen Stadt Vukovar 1991. Quelle: UN / Eric Kanalstein, 1997.

Diese Brücke nutzten auch die Staats- und Regierungschefs, die sich im September 2005 zum Weltgipfel in New York einfanden. In Abschnitt IV zu »Menschenrechten und Herrschaft des Rechts« bekannten sie sich im Konsens zu einer internationalen Schutzverantwortung, die sowohl die Positionen der ICISS als auch die der Hochrangigen Gruppe einbezog: »Jeder einzelne Staat hat die Verantwortung für den Schutz seiner Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die

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Menschlichkeit. Zu dieser Verantwortung gehört es, solche Verbrechen, einschließlich der Anstiftung dazu, mittels angemessener und notwendiger Maßnahmen zu verhüten« (Weltgipfel 2005: Ziff. 138).

Unmittelbar im Anschluss an diese Festlegung werden hinsichtlich eines möglichen Einschreitens von außen die Bedeutung der UN-Charta, die Verantwortung des Sicherheitsrates und – wiederum – die konkreten Tatbestände als Voraussetzungen für eine Anwendung dieser Schutzverantwortung betont: »In diesem Zusammenhang sind wir bereit, im Einzelfall und in Zusammenarbeit mit den zuständigen regionalen Organisationen rechtzeitig und entschieden kollektive Maßnahmen über den Sicherheitsrat im Einklang mit der Charta, namentlich Kapitel VII, zu ergreifen, falls friedliche Mittel sich als unzureichend erweisen und die nationalen Behörden offenkundig dabei versagen, ihre Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen« (Weltgipfel 2005: Ziff. 139).

Auf ihrem Weltgipfel 2005 bekannten sich die Staatenlenker also konsensual zur Schutzverantwortung und verankerten sie erstmals in einem internationalen politisch-amtlichen Dokument. Auch wenn die per Akklamation herbeigeführte Gipfelentscheidung die bestehenden Differenzen und Besorgnisse vieler Staaten bezüglich externer Interventionen ein wenig verdeckte (Bellamy 2009: 66 f.) und Kritiker aufgrund des im Ergebnisdokument niedergelegten engen Verständnisses der Schutzverantwortung von einer »R2P-lite« (Weiss 2006: 750) sprechen: spätestens seit dem September 2005 sind extreme Menschenrechtsverbrechen keine innere Angelegenheit eines Staates mehr und die nationale Souveränität kann nicht länger als »license to kill« (Evans 2008: 11) fehlinterpretiert werden.

Eine neue Norm? Ist die R2P damit aber schon zu einer neuen völkerrechtlichen Norm geworden, durch die im Falle schwerster Missachtungen von Menschenrechten »die einzelstaatliche Souveränität durchschlagen [wird] und die Verantwortung zum Schutz der bedrohten fremden Staatsbürger […] auf die internationale Staatengemeinschaft als Ganzes über[geht]«, wie dies Christopher Verlage (2009: 404) feststellt? Zweifel sind angebracht, denn im Ergebnisdokument haben die Staaten hohe Hürden für die Anwendung der Schutzverantwortung errichtet – und insbesondere darauf verwiesen, nur im Einzelfall und dann auch nur unter den Vorzeichen des Kapitels VII der UN-Charta tätig werden zu wollen. Das Ergebnisdokument des Weltgipfels eröffnet jedenfalls keine neuen Legitimationsansätze hinsichtlich der Anwendung von militärischer Gewalt oder erweiterter Handlungsoptionen über das bereits zuvor in der Charta beziehungsweise

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in der Praxis des Sicherheitsrates verfügbare Instrumentarium. Insbesondere ermöglicht die dort verankerte Auffassung der R2P keine völkerrechtlichen Wege, Interventionsentscheidungen am Sicherheitsrat vorbei zu treffen. Dass die R2P weiterhin allenfalls als ›Norm im Werden‹ aufgefasst werden muss, zeigt auch die Entwicklung seit dem Weltgipfel. Im Jahr 2009 legte der UNGeneralsekretär Ban Ki-moon seinen vielbeachteten Bericht »Implementing the responsibility to protect« vor (Ban 2009). Mit diesem Bericht machte Ban einerseits deutlich, dass für ihn die Äußerungen zur Schutzverantwortung im Ergebnisdokument keine unverbindlichen Absichtserklärungen darstelle, sondern – wie in Ziffer 140 des Dokuments ja auch dargelegt – ein explizites Mandat zu deren Implementierung. Zugleich jedoch blieb er mit seinem Konzept strikt im Rahmen des vom Weltgipfel vorgegebenen engen konzeptionellen Verständnis der Schutzverantwortung, die zwar ebenfalls auf drei Säulen ruhte, sich inhaltlich aber durchaus von den Vorstellungen der ICISS unterschied. Ban Ki-moon: Implementing the responsibility to protect Säule I umfasst die Schutzverantwortlichkeiten jedes Staates, die sich aus dem Souveränitätsprinzip sowie allgemeinen rechtlichen Anforderungen an den Staat ableiten lassen. Säule II ist die Internationale Unterstützung und capacity-building, die er als Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft definiert, zur Befähigung der einzelnen Staaten bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortung beizutragen. Säule III fordert eine rechtzeitige und entschlossene Reaktion, die sowohl Instrumente zur friedlichen Streitbeilegung nach Kapitel VI der Charta als auch Zwangsmaßnahmen gemäß Kapitel VII unter der Autorität des Sicherheitsrates umfassen können (Ban 2009: Ziff. 11). Der Generalsekretär betonte, dass alle drei Säulen gleichberechtigt seien und sich gegenseitig ergänzen würden. Auch wenn er die Aspekte von Prävention und Unterstützung in den Vordergrund stellte, sollen die in den einzelnen Säulen vorgesehenen Instrumente situationsbezogen zum Einsatz kommen. In seinen Ausführungen zur dritten Säule unterstrich Ban den uneingeschränkten Vorrang des Sicherheitsrates bei der Anwendung der Schutzverantwortung; er kritisierte aber in durchaus mutiger und energischer Weise die fünf ›Ständigen Mitglieder‹, indem er sie ermahnte, sich ihrer besonderen Verantwortung bewusst zu sein und auf den Gebrauch ihres Veto-Rechts zu verzichten, wenn die in Ziffer 139 des Er-

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gebnisdokuments verankerten Handlungserfordernisse vorliegen (ebd.: Ziff. 61).

Verhaltene Implementierung Nachdem sich im Anschluss an diesen Bericht in einer größeren Debatte der Generalversammlung (23. bis 28. Juli 2009) die grundsätzliche Zustimmung der überwiegenden Mehrheit der Mitgliedstaaten zur internationalen Schutzverantwortung im Sinne des Ergebnisdokuments herausgebildet hatte, legte Generalsekretär Ban Ki-moon im Juli 2010 einen weiteren Bericht vor, der sich bereits sehr fokussiert mit der Früherkennung und Bewertung von R2P-relevanten Situationen befasste (Ban 2010) und Vorschläge zur Verbesserung der im UN-System vorhandenen Kapazitäten beinhaltete. So sollen vor allem die ›special advisors‹ für Genozidprävention und R2P-Implementation zusammenarbeiten (ebd.: Ziff. 15 f.) und einen neuen Frühwarnmechanismus auf der Ebene der relevanten Untergeneralsekretäre ins Leben rufen, um in bedrohlichen Situationen rechtzeitig Maßnahmen diskutieren und dem Generalsekretär vorschlagen zu können (ebd.: Ziff. 18). Hieran schließt der zwei Jahre später vorgelegte Report zur Problematik der »timely and decisive response« (Ban 2012) unmittelbar an: der Generalsekretär greift hier auf sein oben genanntes Konzept der drei Säulen zurück und hebt die Zusammenhänge hervor : »Effective action under pillars one and two may make action under pillar three unnecessary. Pillar three action should also contribute to the future achievement of pillar one goals. Putting an end to the four specified crimes and violations in a particular situation should be the beginning of a period of social renewal and institutional capacity-building aimed at making future violence less likely« (Ban 2012: Ziff. 15).

In Abschnitt II seines Berichts geht Ban dann auf das breite Spektrum von Instrumenten ein, welche die internationale Gemeinschaft bei der Wahrnehmung ihrer Schutzverantwortung einsetzen kann: kooperative Ansätze nach Kapitel VI der Charta, insbesondere Verhandlungen, Mediation, Schiedsverfahren oder juristische Konfliktlösungen, präventive Diplomatie, ›monitoring‹ oder ›fact-finding missions‹, Initiativen des Menschenrechtsrates bis hin zu Zwangsmaßnahmen, die allein durch den Sicherheitsrat nach Kapitel VII der Charta angeordnet werden können (Ban 2012: Ziff. 32). Dabei fordert der Generalsekretär die Mitgliedstaaten auf, in stärkerem Maße strategisch zu denken und vor allem die kooperativen Maßnahmen zur Prävention großflächiger Menschenrechtsverletzungen so früh wie möglich beginnen zu lassen (ebd.: Ziff. 37). Nach allen Klarstellungen und Appellen insbesondere seitens des Generalsekretärs, aber auch der Mitgliedstaaten, die sich in den Debatten der Generalver-

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sammlung zu Wort gemeldet hatten, bleibt hier festzustellen, dass im Prozess der Implementierung des R2P zwar wiederum keine wirklich neuen Mechanismen und Instrumente geschaffen wurden, immerhin aber die weltweite öffentliche Aufmerksamkeit auf die der Schutzverantwortung zugrunde liegende Problematik sowie auf die zu ihrer Bewältigung verfügbaren Mittel gelenkt wurde. Parallel zu ihrer behutsamen konzeptionell-normativen Ausgestaltung hat die Internationale Schutzverantwortung jedoch auch in der politischen Praxis der Vereinten Nationen erste Schritte einer Umsetzung erfahren. Dies gilt insbesondere für den Sicherheitsrat, der sich in einer Reihe seiner Entscheidungen auf die Schutzverantwortung bezog. Am 28. April 2006 zum Beispiel bestätigte der Sicherheitsrat – nach langen Diskussionen – in seiner Resolution 1674 zum Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten »the provisions of paragraphs 138 and 139 of the 2005 World Summit Outcome Document regarding the responsibility to protect populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity« (Ziff. 4); auf diese Wendung bezog sich der Sicherheitsrat auch in der Präambel von Resolution 1706, mit der er am 31. August 2006 die Umwandlung der Friedenstruppe der Afrikanischen Union (AU) AMIS in eine UN-Operation beschloss4. Resolution 1769 vom 31. Juli 2007, mit der dann die UN-AU-Hybridmission UNAMID beschlossen wurde, erwähnt zwar noch einmal Resolution 1674, nicht aber mehr die Paragraphen 138 und 139 des Ergebnisdokuments. Von einer die Entscheidungen des Sicherheitsrates leitenden Norm kann bis hierher, trotz gelegentlicher Rückgriffe auf die R2P, also ebenfalls nicht gesprochen werden.

Umstrittener Anwendungsfall: Libyen 2011 In den Mittelpunkt der weltweiten Aufmerksamkeit geriet die Internationale Schutzverantwortung im Februar 2011, als sich der Sicherheitsrat mit dem beginnenden Bürgerkrieg in Libyen befasste. Unter dem Eindruck des massiven gewaltsamen Vorgehens der Milizen und Sicherheitskräfte des Machthabers Muammar al-Gaddafi gegen Aufständische und Zivilbevölkerung, verhängte der Sicherheitsrat durch die einstimmig gefasste Resolution 1970 (26. Februar 2011) nicht nur Sanktionen wie ein Waffenembargo, Reiseverbote gegen Gaddafi und weitere Repräsentanten seines Regimes sowie das Einfrieren von Vermögenswerten, sondern übertrug auch die Untersuchung des Unrechts in Libyen an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (siehe unten). 4 Dieser Entschluss scheiterte letztlich am Widerstand Sudans wie auch am fehlenden Willen Chinas und Russlands, zum Schutz der Menschenrechte größere Einschränkungen der Souveränität des Sudan zu akzeptieren.

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Bereits in der Präambel dieser Resolution nahm der Sicherheitsrat Bezug auf die R2P, indem er »auf die Verantwortung der libyschen Behörden, die Bevölkerung zu schützen«5 verwies. Nachdem diese Maßnahmen nicht nur zu keinem Ende der Gewalthandlungen führten, sondern die Lage der Menschen vor allem in der eingeschlossenen Stadt Bengasi immer bedrohlicher wurde, verabschiedete der Sicherheitsrat am 17. März 2011 seine, unter anderem von den arabischen Staaten Libanon und Katar, eingebrachte Resolution 1973. Zusammenfassung der Resolution 1973 Durch die Resolution: – werden diejenigen Mitgliedstaaten ermächtigt, »die eine Notifizierung an den Generalsekretär gerichtet haben und die einzelstaatlich oder über regionale Organisationen oder Abmachungen und in Zusammenarbeit mit dem Generalsekretär tätig werden, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, […], um von Angriffen bedrohte Zivilpersonen und von der Zivilbevölkerung bewohnte Gebiete in der Libysch-Arabischen Dschamahirija, einschließlich Bengasis, zu schützen«, – wird eine Flugverbotszone im libyschen Luftraum eingerichtet, »um zum Schutz der Zivilpersonen beizutragen«, – soll die Durchsetzung des mit Resolution 1970 verhängten Waffenembargos mit allen erforderlichen Mitteln geleistet werden, – werden das Einfrieren von Vermögenswerten sowie die Reiseverbote bestätigt und weiter spezifiziert6. Auf die Schutzverantwortung nimmt der Sicherheitsrat in der Präambel dieser sehr umfassenden Resolution 1973 gleich in dreifacher Weise Bezug, indem er erklärt, dass: – »die libyschen Behörden dafür verantwortlich sind, die libysche Bevölkerung zu schützen«, – »die in der Libysch-Arabischen Dschamahirija derzeit stattfindenden ausgedehnten und systematischen Angriffe gegen die Zivilbevölkerung möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen«, – »[der] Schutz der Zivilpersonen und der von der Zivilbevölkerung bewohnten Gebiete sowie den raschen und ungehinderten Durchlass humanitärer Hilfe und die Sicherheit der humanitären Helfer zu gewährleisten [sei].«7

5 Laut Fassung des deutschen Übersetzungsdienstes bei der UN. 6 Siehe Zitate in der Fassung des deutschen Übersetzungsdienstes der UN. 7 Siehe Fassung des deutschen Übersetzungsdienstes der UN.

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Abbildung 2: Sicherheitsrat beschließt UN–Mission in Libyen Der UN–Sicherheitsrat diskutiert die Situation in Libyen. Quelle: UN / Eskinder Debebe, 2011.

Die Resolution 1973 wurde mit zehn Stimmen bei fünf Enthaltungen angenommen8. Der anfängliche – und angesichts der Enthaltungen wichtiger Mächte ja auch keineswegs stabile – Konsens im Sicherheitsrat, die libysche Zivilbevölkerung auch militärisch zu schützen, wurde indes rasch brüchig. Die am 19. März 2011, vor allem von Frankreich, begonnenen Luftangriffe auf Libyen wurden bald unter das Dach der NATO (Operation Unified Protector) geführt, zudem beteiligten sich Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate unmittelbar an den Kampfhandlungen. Als klar wurde, dass die westliche Allianz auch noch nach der Abwendung der unmittelbaren Gefahr für die Zivilbevölkerung in Bengasi sowie nach der gewaltsamen Durchsetzung der Flugverbotszone und des Waffenembargos die nunmehr auf dem Vormarsch gegen die Kräfte von Machthaber Gaddafi befindlichen Aufständischen unterstützte, protestierten China und Russland vehement gegen diese sehr elastische Interpretation der in Ziffer 4 der Resolution 1973 enthaltenen Autorisierung zur Anwendung militärischer Gewalt. Tatsächlich wirkte die Allianz zunehmend als Luftwaffe der Aufständischen. Einzelne NATO-Mitgliedstaaten unterstützten diese sogar durch inoffiziell in Libyen operierende Spezialkräfte. Insgesamt arbeitete die Allianz immer offensichtlicher auf einen forcierten Regimewechsel in Libyen hin, welcher mit der international zunehmend anerkannten 8 Neben Deutschland enthielten sich Indien und Brasilien sowie die beiden Veto-Mächte China und Russland. Bemerkenswert ist daran, dass China und Russland kein Veto einlegten (womit die Resolution gescheitert wäre), obwohl sie traditionell zu den Skeptikern jeglicher externer Interventionen in innere Angelegenheiten eines Staates gehören und der R2P von Beginn an eher misstrauisch gegenüberstanden.

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Machtübernahme durch den ›Nationalen Übergangsrat‹ im August 20119 und schließlich der Gefangennahme und alsbaldigen Tötung Muammar al-Gaddafis am 20. Oktober 2011 auch vollzogen wurde. Die Durchführung der Militäraktion der NATO war also bereits bald nach ihrem Beginn gerade wegen der offenkundigen Parteinahme für die libysche Opposition heftig umstritten und entsprechend kontrovers fällt die Bewertung der ›Operation Unified Protector‹ aus. Unterschiedliche Reaktionen Für die NATO nahm deren Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen einen Erfolg sowie die Berücksichtigung aller Mandatsbedingungen in Anspruch: »We have fully complied with the historic mandate of the United Nations to protect the people of Libya, to enforce the no-fly zone and the arms embargo. Operation Unified Protector is one of the most successful in NATO history« (Rasmussen 2011). Südafrikas Präsident Jakob Zuma beklagte dagegen in einer Parlamentsrede, dass die ursprünglich positiven Intentionen der Resolution 1973 missbraucht worden seien: »We strongly believe that the resolution is being abused for regime change, political assassinations and foreign military occupation« (Mail and Guardian 2011). Im September 2011 merkte Brasiliens Präsidentin, Dilma Rousseff, während der Generaldebatte zur Eröffnung der 66. Generalversammlung an, dass »much is said about the responsibility to protect; yet we hear little about responsibility in protecting. These are concepts that we must develop together« (Rousseff 2011). Sie leitete so eine diplomatische Initiative zur Entwicklung einer »responsibility while protecting« ein, welche die Pflichten intervenierender Staaten in den Blick nimmt, und die daher auch als direkte Kritik am Vorgehen der NATO betrachtet werden kann. In Artikel 10 des dann am 11. November 2011 der Generalversammlung und dem Sicherheitsrat vorgelegten Dokuments heißt es daher auch unumwunden: »There is a growing perception that the concept of the responsibility to protect might be misused for purposes other than protecting civilians, such as regime change. This perception may make it even more difficult to attain the protection objectives pursued by the international community« (Brasilien 2011). Wenngleich Brasiliens Vorstoß im Laufe des darauffolgenden Jahres deutlich an Schwung verlor (Benner 2012: 256), unterstreicht die »responsibility while pro9 Die UN-Generalversammlung erkannte den ›Nationalen Übergangsrat‹ am 16. September 2011 an und am 20. September 2011 folgte die Anerkennung durch die AU.

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tecting« noch einmal das grundlegende Misstrauen, welches einer tiefgehenden Eingriffsnorm in die Souveränität eines Landes in weiten Teilen der Welt nach wie vor entgegengebracht wird. Die Libyen-Mission der NATO stand somit zwar ganz im Zeichen der R2P, dürfte ihrer weiteren Akzeptanz und Implementierung jedoch fürs Erste mehr geschadet als genützt haben.

Perspektiven Der Umgang mit der R2P in der Libyen-Krise lässt erwarten, dass sich deren weitere Entwicklung von einem eher politischen Konzept hin zu einer völkerrechtlichen Norm sehr langsam vollziehen wird – insbesondere was ihren dritten Pfeiler, die zeitnahe und entschlossene Reaktion beziehungsweise im ICISSEntwurf die ›responsibility to react‹, betrifft. Dies wird insbesondere am Beispiel der sich parallel zum Libyen-Szenario entwickelnden Situation in Syrien deutlich. Dort hat das Leiden der Zivilbevölkerung seit Beginn des Bürgerkrieges im Frühjahr 2011 verheerende Ausmaße angenommen, welches die Weltgemeinschaft ratlos macht. Zwar konnten die Menschenrechtsverletzungen und der Einsatz von Gewalt gegen die Zivilbevölkerung von der UN-Versammlung noch in einem (rechtlich jedoch nicht bindenden) »presidential statement« verurteilt werden10, aber alle drei Resolutionsentwürfe zur Verurteilung der Repressionsmaßnahmen der syrischen Regierung gegenüber der Zivilbevölkerung vom Oktober 2011 beziehungsweise vom Februar und Juli 2012 scheiterten am Veto Russlands und Chinas. Hier kommen sowohl eine tiefsitzende Enttäuschung über die aus deren Sicht missbräuchliche Auslegung von Resolution 1973 als auch Entrüstung über die westliche Instrumentalisierung der Zugeständnisse seitens Russlands und Chinas zum Ausdruck. Mit ihrer konstruktiven Enthaltungen waren Russland und China den drei interventionsbereiten ›Ständigen Mitgliedern‹ weit entgegengekommen. Dies gilt auch, wenn man in Rechnung stellt, dass das russisch-chinesische Abstimmungsverhalten sicher auch durch Rücksicht auf ihre ebenfalls auf ein energisches Vorgehen gegen Gaddafi drängenden Partner in der AU oder der Arabischen Liga motiviert war. Wie tief das infolge des Libyen-Einsatzes entstandene Misstrauen gegenüber westlichem Interventionismus und wie hoch die Vorsicht (nicht nur) in Russland und China ausgeprägt ist, keinesfalls durch verurteilende Resolutionen Vorlagen für eine eventuelle Syrien–Intervention zu liefern, verdeutlichte der russische Ministerpräsident Dimitri Medwedjew im August 2012 in einem Interview: 10 Siehe S/PRST/2011/16 vom 3. August 2011.

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»When the resolution on Libya was adopted, we thought our countries would hold consultations and talks and at the same time we would send a serious signal to the Libyan leader. But unfortunately it ended up the way it did. They kept telling us there would be no military operation, no intervention, but eventually they started a fullblown war that claimed many lives. […] So, what happened with Libya has definitely affected my position and continues influencing Russia’s position on the Syrian conflict« (Medwedjew 2012).

Wie kann vor diesem Hintergrund das Konzept der Schutzverantwortung weiterentwickelt werden? Zunächst müsste versucht werden, die Kontroverse zwischen den ›Ständigen Mitgliedern‹ zu beenden, gegenseitiges Vertrauen wieder aufzubauen, und so die Voraussetzungen für ein gemeinsames Verständnis über die Zukunft der R2P zu schaffen. Immerhin haben sich China und Russland nach anfänglich großer Skepsis erkennbar auf das Konzept der Schutzverantwortung zubewegt und letztlich sogar eine militärische Intervention mitgetragen. An die gemeinsamen Vorstellungen von einer internationalen Schutzverantwortung vor der Libyen-Intervention kann also möglicherweise wieder angeknüpft werden. Die Chancen dürften auch gar nicht schlecht stehen, weil gerade die fünf ›Ständigen Mitglieder‹ bei der Verfolgung ihrer politischen Interessen immer wieder aufeinander angewiesen sind. Je größer die gemeinsamen Schnittflächen in den unterschiedlichen Politikfeldern sind, desto leichter fällt diese Interaktion. Die Wiederherstellung eines – wenn vielleicht auch kleinen – gemeinsamen Nenners ist dabei nicht in erster Linie für künftige Interventionen wichtig, sondern zuvorderst für die Verbesserung der Prävention gravierender Menschenrechtsverletzungen und der verstärkten Unterstützung betroffener Staaten und Gesellschaften durch die internationale Gemeinschaft. Eine erkennbare Einmütigkeit im Sicherheitsrat in Bezug auf gravierende Menschenrechtsverletzungen wäre ein deutliches Signal an potentielle Gewalttäter, dass ihnen die UN entschlossen entgegentritt und sich seine Mitglieder nicht gegeneinander ausspielen lassen. Bezüglich der hierzu nötigen Instrumente hält der oben vorgestellte Bericht des Generalsekretärs (Ban 2012) eine Reihe sehr konkreter Vorschläge. Militärische Interventionen können dabei immer nur die ›ultima ratio‹ bleiben. Aber auch hier bedarf es enger Kooperation und Abstimmung vor der Verabschiedung einer Resolution und vor allem bei deren Umsetzung, um im Falle einer künftigen Interventionsentscheidung so widersprüchliche Interpretationen eines Resolutionstextes zu vermeiden wie in der Libyen-Krise. Die Verständigung zwischen den Mitgliedern des Sicherheitsrates ist auch deshalb von so entscheidender Bedeutung, weil sich die R2P bislang nicht zu einer völkerrechtlichen Norm entwickelt hat, die schlussendlich auch militärische Maßnahmen ohne dessen Mandat legitimieren könnte. Diesen Status wird

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die R2P voraussichtlich auch niemals erreichen – und sie muss dies auch gar nicht. Das große Verdienst der Schutzverantwortung besteht darin, dass großflächige Menschenrechtsverletzungen für die Staaten- und Völkergemeinschaft als eine nicht hinnehmbare Zumutung betrachtet werden. Die Schutzverantwortung ist damit zu einem global akzeptierten Referenzprinzip geworden, an dem sich abgestufte Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft auf der Grundlage des bestehenden Völkerrechts ausrichten können. Das ist weit weniger, als die in einem komplexen Internationalen System ohnehin visionäre Vorstellung von einem Instrument zur Beseitigung des Bösen in der Welt. Es ist aber allemal ein Konzept, dessen weitere Ausgestaltung und Umsetzung die anhaltende Unterstützung von Regierungen und Gesellschaften verdient. Fragen zum Weiterdenken Unter welchen Voraussetzungen scheint eine Verständigung zwischen Staaten und Mächten über die Wahrnehmung einer internationalen Schutzverantwortung möglich? Wie lassen sich gravierende Menschenrechtsverletzungen durch präventive Maßnahmen verhindern? Kann Gewalt ein Mittel zur nachhaltigen Unterbindung von Gewalt sein?

Leseempfehlungen Evans, Gareth: The Responsibility to Protect. Ending Mass Atrocity Crimes Once and For All. Washington D.C. 2008. Gareis, Sven B.: TheUnited Nations: an introduction. Basingstoke u. a. 2012 [2. Auflage]. Verlage, Christopher : Responsibility to Protect. Tübingen 2009.

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4. Gewaltprävention und Gewaltnachsorge

Hartwig Spitzer

Gewaltprävention und Gewaltnachsorge

Die Disposition zu Gewalttätigkeit wird in der Kindheit und im Jugendalter wesentlich von außen beeinflusst. In der Adoleszenz überwiegt dabei der Einfluss von Gleichaltrigen. Gewaltanwendung – anderen oder sich selbst gegenüber – wird bei entsprechenden Einflüssen gelernt. Kinder und Jugendliche können aber auch lernen, ihr Aggressionspotenzial konstruktiv zu nutzen. Gewalt unter Jugendlichen gedeiht in einer Atmosphäre von Angst, Mangel an Respekt, gefährdeter Identität und sozialer Vernachlässigung. Weil Schulen in Deutschland und in vielen anderen Ländern wiederholt zum Schauplatz von Gewaltausbrüchen geworden sind – vom Cyber-Mobbing bis zum Amoklauf – sind sie ein wichtiger Ort für Programme der Gewaltprävention. Dieter Lünse und Katty Nöllenburg haben solche Programme in Hamburger Schulen seit mehr als zehn Jahren erfolgreich konzipiert, gefördert und begleitet. Sie schildern verschiedene Verfahren der Streitschlichtung durch Schüler (Schülermediation) als Basis für alle aufbauenden Bausteine des Sozialen Lernens. Es ist ein hierarchiefreier Lösungsansatz, bei dem alle an einem Konflikt Beteiligten unter Vermittlung einer unparteiischen Person eine für alle Beteiligten akzeptable Lösung erarbeiten. Schülermediation kann allerdings nur dann zur Entwicklung einer konstruktiven Konfliktkultur an Schulen beitragen, wenn sie institutionalisiert und dauerhaft gefördert wird – und wenn Lehrerinnen und Lehrer, Schulleitung und Eltern ihre Konflikte ebenso konstruktiv und fair austragen. Der Beitrag gibt viele Anregungen für die praktische Arbeit zu Gewaltprävention und konstruktiver Konfliktbearbeitung in Schulen. Es gibt Teile der Welt, in denen Kinder keine Schule besuchen können und sogar zur Gewaltanwendung gezwungen werden. Weltweit dienen etwa 250.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren als Kindersoldaten. Sie werden auf grausame Weise dazu gebracht, ihre eigenen Tötungshemmungen zu überwinden und zu töten, sogar Mitglieder der eigenen

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Familie. Viele der Kindersoldaten erleiden dabei schwere Traumatisierungen. Die Psychologin und Trauma–Forscherin Fionna Klasen engagiert sich als Kinder- und Jugendtherapeutin seit längerem im Norden von Uganda für die Rehabilitation und Re-integration von ehemaligen Kindersoldaten. Sie wird seit 2012 unterstützt von der Psychologin Stefanie Woynar. Die beiden Autorinnen beschreiben das Leben von Kindern als Soldaten im Krieg, die psychischen und körperlichen Folgen von Traumatisierungen und verschiedene Therapieansätze. Junge Patienten werden unterstützt, sich nach einer längeren Zeit der Vermeidung mit dem angstauslösenden Ereignis aus der Vergangenheit auseinander zu setzen. Die Arbeit erfolgt in Uganda – einem Land, in dem es keinen einzigen Kinder- und Jugendpsychiater gibt – durch speziell ausgebildete Sozialarbeiter, Psychologen und Erwachsenenpsychiater. Der Artikel zeigt Erfolgsbedingungen und Grenzen der Rehabilitation von Kindersoldaten auf.

Dieter Lünse und Katty Nöllenburg

Gewaltprävention in Schulen

Schulen fingen in den 1990er Jahren bundesweit vermehrt an, zu den Themen Gewalt und Bearbeitung von Konflikten zu arbeiten. Ein Modell, die Mediation von Schülerinnen und Schüler für ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, hatte in dieser Zeit seine Anfänge und wird bis heute erfolgreich durchgeführt. Inzwischen gibt es zahlreiche Modelle für Gewaltprävention. Mit einigen Beispielen aus der Großstadtregion Hamburg gibt der Artikel einen Einblick in die Praxis dieser Arbeit. Der Hamburger Fachkreis Gewaltprävention hat in seiner Entstehungszeit Prävention wie folgt definiert: »Gewaltprävention verstehen wir als die Summe aller Maßnahmen, die Kinder und Jugendliche befähigen, ihre Probleme, Unsicherheiten und Proteste so auszudrücken, dass anderen und ihnen selbst kein Schaden zugefügt wird« (Fachkreis Gewaltprävention 2000: 71). Ausgehend davon wurden die ersten Gewaltpräventionskonzepte für Schulen wie auch für andere Bereiche entwickelt. Der Fachkreis ist ein übergeordnetes Gremium für Hamburg, in dem die Landesbehörden für Schule, Jugend und Polizei sowie viele freie Träger vertreten sind. Die Publikationsreihe »Reader Konflikte und Gewalt«1 wird von ihm herausgegeben. Sie bildet von der ersten Ausgabe im Jahr 2000 bis zur aktuellen fünften Ausgabe die Entwicklung der Gewaltprävention in Hamburg ab. Deutlich ist in allen Ausgaben, dass viele Präventionsprojekte in den Schulen angesiedelt sind und einen breiten Raum einnehmen. Kinder und Jugendliche sind dort gut erreichbar. Durch die Entwicklung in den letzten 15 Jahren hin zu Ganztagsschulen, in denen sich die Heranwachsenden nicht nur bis 13.00 Uhr, sondern teilweise bis 16.00 Uhr aufhalten, hat sich der Alltag der Schülerinnen und Schüler stark verändert. Durch das Verbringen von so viel Lebenszeit in der Institution Schule stieg nicht nur der Druck, Lernen in einer friedlichen Gemeinschaft zu ermöglichen, sondern auch zur Entstehung einer tragfähigen sozialen Gemeinschaft beizutragen. Daher sind die Anzahl und die Qualitäts1 Siehe im Internet unter : http://www.gewaltpraevention-hamburg.de/dateien/konflikte.pdf .

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anforderungen an gemeinschaftsbildende Projekte deutlich gestiegen. Die Auswahl der Projekte muss individuell passend ausgesucht werden. Sie hängt von der Altersstufe, vorhandenen Ressourcen, geeigneten Akteuren und der systemischen Implementierung vor Ort ab. Nur dann kann Erfolg eintreten und eine Entmutigung der Initiatoren vermieden werden. Die Anforderungen in vielen anderen Belangen des Lernens, der Umorganisation zur Ganztagsschule und neuerdings zur Inklusion, sind bereits sehr große Baustellen, so dass die Belastungsgrenzen an vielen Stellen erreicht sind. Jede einzelne Schule hat ihre eigene Kultur im Umgang mit Konflikten und Gewalt, die nur langsam geändert werden kann. Nachhaltige Projekte und Menschen mit Visionen, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Systems, bewegen in diesem Feld etwas. Wenn jedoch keine Ausdauer vorhanden ist, verändert sich kaum etwas und Konflikte verlaufen nach altbekannten Mustern. Und das bedeutet, dass Konflikte schnell ein Eigenleben führen, unzureichend gelöst werden und so das System destabilisieren. Angst wird dann ein größerer Faktor im schulischen Leben als Förderung und Entwicklung.

