Freiheit Oder Befreiung?: Ein Kritischer Versuch Über Die Freiheit Bei Henri Bergson [Erstausgabe ed.] 3879974659, 9783879974658

Die Reihe Islamkundliche Untersuchungen wurde 1969 im Klaus Schwarz Verlag begründet und hat sich zu einem der wichtigst

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Freiheit Oder Befreiung?: Ein Kritischer Versuch Über Die Freiheit Bei Henri Bergson [Erstausgabe ed.]
 3879974659, 9783879974658

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Mohamed Aziz Lahbabi Freiheit oder Befreiung?

ISLAMKUNDLICHE UNTERSUCHUNGEN • BAND 334 begründet von Klaus Schwarz herausgegeben von Gerd Winkelhane

ISLAMKUNDLICHE UNTERSUCHUNGEN • BAND 334

Mohamed Aziz Lahbabi

Freiheit oder Befreiung? Ein kritischer Versuch über die Freiheit bei Henri Bergson Übersetzt, ergänzt und kommentiert von Markus Kneer

Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

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© 2018 by Klaus Schwarz Verlag GmbH Berlin Erstausgabe Lektorat: Thomas Stender, Berlin Herstellung: J2P Berlin Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-87997-465-8

Meiner Mutter Lucia Kneer

Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Markus Kneer...........................................................................................9 Einführung von Markus Kneer..................................................................................11 Freiheit oder Befreiung? Ein kritischer Versuch über die Freiheit bei Henri Bergson (von Mohamed Aziz Lahbabi)...................................................40 Vorwort von Maurice de Gandillac...........................................................................41 Abkürzungsverzeichnis................................................................................................44 Einleitung........................................................................................................................45 Erster Teil: Auf der Suche nach den Bergson’schen Freiheiten.........................49 Kapitel 1: Im Bergsonismus führt alles zur Freiheit.............................................49 Kapitel 2: Charakteristika der Bergson’schen Freiheit........................................55 1. Eine rein innere Freiheit....................................................................................55 2. Eine abstrakte und allgemeine Freiheit.........................................................66 3. Eine rein metaphysische Methode..................................................................71 Kapitel 3: Befreiende moralische Praktiken............................................................76 1. Freiheit und Gerechtigkeit................................................................................76 2. Freiheit und Gleichheit......................................................................................80 Zweiter Teil: Die künstlerische Aktivität als Befreiungsvermögen...................87 Kapitel 1: Der Begriff der Schöpfung.......................................................................87 Kapitel 2: Befreiende Schöpfung und Emotion......................................................91 Kapitel 3: Invention und Intuition.............................................................................95 Kapitel 4: Jede Schöpfung ist ein zwischenmenschliches Gut...........................97 Kapitel 5: Schöpfung und soziale Realitäten..........................................................99 Dritter Teil: Der Besitz als Befreiungsvermögen.................................................109 Kapitel 1: Die Aneignung..........................................................................................109 Kapitel 2: Eigentum, Konkurrenz und Krieg.........................................................119 Kapitel 3: Die Konkurrenz steht am Anfang des Bösen.....................................126 1. Von der Perversität der Konkurrenz zum Pseudoliberalismus..............127 Kapitel 4: Entfremdung von Konkurrenten...........................................................136 Kapitel 5: Wettstreit und Solidarität.......................................................................142

Vierter Teil: Von den Freiheiten zur Befreiung ...................................................147 Kapitel 1: Die Befreiung ist eine positive Summe von Freiheiten...................148 Kapitel 2: Die Befreiung ist auf ein Bündel von Freiheiten bezogen..............159 Kapitel 3: Die Befreiung ist die qualitative Summe der Freiheiten................165 Kapitel 4: Die Befreiung erweitert und verwirklicht sich in einem historischen Kontext...........................................................................170 Kapitel 5: Zur Überwindung der Zweideutigkeit der Freiheit.........................177 Schlussfolgerung.........................................................................................................181 Bibliographie................................................................................................................186 Supplement: Die Befreiungsphilosophie ist weder idealistisch noch materialistisch (bisher unveröffentlichtes Kapitel)..............................190 Nachwort des Übersetzers........................................................................................196 Anhang Glossar (Französisch–Deutsch–Arabisch) der philosophischen Terminologie Lahbabis.................................................201 Personenregister..........................................................................................................203

Vorwort

von Markus Kneer

Auf einer Tagung über die Philosophie und das Leben von Mohamed Aziz Lahbabi im März 2016 in Rabat stellte einer der Teilnehmer die Frage, was geschehen wäre, hätte anstelle Lahbabis ein anderer Denker die Anfänge der philosophischen Lehre an den Universitäten Marokkos nach der Unabhängigkeit geprägt – vielleicht einer, der mehr ins panarabische oder marxistische Horn geblasen hätte, oder später gar ins islamistische. Es ist nicht meine Absicht, mich hier an dieser Spekulation zu beteiligen. Wichtig scheint mir jedoch, dass wir in Lahbabi – egal wie stark man ihn als Philosophen einschätzt – einen Zeugen für eine Alternative des Denkens haben, das sich in einer doppelten Kultur verortet. Dieses Denken hat eine Identität, ohne identitär zu sein; es bestimmt seine Herkunftsorte, ohne sich einem universalen Anspruch zu entziehen. Im Zentrum dieses Denkens steht die Frage nach der menschlichen Person als ebendiese Person, und aus dieser Grundfrage heraus entstehen alle weiteren: nach Sprache, nach Kultur, nach Geschichte, nach Religion. Dieser Ausgangspunkt lässt ihn auch in den 1950er Jahren mit Liberté ou libération? einen Text verfassen, der eine Alternative zu den Befreiungsdiskursen der damaligen Zeit anbietet – einen Text, der nicht den Befreiungskampf und die Unabhängigkeit eines Volkes in den Mittelpunkt stellt, sondern Befreiung in erster Linie als Prozess der Personwerdung versteht. Wie können sich Menschen nach der Erfahrung des Kolonialismus von diesem Trauma befreien und Bedingungen dafür schaffen, ihre Personalität zu entfalten – was Menschen- und Bürgerrechte, Demokratie und gerechte wirtschaftliche Strukturen einschließt? Wie können Menschen, die bisher in patriarchalisch verfassten Strukturen lebten, sich zu eigenständigen, verantwortungsbewussten, „freien“ Personen entwickeln, die sich auf ein Gemeinwesen verwiesen sehen, das es mitzugestalten gilt? Das sind Fragen, die Lahbabi in den Jahren vor der Unabhängigkeit Marokkos bewegten, Fragen, für die der vorliegende Text ein Zeugnis ist, Fragen, die sich heute, unter etwas veränderten Bedingungen, genauso stellen wie damals. Dass dieses Buch entstehen konnte, ist nur durch Menschen und Institutionen möglich geworden, die mir geholfen haben. Dank sagen möchte ich Herrn Werner Nieke, Frau Dr. Annette Ernst-Fabian, Herrn 9

Vorwort von Markus Kneer

Prof. Dr. Taoufik Chérif, Herr Prof. Dr. Ali Chenoufi, Herrn Prof. Dr. Ahmad Attia, Herrn Prof. Dr. Emmanuel Gabellieri, Herrn Vianney Vendrely, Herrn Prof. Dr. Michel Younès, Herrn Prof. Dr. Emmanuel Pisani, Herrn Prof. Dr. Jad Hatem, Herrn Dr. Amin Elias, Herrn Prof. Dr. Salah Mosbah, Herrn Dr. Sarhan Dhouib, Herrn und Frau François und Huguette Devalière sowie Herrn Yves Roullière. Herrn Gerd Winkelhane und Herrn Henrik Jeep vom Klaus Schwarz Verlag sowie Herrn Thomas Stender (Lektorat) möchte ich für die gute Zusammenarbeit bei der Vorbereitung und Umsetzung der Veröffentlichung danken. Ein besonderes Dankeschön gilt der Witwe Mohamed Aziz Lahbabis, Frau Prof. Dr. Fatima Jamai-Lahbabi, und seinem Sohn, Herrn Dr. Adil Lahbabi. Für Ermutigungen und Diskussion schulde ich Herrn Dr. Rachid Boutayeb meinen Dank. Unter den vielen Bibliotheken und Archiven, die ich konsultiert habe, seien ausdrücklich die Universitätsbibliothek Tübingen, die Bibliothek Fels des Institut Catholique de Paris, die Bibliothek Henri de Lubac der Université Catholique de Lyon, die französische Nationalbibliothek (Site François Mitterand) in Paris, das französische Nationalarchiv in Pierrefitte-sur-Seine, das Institut des Belles Lettres Arabes in Tunis und nicht zuletzt die ehemalige Diözesanbibliothek La Source in Rabat, in der alles begann, erwähnt und ihren Mitarbeitern sei mein großer Dank ausgesprochen. Für die finanzielle Unterstützung hinsichtlich der Drucklegung sei dem Erzbistum Paderborn und der Bank für Kirche und Caritas gedankt. Schwerte, im Herbst 2017 Markus Kneer

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Einführung

von Markus Kneer

„Man könnte das gesamte Œuvre Bergsons als eine Philosophie 1 der Freiheit deuten.“ Rémy Bragues Einschätzung anlässlich der deutschen Neuübersetzung von Henri Bergsons L’évolution créatrice findet ihre Entsprechung in einem dem vorliegenden Werk entnommenen Zitat: „Im Bergsonismus 2 führt alles zur Freiheit“. Mit dieser Feststellung, dass die Philosophie Bergsons eine Philosophie der Freiheit ist, beginnt die vielleicht erste umfangreiche Auseinandersetzung eines arabischen und muslimischen Autors mit dem Philosophen der Dauer. Vor über 60 Jahren. Vielleicht war es auch der Wille des Autors, dass sein Buch Liberté ou libération? (A partir des libertés bergsoniennes) 1956 erschien, in dem Jahr, in dem sein Heimatland Marokko die Unabhängigkeit von Frankreich erlangte. Freiheit, aber vor allem auch Befreiung, das zweite Wort im Titel, waren in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Schlüsselbegriffe des politisch-intellektuellen Diskurses in den die politische Eigenständigkeit erlangenden Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens. Mit den Ereignissen des sogenannten Arabischen Frühlings kehrten Freiheit und Befreiung in den öffentlichen Diskurs zurück, allerdings in eine andere Richtung zielend als vormals. Stand im letzten Jahrhundert die nationale Unabhängigkeit im Fokus des Freiheits- und Befreiungsdiskurses, so ging es in der jüngeren Zeit um individuelle Freiheitsrechte und Fragen sozialer Gerechtigkeit. Durch diese Neuperspektivierung der beiden Schlüsselbegriffe und des sie tragenden Diskurses erlangt das Buch von 1956 eine ungeahnte Aktualität: Anders als vermutet werden könnte, handelt es sich nämlich nicht um eine philosophische Verbrämung nationalen Unabhängigkeitsstrebens, sondern um eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der Frage, was es braucht, um als Person in Freiheit und Würde unter den gegebenen Umständen des Kolonialismus bzw. der Dekolonisation zu leben. Befreiung wird als zutiefst personaler Prozess gedeutet, der sich kritisch von einem von 1 2

Brague, Rémy: Einleitung, in: Bergson, Henri: Schöpferische Evolution. Neu aus dem Französischen übersetzt von Margarethe Drewsen. Eingeleitet von Rémy Brague, Hamburg: Meiner 2013, S. IX-L, hier S. XXXVI. Überschrift zu 1. Teil, Kapitel 1 von Freiheit oder Befreiung?, siehe unten S. 49.