Ein Blick in das System – die Erich Kästner Grund- und Stadtteilschule Die Erich Kästner Grund- und Stadtteilschule ist das erste Beispiel gelungener Projekte zur Gewaltprävention, die an dieser Schule gut aufeinander aufbauen und ein Gesamtkonzept bilden. Jörg Kowalczyk ist Mitglied im Beratungsteam und einer der Sozialarbeiter an der Schule. Er berichtet, »dass ›Soziales Lernen‹ an der Schule in allen Klassenstufen fester Bestandteil des Jahresplans und in einander aufbauende Bausteine gegliedert ist.«

Das Konzept in der Grundschule So wird bereits in der Grundschule ein Klassenrat eingeführt, der im Verlauf der weiteren Schulzeit regelmäßig stattfindet. Er wechselt jedoch sein Gesicht in den verschiedenen Altersstufen, weil die Kinder mit der Zeit selbstständiger werden und den Klassenrat verstärkt als ihr eigenes Gremium wahrnehmen und ihn damit aus der Hand der Lehrenden übernehmen. Der Rat ist nicht nur Mitbestimmungsorgan der Lernenden, sondern dient auch als wichtiges demokratisches Werkzeug bei den Tagungen des Schülerparlaments, in dem sich einzelne Vertreterinnen und Vertreter der Grundschule regelmäßig für die Besprechung aktueller Anliegen treffen.

Gewaltprävention in Schulen

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Verschiedene Projekte zur Sensibilisierung des Themas ›Gewalt‹ werden punktuell durchgeführt. Auf dem Pausenhof der Grundschule können Konflikte über die Pausentröster (FairMittler), die als vermittelnde Instanz fungieren, gelöst werden. Durch die frühe Einführung von Partizipationsmöglichkeiten lernen Kinder nicht nur das notwendige Handwerkszeug zur Mitbestimmung, sondern auch, dass Verantwortungsübernahme zu einem demokratischen Schulalltag gehört.

Gewaltprävention in der Stadtteilschule In den älteren Jahrgängen führen altersgemäße Gremien mit erweiterten Kompetenzen die Ansätze fort: Statt der FairMittler werden die Streitschlichterinnen und Streitschlichter tätig. Der Schülerrat nimmt den Platz des Schülerparlaments aus der Grundschule ein. Er setzt sich aus den einzelnen Klassensprecherinnen und Klassensprechern zusammen. Weitere neue Bausteine ›Sozialen Lernens‹ starten altersgemäß in Klasse 5 und 6 mit Teamtraining und Fragen zur Integration und Inklusion sowie der Etablierung der Klassenregeln und dem bekannten Klassenrat. In diesem Alter sind Kinder bereits selbstständiger und mehr auf ihre Bezugsgruppen bezogen als auf die Lehrer. In den nachfolgenden Jahrgängen ist dann, wieder dem Alter angepasst, das Thema Sexualität und Streitschlichtung dran. Gewaltprävention taucht erstmalig als Begriff in der Mittelstufe auf. »Der Fachkreis Gewaltprävention sieht Gewalt sowohl als individuelles Problem von auffälligen Kindern und Jugendlichen und deren oftmals problematischem Umfeld als auch durch gesellschaftliche Hintergründe bedingt. Bedeutend ist demnach, dass gewaltpräventive Bemühungen sich sowohl an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Gewalt als auch an der individuellen Verantwortlichkeit gewalttätiger Jugendlicher, deren Bezugspersonen und den Erfahrungen von Opfern orientieren müssen: Gewalttätigkeit ist eine Form menschlicher Kommunikation, die den Aspekt gegenseitiger, auf Kooperation und Vertrauen beruhender Akzeptanz nicht berücksichtigt« (Fachkreis Gewaltprävention 2000: 71 f.).

An der Erich Kästner Schule wird insofern darauf Bezug genommen, dass Projekte in der Mittelstufe unterschiedliche Schwerpunkte wie Mobbing, Cybermobbing oder Zivilcourage haben. Auch Themen wie Ess–Störungen und Drogenmissbrauch gehören in diesen Bereich. Mit zunehmendem Alter vermindern sich Gewaltauffälligkeiten, wenn Hilfe aktiv ansetzt und Selbstständigkeit mit Verantwortungsübernahme einhergeht. Die älteren Schülerinnen und Schüler beschäftigen sich dann mit Berufs- und Lebensorientierung, Zeitmanagement, interkulturellen Kompetenztrainings und weiterführenden Inhalten zu den einzelnen vorausgegangenen Projekten.

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Zusammenhang von Gewaltprävention, Partizipation und Verantwortungsübernahme Die Verzahnung der einzelnen Projekte und Bausteine ist an der Erich Kästner Schule wie eine zweite mitgedachte Ebene. Die Streitschlichterinnen und Streitschlichter beziehungsweise die FairMittler berichten zum Beispiel regelmäßig über ihre Arbeit im Schülerrat und Schülerparlament. Träger des Streitschlichterprogramms ist der Schülerrat. Im Klassenrat werden die Schülerinnen und Schüler für das Programm gewählt, die Ausbildung wird von erfahrenen Streitschlichterinnen und Streitschlichtern begleitet und unterstützt. Parallel zur Ausbildung wird in den Klassen der konstruktive Umgang mit Konflikten eingeübt. Die Grundlagen hierfür werden bereits in der Grundschule gelegt: Durch das ›Gemeinsam-Stark-Projekt‹ und das ›Streit-Training‹ werden die Kinder für den Umgang mit Gewalt sensibilisiert und erlernen Handlungsmöglichkeiten zur friedlichen Auseinandersetzung. Die FairMittler (Pausentröster) in der Grundschule sind der kleine Vorläufer der Streitschlichtung. Größere Streitigkeiten geben sie an die älteren und intensiver ausgebildeten Streitschlichterinnen und Streitschlichter weiter. Hier besteht eine fest etablierte Patenschaft. Eine Schlichtung kann auch über das Streitschlichterfach im Lehrerzimmer oder im Büro der Schülervertretung angefordert werden. Den Raum für Schlichtung unter Schülern bietet die Sprechstunde »Schüler beraten Schüler« im ›Büro‹ der Streitschlichterinnen und Streitschlichter – einem ausgebauten Bauwagen auf einem selbst organisierten Außengelände.

Wege zum Aufbau einer konstruktiven Konfliktkultur Während viele Schulen bereits einzelne Projekte zur Gewaltprävention auf die Beine bringen, fehlt oft noch die Verzahnung. Manchmal sind es gar Inselprojekte, die zwar lange leben können, jedoch nie einen Einfluss auf das Schulleben gewinnen. Eine Schulkultur der Ignoranz, mangelnden Wertschätzung und Konkurrenz liegt leider auch in der Natur des normativen und vom Staat vorgegebenen Systems Schule mit geringen Freiräumen. Von daher braucht es Menschen, die mit Visionen arbeiten, systematisch vorgehen und eine konstruktive Schulkultur verwirklichen. Dies geht nur mit einer Haltungsänderung der Erwachsenen: Lehrende, die in den Entwicklungsjahren der Kinder und Jugendlichen eine Basis bilden, sowie Eltern, die den Mut haben, ihre oft geringeren Möglichkeiten in die Waagschale zu geben, um die Basis für eine Schulkultur ohne Angst noch einmal zu verbreitern. Die Erich Kästner Schule hat bereits vieles davon geleistet.

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Abbildung 1: Streitschlichtung benötigt eine passende Umgebung. Quelle: Institut für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation, Hamburg

So wie eine Schule sich nicht einzig mit Inselprojekten weiter entwickelt, gelingt Gewaltprävention auch nur im Verbund mit anderen Schulen und im System der sozialen Räume. Streitschlichtung ist die Konfliktvermittlung unter Schülerinnen und Schüler selbst. Dieses Modell konnte sich weitgehend durchsetzen. Es wird seit den 1990er Jahren bundesweit angewandt und wird in Hamburg in über 25 Prozent der Schulen praktiziert. Streitschlichtung ist bei anderen Trägern in den Stadtteilen und in der Öffentlichkeit hoch anerkannt. Ein Blick auf die Entwicklung des Streitschlichter–Modells lohnt sich, um Gewaltprävention an Schulen zu verstehen. Unabhängig von den widersprüchlichsten Expertenmeinungen zum Konfliktverhalten von Kindern und Jugendlichen in Schulen gibt es tatsächlich einen eindeutigen Wandel im Umgang mit Konflikten. Früher klärte eine Lehrkraft einen Konflikt, entschied über richtig und falsch, gut und böse und Konsequenzen. Heutzutage gehen immer mehr Schülerinnen und Schüler mit ihren Konflikten zu den ausgebildeten Schülermediatoren vor Ort. Es fand eine Implementierung partizipativer und konstruktiver Konfliktkultur statt. In allen Bundesländern und in allen Schulformen sind sie unter unterschiedlichen Namen zu finden: Streitschlichtungsteams, Konfliktlotsen, Peer-Mediatoren

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oder Pausenhelfer sind nur einige der Bezeichnungen. Sie können im Wahlpflichtbereich, in Arbeitsgemeinschaften oder in Profilfächern angesiedelt sein; sie können in einem Mediationsraum oder im Bauwagen stattfinden, mit festen Zeiten oder einem Aufsuch-Modell. Man erkennt die Aktiven an speziell gestalteten Pullovern, T-Shirts, Käppis oder Anhängern mit oder ohne selbst gemachten Logos. Zu den Erkennungszeichen in Hamburg gehören auch Lesezeichen mit witzigen Cartoons (siehe Abbildungen 1 bis 3). Alle Programme haben gemeinsam, dass sie nach einem Fünf-Phasen-Modell ausgebildet werden und aktiv an ihren Schulen mediieren. Das Modell geht zurück auf das Harvard Konzept, ein Klassiker der Verhandlungstechnik (Fisher/Ury/Patton 2004). Beispiel für eine Schülermediation Typische Konflikte, die in der Schülermediation bearbeitet werden, sind beispielsweise eine Beleidigung, die zu einem Faustschlag geführt hat, eine ausgeliehene CD, die zerkratzt zurückgegeben wurde und nun zu einer Diffamierung geführt hat, eine frühere Freundschaft, an der eine Person noch stark hängt, die andere sich aber weiterentwickelt hat, der Streit um eine Liebesbeziehung, der in einer Prügelei endet oder das ›Petzen‹ bei der Lehrkraft, das zu Ausgrenzung durch eine starke Gruppe führt. Im Dialog werden Missverständnisse und unterschiedliche Wahrnehmungen geklärt: »Wieso regt der sich so auf, das war doch nur Spaß?!« »Für dich vielleicht, ich fand’s gar nicht witzig! Das war mir echt wichtig.« Mögliche Konsequenzen aus dem Gespräch – Vielleicht macht der eine etwas nicht wieder, weil er nun weiß, dass es den anderen wirklich verletzt oder geärgert hat. – Vielleicht fühlt der andere sich zukünftig nicht so verletzt, weil er weiß, dass der andere nur Spaß macht. – Vielleicht fühlt er sich trotzdem zukünftig verletzt und verärgert, lernt aber, sich woanders Kraft, Zuspruch und Unterstützung zu holen. – Vielleicht keins von beiden, es wird zukünftig bösartig gehandelt, der andere ist extrem verletzt, es droht zu eskalieren. Wie in der Erwachsenenwelt sind nicht alle Konflikte für die Mediation geeignet. Dies gilt es, bei jedem Konflikt auszuloten und gegebenenfalls an andere Konfliktaustragungsverfahren des Schulsystems weiterzuleiten.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten zur Mediation mit Erwachsenen Für Erwachsene ist es oft erstaunlich, wie schnell eine gute und erfolgreiche Schülermediation durchgeführt werden kann. Manchmal kann tatsächlich in

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Abbildung 2: Verständnis für den Anderen. Quelle: Institut für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation, Hamburg

einer zehnminütigen Pause ein Konflikt mediiert werden, inklusive Etablierung von Gesprächsregeln, Sichtweisendarstellung, Konflikterhellung, Perspektivwechsel, Lösungssuche, Vereinbarung und Nachhaltigkeits–Check. Manchmal dauern aber Schülermediationen auch über mehrere Sitzungen an. Generell aber können sie als viel schneller, unkomplizierter und nachhaltiger als Erwachsenenmediationen oder Richterverfahren der Lehrkräfte bezeichnet werden. Die Anwendung von Mediationsverfahren ist in der Erwachsenenwelt in den letzten Jahren stark angestiegen. Die gesellschaftliche Entwicklung zeigt, dass es heute für Betriebe, Konzerne, Wohnungsbaugenossenschaften und politisch Verantwortliche immer selbstverständlicher wird, Mediatoren oder zumindest neutrale Vermittler bei Konflikten oder Organisationsentwicklung hinzuzuziehen. Immer mehr große Betriebe haben interne Konfliktvermittlungsteams. Vielleicht ist dies schon eine Folge des Wirkens der ersten ›Streitschlichtungsgeneration‹, die aus den Schulen in die Berufswelt getreten ist. Das wäre ein weiterer Grund, um zukünftig an jeder Schule Deutschlands Schülermediation als Grundbaustein einzuführen. Die Strukturen innerhalb einer Schule sind durch äußere Vorgaben eingeschränkt und durch verschiedene gesetzliche und behördliche Ebenen reguliert.

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Dennoch gibt es auch in diesem Bereich Entwicklungen. Die neuste Entwicklung in Hamburg ist, dass laut Paragraph 49 des Schulgesetzes Schulmediation auch als Erziehungsmaßnahme eingesetzt werden kann – hier zu verstehen als motivierender Vorschlag mit klaren Konsequenzen, falls die Mediation nicht stattfindet. Hier wird die klassische Freiwilligkeit der Konfliktparteien eher zu einer ›Bereitschaft‹ umgewandelt, an dem Mediationsverfahren teilzunehmen. Diese Voraussetzung ist auf die Erwachsenenwelt übertragbar und bei vielen Konflikten Teil der Realität geworden. Bei einem Konflikt zwischen zwei Arbeitskollegen ist es nicht ungewöhnlich, dass der Arbeitgebende den Konfliktparteien eine Mediation ermöglicht, an der sie ›freiwillig‹ teilnehmen können. Falls einer oder beide sich gegen das Verfahren entscheiden, ist die Konsequenz, dass der Chef nun doch entscheidet. So wird in vielen Mediationsausbildungen, auch bei Erwachsenen, nicht mehr von einer Freiwilligkeit, sondern nur noch von einer beiderseitig notwendigen Bereitschaft gesprochen.

Wer sind die Schülermediatorinnen und -mediatoren und was qualifiziert sie? 2006 ist erstmals eine bundesdeutsche Evaluation zu Mediation an Schulen erschienen. Sie konnte damals schon knapp 1.500 Schulen in Deutschland mit Schülermediation lokalisieren, die entsprechende Programme seit Beginn der 1990er Jahre etabliert haben. In Hamburg ist die Zahl der Streitschlichtungsschulen mit inzwischen circa 1.500 ausgebildeten Schülermediatorinnen und -mediatoren von 65 im Jahr 2006 auf 100 im Jahre 2011 gestiegen. Die ›Mediationsfachgruppe Erziehung und Bildung‹ des Bundesverbands für Mediation bestätigt, dass die bundesweite Zahl der Schülermediatoren bei über 10.000 liegt (Behn u. a. 2006). Es bestehen keine aktuelleren bundesweiten Zahlen, jedoch besteht ein stetiger Aufwärtstrend. Vor allem die Grundschulen sind ein Expansionsmarkt für Schülermediation. Schülermediation hat sich unabhängig von Schulform und Stadtteil entwickelt. Die Erfolgs- und Scheiterungskriterien sind unabhängig von Bildungsniveau, Heterogenität der Schülerzusammensetzung, gesellschaftlichem Stand und Herkunft. Der nachhaltige Erfolg ist ausschließlich an strukturelle Implementierungsfragen geknüpft, die später erläutert werden. Die größte vertretene Altersgruppe sind in der Sekundarstufe I die 14- bis 16jährigen, und in der Grundschule vor allem die Viertklässler, die jeweils Konflikte der Jüngeren mediieren. Alle Schülermediatoren erhalten eine qualifizierte Ausbildung, die in der Regel 40 Stunden umfasst. Die Inhalte der Ausbildung sind vergleichbar mit den allgemeinen Mediationsausbildungen für Erwachsene, nur für die jeweilige Altersstufe modifiziert. Zusätzlich zu der Mediationsausbildung erhält die Mehr-

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heit der Schülerteams Supervision und führt teilweise auch Intervision (Fallbesprechung unter Schülermediatoren) durch. Ihre ehrenamtlichen Tätigkeiten werden im Zeugnis, in Urkunden oder Zertifikaten bescheinigt und nicht selten mit einem ›Dankeschönausflug‹ im Jahr honoriert. Typische Inhalte einer Schülermediationsausbildung – Ein Gespräch moderieren – Gesprächsführungskompetenz – Aufmerksam zuhören und Gesagtes in einer nicht verletzenden Form zusammenfassen – aktiv zuhören – Beide Konfliktparteien gleich behandeln – Allparteilichkeit – Für sprachliche Fairness sorgen – Beleidigungen unterbinden – Konflikterhellung – Methoden der Gesprächsvertiefung – Pendeln und Perspektivwechsel – Brainstorming anleiten – Gute von schlechten Lösungen unterscheiden – Vereinbarungen formulieren – Grenzen der Schülermediation kennen – Öffentliche Darstellung des Streitschlichtungsprogramms Dass Schülermediation schon lange ein ernstzunehmendes Fachgebiet ist, zeigt sich unter anderem darin, dass sich 1998 als erste Fachgruppe im Bundesverband Mediation e.V. die Gruppe ›Mediation in Erziehung und Bildung‹ gebildet hat. Diese hat 2002 Qualitätsstandards für die Ausbildung von pädagogischen Schulmitarbeitenden als Multiplikatoren und für die daraus resultierende Ausbildung der Schülerinnen und Schüler entwickelt. Die Hamburger ›Steuergruppe Streitschlichtung‹ hat darauf aufbauend im Jahr 2010 Mindeststandards für eine erfolgreiche Implementierung und Verankerung formuliert, mit besonderer Rücksicht auf die Realitäten des Schulalltags.

Erfolgsbedingungen für Gewaltprävention an Schulen Systematische Förderung der Schülermediation Untersuchungen und Erfahrungsaustausch haben durchgehend gezeigt, dass die erfolgreiche Implementierung der Schülermediation nur funktioniert, wenn die gesamte Schulgemeinschaft dahinter steht und diese unterstützt. Wichtig ist hier zu betonen, dass die Streitschlichtung kein ›Insel-Dasein‹ führen darf. Sie muss vernünftig im kulturellen Leben der Schule vernetzt und eingebunden sein, so dass sich weitere flankierende Maßnahmen des ›Sozialen Lernens‹ aus ihr ent-

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wickeln können. Wenn Schülermediation an einer Schule nicht funktioniert, liegt es meist daran, dass nicht genügend Konfliktfälle an das Schülerteam herangetragen werden und kein eigener, geschützter Streitschlichtungsraum zur Verfügung steht. An Konflikten mangelt es nicht, nur finden diese ihren Weg nicht zu den Mediatorenteams. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe: Zum einen ist mangelnde Öffentlichkeitsarbeit das Stichwort, welches Parallelen zur Mediation in der Erwachsenenwelt aufzeigt, wenn Mediationspraxen leer bleiben. Zum anderen kommt aber innerhalb des Systems Schule eine weitere, sehr wichtige Funktion hinzu, die eher Parallelen zur Mediation in Betrieben aufzeigt: Lehrkräfte und Schulleitung müssen verstehen und erleben, dass es langfristig viel Energie und Zeit spart, wenn sie bei Schülerkonflikten nicht einfach schnell richten, sondern die Konfliktparteien zu den Schülermediatoren schicken. Nur so kann die gesamte Konfliktkultur der Schule konstruktiver werden und die Mediatoren können sich glaubwürdig bewähren.

Hamburger ›Steuergruppe Streitschlichtung‹ In Hamburg bilden drei sehr unterschiedliche Institutionen die ›Steuergruppe Streitschlichtung‹, um die Qualität der Hamburger Streitschlichtungsschulen zu verbessern: das gemeinnützige ›Institut für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation‹ (ikm), die Beratungsstelle Gewaltprävention des ›Landesinstituts für Lehrerfortbildung und Schulentwicklung‹ und die Unfallkasse Nord. Im Juni 2013 haben sie die elften Hamburger Streitschlichtungstage ausgerichtet. Ein Herzstück der Streitschlichtungstage ist der moderierte Austausch in Workshops in schulgemischten Gruppen. Es gibt einen echten Expertenaustausch über das, was an den Streitschlichtungsschulen gut läuft, was nicht gut läuft, und was sie an Unterstützung haben möchten. Seit drei Jahren gibt es einen eigenen Grundschultag, da die Anzahl der Grundschulen mit dem Streitschlichtungsprogramm so enorm gestiegen ist. Alle Kinder und Jugendlichen geben ihrem Streitschlichtungsprojekt eine Schulnote, die später mit der Einschätzung der betreuenden Pädagogen abgeglichen wird. Die Rückmeldungen der Betreuungslehrkräfte werden in einer jährlichen Statusabfrage evaluiert. Die ›Steuergruppe Streitschlichtung‹ beschäftigt sich über das Jahr hinweg mit den Veränderungsvorschlägen und Unterstützungswünschen der Erwachsenen sowie der Kinder und Jugendlichen und versucht diese umzusetzen. Die Steuergruppe ist weiterhin gemeinsam mit Ausbildern aktiv an der Überarbeitung der Multiplikatoren-Ausbildung der Streitschlichtungs-Betreuungspersonen beteiligt. Wie schon erwähnt, hat sie durch den langjährigen Austausch mit Schulen die bundesweiten Qualitätsstandards der Schülermediation überar-

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beitet und versucht, diese noch besser an die Realitäten des Schulalltags anzupassen. Dies sind nur einige der Hamburger Aktivitäten, mit denen versucht wird, die systematische Verankerung von Streitschlichtung an Schulen zu verbessern.

Schülermediation als Etablierung einer konstruktiven Konfliktkultur Bei der Schülermediation kann es nicht darum gehen, Feuerwehr für Feuerherde zu spielen, die immer wieder vereinzelt in Schulen aufflammen. Die Etablierung und nachhaltige Durchführung der Schülermediation in einer Schule ist als Grundlage und Basis für alle aufbauenden partizipatorischen Bausteine des ›Sozialen Lernens‹ zu sehen. Schülermediation ist ein hierarchiefreier Lösungsansatz mit drei Kernelementen: Erstens eine Lösung für einen konkreten Konflikt finden, die für alle Beteiligten akzeptabel ist, an der zweitens alle Beteiligten selbst mitgewirkt haben und die drittens von einer allparteilichen Person vermittelt wird. So werden allen Kindern und Jugendlichen an einer Schule soziale Kompetenzen und eine Grundhaltung vermittelt, nicht nur einigen Auserwählten, die im Vorhinein schon sozialkompetent sind. Die ausgebildeten Mediatorinnen und Mediatoren können ihre Kompetenzen auch bei ganz anderen Projekten, in der Gremienarbeit, im Klassenrat und in der Beratung einsetzen. Sie können auch bei anderen Themen moderieren, die in der Schule Konflikt beladen sind. Die anderen Schülerinnen und Schüler, die als Konfliktparteien oder Beobachtende erleben, dass Mediation eine etablierte Form der Konfliktaustragung ist, nehmen dieses Wissen und diese Erfahrung in ganz andere Lebensbereiche mit. Wir erleben zunehmend, dass Schülerinnen und Schüler aus ihren Streitschlichtungsschulen herauswachsen, in weiterführende Schulen und Berufsschulen wechseln und einfordern, dass es dort Schülermediation gibt. Aus dem starken Zuwachs an Schülermediation lässt sich ebenso erwarten, dass immer mehr Jugendliche und Jungerwachsene in Ausbildungsbetrieben, Universitäten oder Anstellungen diese Art von Konfliktaustragung einfordern und etablieren. Kinder und Jugendliche können mit ihren bei Schülermediation erworbenen Fähigkeiten auch in ihre eigenen Familien hineinwirken. Es gibt schon viele Einzelberichte, dass Schülermediatoren zuhause bei Konflikten zwischen Geschwistern und Eltern vermitteln. Das bedeutet, dass der konstruktive Konfliktansatz über die reine Streitschlichtungsschule hinaus Wellen schlägt. Ein Fazit und eine Hoffnung könnten sein, dass diese konstruktive Konfliktkultur sich sowohl in Familienkulturen als auch in weiteren gesellschaftlichen Zusammenhängen verankern lässt. Daher gilt es, die Gruppe von jungen aktiven Mediatorinnen und Mediatoren

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zu fördern und auszubauen, so dass die Schülermediation an jeder Schule fester Bestandteil der Konfliktkultur wird. Schülermediation sollte sozusagen das Minimum sein, auf das andere Präventions- und Interventionsprogramme aufgebaut werden können. Dafür muss auch in den Köpfen aller Erwachsenen an Schulen ankommen, dass partizipative und konstruktive Konfliktkultur sinnvoll und fördernswert ist.

Abbildung 3: Kinder können ihre Konflikte selbst lösen. Quelle: Institut für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation, Hamburg

Konkret bedeutet das – Ein grundlegendes Verständnis von allen Erwachsenen an einer Schule, welche Konfliktfälle für eine Mediation geeignet sind. – Aktive Weiterleitung von geeigneten Konfliktfällen an die Schülermediationsgruppe. – Ausbau und feste Implementierung zusätzlicher Aufbaumaßnahmen und Projekte im Präventionsbereich ›Sozialen Lernen‹ für alle Schülerinnen und Schüler. – Vorbildliches Vorleben von konstruktivem Konfliktverhalten der Erwachsenen.

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Erwachsene müssen Vorbilder werden Erwachsene leben noch nicht gut genug die konstruktive Streitkultur vor, selbst an ganz erfolgreichen Streitschlichtungsschulen. Die Schülerinnen und Schüler erleben immer wieder, dass die Konfliktaustragung der Lehrkräfte, Eltern und Schulleitung untereinander eine andere ist, als die, die bei Kindern und Jugendlichen gefördert und von den Erwachsenen so sehr gelobt wird. Diese Diskrepanz wird stark wahrgenommen und erschüttert immer wieder die Glaubhaftigkeit des gesamten Mediationsansatzes. Demnach sollten in Schulen viel mehr Erwachsenenmediationen durchgeführt werden, viel mehr Erwachsene in Mediation geschult sein oder zumindest sollten sie ihre Konflikte sichtbar konstruktiv austragen.

Verknüpfung verschiedener Gewaltpräventions-Projekte außerhalb von Schulen Für eine gelungene Gewaltprävention braucht es aus der Schule heraus den Blick über den Tellerrand. Dazu reicht es nicht nur zu sehen, was andere, in Konkurrenz stehende Schulen gut machen, sondern es muss auch wahrgenommen werden, was im Stadtteil gut funktioniert, um allen Kindern und Jugendlichen im Netzwerk eine Chance zu geben, friedlich und ohne Angst einen Lern- und Lebensmittelpunkt zu haben. Dazu gehört der Aufbau einer anderen Kultur im Umgang mit Gewalt und das Wissen, wer im Stadtteil Konflikte bearbeitet und auf welche Weise. Die Bündelung unterschiedlicher Projekte und Menschen birgt die Chance, den Umgang mit Konflikten grundsätzlich zu verbessern. Ein gelungenes Beispiel für diese Vernetzung ist der Bezirk Harburg im Süden Hamburgs an der Landesgrenze zu Niedersachsen. Dreimal im Jahr treffen sich dort verbindlich Repräsentantinnen und Repräsentanten unterschiedlicher Einrichtungen und Parteien zum ›Stadtteilgespräch Gewaltprävention‹ – kurz SGGP2. Unterstützt werden die Vertreterinnen und Vertreter des SGGP durch die Unfallkasse Nord, die ›Sicherheitskonferenz Harburg‹ (SiKo) und das ikm. So organisierte das SGGP zum Beispiel gemeinsame Gewaltpräventionswochen für mehrere Schulen gleichzeitig oder ein gemeinsames Sportfest von möglichst vielen Jugend- und Kindergruppen, das im Vorfeld unter dem Motto »der Süden lebt – Fit für Fairness« großflächig beworben wurde. Auf diesem Wege wurden alle Jugendlichen im Alter von 13 bis 15 Jahren für den konstruktiven Umgang mit Konflikten und Gewalt in dem Gebiet erreicht. Diese 2 Im SGGP vernetzen und tauschen sich Beauftragte aus verschiedenen Einrichtungen wie Schulen, Polizei, Verbände, Sozialarbeit, Parteien, übergeordnete Einrichtungen sowie Eltern aus.

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nachhaltige und flächendeckende Verbreitung der Gewaltprävention wird maßgeblich von der Unfallkasse Nord unterstützt. Des Weiteren wurde gemeinsam mit der SiKo und der Unfallkasse Nord ein gemeinsames Projekt an vier Grundschulen zur Ausbildung von Schülermediatorinnen und -mediatoren durchgeführt. Zusätzlich wurden Elternkurse ins Leben gerufen, die nicht nur von einer Einrichtung angeboten wurden, sondern von allen Eltern im gesamten Sozialraum genutzt werden können, um in ihrer Erziehung gewaltfreies Verhalten einüben zu können. Seit drei Jahren setzen sich sechs Schulen aus unterschiedlichen Harburger Stadtteilen3 im Süden Hamburgs neben aktuellen Vorfällen auch mit den schulischen Strukturen unter gewaltpräventiven Aspekten auseinander. Die Grundsätze der Schulen werden klar vermittelt. Es werden Orte und Wege im sozialen Umfeld der Schülerinnen und Schüler bekannt gemacht, an denen Konflikte eskalieren können. So können Maßnahmen zum konstruktiven Umgang entwickelt werden. Durch bestimmte Verhaltensnormen und Regeln sowie Mitbestimmung von Schülerinnen und Schülern lässt sich, Schritt für Schritt, die Gewalt an den Schulen und im gesamten Stadtgebiet abbauen. Positives Feedback aus den Schulen bestätigt den präventiven Ansatz: »Ohne dass uns die Gewalt auf den Nägeln brennt, haben wir die Auseinandersetzung mit dem Thema geprobt, weil jetzt unsere Wahrnehmung für Konflikte, Spannungen und unterschwellige Auseinandersetzungen geschärft ist. Und ein Handlungskatalog ist entstanden, so dass wir vielen Eskalationen vorbeugen können« (Ranau 2006: 25).

Evaluation und Qualitätsentwicklung Gewaltprävention an Schulen bleibt auch mit qualitativ guten Projekten, mit einer Verzahnung auf mehreren Ebenen und anleitenden Menschen mit Visionen ein Zufallsprodukt, wenn nicht parallel Evaluation und Qualitätsentwicklung mit geeigneten Instrumenten mit aufgebaut wird. Die Selbstevaluation erfüllt zu diesem Zweck mehrere Ziele: So wird von Anfang an im System entschieden, ob die Beteiligten mit eigenen Kräften wirklich bereit sind, diese Evaluation und Qualitätsentwicklung zu leisten. Sie ist nicht fremdbestimmt und entwickelt für viele Menschen eine Überzeugungskraft, wie es kaum Qualitätsmessungen von außen schaffen. Die Verfahren sind in der Regel günstig, weil keine externe Dienstleistung eingekauft werden muss beziehungsweise nur in geringem Maße zur Beratung. Selbstevaluation ist zudem hoch beteiligungsorientiert, weil Kriterien und Fragestellungen aus einer gemeinsamen Sensibilisierung und Analyse von innen her festgelegt werden. 3 Sinstorf, Marmstorf, Langenbek, Rönneburg.

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Beispiel für gelungene Partizipation und Qualitätsentwicklung: ›Lernen ohne Angst‹ Zufriedenheit und ein Schulklima, in dem man effektiv arbeiten, sich für sein Umfeld engagieren und Selbstvertrauen gewinnen kann, wünschen sich nicht nur die pädagogischen Mitarbeiter einer Schule. Mit ›Lernen ohne Angst‹ (LOA) kommt ein Beispiel für gelungene Partizipation an den Start, welches die Qualität der Schule aus Sicht der Schülerinnen und Schüler evaluiert. Mit dem Ziel, ein Lernen ohne Angst für jede Schülerin und jeden Schüler zu ermöglichen, untersucht die Schülerschaft ihre eigene Schule und arbeitet aktiv an Veränderungsprozessen mit. Nach internationalem Erfolg in Afrika, Asien und Südamerika wurde das LOA Konzept 2010 von Plan International Deutschland e.V. mit dem Hamburger Institut für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation (ikm) gemeinsam konzeptionell angepasst und auf unser Schulsystem übertragen. Über zwei Jahre wurde das Projekt im Modellverfahren getestet und evaluiert. Seitdem wird LOA von dem ikm in Schulen aller Schulformen in Kooperation mit ›Stiftung Hilfe mit Plan‹ und der Beratungsstelle Gewaltprävention des Landesinstituts für Lehrerfortbildung und Schulentwicklung Hamburg umgesetzt. ›Lernen ohne Angst‹ ist ein Partizipationsprojekt, in dem Schülerinnen und Schüler als Experten für ihre Schule wahrgenommen und aktiv an Veränderungsprozessen in der Schule beteiligt werden. Die Jugendlichen werden für das Thema Gewalt sensibilisiert und entwickeln Möglichkeiten, um ihre Schule im Hinblick auf Konflikte, Gewalt und Partizipationsmöglichkeiten zu analysieren. Sie arbeiten einen eigenen Aktionsplan zur Verbesserung der Situation aus und setzen sich in den Schulgremien für die Umsetzung ihrer Ideen ein. Das Projekt besteht aus mehreren Phasen über zwei Jahre und verändert die Schulgemeinschaft und das Selbstverständnis der Schülerinnen und Schüler. Nachhaltigkeit steht im Vordergrund. Sensibilisierung, soziales Miteinander, Zusammenhalt, Gewaltprävention, Perspektivwechsel, Demokratisierung, Politisches Lernen, Aktiv-Werden und Ernst-Genommen-Sein machen LOA aus. Ob ein Jahrgang, eine Klasse, eine Profiloberstufe, der Schülerrat oder eine Streitschlichtungsgruppe: Wo auch immer Jugendliche Interesse haben, ihre eigene Schule aus Schülersicht zu analysieren, können sie das LOA-Projekt durchführen. Feedback der Erich Kästner Schule und Heinrich Hertz Schule »Was ich wirklich bemerkenswert finde, ist, dass die ganze Klasse dazu beigetragen hat, dieses Projekt auf die Beine zu stellen. Das absolute Highlight war die Befragung der Klassen. Wir teilten uns in Gruppen auf, jede Gruppe übernahm die Befragung von zwei Klassen. Zum ersten Mal

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konnten viele nachvollziehen, wie sich Lehrkräfte vor einer respektlosen Klasse fühlen müssen. Dieses Erlebnis war für einige schockierend, für andere amüsant« (Berkay Inan, Zehntklässler der Erich Kästner Schule). »Aus Sicht der Schulleitung hat das LOA-Projekt in besonderem Maße dazu beigetragen, die Sensibilität auch für unterschwellige und vermeintliche Gewalt zu stärken. Die Projektklassen selber haben ganz besonders vom Projekt profitiert, weil sie neben der inhaltlichen Arbeit gelernt haben, Initiativen zu ergreifen und Prozesse selber zu gestalten und selber in die Hand zu nehmen. Die Schülerinnen und Schüler lernen, ihre Anliegen öffentlich vorzutragen, zu begründen und in Gremien durchzusetzen beziehungsweise durchsetzbar zu machen. Das ist Anschaulichkeit und politisches Lernen am konkreten Beispiel« (Susanne Hilbig-Rehder, Didaktische Leiterin der Heinrich Hertz Schule).

Die vier Phasen zur Evaluation und Qualitätssicherung im Überblick Sensibilisierung Zunächst sollen sich alle Schülerinnen und Schüler der teilnehmenden Klassen intensiv mit den Themen Gewalt, Gender, Vorurteile und Diskriminierung beschäftigen. Hierdurch werden sie für die Themen überhaupt sensibilisiert und können zwischen verschiedenen Gewaltformen differenzieren. Sie können Vorurteile und Diskriminierung sowohl auf der individuellen als auch auf der institutionellen Ebene erkennen. Sie erlernen Interventionsmaßnahmen gegen Diskriminierung und werden sich auch möglicher Präventionsmaßnahmen bewusst. Schwerpunkte hierbei sind die Klassenverbandsstärkung, Verbesserung der Kooperationsfähigkeit, Empathiefähigkeit und Zivilcourage. Analyse Die Schülerinnen und Schüler suchen sich eine von fünf Analysegruppen aus, die sie am meisten interessiert: Sie können sich für die Entwicklung von Fragebögen für eine Schulbefragung entscheiden oder an deren Auswertung mitarbeiten. Sie können aber auch ein Konzept für die Anleitung von Übungen in den Klassen entwerfen, an einer professionellen Verhaltensbeobachtung auf dem Pausenhof teilnehmen oder sich um die schulinterne und externe Öffentlichkeitsarbeit kümmern. So ist für jede Neigung oder Kompetenz etwas dabei. Die Konzeptgruppe übt mit den anderen Schülerinnen und Schülern ein, wie die Befragung in den Klassen durchgeführt werden soll. Dann kommt der Tag der Befragung: In Gruppen von vier bis sechs Personen gehen die Jugendlichen in jede Klasse, erklären dort das Gesamtprojekt und leiten selbstständig eine

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Sensibilisierungsübung zum Thema Konflikte, Vorurteile oder Gewalt an. Dann lassen sie die Fragebögen von den Klassen ausfüllen. Aktionsplan Die Ergebnisse der Befragung werden mit den Klassen ausgewertet und diskutiert. Wie fühlt sich die Schülerschaft wirklich in der Schule? Wo fühlt sie sich wohl? Fühlen sich bestimmte Gruppen benachteiligt oder ausgegrenzt? Wie behandeln die Lehrkräfte die Schülerinnen und Schüler? Im nächsten Schritt wird überlegt, welche Maßnahmen, Aktionen oder Schritte die Situation an der Schule verbessern können. Was kann ganz neu eingeführt werden? Welche bestehenden Maßnahmen sollten verändert oder gestärkt werden? Nach den Überlegungen der durchführenden Klasse oder Kleingruppe übernimmt eine kleinere Delegiertengruppe die Feinarbeit. Die Ideen und Forderungen werden ausformuliert und mit einer beratenden Lehrkräfte- und Schulleitungsgruppe diskutiert, um weitere Möglichkeiten zu eruieren und zu beraten. Der endgültige Aktionsplan wird wieder mit den Klassenverbänden abgestimmt. Mit einer öffentlichkeitswirksamen Präsentation (schulintern und extern) des Aktionsplans werden die Ideen und Forderungen an die Schulleitung und Schulgremien überreicht. Umsetzung Spätestens im zweiten Schuljahr beginnt die Umsetzungsphase. Je nachdem, ob die Ideen und Forderungen von individueller oder struktureller Ebene zu bearbeiten sind, werden die abgestimmten Maßnahmen von Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften, Schulleitung, Eltern oder Externen umgesetzt. Manche Gremienmühlen mahlen langsam, da ist die Beharrlichkeit der Jugendlichen gefordert. Manche Ideen können sehr schnell umgesetzt werden, andere benötigen ein geduldiges Ausharren und ein ›Dranbleiben‹ der Delegierten, die sehr eng mit dem Schülerrat zusammenarbeiten, um kein Parallelgremium zu bilden.

Institutionelle Absicherung der Gewaltprävention an Schulen erforderlich In den letzten 15 Jahren wurden viele Projekte im Bereich schulischer Gewaltprävention durchgeführt. Es ist erstaunlich und erfreulich zugleich, dass sich einige dieser freiwilligen Modelle in Schulen durchgesetzt haben, obwohl das System Schule sehr normativ ausgerichtet ist und relativ wenige Ressourcen bereitgestellt wurden. Den Lehrkräften, die die Schülerinnen und Schüler in der

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Streitschlichtung ausbilden, unterstützen, supervidieren und noch für Öffentlichkeitsarbeit sorgen, werden beispielsweise kaum ein Stundenausgleich zugestanden. Essentiell für diese Form von Gewaltprävention sind einerseits Schulleitungen mit einem Sinn und der Aufmerksamkeit diese Projekte zu fördern, und andererseits eine immer stärker werdende Lehrerfortbildung4. Die Handlungen aus der Politik und der bestimmenden Schulverwaltung wirken eher zufällig. Das Programm ›Zivilcourage‹ ist eines der wenigen Beispiele, die einmal in einem Regierungsprogramm Ende der 1990er Jahre standen. Eher von der Basis her entwickelt die Streitschlichtung so viel Kraft, dass sie bei der Neuformulierung des sogenannten ›Abschulungsparagraphen‹ 49 des Hamburger Schulgesetzes Einzug erhalten hat. Eine Absicherung sollte jedoch in einem hierarchischen System auch von oben erfolgen, damit die Arbeit für den sozialen Zusammenhalt mit Ressourcen ausgestattet wird und verbindliche Formen auf Dauer auch rechtlich festgelegt werden. Noch so ausgefeilte Partizipationsmodelle, Selbstevaluation und Qualitätssicherung werden allein wenig an der strukturellen Form des Systems und den von Schulen ausgehenden strukturellen Zwängen ändern. Der Geist dieser Basisaktivitäten kann sich wandeln, besonders wenn Gewaltprävention nicht mehr einzig, neu und innovativ ist. Bei den in Mode gekommenen Ressourcenkürzungen ist nicht gewährleistet, dass die in Hamburg recht starke Lehrerfortbildung als stützendes Moment beibehalten werden kann. Das mit viel Kommunikation zusammengehaltene Gebäude ist in seinen Grundfesten nur sehr zart aufgestellt und kann schon in wenigen Jahren ganz anders aussehen, ohne dass es sich dann wieder so schnell aufbauen ließe. Fragen zum Weiterdenken Welche Aspekte helfen einer Schule, gewaltfreies Handeln aufzubauen? Wie ist das Verhältnis zwischen Gewaltprävention und Partizipation? Wie gelingt eine kulturelle Veränderung weg von strukturellen Zwängen hin zu einem Abbau von Hierarchie und mehr Selbstverantwortung und Teilhabe?

4 Zurzeit arbeiten circa 20 Personen im ›Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung‹ in der Beratungsstelle Gewaltprävention (siehe www.li.hamburg.de/bsg/ ). Der Aufgabenbereich umfasst Prävention und Intervention. Hinzu kommen die regionalen Beratungsstellen für Schulen (ReBBZ), in denen auch Fachkräfte für Gewaltprävention arbeiten. Das sind auch noch einmal circa 20 Personen.

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Leseempfehlungen Gugel, Günter : Handbuch Gewaltprävention für die Sekundarstufe. Tübingen 2010. Gugel, Günter : Handbuch Gewaltprävention für die Grundschule. Tübingen 2008. Lünse, Dieter u. a.: Zivilcourage können Alle! Mühlheim an der Ruhr 2011. Lünse, Dieter (Hg.): Mediation im Stadtteil, eine Chance für die Region. Hamburg 2005. Kaeding, Peer / Siebel, Anke u. a.: Mediation an Schulen verankern. Weinheim / Basel 2005.

Literatur Behn, Sabine u. a.: Evaluation von Mediationsprogrammen an Schulen. Hamburg u. a. 2006. Fachkreis Gewaltprävention (Hg.): Reader Konflikte und Gewalt. Präventive Konzepte, praktische Hilfen und Adressen, Hamburg. Verfügbar unter : http://www.ge waltpraevention-hamburg.de/?MAIN_ID=14 [01. 06. 2013], Ausgaben 1 (2000) bis 5 (2013). Fisher, Roger / Ury, William / Patton, Bruce: Das Harvard Konzept. Frankfurt/New York 2004. Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg, Institut für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation, Unfallkasse Nord: Mindeststandards für Schulen bei der Ein- und Durchführung von Streitschlichtung. Hamburg 2010. Plan: Learn without fear. The global campaign to end of violence in schools. Woking 2008. Ranau, Joachim: »Ey Alter, was geht ab. Gewaltprävention in Schule und Stadtteil«, in: Fachkreis Gewaltprävention (Reader Konflikte und Gewalt 3). Hamburg 2006, S. 23 ff.

Stefanie Woynar und Fionna Klasen

Kinder im Krieg: Erfahrungen aus der Arbeit mit traumatisierten Kindersoldaten in Uganda

Im Jahr 2011 herrschten in 36 Staaten der Erde bewaffnete Konflikte oder Kriege, 13 davon fanden auf dem afrikanischen Kontinent (Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) 2011) statt. Die Zahl der weltweit durch gewaltsame Konflikte entwurzelten Menschen wird auf 26,4 Millionen geschätzt (United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) 2011). In den letzten hundert Jahren haben sich bewaffnete Konflikte immer mehr von großflächigen Kriegen hin zu regionalen Konflikten oder internationalem Terrorismus gewandelt. Diese neueren Kriegsformen treffen ungleich häufiger und schwerer die Zivilbevölkerung, und somit auch viele Kinder (Wexler/Branski/ Kerem 2006). Berichten des UN-Kinderhilfswerks (UNICEF) zufolge ist der Anteil der zivilen Kriegsopfer international im letzten Jahrhundert von 5 Prozent auf 90 Prozent angestiegen, mindestens die Hälfte dieser Opfer sind Kinder (Machel 1996). Zwischen den Jahren 1999 und 2003 wurden weltweit 1,5 Millionen Kinder Opfer von bewaffneten Konflikten (The United Nations Children’s Fund (UNICEF) 2004).

Kinder im Krieg In Kriegs- und Krisengebieten werden die Grundbedürfnisse von Kindern häufig nur unzureichend gedeckt. Es fehlen Nahrungsmittel und medizinische Versorgung, parallel entwickeln sich Epidemien und Hungersnöte. Bewaffnete Konflikte führen nicht nur zur Verletzung von Menschenrechten, sondern beeinflussen auch die sozio-ökonomischen Bedingungen der Kinder fast immer zum Negativen. Von bewaffneten Konflikten betroffene Nationen und Regionen sind in Hinblick auf Bildungs- und Gesundheitsstandards meist defizitär aufgestellt (United Nations Human Rights Council 2012). Unter diesen widrigen Umständen haben Kinder disproportional stark zu leiden. Zwei Drittel der Kinder im Schulalter, die nicht zur Schule gehen, leben in konfliktbelasteten Regionen. Aus Mangel an Perspektiven zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes

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treten diese Kinder nicht selten aus eigenem Antrieb bewaffneten Gruppen bei (United Nations Human Rights Council 2012). Vielerorts werden noch immer Kinder als Rekruten in bewaffneten Konflikten eingesetzt, sowohl auf Seiten der Rebellentruppen und Paramilitärs als auch in Regierungsarmeen. Aktuelle Zahlen besagen, dass weltweit etwa 250.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren als Soldaten dienen, ein Großteil von ihnen in Afrika und Asien (Betancourt/Khan 2008). In Norduganda wurden während des über zwanzig Jahre andauernden Bürgerkrieges zwischen der von Joseph Kony angeführten Rebellengruppe Lord’s Resistance Army (LRA) und den Regierungstruppen Uganda People’s Defense Force (UPDF) zehntausende Zivilisten getötet oder gefoltert. Der Konflikt brachte großes Leid über die Bevölkerung Nordugandas. Ein Großteil der Menschen in der Region wurde terrorisiert, unzählige Familien wurden auseinander gerissen und gewaltsam aus ihren Heimatdörfern vertrieben. Noch im Jahr 2007 befanden sich 1,4 Millionen Menschen in Flüchtlingslagern, die oft massiv überfüllt waren und nur eine mangelhafte Versorgung hinsichtlich Unterkünften, medizinischer Versorgung und Nahrung leisteten. Viele Kinder verloren während des zwei Jahrzehnte andauernden Konfliktes Angehörige durch gewaltsame Übergriffe oder Krankheiten. Gladys, 14 Jahre »An diesem Tag war ich mit meinem Vater, meiner Mutter und einem Onkel in unserer Hütte. Ich war erst sechs Jahre alt, aber ich erinnere mich genau. Wir wussten, dass die Rebellen in der Nähe waren, aber wir hatten noch nichts von ihnen gesehen oder gehört. Mein Vater sagte, dass er noch das Fahrrad zu seiner Arbeitsstelle zurückbringen müsse. Er hatte es sich für die Woche geliehen. Meine Mutter sagte: ›Nein, geh heute nicht mehr aus dem Dorf, die Nachbarn sagen, dass es gefährlich ist. Geh doch lieber morgen!‹ Aber mein Vater wollte nicht hören. Kurz nachdem er gegangen war, hörten wir viel Lärm und Geschrei und wir gingen zur Straße. Eine Gruppe von LRA-Kämpfern war gekommen und hatte meinen Vater umringt. Sie zerrten ihn von dem Fahrrad und stachen ihn mit den Spitzen der Gewehre in den Bauch. Als er auf dem Boden lag, nahmen sie Macheten und zerstückelten ihn. Uns beachteten sie nicht. Dann zogen die Soldaten weiter. Mein Onkel kam und legte eine Decke über die Teile von meinem Vater. Dann kaufte er einen Sarg und meine Familie musste die Teile einsammeln. Wir beteten und begruben ihn in der Erde. Drei Tage später wurde meine Mutter aus unserer Hütte vertrieben, weil die Leute wussten, dass sie nun nicht mehr bezahlen kann. Ich musste bei meinem Onkel bleiben.«

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Im Jahr 2005 lag der Anteil der Kinder in Uganda, die mindestens ein Elternteil verloren hatten, bei 10 bis 14 Prozent (UNICEF 2006). Studien aus Ostafrika zeigen, dass Vollwaisen zwischen sechs und zehn Jahren nur in 50 Prozent der Fälle das ihrem Alter angemessene Ausbildungslevel erreichen. Unter den 11- bis 14jährigen Waisen liegt die Wahrscheinlichkeit, im Bildungsstand zurückzufallen, sogar bei zwei Dritteln (UNICEF 2006). In vielen Fällen blieben in Uganda aber nicht die Kinder, sondern ihre Eltern zurück. ›Coalition to Stop the Use of Child Soldiers‹1 (CSUCS 2008) schätzt, dass etwa 25.000 Kinder und Jugendliche während des Konfliktes von der LRA entführt wurden und den Kontakt zu ihren Familien verloren hatten. Angesichts der drohenden Gefahr, bei Übergriffen von den Rebellen verschleppt zu werden, nahmen Kinder in Norduganda täglich lange Märsche auf sich, um für die Nacht die – oft zweifelhafte – Sicherheit der größeren Städte Gulu, Pader und Kitgum zu suchen. Dort schliefen die Kinder in Massen direkt in den Straßen, um am nächsten Morgen den Weg zurück in ihre Dörfer anzutreten. Kinder, die dennoch von der LRA verschleppt wurden, wurden häufig als Kindersoldaten in der Rebellengruppe eingesetzt. Der Begriff ›Kindersoldat‹ beschreibt dabei jede Person unter 18 Jahren, die von einer bewaffneten Gruppe rekrutiert und in jedweder Art eingesetzt wird. Dieser Begriff ist weit gefasst und schließt ausdrücklich männliche und weibliche Kinder und Jugendliche ein, die zum Beispiel als Köche, Träger, Kuriere, Spione oder für sexuelle Handlungen eingesetzt werden, und nicht nur Kinder, die direkt an Kampfhandlungen teilnehmen (Child Soldiers International 2012). Die Motivation bewaffneter Gruppen, Kinder statt Erwachsene für ihre Truppen zu rekrutieren, liegt hauptsächlich in den niedrigen Besoldungs- und Versorgungskosten. Hinzu kommt, dass Kinder im Vergleich zu Erwachsenen leichter manipuliert und kontrolliert werden können. Kindersoldaten in Uganda waren oft massiver Gewalt und menschenunwürdigen Lebensbedingungen ausgesetzt und wurden teilweise über Jahre hinweg in den Reihen der Milizen gehalten.

Das Leben in der Armee Die Erfahrungen, die Kinder und Jugendliche bei den bewaffneten Gruppen machen, sind oft geprägt von Brutalität und Entbehrungen. Die Kinder berichteten zum Beispiel von tagelangen Gewaltmärschen durch unbesiedeltes Gebiet, während derer die Wasservorräte der Gruppe zur Neige gingen. Auch war die Nahrung häufig knapp und die Kinder litten an Unterernährung. Viele 1 Inzwischen umbenannt in ›Child Soldiers International‹ (www.child-soldiers.org).

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Kinder wurden unter Androhung ihres eigenen Todes zu gewalttätigen Handlungen gezwungen wie zum Beispiel zur Tötung von Freunden innerhalb der Gruppe. Es ist zudem eine häufig eingesetzte systematische Praxis der LRA, Kinder in einer Art Initiationsritus zu zwingen, Familienmitglieder oder Mitglieder ihrer Dorfgemeinschaft zu töten oder zu verstümmeln, um sie langfristig an die Gruppe zu binden und eine Rückkehr in die Heimat zu erschweren. David, 14 Jahre »Als die Rebellen kamen, trieben sie mich und acht andere Kinder aus unserem Dorf in den Busch. Wir wurden geschlagen und die Rebellen schossen mit Gewehren. Ich sah, dass Menschen von den Kugeln getroffen wurden. Ich konnte nicht sehen, was mit meiner Familie geschah. Nachdem wir zwei Tage lang marschiert waren, kamen wir zufällig in eine kleine Siedlung, nur drei oder vier Hütten waren dort. Es saßen Frauen mit ihren kleinen Kindern unter einem Baum im Kreis. Eine der Frauen hatte ihr kleines Baby neben sich auf ihrer Matte liegen. Die Rebellen schrien mich an und schlugen mich mit der Rückseite ihrer Gewehre. Sie sagten, dass ich das Baby töten sollte, sonst wäre ich selbst dran. Ich hatte große Angst, dass ich sterben würde. Ich nahm einen Holzknüppel, wie ihn die Frauen zum Stampfen von Mais verwenden. Damit erschlug ich das Baby, es war ein kleines Mädchen. Ich fühlte schreckliche Schmerzen in meinem Herzen und die Tränen liefen mir über das Gesicht. Die Commander fragten, warum ich weinte. Ich konnte nicht antworten.«

Kinder, die im Dienst der LRA stehen, werden häufig gezwungen, nicht nur bewaffnete Übergriffe auf die staatliche Armee, sondern auch Massaker an Zivilisten zu verüben. Ehemals verschleppte Kinder erzählen, dass ihnen ›Zaubertränke‹ verabreicht wurden, von denen Anführer behaupteten, die Kinder würden dadurch körperlich stärker für den Kampf und könnten bei einer potentiellen Flucht wieder aufgespürt werden (United Nations Security Council 2012). Es wurden teilweise den Kindern gezielt Drogen, oft Amphetamine, verabreicht, um im Kampf ihre Hemmungen und Ängste zu unterdrücken. In manchen Regionen in Uganda wurde der Anteil von Mädchen unter den Kindersoldaten auf 24 Prozent geschätzt (CSUCS 2008). Sie wurden sowohl militärisch als auch als Sexsklavinnen eingesetzt, einige von ihnen waren nicht älter als zwölf Jahre. Die Mädchen berichteten von routinemäßigen Vergewaltigungen, die zum Teil zu Schwangerschaften führten. Es fanden auch Zwangs›Verheiratungen‹ mit erwachsenen Kämpfern statt. Auch deshalb verbrachten weibliche Kindersoldaten im Durchschnitt eine längere Zeit innerhalb der Rebellengruppen als Jungen (CSUCS 2008).

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Traumatische Erlebnisse Ein Großteil der Kinder, die den Krieg in Uganda erlebt haben, musste grausame Gewalt ansehen oder am eigenen Körper erfahren. Die Kinder erlitten schwere Verluste und fügten teilweise anderen selbst Schlimmes zu. Viele der Erfahrungen, die sie machen mussten, werden gemäß den Diagnosekriterien des ›Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen‹ (DSM-IV) als traumatische Ereignisse eingeordnet (American Psychiatric Association (APA) 2000). Diesen Kriterien zufolge gilt ein Stressor dann als traumatisch, wenn er das Leben oder die körperliche Unversehrtheit eines Individuums bedroht und ein subjektives Gefühl der Angst und Hilflosigkeit auslöst. Eigene Studien unter 169 ehemaligen Kindersoldaten in Norduganda zeigten, dass diese Kinder im Mittel 11 von 17 möglichen traumatischen Ereignissen ausgesetzt waren. Am häufigsten waren: die Erfahrung von Schusswechseln in nächster Nähe (93 Prozent), die Konfrontation mit Verwundeten (90 Prozent) sowie die Erfahrung schwerer körperlicher Gewalt am eigenen Leib (84 Prozent). 54 Prozent der Kinder und Jugendlichen berichteten davon, selbst einen Menschen getötet zu haben und 71 Prozent hatten ein Familienmitglied oder einen Freund während eines Angriffs verloren (Bayer/Klasen/Adam 2007). Auch Vergewaltigungserfahrungen und durch eigene Gewalthandlungen und Schuld verursachte Traumata spielten eine wichtige Rolle (Klasen u. a. 2010).

Posttraumatische Belastungsstörungen Das Leiden, das solche Erfahrungen auslösen, endet für die Betroffenen nicht mit dem Ende der Kriegshandlungen und dem Stillstand der Waffen. Kinder, die mit verstörenden und grausamen Ereignissen konfrontiert worden sind, haben später oft Schwierigkeiten, wichtige Entwicklungsaufgaben zu lösen. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass sie Probleme haben, sichere und vertrauensvolle zwischenmenschliche Beziehungen aufrechtzuerhalten. Auch fällt es ihnen oft schwer, ein stabiles Selbstwertgefühl zu entwickeln oder zu lernen, ihre Emotionen angemessen zu regulieren (van der Kolk 2005). Neben der Erfahrung eines traumatischen Ereignisses, die mit einem Gefühl von intensiver Angst und Hilflosigkeit einhergeht, gehört zu den diagnostischen Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) auch eine Gruppe von Symptomen, die in Folge dieses Ereignisses auftreten und mindestens einen Monat lang bestehen bleiben können. Dazu gehört zunächst das ungewollte Wiedererleben des Traumas (Intrusion), zum Beispiel durch Alpträume oder Flashbacks, und die Vermeidung von Dingen oder Situationen, die die Betroffenen an das Ereignis erinnern könnten. Des Weiteren zählt zu dieser Symptomgruppe eine vermin-

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derte generelle Responsivität, zum Beispiel in Form einer Affektverflachung, sowie eine Übererregbarkeit, die sich in erhöhter Wachsamkeit und übertriebenem Erschrecken zeigen kann (Asmundson u. a. 2000). Lebensbedrohliche Erlebnisse, die mit intensiver Angst und Hilflosigkeit einhergehen, können im Gehirn meist nicht wie eine ›gewöhnliche‹ Erinnerung abgespeichert werden, die zu einem Teil der persönlichen Biographie wird. Die Konsequenz der neurologischen Prozesse, die während und in Folge traumatischer Erlebnisse ablaufen, besteht in einer Senkung der Aktivierungsschwellen der Hirnstrukturen, die mit dem Trauma in Beziehung stehen. Diese veränderte Verarbeitung äußert sich in dem Kernsymptom des plötzlichen intrusiven Wiedererlebens der traumatischen Ereignisse auf sensorischer, kognitiver oder physiologischer Ebene (Neuner/Schauer/Elbert 2009). In Stichproben von Populationen, die von Krieg und Vertreibung betroffen sind, liegt die Prävalenz für eine PTBS zwischen 14 und 37 Prozent (Karunakara u. a. 2004), während sie zum Beispiel im Vergleich dazu in den USA mit sechs bis acht Prozent deutlich niedriger ist (Kessler u. a. 1995). Die Prävalenz für PTBS für die Gesamtpopulation in Uganda wurde 2004 auf 18 Prozent geschätzt (Karunakara u. a. 2004). In Teilen der Bevölkerung, die sich in extrem unsicheren Lebenssituationen befanden, ist die Diagnoserate allerdings noch höher. In Stichproben von ugandischen ehemaligen Kindersoldaten zum Beispiel entwickelte etwa ein Drittel eine posttraumatische Belastungsstörung (Bayer/Klasen/ Adam 2007; Klasen u. a. 2010). Kinder, die von Kriegshandlungen betroffen sind, weisen neben der posttraumatischen Belastungsstörung nicht selten auch andere psychische Störungen auf. Insbesondere Angststörungen, Depression, Dissoziation und Anpassungsstörungen treten häufig auf. Je nach Kriterium zeigen zwischen 60 und 80 Prozent der ehemaligen Kindersoldaten in Uganda psychopathologische Symptome von klinisch relevantem Ausmaß (Klasen u. a. 2013; Klasen u. a. 2010). Neben einer höheren Anfälligkeit für psychische Probleme haben Menschen, die in der Kindheit traumatische Erfahrungen gemacht haben, zudem ein erhöhtes Risiko, körperliche Krankheiten wie Infektionen oder Herzprobleme zu entwickeln. Dieser Umstand wird Veränderungen im Immunsystem zugeschrieben, die durch den erlebten Stress entstehen (Ruf/ Schauer 2012).

Resilienz Traumatische Ereignisse, wie sie viele ehemalige Kindersoldaten erlebt haben, können sich also nachhaltig auf die Gesundheit der Betroffenen auswirken. Allerdings wird auch dokumentiert, dass eine beachtliche Anzahl von Menschen keine Psychopathologie aufweist, obwohl sie extremen Stressoren ausgesetzt

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und mit starken Risikofaktoren für psychische Belastungen konfrontiert waren. Unter derartig gefährdenden Bedingungen wird das Fehlen von Belastungssymptomen als bemerkenswert erachtet und anhand des Begriffs der Resilienz definiert (Klasen u. a. 2010a). In einer in Uganda durchgeführten Studie mit ehemaligen Kindersoldaten, die generell zu einer der am stärksten traumatisierten Populationen gehören, zeigte sich bei fast 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen eine Resilienz bezüglich posttraumatischer Belastungssymptome (Klasen u. a. 2010a). Solche Schutzfaktoren, die zu einem positiven Entwicklungsverlauf beitragen, können zum einen in der Person liegen wie zum Beispiel hohe Intelligenz oder Selbstvertrauen. Zum anderen aber spielen häufig auch soziale Aspekte wie Freundschaften und sichere Bindungen an Bezugspersonen eine Rolle. Ebenso können kulturelle und religiöse Faktoren Schutzfaktoren darstellen (Klasen/Bayer 2009).