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Einführung von Markus Kneer

vornherein universalistisch verstandenen Personbegriff absetzt. Die Be 3 freiung nimmt den konkreten Menschen in den Blick. Die Aktualität des Buches stützt sich noch auf einen weiteren Punkt: Der Autor nimmt für sich eine doppelte Kultur in Anspruch, eine französisch-europäisch-westliche und eine marokkanisch-arabisch-muslimische, die in seiner Person schon im Austausch stehen. Somit ist er Vorläufer dessen, was heute den Namen „Interkulturelle Philosophie“ oder „Transkulturelle Philosophie“ trägt. Die doppelte Kultur ermöglicht auch das, was sein Landsmann Abdelkebir Khatibi „doppelte Kritik“ genannt hat. Beides, sowohl die doppelte Kultur als auch die doppelte Kritik, finden in Liberté ou libération? ihren Ausdruck. Dass diese Übersetzung mit dem Wiedererstarken der Bergson-Forschung zusammenfällt, ist ein erfreulicher Umstand, kann sie doch dazu beitragen, den Blick zu weiten für eine Rezeption des französischen Philosophen, die ansonsten – auch bei Fachleuten – kaum wahrgenommen wird. All das rechtfertigt meiner Meinung nach die Entscheidung, der Übersetzung der Zusatzthese Liberté ou libération? den Vorzug vor der der Hauptthese De l’être à la personne. Essai de personnalisme réaliste gegeben zu haben. Beide hat der Autor im Rahmen seines Doctorat d’État verfasst. Dass es sich bei Letzterer um ein äußerst wichtiges philosophisches Werk handelt, wird schon durch die Lektüre von Liberté ou libéra3

Im Gegensatz dazu koppelt z. B. Frantz Fanon den Befreiungskampf („lutte de libération“) an die Begriffe der Nation, der Nationalkultur und des Volkes, welche in ihrer Geschlossenheit problematisch sind. Vgl. Fanon, Frantz: Les damnés de la terre. Vorwort von Jean-Paul Sartre, Paris: La Découverte 2002, Maspero 1 1961, S. 225-235 („Fondements réciproques de la culture nationale et des luttes de libération“) [Ders.: Die Verdammten der Erde. Vorwort von Jean-Paul Sartre. Übersetzt von Traugott König, Hamburg: Rowohlt 1969, S. 181-189 („Gegenseitige Begründung von Nationalkultur und Befreiungskampf“)]. Eine stärkere Hervorhebung der Person des Kolonisierten bei gleichzeitiger Relativierung des Nationenbegriffs findet sich bei Memmi, der zudem die individuelle Prozessualität der Befreiung betont. Vgl. Memmi, Albert: Portrait du colonisé. Vorwort von Jean-Paul Sartre, Paris: Gallimard 1985, Buchet/Chastel 11957, S. 161-162 [Ders.: Der Kolonisator und der Kolonisierte. Zwei Porträts. Vorwort von Jean-Paul Sartre. Übersetzt von Udo Rennert, Frankfurt: Syndikat 1980, S. 131-132]. Vgl. dazu Lahbabis Position in: Kneer, Markus: „Abgeschlossen“ oder „aufgeschlossen“? Muhammad Aziz Lahbabis islamische Kulturphilosophie und die Frage nach einem universalen Humanismus, in: Heimbach-Steins, Marianne und Rotraud Wielandt (Hg.), Was ist Humanität? Interdisziplinäre und interreligiöse Perspektiven, Würzburg: Ergon 2008 (Judentum – Christentum – Islam. Bamberger Interreligiöse Studien Bd. 6), S. 25-41.

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Einführung von Markus Kneer

tion? deutlich, und ich hoffe, dass in absehbarer Zeit auch dieses Werk in deutscher Übersetzung vorliegen wird.

1. Der Autor Man kann Mohamed Aziz Lahbabi (arab. Muḥammad ʿAzīz al-Ḥabābī, 1923–1993) getrost als den Begründer der modernen marokkanischen Universitätsphilosophie bezeichnen. Nach seinen Studien in Frankreich, der Erlangung des Doktorgrades an der Sorbonne und Forschungsstudien am Centre National de la Recherche Scientifique kehrt er nach der marokkanischen Unabhängigkeit in sein Heimatland zurück und wird der erste Professor für allgemeine Philosophie an der Geistes- und Humanwissenschaftlichen Fakultät der 1957 gegründeten Universität Mohammed V in Rabat (1959), dann Dekan derselben Fakultät (1961), später Ehrendekan (1969). Von 1969 bis 1974 ist er an der Universität von Algier und als Berater des algerischen Wissenschaftsministeriums tätig. Nach der Rückkehr in sein Heimatland bekleidet er das Amt eines Maître de recherches, einer Art Forschungsdirektor. Lahbabi nimmt an den wissenschaftlichen Tagungen zum christlich-islamischen Dialog teil, die in den 1970er Jahren in Tunis abgehalten werden, an den Kongressen der Société internationale de la philosophie francophone, ist Gastprofessor am Istituto per le Relazioni tra l’Italia e i paesi dell’Africa, America Latina, Medio es Estremo Oriente und am Pontificio Istituto di Studi Arabi e d’Islamistica in Rom und frequentiert die berühmten religionsphilosophischen Colloqui Castelli, um nur einige seiner Engagements zu nennen. Sein Wohnhaus Nadwa in Temara funktioniert er zu einem Ort der Begegnung um, an dem er Intellektuelle und Philosophen empfängt wie Léopold Sédar Senghor und Evanghelos Moutsopoulos. 1980 wird er als assoziiertes Mitglied in 4 die französische Académie des Sciences d’Outre-Mer berufen. Zudem ist 4

Vgl. Cornevin, Robert: Réception de Mohamed-Aziz Lahbabi, in: Mondes et Cultures 43-2 (Februar 1983), S. 205-227 (beinhaltet auch die Rede Lahbabis zur Aufnahme in die Akademie, die seinen philosophischen Werdegang umreißt, S. 212227). Hinsichtlich der Jahreszahlen, die hier genannt werden, gilt ein gewisser Vorbehalt, da sie bei anderen Autoren differieren. So wird z. B. als Geburtsjahr häufig 1922 angegeben und 1958 als Beginn der Professur an der Universität Mohamed V. in Rabat. Die vorliegenden Angaben habe ich dem hier angegebenen Text Cornevins und der Intellektuellen Autobiographie Lahababis (Lahbabi, Mohamed Aziz: Lebenslauf und Philosophie im Interesse der Menschen der Dritten Welt, in: Ders.: Der Mensch: Zeuge Gottes. Entwurf einer islamischen Anthropologie, Freiburg: Herder 2011 (Buchreihe der Georges-Anawati-Stiftung 5), S. 37-57) entnommen. Bezüglich der Professur können die unterschiedlichen

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Einführung von Markus Kneer

er Gründungspräsident der Société marocaine de philosophie und Herausgeber der Zeitschrift Études littéraires et philosophiques. Mohamed Aziz Lahbabi engagiert sich jedoch auch noch in einem anderen Bereich: Er schreibt Romane, Novellen und Gedichte und gründet den maghrebinischen Schriftstellerverband, wird dessen Präsident und gibt die Zeitschrift Āfāq. Maǧalla yuṣdiruhā ittiḥād kuttāb al-maġrib (Horizonte. Zeitschrift herausgegeben von der Union der Schriftst eller Marokkos) heraus. Mohamed Aziz Lahbabi stirbt am 23. August 1993. Diese einleitenden biographischen Hinweise sollen dazu dienen, die Zentralität dieses Denkers für die jüngere marokkanische Geistesgeschichte herauszustellen. Sein Leben und sein Werk zeugen von seiner geistigen Zeitgenossenschaft, mit der er die Geschicke seines Landes, des gesamten Maghrebs und des Mittelmeerraums begleitete. Die Exemplarität Lahbabis für eine ganze Generation arabischer Intellektueller zeigt sich in seiner Positionierung zwischen mehreren Kulturen: Sind es zunächst die marokkanisch-arabische und die europäischfranzösische Kultur, die er anführt, so wird er sich später immer mehr der kulturellen Pluralität seines Heimatlandes bewusst. Doch zunächst sieht er sich zwischen die beiden erstgenannten Kulturen gestellt, wobei deren Verhältnis nicht gleichrangig ist. Die politisch gestützte, auch im marokkanischen Bildungssystem verankerte Hegemonie der europäischfranzösischen Kultur manifestiert sich im akademischen Weg Lahbabis: Die beiden Zulassungsarbeiten zum Doktorat behandeln europäische Philosophen. Bei näherem Hinsehen erschließen sich dem Lesenden jedoch die existentiellen und politischen Gründe dafür, warum der marokkanische Doktorand sowohl dieses Thema als auch die betreffenden Denker wählt. Es hat etwas mit seiner Situation zwischen diesen beiden Kulturen zu tun. Später wird Lahbabi im Rückblick auf seine Zusatzthese schreiben: „Als Kolonisierter, der die Demütigung an Leib und Seele trägt, konnte ich nur von der Freiheit begeistert sein. Daher die Zusatz5 these Liberté ou libération?“

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Jahresangaben auch darin begründet sein, dass es einen zeitlichen Abstand zwischen Berufung und tatsächlichem Stellenantritt gab. Lahbabi, Mohamed Aziz: Philosophie im Interesse der Menschen der Dritten Welt, ebd., S. 42.

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1. Der Autor

„Freiheit oder Befreiung?“ – das ist die Frage der Zeit, vor allem auch in politischer Hinsicht. Der Religion wird dabei in überwiegend islamisch geprägten Län6 dern eine wichtige Funktion zugewiesen. Dagegen gilt für den realistischen Personalismus Lahbabis die methodische Anweisung, dass „Gott in 7 Klammern zu stehen habe.“ Anstatt eines theologisch-politischen Ansatzes verfolgt er von Beginn an eine erkennbare und nachvollziehbare Trennung zwischen der Sphäre des Politischen und Religiösen, was Beziehungen zwischen beiden Bereichen jedoch nicht ausschließt. Die Alternative, die Lahbabi eröffnet, steht in der Linie dessen, was sein Landsmann Abdelkebir Khatibi (1938–2009) später die „pensée-autre“ nennen wird, die durchaus in der Lage ist, die kritischen Ansätze eu8 ropäischen Denkens zu integrieren. Wer an das Frankreich der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts denkt, der kommt bei dem Stichwort Freiheit nicht an Jean-Paul Sartre (1905–1980) vorbei. Es ist aber erstaunlicherweise nicht Sartre, mit dem sich Lahbabi in erster Linie auseinandersetzen wird, sondern ein anderer, der, wenn auch schon verstorben, mit seinem Werk in Frankreich immer noch omnipräsent ist und der ein neues Freiheitsdenken erst ermöglichte, aus dem alle späteren, auch Sartre, in Anknüpfung oder in Abgren9 zung schöpfen: Henri Bergson (1859–1941). 6 7 8

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Vgl. Schulze, Reinhard: Geschichte der islamischen Welt. Von 1900 bis zur Gegenwart, München: Beck 22016, S. 231-233 („Islam als Kultur der nationalen Befreiung“). Vgl. Lahbabi, Mohamed: De l’être à la personne. Essai de personnalisme réaliste. Vorwort von Pierre-Maxime Schuhl, Paris: PUF 1954 (Bibliothèque de philosophie contemporaine – Histoire de la philosophie et philosophie générale), S. 347. Vgl. Khatibi, Abdelkebir: Maghreb pluriel, Paris: Denoël 1983, S. 12 und S. 63. Der Begriff der „doppelten Kritik“ ist in der „pensée-autre“ Khatibis zentral. Zu ihrer Entwicklung trägt gerade auch der Dialog mit den Philosophien bei, die den Westen selbstkritisch analysieren. Vgl. zur „pensée-autre“ auch Boutayeb, Rachid: double-critique, in: Ders.: Orgasmus und Gewalt. Minima islamica, Aschaffenburg: Alibri 2014, S. 79-83. Es sei hier darauf hingewiesen, dass Lahbabi während seines Aufenthalts in Frankreich in den 1940er und 1950er Jahren Sartre ausdrücklich zu denen zählt, die sich der Situation der Kolonisierten nicht angenommen haben. Vgl. Lahbabi: Philosophie im Interesse der Menschen der Dritten Welt, S. 44-46. Dieses Urteil Lahbabis aus den späten 1970er Jahren geht mit keinem Wort auf das Engagement Sartres während des Algerienkriegs ein, das als eine Positionierung auf Seiten der Kolonisierten zu werten ist. Es wird jedoch deutlich, dass Sartre nach seiner Wende zum Marxismus Frantz Fanon deutlich näher steht als Lahbabi.