Der schwierige Prozess der Rückkehr Wenn Kinder und Jugendliche, die Teil der LRA-Einheiten waren, aufgegriffen wurden – meist geschah dies im Rahmen von Kampfhandlungen zwischen der LRA und den Regierungstruppen – wurden sie zunächst in staatlich geführte sogenannte ›Child Protection Units‹ (CPU) gebracht, wo sie normalerweise bis zu 48 Stunden lang blieben. Danach wurden die ehemaligen Kindersoldaten den von NGOs geführten Demobilisierungs-, Entwaffnungs- und Wiedereingliederungsprogrammen (DDR) zugewiesen. In diesen Camps sollte ihnen während eines drei- bis viermonatigen Aufenthalts geholfen werden, den Weg zurück in die Zivilgesellschaft und in ihre Familien zu finden. Sie wurden über Amnestien aufgeklärt und erhielten dementsprechende Bescheinigungen. Außerdem wurden sie bei der Suche nach ihren Angehörigen und bei der Rückkehr in ihre Dörfer unterstützt, medizinisch und psychosozial betreut und manchmal sogar in praktischen Fähigkeiten ausgebildet. Einige Studien, die die DDR-Programme in Norduganda dokumentierten, wiesen allerdings auch darauf hin, dass die Prozesse in manchen Fällen nicht auf die vorgesehene Weise abliefen und teilweise Mängel und Verstöße offenbar wurden. Es wurde zum Beispiel berichtet, dass die unter 18jährigen kurz nach Verlassen der LRA länger als nötig in den CPUs gehalten und unter Druck gesetzt wurden, sich als Kundschafter zur Aufdeckung von LRA-Stützpunkten oder Waffenlagern der staatlichen Armee UPDF anzuschließen (Schomerus/Allen 2006). Offenbar wurde auch, dass in Uganda der Missbrauch von Kindern als Soldaten insgesamt nicht nur auf Rebellengruppen beschränkt war. Berichten zufolge wurden auch in den lokalen Verteidigungseinheiten der staatlichen Armee (LDUs), die für die Sicherung von Flüchtlingslagern und Infrastruktur

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zuständig waren, noch mindestens bis Ende 2007 unter 18jährige eingesetzt (CSUCS 2008). Die Qualität der Angebote und der Grad der Unterstützung variierte unter den Aufnahmezentren. In manchen Zentren waren die allgemeine Gesundheitsversorgung und die Hilfe bei der Traumabewältigung unzureichend, da es vor Ort kaum Ärzte und ausgebildete Psychotherapeuten gab. In anderen Zentren dagegen gab es gute Versorgungsmöglichkeiten. Ein Problem war allerdings auch, dass mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen aus Angst, als ehemalige LRA-Mitglieder identifiziert zu werden oder aus Furcht vor Vergeltungsaktionen der staatlichen Armee, oft erfolgreich versuchten, diesen Demobilisierungsprogrammen zu entgehen (Schomerus/Allen 2006). Trotz der dokumentierten Probleme konnten die meisten der ehemaligen Kindersoldaten in den Auffanglagern im Allgemeinen viel Unterstützung finden. Der Weg zurück in die Zivilgesellschaft wurde ihnen durch ihren Aufenthalt dort maßgeblich erleichtert. Viele der Kinder und Jugendlichen, die Zeit in den Aufnahmezentren verbracht hatten, berichteten, dass es für sie eine wertvolle Hilfe war, sich an einem solchen sicheren Ort von den erlebten Strapazen erholen zu können und eine Übergangsstation auf dem Weg in das Leben in den Flüchtlingslagern oder in ihren Dorfgemeinschaften gefunden zu haben. Ehemalige Kindersoldaten, die in ihre Heimat zurückkehren, sehen sich oft mit dem massiven Problem der Stigmatisierung konfrontiert. Besonders für Mädchen, die sexueller Gewalt seitens der LRA-Rebellen ausgesetzt waren und die in vielen Fällen mit ihren Babys zu ihrer Familie zurückkehren, ist es schwierig, dort wieder Akzeptanz zu finden. Innerhalb der Dorfgemeinschaften werden Familien, die LRA-Opfer wiederaufnehmen, häufig ausgegrenzt und unter den Verdacht gestellt die LRA zu unterstützen. Aufgrund solcher Stigmatisierungen und Diffamierungen haben Rückkehrer teilweise einen schlechten sozialen Status. Besonders in Fällen von erlebter sexueller Gewalt ist die Hemmschwelle groß, selbst professionellen Therapeuten gegenüber von solchen Erfahrungen zu berichten beziehungsweise professionelle Hilfe überhaupt erst zu suchen oder anzunehmen. Der Umgang mit sexuellen Gewalterfahrungen in der Therapiepraxis in Uganda ist sehr schwierig und ihre Dokumentation erfordert größte Sensibilität. Hinzu kommt, dass in Uganda im Allgemeinen noch immer eine geringe Akzeptanz gegenüber psychischen Erkrankungen herrscht. Besonders in ländlichen Gegenden werden psychische Probleme zum Teil als eine Strafe Gottes angesehen oder übernatürlichen Kräften wie der Besessenheit von bösen Geistern zugeschrieben. Betroffene werden deshalb gemieden und ausgegrenzt. Aufgrund fehlender Aufklärung glauben manche Menschen, dass psychische Krankheiten ansteckend sein könnten, was eine solche Stigmatisierung zementiert. Menschen, die unter PTBS in Folge von Kriegserlebnissen leiden, fällt

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es daher schwer, ihre Probleme offen zu legen und professionelle Unterstützung zu suchen. Häufig werden entsprechende Symptome wie Intrusionen, Schreckhaftigkeit oder Vermeidungsverhalten vor anderen verborgen, weil die betroffenen Menschen glauben nun ›verrückt‹ geworden zu sein und die entsprechenden sozialen Folgen fürchten. In Verbindung mit dem Stigma, dem Menschen, die mit der LRA assoziiert werden, oft ohnehin ausgesetzt sind, kann sich diese Befangenheit verstärken. In diesem Kontext kann auch gezielte Psychoedukation zu erfolgreicher Reintegration beitragen. Des Weiteren ist zu bedenken, dass Jugendliche, die nach ihrer Zeit als Soldaten zurückkehren, oft mehrere Jahre lang nicht zur Schule gegangen sind und kaum Möglichkeiten haben, die verlorene Schulbildung nachzuholen. Ihnen bleiben deshalb oft nur eingeschränkte berufliche Perspektiven. Viele der Rückkehrer in Uganda verdingen sich als Tagelöhner bei einem Einkommen am Rande des Existenzminimums. Die Jahre bei den Rebellen haben somit weitreichende Folgen und beeinflussen oft auch wirtschaftlich den Werdegang der ehemals rekrutierten Kinder. Eine weitere gesellschaftliche Herausforderung nach der Rückkehr in ihre Heimat besteht in der Täter-Opfer-Problematik bei ehemaligen Kindersoldaten. Im Rahmen der DDR-Programme werden manchen Rückkehrern sowohl substanzielle finanzielle Anreize gesetzt als auch Amnestien in Aussicht gestellt und Bildungsangebote gemacht, um sie zu motivieren und dabei zu unterstützen, ein Leben außerhalb der Rebellenarmee zu führen. Es besteht ein schwieriger Spagat einerseits zwischen dem Anliegen ehemaligen Kindersoldaten, die ohne Frage selbst Opfer sind, den Ausstieg und die Rückkehr zu erleichtern und sie für ihre Zeit bei den Rebellen zu entschädigen. Andererseits muss auch den Gräueltaten gegenüber Zivilisten Rechnung getragen werden, in denen die Kindersoldaten eine Täterrolle übernahmen. Für manche Menschen in Uganda ist es schwer zu akzeptieren, dass ehemalige Kindersoldaten, in ihren Augen nahezu ausschließlich Täter, in umfangreichen Programmen gefördert und entschädigt werden, während Zivilisten, die durch ebendiese Menschen Leid erfahren haben, auf der Strecke bleiben. Programme zur Unterstützung ehemaliger Kindersoldaten können deshalb genau solche Ressentiments und Stigmatisierungen auslösen und schüren, zu deren Verhinderung sie ursprünglich entwickelt wurden. In dieser Hinsicht eine Balance zu schaffen und der Gerechtigkeit Genüge zu tun, ist ausgesprochen schwierig und eine Lösung des Dilemmas erfordert viel Fingerspitzengefühl und offene Kommunikation in den betroffenen Dorfgemeinschaften. Trotz der Herausforderung, die die Rückkehr ehemaliger Kindersoldaten in ihre Dorfgemeinschaften für beide Seiten mit sich bringt, ist der Reintegrationsprozess in der überwiegenden Zahl der Fälle erfolgreich. Einer UNICEFStudie zu Folge wurden in Uganda über 90 Prozent der zurückkehrenden ehe-

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maligen Kindersoldaten von ihren Familien wohlwollend aufgenommen (Annan/Blattman/Horton 2006). Die Einbindung in das Familiensystem spielt im Reintegrationsprozess eine große Rolle. Jugendliche, die auf einen sicheren Familienverbund zurückgreifen konnten, zeigten deutlich weniger Auffälligkeiten, als diejenigen, denen ein solcher Rückhalt fehlte (Annan/Blattmann/ Horton 2006). Wo immer die Möglichkeit besteht, sollten die rückkehrenden Kinder und Jugendlichen also wieder mit ihren Familien vereint werden. Viele der Rehabilitierungs- und Wiedereingliederungsmaßnahmen stellen dabei eine hilfreiche Unterstützung für die Betroffenen dar und tragen zu erfolgreichen Versöhnungsprozessen auch innerhalb der Familie bei.

Maßnahmen zur psychischen Rehabilitierung von kriegstraumatisierten Kindern Es besteht eine dringende Notwendigkeit für die Bereitstellung zuverlässiger Diagnostik und bedarfsgerechter Behandlung von traumatisierten ehemaligen Kindersoldaten und anderen, von Traumafolgestörungen betroffenen Kindern in Norduganda. Einerseits sind die Prävalenzzahlen für posttraumatische Belastungsstörungen und damit verbundene psychische Leiden und dysfunktionale Verhaltensweisen wie depressive Störungen, Suizidalität, Alkoholmissbrauch und Gewalttätigkeit bei ehemaligen Kindersoldaten und ehemals entführten Kindern dort beständig hoch. Andererseits bestehen noch immer nur inadäquate Versorgungsstrukturen für Menschen mit psychischen Problemen. In den meisten nordugandischen Versorgungseinrichtungen findet in Hinblick auf psychische Störungen kaum systematische Diagnostik statt. Screening-Instrumente, wie sie in Deutschland an der Tagesordnung sind, werden in Uganda in den wenigsten Fällen eingesetzt. Auch wenn Menschen trotz bestehender Ängste vor Stigmatisierung und Ausgrenzung von sich aus professionelle Hilfe suchen, stellen sich in der Traumabehandlung in Norduganda noch immer zahlreiche Herausforderungen. Psychische Störungen als Resultat bewaffneter Konflikte sind oft aus versorgungstechnischen Gründen schwierig zu behandeln. Die betroffenen Menschen befinden sich häufig in unsicheren Lebenssituationen mit unregelmäßigem Zugang zu notwendigen Ressourcen wie Nahrungsmitteln, sicherem Obdach und medizinischer Versorgung. Ein massives Problem in der Behandlung von Patienten mit psychischen Störungen stellt der generelle Mangel an Gesundheitspersonal dar. Die Verfügbarkeit von medizinischem Personal liegt mit 15 Fachkräften pro 10.000 Einwohnern weit unterhalb der Minimalgrenze der WHO von 23 medizinischen Fachkräften (Uganda Ministry of Health 2011). Die

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Dichte von Ärzten in der Bevölkerung ist mit 0,036 pro 1.000 Einwohner extrem gering, statistisch gesehen betreut in Uganda ein Arzt 27.687 Menschen. Speziell für die Behandlung von psychischen Störungen ausgebildetes Fachpersonal ist noch seltener verfügbar. Das Psychiater-Bevölkerungsverhältnis liegt in Uganda bei 1:1,3 Millionen. Einen ausgebildeten Kinder- und Jugendpsychiater gibt es in Uganda nicht, obwohl 53 Prozent der Bevölkerung jünger ist als 18 Jahre (Klasen/Bayer 2009). Da es keine Psychotherapeuten gibt und nur wenige Psychiater, die meistens zudem stark überlastet sind, führen häufig Sozialarbeiter oder sogenannte Psychiatric Nurses die Therapien durch. Meist finden Sitzungen in großen Abständen von mindestens vier Wochen statt. Dies ist zum einen fehlenden Kapazitäten der Therapeuten geschuldet. Zum anderen liegt es daran, dass die Patienten aus weit von der Klinik entfernt liegenden Dörfern anreisen müssen und ihnen die finanziellen Mittel für den Klinikbesuch fehlen.

Therapieansätze zur Traumabehandlung Es werden immer mehr Behandlungsansätze für Traumafolgestörungen entwickelt, die besonders im Kontext von Post-Konflikt-Regionen anwendbar sind, da sie wenig Ressourcen beanspruchen und auch in einem begrenzten zeitlichen Rahmen erfolgreich durchführbar sind. Generell ist die ›traumafokussierte Expositionstherapie‹ eines der am besten untersuchten Verfahren zur Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung (Tarrier u. a 1999). In der Traumaexposition gibt es verschiedene Methoden, die sich in der Dauer und Form der Konfrontation unterscheiden. Gemeinsam ist allen das Ziel, den Patienten dabei zu unterstützen, sich nach einer längeren Zeit der Vermeidung mit dem angstauslösenden Ereignis aus der Vergangenheit wieder aktiv auseinanderzusetzen. Die Exposition mit dem Trauma führt bei dem Patienten dabei zwangsläufig zu einem Wiedererleben der traumatischen Ereignisse und weckt Gefühle des Schmerzes. Das mag zunächst alarmierend klingen, aber erfahrene Praktiker dieser Methode weisen darauf hin, dass diese Belastung, die sich im Rahmen der Therapie zeigt, in Bezug zu setzen ist zu der Belastung, der der Patient durch intrusive Erinnerungen ohnehin nahezu täglich ausgesetzt ist, solange das Trauma nicht gezielt konfrontiert wird (Neuner 2008).

Narrative Expositionstherapie Ein traumabezogenes Therapieverfahren, das besonders in ehemaligen Kriegsund Konfliktgebieten erfolgreich angewandt wurde, ist zum Beispiel die an der Universität Konstanz entwickelte ›Narrative Expositionstherapie‹ (NET)

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(Schauer/Neuner/Elbert 2005). Diese standardisierte Kurzzeittherapie zur Behandlung der PTBS-Symptomatik richtet sich an Menschen mit multiplen traumatischen Erlebnissen, die unter schweren Traumasymptomen leiden, und wird besonders in ressourcenarmen Gebieten eingesetzt. Die Methode wurde bereits in mehreren Konfliktregionen Afrikas, wie zum Beispiel auch in Norduganda, erfolgreich angewandt (Ertl u. a. 2011). Die Klienten werden dabei gebeten, anhand einer sogenannten ›Lifeline‹ – einer Schnur, die die Lebenslinie repräsentiert und auf die Blumen beziehungsweise Steine gelegt werden, um positive und negative Lebensereignisse zu symbolisieren (siehe Abbildung 1) – detailliert und mit einem Fokus auf erlebte Traumata ihr bisheriges Leben zu schildern (Schauer/Neuner/Elbert 2005). Die Gefühle, die die Klienten bei der Narration spüren, werden kontrastiert an dem Erleben der traumatischen Ereignisse in der Vergangenheit. Durch die detaillierte Erzählung tritt zum einen ein Habituationseffekt ein. Zum anderen können die Auslöser der gegenwärtigen Angstgefühle mit episodischen Fakten verknüpft und so den vergangenen Ereignissen zugeordnet werden. Symptome, wie das intrusive Wiedererleben der traumatischen Erfahrung in der Gegenwart, werden dadurch reduziert.

Abbildung 1: Ein ehemaliger Kindersoldat erzählt seine Lebensgeschichte anhand einer ›Lifeline‹. Quelle: Fionna Klasen

Children’s Accelerated Trauma Treatment Eine weitere Methode zur Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen, die sich besonders an Kinder richtet, ist das ›Children’s Accelerated Trauma Treatment‹ (CATT), eine von der britischen Kunsttherapeutin und Kinderrechtlerin Carly Raby entwickelte kindgerechte Kurzzeittherapie. Die

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Kerntechnik dieser Methode ist die Narration der traumatischen Ereignisse anhand des Nachspielens mit gebastelten Figuren (siehe Abbildung 2). Dieser Ansatz kann besonders jüngeren Traumapatienten helfen, einen leichteren und weniger beängstigenden Zugang zu den Geschehnissen der Vergangenheit zu finden. Das Nachspielen der Ereignisse erfolgt mehrmals in erhöhtem Tempo, vorwärts sowie rückwärts. Anhand dieser Techniken wird die Verarbeitung spielerisch von der emotionalen auf eine kognitive Ebene gerückt und es wird verhindert, dass die Kinder von der Erinnerung an die traumatischen Ereignisse emotional überrollt werden. CATT in Norduganda In einer Pilotstudie mit sieben Jugendlichen im Alter von 14 bis 20 Jahren zeigte sich, dass CATT in Norduganda gut anwendbar und effektiv ist. Die Autorinnen führten die Studie 2012 in der Ambulanz der Stiftung ›Children for Tomorrow‹ in Gulu in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf durch. Die Jugendlichen wurden für die Studie anhand standardisierter Fragebögen auf Englisch oder mit Hilfe von Dolmetschern in ihrer afrikanischen Muttersprache (Luo) befragt. Die CATT-Sitzungen führten aus Uganda stammende Therapeuten auf Luo durch. Bei allen Jugendlichen war zu Beginn der Therapie eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert worden. Bei sechs der sieben Patienten, die an der Therapie teilnahmen, gingen die Störungssymptome signifikant zurück und sie wiesen bei einem abschließenden diagnostischen Test keine posttraumatische Belastungsstörung mehr auf. Zudem wurde die Methode von allen Jugendlichen sehr positiv aufgenommen. In qualitativen Interviews berichteten sie, dass sie sich während der Behandlung sicher gefühlt hatten und es ihnen mit den Spielfiguren leichter gefallen oder sogar erstmals möglich gewesen war, über die belastenden Ereignisse zu sprechen (Woynar 2012). Während die Wirksamkeit der NET bereits in mehreren kontrollierten randomisierten Studien nachgewiesen wurde (McPherson 2012), steht eine solche Prüfung für CATT noch aus. Therapieansätze wie NEToder CATTerweisen sich im Kontext von Post-Konflikt Gesellschaften als sehr geeignet, da sie wenig Ansprüche an das Setting der Therapie stellen und deshalb auch außerhalb von Kliniken im Rahmen sogenannter Outreach-Programme angeboten werden können. Auch sind die Therapietechniken verhältnismäßig leicht zu vermitteln und bieten deshalb die Möglichkeit, auch lokales Gesundheitspersonal in ihrer Anwendung schnell und effektiv zu schulen, was wiederum den lokalen Dorfgemeinschaften zugutekommt. Es kann besonders in ehemaligen Kriegs- und Krisengebieten sehr von Vorteil sein, lokale Therapeuten zur Behandlung von Traumafolgestörungen

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einzusetzen, da neben der richtigen technischen Durchführung der Exposition auch die therapeutische Beziehung zentral ist.

Abbildung 2: Ein ehemaliger Kindersoldat stellt traumatische Erlebnisse mit Figuren im Rahmen einer CATT–Therapiesitzung nach. Quelle: Fionna Klasen

Während der Arbeit mit CATT konnten wir die Erfahrung machen, dass es viele Kinder als positiv empfanden und sich bereitwilliger anvertrauten, wenn sie erfuhren, dass die Therapeuten während des Krieges in der Region waren und die Situation dort selbst erlebt hatten (Woynar 2012). Auch uns stellte sich aber die Schwierigkeit, die Sitzungen mit den Patienten regelmäßig in kurzen Abständen abzuhalten, weil diese zum Teil nicht die finanziellen Mittel hatten, regelmäßig in die Klinik zu kommen. In der Traumabehandlung stellt es ein gravierendes Problem dar, eine begonnene Therapie, die auch die Auseinandersetzung mit der traumatischen Erfahrung beinhaltet, in einem Frühstadium für längere Zeit zu unterbrechen oder abzubrechen. In diesen Fällen empfehlen sich Outreach-Programme, die den Besuch der Therapeuten in den Dorfgemeinschaften ermöglichen, um Patienten vor Ort zu betreuen. Auch für die Arbeit im Rahmen solcher Programme sind lokale Therapeuten, die mit dem Leben in den Dörfern vertraut sind, sehr gut geeignet.

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Fazit Ehemalige Kindersoldaten haben während ihrer Zeit in der Armee oft grausame Erfahrungen gemacht und viele von ihnen wurden schwer traumatisiert. Die Folgen dieser Erlebnisse wirken sich nicht selten auf ihr gesamtes weiteres Leben aus. Die meisten dieser Kinder und Jugendlichen können von gezielter traumafokussierter Psychotherapie enorm profitieren. Es ist jedoch auch viel Sensibilität nötig, um einer Pathologisierung und Stigmatisierung der betroffenen Gruppen entgegenzuwirken. Bei der Rückkehr ehemaliger Kindersoldaten sollten sowohl die Familien als auch die Dorfgemeinschaften im Reintegrationsprozess berücksichtigt werden. Ein aktiver Dialog und umfassende Aufklärung auf beiden Seiten kann Ressentiments, Konflikten und Ausgrenzung entgegenwirken. Trotz aller Anstrengungen, die im Rahmen von Reintegrationsprogrammen geleistet werden, gibt es kein universell anwendbares Modell für eine erfolgreiche Wiedereingliederung ehemaliger Kindersoldaten. Die Realität in Folge bewaffneter Konflikte ist komplex und setzt Familien und Kommunen in vielerlei Hinsicht größtmöglichen Belastungen aus, die auch Hilfsprogramme manchmal nicht ausreichend abfedern können (Schomerus/Allen 2006). Für die gesamte Gesellschaft in der Region haben die Kriegshandlungen der letzten Jahrzehnte gravierende Folgen. Norduganda schaut zurück auf einen zwanzig Jahre andauernden Konflikt, in dessen Verlauf Gewalt und Mord für einen Großteil der Menschen zur Tagesordnung gehörten. Soziale Normen der gewaltfreien Interaktion sind in den Hintergrund gerückt und ein gefestigtes Gemeinschaftsgefühl in den lokalen Kommunen ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Die Wiederherstellung dieser Normen, die das Leben in den Dörfern traditionellerweise bestimmten, ist für die gesellschaftliche Verarbeitung des Konfliktes zentral und stellt für das soziale Leben eine große Herausforderung dar. Fragen zum Weiterdenken Welche gesellschaftlichen Ressourcen sind für die erfolgreiche Reintegration ehemaliger Kindersoldaten wichtig? Wie könnte eine Aufklärungskampagne zum Thema ›Psychische Erkrankungen‹ im ländlichen Uganda aussehen? Welche Probleme und Risiken könnten kurzfristige Engagements (westlicher) Hilfsorganisationen bergen?

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Stefanie Woynar und Fionna Klasen

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5. Versöhnungsarbeit

Angelika Dörfler-Dierken

Versöhnungsarbeit

Die Erfahrung lehrt: Frieden wird im alltäglichen Zusammenleben, in der Familie, in der lokalen Gemeinschaft, in Gesellschaften und zwischen Staaten immer wieder gebrochen – trotz aller Bemühungen um eine friedensorientierte Gestaltung der Lebenswelten. Störungen des Friedens: Dissens, Konflikt, Streit, Kränkung, Gewalt – auch das gehört zum Leben. Wie solche Störungen im zwischenmenschlichen Zusammenleben so überwunden werden können, dass sie nicht immer wieder aufflammen oder dauerhaft das zwischenmenschliche Klima und die Kultur einer Gemeinschaft oder Gesellschaft schädigen, wird von einem Theologen und einem Sozialpädagogen dargestellt. Beide stellen das Konzept restorative justice vor, in stärker theoretischer sowie in stärker praktischer Ausrichtung. Der Theologe Fernando Enns kommt aus der Tradition einer Historischen Friedenskirche, den Mennoniten. In dieser ältesten evangelischen Freikirche galt die Gewaltfreiheit seit den Anfängen in der Reformation zu den Wesensmerkmalen des christlichen Glaubens. Die eindeutige Absage, vor allem an jede militärische Gewalt, hat in dieser Tradition zur beständigen Suche und Entwicklung alternativer Formen der Gewaltüberwindung und Konfliktlösung geführt. Deshalb stellt Enns dar, welche Bedeutung einerseits Gerechtigkeit und die Herstellung gerechter Verhältnisse und andererseits die Orientierung an der Idee der Versöhnung für die Herausbildung friedlicher Gemeinschaften haben. Der Soziologe und Hochschullehrer für Soziale Arbeit, Otmar Hagemann, führt ein in neuere Praktiken, welche die Opferperspektive gleichrangig neben die Täterperspektive stellen. Dann werden Straftäter nicht aus Gesellschaft und Gemeinschaft ausgegrenzt, sondern es wird ihnen die Möglichkeit gegeben, ihre (häufig gewaltsamen) Handlungen zu erkennen und Verantwortung dafür zu übernehmen. Die Möglichkeiten, einen Ausgleich zwischen Täter und Opfer zu finden, sind vielfältig und können die juristische Aufarbeitung von Störungen und Konflikten er-

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Angelika Dörfler-Dierken

gänzen oder gar ersetzen. Sie werden in der Bundesrepublik Deutschland noch keineswegs ausgeschöpft. Sofie Olbers hat sich mit der Frage beschäftigt, wie durch eigenes und gemeinsames künstlerisches Gestalten die Sensibilität für Friedensprozesse gesteigert werden kann. Ihr geht es um die Entwicklung eines pädagogischen Konzepts, das friedliches Denken und Verhalten besser vermittelbar macht als etwa verbale Appelle von Lehrkräften. Praktische Friedensförderung bedarf der Entdeckung und Entwicklung des eigenen Friedenspotentials. Eine entsprechende künstlerische Arbeit zielt auf die Künstlerin beziehungsweise den Künstler selbst, sensibilisiert und öffnet sie oder ihn für friedensorientierte Transformationsprozesse und regt das Publikum an, sich eigener Grenzen im Sehen und Erleben bewusst zu werden. Versöhnung ist keine unverhofft hereinbrechende Transformation aller Wirklichkeit, sondern kann und muss aktiv gestaltet werden. Modelle dafür, wie solches friedliche Zusammenleben unter den Bedingungen von Störung und Konflikt gestaltet werden und gelingen kann, werden in diesen Beiträgen vorgestellt.

Fernando Enns

Restaurative Gerechtigkeit als Friedensbildung: Die Möglichkeit zur Wiederherstellung von zerbrochenen Beziehungen

Gerechtigkeit als zentrales Moment der drei Phasen der Friedensbildung Friedensbildung kann in mindestens drei (zeitliche) Phasen gegliedert werden. Jede dieser Phasen erfordert eigene Analysen, Kenntnisse und Zielbestimmungen:

Vor einem Konflikt: die (Gewalt)Prävention Die eigentliche Herausforderung besteht nicht darin, Konflikte generell zu vermeiden, denn immer, wo Menschen zusammenleben, wird es notwendigerweise auch zu Interessenkonflikten kommen. Im Rahmen der Friedensbildung muss die Frage der Prävention daher so präzisiert werden: Wie können Personen davon abgehalten werden zu versuchen, ihre eigenen Interessen mit dem Mittel der Gewalt und auf Kosten der Anderen durchzusetzen. Wie können sie stattdessen dazu angehalten werden, gemeinsame Lösungen in Form von Kompromissen und Interessenausgleichen anzustreben, die dem Frieden dienen? Wie müssen also Verhältnisse gestaltet sein, damit ein Konflikt gar nicht erst in Gewalt eskaliert? Die Gestaltung von möglichst gerechten Verhältnissen hat ein besonders großes Präventionspotential.

Während eines Konflikts: die (gewaltfreie) Konfliktlösung Hier lautet die leitende Fragestellung, welche Möglichkeiten es gibt, Konflikte gewaltfrei zu lösen. Welche Methoden und Techniken taugen für welche Arten von Konflikten? Welche kontextuellen Voraussetzungen (anthropologische, sozio-kulturelle und andere) sind zu beachten, und inwiefern liefern diese

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Fernando Enns

Hinweise auf traditionsbewährte Konfliktregelungen? Auf welche etablierten Werte lässt sich bei der Suche nach gewaltfreien Konfliktlösungsstrategien zurückgreifen? Wie können Menschen dazu ›verführt‹ werden, nicht einfach nur ›ihr Recht‹ zu suchen, sondern gemeinsam mit den Kontrahenten nach gerechten Lösungen zu streben? Denn der Schaden für Einzelne oder für Gruppen soll dabei nicht vergrößert, sondern minimiert, möglichst ganz abgewendet werden. Am Ende sollen nicht Sieger auf der einen und Verlierer auf der anderen Seite stehen. Auch ›billige‹ Kompromisse sind zu vermeiden, denn sie bilden keinen nachhaltigen Frieden. Ein gewaltfreier Ansatz fragt vielmehr nach konstruktiven Potentialen eines Konflikts und strebt nach ›gerechten‹ Verfahren der Konfliktregelung, so dass (wieder) belastbare, gerechte Verhältnisse entstehen, die für alle Seiten einsichtig und akzeptabel sind. Die gewaltfreie Lösung eines Konflikts sucht also nach Wegen, die möglichst allen ›gerecht‹ werden. Werden beispielsweise die geltenden Gesetze als gerecht empfunden und steht dahinter eine starke Rechtsgemeinschaft, in der man sich auf die Durchsetzung des Rechts verlassen kann, dann bildet dies eine präventive Kraft aus (Rechtssicherheit). ›Verfahrensgerechtigkeit‹ ist eine der Säulen des Rechtsstaats. Wenn Verlass darauf ist, dass angemessene Schlichtungsverfahren eingerichtet sind und auch gerecht ausgestaltet werden, dann kann auf Selbstjustiz verzichtet werden, weil es Institutionen gibt, die ›jedem sein Recht‹ garantieren. Dies bildet eine starke, pazifizierende Wirkung aus1.

Nach einem Konflikt: die Versöhnung (Heilung, Befreiung) Kommt es schließlich doch zu Gewalt, dann entstehen ernsthafte Schäden. Wenn Menschen zu Tode gekommen sind oder verstümmelt wurden, dann tragen auch Überlebende schwerste psychische Folgeschäden davon: ›Verwundungen ihrer Seele‹ wie Traumata, tiefste Enttäuschungen und Verunsicherungen, ein verlorenes Selbstwertgefühl oder Langzeitfolgen wie posttraumatische Belastungssyndrome. Diese können sich verheerend auf den unterschiedlichsten Beziehungsebenen auswirken: Feindschaft, Hass, Rachebedürfnisse bis hin zur Beziehungsunfähigkeit. Wie kann es Heilung, Befreiung geben, und was ist dazu nötig? Welche ›Therapien‹ gibt es – nicht nur für Einzelne, sondern auch für unversöhnte Gruppen? Welche Überforderungen müssen dabei vermieden werden? Ziel ist es, geschehenes Unrecht wieder ›zu-recht‹ zu bringen. Dazu sind tiefgreifende Prozesse nötig, die echte oder auch symbolische Wiedergutma1 Vergleiche hierzu die Anwendung auf das Internationale Recht bei Justenhoven (2006).

Restaurative Gerechtigkeit als Friedensbildung

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chungen (Reparationen) beinhalten müssen. Eine gerechte Entschädigung, eine gerechte Kompensation kann den Heilungsprozess begünstigen. Dies gilt für Opfer wie für Täter gleichermaßen: Wer keine Möglichkeit zur Wiedergutmachung erhält und wem eine mögliche Wiedergutmachung versagt bleibt, der wird schwerlich von erfahrenem Unrecht ›geheilt‹ werden können. Unter welchen Bedingungen kann es dann so etwas wie eine Versöhnung2 geben? In dieser knappen Beschreibung der Phasen der Friedensbildung wurden meines Erachtens bereits zwei Zusammenhänge deutlich: Zum einen, dass diese (zeitlich) unterschiedenen Phasen nicht vollständig voneinander zu trennen sind. Sie bleiben eng aufeinander bezogen. Anstatt sie schlicht als eine lineare Abfolge zu betrachten, scheint es angemessener, sie als einen Kreis(lauf) zu begreifen: Ein ungeheiltes Trauma, eine unversöhnte Beziehung, eine nicht bearbeitete Ungerechtigkeitserfahrung wird das Zutrauen in gewaltfreie Konfliktlösungen vermindern – somit auch keinen präventiven Beitrag leisten können. Andererseits könnte eine gelungene, gewaltfreie Konfliktlösung oder die Aufarbeitung eines geschehenen Unrechts (Heilung), auf Seiten der Opfer wie auf Seiten der Täter, die beste Präventionsmaßnahme überhaupt sein, da sie von Rachebedürfnissen befreien kann, die ihren Ausdruck rasch wieder in Gewalt suchen würden. So entstehen entweder echte ›Teufelskreise der Gewalt‹ oder eben ›Kulturen des Friedens‹ (Cultures of Peace) (Enns/Holland/Riggs 2004). Zum anderen wird deutlich, dass in allen Phasen der Friedensbildung die Frage der Gerechtigkeit ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt: Bei der Konfliktprävention: Sind Verhältnisse nicht gerecht, werden Mittel nicht gerecht verteilt oder einer Gruppe im Vergleich zu einer anderen ungerechtfertigterweise Privilegien eingeräumt, dann können auch Gesetze (das positive Recht) an sich noch keine präventive Kraft ausbilden, weil sie Gerechtigkeit nicht herstellen3. Das gleiche gilt entsprechend für den Versuch gewaltfreier Konfliktlösungen: Auch hier ist das schlichte Einhalten der Gesetze noch nicht gleichzusetzen mit der subjektiv empfundenen oder objektiv feststellbaren Gerechtigkeit. Entsteht der Eindruck, dass trotz eingerichteter Verfahrensgerechtigkeit der Gerechtigkeit nicht wirklich Genüge getan wird (zum Beispiel durch ausbleibende Wie2 Vergleiche die folgenden Definitionen: »Versöhnung bezeichnet in personalethischer Hinsicht den Vorgang der Wiederherstellung einer schuldhaft zerrütteten Beziehung zwischen Personen durch beiderseitige Umwendung […], welche erneute interpersonale Anerkennung und so Gemeinschaft ermöglicht« (Schlenke 2005: 1061). Versöhnung ist zu beschreiben als ein »wechselseitiger Prozess zwischen mindestens zwei Parteien, die in unmittelbarem oder mittelbarem Kontakt ihre Beziehung zueinander reflektieren und positiv, in gegenseitiger Anerkennung neu gestalten, wie auch als Ergebnis dieses Prozesses« (Van de Loo 2009: 16). 3 Vergleiche zu dieser komplexen Thematik ausführlich die Gerechtigkeitstheorie von Rawls (2006).

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dergutmachung gegenüber geschädigten Opfern oder durch eine unerträgliche Strafe gegenüber einem Täter) so ist zumindest fraglich, ob diese Art der ›gewaltfreien‹ Konfliktlösung tatsächlich nachhaltig im Sinne der Friedensbildung wirken kann. Und schließlich ist auch ein Versöhnungs- oder Heilungsprozess kaum vorstellbar, ohne dass Gerechtigkeit geschaffen wird. In vielen Fällen schwerster Verbrechen kann es allerdings keine echte Wiedergutmachung geben, ›symbolische‹ Wiedergutmachungen können schlimmstenfalls sogar als Hohn empfunden werden (van de Loo 2009). Kann es dann überhaupt Gerechtigkeit geben oder muss man sich in solchen Fällen mit widerfahrenem Unrecht ›abfinden‹? Es ist schwer vorstellbar, wie man dann ›seinen Frieden‹ wieder finden soll.

Abbildung 1: Die Interdependenz von Gewaltprävention, gewaltfreier Konfliktlösung und Versöhnungsprozessen zur Friedensbildung Quelle: Fernando Enns

Die Frage der Gerechtigkeit ist für die Suche nach Friedensbildung zentral. Sie scheint geradezu Voraussetzung zu sein für eine nachhaltige Friedensbildung in ihren verschiedenen Dimensionen: der Prävention, der Konfliktlösung und der Heilung.

Restaurative Gerechtigkeit als Friedensbildung

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›Gerechter Friede‹ als Leitbild für die verschiedenen Dimensionen der Friedensbildung Gerechtigkeit ist zentral für jedes geregelte, friedliche Zusammenleben von Menschen. Wie diese Gerechtigkeit ausgeformt ist, hängt von der jeweils zu betrachtenden Lebensgemeinschaft und ihrem Werte- und Normenkonsens ab. Die Basis für einen solchen ›Kanon‹ bilden Lebensanschauungen oder auch Religionen, denn sie orientieren die Menschen hinsichtlich ihrer Werte und Normen. In pluralistischen Gesellschaften kommt es nicht zuletzt deshalb zu erheblichen Konflikten, weil hier verschiedene Orientierungssysteme miteinander konkurrieren. Hier soll beobachtet werden, wie eine solche Tradition – die christliche Religion – Gerechtigkeit als zentrales Moment in den verschiedenen Dimensionen der Lebenszusammenhänge erkennt. Um zu zeigen, dass dies auch kultur- und kontextübergreifend Geltung beansprucht, greifen wir zur Illustration auf eine internationale, repräsentative Institution zurück: den Weltrat der Kirchen (Ökumenischer Rat der Kirchen, World Council of Churches, WCC). Dieser wurde bereits 1948 von verschiedenen protestantischen, anglikanischen und orthodoxen Kirchen gegründet, die heute gemeinsam über eine halbe Milliarde Menschen zu ihren Mitgliedern zählen (Frieling 1992; Enns/Twardowski 2008). In den vergangenen zehn Jahren hatte diese Weltgemeinschaft eine »Dekade zur Überwindung von Gewalt. Kirchen für Frieden und Versöhnung 2001 – 2010« als einen Programmschwerpunkt ausgerufen (Enns 2012: 138 – 262). Zum Ende dieser Dekade organisierte der WCC eine »Internationale ökumenische Friedenskonvokation« in Kingston/Jamaica (2011) mit über 1.000 Delegierten aus allen Teilen der Welt, um die Ergebnisse zu bündeln und die zukünftigen Aufgaben im Bereich der Friedensbildung zu präzisieren. In der »Botschaft«4 der Weltkonvokation wurde unter dem Leitwort des ›Gerechten Friedens‹ (Just Peace) der unmittelbare Zusammenhang von Gerechtigkeit und Frieden für die verschiedenen Dimensionen des Zusammenlebens deutlich (Raiser/Schmitthenner 2012):

Friede in kleineren Gemeinschaften (Peace in the Community): Rechte schützen! »Die Kirchen lernen die komplexen Aspekte des gerechten Friedens durch ihre Auseinandersetzung mit den vielfältigen Formen von Ungerechtigkeit und Unterdrückung kennen, die sich überschneiden und im Leben vieler Menschen gleichzeitig gegen4 »Botschaft von Kingston«, siehe im Internet unter : http://www.gewaltueberwinden.org/de/ materialien/oerk-materialien/dokumente/praesentationen-ansprachen/ioefk-botschaft.html [ 01. 01. 2013].

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wärtig sind. Mitglieder einer Familie oder Gemeinschaft können unterdrückt werden und gleichzeitig selbst andere unterdrücken. Die Kirchen müssen dabei helfen, die Entscheidungen, die täglich getroffen werden müssen, um Missbrauch zu beenden und Menschenrechte, Geschlechtergerechtigkeit, Klimagerechtigkeit, wirtschaftliche Gerechtigkeit, Einheit und Frieden zu stärken, bewusst zu machen. Die Kirchen müssen auch weiterhin gegen Rassismus und Kastenwesen als entmenschlichende Realitäten in der heutigen Welt vorgehen. Desgleichen muss Gewalt gegen Frauen und Kinder als Sünde benannt werden. Ferner müssen bewusste Anstrengungen zur umfassenden Integration von Menschen mit Behinderungen unternommen werden […]. Friedenserziehung muss künftig eine zentrale Rolle in den Lehrplänen aller Schulen, Seminare und Universitäten bekommen.«

Friede in ökonomischen Beziehungen (»Peace in the Marketplace«): Gerechte Verhältnisse schaffen! »In der globalen Wirtschaft gibt es viele Beispiele für strukturelle Gewalt, die nicht durch den direkten Einsatz von Waffen oder physischer Gewalt charakterisiert ist, sondern durch die passive Hinnahme weit verbreiteter Armut, von Handelsverzerrungen und fehlender Gleichberechtigung zwischen Angehörigen verschiedener Gesellschaftsklassen und zwischen Ländern. Im Gegensatz zum ungebremsten Wachstum – der Vision des neoliberalen Systems – entfaltet die Bibel eine Vision von einem Leben in Fülle, ungeachtet von geographischer Region, Lebensumfeld, Geschlechtszugehörigkeit, sexueller Orientierung, Alter, Leistungsfähigkeit, Rasse, ethnischer Zugehörigkeit oder Religion. Die Kirchen müssen lernen, effizienter für die vollständige Umsetzung von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten als Grundlage für ›eine Wirtschaft im Dienst des Lebens‹ einzutreten […]. Zu den Schritten auf dem Weg zu gerechten und verantwortlichen Volkswirtschaften gehören effizientere Regeln für den Finanzmarkt, die Einführung von Steuern auf Finanztransaktionen und gerechte Handelsbeziehungen.«

Friede mit der Erde (Peace with the Earth): Für Ressourcen– und Klimagerechtigkeit! »Die Umweltkrise ist eine zutiefst ethische und spirituelle Krise der Menschheit […] Natürliche Ressourcen und gemeinsame Güter der Menschheit wie Wasser müssen gerecht und nachhaltig miteinander geteilt werden. […] Der übermäßige Verbrauch fossiler Brennstoffe und CO2–Emissionen müssen dringend auf ein Niveau reduziert werden, das eine Begrenzung des Klimawandels ermöglicht. Die ökologische Schuld der Industrieländer, die für den Klimawandel verantwortlich sind, muss bei den Verhandlungen über die Anteile bei den CO2–Emissionen und die Pläne für die Anpassungskosten berücksichtigt werden.«

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Friede zwischen den Völkern (»Peace among Peoples«): Gerechtigkeit als Garant für Sicherheit! »Die Geschichte führt uns, insbesondere im Zeugnis der historischen Friedenskirchen, vor Augen, dass Gewalt gegen den Willen Gottes ist und keine Konflikte lösen kann. Aus diesem Grund gehen wir über die Lehre vom gerechten Krieg hinaus und bekennen uns zum gerechten Frieden. Voraussetzung dafür ist, dass Konzepte nationaler Sicherheit, die sich exklusiv auf die eigene Nation konzentrieren, zugunsten der Sicherheit für alle überwunden werden. […] Viele praktische Aspekte des Konzepts des gerechten Friedens erfordern Diskussion, Urteilsfindung und weitere Ausarbeitung. Wir ringen weiter um die Frage, wie unschuldige Menschen vor Ungerechtigkeit, Krieg und Gewalt geschützt werden können.«

Es sollen hier zwei Beobachtungen hervorgehoben werden: Zum einen wird deutlich, dass gerade Weltreligionen wie die christliche den unmittelbaren Zusammenhang von Frieden und Gerechtigkeit in ihrer gegenseitigen Interdependenz erkennen – das eine jeweils als Voraussetzung für das andere – und danach trachten, diese in den verschiedenen Dimensionen des menschlichen Zusammenlebens zur Anwendung zu bringen. Der Zusammenhang von Frieden und Gerechtigkeit erschließt sich für die Kirchen unter anderem aus den biblischen Zeugnissen und wird dort näher qualifiziert5. Zum anderen wird deutlich, dass, wie in der Beobachtung der Phasen, auch in den verschiedenen Dimensionen der Friedensbildung das Streben nach Gerechtigkeit zentral ist. Frieden ist die Bedingung der Möglichkeit zu gerechten Beziehungen. Und menschliche Gewalt – im Sinne der mutwilligen Zerstörung von gerechten Beziehungen – stellt immer eine Infragestellung dieser Möglichkeit zum Frieden dar. Daher kann gelten: Gewalt schafft keine gerechten Beziehungen, sowie: ein Friede ohne die Schaffung von Gerechtigkeit wird nicht nachhaltig sein können. Dies lässt nun freilich genauer danach fragen, was denn eigentlich mit Gerechtigkeit gemeint sein kann und welche Art von Gerechtigkeit tatsächlich der Friedensbildung dient.

5 Vergleiche zur Auslegung verschiedener Texte im Blick auf Gewalt, Gewaltüberwindung und Friedensbildung die Hebräische Bibel (Altes Testament) wie das Neue Testament (Dietrich/ Mayordomo 2005). Die Kirchen tragen ein natürliches Potential der Friedensbildung in sich (Weingardt 2007). Im Gegensatz dazu scheint allerdings in vielen gegenwärtigen Konflikten Religion, ganz allgemein gesprochen, eher als Gewalt schürend missbraucht zu werden, wenn sie zur schlichten Identitätsabgrenzung verkommt und in politischen Konflikten instrumentalisiert wird. Religionsvertreter selbst sind zur fortwährenden, selbstkritischen Beobachtung aufgefordert, solchem Missbrauch Einhalt zu gebieten. Die Glaubwürdigkeit des friedensbildenden Potentials ihrer jeweiligen Religion wird davon abhängen.

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Was ist Gerechtigkeit? Bereits Platon (427 – 347 v. Chr.) erkannte, dass Gerechtigkeit als oberste aller Tugenden zu gelten hat, sowohl im Individuellen als auch im Politischen. Gerechtigkeit sei die Grundlage und die Zusammenfassung aller übrigen Tugenden. Das Gerechte sei das eigentlich Gute und dieses Gute das an sich Mächtige. Daher, so Platon, muss das Gute diese Macht auch wirklich im Staate besitzen. Traditionsgeschichtlich ließe sich darstellen, wie sich der Gedanke der Zentralität der Gerechtigkeit bis hin zur Aufklärung und zu gegenwärtigen Gerechtigkeitstheorien weiterentwickelt hat. »Es herrsche Gerechtigkeit, die Schelme in der Welt mögen auch insgesamt daran zugrunde gehen«, war das VernunftDiktum Immanuel Kants (1724 – 1804) (Kant 2009: Anhang I). John Rawls (1921 – 2002) versuchte, zuletzt in seiner großartigen ›Theorie der Gerechtigkeit‹, die Prinzipien der Gerechtigkeit wieder aus der Moral heraus zu entwickeln, ohne diese letztlich aus einer einzigen religiös oder weltanschaulich orientierten Verbindlichkeit herzuleiten (Rawls 2006). Angehörige verschiedener Religionen und Lebensanschauungen sollten vielmehr über ihre je eigenen Begründungsmuster zu einem allgemeinen Grundkonsens der Gerechtigkeit geführt werden. Allerdings erkannte bereits Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) die Begrenzung von Platons Auslegung der Gerechtigkeit, weil sie sich auf Herrschaftsverhältnisse beschränkt. In seiner »Nikomachischen Ethik« warnte Aristoteles davor, Gerechtigkeit in einem zu engen Sinne als die allgemeine Form oder Regel der Handlungsinhalte zu verstehen, die sich die Gesellschaftsmitglieder selbst geben (Aristoteles 2011). Gerechtigkeit sei immer auch die Voraussetzung der Rechtsordnung selbst. Das lässt sich unter anderem anhand seiner Kritik an den Pytagoreern illustrieren, die undifferenziert Recht und ›Wiedervergeltung‹ gleichsetzten (ebd.: B 5, Kap. 8, 1132b). Nach Aristoteles ist die Gerechtigkeit stets als das »Gut des Anderen« zu bestimmen (ebd.: Kap. 3). Und nur, wenn sich Gerechtigkeit auf die anderen Tugenden bezieht, ist sie die vollkommene Tugend, weil sie diese nicht nur für sich selbst, sondern immer gegenüber dem Anderen ausübt. Im Sinne der Gesamttugend sprechen wir seither von der allgemeinen Gerechtigkeit (iustitia universalis), wovon die partikulare Gerechtigkeit (iustitia particularis) – das Gesetz – zu unterscheiden ist (ebd.: Kap. 4). Nach Aristoteles gilt als gerecht, wer die Gesetze beachtet und ein Freund der Gleichheit ist (ebd.: Kap. 2). Das Gesetz aber schreibe vor, die Werke der anderen Tugenden zu tun: Mut, Mäßigkeit, Sanftmut – so Aristoteles. Diese Qualifizierung des Tuns der Gerechtigkeit unter Bezugnahme auf die anderen Tugenden deutet es an: Verliert die partikulare Gerechtigkeit den Bezug zur universalen, dann läuft das Gesetz Gefahr, selbst ungerecht zu werden. Mut, Mäßigkeit und Sanftmut haben sich aber gemeinhin nicht als vorrangige At-

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tribute zur Näherbestimmung von Gerechtigkeit durchgesetzt. Mäßigkeit kann beispielsweise im Blick auf die distributive (verteilende) Gerechtigkeit dann als ungerecht empfunden werden, wenn sie einem nicht den Verdienst (im Sinne von Ehre oder Geld) zukommen lässt, den sich jemand ehrlicherweise als Gegenleistung verdient hat. Sanftmut gilt im Blick auf die kommutative oder korrektive (ausgleichende) Gerechtigkeit eher als ungerecht, weil sie dazu verleiten kann, Täter nicht ihrer gerechten Strafe zuzuführen und so in allgemeinen Unrechts-Verhältnissen zu enden. Aristoteles’ umfangreiche Differenzierungen, auf die heutige, moderne Gesetzgebungen immer noch zurückgreifen, haben sich zum Teil in einer Weise verselbständigt, die den notwendigen weiten ›aristotelischen‹ Begründungshorizont nicht immer erkennen lässt. »Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi« – ›Die Gerechtigkeit ist der beständige und dauerhafte Wille, jedem sein Recht zukommen zu lassen‹, fasste der römische Jurist Ulpian († 223) bereits verengend zusammen (Ulpian 1988). Dieser Definition wird bis heute allgemeine Gültigkeit beigemessen. Sie verführt aber leicht dazu, die Anwendung von (durchaus gerechten) Gesetzen schon gleichzusetzen mit der allgemeinen Gerechtigkeit. Wenn aber tatsächlich auf Friedensbildung abgezielt wird, dann ist die Leistungsfähigkeit von Gesetzen und deren Anwendungsverfahren stets daran zu messen, inwiefern sie den verschiedenen Phasen der Friedensbildung und den unterschiedlichen Dimensionen des Zusammenlebens der Menschen tatsächlich dienen.

Einschätzung aktueller Entwicklungen Auf dem Gebiet des Internationalen Rechts ist im 20. Jahrhundert viel erreicht worden, was sicherlich zur Überwindung von Gewalt und zum Erhalt des Friedens dient. Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermorde und Kriegsverbrechen sowie Angriffskriege werden inzwischen vor internationalen Tribunalen verhandelt. Auch der Internationale Strafgerichtshof konnte 2002 endlich eingerichtet werden6. Hier werden – zumindest exemplarisch – die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen und gegebenenfalls bestraft. Dies entfaltet vor allem eine starke symbolische Kraft, die zum einen verhindern soll, dass natürliche Bedürfnisse der Rache sich in erneuten Gewaltanwendungen niederschlagen. Zum anderen sollen sie als abschreckende Beispiele (Prävention) dienen. Dieses juristische Vorgehen folgt der kommutativen Gerechtigkeit – im Sinne einer stellvertretenden Retribution (Vergeltung). Darin findet die re6 Entsprechend des Rom-Statuts (2002 in Kraft getreten), Artikel 7. Im Internet unter http:// www.un.org/Depts/german/internatrecht/roemstat1.html [01. 03. 2010].

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tributive Gerechtigkeit allerdings auch ihre Begrenzung. Zu fragen ist, inwiefern die Bestrafung der Täter eine Wiedergutmachung für die Opfer bereithält, um dem Teufelskreis der Gewalt tatsächlich zu entgehen. Heilung und Versöhnung sind so sicherlich noch nicht einfach initiiert. Um in traumatisierten Bevölkerungsgruppen eine Kultur der Gewaltfreiheit zu etablieren, wäre ein Gerechtigkeitsverständnis anzustreben, dass ganz auf die Neuetablierung von zerbrochenen Beziehungen zielt. Gerechte Beziehungen müssen wieder ermöglicht werden, um einen nachhaltigen Frieden sichern zu können. Neues Verständnis von gerechten Beziehungen Die begrenzte Leistungsfähigkeit einer retributiv ausgerichteten Gerechtigkeit in ihrer Anwendung im Straf-, Zivil- und Sozialrecht führt zu unsachgemäßen Verengungen des Gerechtigkeitsverständnisses. Hierauf haben Juristen wie Theologen aus der mennonitischen Kirche7 bereits seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts verstärkt hingewiesen. In ihren Versuchen einer neuen, theologisch motivierten Durchdringung des Gerechtigkeitsverständnisses haben sie ihren Blick erneut auf die Quellen der Hebräischen Bibel und des Neuen Testaments gerichtet. Auf diesem Wege sollten neue Orientierungen gesucht und Begründungen wiedergewonnen werden, um gerechte Beziehungen als Voraussetzung wie als Folge des Ethos der Gewaltfreiheit zu ermöglichen und wiederherzustellen: eine restaurative (wiederherstellende, heilende) Gerechtigkeit.

Retributive versus restaurative Gerechtigkeit Zu den ›Pionieren‹ in der Entwicklung der Idee einer restaurativen Gerechtigkeit gehört der nordamerikanische, mennonitische Professor of Humanities and History, Howard Zehr (*1944). Seit 1979 war er Direktor des US-Büros für Strafrecht des Mennonite Central Committee und entwickelte hier das erste Täter–Opfer–Ausgleich Programm in den Vereinigten Staaten (Victim Offender Reconciliation Program; VORP)8. Seine grundsätzlichen Reflexionen zur Frage der Gerechtigkeit entstammten der praktischen Erfahrung mit Tätern und Opfern einerseits, mit dem etablierten juristischen System andererseits (Zehr 1990). Einseitig retributiv ausgerichtete Verfahren konnten einem biblisch umfassenden Verständnis von Gerechtigkeit – als Friedens- und Gemeinschaftsstiftung (Schalom, ›Gerechter Friede‹) – kaum genügen9. Zehr selbst re7 Die Mennoniten gelten als die älteste evangelische Freikirche und als eine der Historischen Friedenskirchen (Enns 2003). 8 Im Internet unter : http://www.vorp.com [01. 01. 2013]. 9 Zunächst wurden alternative Modelle in einigen Gemeinden erprobt, die eine hohe Bevölkerungsdichte von Mennoniten aufwiesen. »Seeking to apply their faith as well as their peace

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klamiert die Ergebnisse seiner Überlegungen nicht als originäre Gedanken, sondern hält sie eher für eine Art Synthese (ebd.: 11). Sein Hauptvorwurf gegen das retributive Gerechtigkeitsverständnis lässt sich so zusammenfassen: In den gängigen Strafrechtsverfahren erfolgt eine Abstraktion von Opfern, Tätern und der Tat selbst. Die betroffene Gemeinschaft, um deren Erhalt es bei der Gerechtigkeit letztlich geht, gerate zu leicht aus dem Blickfeld. Gerichtsprozesse seien in ihrer Technisierung hoch mythologisiert und mystifiziert. Dadurch würden die tatsächlich betroffenen Personen und individuellen Geschichten und Erlebnisse nicht mehr sichtbar. Wenn Schuld einmal festgestellt und zugeschrieben ist, werden die Täter ihrer ›gerechten Strafe‹ zugeführt. Das Vergeben der Schuld, Gnade oder Versöhnung sind im Denkhorizont der Retribution nicht vorgesehen, so Zehr. Denn innerhalb dieses ›Paradigmas‹ herrsche die Überzeugung, dass das Übel, welches ein Täter verursacht habe, durch ein vergeltendes Übel an dem Täter wieder ausgeglichen werden könne. Das Strafmaß bemisst sich nach den Vorgaben der Strafgesetzgebung und, in einem zuvor definierten Rahmen, nach dem Ermessen des Gerichts. Gerechtigkeit als Wiederherstellung einer ursprünglichen ›Balance‹, die durch das Verbrechen gestört worden ist, soll so durch die Verbüßung von Strafe möglich werden. – Was aber ist diese (›metaphysische‹) Balance, fragt Zehr. Auch die Vorstellung einer universalen Gerechtigkeits–Balance folge einer Abstraktion und verstelle den Blick auf die tatsächlichen Verletzungen, die durch das Verbrechen entstanden seien. Die ›Rückzahlung‹ der Schuld durch ein weiteres Übel – eine Schmerzzufügung, eine erzwungene Exklusion (Gefängnis) – sei zu abstrakt, als dass sie von den Betroffenen, Opfern und Tätern tatsächlich als Kompensation des entstandenen Schadens anerkannt werden könnte. Kompensation im Sinne einer Gefängnisstrafe nütze beispielsweise der Gemeinschaft wenig, sie koste die Gemeinschaft vielmehr umfangreiche Ressourcen. Darüber hinaus gebe es keine öffentliche Anerkennung, nachdem die Schuld einmal beglichen sei. Vor dem Gesetz ende damit die Schuld, und auch die Verantwortung für das geschehene Unrecht. Sei der Strafzweck10 als Erziehungsmaßnahme gedacht, bestehe die ernste Gefahr, dass der Täter gerade in jenen Verhaltensmustern bestärkt werde, die ihm vor der Straftat habituell vorgegeben waren: Sie verstünden das Ausüben ihrer Tat oft gerade in diesem Sinne als ›Bestrafung‹ der Opfer, ihrer Familie, ihrer Umgebung. ›Verkehrtes‹ werde nun durch ›Verkehrtes‹ heimgezahlt und jene, die sich vergehen, ›verdienten‹ die Rache der anderen. Demnach würden perspectives to the harsh world of criminal justice, Mennonites and other practitioners experimented with victim-offender encounters that led to programs in these communities and later became models for programs throughout the world«, beschreibt Zehr die Genese. 10 Vergleiche zu den verschiedenen Strafzwecken die Diskussion bei Kreuter (1997).

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die bekannten Institutionen und Methoden der gängigen Rechtsprechung den Gewaltzirkel weiter antreiben anstatt ihn zu unterbrechen11. Insofern sieht Zehr auch den Strafzweck der Prävention in Frage gestellt. John Lampen (*1938) beschreibt das Verharren in dieser retributiv ausgerichteten Auffassung so: »[…] we have been educated to believe that humiliation and suffering are what justice is about and that evil must be held in check by harshness rather than by love or understanding«12. Schließlich identifiziert Zehr Schuld und Strafe als die ›Zwillings–Angelpunkte‹ des herrschenden (nordamerikanischen) juristischen Systems13. Er fragt ganz grundsätzlich, worauf denn die Vorstellung basiere, dass Strafe – auch im Sinne einer Zufügung von Schmerz (zum Beispiel durch Freiheitsberaubung) – Schuld kompensiere? Inwiefern ist ein auf dem retributiven Verständnis basierendes Regelsystem dazu angetan, Gemeinschaften und zerbrochene Beziehungen tatsächlich wieder herzustellen oder gar zu ›heilen‹? Zehr, und in der Folge viele andere, entwickelten alternativ den ›restaurativen‹ Ansatz. Restaurative Gerechtigkeit lässt sich definieren als ein Prozess, in den – so weit wie möglich – jene involviert werden, die von einem Vergehen direkt betroffen sind, und in dem die Verletzungen, Bedürfnisse und Verantwortungen gemeinsam benannt und geregelt werden14. Ein Verbrechen gilt hier zuerst als »eine Verletzung von Menschen und Beziehungen. Es zieht Verpflichtungen nach sich, Dinge zurecht zu bringen. Gerechtigkeit bezieht Opfer, Täter und die Gemeinschaft in die Suche nach Lösungen mit ein, die Zurechtbringung, Versöhnung und Vergewisserung befördern.«15 Dem Ansatz der restaurativen Gerechtigkeit folgend wird nicht primär nach möglichen Schuldzuschreibungen geforscht. Im Fokus steht nicht zuerst die Vergangenheit, sondern die Frage nach der Möglichkeit einer gemeinsamen Zukunft angesichts eines geschehenen Unrechtes. Dabei sollen die Bedürfnisse der betroffenen Personen – Opfer, Täter und die der Gemeinschaft, zu der beide (gemeinsam oder je getrennt voneinander) gehören – im Vordergrund stehen. Während in gängigen Strafprozessen in der Regel eine soziale Verletzung der nächsten folgt, geht es hier um die ernsthafte Suche nach Heilung sozialer Verletzungen. ›Strafe‹ soll stets ausgerichtet sein auf die Möglichkeit der Wie11 Zehr beruft sich hier auf die Untersuchungen von Mohr (1986). 12 Lampen 1987 (zitiert nach Zehr 1990: 76). 13 »Guilt and punishment are the twin fulcrums of the justice system« (Zehr 1990: 75, Übersetzung von F. E.). 14 »Restorative Justice is a process to involve, to the extend possible, those who have a stake in a specific offense and to collectively identify and address harms, needs, and obligations, in order to heal and put things as right as possible« (Zehr 1990: 37, Übersetzung von F. E.). 15 »Crime is a violation of people and relationships. It creates obligations to make things right. Justice involves the victim, the offender, and the community in a search for solutions which promote repair, reconciliation, and reassurance« (Zehr 1990: 37, Übersetzung von F. E.).

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dergutmachung. Dies bedeutet wiederum, dass sich die Aufmerksamkeit eines (Straf)Prozesses nicht auf die Täter beschränken kann, sondern auch die Bedürfnisse der Opfer zentral zu berücksichtigen sind. Wenn irgend möglich, soll den Tätern eine wichtige Rolle bei der Suche nach Möglichkeiten zur Restauration zuerkannt werden. Dadurch sollen sie zu verantwortlichem Handeln ermutigt werden. Entscheidend ist die gemeinsame Verurteilung der Tat, nicht die Verurteilung eines Täters. Denn im Letzten könne es nicht darum gehen, den Täter zu erniedrigen, sondern beide – Opfer wie Täter – wieder aufzurichten, sie aus ihrer Reduktion auf das Opfer- oder Tätersein zu befreien und im besten Falle Versöhnung zu ermöglichen. So bemisst sich die Gerechtigkeit hier nicht allein an der Einhaltung von Gesetzes-Regeln und vorgegebenen Rechtsverfahren, sondern vor allem an der Restauration von Beziehungen in einer Gemeinschaft – der Friedensbildung selbst. Tabelle 1: Unterschiedliche Gerechtigkeitsverständnisse Retributive Gerechtigkeit verletzt den Staat (das Gemeinwohl) und dessen Gesetze Nachweis von Schuld, um das Strafmaß auszuloten

Restaurative Gerechtigkeit verletzt Personen und Beziehungen

Gerechtigkeit wird erstrebt durch: Beteiligte:

Konflikt zwischen zwei Gegnern (Kampfmodell)

Dialog und gegenseitige Abmachungen

Staat – Repräsentanten

Täter – Opfer, Gemeinschaft

Urteil richtet sich nach:

Regeln und Intentionen

Ergebnis:

win-lose

dem Ausmaß, in dem Verantwortlichkeiten angenommen, Bedürfnisse gestillt, Heilung von Individuen und Beziehungen ermöglicht werden können win-win

Straftat: Gerechtigkeit zielt auf:

Identifizierung von Bedürfnissen und Pflichten, um Beziehungen zu korrigieren

Quelle: Nach Zehr, Changing Lenses (1990)

Dieser Ansatz hat inzwischen, zumindest in Teilen, Eingang in Gesetzestexte und anerkannte Gerichtsverfahren verschiedener Länder gefunden. In Neuseeland wurde das Prinzip der Restorative Justice bereits 1989 dem gesamten Jugendstrafrecht zugrunde gelegt. In Deutschland hat die restaurativ ausgerichtete Gerechtigkeit durch so genannte ›Täter-Opfer-Ausgleiche‹ und außergerichtliche Verabredungen (zum Beispiel im Scheidungsrecht) Bekanntheit erreicht16. Sah man diesen Ansatz anfangs nur bei leichten Straftaten als geeignet an, so 16 Vergleiche den Beitrag von Hagemann in diesem Band.

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wird heute versucht, ihn auch in schwerwiegenden Fällen von Mord oder Vergewaltigung zur Anwendung zu bringen17. Und längst reicht er in weite Teile der gewaltfreien Konfliktregelungen gesellschaftlichen Zusammenlebens hinein (durch anerkannte Mediationsverfahren, durch Streitschlichtungsverfahren an Schulen und andere). International sind die vielen Wahrheits– und Versöhnungskommissionen als Bewährungsfelder zu nennen. Durch diese streben Bevölkerungen nach vielen Jahren des Bürgerkriegs oder der ungerechten Rassentrennung nicht nur Vergangenheitsbewältigung, sondern tatsächlich eine Wiederherstellung von gerechten Beziehungen und Zuständen an, weil davon ausgegangen werden kann, dass hiervon der nachhaltige Frieden (im Sinne von Versöhnung) einer zukünftig zu gestaltenden Gesellschaft abhängt18. Den Kirchen kommt in diesen Kommissionen meist eine entscheidende Rolle als neutrale und vermittelnde Instanz zu (vergleiche zum Beispiel Bischof Desmond Tutu in Südafrika; Tutu 2008), wenn diese Glaubwürdigkeit während eines Konflikts nicht verspielt wurde wie zum Beispiel während des Genozids in Ruanda in den 1990er Jahren (vergleiche Grey 2007). Restaurative Gerechtigkeit führt nicht automatisch zu Versöhnung und Heilung. Vergebung oder Versöhnung sind niemals einklagbar. Restorative Justice scheint aber einen ›Raum‹ zu öffnen, in dem es dazu kommen kann. Und tatsächlich zeigen die Erfahrungen, dass es bei der Anwendung von Verfahren, die diesem Ansatz folgen, sehr viel häufiger dazu kommt als bei konventionellen Gerichtsverfahren. Es geht hier also um nicht mehr als eine Eröffnung dieser Möglichkeit, für die sich die Betreffenden selbst entscheiden müssen. Im Sinne der Friedensbildung – und ihrer zentralen Frage nach Gerechtigkeit – scheint der Ansatz der restaurativen Gerechtigkeit leistungsfähig zu sein, sowohl im Blick auf die drei Phasen (der Gewalt-Prävention, der gewaltfreien Konfliktlösung und der Heilung von Gewalterfahrungen) als auch hinsichtlich der unterschiedlichen Dimensionen der Friedensbildung (innerhalb kleinerer Gemeinschaften, zwischen ganzen Bevölkerungsgruppen, in der ökonomischen wie ökologischen Lebensgestaltung). Gerechtigkeit, als Relations- und Solidaritätsbegriff verstanden, ist dann die Bedingung der Möglichkeit zur (Restauration von) Gemeinschaft ganz allgemein. Die je partikulare Anwendung von Gerechtigkeit müsste sich entsprechend an diesem allgemeinen Verständnis von Gerechtigkeit ausrichten.

17 Vergleiche das EU-Forschungsprogramm im Internet unter : www.rjustice.eu [01. 01. 2013]. 18 Das bekannteste Beispiel ist Südafrika. Vergleiche »Versöhnung braucht Wahrheit« (1999). Weitere Beispiele: Guatemala, Peru, Sierra Leone und andere.

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Fragen zum Weiterdenken Wenn Versöhnung – als (Wieder)Herstellung von gerechten Beziehungen – einen Weg zur nachhaltigen Friedensbildung beschreibt, welche Konfliktlösungspraktiken müssten dann zur Anwendung kommen – alternativ oder ergänzend – zu gängigen Strafprozessen? Wie kann hierbei sichergestellt werden, dass Verantwortungen erkannt und angenommen und die Bedürfnisse der direkt Betroffenen berücksichtigt werden – zuerst der Opfer, dann aber auch der Täter und der jeweils betroffenen Gemeinschaften?

Leseempfehlung Amster, Michelle E. / Stutzman Amstutz, Lorraine (Hg.): Conflict Transformation and Restorative Justice Manual. Foundations and Skills for Mediation and Facilitation. Akron/PA 2008 [5. Aufl.]. Bongardt, Michael / Wüstenberg, Ralf K. (Hg.): Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit. Das schwere Erbe von Unrechts-Staaten. (Kontexte: Neue Beiträge zur historischen und systematischen Theologie 40) Göttingen 2010. Petersen, Rodney L. / Helmick, Raymond (Hg.): Forgiveness and Reconciliation. Religion, Public Policy, and Conflict Transformation. Philadephia 2002. Sawatsky, Jarem: Justpeace Ethics. A Guide to Restorative Justice and Peacebuilding. Eugene/OR 2009. Volf, Miroslav : The End of Memory. Remembering Rightly in a Violent World. Grand Rapids/MI 2006.

Literatur Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, hrsg. von Rainer Nickel. Berlin 2011. Dietrich, Walter / Mayordomo, Mois¦s: Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel. Zürich 2005. Enns, Fernando: Ökumene und Frieden. Bewährungsfelder Ökumenischer Theologie. (Theologische Anstöße 4) Neukirchen-Vluyn 2012. Enns, Fernando: Friedenskirche in der Ökumene. Mennonitische Wurzeln einer Ethik der Gewaltfreiheit. Göttingen 2003. Enns, Fernando / Holland, Scott / Riggs, Ann (Hg.): Seeking Cultures of Peace. A Peace Church Conversation. Telford/PA u. a. 2004. Enns, Fernando / Twardowski, Stephan von: »«Ehre sei Gott – und Friede auf Erden«. Das Ringen der Gemeinschaft der Kirchen um friedensethische Positionen«, in: Link, H.-G. / Müller-Fahrenholz, G. (Hg.): Hoffnungswege. Wegweisende Impulse des Ökumenischen Rates der Kirchen aus sechs Jahrzehnten. Frankfurt/M. 2008, S. 348 – 377. Frieling, Reinhard: Der Weg des ökumenischen Gedankens. Eine Ökumenekunde. (Zugänge zur Kirchengeschichte 10) Göttingen 1992.