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Einführung von Markus Kneer

Dabei darf es als interessant erscheinen, dass Lahbabi nicht der einzige aus dem arabisch-islamischen Kulturraum ist, der sich für Bergson interessiert und ihn bearbeitet. Des Weiteren ist zwar Liberté ou libération? die einzige Schrift, in der sich Lahbabi explizit mit Bergson auseinandersetzt. Bergson’sche Themen werden die Schriften Lahbabis jedoch weiterhin prägen. Daher möchte diese Einführung den Lesern folgende zwei Schritte anbieten: Zum ersten werden einige Hinweise zur Rezeption des Werks Henri Bergsons im arabisch-islamischen Kulturraum gegeben. Zum zweiten wird Lahbabis Bergsonrezeption im Gesamtwerk betrachtet und eine kurze Einführung in das vorliegende Werk gegeben.

2. Die Rezeption Bergsons im arabisch-islamischen Kulturraum Lahbabi ist weder der erste Arabophone noch der erste Muslim, der sich mit der Philosophie Henri Bergsons beschäftigt. Es gibt mehrere Rezeptionslinien, die sich schon vor ihm auftun. Auch einige, die zeitlich später liegen, ohne Lahbabis Beitrag wahrzunehmen. Die folgende Darstellung erhebt nicht den Anspruch, das Thema erschöpfend zu behandeln. Dennoch erlaubt sie dem Leser, sich ein gewisses Bild von der Bergsonrezeption zu machen. Wenn von arabisch-islamischem Kulturraum die Rede ist, so wird hier darunter im engeren Sinne das Gebiet von der marokkanischen Atlantikküste bis zum Irak verstanden, im weiteren Sinne schließt der Begriff jedoch auch muslimische Denker anderer Weltgegenden mit ein, die der islamischen Kultur verbunden sind. Ebenfalls miteingeschlossen sind die Angehörigen von religiösen Minderheiten, die in dem oben genannten Gebiet beheimatet sind. Berücksichtigt sind auch Werke von Personen, die aus diesem Kulturraum stammen bzw. in ihm ihre Wurzel haben, die ihre Arbeiten jedoch außerhalb des genannten Raumes publizieren bzw. die sich einer anderen Sprache als der arabischen bedienen.

2.1 Übersetzungen der Werke Bergsons Eine der ersten Fragen, die sich für die Rezeption eines philosophischen oder literarischen Werks in einem anderen Kulturraum stellt, betrifft die 10 Übersetzung. Nachforschungen hinsichtlich der Übersetzung des Werks 10 Die Umschrift der arabischen Titel und Namen in diesem Buch orientiert sich

am Transliterationssystem der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. Wenn Autoren sowohl in Arabisch als auch in europäischen Sprachen veröffent-

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2. Die Rezeption Bergsons im arabisch-islamischen Kulturraum

Henri Bergsons in die arabische Sprache ergaben, dass für alle Hauptwerke nebst den Aufsatzsammlungen L’énergie spirituelle und La pensée et le mouvant sowie für Le rire bis Anfang der 1970er Jahre arabische Übertragungen vorliegen. En détail ergibt sich aus der Recherche folgendes Bild: Das Buch, das Bergson 1889 mit einem Schlag bekannt gemacht hat, der Essai sur les données immédiates de la conscience, wurde von dem libanesischen Philosophen Kamāl Yūsuf al-Ḥāǧǧ (1917–1976) übersetzt und 1945 unter dem Titel Risāla fī muʿṭayāt al-wiǧdān al-badīhiyya veröffent11 licht. Eine weitere Übersetzung erscheint zwei Jahre später: Die beiden syrischen Philosophen und Politiker – beide Angehörige der Baath-Partei – 12 13 Sāmī ad-Durūbī (1921–1976) und ʿAbdallāh ʿAbd ad-Dāʾim (geb. 1924) übersetzen Le rire. Essai sur la signification du comique (Paris: Félix Alcan 1900) ins Arabische und veröffentlichen es 1947 unter dem Titel aḍ14 Ḍaḥik. Baḥṯ fī dalālat al-muḍḥik. Beide werden auch eine arabische Version von Les deux sources de la morale et de la religion herausbringen: 15 Sie erscheint 1971 und trägt den Titel Manbaʿā l-aḫlāq wa d-dīn. Sāmī ad-Durūbī ist schließlich der alleinige Übersetzer von L’énergie spirituelle, das unter dem arabischen Titel aṭ-Ṭāqa ar-rūḥiyya ebenfalls 1971 in

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licht haben, dann sind die Autorennamen entweder aus dem Arabischen transliteriert (wenn es sich um arabische Titel handelt) oder unter ihrer bereits transkribierten europäischen Version (wenn es sich um Titel in europäischen Sprachen handelt) wiedergegeben. Verschiedentlich ist die jeweils andere Version in eckigen Klammern hinzugefügt. Birġsūn, Hinrī [Henri Bergson]: Risāla fī muʿṭayāt al-wiǧdān al-badīhiyya. Übersetzt von Kamāl Yūsuf al-Ḥāǧǧ, Beirut: Šarikat an-našr li l-ādāb al-faransīya (Les lettres françaises) 1945 (Reihe „Manšūrāt kunūz al-fikr al-ġarbī“/„Les Trésors de la pensée occidentale“, 1). Vgl. zu Sāmī ad-Durūbī den Artikel Droubi, Sami, in: Moubayed, Sami: Steel and Silk. Men and Women Who Shaped Syria 1900-2000, Seattle: Cune Press 2006, S. 408 f. Vgl. zu ʿAbdallāh ʿAbd ad-Dāʾim den Artikel Al-Daim, Abdullah, in: Moubayed: Steel and Silk, S. 424 f. Birġsūn, Hinrī [Henri Bergson]: aḍ-Ḍaḥik. Baḥṯ fī dalālat al-muḍḥik. Übersetzt von Sāmī ad-Durūbī und ʿAbdallāh ʿAbd ad-Dāʾim, Kairo: Dār al-kātib al-miṣrī 1947. Birġsūn, Hinrī [Henri Bergson]: Manbaʿā l-aḫlāq wa d-dīn. Übersetzt von Sāmī ad-Durūbī und ʿAbdallāh ʿAbd ad-Dāʾim, Kairo: al-Hai’a al-miṣriyya al-ʿāmma li t-taʾlīf wa n-našr 1971.

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Einführung von Markus Kneer 16

Kairo erscheint, und von La pensée et le mouvant, das 1972 mit dem Titel al-Fikr wa l-wāqiʿ al-mutaḥarrik in Damaskus herausgegeben 17 wird. Matière et mémoire wird von Asʿad Darqāwī übersetzt und 1967 in Damaskus unter dem Titel al-Mādda wa ḏ-ḏākira. Dirāsa fī ʿalāqat al18 ǧism wa r-rūḥ veröffentlicht. Die Nähe der Übersetzer eines Großteils der Werke Bergsons zur arabischen sozialistischen Baath-Partei ist auffällig: Sāmī ad-Durūbī und ʿAbdallāh ʿAbd ad-Dāʾim sind Parteigänger der aus dem Diskussionszirkel al-Baʿṯ al-ʿarabī („die arabische Wiedererweckung“) von Michel ʿAflaq (1910–1989) und Salāḥ ad-Dīn Bīṭār (1912–1980) hervorgegangenen politischen Partei, die vor allem in Syrien und Irak verbreitet war. Ab 1963 ist die Partei in Syrien an der Macht: Darqāwīs Übersetzung wird vom Ministerium für Kultur und nationale Orientierung (Wizārat aṯ-ṯaqāfa wa l-iršād al-qaumī) veröffentlicht, welches sich der Verbreitung der Baath-Anschauungen widmet. Augenscheinlich hat das Bergson’sche Denken auf die Vordenker des Baath einen großen Einfluss ge19 habt. Doch wird Bergson nicht nur übersetzt, er ist auch Gegenstand der Auseinandersetzung und des Weiterdenkens.

2.2 Rezeptionen und Funktionalisierungen Bergson’schen Denkens in der arabisch-muslimischen Welt Noch weniger als im Vorhergehenden kann hier Vollständigkeit angestrebt werden. Vielmehr geht es darum, einige bemerkenswerte Rezeptions- und Nutzungslinien des Werkes Bergsons im arabisch-muslimi-

16 Birġsūn, Hinrī [Henri Bergson]: aṭ-Ṭāqa ar-rūḥiyya. Übersetzt von Sāmī ad-

Durūbī, Kairo: al-Haiʾa al-miṣriyya al-ʿāmma li t-taʾlīf wa n-našr 1971.

17 Hinrī Birġsūn [Henri Bergson]: al-Fikr wa l-wāqiʿ al-mutaḥarrik. Übersetzt von

Sāmī ad-Durūbī, Damaskus: Maṭbaʿat al-inšāʾ 1972.

18 Birġsūn, Hinrī [Henri Bergson]: al-Mādda wa ḏ-ḏākira. Dirāsa fī ʿalāqat al-ǧism

wa r-rūḥ. Übersetzt von Asʿad Darqāwī, Damaskus: Wizārat aṯ-ṯaqāfa wa l-iršād al-qaumī 1967. 19 Lahbabi gibt in der arabischen Version nicht an, ob er arabische Übersetzungen der Werke Bergsons benutzt hat. Seine Haltung gegenüber der Baath-Bewegung, die in Marokko politisch keine Rolle spielt, ist meines Wissens zumindest schriftlich nicht überliefert. In der Schrift Du clos à l’ouvert. Vingt propos sur les cultures nationales et la civilisation humaine, Casablanca: Dar El-Kitab 1961, in der man eine Positionierung am ehesten hätte erwarten können, äußert er sich nicht darüber.