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Grey, Mary C.: To Rwanda and Back. Liberation Spirituality and Reconciliation. London 2007. Harris, M. Kay : »Moving into the New Millenium. Toward a Feminist Vision of Justice«, in: Pepinsky, H. / Quinney, R. (Hg.): Criminology as Peacemaking. Bloomington/IN 1991, S. 83 – 97. Justenhoven, Heinz-Gerhard: Internationale Schiedsgerichtsbarkeit. Ethische Norm und Rechtswirklichkeit. Stuttgart 2006. Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden: ein philosophischer Entwurf. Sprachlich überarb. und neugefasst von Jost-Dietrich Busch. Kiel 2009. Kreuter, Jens: Staatskriminalität und die Grenzen des Strafrechts. Reaktionen auf Verbrechen aus Gehorsam aus rechtsethischer Sicht. (Öffentliche Theologie 9) Gütersloh 1997. Lampen, John: Mending Hurts. London 1987. Link, Hans-Georg / Müller-Fahrenholz, Geiko (Hg.): Hoffnungswege. Wegweisende Impulse des Ökumenischen Rates der Kirchen aus sechs Jahrzehnten. Frankfurt/M. 2008, S. 348 – 377. Mohr, Johann W.: Causes of Violence: A Socio-Legal Perspective. The John Howard Society Conference: Violence in Contemporary Canadian Society. Ottawa 1986. Ökumenischer Rat der Kirchen: Botschaft von Kingston, verfügbar unter : http://www. gewaltueberwinden.org/de/materialien/oerk-materialien/dokumente/praesenta tionen-ansprachen/ioefk-botschaft.html [01. 01. 2013]. Raiser, Konrad / Schmitthenner, Ulrich (Hg.): Gerechter Friede – ein ökumenischer Aufruf zum gerechten Frieden. Begleitdokument des Ökumenischen Rates der Kirchen. Münster 2012. Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf, hrsg. von Erin Kelly, Frankfurt/ M. 2006. Schlenke, Dorothee: »Artikel »Versöhnung«, VII. Ethisch«, in: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG) 2005/8, S. 1061 f. Südafrikanische Wahrheitskommission: Versöhnung braucht Wahrheit, hrsg., ausgew. und eingeleitet von Joachim Braun. Gütersloh 1999. van de Loo, Stefanie: Versöhnungsarbeit. Kriterien – theologischer Rahmen – Praxisperspektiven. Stuttgart 2009. Tutu, Desmond: Versöhnung. Freiburg u. a. 2008. Ulpian: Corpus Iuris Civilis, Digesten 1, 1,10, herausgegeben von Th. Mommsen und P. Krüger. Berlin 1963 [17. Aufl.]. Weingardt, Markus: Religion, Macht, Frieden. Das Friedenspotential von Religionen in politischen Gewaltkonflikten. Stuttgart 2007. Zehr, Howard: Fairsöhnt. Schwarzenfeld 2010. Zehr, Howard: Changing Lenses. A New Focus for Crime and Justice. Scottdale/PA 2005 [3. Aufl.]. Zehr, Howard / Harry, Mika: »Fundamental Principles of Restorative Justice«, in: The Contemporary Justice Review 1998/1 (1), S. 47 – 55.

Otmar Hagemann

Restorative Justice in der Praxis: Täter-Opfer-Ausgleich und Gemeinschaftskonferenzen

Alltagsfrieden erhalten und erneuern Wie kann ›sozialer Friede‹ – gemeint ist hier der Alltagsfriede zwischen einzelnen Individuen und sozialen Gruppen innerhalb einer Gemeinschaft beziehungsweise Gesellschaft – in der Praxis gefördert beziehungsweise nach einer Störung wieder hergestellt werden? Diese Frage steht im Zentrum aller Konzepte von Restorative Justice – ein recht junger Begriff. Geprägt und erstmals in wissenschaftlichem Zusammenhang verwendet wurde Restorative Justice im Jahr 1977 von dem amerikanischen Psychologen Albert Eglash; auch wenn Vorstellungen eines entsprechenden friedlich–versöhnlichen Verhaltens von Menschen untereinander viel älter sind (Eglash 1977; Zehr 1990; Marshall 1999). Manche Autoren beziehen Restorative Justice nur auf das Strafrecht (zum Beispiel Walgrave 2008), andere schließen familiäre Probleme, Konflikte im Gesundheitswesen, am Arbeitsplatz, in der Schule oder in der Gemeinde oder andere Bereiche ein (zum Beispiel Hopkins 2012; McCold/Wachtel 2002). Da es bisher keinen Konsens über die ›richtige‹ Übersetzung von Restorative Justice ins Deutsche gibt – die Begriffe »wiederherstellende« (Pelikan 1999) oder »ausgleichende« Gerechtigkeit (TOA-Servicebüro1) finden sich in der einschlägigen Literatur – benutze ich den englischen Fachterminus Restorative Justice, der eine ›Philosophie‹ und einen Theorieansatz auf dem Weg zum sozialen Frieden beschreibt. Den Begriff »restaurative Gerechtigkeit« (Zehr 2010; anders als Enns in diesem Band) verwende ich nicht, denn das deutsche Adjektiv ›restaurativ‹ klingt allzu sehr nach der durch den Wiener Kongress 1814/15 eingeleiteten anti-revolutionären Epoche, was hier in die Irre leiten würde. Einigkeit hingegen besteht zwischen allen Forschern und Praktikern darüber, dass sozialer Friede über den Rechtsfrieden hinausgeht. Sozialer Friede ist konsens-, zukunfts-, bedürfnis- und lebensweltorientiert. 1 Im Internet unter www.toa-servicebuero.de .

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Otmar Hagemann

Störungen im menschlichen Zusammenleben sind normal Die Störung des Friedens ist ein normaler Zustand im Zusammenleben von Menschen. Weil Konflikte wegen struktureller Ursachen häufig gar nicht vermeidbar sind oder der Friede unabsichtlich gestört wird, kann man das alte Bild vom ›Menschen als des Menschen Wolf‹ (Thomas Hobbes 1588 – 1679, nach Plautus) durch die Erfahrung bestätigt finden. In Anlehnung an das bekannte Bild spricht der Psychologe und Kommunikationstrainer Marshall Rosenberg (2001) von der »Wolfssprache«, die negativ, verletzend, kriegerisch sei, sich des Befehlstons und vieler Du-Botschaften bediene. Dazu stelle die gewaltfreie Kommunikation eine Alternative dar. Ein Beispiel dafür : Der niederländische Jurist und Strafrechtskritiker Louk Hulsman hat vorgeschlagen, nicht von Kriminalität beziehungsweise Straftaten, sondern neutraler von ›problematischen Situationen‹ (1986) zu sprechen. Solche reichen von der geschwisterlichen Konkurrenz um die Zuwendung seitens der Eltern über den Wettbewerb um knappe Güter, über das versehentliche Schädigen eines Anderen (etwa im Rahmen eines Unfalls) bis hin zu Straftaten. Strukturell betrachtet besteht die Gemeinsamkeit all dieser problematischen Situationen darin, dass die sich benachteiligt empfindende Partei (oder Dritte) den sozialen Frieden als gestört wahrnimmt. Die Konfliktforscher und kriminalpolitischen Reformer Gerhard Hanak, Johannes Stehr und Heinz Steinert (1989) haben gezeigt, dass es in den meisten Fällen bei der Wahrnehmung der Störung auf Seiten des ›Opfers‹ bleibt. Nur selten stellt das ›Opfer‹ den ›Täter‹ zur Rede. Noch seltener schaffen beide gemeinsam die Störung aus der Welt oder können sie gar durch eine Versöhnung wieder überwinden. Wenn aber der Benachteiligte die Störungen bloß erleidet, dann hat er womöglich noch gesundheitliche Folgen zu ertragen, die später vielleicht sogar therapeutische Hilfen erfordern. Nicht selten ist das bei Kriegstraumatisierten und deren Kindern der Fall (Bode 2011). Der Ansatz von Restorative Justice wird gelegentlich kritisiert, weil er angeblich Ungleichheit und Ungerechtigkeit zementiere. So sieht beispielsweise die feministische Kritik an versöhnenden Lösungen bei häuslicher oder sexueller Gewalt Frauen im Verhältnis zu Männern im Allgemeinen als vulnerabler an als ihre Konfliktpartner (Oberlies 2000; anders argumentieren Bannenberg u. a. 1993). Noch einleuchtender ist das Argument, dass manche Menschen verletzlicher als andere sind, wenn man es auf Kinder, auf Angehörige von Minderheiten, auf Behinderte, Alte oder Homosexuelle bezieht. Deshalb sucht sich das Opfer häufig Verbündete: etwa staatliche Organe wie Vertreter von Polizei und Justiz. Auch Selbstjustiz wäre eine Möglichkeit für das Opfer, sich zu wehren. An ihrem extremsten Beispiel, der Blutrache, wird jedoch

Restorative Justice in der Praxis

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deutlich, dass wir, wenn wir die Selbstjustiz akzeptieren würden, schnell in einen umfassenden Kriegszustand2 gerieten.

Viele Opfer von Straftaten wollen den Täter in den Blick nehmen Konflikte beziehungsweise problematische Situationen werden nur dann strafrechtlich bearbeitet, wenn entweder seitens des Opfers bei der Polizei eine Strafanzeige erstattet oder von Amts wegen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Aus Opfersicht kann damit der Wunsch nach einer Bestrafung des Täters verbunden sein (Kury 2007; anders argumentieren: Sessar 1999; Gelb 2006). Meistens geht es dem Opfer jedoch vordringlich um Unterstützung, um Wiederherstellung eines ungestörten Zustandes, um Wiedergutmachung, Schadensersatz oder Anerkennung des erlittenen Leids (Hagemann 1993, 2012a; Strang 2002). Menschen, die Opfer einer Straftat geworden sind, ähneln in vielen Hinsichten solchen Menschen, die durch Erkrankung, Unglücksfälle, Naturkatastrophen oder menschengemachte Katastrophen zum Opfer wurden – mit dem einen, aber entscheidenden Unterschied, dass in diesen Fällen in der Regel kein eindeutig benennbarer Verantwortlicher identifiziert werden kann. Das Opfer einer Straftat weiß, dass es einen Täter gab – das Opfer eines Tsunamis weiß dagegen, dass sein Unglück gewissermaßen ›natürlich‹ verursacht ist. Ein großer Teil der Opfer von Straftaten steht einem direkten oder indirekten Kontakt mit dem Täter grundsätzlich offen gegenüber. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Kontakt in einer sicheren Umgebung und unterstützt durch einen Mediator erfolgt. Die Motive dafür, sich auf freiwilliger Basis in einem geschützten Raum mit dem Verursacher des eigenen Leids zu treffen, sind vielfältig. Opfer wollen häufig den oder die Täter zur Rede stellen, ihnen verdeutlichen, was sie angerichtet haben, die Frage nach dem »Warum ich?« (Bard/ Sangrey 1986) beantwortet bekommen oder den Täter einfach kennenlernen. Diese Offenheit ist in bestimmten Phasen des psychischen Prozesses der Verarbeitung der Tat seitens des Opfers stärker oder weniger stark ausgeprägt.

2 Der österreichische Mediator Ed Watzke (2008) verwendet den Begriff ›Krieg‹ als Metapher für langwierige Beziehungskonflikte zwischen einst sich nahestehenden Menschen. ›Krieg‹ kann auch stellvertretend über Anwälte ausgetragen werden; dann wird das Strafrecht für den Konflikt instrumentalisiert.

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Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) Im Jahr 1974 wurde in Elmira/Kanada zum ersten Mal alternativ zu einer strafrechtlichen Verurteilung ein Ausgleich zwischen Tätern und Opfern durchgeführt (Yantzi 1985). Mitte der 1980er Jahre wurden diverse TOA-Projekte in Deutschland initiiert (Bannenberg 1993; Marks u. a. 1993). Im Jahr 1990 erfolgte dann eine gesetzliche Verankerung des TOA im deutschen Jugendgerichtsgesetz. Wenig später wurde das TOA-Servicebüro in Köln gegründet und eine TOA-Statistik ins Leben gerufen. 1994 folgte die Verankerung des TOA in Deutschland im Strafgesetzbuch und 1999 in der Strafprozessordnung. Im Unterschied zu einigen anderen Ländern gibt es in Deutschland keine Einschränkung hinsichtlich der Delikte oder der beteiligten Täter beziehungsweise Opfer. Beide Seiten entscheiden auf freiwilliger Basis selbst, ob sie einen TOA jenseits des Strafrechts versuchen wollen. In Anlehnung an den norwegischen Kriminologen Nils Christie (1995), der davor warnt, sich Konflikte von Professionellen stehlen zu lassen, bezeichne ich dieses ›Eigentum am eigenen Konflikt‹ als Ownership. An einem TOA nehmen außer dem Mediator meist nur zwei oder drei Personen teil. Neben dem Opfer und dem Täter sind das vor allem Menschen von der Täterseite, bei Fällen mit jugendlichen Beschuldigten etwa deren Eltern. Implizit unterstellt dieses Setting, dass die ›problematische Situation‹ tatsächlich nur diese Beteiligten betrifft. Häufig teilt das Opfer sein Leid jedoch mit Partnern, Angehörigen, Freunden, vielleicht auch mit Nachbarn und Kollegen. Etliche Menschen aus dem Umfeld des Opfers und sogar unbeteiligte Zeugen der Tat machen sich die Opferwerdung oder deren Folgen jedoch selbst zu Eigen. Sie entwickeln beispielsweise persönlich Ängste und sind in einem elementaren Sinne von der Tat ebenfalls ›betroffen‹. Deshalb fragt sich, ob diese Mitbetroffenen nicht auch ihrerseits einen Anspruch auf Ausgleich, Wiedergutmachung oder Heilung haben müssten. Auf der Täterseite gibt es ebenfalls Mitbetroffene, seien es die Eltern oder Partner des Täters oder auch Menschen aus der Peergroup, die vielleicht sogar zu der Straftat ermuntert haben. Selbst wenn all diese Personen aufgrund des Aufwands, der Kosten oder wegen der Nicht-Öffentlichkeit in Jugendverfahren nicht in den TOA einbezogen werden können oder sollen, bleibt doch die Frage nach der Auswirkung des Tatgeschehens auf die Gemeinschaft bestehen. Ein Fall aus der Praxis Zwei ›Täter‹ beraubten zwei ›Opfer‹. Im TOA einigten sich diese vier sehr schnell darauf, gemeinsam eine Kiste Bier zu leeren und den Vorfall zu vergessen. Da Mediatoren nur für den Prozess Sorge tragen, die Ergebnisse aber Sache der Beteiligten sind, steht es den Mediatoren nicht zu, auf eine

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andere Lösung hinzuwirken, obwohl offen zutage liegen dürfte, dass die Staatsanwaltschaft eine solche Einigung für ein juristisch derart schweres Delikt (räuberische Erpressung) nicht akzeptieren kann. In einem solchen Fall würde eine größere Gruppe, die Täter und Opfer begleitet, wahrscheinlich Einspruch erheben. Eine solche ›Gemeinschaft‹ würde mehr Interessen repräsentieren und auf eine weniger individualistische Lösung hinarbeiten. Sie würde beispielsweise darauf hinweisen, dass die Freunde der Täter bei der Tat einschüchternd auf die Opfer eingewirkt hätten und deshalb der gefundene Ausgleich möglicherweise noch von der Einschüchterung zeuge. Aber auch Personen aus dem näheren Umfeld der Opfer, die über die Vorfälle informiert wurden, oder die beteiligten Polizeibeamten würden bei einem solchen Ausgleich protestieren. Deshalb gibt es in der strafrechtlichen Mediationspraxis ›Gemeinschaftskonferenzen‹ (vergleiche Blaser u. a. 2008; Hagemann 2010).

Gemeinschaftskonferenz (GMK) Entstanden ist die Idee der Einbindung der sozialen Gruppen, in denen Täter und Opfer leben, in den 1980er Jahren in Neuseeland (MacRae 2012; MacRae/ Zehr 2004; Maxwell 2007). Hier besteht ebenso wie in vielen asiatischen Gesellschaften ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Einbettung von Individuen in ihre Gemeinschaften (Braithwaite 1989). Deshalb kam es zu ersten Mediationen in größeren Gruppen unter dem Namen Family Group Conferencing (Maxwell/ Morris 1993). Zwar gehen aktuelle soziologische Theorien und Analysen, zumindest für Deutschland, von einer ausgeprägten Individualisierung aus, aber das muss nicht gegen die Idee von Gemeinschaftskonferenzen gewendet werden. Denn Menschen betonen zwar ihre Autonomie und Individualität, sie grenzen sich von anderen ab und nehmen sich als unabhängig von ihren Wurzeln (Familie, Geburtsort) und sozialen Verbindungen (Bekannte, Nachbarn, Arbeitskollegen) wahr – aber Identität kann sich erst durch den Bezug auf die Gemeinschaft voll entfalten. Selbst wenn sich Individuen in unserer Gesellschaft unabhängig wähnen, wenn sie ihre Bindungen zur Ursprungsfamilie gelöst haben, wenn Singles nicht in fester Partnerschaftsbeziehung leben und keine Kontakte zu Nachbarn pflegen, dann bleiben doch noch einige regelmäßige Kontaktpersonen, durch die sie in ein zumindest lockeres Netz informeller Kontrolle eingesponnen sind (Hirschi 1969). Jeder Mensch wird also durch den Sozialisationsprozess ›vergemeinschaftet‹; er wird so zu einem Mitglied einer Gruppe, einer Gemeinschaft und letztlich der Gesellschaft.

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Andere Völker bringen diesen Gedanken der Sozialität des Menschen durch einen eigenen Begriff sprachlich zum Ausdruck: So bedeutet das afrikanische Ubuntu, »durch den Bezug auf Mitmenschen selbst zum Menschen zu werden«. Die neuseeländischen Maori verstehen unter Whakapapa die Verbindung mit der Familiengruppe und dem Stamm. Sie lehnen sowohl die Vorstellung ab, ein Kind könne Eigentum seiner Eltern sein, als auch, es könne sich aus sich selbst heraus entwickeln. Vielmehr bedarf es der ganzen Gemeinschaft ein Kind zu erziehen. Es liegt also – aller Rede von der angeblichen Individualisierung zum Trotz – nahe, die jeweiligen Gemeinschaften der Opfer sowie die der Täter in die Konfliktbearbeitung einzubeziehen.

Erfahrungen mit GMK in Elmshorn vielversprechend Auf der Täterseite geht es in Deutschland um 14– bis unter 21 Jährige, die im Zuge einer strafrechtlichen Aufarbeitung unter das Jugendgerichtsgesetz fallen. Auf der Opferseite geht es um Menschen jeden Alters, die direkt (materiell, körperlich oder psychisch) geschädigt worden sind. Als ›Unterstützer‹ bezeichne ich all jene Personen, die von den Hauptbeteiligten als Mitglieder des GMK-Verfahrens benannt wurden und durch ihre Teilnahme an der GMK Verantwortung für die konstruktive Bearbeitung des Konflikts und die Umsetzung der angestrebten Vereinbarungen übernehmen wollen. Darüber hinaus sind zwei Mediatoren (gemischt-geschlechtliches Co – Mediationsverfahren) und ein Polizeivertreter obligatorische Mitglieder der GMK. Der Polizist nimmt einerseits teil als Repräsentant des Gemeinwesens, andererseits verkörpert er die Ernsthaftigkeit der Veranstaltung. Der Täter wird durch den Polizisten an die Schwere seiner Tat erinnert. Zugleich sorgt der Polizist für ein größeres Gefühl der Sicherheit auf der Geschädigtenseite, bei der zuweilen Angst vor der Täterseite vorhanden ist. Weitere Professionelle aus dem Bereich des Jugendstrafrechts (zum Beispiel Vertreter der Jugendgerichtshilfe oder Anwälte) werden je nach Wunsch der Beteiligten einbezogen. Die geschädigte Person darf auf eigenen Wunsch ohne Unterstützer teilnehmen. Niemals soll die beschuldigte Person allein zur GMK kommen, denn sie braucht erfahrungsgemäß Hilfestellung bei der Entwicklung konstruktiver Lösungsvorschläge und bei deren Umsetzung. Nach Möglichkeit sollten auch Unterstützer aus der Peergroup der Gleichaltrigen dabei sein, denn gerade während der Adoleszenz spielen die Freunde eine herausragende Rolle im Sozialisationsprozess. Dadurch wird zugleich verhindert, dass sich der Jugendliche im Verhältnis zu den an der GMK beteiligten Erwachsenen als machtlos und dominiert empfindet. Während in Elmshorn zwischen 8 bis 14 Personen an

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diesen GMK teilnahmen, wurden in Neuseeland schon sehr viel größere Conferences durchgeführt. Eine GMK durchzuführen bedeutet einen beträchtlichen Aufwand. Deshalb liegt es nahe, eher schwerere Delikte mit diesem Verfahren zu bearbeiten. Die wichtigste Vorbedingung für die Durchführung einer GMK ist jedoch, dass mindestens ein Opfer sich bereit erklärt daran mitzuwirken. Mediation entfaltet ihre stärkste Wirkung bei einer direkten Konfrontation von Opfer und Täter. Delikte, durch die Unternehmen oder Körperschaften geschädigt wurden, sind deshalb weniger geeignet für GMK, weil niemand Ownership (für das eigene Leid) übernehmen kann. Bis zum Zustandekommen einer GMK ist einige Vorarbeit zu leisten: Jugendstaatsanwältinnen und -anwälte oder Jugendrichterinnen und -richter übermitteln den Mediatoren einen geeigneten Fall. Diese kontaktieren dann zunächst die beschuldigte Person und, bei Aussicht auf eine erfolgreiche GMK, auch die geschädigte Person. Entscheiden sich die Hauptbeteiligten, Täter und Opfer beziehungsweise Beschuldigte und Geschädigte, in den Vorgesprächen unabhängig voneinander für die Durchführung einer GMK und erklären sich auch Unterstützer zur Teilnahme bereit, dann organisieren die Mediatoren eine entsprechende Veranstaltung (vergleiche Hagemann 2002, 2009a, 2009b).

Der Ablauf einer GMK ist strukturiert Nach Begrüßung, Vorstellung und kurzer Einführung in das weitere Vorgehen durch die Mediatoren erläutert der anwesende Vertreter der Polizei die ermittelten Fakten. Anschließend nimmt die beschuldigte Person dazu Stellung, kann Erklärungen abgeben oder auch um Entschuldigung bitten. Dann hat die geschädigte Person das Wort. Einerseits kann diese sich auf die Ausführungen von Polizei und Beschuldigten beziehen, sie bestätigen, korrigieren oder um eigene Wahrnehmungen ergänzen. Andererseits kann das Opfer auf die erlittenen Folgen hinweisen. Je verwerflicher die Tat war, von der die Vorwürfe zeugen, und je gravierender die Folgen für das Opfer sind, desto schwerer fällt es Beschuldigten, diesen Ausführungen zu folgen, sie – wie die Psychologen sagen – an sich heranzulassen. Beim TOAwird die notwendige Offenheit auf Seiten des Opfers durch den intimen Raum und die kleine Gruppe der Beteiligten erreicht. Das ist wegen der Vielzahl der Verfahrensbeteiligten bei der GMK anders. Hier stellen zuerst Täter und Opfer ihre je subjektive Perspektive dar. Dann äußern sich alle weiteren Beteiligten, insbesondere die Unterstützer der Beschuldigtenseite und der Geschädigtenseite. Die Vertreter beider Seiten bemühen sich um eine ganzheitliche Würdigung der Konfliktgegner und können auch

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auf deren positive Seiten, Engagement und Verdienste hinweisen. Schilderungen der Folgen der Tat, gegebenenfalls auch Berichte dazu, wie die Folgen der Tat sogar noch auf weitere Kreise wirkten, heben die Verletzungen des Opfers ins Bewusstsein aller Versammelten. Das ist normalerweise für den Täter emotional aufwühlend. Deshalb kann er oder sie häufig weniger aus diesen Botschaften bewusst aufnehmen als seine Unterstützer. Dominiert die ›Abwehr‹ (ein psychologischer Terminus technicus) auf Täterseite, droht die Konferenz zu scheitern. Dann kommt es zu einem Gerichtsverfahren. In der GMK vervielfältigen sich also im Vergleich zum TOA die Kommunikationswege. Zugespitzt gesagt: Die Unterstützer des Opfers wenden sich vor allem an die Unterstützer der oder des Beschuldigten; dabei ereignet sich ein regelrechter Brückenbau zwischen den Unterstützern beider Seiten.

Abbildung: Vergleich der Kommunikationsstruktur in TOA und GMK Quelle: Otmar Hagemann

Nach der Darlegung der unterschiedlichen Perspektiven auf die Tat seitens der Opfer und der Täter sowie ihrer jeweiligen Unterstützer berät sich die Beschuldigtenseite vertraulich. Die Täterin oder der Täter besprechen sich auf der gemeinsam erarbeiteten Grundlage mit den Unterstützern der eigenen Seite (ohne Anwesenheit von Vertretern der anderen Seite) über mögliche, zur Wiedergutmachung geeignete Anstrengungen. Diese Unterbrechung der GMK hat den Sinn, dass die Vertrauenspersonen des Täters Botschaften, die sie in den bisherigen Darlegungen wahrgenommen haben, an sie oder ihn weitergeben können. So kann ein Vorschlag zur Wiedergutmachung in einer solidarischen und offenen Atmosphäre entwickelt werden. Die Beschuldigten können Anregungen einholen und eigene Ideen mit ihnen wohlwollenden Menschen erörtern. Das minimiert das Risiko unpassender Vorschläge. Darüber hinaus kann die Täterin oder der Täter sich sicher sein, dass die Unterstützer bei der anschließenden Phase hinter ihr beziehungsweise ihm stehen. Nach Unterbreitung

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eines Wiedergutmachungsvorschlags durch die Beschuldigtenseite vor der gesamten Gruppe reagiert die Geschädigtenseite auf diese Initiative. Sie fordert gegebenenfalls Nachbesserungen oder Modifikationen, wird aber die ausgestreckte Hand nicht grundsätzlich ausschlagen. Vorteile der GMK Weil die GMK komplexer angelegt ist und über wesentlich mehr Kommunikationskanäle verfügt als der TOA, hat sie größere Erfolgschancen. Während im TOA allein der Mediator die Wirkung auf den Täter sicherstellen muss, wirkt in der GMK die ganze Gruppe auf ihn ein. Im Erfolgsfall steht am Ende der GMK eine von allen Beteiligten und Unterstützern unterschriebene, zivilrechtlich verbindliche, schriftliche Vereinbarung zwischen Täterin oder Täter und Opfer. Gericht und Staatsanwaltschaft werden über die Vereinbarungen und deren Einhaltung informiert und entscheiden dann über die Möglichkeit einer Einstellung des Strafverfahrens beziehungsweise über eine Anrechnung des Verhandlungsergebnisses der GMK in der Hauptverhandlung. Bei der Überwachung der Einhaltung der Vereinbarung spielen wieder die Unterstützer beider Seiten eine wichtige Rolle. Während der TOA für einfache Konflikte zwischen zwei Menschen das optimale Verfahren darstellt, ist die GMK das optimale Verfahren bei Konflikten, die eine größere Gemeinschaft betreffen, denn diese wird bei der Konfliktbearbeitung einbezogen und an der Lösungsfindung beteiligt. Die Evaluation von GMK in Elmshorn zeigt den Nutzen für Opfer und Täter Wir haben im Rahmen des Pilotprojekts in Elmshorn 15 GMK durchgeführt, darunter die drei folgenden (vergleiche Bergemann 2011; Hagemann 2008): Erstes Beispiel Ein Jugendlicher schlägt ein Nachbarskind. Das beeinträchtigt das bis dahin positive Zusammenleben der Familien von Opfer und Täter nachhaltig und versetzt die weitere Nachbarschaft in Unruhe und Streit. Neben Mediatoren, Polizei und einer wissenschaftlichen Beobachterin nahmen sieben Beteiligte aus jeder der beiden Familien an der GMK teil. Der Täter entschuldigte sich und lud das Opfer und seinen Bruder zum Eis essen ein. Außerdem verpflichtete sich seine Familie Leistungen der Jugendhilfe zu beantragen. Die Aufarbeitung scheint gelungen, denn das Klima hat sich nach Aussagen der Geschädigtenseite deutlich verbessert.

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Zweites Beispiel Auf einer privaten Party randaliert ein Heranwachsender und bedroht die Gastgeber sowie andere Gäste. Dabei setzt der Täter teilweise sogar ein Messer ein. Es gehen Fensterscheiben bei den Gastgebern zu Bruch, ihr Mobiliar wird stark beschädigt. Überall in der Wohnung finden sich später Blutspuren, weil sich der Täter verletzt hat und stark blutet. Ein hinzugezogener Polizist wird durch den Täter leicht verletzt. In diesem Fall trafen sich sechs Beteiligte der Familien. Der Verursacher zahlte 1.000 Euro Schadenersatz und akzeptierte ein Hausverbot. Weiter lud er die beiden Gastgeber zu einem Essen ein und erklärte sich bereit, einige Stunden Arbeit bei einer gemeinnützigen Einrichtung zu leisten, die einen Bezug zu Alkoholproblemen hat. Die Beteiligten scheinen keinen Groll mehr gegeneinander zu hegen. Auch den Sorgen und Bedürfnissen der Geschädigten hinsichtlich der weiteren Entwicklung des Beschuldigten konnte Rechnung getragen werden. Die Aufarbeitung scheint gelungen, eine Vereinbarung wurde erzielt. Drittes Beispiel Ein 15jähriger schickt über einen längeren Zeitraum vermeintlich anonyme rechtsextreme Drohungen an einen wenig älteren Schüler mit bekannten SPDSympathien sowie an dessen jüngere Freundin. Die beiden Elternpaare der Geschädigten veranlassen aus Angst vor tätlichen Übergriffen die polizeiliche Aufklärung und nehmen neben Mutter und älterer Schwester des Beschuldigten an der GMK teil. Insgesamt waren neun Beteiligte aus den drei Familien anwesend. Dort löste sich das Problem schnell auf: Der Täter war eifersüchtig, weil er sich im Vergleich zu dem etwas älteren Konkurrenten als chancenlos bei dem jungen Mädchen empfand. Im Internet hatte sich der Beschuldigte bei Neonazi-Argumenten gegen Linke bedient und Bedrohungsstrategien entwickelt, ohne selbst in diese Welt eingebunden zu sein. Nachdem er die Folgen seines Tuns bei der Konfrontation mit der Geschädigtenseite realisiert und um Entschuldigung gebeten hatte, nahm er Kontakt zu einer Gruppe auf, die die Geschichte der jüdischen Verfolgung vor Ort bearbeitet und den noch erhaltenen Friedhof pflegt. Sein Wiedergutmachungsengagement umfasste auch eine Ausarbeitung über die örtliche Judenverfolgung.