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2. Die Rezeption Bergsons im arabisch-islamischen Kulturraum

schen Kulturraum aufzuzeigen. Dabei ist immer auch die Frage im Raum, zu welchem Zweck gerade dieses Denken aufgegriffen wird. Der erste große muslimische Rezipient des Denkens Bergsons stammt nicht aus einem arabischsprachigen Land, sondern vom indischen Subkontinent: Es ist Muhammad Iqbal (1878–1938), der Bergson 20 auch persönlich begegnete. Ende 1928 und Anfang 1929 hielt er an den Universitäten von Madras, Hyderabad und Aligarh Vorlesungen, die unter dem Titel Six Lectures on the Reconstruction of Religious Thought in Is21 lam veröffentlicht wurden und deren Text, ergänzt durch ein siebtes Kapitel („Is Religion possible?“), unter dem Namen The Reconstruction of Religious Thought in Islam als Iqbals wohl bekanntestes philosophisches Prosawerk gelten kann. Iqbal sieht im menschlichen Ich eine schöpferi22 sche Kraft am Werk, die einen ontologischen Eigenstand zulässt. Diese starke Position des menschlichen Ichs entwickelt er unter anderem in 23 Auseinandersetzung mit Bergson. Dessen Konzepte der Dauer und der 20 Vgl. Schimmel, Annemarie: Gabriel’s Wing. A Study into the Religious Ideas of Sir

Muhammad Iqbal, Leiden: Brill 1963, S. 323. Vgl. zu Iqbals Bergson-Rezeption auch Popp, Stephan: Mohammad Iqbal. Ein Philosoph zwischen den Kulturen, Nordhausen: Traugott Bautz 2007 (Interkulturelle Bibliothek 92), S. 129-131 und Howard, Damian A.: Being Human in Islam. The Impact of the Evolutionary Worldview, London: Routledge 2011 (Culture and Civilization in the Middle East 24), S. 58-65. Verwiesen sei auch auf die weiter unter behandelten Arbeiten von Diagne und Bidar. 21 Iqbal, Muhammad: Six Lectures on the Reconstruction of Religious Thought in Islam, Lahore: The Kapur Art Printing Works 1930. 22 Iqbal, Muhammad: The Reconstruction of Religious Thought in Islam, London: Oxford University Press 1934, z.B. S. 90-92 [Muhammad Iqbal: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam. Eingeleitet von Fateh Muhammad Malik und übersetzt von Axel Monte und Thomas Stemmer, Berlin: Verlag Hans Schiler 3 2010, z. B. S. 122-124]. 23 Soweit ich sehe, zieht Iqbal in The Reconstruction of Religious Thought in Islam vor allem Belege und Zitate aus L’évolution créatrice heran, vgl. Iqbal: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, S. 26, S. 73, S. 89. Die Anspielungen auf das Konzept der Dauer lassen aber auch eine intensive Lektüre des Essai sur les données immédiates de la conscience vermuten. In Bezug auf Les deux sources de la morale et de la religion konnte es noch keine Verweise geben, jedoch ist Hilliers These ein interessanter Ansatzpunkt für den Vergleich zwischen den beiden grundlegenden Schriften der Autoren zur politischen Philosophie: „The Reconstruction is not only the earliest Islamic Bergsonian-Process philosophy, but is also the earliest articulated Bergsonian-Process political philosophy. This is not difficult to see given the fact that the publication of The Reconstruction occurred some years before Bergson’s and Whitehead’s own political writings.“ Hillier, H.C.: Iqbal, Bergson and the Reconstruction of the Divine Nexus in Political

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Einführung von Markus Kneer

Intuition hatte Iqbal auch schon zu seiner Interpretation des großen indo-muslimischen Dichters Mīrzā ʿAbd al-Qādir Bēdil, in seiner Schrift 24 Bedil in the Light of Bergson verwendet. Iqbals Denken wird von Lahba25 bi in einem Artikel für die Zeitschrift Confluent und danach in Le per26 sonnalisme musulman gewürdigt. Im arabischsprachigen Raum spielt die Auseinandersetzung mit dem geistigen Leben in Frankreich seit der Napoleonischen Expedition nach Ägypten 1798 und der Etablierung von Kolonien, Protektoraten und Einflusszonen im Maghreb und im Nahen Osten unter den Intellektuellen eine sehr große Rolle. Das gilt auch für die Philosophie. Die beiden großen philosophischen Strömungen im Frankreich des 19. Jahrhunderts, der Positivismus und der Spiritualismus, bleiben davon nicht ausgeschlossen. Die Rezeption des Positivismus in der arabisch-muslimischen Welt wird allerdings durch einen ihrer prominentesten französischen Vertreter, Ernest Renan, in Frage gestellt, da er die arabische Sprache aufgrund ihrer Struktur für unfähig erachtet, die positivistisch-wissen-

Thought, in: Hillier, H. C. und Basit Bilal Koshul (Hg.): Muhammad Iqbal: Essays on the Reconstruction of Modern Muslim Thought, Edinburgh: Edinburgh University Press 2015, S. 167-200, hier S. 169. Hilliers zweite These besitzt ebenfalls große Brisanz: Bergson wie Iqbal stellten mit ihrer jeweiligen Berücksichtigung politischer Theologie den europäischen Mythos zur Lösung jeglicher religiös legitimierter Gewalt, den Säkularismus, in Frage, vgl. ebd., S. 169-170. 24 Vgl. Iqbal, Muhammad: Bedil in the Light of Bergson. Hg. von Tehsin Firaqi, Lahore: Universal Books 1988. Vgl. auch Rizvi, Sajjad: Between Hegel and Rumi: Iqbal’s Contrapuntal Encounters with the Islamic Philosophical Traditions, in: Hillier, Koshul: Muhammad Iqbal, S. 112-141, hier S. 122-123. 25 Lahbabi, Mohamed Aziz: Y a-t-il une pensée philosophique musulmane contemporaine? (1. Muhmmad Iqbal), in: Confluent 13 (Mai 1961), S. 268-276. 26 Dort zitiert Lahbabi Iqbals berühmten Dialog zwischen Gott und Mensch und befasst sich mit der arabischen Übersetzung des Iqbalschen Terminus khūdī [Selbst] durch ʿAbd al-Wahhāb ʿAzzām, vgl. Lahbabi: Der muslimische Personalismus, in: Ders.: Der Mensch: Zeuge Gottes, S. 58-164, hier S. 119-120 und S. 70. Hier ist natürlich nicht der Ort, um eine eingehende Analyse der Bergson-Rezeption Iqbals zu bieten. Eines sei jedoch bemerkt: Iqbal kann sich nur auf die ersten drei großen Werke Bergsons beziehen, die Ethik und Religionsphilosophie von Les deux sources de la morale et de la religion konnten von ihm nicht mehr aufgenommen werden. Konzepte wie das Tiefen-Ich (Essai) bzw. das schöpferische Ich (L’évolution créatrice), der élan vital und die Evolution (L’évolution créatrice) finden in seiner Philosophie originelle Aufnahme. In The Reconstruction of Religious Thought in Islam zitiert Iqbal als einziges Werk Bergsons L’évolution créatrice in englischer Übersetzung.

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schaftliche Methode zu integrieren. Der Spiritualismus ist gegenüber dem kulturellen Austausch offener und bietet Anknüpfungspunkte, die eine Revalorisation der eigenen Kultur ermöglichen. Henri Bergson nimmt viele der Impulse dieser Strömung auf, obwohl man ihn nicht selbst als Spiritualisten charakterisieren kann. Daher nimmt es nicht Wunder, dass im Jahr 1941 der tunesische Intellektuelle Mahjoub Ben Milad als Reaktion auf Bergsons Tod einen Ar28 tikel über ihn veröffentlicht, der zugleich eine Hommage ist. An der Sorbonne wird im Jahre 1949 die Doktorarbeit des oben genannten Kamāl Yūsuf al-Ḥāǧǧ angenommen, die mit La valeur du langage chez Henri Bergson überschrieben ist. Die Arbeit wird 1971 im Libanon 29 veröffentlicht. Die arabische Sprache wird in al-Ḥāǧǧs Entwurf einer 27 Vgl. vor allem die Vorlesung von Ernest Renan vom 29. März 1883 an der Sor-

bonne mit dem Titel L’islamisme et la science, die mit der Antwort von Ǧamāl ad-Dīn al-Afġānī und einem auf letztere reagierenden Text Renans unter dem veränderten Titel: Renan, Ernest: L’islam et la science. Avec la réponse d’al-Afghânî. Vorwort von François Zabbal, [Montpellier]: L’Archange Minotaure 2005 (Collection „Vers l’Orient“) wieder veröffentlicht wurde (vgl. auch Renan, Ernest: L’islamisme et la science. Conférence faite à la Sorbonne, le 29 mars 1883. Appendice à la précedente conférence, in: Ders.: Œuvres complètes. Hg. von Henriette Psichari, Bd. 1, Paris: Calmann-Lévy 1947, S. 945-965).Vgl. auch Schäbler, Birgit: Moderne Muslime. Ernest Renan und die Geschichte der ersten Islamdebatte 1883, Paderborn: Schöningh 2016 (Einleitung, S. 7-92; Ernest Renan: Der Islam und die Wissenschaf, S. 133-149; Dschamal al-Din al-Afghani: Kritik, S. 151-160; Ernest Renan: Erwiderung, S. 161-165). Die These, dass die arabische Sprache für Wissenschaft und Metaphysik unbrauchbar sei, hat er schon in anderen Schriften entwickelt. In diesem Text spricht er sie ebenfalls an (ebd., S. 36). Vgl. dazu auch Hourani, Albert: Arabic thought in the Liberal Age 1798-1939, London: Oxford University Press 1962, S. 120-122. 28 Vgl. Ben Miled, Mahjoub: Bergson et la pensée intuitive, in: L’Afrique littéraire (Tunis), Jg. 1941 Nr. 4 (Februar), wiederveröffentlicht in Revue tunisienne des Études philosophiques, Jg. 2001, Nr. 26-27, S. 83 ff. In seiner Einleitung bemerkt Amdouni Othman, dass Ben Miled der einzige arabische Intellektuelle war, der auf Bergsons Tod 1941 öffentlich reagiert und ihn gewürdigt hat. Darüber hinaus stellt Othman Ben Miled als einen Denker dar, der die etablierte orthodoxsunnitische Tradition freimütig kritisierte und für eine stärkere Öffnung zur Moderne plädierte, was ihn unter Häresieverdacht geraten ließ, und das, obwohl er in den 1950er-Jahren Vorlesungen hielt, an denen selbst Staatspräsident Habib Bourghiba teilnahm (vgl. ebd., S. 83). Allerdings lässt Othman offen, ob sich Ben Mileds Kritik aus seiner Bergson-Rezeption speiste. 29 El-Hage, Kamal Youssef [Kamāl Yūsuf al-Ḥāǧǧ]: La valeur du langage chez Henri Bergson, Beirut: Université libanaise, Distributeur: Librairie Orientale 1971 (Publications de l’université libanaise – Section des études philosophiques et sociales 4).

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Einführung von Markus Kneer

nationalen libanesischen Identität eine zentrale Rolle spielen, was sich 30 schon in seiner Promotion andeutet. In den fünfziger Jahren wird er ein zweibändiges Werk über Henri Bergson in arabischer Sprache mit dem 31 Titel Hinrī Birġsūn (Henri Bergson) veröffentlichen. Mit Bergson hat sich auch der syrische Intellektuelle Zakī al-Arsūzī (1900–1968) beschäftigt, der als einer der geistigen Väter der Baath-Par32 tei gilt. Auch bei ihm steht die Frage nach der Grundlegung nationaler Identität im Zentrum, ausgehend von der Sprache, die den Kern der ara33 bischen Kultur ausmacht. Einen kritischeren Blick auf Bergson wirft Ṣādiq Ǧalāl al-ʿAẓm 34 (1934–2016), der sich mit ihm schon in seiner philosophischen Dissertation The Moral Philosophy of Henri Bergson, die er 1961 an der Universität 35 Yale vorlegt, auseinandergesetzt hat. Anders als Iqbal es konnte, stellt 30 al-Ḥāǧǧ zieht das Fazit, dass das Denken an die Strukturen unserer Sprache ge-

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bunden ist. Er kritisiert daher Bergson, der der Idee eine Existenz außerhalb der Sprache zugestehe. Vgl. Al-Hage [al-Ḥāǧǧ]: La valeur du langage, S. 121-123. Die Verbindung zwischen Sprache und nationaler Identität findet sich dann in einem der Dissertation zugegebenen Anhang. Dieser besteht aus der schriftlichen Fassung einer Vorlesung, die al-Ḥāǧǧ am 12. Mai 1951 vor dem Cénacle libanais (arab.: an-nadwa al-lubnāniyya) gehalten hat, jenem von Michel Asmar 1946 gegründeten Forum zur Diskussion zivilgesellschaftlicher Themen, das in den 1950er und 1960er Jahren eine große Öffentlichkeit erreichte und auch Referenten aus dem Ausland anzog (z.B. hielt Lahbabi am 19. November 1964 eine Vorlesung im Rahmen des Cénacle). Die Vorlesung trägt den Titel: „Le Bilinguisme, est-il possible?“, ebd., S. 125-143. Vgl. dazu Suleiman, Yasir: The Arabic Language and National Identity. A Study in Ideology, Edinburgh: Edinburgh University Press 2003, S. 210-219. al-Ḥāǧǧ, Kamāl Yūsuf: Hinrī Birġsūn, 2 Bde., Beirut: Dār maktabat al-ḥayāt 1954-1955. Zu Leben und Werk vgl. Audo, Antoine: Zakī al-Arsouzī. Un arabe face à la modernité, Beirut: Dar el-Machreq 1988 (Université Saint-Joseph / Faculté des lettres et des sciences humaines: Collection Hommes et Sociétés du ProcheOrient). In Bezug auf Bergson wird Arsūzīs intensive Lektüre von L’évolution créatrice und seine Bemühungen, Bergson’sches Denken mit der arabischen Sprache zu verbinden, hervorgehoben (ebd., S. 20-21). Vgl. Suleiman: The Arabic Language and National Identity, S. 146-161 („Zaki alArsuzi: The genius of the Arab nation inheres in its language“). Zu Ṣādiq Ǧalāl al-ʿAẓm vgl. Henrich, Geert: Islam und Aufklärung. Der Modernediskurs in der arabischen Philosophie, Darmstadt: WBG 2004 (Edition Universität der WBG und der TU Darmstadt mit der Carlo und Karin Giersch-Stiftung), S. 326-331. Vgl. das Typoskript, das sich in der Sterling Memorial Library der Yale University in New Haven/Connecticut befindet: al-Azm, Sadiq Jalal: The Moral Philo-

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2. Die Rezeption Bergsons im arabisch-islamischen Kulturraum

al-ʿAẓm (besonders im zweiten Teil der Arbeit) Bergsons Spätwerk Les deux sources de la morale et de la religion in den Fokus. Al-ʿAẓm beant36 wortet die Frage, ob Bergson eine Ethik habe, weitgehend negativ. In dem Teil, wo er Bergsons Theorie der Mystik und besonders die Auffassung, dass diese auf einer von allen intellektuellen und begrifflichen Elementen entleerten supra-rationalen Emotion beruhe, behandelt, hält er dem Autor von Les deux sources entgegen, dass die jeweiligen Mystiken, hier die christliche und die muslimische, auf den jeweiligen konzeptuellen Gerüsten ihrer Religionen aufbauten und daraus ihre Spezifität zö37 gen. Dass der Autor von An-naqd aḏ-ḏātī baʿda l-hazīma (Die Selbstkritik nach der Niederlage, 1968) Bergson deutlich kritischer gegenübersteht als die Denker, die ihn für die Affirmation nationaler oder panarabischer Identität nutzen wollen, ist wohl auch durch den unterschwelligen ideologischen Konflikt bedingt. Dennoch, oder vielleicht gerade aufgrund dieses Konflikts, setzt sich al-ʿAẓm mit Bergson auseinander. Ein weniger bekannter Autor ist Osman E. Chahine, der ein Buch mit dem Titel La durée chez Bergson veröffentlicht hat und als „Maître de 38 Conférences“ an der Universität von Khartum lehrte. Ein weiteres Werk sophy of Henri Bergson. A Dissertation Submitted to the Faculty of the Graduate School of Yale University in candidacy for the degree of Doctor of Philosophy, New Haven/Connecticut June 1961 (Yale University–Department of Philosophy), unveröff. Ms. 36 al-Azm, Sadiq Jalal: The Moral Philosophy of Henri Bergson, S. 230. Nach al-ʿAẓm gibt es natürlich anthropologische, soziologische, historisch und psychologische Erwägungen zur Ethik, jedoch keine axiologischen Aussagen darüber, was zu tun und zu lassen ist. 37 Vgl. al-Azm: The Moral Philosophy of Henri Bergson, 2. Teil, Sektion B: „Bergson’s Theory of Mysticism“, S. 200-229. Der Sektion ist u.a. ein Zitat von Ǧalāl ad-Dīn ar-Rūmī vorangestellt. In ihr werden mehrere Beispiele aus dem Sufismus angeführt, die al-ʿAẓm eingehenden Analysen unterzieht. Auf dieser Grundlage kommt er auch zur genannten Kritik an Bergson (ebd., S. 225). Sieht man in Bergsons Verständnis von Mystik einen starken pantheistischen Zug vorherrschen, kann man bei ihm sogar eine stärkere Nähe zum Sufismus als zur christlichen Mystik wahrnehmen (ebd., S. 226). In überarbeiteter und erweiterter Form findet die Doktorarbeit in das fünfte Kapitel „Naẓariyyat al-a ḫlāq ʿinda Birġsūn. Dirāsa taḥlīliyya wa naqdiyya li-naẓariyyat al-aḫlāq al-muġlaqa wa lmaftūḥa wa t-taṣawwuf ʿinda Birġsūn“ („Theorie der Moral bei Bergson. Eine analytische und kritische Studie über die Theorie der geschlossenen und offenen Moral sowie der Mystik bei Bergson“) von al-ʿAẓm, Ṣādiq Ǧalāl: Dirāsāt fī l-falsafa al-ġarbiyya al-ḥadīṯa, Beirut: Jadawel 2012, S. 219-232 (Studien über die moderne westliche Philosophie) Eingang. 38 Chahine, Osman E.: La durée chez Bergson, Paris: Structures nouvelles 1970. Sei-

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Einführung von Markus Kneer

– L’originalité créatrice de la philosphie musulmane –, das vom Titel her eine Nähe zum Bergson’schen Denken nahelegt, vermeidet allerdings je39 den Verweis auf den Philosophen der Dauer. Der im Moment wohl profilierteste Rezipient des Denkens Bergsons in der arabisch-muslimischen Welt ist der senegalesische Philosoph Souleymane Bachir Diagne (geb. 1955), der besonders den Dialog zwischen dem Philosophen der Dauer und Muhammad Iqbal analysiert, der Iqbal, so die Lesart Diagnes, seinen Entwurf einer erneuerten islamische Philo40 sophie und Theologie ermöglicht. Daraus entstehe eine Philosophie der Bewegung, die das muslimische Ich in seiner Prozesshaftigkeit begreift – ausgerichtet auf die Vervollkommnung der in ihm angelegten Einheit vermittels der Transformation der Welt, welche ihm als Stellvertreter 41 Gottes aufgetragen ist. Angestoßen wird dieses Denken durch Bergsons Denken der Zeit, unabhängig von räumlichen Begriffen, in ihrer ursprünglichen Dauer, die es ermöglicht, „Werden“ und „Veränderung“ anders zu begreifen. Die Zeit ist der Religion nicht äußerlich, sondern ihre 42 „Textur“. In Diagnes Lesart Iqbals ist Gott Zeit.

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ne Lehrtätigkeit an der Universität von Khartum geht aus einer kurzen Notiz auf der Titelseite des Werks hervor. Chahine, Osman E.: L’originalité créatrice de la philosophie musulmane, Paris: Adrien Maisonneuve 1972. Das kurze Vorwort hebt die Eigenständigkeit und Kreativität der Philosophie in arabischer Sprache hervor, derer sich auch Nichtaraber bedient haben, um ihre Gedanken auszudrücken. Es scheint eine Kritik an Thesen Renans durch, die sich in ihrer Formulierung stark an Bergson ausrichtet (ebd., S. 5). Vgl. Diagne, Souleymane Bachir: Bergson postcolonial. L’élan vital dans la pensée de Léopold Sédar Senghor et de Mohamed Iqbal, Paris: CNRS Éditions 2011 (Les conférences au Collège de France de la Chaire d’Histoire contemporaine du monde arabe). Vor allem die Kapitel 3 (dt.: „Bergson, Iqbal und das Konzept des idjtihad“) und 4 (dt.: „Zeit und Fatalismus. Iqbal über das Schicksal alla turca“) sowie die Seiten 118 bis 120 behandeln Iqbals Rezeption von Bergson. Vgl. auch Diagne, Souleymane Bachir: Islam et société ouverte. La fidélité et le mouvement dans la philosophie de Muhammad Iqbal, Paris: Maisonneuve et Larose 2001; zuletzt Diagne, Bachir Souleymane: Achieving humanity. Convergence between Henri Bergson und Muhammad Iqbal, in: Hillier/Koshul (Hg.): Muhammad Iqbal: Essays on the reconstruction of Modern Muslim thought, S. 33-55. Zu Diagne vgl. auch Howard: Being Human in Islam, S. 83-84. Vgl. Diagne, Souleymane Bachir: Comment philosopher in islam? Paris: Philippe Rey/Jimsaan 2014, Kap. 9: „La philosophie du mouvement“ (dt.: „Die Philosophie der Bewegung“). „Die Zeit ist Gott. Anders gesagt: Die Antwort auf die Herausforderung der sich ändernden Zeiten, um gemäß der zeitgenössischen Anforderungen die befreiende Intention und Dynamik der Religion in den Bereichen der sozialen Gerechtig-

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2. Die Rezeption Bergsons im arabisch-islamischen Kulturraum