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Ergebnisse der GMKs zusammengefasst Weitere Anlässe für GMK in Elmshorn waren Gewalttaten unter Jugendlichen mit gravierenden physischen und psychischen Verletzungen der Opfer sowie ein Einbruch, der in einer gewalttätigen Auseinandersetzung mündete. Hoher Alkoholkonsum spielte eine eskalierende Rolle und führte in einem Fall zu einer schweren Augenverletzung eines Opfers. Eine GMK bewährte sich auch in einem Graffiti-Fall, der auf Seiten der Opfer heftige Wut und Empörung ausgelöst hatte. Die für Elmshorn zuständige Justiz hat den Mediatoren der GMK zwar keine ganz schweren Taten wie beispielsweise Vergewaltigung, bewaffneten Überfall oder lebensbedrohliche Gewalthandlungen zugewiesen, aber doch Ereignisse, die zumindest zeitweilig traumatisierende Wirkung auf Opfer ausübten. Aus dem informellen Kreis der Vertrauten der oder des Beschuldigten nahmen in der Regel jeweils eine bis drei Personen teil, wobei in einem Fall kurzfristig eine Praktikantin in diese Rolle schlüpfte, nachdem der eigentliche Unterstützer aus der Peergroup nicht erschienen war. Auf der Geschädigtenseite beteiligten sich zwischen einer und vier Personen als Unterstützer. Dabei überwogen die Eltern. Es gelang nicht immer, Freunde aus der Peergroup einzubeziehen. Neben den genannten Personen und den zwei Mediatoren waren in jedem Fall ein Polizeibeamter und ein bis zwei wissenschaftliche Beobachter anwesend, in Einzelfällen auch Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe, Lehrer, Jugendpfleger und auch ein ›Kulturmittler‹ aus der türkisch-stämmigen Gemeinschaft als Vertrauensperson. Bis auf die Beobachter äußerten sich alle Personen zu den Persönlichkeiten der Hauptbeteiligten, zu den Auswirkungen der Tat, zu den Wünschen und Erwartungen des Opfers und des Täters und beteiligten sich an der Lösungsfindung. In der Regel kam es nach der Erörterung des Geschehens zu Kontaktaufnahmen zwischen den Unterstützern der beiden Parteien, die als ›Brückenbau‹ beschrieben werden können und den Weg für die Hauptbeteiligten ebneten, eine Vereinbarung zu erzielen. Die Unterstützer spielten eine wichtige Rolle, Vorschläge zu entwickeln beziehungsweise so zu modifizieren, dass sich alle Beteiligten damit identifizieren konnten. Dabei wurde einerseits deutlich, dass Autorität, kulturelle Traditionen und die Elternrolle bei dem Setting einer GMK bedeutsam sind. Andererseits wurde deutlich, dass alle Beteiligten über den Konflikt und ihre Rolle als Unterstützer des Täters oder des Opfers hinweg an einem gemeinsamen Strang ziehen: nämlich das Problem aufzuarbeiten und sozialen Frieden wieder herzustellen. Eine jede der zustande gekommenen GMK endete mit einer einvernehmlich herbeigeführten Vereinbarung, die von allen Beteiligten mitgetragen wurde: Das war die Bitte um Entschuldigung seitens der oder des Tatverantwortlichen, die ausdrückliche Bezeugung von gegenseitigem Respekt, des Weiteren Leistungen für Geschädigte oder Dritte im Sinne einer Wiedergutmachung, die Teilnahme

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an einem Trainingskurs zur Verbesserung des Sozialverhaltens, eine Suchtberatung und so weiter. Erzielt werden sollten mit diesen Maßnahmen Verhaltensänderungen bei den Beschuldigten. Diese Vereinbarungen sind alle dadurch charakterisiert, dass die Täter an deren Zustandekommen selbst mitgewirkt haben. Die Beobachter konnten erkennen, dass die gefundenen Vereinbarungen keineswegs ausschließlich repressiven, strafenden Charakter hatten, sondern vielmehr für die Betroffenen erkennbare Bezüge zu ihrer Lebenswelt und zu ihrer individuellen Situation aufwiesen. Außerdem ist hervorzuheben, dass nur solche Vereinbarungen getroffen wurden, die einen Bezug zur Tat hatten und vom Täter auch tatsächlich umgesetzt werden konnten. Weil diese Ergebnisse unter maßgeblicher Beteiligung beziehungsweise auf Anregung des Tatverantwortlichen erzielt wurden, kann man konstatieren, dass auch der oder die Täter Ownership für die eigene Tat übernommen hat beziehungsweise haben. Ergebnisse der GMK In einer Analyse des Verhaltens der Täter nach der GMK zeigte sich, dass die Vereinbarungen meistens eingehalten wurden. Erfreulicherweise tauchten die meisten Beschuldigten nach Auskunft von Polizei und Staatsanwaltschaft nicht erneut als Tatverdächtige auf. Mindestens genauso wichtig wie die ›Legalbewährung‹ des Täters sind allerdings die Langzeitfolgen der GMK für das Opfer. Und auch die positiven Folgen der GMK für die Gemeinschaft in Nachbarschaft, Wohnviertel und Gemeinde müssen in die Bilanz einbezogen werden, um das Verfahren angemessen zu bewerten. Die Erfahrungen in Elmshorn lassen erkennen, dass die GMK-Methode in Deutschland erfolgreich angewendet werden kann und dass sie ein großes Potential hat – nicht nur für die Bearbeitung von Konflikten, sondern auch für die Beantwortung quälender Fragen auf der Geschädigtenseite. Die meisten Opfer erleben den vorher (über)mächtigen Täter auf Normalmaß geschrumpft, eher leise und defensiv. Die Machtbalance wendet sich zu ihren Gunsten. Sie bekommen in der Regel die gewünschte Bitte um Entschuldigung und wenigstens teilweise einen Schadenersatz. Sie erhalten auch Antworten auf ihre Fragen. Es wird berichtet, dass sie häufig danach mit dem Geschehen abschließen können, ihre Angst verlieren und Symptome wie Schlafstörungen wieder verschwinden (vergleiche Strang 2002). Zuweilen hat die GMK zur Heilung unsichtbarer Wunden beigetragen. Das ging in einem Fall sogar so weit, dass das Opfer sich dafür verantwortlich fühlte, dass der Täter zur Einsicht kam. Von höchster Bedeutung für die Bewertung des Erfolgs einer GMK ist die Verantwortungsübernahme auf Seiten der Täterin beziehungsweise des Täters:

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soziales Lernen konnte initiiert werden. Außerdem wurde in der Atmosphäre der GMK das Verhältnis von ›jugendlichen Rebellen‹ zur Polizei verbessert. Nach der GMK konnten die Täter die Polizisten als interessierte und respektvolle Menschen schildern. Beeindruckend war aber vor allem das konstruktive, kritischunterstützende Verhalten der Geschädigten und deren Unterstützer. Deshalb möchte ich für die GMK werben und deren Vorzüge gegenüber der TOA zusammenfassend herausstreichen: Ohne eine Einbeziehung der Gemeinschaft – verkörpert durch die Unterstützer der Täter und der Opfer, der Polizei und der Behörden – werden Chancen des Ausgleichs zwischen Tätern und Opfern vertan. Obwohl es zwischen GMK und TOA fließende Übergänge gibt, unterscheiden sich die Idealtypen erheblich.

Restorative Justice als genuin menschliche Haltung Dieser Beitrag stellte Restorative Justice aus theoretischer und praktischer Perspektive vor. Er ging aus von der Tatsache, dass Konflikte in individualisierten Gesellschaften häufig Spezialisten des Strafrechts überantwortet werden, die dann die Täter für ihre Taten bestrafen und sie dabei aus Gemeinschaften ausgrenzen. Der Umgang der Opfer mit den Folgen wird gesellschaftlich marginalisiert, ihre Bedürfnisse werden auf die Ebene des Privaten oder Therapeutischen verschoben oder sie müssen sich auf das Engagement einzelner OpferInitiativen verweisen lassen. Dagegen habe ich exemplarisch gezeigt, wie die Verfahren zur Herstellung von Restorative Justice, TOA und GMK, auf der Mikroebene menschlicher Konflikte in unserem Alltag angewendet werden können. Die Ideen der Restorative Justice breiten sich aus Gesetzlich ist Restorative Justice in Deutschland seit 1990 verankert. Neben nationalen gibt es internationale und transnationale rechtliche Grundlagen und Empfehlungen3. Erwähnenswert sind vor allem die ›UN-Declaration on Basic Principles for Victims of Crime and Abuse of Power‹ (1985) und das Wiener »Handbook on Restaurative Justice Programms, UN-Of3 Zur vertiefenden Lektüre empfehlen sich folgende Internet-Adressen: internationales Forschungsprojekt unter Beteiligung des Autors (www.rjustice.eu), European Forum for Restorative Justice (www.euforumrj.org), Restorative Justice Online (www.restorativejustice.org), TOA-Servicebüro (www.toa-servicebuero.de), Why me? (www.why-me.org), New Zealand Ministry of Justice (www.justice.govt.nz/…), Australian Government & Australian Institute of Criminology (www.aic.gov.au/…), Restorative Justice Programs in Australia, (www.aic.gov. au/rjustice/rise/), Real Justice (www.realjustice.org), The International Institute for Restorative Practices (www.iirp.edu).

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fice of Drugs and Crime« (2006)4. Außerhalb des Strafrechtszusammenhangs wird der Begriff Restorative Justice (gelegentlich auch Restorative Practice) zwar bisher selten gebraucht, entsprechende Verfahrensweisen werden aber dennoch im Alltag häufig praktiziert: Bei familiären Problemlagen wird beispielsweise ein ›Familienrat‹ einberufen (vergleiche Hagemann 2012b) oder von professioneller Seite eine ›Familienmediation‹ angeboten. Mediation wird als Methode zunehmend auch im Gesundheitswesen, in der Schule oder im Arbeitsleben genutzt. Auch kommunale Konflikte wie ›Stuttgart 21‹ oder Streitigkeiten im Wirtschaftsleben, gesamtgesellschaftliche oder gar transnationale Konflikte (beispielsweise Tutu 2001) werden zunehmend friedlich konstruktiv bearbeitet. Ist Restorative Justice also ein Weg zum positiven Frieden? Ist Restorative Justice ein Weg, der zu einer Restorative Society führt (vergleiche Wright 2010; Maxwell/ Liu 2007)? Das mag man für eine schöne Utopie halten, denn schwere Delikte oder folgenreiche Opferwerdungen, zum Beispiel in Fällen von Vergewaltigung, Geiselnahme, Raub, schwerer Körperverletzung oder gar in Hinblick auf die Hinterbliebenen des Opfers bei Tötungen, werden noch kaum mit Methoden der Restorative Justice bearbeitet. Dabei könnte gerade für die Opfer solcher und ähnlicher Straftaten ein gewisses Heilungspotential in der Anwendung dieses Verfahrens liegen. Evaluationen der bisherigen Umsetzung, freilich überwiegend im leichteren bis mittelschweren Bereich, fallen jedenfalls positiv aus (vergleiche Sherman/Strang 2007; Shapland u. a. 2011; McCold/Wachtel 2002; Vanfraechem/Walgrave 2005). Meiner Meinung nach hat Restorative Justice eine große Zukunft in Deutschland, das im Vergleich etwa mit Österreich sein Potential für entsprechende Mediationen noch kaum ausgeschöpft hat. Während es in Österreich schon zehn Prozent aller geeigneten Verfahren sind, werden in Deutschland erst zwei Prozent davon durch TOA oder GMK geschlichtet (Kerner/Hartmann/Eikens 2008). Um die Anwendung von Restorative Justice zu fördern, hat die Eu4 Außerdem hat die UNO (ECOSOC 2002) »Basic Principles on the Use of Restorative Justice Programmes in Criminal Matters« verabschiedet. In Europa hat der Europarat Empfehlungen zur Mediation in Strafverfahren gegeben (vergleiche Rec: 1999, 19) und Richtlinien zur Opferhilfe erlassen (vergleiche Rec: 2006, 8). Die 26. Konferenz der europäischen Justizminister hat am 7. und 8. April 2005 in Helsinki die »Resolution on the Social Mission of the Criminal Justice System – Restorative Justice« verabschiedet und der Rat der EU fasste am 15. März 2001 einen Rahmenbeschluss über die Stellung des Opfers im Strafverfahren (2001/220/JI), nach dem alle EU-Staaten verpflichtet sind, RJ-Verfahren spätestens ab 2006 im nationalen Strafrecht vorzusehen (vergleiche insbesondere Artikel 10). Aktuellste Aktivität ist der Vorschlag »for a Directive of the European Parliament and of the Council establishing minimum standards on the rights, support and protection of victims of crime (2011)«, die ebenfalls für alle Mitgliedsstaaten unmittelbar geltendes Recht konstituieren wird.

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ropäische Kommission zwei Jahre lang ein Projekt gefördert, welches für Schleswig-Holstein (vergleiche Hagemann u. a. 2012), Thames Valley/UK, Ungarn und Estland eine Bestandsaufnahme entsprechender Ansätze vorgenommen hat. Untersucht wurde auch, wie Restorative Justice qualitativ gefördert und weiterentwickelt werden kann, und wie die quantitative Ausweitung der Verfahren erreicht werden kann (vergleiche http://www.rjustice.eu; Lummer u. a. 2012). Zudem hat die Europäische Kommission dafür Mittel bewilligt, in den nächsten beiden Jahren gezielt Opfer schwerer Delikte und Strafgefangene anzusprechen, um zu untersuchen, ob sie bereit für Angebote der Restorative Justice wären und wie entsprechende Angebote gestaltet werden müssten. Im Einklang mit EU-Recht soll jedes Opfer eine Chance auf die freiwillige Teilnahme an einem Restorative Justice-Verfahren erhalten, unabhängig vom Tätertypus und davon, wie es zum Opfer geworden ist. Restorative Justice kann aber nicht nur dann zur Anwendung kommen, wenn eine Straftat begangen wurde, sondern auch, wenn auf andere Weise der soziale Friede gestört wurde. Der Kriminologe Paul McCold und der frühere Lehrer Ted Wachtel (2002) haben diverse Verfahrensweisen beschrieben, wie überwiegend oder zumindest teilweise restorative auf problematische Situationen reagiert werden kann5. Der dialogische Prozess zum sozialen Frieden kann mittels des auf Restorative Justice basierenden Verfahrens einer Wahrheits– und Versöhnungskommission selbst auf der Makroebene gesamtgesellschaftlicher Konflikte durchgeführt werden wie zum Beispiel nach dem Ende der Apartheid in Südafrika oder nach dem Guerillakrieg in Peru (1980 – 2000). Aktuell stellt sich in Deutschland und Europa die Frage, ob die Gewalttaten und sexuellen Übergriffe gegen Kinder und Jugendliche in staatlichen und kirchlichen Heimen, die mit den herkömmlichen strafrechtlichen Instrumenten kaum im Sinne der Opfer bewältigt werden können, für die Bearbeitung mit Methoden der Restorative Justice geeignet sind. Allerdings muss auch konstatiert werden: Nicht für jedes Opfer stellen derzeit der soziale Friede und eine nachhaltige Einwirkung auf den Täter und dessen Unterstützergemeinschaft primäre Ziele dar. Manche Opfer sind eher materialistisch geprägt und streben Schadensersatzzahlungen an. Meine Vision ist allerdings eine Restorative Society, eine Gesellschaft, in der systematisch integrierende Dialoge auf allen möglichen Ebenen angeboten, geführt und gegebenenfalls von professionellen Mediatoren begleitet werden. 5 Hier wurden nur der Täter-Opfer-Ausgleich und Gemeinschaftskonferenzen vorgestellt. Außerdem listen die Autoren auf: Peace Circles (vergleiche zu diesem, der GMK ähnlichen Verfahren Pranis u. a. 2003; Thoß/Weitekamp 2012), victim support circles, victim restitution, truth and reconciliation commissions, therapeutic communities, positive discipline, victimless conferences, victim services, crime compensation, community service, youth aid panels, victim sensitivity training, reparative boards, family centered social work und offender family service.

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Strafrechtlich zu bearbeitende Konflikte sind in dieser Utopie nur ein spezieller Anwendungsbereich zur Erlangung von sozialem Frieden zwischen Tätern und Opfern. Dadurch konnte freilich methodisch ein Weg aufgezeigt werden, der auf andere Bereichen übertragbar ist. Deshalb möchte ich Sie dazu aufrufen, Restorative Justice-Verfahren zu nutzen und die Idee der Restorative Justice weiterzuverbreiten. Denn Frieden ist nicht nur eine Sache der Politik – Frieden ist unser aller Alltag. Frage zum Weiterdenken Handelt es sich bei dem Konzept der Restorative Justice um eine kriminologische Theorie, eine Philosophie, eine Haltung, eine Bewegung oder um eine Methode?

Leseempfehlung Handbook on Restorative Justice Programms, Vienna, UN Office of Drugs and Crime, 2006. Verfügbar unter : http://www.unodc.org/pdf/criminal_justice/06 – 56290_Ebook .pdf [27. 1. 2013]. Morris, Alison / Maxwell, Gabrielle (Hg.): Restorative Justice for Juveniles. Conferencing, Mediation and Circles. Oxford/Portland 2001. Risto, Karl-Heinz: Konflikte lösen mit System. Mediation mit Methoden der Transaktionsanalyse. Ein Arbeitsbuch. Paderborn 2003. Watzke, Ed: Äquilibristischer Tanz zwischen Welten. Godesberg 1997.

Literatur Bannenberg, Britta / Weitekamp, Elmar G. M. / Rössner, Dieter /Kerner, Hans-Jürgen: Mediation bei Gewaltstraftaten in Paarbeziehungen. Baden-Baden 1993. Bard, Morton / Sangrey, Dana: The Crime Victim’s Book. Secaucus 1986 [2. Aufl.]. Bergemann, Sophia: Gemeinschaftskonferenzen – ein strafrechtliches Mediationsverfahren, orientiert an der ›Restorative Justice‹- Philosophie. Eine empirische Studie zum Elmshorner Pilotprojekt, 2011. Verfügbar unter : www.fh-kiel.de/fileadmin/data/sug/ pdf-Dokument/Hagemann/Sommersemester_2011/Sophia_Bergemann_Diplom arbeit_komprimiert.pdf [ 27. 1. 2013]. Blaser, Birgit / Dauwen-Samuels, Torsten / Hagemann, Otmar / Sottorff, Sophia: »Gemeinschaftskonferenzen. Ziele, theoretische Fundierung, Verfahrensweise und erste Ergebnisse eines Family-Group-Conferencing-Projekts für JGG-Verfahren in Elmshorn«, in: TOA-Infodienst 2008/34, S. 26 – 32. Bode, Sabine: Nachkriegskinder – Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter. Stuttgart 2011. Braithwaite, John: Crime, Shame and Reintegration. Cambridge u. a. 1989

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Sofie Olbers

Performing for Peace? Künstlerische Forschungs- und Lernformate

In der Sommeruniversität »Kunst und Frieden« 20111 schauten Teilnehmende mit Hilfe verschiedener künstlerischer Medien und Methoden aus unterschiedlichen Perspektiven auf Gewalt, Konflikt und Krieg sowie Gewaltlosigkeit, Kooperation und Friedensfertigkeit. Sie zeigten dabei kreative Denk-, Fühl- und Handlungsmöglichkeiten auf. Die Workshops wurden von Hamburger und internationalen Künstlerinnen und Künstlern als praktische Friedenswerkstätten geleitet: Claude Jansen / Angela Guerreiro Tanz/Performance, Renan Demirkan Storytelling, Hasan und Husain Essop Fotografie, Yoav Shamir Film, Jumoke Olusamni Collage, Frauke Thalacker Gesang. Die Teilnehmenden fertigten eigene Kunstwerke an, die sie an einem Präsentationsabend ausstellten beziehungsweise aufführten und besprachen. Das schuf intensive Erfahrungen des Dialogs und gemeinsamen Entdeckens, auch von nicht Intendiertem. Für die bis zu hundert Teilnehmenden und Mitwirkenden verwandelte sich die Hamburger Universität in einen Kunstraum des Tuns. Die erfahrene Überraschung und Bereicherung spiegelten sich in den Antworten der Teilnehmenden auf die offenen Fragen in den anonymisierten Evaluationsbögen wider : »Mich freut es so sehr, dass auch an der Universität langsam, aber sicher angekommen ist, dass es wenig bringt, immer nur zu reden und zu denken, und dass es sehr viel mehr im Gehirn und auch sonst aktiviert, etwas zu tun!« »Wie schnell die Zeit verging! So selbstvergessen und versunken in das Machen war ich noch nie an der Uni.« »Ich finde die Mischung aus Theorie und Praxis so einmalig im universitären Bereich und würde mir viel mehr in diese Richtung wünschen.« 1 Im Internet unter : http://blogs.epb.uni-hamburg.de/kunstundfrieden/ .

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Das friedensorientierte Zusammenspiel unterschiedlicher Geistes– und Erfahrungswelten beschreibe ich im Folgenden beispielhaft an Äußerungen zum Performance-Workshop »Hamburg-Erinnerungen«, der von der Dramaturgin und Kuratorin Jansen und der Choreographin und Tänzerin Guerreiro geleitet wurde. Theoretische und konzeptionelle Vorüberlegungen werden den Blick für die Auswertung der Evaluationsergebnisse der Sommeruniversität durch die Teilnehmenden schärfen. Einleitend werden einige Verbindungslinien zwischen kultureller Bildung und Friedensbildung aufgezeigt und Aspekte der performativen Bildungstheorie sowie der Performancekunst thematisiert. Abschließend werden Erfahrungen aus dem Performance-Workshop der Sommeruniversität 2011 vor dem Hintergrund der theoretischen Erörterungen ausgewertet.

Kunst, Wissenschaft und Pädagogik – Methodische Vorüberlegungen Mit diesem Erfahrungsbericht soll ein Diskurs zu Kunst und Frieden begonnen werden, indem ich einigen Fragen der Verbindung von Kunst, Forschen und Lernen nachgehe. Insbesondere werde ich beschreiben, dass eine ›performative2 Recherche‹ ein solches Suchen und Erfahren bedeutet, das über den bewussten Inhalt hinaus arbeitet. Eine gemeinsame ›künstlerisch–performative Recherche‹ schafft folglich einen besonderen Raum, in dem reflexive Lernprozesse möglich werden. Jenseits traditioneller akademischer Lehr– und Lernformate werden komplexe und widersprüchliche Zusammenhänge mit künstlerischen Methoden thematisiert und so Erkenntnisse generiert. Die Integration ästhetischer und forschender Methoden lässt sich in dem gegenwärtig geführten Diskurs um Kunst und Wissenschaft finden. In Deutschland wird ›künstlerische Forschung‹ seit der Hochschulbildungsreform nach der Erklärung von Bologna (1999) vermehrt besprochen. Der Begriff beschreibt die in der Praxis bereits existierenden Mischformen von künstlerischer und akademischer Wissensgenerierung. Ästhetisch–kulturelle Bildung und Friedensbildung miteinander zu verbinden, ist ein relativ junges Feld pädagogischer Arbeit (Grasse/Gruber/Gugel 2008: 7; Liebau 2011). Das Hamburger ART PEACE Project3 versucht, durch Experi2 Laut Duden benennt performativ »eine mit einer sprachlichen Äußerung beschriebene Handlung zugleich vollziehend.« Siehe auch Sprechakttheorie (Austin 1962: »How to do things with words«). 3 Das ART PEACE Project konzipierte und organisierte die Sommeruniversität Kunst und Frieden 2011 in Kooperation mit der Universität Hamburg und dem Initiativkreis Friedensbildung/Peacebuilding; siehe auch: http://blogs.epb.uni-hamburg.de/artpeaceproject/ .

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mente und Analysen von künstlerischen Lernformaten zu Themen der Friedensbildung präventive friedenspädagogische Maßnahmen zu entwickeln. Das Projekt setzt die Erkenntnis um, dass Kunst, Frieden und Gesellschaft zusammengehören. »Kunst ist wohl das wichtigste Verfahren, den kulturellen genetischen Code (Galtung)4 einer Gesellschaft aufzudecken und angreifbar zu machen. In diesem Sinne kann Kunst zwar nicht die Gesellschaft verändern, aber sie kann unsere Wahrnehmung der Gesellschaft verändern und damit die Grundlagen für politischen und sozialen Wandel schaffen« (Wintersteiner 2001: 25).

Konkrete Handlungsaufforderungen zur Verknüpfung von kultureller Bildung und Frieden wurden bereits von der UNESCO 2010 auf der Weltkonferenz für Kulturelle Bildung in der Seoul Agenda (2010) formuliert. Hier wurde kulturelle Bildung als zentraler Bestandteil einer umfassenden Persönlichkeitsbildung begriffen. Sie soll die wesentlichen Voraussetzungen für eine aktive und (selbst) reflektierte Teilnahme am kulturellen Leben einer Gesellschaft schaffen: »[…] the potential of arts education to develop and conserve identity and heritage as well as to promote diversity and dialogue among cultures, – the restorative dimensions of arts education in post-conflict and post-disaster situations; […] Foster the capacity to respond to major global challenges, from peace to sustainability through arts education; […] Apply arts education to foster democracy and peace in communities and to support reconstruction in post-conflict societies« (Seoul Agenda 2010, Goal 3: 8 – 10).

Kulturell–ästhetische Bildung bietet ganzheitliche Lernkonzepte an. Sie fördert und befähigt zur kulturellen Teilhabe mit intensiven, die innere Person erreichenden und inspirierenden Lernprozessen, die nicht nur das Kognitive, sondern auch Körper und Emotion ansprechen. Dadurch wird eine affektive Beziehung zwischen Lernendem und dem zu Lernenden hergestellt. Diese affektive Beziehung ist gewollt. Die Auseinandersetzung mit den Wirkungen von Affekten im Bildungsprozess wird seit langem wissenschaftlich und auch öffentlich diskutiert. Dabei spielt einerseits die konkrete Anwendung, andererseits die Nutzbarmachung der pädagogischen Wirkungen eine große Rolle (Fink u. a. 2011). Kulturell–ästhetische Bildung stärkt junge Menschen In jüngster Zeit ist allerdings zu beobachten, dass eine zu stark zweckgerichtete Auffassung von kulturell–ästhetischer Bildung – sei es auch mit dem Ziel, Frieden zu stiften – kritisch betrachtet wird, weil sie reduktionistisch sei (Hentschel 1996: 12). Jedem kunstaffinen Menschen dürfte die ›verzweckte‹ Auffassung von Kunst ein Garaus sein, trotzdem wissen wir, 4 In Anlehnung an seine systemtheoretischen Ausführungen versteht Johan Galtung Kulturen als systemische Codes des Raums Gesellschaft, so wie genetische Codes und Persönlichkeiten die jeweiligen Systeme Natur und Mensch definieren (vergleiche Galtung 1998).

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dass Kunstarbeit ›förderlich‹ ist. Denn sie verändert. Nehmen wir zum Beispiel Performer : Die arbeiten an ihrem künstlerischen Ausdrucksvermögen und bilden sich persönlich wie sozial weiter. Sie gewinnen häufig stärkeres Selbstbewusstsein, gesteigerte Empathie, erhöhte kommunikative Kompetenz, eine verbesserte Position in der Gruppe, gereifte Teamfähigkeit, Spontanität, flexibles Denken und Handeln, Perspektivenwechsel und so weiter. In der Friedenspädagogik sollen eben diese Fähigkeiten gestärkt werden, weil sie dazu beitragen, Werte einer Kultur des Friedens voranzubringen. Um also konfliktträchtige und widersprüchliche Inhalte zu vermitteln und friedfertige Handlungsweisen einzuüben, werde ich den künstlerischen Ansatz der Performancearbeit nun vorstellen und genauer betrachten.

Bildung und die performativen Künste – Freiraum für Prozesshaftes Schon der US-amerikanische Ethnologe und Ritualforscher Victor Turner (1920 – 1983) bezeichnete den Menschen als homo performans (1986: 81), als hauptsächlich darstellendes Lebewesen, das in Rollen und Ritualen seine Identität konstituiert, erhält und kollektiv die gemeinsame Wirklichkeit inszeniert. Im gegenwärtigen Zeitalter muss Bildung und Bildungsforschung daher die Inszenierung des Selbst in den Blick nehmen. Menschen machen sich existent, indem sie sich in einer gelungenen Performance in Szene setzen. Im Zuge des sogenannten performative turns in den Sozial- und Kulturwissenschaften entstand daher die relativ junge ›Pädagogik des Performativen‹. In dieser hauptsächlich von den beiden deutschen Erziehungswissenschaftlern Christoph Wulf und Jörg Zirfas erarbeiteten performativen Bildungstheorie wird Bildung als Prozess und Ergebnis einer Veränderung in Bezug auf »das Selbst- wie auch das Sozial- und Weltverhältnis des Menschen« beschrieben (Wulf/Zirfas 2007: 29). Damit wird durch Bildung nicht nur der kognitive Bereich angesprochen, sondern auch körperliche, soziale, momenthafte und inszenierte Formen von Bildung kommen in den Blick. Bildungsprozesse sind demnach Lern-, Handlungsund Veränderungsprozesse, an denen die Lernenden selbst mitwirken. Die Pädagogik des Performativen untersucht also, allgemein gesprochen, leibliche und soziale Aspekte in (Bildungs)Prozessen und steht damit im direkten Austausch mit den performativen Künsten, die sich in den letzten Jahrzehnten durch die Fusion ritueller mit theatralen Formen entwickelten. Performances als Life-Acts untersuchen die Prozessualität von Handlungen (Mersch 2005: 38), indem die Inszenierungen Umbrüche und Übergänge zwischen Kunst

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und Leben deutlich machen. So entstand eine große Bandbreite von Performancevarianten, die sich multimedialer Inszenierungsstile bedienen, eine dekonstruktivistische Perspektive fördern und Formen zeitgenössischer Gemeinschaftsbildung hervorrufen beziehungsweise Interaktionen verdichten (Klein/Sting 2005: 10). Dazu werden ästhetische Mittel wie Improvisationen verwendet, die Nicht–Vorhersehbares, Unkontrollierbares und Körperlichkeit erfahrbar werden lassen. Der Performer befindet sich in einem Zwischenraum, der Verhaltensweisen gleichsam wiederholt und verflüssigt. So tragen Performances und Performativität »zur Konservierung und Tradierung, aber auch zur Aktualisierung und Transformation von Konvention« bei (Klein/Sting 2005: 11).

Performative Forschung – Experimentieren, Improvisieren, Grenzen erkunden Lassen sich solche performativen Phänomene überhaupt untersuchen? Herkömmliche Forschungsmethoden sind meist nur ungenügend in der Lage, prozesshafte, dynamische und körperliche Aspekte an den Forschungsgegenständen aufzuzeigen. Deshalb plädiert die deutsche Kunstpädagogin Ulrike Stutz für die Erweiterung von Ansätzen rekonstruktiver Sozialforschung. Sie versucht, in der Analyse von performativen Situationen Erkenntnisse zu generieren, »die nicht von der Körper- und Sinneserfahrung abgekoppelt sind« (Stutz 2008: 3). Die deutsche Kunstpädagogin Hanne Seitz hat beschrieben, dass künstlerisch-ästhetische Prozesse nicht mehr nur als Forschungsgegenstand, sondern zunehmend selbst als Forschungsverfahren angesehen werden: »Der spürende, wahrnehmende, handelnde Körper ist nicht Objekt, sondern Leibsubjekt der Wahrnehmung« (Seitz 2008: 36). Der gesamte Körper des Forschenden mit all seinen Sinneswahrnehmungen wird also zum primären Erhebungs– und Analyseinstrument einer ästhetisch-performativen Recherche. Allgemein gesprochen lässt sich die performative Forschung in dem Begriff und der Debatte über ›Kunst als Forschung‹ verorten. Der deutsche Wirtschaftsmathematiker und Kunstphilosoph Dieter Mersch spricht von Kunst als Forschung, indem er Kunst als experimentelle Forschung beschreibt. Sie habe ihren eigenen Erkenntniswert, ohne in Konkurrenz zur wissenschaftlichen Forschung zu geraten. Denn sie gehe von anderen Fragestellungen aus und untersuche, »was sich außerhalb der Dimension und Reichweite wissenschaftlicher Problemstellungen artikuliert« (Mersch/Ott 2007: 29). Das Provokative, das fortwährende Spiel mit den Gegensätzen (Mersch 2007: 94), die Fragmentierungen, Verkehrungen, Paradoxien und Widersprüchlichkeiten sind womöglich überhaupt erst der Anreiz für eine künstlerische Wissensgenerierung. Deren

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Ergebnis besteht oft darin, beim Zuschauer beziehungsweise Rezipienten Fragen überhaupt erst aufzuwerfen statt sie zu beantworten (Seitz 2008). Intention solcher künstlerischer Forschung beziehungsweise forschender Kunst sei vor allem die Multiplikation der Wissenszugänge ins vorher Unvorstellbare. Mersch konstatiert des Weiteren, ›Kunst als Forschung‹ sei eine spezifische Erkenntnisarbeit, die sich vor allem durch das Experiment auszeichne (Mersch 2007: 94). Es werden Realitäten gleichsam auf Probe geschaffen, die durch eine bestimmte künstlerische Rahmung entworfen werden, ihre Fragen und Aktionen aber an reale gesellschaftliche, politische oder andere Phänomene richten. Dadurch kann oder wird der Verlaufsprozess der Darstellung vorher nicht festgelegt und die unmittelbare Umwelt (Menschen, Orte, Atmosphäre) wird in das Spiel involviert. Deshalb ist das improvisierende Spiel der Performancekunst ein »kollektiver Vorgang« (Matzke 2010: 165), in dem sich die Spielerin beziehungsweise der Spieler Anderen in großer Offenheit stellt. So kommt es zu einer »radikalen Öffnung des Tuns« (Bormann/Brandstetter/Matzke 2010: 7), nicht nur im Hinblick auf die nicht–festgelegte Darstellung, sondern auch auf die unvorhersehbaren Vorgaben und Reaktionen der Mitspieler und des Publikums. Der deutsche Komponist und Regisseur Julian Klein beschreibt die ›künstlerische Forschung‹ als besonders durch den Modus der »künstlerischen Erfahrung« gekennzeichnet, was bedeute »sich selbst von außerhalb eines Rahmens zu betrachten und gleichzeitig in denselben einzutreten« (Klein 2011: 2). Eine Rollendistanz zum Geschehen aufrechtzuerhalten, in das man involviert ist, charakterisiert forschendes Verhalten. Der deutsche Wissenschaftsphilosoph Wolfgang Krohn formuliert als eines der wichtigsten Elemente dieses Modus »die explizite Einbettung der Erkenntnis in das Erlebnis« (Krohn 2011: 14). Dabei wäre zu fragen, ob das künstlerische Tun selbst oder erst die Reflexion darüber Erkenntnisse generiert, wie die britische Philosophin und Tanzwissenschaftlerin Anna Pakes aufwirft. Unabhängig davon, wie diese Frage beantwortet wird: Festzuhalten ist, dass – im Sinne des Modus der künstlerischen Erfahrung – künstlerisches Forschen bedeutet, eine besondere Form von ›Reflexion in Aktion‹ zu praktizieren. Zudem wendet künstlerische Forschung andere methodische Verfahrensweisen an und ist eher eine auf kreative Momente ausgerichtete »intensive Spurensuche und Spurensicherung« (KämpfJansen 2001). Sie ist eine Recherche, Sammlung, Sichtung und Gestaltung, die je nach Kontext und Absicht stark variieren kann. Performative Ereignisse als »collective production and collective action« (Pakes 2004) entstehen in – und sind Ergebnis von – intersubjektiven Kontexten. Die Erkenntnisqualität von solch einem praktischen Forschen bezeichnet Pakes daher eher als »phronetic«5 5 Phronetik ist die Fähigkeit des Menschen, Zusammenhänge zu erkennen und danach zu handeln.