Bezüglich des Iqbalschen Ansatzes zum Verhältnis von Islam und Moderne hat sich auch der französische Philosoph Abdennour Bidar in seinem Buch L’islam face à la mort de Dieu. Actualité de Mohammed Iqbal geäußert und Iqbal in Beziehung zu vielen westlichen Denkern gesetzt: zu Descartes, Spinoza, Kant, Nietzsche, William James, Heidegger, 43 C. G. Jung u.a. Das Buch nimmt in vielen Themenformulierungen Be44 zug auf Bergson (vor allem aus L’évolution créatrice). Ähnlich wie bei Diagne wird auch bei Bidar die Bergson’sche Philosophie der Zeit als entscheidender Anstoß für die Iqbalsche Rezeption ausgemacht: Dabei unterstreicht er sowohl die Affirmation des Bergson’schen Ansatzes als 45 auch dessen Kritik. Bergsons Auffassung von der Zeit als Dauer, die das Tiefen-Ich erfährt, wird bei Iqbal zum Ausgangspunkt für die völlige Umkehrung des Zeitverständnisses: Das Universum hat seinen Ursprung im „Ultimate Ego“ (Bidar: „Ego ultime“, von Monte/Stemmer etwas un46 glücklich mit „höchstes Ego“ übersetzt), auf das alles zuläuft. Das „letzte Ego“ hat seine Entsprechung im „Tiefen-Ich“ bzw. im „reinen Bewusst47 sein“ Bergsons. Hinsichtlich weiterer Rezeptionslinien sei auf das Werk Being Human in Islam. The impact of the evolutionary worldview von Damian

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keit, der Gleichheit von Mann und Frau, des Respekts eines Prinzips des Pluralismus, kurz, die notwendige ‚Rekonstruktion des religiösen Denkens im Islam‘ weiterzuführen, setzt die Aktualisierung eines Denkens der Zeit als schöpferisches Werden voraus, einer Kosmologie, die kontinuierliche Emergenz, élan vital [Lebensschwung, M.K.] wäre.“ Diagne: Comment philosopher en islam?, S. 123-124. Bidar, Abdennour: L’islam face à la mort de Dieu. Actualité de Mohammed Iqbal, Paris: François Bourin 2010 („Actualité de la philosophie“) zu Descartes siehe S. 175, Spinoza S. 169 und 172, Kant S. 177, Nietzsche S. 141-43, William James S. 99-103, Heidegger S. 234-237, C. G. Jung S. 255-262. Das einzige Zitat Bergsons, das Bidar wiedergibt, stammt aus L’énérgie spirituelle, vgl. Bidar: L’islam face à la mort de Dieu, S. 172 (S. 309, Endnote 203). Bezüge zur modernen Philosophie sind auch in Bidars bekanntem Werk L’islam sans soumission. Pour un existentialisme muslman zu finden. Auch hier ist Bergson nur mit einem Zitat vertreten, und zwar aus L’évolution créatrice, vgl. Bidar, Abdennour: L’islam sans soumission. Pour un existentialisme musulman, Paris: Albin Michel 2008 (L’islam des Lumières), S. 184-185 (S. 269, Endnote 25). Bidar: L’islam face à la mort de Dieu, S. 237-239 (dt.: „Die Zukunft ist unser Ursprung – Iqbal als Leser Bergsons“), S. 239-244 (dt.: „Noch einmal Iqbal und Bergson“). Bidar: L’islam face à la mort de Dieu, S. 237 und Iqbal: Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, S. 136. Bidar: L’islam face à la mort de Dieu, S. 239-240.

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Einführung von Markus Kneer

A. Howard verwiesen: Demnach entwickelt sich in der Türkei ein von Kemalisten getragener politischer Bergsonismus, der eine Vermittlung zwischen dem Weg in die Moderne und einer spezifisch türkischen Iden48 tität sucht. Eine „politisierte“ Nutzung Bergson’schen Denkens sieht Howard auch bei dem Ägypter Muḥammad Ḥusain Haikal (1888–1956) 49 und dem Iraner Ali Shariati (1933–1977). Howard nennt zudem noch weitere Denker, für die ein Einfluss Bergson’schen Denkens angenommen wird oder die ihn selbst für sich in Anspruch nehmen: Inayatullah Mashriqi (1888–1963), der als Politiker einen indisch-muslimischen Sonderweg befürwortet, Ghulam Ahmed Parwez (1903–1985), der einer kulturellen indo-muslimischen Identität das Wort spricht, der bekannte tunesische Historiker Mohamed Talbi (1921–2017), der indisch-muslimische Philosoph Alam Khundmiri (1922–1983), der ägyptische Philosoph Ḥasan Ḥanafī (geb. 1935) sowie der sudanesische 50 Reformer Maḥmūd Muḥammad Ṭaha (geb. 1909 oder 1911–1985). Wenn bisher die Rezeption und die Nutzung des Bergson’schen Denkens durch einzelne Denker hervorgehoben wurde, dann immer hinsichtlich der Verarbeitung in ihren uns schriftlich überlieferten Werken. Teilweise beruhten diese Texte auch auf Vorlesungen, die ein bestimmtes Auditorium an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt angesprochen haben (so z. B. bei Iqbal und al-Ḥāǧǧ). Diese konkreten Ereignisse der Herstellung von Öffentlichkeit für das Denken Bergsons, die ein zusätzliches Licht auf dessen Rezeption und Nutzung werfen, konnten in dieser Einführung fast nicht angesprochen werden. So seien zumindest für den marokkanischen Kontext noch zwei Begebenheiten genannt, die zeigen, dass zumindest in den 1950er Jahren Bergson immer noch präsent war: Das Organ der „Association des Amis de Bergson“, Les études bergsoniennes, weisen auf eine von der „Association de l’alliance israélite“ or48 Vgl. Howard: Being Human in Islam, S. 78-80. 49 Vgl. Howard: Being Human in Islam, S. 81-83. 50 Vgl. Howard: Being Human in Islam, S. 187, Anm. 190. Da Howards Buch den

Einfluss evolutionstheoretischer Konzeptionen auf muslimische Denker in den Blick nimmt, sei hier noch ergänzend der folgende kurze Aufsatz genannt: Nabi, Muhammad Noor: Islam and Science not opposed to each other. The Muslim Philosopher Ibn Tufayl (d. 1185 C. E.), Darwin and Bergson, in: The Islamic Review and Arab Affairs Jg. 56 (April 1968), S. 6-9. Der Autor vertritt dort die These, dass der andalusische Philosoph Ibn Ṭufail der erste war, der sich nach der Offenbarung des Koran mit dem Problem der Evolution beschäftigte (ebd., S. 9). Bergson wird zum Vergleich herangezogen.

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2. Die Rezeption Bergsons im arabisch-islamischen Kulturraum

ganisierte Vorlesung mit dem Titel „Bergson, prophète des temps présents“ hin, die Dr. Maurice Duval, „ami de Bergson“ und ehemaliger 51 Bergson-Hörer am Collège de France, am 24. Mai 1956 in Rabat hielt. Und im Jahr 1959, dem Jahr des 100. Geburtstages Bergsons, fand vom 20. bis zum 26. April in den bedeutendsten Kulturzentren Marokko eine Bergson-Woche statt: Viele Intellektuelle beschäftigten sich mit Bergson’schen Themen, darunter der Rektor der marokkanischen Universität (vermutlich die Universität Mohamed V. Rabat), Mohamed Ghali al-Fassi, mit einer Hommage an Bergson und Alain de Lattre mit dem Vortrag „Remarques sur l’intuition comme principe régulateur de la connaissance“ neben vielen anderen. Der kurze Bericht vermittelt den Eindruck, dass es nicht nur ein rein akademisches Ereignis war: Auch die Philosophieklassen der Gymnasien beschäftigten sich mit Bergson’schen Themen und es wurden Lesungen aus seinen Büchern abgehalten. Der Großteil der Vorträge erfolgte in arabischer Sprache, was im Bericht positiv bewertet wird, da dies doch nur einer weiteren Verbreitung und 52 Diskussion Bergson’schen Denkens dienen könne.

3. Lahbabis Bergson-Lektüre 3.1 Spuren Bergsons in Lahbabis Denken und Werk außerhalb von ,Freiheit oder Befreiung‘? Bei der ersten Erwähnung Bergsons in einem einer breiteren Öffentlichkeit zugänglichen Text behandelt Lahbabi eine Übersetzungsfrage. In dem 1945 noch in Marokko in arabischer Sprache erschienen Werk Mufakkirū l-Islam (Denker des Islam) behandelt er u.a. den von Descartes und Bergson geprägten Terminus der Intuition und problematisiert dessen Interpretation durch die ägyptischen Philosophen Aḥmad Amīn und 53 Zakī Naǧīb Maḥmūd in ihrem Buch Qiṣṣat al-falsafa al-ḥadīṯa, die – so Lahbabi – die Bedeutung des Begriffs verfehlt. Er plädiert in der Folge für die Übernahme des Lehnwortes „Intuition“ (ins Arabische transkribiert) aus dem Französischen, da dieses selber in sich sehr komplex ist 51 Vgl. Les études bergsoniennes 4 (1956), S. 242. 52 Vgl. Robinet, André: Journées Bergson au Maroc, in: Les études bergsoniennes 6

(1961), S. 196-197.

53 Amīn, Aḥmad und Zakī Naǧīb Maḥmūd: Qiṣṣat al-falsafa al-ḥadīṯa. 2 Bde.,

Kairo: Laǧnat at-taʾlīf wa t-tarǧama wa n-našr 1936 (Geschichte der modernen Philosophie). Lahbabi bezieht sich auf Bd. 2, S. 529.

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Einführung von Markus Kneer

und alle vorgeschlagenen arabischen Äquivalente in Wortfelder einge54 bettet sind, die vom eigentlichen Sinn des Teminus wegführen. Die Einflüsse, denen er nach seiner Ankunft in Frankreich ausgesetzt ist, tun ein Übriges, um ihn noch stärker für das Bergson’sche Denken zu interessieren. Die Personalisten, an die Lahbabi anknüpft, sind in ihren Entwürfen allesamt stark von Bergson geprägt, ohne dies jedoch im Einzelnen hervorzuheben. So ist Emmanuel Mounier Schüler Jacques Chevaliers, des großen Bergson-Interpreten der Zwischenkriegszeit, dessen Bergson (1926) eine Vielzahl von Auflagen und Übersetzungen erfährt und der durch sein Buch Les entretiens avec Bergson (1959) bis heute einen hervorragenden Zugang zum Denker der durée bietet. Und dann ist da Mouniers Entdeckung des großen Dichters Charles Péguy, der ebenfalls Bergsonianer ist. Direkten Einfluss auf Lahbabis Interpretation Bergsons wird in erster Linie auch Henri Gouhier, Professor an der Sorbonne und großer Philosophiehistoriker, gehabt haben, was die häufigen Verweise auf ihn im vorliegenden Werk manifestieren. Zudem war er unmittelbar an Lahbabis Promotionsverfahren beteiligt, was ein Bericht vom 26. April 1952 belegt, in dem Gouhier eine kurze Zusammenfassung und Bewertung der Thèse complémentaire Liberté ou libération? Essai sur la liberté berg55 sonienne gibt. Trotz seiner Kritik an Bergson ist die Auseinandersetzung Lahbabis mit dessen Denken schon eine Vorentscheidung: Obwohl er richtigerweise schreibt, dass hinsichtlich einer Philosophie der Freiheit an Bergson in der ersten Hälfte es 20. Jahrhunderts in Frankreich kein Vorbeikommen war, bot die französische Philosophie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zwei Wege an, die beide auch Auswirkungen auf den intellektuellen Austausch mit der arabisch-islamischen Welt haben sollten. Zum einen handelte es sich um die positivistische Richtung, die mit dem Namen Auguste Comte verbunden ist und die mit ihrem Vertreter Ernest Renan für eine grundsätzliche intellektuelle Konfrontation zwi-

54 Vgl. al-Ḥabābī, Muḥammad [Mohamed (Aziz) Lahbabi]: Mufakkirū l-Islām, Ra-

bat: Maṭbaʿat al-Umniyya 1945/1364, S. 232-237 (Denker des Islam; einen Übersetzungsvorschlag formuliert er S. 237, Anm. 1). 55 Vgl. den zweiseitigen handgeschriebenen Bericht, welcher als Dokument AJ/16/7094 in den Archives Nationales in Pierrefitte-sur-Seine geführt wird, hier S. 1.

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3. Lahbabis Bergson-Lektüre 56

schen Europa und dem arabisch-islamischen Raum gesorgt hat. Zum anderen handelt es sich um die spiritualistische Richtung, die mit Namen 57 wie Maine de Biran, Ravaisson und schließlich Bergson verbunden ist. Auch Lahbabi setzt sich mit den Thesen Renans auseinander und die 58 Terminologie seiner Erwiderung ist durch Bergson geprägt. Es ist nämlich die spiritualistische Richtung, die für Lahbabi wie für andere Anknüpfungspunkte für die philosophische Aufarbeitung ihrer Kontexte bereithält. Als prominentes Beispiel für die Rezeption anderer spiritualistischer Denker sei hier der ägyptisch-libanesische Philosoph René Haba-

56 Renan äußert sich, wie schon angedeutet, in verschiedenen Schriften zur „Wis-

senschaftsfähigkeit“ des Islam als Religion und Kultur und bemüht dazu linguistische Überlegungen, die mit rassentheoretischen Versatzstücken verbunden werden. Vgl. Hourani, Albert: Der Islam im europäischen Denken, in: Ders.: Der Islam im europäischen Denken. Essays. Übers. und hg. von Gennaro Ghirardelli, Frankfurt: Fischer 1994, S. 17-83 hier S. 43-46. Als Höhepunkt dieser Konfrontation von positivistischer Weltanschauung und Islam kann die Vorlesung Renans an der Sorbonne vom 29. März 1883 gelten, die den Titel L’islamisme et la science trug. Der als einer der Köpfe der Salafiyya (Bewegung, die angesichts der Begegnung mit der Moderne eine Erneuerung der muslimischen Theologie durch die Rückbesinnung auf die islamische Gründungszeit anstrebt) geltende Ǧamāl ad-Dīn al-Afġānī reagiert auf diese Vorlesung mit einem öffentlichen Erwiderung. Vgl. dazu auch oben Anm. 27. Die hier genannte Bewegung der Salafiyya ist nicht mit den Gruppen zu verwechseln, die heute diesen Namen für sich in Anspruch nehmen und ihn höchst heterogen verwenden. Werner Ende und Pesach Shinar definieren die Salafiyya als „a neo-orthodox brand of Islamic reformism, originating in the late 19th century and centred in Egypt“. Vgl. Shinar, Pesach und Werner Ende: Art. „Salafiyya”, in: Encyclopaedia of Islam – Second Edition (EI2), Bd. 8, S. 900-909, hier S. 900. Zur unterschiedlichen Verwendung des Begriffs vgl. Nedza, Justyna: „Salafismus“ – Überlegungen zur Schärfung einer Analysekategorie, in: Said, Behnam T. und Hazim Fouad (Hg.): Salafismus. Auf der Suche nach dem wahren Islam, Freiburg: Herder 2014, S. 80-105. 57 In Lahbabis akademischem Werdegang spiegelt sich das Bewusstsein für diese beiden großen Strömungen der französischen Philosophie wieder: „Im Jahr 1949 erlangt Mohamed Aziz Lahbabi den Diplôme d’Etudes Supérieures. Zwei Themen: Positivismus und Bergsonismus.“ Menenteau, Pierre und Bernard Jourdan: Mohamed Aziz Lahbabi – homme de dialogue, Rabat: Okad 1989, S. 21. 58 In den Kapiteln 17 und 18 („Unsterbliche Vorurteile. Der Orient durch die Brille des Westens gesehen“, I/II) von Du clos à l’ouvert setzt sich Lahbabi u.a. mit den Thesen Renans und des britischen Orientalisten H. A. R. Gibb (1895-1971) auseinander. Vgl. Lahbabi, Mohamed Aziz: Du clos à l’ouvert. Vingt propos sur les cultures nationales et la civilisation humaine, Casablanca: Dar El Kitab 1961, S. 163-182.

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chi genannt, der seine Zulassungsarbeit für den Diplôme d’Etudes Supé59 rieures über Maine de Biran verfasst. In den 1950er Jahren schreibt Lahbabi eine Reihe von Aufsätzen, die er 1961 unter dem Titel Du clos à l’ouvert. Vingt propos sur les cultures nationales et la civilisation humaine in einem Buch zusammenfasst und herausgibt. Er versucht in diesem Buch, die nationalen Kulturen anhand der Kriterien Universalität und Personalität gegenüber einem immer 60 noch kolonialistisch geprägten Zivilisationsbegriff zu rehabilitieren. Allein der Titel dieses Buches zeigt, dass Lahbabi die Unterscheidungen aus Bergsons Les deux sources de la morale et de la religion auch auf die besondere Frage der Verhältnisbestimmung von Nationalkulturen und universaler Zivilisation angewendet wissen will: Wie es in Gesellschaften neben einer weithin „geschlossenen Moral“ auch Ansätze zu einer „offenen Moral“ gibt, so gibt es in jeder Kultur auch Anteile, die die Humani61 tät insgesamt voranbringen. In dem 1964 veröffentlichten Buch Le personnalisme musulman kommt neben den von ihm inspirierten Personalisten Bergson auch selbst zu Wort: Einmal in Bezug auf sein Konzept der Intuition und dann hinsichtlich der Dichotomie zwischen „Tiefen-Ich“ und „Oberflächen62 Ich“, die Lahbabi kritisiert.

3.2 Die Auseinandersetzung mit Bergson in ,Freiheit oder Befreiung‘? Die intensivste Auseinandersetzung mit Bergson im gesamten Werk Lahbabis findet sich in Freiheit oder Befreiung?. Egal, ob man das spätere Werk Le personnalisme musulman als folgerichtige Fortsetzung von De 63 l’être à la personne und Liberté ou libération? sieht oder zwischen den 59 Vgl. Habachi, René: La recherche de la personne à travers l’expérience philoso-

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phique de Maine de Biran, Beirut: Libanesische Universität 1957 (Publications de l’université libanaise – Section des études philosophiques et sociales; 1). In Vorund Nachwort unterstreicht Habachi die starke Nähe zwischen Maine de Biran und Bergson (ebd, S. 9 und S. 119-120). Vgl. dazu meinen oben (Fn. 3) erwähnten Aufsatz „Abgeschlossen“ oder „aufgeschlossen“? Muhammad Aziz Lahbabis islamische Kulturphilosophie und die Frage nach einem universalen Humanismus. Das genannte Werk ist auch das einzige Bergsons, das Lahbabi zitiert. Vgl. Lahbabi: Du clos à l’ouvert, S. 40. Vgl. Lahbabi: Der muslimische Personalismus, S. 75 und S. 84. So Van den Boom, Marinus: Bevrijding van de mens in islamitisch perspektief. M.ʻA. Lahbabi en H. Hanafi, filosofen uit de arabisch-islamitische wereld, Amsterdam: VU Uitgeverij 1984, S. 204-205.

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3. Lahbabis Bergson-Lektüre

Werken von 1954 und 1956 und dem von 1964 einen programmatischen 64 Bruch festzustellen meint: Liberté ou liberation? gehört unzweifelhaft zur Periode des realistischen Personalismus des Autors, die dadurch geprägt ist, dass das menschliche Personsein allein im Rekurs auf dessen generative und intersubjektive Konstitution begründet werden soll. „Gott“ wird in Klammern gesetzt, d.h. ihm wird keine aktive Rolle in der Personkonstitution zugewiesen, obwohl er präsent bleibt in den Verweisen auf den religiös-kulturellen Kontext des Autors. Die rein immanente Sicht des Menschen im realistischen Personalismus, der sich darin auch als eine Kritik am christlichen Personalismus Emmanuel Mouniers und 65 Jean Lacroix’ versteht, führt daher nicht zur Frage menschlicher Freiheit, die sich gegenüber der Allmacht Gottes behaupten müsste, sondern sie muss sich mit naturalistischen oder sozialtheoretischen Bestreitungen dieser Freiheit auseinandersetzen. Die große Leistung Bergsons ist, dass er die Bestreitung menschlicher Freiheit durch den Naturalismus einer starken Kritik unterzieht, die Freiheitsdenken wieder ermöglicht. In Freiheit oder Befreiung? erfolgt eine Applikation Bergson’scher Theoreme auf den Bereich der Gesellschaft, was dann zu deren Modifikation führt. Die Entfaltung und Adaption der „Befreiung“ als Personalisierungsprozess ist in eine gesellschaftliche Entwicklung eingebettet, in die sich auch der Autor eingebunden sieht: „Der realistische Personalismus wurde aus einer doppelten Kultur, der muslimischen und der westlichen, entworfen und ist aus einer doppelten Unruhe entstanden: dem Anliegen, den realistischen Geist und den Geist der Synthese in der Welt des Islam zu entwickeln bzw. wiedererstehen zu lassen und einen Drang [élan] zum Wir hervorzurufen, in dem das Ich sich übersteigt ohne sich zu ent66 personalisieren.“ Lahbabi etabliert die Position des Zwischen, die aus der „double culture“ hervorgeht, als eine kritische. Sowohl die „Welt des Islam“ als auch die des „Westens“ unterzieht er der Kritik: Die erstere wegen ihres patriarchalen Kollektivismus, der jede personale Entwicklung unterbindet, die letztere wegen ihres übersteigerten Individualismus, durch den die Gemeinschaftsdimension des Menschlichen proble64 Z.B. Sīdārūs, Fāḍil: al-Usus al-anṯrūbūlūǧiyya al-falsafiyya fī š-šaḫṣāniyya al-

wāqiʿiyya. Dirāsa ʿan Muḥammad ʿAzīz al-Ḥabābī, Beirut: Universität Saint Joseph 1971 (Die philosophisch-anthropologischen Grundlagen im realistischen Personalismus. Eine Studie über Mohamed Aziz Lahbabi), S. 37 f., 40, 43, 45. Zitiert nach Van den Boom: Bevrijding van de mens, S. 204 (Anm. S. 298). 65 Lahbabi: De l’être à la personne, S. 344-47. 66 Siehe unten Freiheit oder Befreiung?, S. 184, [243].