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statt technisch oder theoretisch. Performativer Kunstpraxis geht es also um kreative Sensibilität für die Anderen, die an dem künstlerischen Prozess teilhaben. Deshalb folgt ästhetisch-performatives Forschen seiner eigenen Rationalität und Logik. Es ist flexibel und sensibel. Entscheidungen entstehen aus dem Moment. Diese intersubjektive und interkontextuale Sichtweise von Kunstproduktion und -rezeption finden wir schon bei dem US-amerikanischen Philosophen und Pädagogen John Dewey (1859 – 1952), der sogar meinte, weil jeder Mensch die Welt anders und neu interpretiere, sei Kunst praktische Demokratie. Für ihn war ästhetische Erfahrung gelungene Interaktion von Mensch und Umwelt (Dewey 1980). Die deutsche Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte nennt darüber hinaus eine solche Wahrnehmung der ästhetischen Erfahrung auch »eine moderne Variante liminaler6 Erfahrung« (Fischer-Lichte 2001: 347) und erweitert damit, in Anlehnung an die Ritualforschung Turners und das Konzept der ›Rekonstruktion von Verhalten‹ Schechners (Schechner 1985: 36 ff.), die ästhetische Erfahrung durch ihre potenziellen transformativen Wirkungen. Sie sieht die ästhetische Erfahrung als Schwellenphase, die »kulturelle Spielräume für Experimente und Innovation öffnet« (ebd.: 347). Grenz- oder Differenzerfahrungen werden dann gemacht, wenn die Akteure im künstlerischen Experiment produktiv werden; das heißt, wenn sie eine intensive Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk und dessen Kontext durchleben, eine Erfahrung der Differenz zwischen dem eigenen und anderen Wahrnehmungsmodi aushalten (KämpfJansen 2001). So wird ein (künstlerisches) Experiment initiiert, das innovative Szenarien entwirft und testet. Das bedeutet, einen Lerneffekt zu provozieren, der Veränderung von alten Denk- und Handlungsmustern hervorrufen kann und ein ständiges Verwerfen und Neuentscheiden beinhaltet (Kämpf-Jansen 2001).

6 Der Begriff Liminalität wurde von dem oben schon genannten Ritualforscher Turner geprägt. Er beschrieb als »liminal« einen Schwellenzustand. Seiner Beobachtung nach befinden sich Individuen und Gruppen in einem solchen Schwellenraum, nachdem sie sich rituell aus der herrschenden Sozialordnung gelöst haben, um in einen neuen Zustand zu wechseln (zum Beispiel bei Initiationsriten). Diesen Zustand kann man in ähnlicher Weise auch bei künstlerischen Ereignissen (Theater, Literatur, Malerei, Musik) in komplexen Gesellschaften wiederfinden. Turner bezeichnet diese Erfahrungen als »liminoid«: Das »Liminale« ist Teil gesellschaftlicher, sozialer und/oder religiöser Rituale; das »Liminoide« stellt einen Bruch mit der Gesellschaft dar, der Spielräume für kulturelle Selbstinterpretation und Innovation eröffnet (Turner 1974: 53 ff.).

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Performativ recherchieren und aufführen – Lernerfahrungen im Performance Workshop Der Workshop »Hamburg-Erinnerungen« wurde von zwölf Studentinnen verschiedener Fächer besucht. Das Thema beziehungsweise die Fragestellung des Workshops war im Vorhinein gegeben: Jede Teilnehmerin beziehungsweise jeder Teilnehmer war dazu aufgefordert, persönliche Erinnerungen rund um Gewalt, Konflikt, Krieg sowie Gewaltlosigkeit, Kooperation und Friedensfertigkeit anhand von besonderen mitgebrachten Gegenständen: Fotos, Musikstücken, Ortsbeschreibungen, eigenen Ergebnissen historischer Recherche, Stadtplänen, Dokumenten oder Ähnlichem zu veranschaulichen. Ziel war die Bewusstmachung des Umgangs mit solchen Geschichten, die Schärfung der Wahrnehmung und die künstlerische Verdichtung vor der Präsentation der Ergebnisse vor Publikum. Die Beschreibung und Interpretation des Workshops beschränkt sich auf einige Aspekte der Erfahrungen. Beziehen wir die hier beschriebenen Eigenschaften und Qualitäten einer performativen Forschung auf die eingangs gestellte Frage, ob ein solches Verfahren für Lehr– und Lernprozesse im friedenspädagogischen Bereich sinnvoll sein kann, so lassen sich aus den theoretischen Befunden einige Überlegungen ableiten, die für solche Zugänge relevant sein können: 1. Ganzheitliche Wahrnehmung, Körperlichkeit Eine ganzheitliche Wahrnehmung, die alle Sinne einschaltet und fordert, hinterlässt immer auch affektive Spuren. So können die Erkenntnismöglichkeiten vollständiger, aussagekräftiger und zutreffender sein und mehr Empathie schaffen. 2. Improvisation, Spontanität (Experiment, Probe) Improvisation und Spontanität ermöglichen es, kontextabhängige und flexible Handlungen sowie kreative Lösungsansätze zu finden. 3. Kommunikation, Interaktion (intersubjektiv / interkontextual) Kommunikation und Interaktion, ob mit anderen Menschen oder mit der Umwelt, ist eine der wichtigsten Grundlagen, um gemeinsam mit anderen nachhaltig zu verhandeln, zu leben und zu agieren. 4. Rekonstruktion und Transformation von Verhalten Die Wiederherstellung und Veränderung von gewohntem Verhalten bietet die Chance auf eine Erweiterung unserer Handlungsmöglichkeiten und auf Erneuerung entsprechend sich wandelnder Lebensumfelder, auch im Sinne von interkulturellem Lernen. 5. Differenzerfahrung Differenzerfahrungen – Distanzierung vom Eigenem und Begegnung

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mit Fremdem – sind die größten Herausforderungen unter den interkulturellen Erfahrungen. Sie laden ein zur Reflexion des eigenen Standpunktes und zur Perspektiverweiterung. 6. Erfahrung durch eigene Aktion Das eigene Aktiv-sein schafft die Erfahrung, selbst etwas tun zu können, sein Leben und sein Umfeld in die Hand zu nehmen und an der Gesellschaft (verändernd) teilzuhaben. 7. Fragmentierung, Fragen aufwerfen Die Möglichkeit, fragmentarische Darstellungen zu interpretieren, bedeutet auch Pluralität und Widersprüchlichkeiten aushalten zu können, sich nicht auf vermeintliche Eindeutigkeiten zu verlassen und nur linearen Erzählformen zu folgen, sondern diese immer wieder zu hinterfragen. 8. Medialität Die Fertigkeit, Erkenntnisse und Fragen durch verschiedene Medien darstellen zu können, zu lernen mit verschiedenen Medien umzugehen, erweitert unsere Kommunikations- und Rezeptionsfähigkeiten. Die folgende Beschreibung und Analyse basiert auf einer qualitativen Studie (teilnehmende Beobachtung, narrative Interviews), die während des Workshop–Prozesses durchgeführt wurde. Den Äußerungen in Interviews und Reflexionsprotokollen wurden oben genannte, friedenspädagogisch relevante Qualitäten (1 – 8) zugeordnet.

Beschreibung des Arbeitsprozesses und Äußerungen dazu Die Workshopleitung (Jansen / Guerreiro) wies anfangs darauf hin, dass der Probenraum einen großen und gleichzeitig geschützten Freiraum biete, in den jeder Teilnehmende so viel von sich einbringen könne, wie sie oder er gerade wolle und könne. Nach einer ersten intensiven Vorstellungsrunde wurden die mitgebrachten Gegenstände gezeigt und die damit verknüpfte Geschichte erzählt. Dabei wurde die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass selbst diese ›normale‹ Art der Präsentation bereits eine Performance ist. Der Blick für die spezifische Gestik, Körperhaltung, Erzählweise und so weiter wurde bewusst gemacht (1. Ganzheitliche Wahrnehmung). Dann ging es darum, die mitgebrachte ›Geschichte der Erinnerung‹ performativ zu erforschen und in den Dialog mit den Anderen und deren Geschichten zu bringen, was besonders die kommunikativen Fähigkeiten herausforderte. Eine der beiden Workshopleiterinnen beschrieb dies folgendermaßen:

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»›Performing art‹ – […] wenn wir in der Gruppe arbeiten, was es ja meistens ist, wenn man kein Solo macht – unterscheidet sich ja wirklich von den anderen Kunstformen […]. Dass man im Arbeitsprozess immer damit konfrontiert ist, mit anderen zu kommunizieren, sich erst einmal abzugleichen, zu diskutieren […] das ist schon so eine Reibung […]. Die größte Herausforderung [ist] eigentlich der innere Prozess – und nicht das Ergebnis. Das Ergebnis ist so konfliktbeladen und so ein Gang durch die Hölle und [das] jedes Mal aufs Neue, weil man das lernen muss: Miteinander zu sprechen und seine eigenen Visionen, seine eigenen ästhetischen Vorstellungen und seine politischen oder wie auch immer gearteten Inhalte erst einmal miteinander so zu kommunizieren, dass man den Eindruck hat, man arbeitet entweder am gleichen Ziel und man will das Gleiche, was man gemeinsam am Ende zeigen möchte, oder man sagt: Wir machen hier zehn Solis […]. Das ist auch eine Möglichkeit, wenn wir uns als Gruppe nicht zusammenfinden« (3. Kommunikation).

Die kollektive künstlerische Suche und Arbeit bestand also darin, über Differenzen hinweg einen gemeinsamen Ort, eine geteilte Wirklichkeit zu finden und sich als Gruppe zusammenzufinden. Eine der beiden Workshopleiterinnen bestätigte diese Interpretation: »[…] that art can be a medium to bring people together […] as a ground […] to share, to put together different cultures, diversity […] through artistic ways you find that place to be […]« (5. Differenzerfahrung).

In dieser Performancegruppe wurde einzeln und im Kollektiv an gesetzten Themen gearbeitet. Wichtig war dabei, dass sich die einzelnen Mitglieder der Gruppe gegenseitig wahrnahmen, da die gemeinsame Arbeit eine Beziehung des Selbst zu den Anderen voraussetzt. Dies erfolgte einerseits durch die mitgebrachten Geschichten und Gegenstände, andererseits durch ein angeleitetes, interaktives Körper- und Wahrnehmungstraining: »Berührungen, verschiedene Konstellationen und Gruppenbildungen im Raum entwickelten sich […]. Durch diese Übungen stellten die Teilnehmenden eine Art von Vertrautheit fest/her.« Sie fanden sich als Gruppe und merkten, was es heißt ›zusammen eins zu sein‹ sowie »eine Dynamik [zu] bekommen und gemeinsam spontanen Impulsen [zu] folgen.« In relativ kurzer Zeit (drei Workshoptage) etablierte sich so ein ›starkes Gruppengefühl‹ (3. Interaktion, intersubjektiv/interkontextual). Dieses Körper- und Wahrnehmungstraining arbeitet mit dem ›Da sein‹, dem (Er)Forschen mit dem Körper, dem body or physical research oder auch research movement, welches vielfach in tänzerischer und choreographischer Arbeit entwickelt und praktiziert wird. Eine der beiden Leiterinnen vermittelte die Verbindung von gedanklicher, visueller und physischer Arbeit: »[…] we have to go into details, so what is your idea, certain words that can connect with emotion, that can connect with image, with picture, with text, with a song, and from there than we work physically, so this is one important point in process […].«

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Eine Teilnehmerin beschrieb diesen Prozess: Es gehe darum, »sich als eigenständige Person zu finden und persönliche Eigenschaften, Ideen, Geschichten zu vertiefen.« Eine andere Teilnehmerin berichtete: »Man sollte sich bewusst im Raum bewegen, entscheiden, in welche Richtung man geht, wohin man schaut und auf das Tempo seines Ganges achten […]. Im nächsten Schritt ging es darum, die anderen Menschen im Raum wahrzunehmen. Wen sehe ich an? Wie sehe ich die Person an? Wie läuft man aneinander vorbei? […] Dann hatten wir als Gruppe auch die Möglichkeit, im Raum miteinander zu interagieren.«

Kommunikation wurde zwar auch verbal hergestellt, hier ging es aber um das performative Erforschen von sich selbst in Beziehung zu den Anderen im Raum. Versucht wurde »emotionale Momente in Körperausdruck« zu transformieren. Die Workshopleitung forderte explizit dazu auf, zur Bearbeitung des Materials alle Sinne einzusetzen, um alle faktischen Details des Erinnerten zu aktivieren und ihnen nachzuspüren: Welche körperlichen Empfindungen wurden während des erinnerten Erlebnisses gespürt? Welche Rolle hat man eingenommen? Welche Emotionen wurden hervorgerufen? Welche Gegenstände waren zugegen? Welche Energie hatte der Ort des Erlebnisses? Eine Teilnehmerin reflektierte: »Der Workshop hat die Wahrnehmung meiner selbst und der Anderen in einem bestimmten Raum sensibilisiert. Dieser Raum muss keine Bühne sein, muss nicht künstlich erschaffen werden, sondern kann der Raum sein, den man täglich betritt und wo man anderen begegnet« (1. Ganzheitliche Wahrnehmung, Körperlichkeit).

Schließlich wurde daran gearbeitet, die einzelnen Geschichten – zuerst in Einzelarbeit, dann in Kleingruppen – künstlerisch zu verdichten. Das bedeutete einerseits Bewegungen und Emotionen in der Geschichte zu finden und sie auszudrücken, andererseits gleichzeitig an Schwerpunkten zu arbeiten – im Wechsel von Inhalt und Bewegung. Daraus wurde eine kleine Bewegungschoreographie gestaltet, die durch Wiederholungen, Anschlüsse und Ähnliches die Geschichte auf eine andere Art und Weise als in Sprache darzustellen versuchte. Weil das bewusste Wiederherstellen von Verhalten ein gänzlich neuer Vorgang für die darstellenden Personen war, war es zuweilen gar nicht leicht, abstrakten und zugleich authentischen Ausdruck zu finden: »[…] für das Wesentliche in unserer Geschichte eine oder mehrere Bewegungen zu finden. Dies ist mir zunächst schwer gefallen. Es schien mir zu Beginn noch zu abstrakt, ein Thema oder ein Gefühl in eine einfache Bewegung zu verwandeln und dabei nicht zu spielen und das Thema nicht einfach zu imitieren« (4. Rekonstruktion und Transformation von Verhalten).

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Die am Workshop Teilnehmenden erfuhren durch praktisches Tun die Eigenschaften von performativen Aspekten wie zum Beispiel die (Wieder)Herstellung von Verhalten: »Beeindruckend war auch zu beobachten und wahrzunehmen, wie stark sich die Geschichten veränderten, wenn die Darstellungsweise variierte. Ich wurde beispielsweise aufgefordert, mich auf den Tisch zu stellen, meine Augen zu schließen und meine Geschichte zu wiederholen. Für mich hat sich im Zuge dessen der Schwerpunkt meiner Erinnerung völlig verändert und auf einen ganz bestimmten Punkt beschränkt« (4. Rekonstruktion und Transformation von Verhalten, 8. Medialität, 5. Differenzerfahrung).

Beschreibung der Performance und Äußerungen dazu Die Aufführung Es ist eine lange Tafel inmitten des Raumes, die Zuschauer sitzen, auf Stühlen aufgereiht, an allen vier Wänden des Raumes. Die Performerinnen nehmen Platz an der Tischtafel, plaudern, schenken sich Prosecco ein und spielen Flaschendrehen. Ein Korb mit Zettelchen, auf denen Situationen und Geschichten vermerkt sind, bestimmt als dramaturgische Anordnung den Verlauf des Spiels. Damit ist die Performance einmalig und unwiederholbar. Die Flasche wird gedreht, die ausgewählte Performerin zieht ein Zettelchen aus dem Korb und liest den darauf stehenden Text vor. Die Texte verweisen auf die jeweilige Geschichte der oder des Ausgewählten. Wenn mehrere mitmachen, verweben sich Erzählungen, Bewegungen und Formationen. Ein neues Flaschendrehen, eine neue Geschichte. So bekommen die Zuschauerinnen und Zuschauer fragmentarisch Einblicke in die Erinnerungen der Performerinnen, bruchstückhafte Inszenierungen von Erlebnissen. Gewalterlebnisse oder -vorstellungen, geschichtliche Fakten, eigene Erlebnisse und auch Erinnerungen an friedliche Momente (etwa beim gemeinsamen Essen in der Küche der Großmutter) werden nebeneinander gereiht. Manche Trivialität offenbarte sich. Manche vergangene Geschichte kam gar nicht zur Darstellung. Nebeneinandergestellt ergaben die einzelnen Szenen der Performance einen diffusen Teppich von individuell Erinnertem. Durch Flaschendrehen, was nach dem Prinzip des Zufalls bestimmte Einzelgeschichten und Choreographien abrief, wurde ein Setting für die Abschlusspräsentation hergestellt, das hauptsächlich auf Improvisationen beruhte: Flaschendrehen als Zufallsgenerator : »Hier wird die Spontanität und damit ein-

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Abbildung 1: Die Performance. Quelle: Sophie Olbers

hergehende Flüchtigkeit der Performance besonders deutlich« (2. Improvisation, Spontanität). Die eigene Involviertheit – in ständigem Austausch und Interaktion mit der Gruppe – ist durch eine extreme Wachsamkeit möglich: »Durch die Unvorhersehbarkeit der Performance waren alle Teilnehmerinnen in höchstem Maße gefordert.« Eine Teilnehmerin sagte auch: »Die Präsentation der Ergebnisse als Moment [zeigte] was Performancekunst wirklich ist!« Diesen Moment als Akteur zu erleben und im Agieren (6. Erfahrung durch eigene Aktion) zu gestalten, mit Gleichzeitigkeiten, Widersprüchlichkeiten, verschiedenen Perspektiven und Statements, überraschte und inspirierte die meisten Akteure: »Zu merken wie man aus wenig beziehungsweise Chaos etwas Tolles entwickeln kann.« »Abschließend war es eine inspirierende Erfahrung für mich, insbesondere da es möglich war, aus einer Vielfalt von Sachverhalten und unterschiedlichen Persönlichkeiten innerhalb eines kurzen Zeitraumes eine in sich zusammenhängende und schlüssige Gruppenperformance zu kreieren durch das Finden von Verbindungen zueinander, die auf den ersten Blick nicht offensichtlich waren« (5. Differenzerfahrung).

Die gemeinsame Improvisation wurde als ein stärkendes Erlebnis beschrieben. So hat es einer Teilnehmerin zufolge »Sicherheit gegeben, bei den Solos oder der Performance in der Kleingruppe nicht alleine zu sein« (3. Interaktion, 2. Improvisation). Eine gemeinsame Abschlussperformance ist einerseits Herausforderung, aber andererseits auch Teil des Forschungsprozesses. Die Entscheidung, eine

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offene, improvisierende Performance mit Allen aufzuführen, ermöglichte es, eine ästhetische Erfahrung zu machen, die eine wachsame Wahrnehmung aller (Performer wie Zuschauer) abfragte. Eine Teilnehmerin beschrieb ihre Erfahrung: »Die Performance hatte eher den Charakter von Kommunikation und Begegnung in einer Gruppe […]«, die auch bei einigen Zuschauern eher Irritationen als Bestätigungen hervorrief, da sie sehr fragmentarisch verblieb. Antworten zu vermitteln war auch nicht Ziel der Performance, viele Zuschauer folgen jedoch lieber aus Gewohnheit einer eindeutigen Erzählstruktur (3. Kommunikation, 7. Fragmentierung/Fragen aufwerfen).

Abbildung 2: Szene aus der Performance. Quelle: Sophie Olbers

Schlussworte Die praktische Arbeit des Performance-Workshops der Sommeruniversität »Kunst und Frieden« 2011 habe ich als eine Variante performativer Recherche gezeichnet, die sich nicht einfach in bestehende Ansätze, wie etwa die oben beschriebene ›performative research‹ oder die künstlerische Forschung, einordnen lässt. Denn das Feld und die Spezifika dieser Begriffe sind bisher noch nicht präzise genug geklärt, als dass sich eine sinnvolle Einordnung herstellen ließe. Folglich habe ich Anhaltspunkte für die besondere friedensbildende Qualität der performativen Recherche beschrieben und versucht, diese in der praktischen Arbeit wiederzufinden. Das Hamburger ART PEACE Project wird die Verknüpfung der intellektuell-kognitiven mit den motorisch-ästhetischen und sensitiv-emotionalen Dimensionen des Lernens und Lehrens unter friedenspädagogischen Gesichtspunkten in Verbindung mit künstlerischen Verfahren weiter entwickeln, ausbauen und vertiefen.

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Fragen zum Weiterdenken Welche Erfahrungen mit künstlerischen Ausdrucksformen haben Sie gemacht? Was unterscheidet ein Kunstwerk, das Sie machen, von einer Klausur, die Sie schreiben? Wie empfinden Sie Ausdrucksmöglichkeiten, die nicht nur sprachliche Formulierungen beinhalten, sondern alle Ihre Sinne beanspruchen?

Leseempfehlung Preuss, Rudolf: Intermedia: Künstlerische Experimente und Vermittlungsprozesse. (Studien zur Kunstdidaktik 12) Dortmunder Schriften zur Kunst 2011. Schechner, Richard: Performance Studies – An Introduction. London 2002. Wintersteiner, Werner : Pädagogik des Anderen. Bausteine für eine Friedenspädagogik in der Postmoderne. Münster 1999.

Literatur Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart 2002 [1962, 2.Aufl.]. Bormann, Hans-Friedrich / Brandstetter, Gabriele / Matzke, Annemarie: »Improvisieren. Eine Eröffnung«, in: dies. (Hg.): Improvisieren – Paradoxien des Unvorhersehbaren: Kunst – Medien – Praxis. Bielefeld 2010. Dewey, John: Kunst als Erfahrung. Frankfurt a. M. 1980 [1934]. Fink, Tobias / Hill, Burkhard / Reinwand, Vanessa-Isabella / Welik, Alexander : Wirkungsforschung zwischen Erkenntnisinteresse und Legitimationsdruck, 2011. Verfügbar unter http://www.forschung-kulturelle-bildung.de/downloads/Wirkungsfor schung.pdf [15. 09. 2011]. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetische Erfahrung – Das Semiotische und das Performative. Tübingen u. a. 2001. Galtung, Johan: Frieden mit friedlichen Mitteln. Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur. Opladen 1998. Grasse, Renate / Gruber, Bettina / Gugel, Günther (Hg.): Friedenspädagogik. Grundlagen, Praxisansätze, Perspektiven. Reinbek bei Hamburg 2008. Hentschel, Ulrike: Theaterspielen als ästhetische Bildung. Über einen Beitrag produktiven künstlerischen Gestaltens zur Selbstbildung. Weinheim 1996. Kämpf-Jansen, Helga: Ästhetische Forschung – Zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung (Seminarpapier, 2001). Verfügbar unter http://www.kultur-forscher.de/ fileadmin/system/dokumente/service/arbeitshilfen/Seminarpapier_AESTH%20FOR SCHUNG.pdf [22. 01. 2012]. Klein, Julian: Was ist künstlerische Forschung?, 2011. Verfügbar unter http://edoc.huberlin.de/kunsttexte/2011 – 2/klein-julian-1/PDF/klein.pdf [08. 02. 2012]. Klein, Gabriele / Sting, Wolfgang: »Performance als soziale und ästhetische Praxis. Zur

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Einführung«, in: dies. (Hg.): Performance: Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst. Bielefeld 2005, S. 7 – 23. Krohn, Wolfgang: »Künstlerische und wissenschaftliche Forschung in transdisziplinären Projekten«, in: Tröndle, M. / Warmers, J. (Hg.): Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft. Bielefeld 2011, S. 1 – 20. Liebau, Eckert: Friedenserziehung, Interkulturelle Pädagogik, Ästhetische Bildung. Über den Umgang mit Differenz, 2011. Verfügbar unter http://www.springerlink.com/content/g010654323804x43/fulltext.pdf [13. 10. 2011]. Matzke, Annemarie: »Der unmögliche Schauspieler : Theater-Improvisieren«, in: Bormann, H.–F. u. a. (Hg.): Improvisieren – Paradoxien des Unvorhersehbaren: Kunst – Medien – Praxis. Bielefeld 2010, S. 161 – 182. Mersch, Dieter : »Paradoxien, Brüche, Chiasmen«, in: Mersch, D. / Ott, M.: Kunst und Wissenschaft. München 2007, S. 91 – 104. Mersch, Dieter : »Life-Acts. Die Kunst des Performativen und die Performativität der Künste«, in: Klein, G. / Sting, W. (Hg.): Performance – Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst. Bielefeld 2005, S. 35 – 50. Mersch, Dieter / Ott, Michaela: »Tektonische Verschiebungen zwischen Kunst und Wissenschaft«, in: dies.: Kunst und Wissenschaft. München 2007, S. 9 – 34. Pakes, Anna: »Art as action or art as object? The embodiment of knowledge in practice as research«, in: Working Papers in Art and Design 3, 2004. Verfügbar unter http://sitem.herts.ac.uk/artdes_research/papers/wpades/vol3/apfull.html [14. 02. 2013]. Schechner, Richard: Between Theater & Anthropology. Philadelphia 1985. Seitz, Hanne: »Kunst in Aktion. Bildungsanspruch mit Sturm und Drang. Plädoyer für eine performative Handlungsforschung«, in: Pinkert, U. (Hg.): Körper im Spiel. Wege zur Erforschung theaterpädagogischer Praxen. Berlin u. a. 2008, S. 28 – 45. Seoul Agenda: Goals for the Development of Arts Education. The Second World Conference on Arts Education, Seoul 2010. Stutz, Ulrike: »Performative Forschung in der Kunstpädagogik am Beispiel von Szenen aus dem Seminar »Erforschen performativer Rituale im Stadtraum««, in: Forum Qualitative Sozialforschung 2008/9 (2), Art. 51. Turner, Victor : Anthropology of Performance. New York 1986. Turner, Victor : »Liminal to liminoid in play, flow, and ritual: An essay in comparative symbology«, in: Rice University Studies 1974/60 (3): S. 53 – 92. Wintersteiner, Werner : Hätten wir das Wort, wir bräuchten die Waffen nicht. Erziehung für eine Kultur des Friedens. Innsbruck u. a. 2001, S. 25 – 45. Wulf, Christoph / Zirfas, Jörg: »Performative Pädagogik und performative Bildungstheorien – Ein neuer Fokus erziehungswissenschaftlicher Forschung«, in: dies. (Hg.): Pädagogik des Performativen. Theorien, Methoden, Perspektiven. Weinheim u. a. 2007, S. 7 – 40.

Zu den Autorinnen und Autoren

Ulrike Borchardt, Dr. phil., ist Diplom-Politologin und Dozentin im Bereich Internationale Beziehungen am Institut für Politikwissenschaft der Universität Hamburg und Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) an der Universität. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Grenzregime und Menschenrechte, Migration, EU–Maghreb–Beziehungen und Friedens- und Konfliktforschung. Angelika Dörfler-Dierken lehrt als Professorin am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg. Sie ist wissenschaftliche Direktorin am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften in Potsdam. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Politische Ethik, speziell historische Friedens- und Konfliktforschung einerseits sowie religiöse Deutungsmuster für Friedsamkeit oder Gewalthandeln andererseits. Fernando Enns ist Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Freien Universität Amsterdam und Leiter der Arbeitsstelle Theologie der Friedenskirchen im Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg. Er forscht und lehrt zum Potential von Gewalt(freiheit) in Theologie und Religion. Sven Bernhard Gareis ist Deputy Dean am ›George C. Marshall European Center for Security Studies‹ in Garmisch-Patenkirchen und Honorarprofessor am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind Chinas Rolle in der Weltpolitik, Vereinte Nationen und Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik. Otmar Hagemann ist Professor am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Fachhochschule Kiel. Seine Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem Restorative Justice, Strafvollzug, Straffälligen- und Opferhilfe sowie qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung.

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Zu den Autorinnen und Autoren

Cord Jakobeit ist Professor für Internationale Beziehungen am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Friedens- und Konfliktforschung, Globale Umweltveränderungen und Klimawandel, Europäische Integration und Entwicklungspolitik. Er ist zudem Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften in Hamburg. Mariska Kappmeier promovierte an der Universität Hamburg zum Thema Konflikt und Vertrauen. Gegenwärtig macht sie einen Post-Doc an der Harvard Universität, Fachbereich Sozialpsychologie, Abteilung Intergroup Relations. Sie ist außerdem Visiting Scholar am Fachbereich ›Conflict Resolution, Global Governance and Human Security‹ der University of Massachusetts (Boston)/USA. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Vertrauen und Vertrauensanalyse in Großgruppenkonflikten, Konfliktassessment und Konfliktmediation. Die promovierte Diplom-Psychologin Fionna Klasen ist stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe ›Child Public Health‹ von Prof. Ulrike Ravens-Sieberer am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und forscht seit zehn Jahren zur Epidemiologie von psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter. In Zusammenarbeit mit der Stiftung ›Children for Tomorrow‹ engagiert sie sich seit 2006 für Kindersoldaten in Uganda und hat in diesem Rahmen eine Ambulanz für kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung in Norduganda aufgebaut. Sabine Kurtenbach, Dr. phil., ist Politikwissenschaftlerin am ›German Institute of Global and Area Studies‹ (GIGA) in Hamburg. Sie arbeitet zu Gewalt, Institutionen und Staatsbildungsprozessen in aktuellen Nachkriegsgesellschaften mit einem besonderen Fokus auf Jugendliche. Außerdem ist sie Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von ›terres des hommes‹ Deutschland. Dieter Lünse, Dipl. Sozialökonom, ist Leiter des Instituts für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation (ikm) e.V. in Hamburg. Er arbeitet zu den Themen Friedens- und Konfliktpädagogik, zivile Konfliktfähigkeit, konstruktive Konfliktaustragung, Zivilcourage und Mediation. Er ist Mediator und Ausbilder in Mediation (BM), Zivilcourage und interkultureller Konfliktaustragung. Professor i. R. Volker Matthies spezialisierte sich auf die Friedens- und Konfliktforschung sowie auf die Region Subsahara-Afrika (besonders Horn von Afrika). Er forschte und lehrte am Deutschen Übersee-Institut (dem heutigen GIGA) in Hamburg, an der Führungsakademie der Bundeswehr sowie am Institut für Politikwissenschaft der Universität Hamburg.

Zu den Autorinnen und Autoren

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Katty Nöllenburg, Ethnologin, Dipl. Sozialpädagogin und Mediatorin, ist Leiterin des Instituts für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation (ikm) e.V. in Hamburg. Sie ist Ausbilderin im schulischen und außerschulischen Kontext für Interkulturelle Kommunikation mit Anti-Bias Schwerpunkt (bewusster Umgang mit Vorurteilen und Diskriminierung), Mediation, Zivilcourage, Partizipation, Gewaltprävention und Konfliktaustragung. Sofie Olbers hat Ethnologie und Erziehungswissenschaften studiert und schreibt zurzeit ihre Dissertation über künstlerische Bildung in gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen anhand einer diskursanalytischen Studie eines Theaterfestivals in der Konfliktregion Casamance/Senegal. Daneben engagiert sie sich auch als Interkulturelle Trainerin in der Vermittlung von komplexen und kontroversen Themen in global-lokalen Kontexten. Alexander Redlich forscht und lehrt als Professor am Institut für Psychologie der Universität Hamburg zum kommunikativen Umgang mit Konflikten innerhalb und zwischen sozialen Gruppen. Wolfgang Schreiber, Diplom-Mathematiker und Politikwissenschaftler, ist Leiter der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) am Institut für Politikwissenschaft der Universität Hamburg. Seine Schwerpunkte innerhalb der Friedens- und Konfliktforschung sind das weltweite Kriegsgeschehen und Kriegsbeendigungen. Hartwig Spitzer ist Prof. i. R. im Fachbereich Physik sowie assoziiertes Mitglied des ›Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrums für Naturwissenschaft und Friedensforschung‹ (ZNF) der Universität Hamburg. Er arbeitet unter anderem zu vertrauensbildenden Maßnahmen in der Rüstungskontrolle (Open Skies–Vertrag). Stefanie Woynar, B.Sc. Psychologie, hat 2013 ihr Psychologiestudium an der Universität Hamburg abgeschlossen. Im Rahmen ihrer Abschlussarbeit führte sie 2012 ein zweimonatiges Forschungsprojekt mit kriegstraumatisierten ehemaligen Kindersoldaten in Gulu/Norduganda durch. Des Weiteren arbeitete sie während ihres Studiums in der Flüchtlingsambulanz der Universitätsklinik Hamburg–Eppendorf für die Stiftung ›Children for Tomorrow‹. Zur Zeit studiert sie in Zürich im Masterstudiengang Psychologie. Nils Zurawski, Dr. habil., hat Soziologie, Ethnologie und Geographie studiert. Seine Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem Überwachung und Kontrolle, Gewalt und Konfliktforschung, Identität, neue Medien. Er ist Projektleiter des Teilprojektes IRiSS (Increasing Resilience in Surveillance Societies) und Vertretungsprofessor am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Hamburg.