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matisch wird. Diese sehr verallgemeinernde Zuweisung der jeweiligen Defizite lässt den Personalismus als einen dritten Weg erscheinen, der die Spannung zwischen Person und Gemeinschaft hält anstatt das ver einzelte Individuum einer undifferenzierten Masse gegenüberzustellen. Erinnern wir uns: Das Buch erscheint 1956, in dem Jahr, in dem Marokko unabhängig wird. Aus den bisher Kolonisierten sollen Staatsbürger, ci67 toyens, werden. Auch vor diesem Hintergrund ist Freiheit oder Befreiung? zu lesen. Hier soll jedoch der Schwerpunkt auf der philosophischen Auseinandersetzung liegen. Obwohl Freiheit oder Befreiung? die Komplementthese bildet, streicht Lahbabi in der Einleitung zum Typoskript der Hauptthese die Zentralität ihres Inhalts für sein Philosophieren hervor: „In der Arbeit Freiheit oder Befreiung? haben wir es als notwendig erachtet, eine gewisse Form subjektiver Freiheit zu überwinden, denn die Freiheit, die als reine Subjektivität des Menschen aufgefasst wird, jedes sozialen und historischen Inhalts bar, reduziert den Menschen auf sein ‚reines‘ Bewusstsein, als wenn es eine Zeitspanne gegeben hätte, in der es nicht eingebunden [engagé] gewesen wäre, bringt das Bewusstsein die Zeit doch erst im Ver68 bund mit anderen Bewusstseinen hervor.“ Daher ist der erste Teil von Freiheit oder Befreiung? der Darstellung der aus den jeweiligen Hauptwerken entwickelten Bergson’schen Freiheitsbegriffe gewidmet, die sich gemäß Lahbabis Analyse alle aus der „Dauer“ („durée“) ableiten bzw. in Beziehung zu ihr stehen (vgl. S. [34], 69 [37], [47], [54], [72], [73], [187]). Wirkliche Freiheit gibt es nach Bergson nur im Zustand des Tiefen-Ichs, d. h. in dem allen räumlichen Redu67 Lahbabi war Mitglied des Parti Démocratique pour l’Indépendance, der für eine

konstitutionelle Monarchie eintrat.

68 Vgl. das Typoskript der Thèse principale De l’être à la personne. Essai d’un per-

sonnalisme réaliste. Thèse pour le doctorat ès-Lettres présentée devant la Faculté des Lettres de l’Université de Paris par Mohamed Lahbabi, 1952, S. II. Das Dokument ist unter der Signatur 4-Z WAHL-93 in der Nationalbibliothek (Site François Mitterand) in Paris einsehbar. Leicht verändert übernimmt Lahbabi diesen Text in die spätere Veröffentlichung seiner These. 69 Die Zahlen in eckigen Klammern verweisen auf die Seitenzahlen der französischen Version von 1956, die im fortlaufenden Text der Übersetzung ebenfalls in eckigen Klammern stehen. Auch die im Personenregister angegebenen Zahlen in eckigen Klammern verweisen auf die Seitenzahlen des französischen Textes von 1956.

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zierungen enthobenen Leben der Dauer. Die sogenannten sozialen und politischen Freiheiten sind immer noch den aus ihren räumlichen Kontexten entstehenden Notwendigkeiten unterworfen und können daher nicht Anspruch auf den „psycho-metaphysischen“, „göttlichen“ Freiheitsbegriff erheben (vgl. S. [72-73]). Lahbabis Kritik an Bergson zielt vor allem auf den Träger der Freiheit: Die Trennung von Oberflächen- und Tiefen-Ich eröffnet zwar die Möglichkeit, personale Freiheit und naturwissenschaftlichen Determinismus zusammen zu denken. Doch wie kommt dieses „Ich“ zustande? Auch Les deux sources de la morale et de la religion, das sich mit gesellschaftlichen und ethischen Fragen beschäftigt, bleibt hier eine Antwort schuldig. Was in der Hauptthese noch stärker ausgefaltet wird, bildet auch in Freiheit oder Befreiung? den Kern der Argumentation Lahbabis: Bergson berücksichtigt weder die Genese noch die intersubjektive Strukturierung des „Ich“ (vgl. Freiheit oder Befreiung?, S. [103]). Der Dualität von Tiefen-Ich und Oberflächen-Ich als zentraler Unterscheidung Bergsons folgt Lahbabi nicht. Die Freiheit findet sich nach Bergson im Tiefen-Ich und ist daher jenseits jedes Wählenmüssens (was schon wieder eine Unfreiheit bedeutete) des Tiefen-Ichs. Es ist die Freiheit des Dauerns, des Ganz-bei-sich-Seins. Das Tiefen-Ich ist daher auch der eigentliche Sitz der Subjektivität des Menschen, eine primordiale Subjektivität. 70 Dagegen entwickelt Lahbabi die primordiale Intersubjektivität. Die Präsenz der anderen ist für Lahbabi immer schon gegeben und grundsätzlich positiv besetzt, was ihn von Sartre unterscheidet. Dabei macht er auf die personalisierende Dimension der Sprache aufmerksam, die die Anerkennung des menschlichen Wesens in einer Gemeinschaft durch andere ausdrückt – also anders als Sartre, der den objektivierenden Blick 71 des anderen als einen die Freiheit des Ichs beschneidenden beschreibt. Lahbabis ausgesprochen positive Bewertung des anderen, des Dus in der Konstitution des Ichs geht auf die von ihm auch so gekennzeichnete Zentralerfahrung zurück, die er am Ende von Freiheit oder Befreiung? 72 nennt, und die sowohl in diesem Werk, aber noch mehr in De l’être à la 70 D.h. „the obvious truth of intersubjectivity“, wie Howard es ausdrückt, vgl.

Howard: Being Human in Islam, S. 68.

71 Zu Sartre und Lahbabi vgl. Achmal, Mohamed Bilal: Sartre en Lahbabi. Presencia

de un Filósofo francés en el Pensamiento marroqui actual, in: Límite. Revista de Filosofía y Psycología 3 (2008) Nr. 18, S. 47-70 (Zeitschrift hg. von der Universidad de Tarapacá, Arica, Chile). 72 „Unter mehr als einem Aspekt zwischen zwei unterschiedlichen Gesellschaften

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personne als Grundlage für seine philosophische Auslegung und Selbst73 auslegung dient. Die Unhintergehbarkeit der primordialen Intersubjektivität erschliesst sich für Lahbabi durch die Analysen von Maurice Mer74 leau-Ponty (1908–1961) und Maurice Nédoncelle (1905–1976). Lahbabi bekräftigt in der Linie Merleau-Pontys die horizontal-immanente Entwicklung der Intersubjektivität. Van den Booms Formulierung ist äußerst treffend, wenn er schreibt, dass Lahbabi Bergsons élan vital nicht in der Iqbalschen Form des khūdi übernimmt, sondern ihn zum „élan social“ 75 erweitert. Mit dieser Kritik und Erweiterung Bergsons geht es auch darum, wie Gemeinschaft und Zusammenleben in gegenseitiger Anerkennung er möglicht werden kann. Gouhier sieht Lahbabis kritische Studie von einem Humanismus inspiriert, der sowohl marxistische als auch personahin und her gerissen, habe ich persönlich das ‚Gefühl der Leere‘ erdulden müssen, ein Gefühl, das mich auf sein Gegenstück gestoßen hat: die Kommunikation.“ Freiheit oder Befreiung?, S. [243]. Pacheco Paniagua erkennt im „sentiment du vide“ Lahbabis das in den 1950er verbreitete, literarisch verarbeitete Gefühl des tamazzuq (Zerrissenwerden, Zerrissensein) „engagierter“ arabischer Schriftsteller wieder, welches über die Literatur Eingang in die moderne arabische Philosophie gefunden und dort für eine Hinwendung zu existenzialistischen Themen gesorgt habe. Vgl. Pacheco Paniagua, Juan Antonio: Libertad y liberación en el personalismo realista de Muḥammad ʿAzīz Laḥbābī (1922–1993), in: Philologia hispaliensis 14, Nr. 2 (2000) S. 339-344, hier S. 341. 73 Z.B.: „Das Du ist eine Notwendigkeit für die Affirmation des Ich. Es existiert eine aller Erfahrung vorhergehende Gewissheit des Du.“ Freiheit oder Befreiung?, S. [103]. Vgl. Lahbabi: De l’être à la personne, S. 177-230. Lahbabis Explikationen erinnern bis die Terminologie hinein an den dialogischen Personalismus (Buber, Rosenzweig, Ebner). In Bezug auf die Kolonialismuserfahrung ließe sich allerdings mit Sartre die Frage stellen, ob der andere nicht auch depersonalisierende Züge haben kann. Mit späteren Philosophien der Alterität (Levinas, Derrida) stellt sich zudem die Frage, ob das von Lahbabi doch als sehr ausgeglichen geschilderte Verhältnis von Ich und Anderem/Du nicht eher ein asymmetrisches ist. 74 Hier sind vor allem die Werke von Maurice Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception, Paris: Gallimard 1945 und Maurice Nédoncelle: La réciprocité des consciences. Essai sur la nature de la personne, Paris: Aubier-Montaigne 1942 zu nennen. Zu Nédoncelle vgl. auch De Beer, Francis: Maurice Nédoncelle (19051976), in: Coreth, Emmerich, Walter M. Neidl, Georg Pfligersdorfer: Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts. Bd. 3: Moderne Strömungen im 20. Jahrhundert, Graz: Styria, 1990, S. 479-486. 75 Van den Boom: Bevrijding van de mens, S. 205. Howard stellt heraus, dass bei Lahbabi das Romantisch-Dramatische des Evolutionsdenkens Bergsons vollständig der Frage nach dem Sozialen und der in diesem Rahmen stattfindenden Personalisierung geopfert wird. Vgl. Howard: Being Human in Islam, S. 71.

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3. Lahbabis Bergson-Lektüre

listische Züge trägt: Diese Bewertung lässt allerdings den Eindruck entstehen, dass Marxismus und Personalismus als Quellen des Denkens des 76 marokkanischen Philosophen gleichwertig nebeneinander stünden. Aufgrund der generativ-intersubjektiven Konstitution des konkreten menschlichen „Ichs“ ist dem allerdings entgegenzuhalten, dass der jeweilige Personalisierungsprozess im Vordergrund steht, der sich zwar in seinem Transzendenzstreben auch an einem Gattungsideal des „Menschen“ ausrichtet, was aber in singulärer Weise geschieht (vgl. auch die Ausführungen zur Kunst). Die Bezüge zum Marxismus sind in den realistischen Personalismus integriert, neben anderen sozialphilosophischen Schulen: Die Auseinandersetzung mit den Thesen Pierre-Joseph Proudhons erweist sich im Teil über den Besitz als viel extensiver als die Bearbeitung Marxscher Thesen. Gouhier hält jedoch die der Kritik Lahbabis zugrunde liegende Verhältnisbestimmung zwischen philosophischer Freiheit und den konkreten Freiheiten prägnant fest: „Es gibt konkrete Freiheiten: die Gedankenfreiheit, die Verhandlungsfreiheit, die Freiheit, die dem Arbeitslosen fehlt, usw.; diese Freiheiten sind konkret, weil sie tatsächlich befreiend sind; die philosophische Freiheit ist die Widerspiegelung dieser Freiheiten, die selbst an bestimmte historische und soziale Situationen gebunden sind. Der Bergsonismus ist vor allem eine Philosophie, die eine Reaktion gegen andere Philosophien (Szientismus, Assoziationismus usw.) darstellt; in dieser Hinsicht gebührt ihm der Verdienst, bezüglich der Freiheit notwendige Fragen gestellt zu haben, aber er bleibt eine abstrakte Philosophie, die nicht die konkrete Freiheit erfasst, deren befreien77 de Wirksamkeit in einem historischen und sozialen Milieu aktiv ist.“ Was Lahbabi zusätzlich von Marx unterscheidet, ist seine Wahrnehmung der Singularität des konkreten Menschen. Nur wenn der andere Mensch eine Art Widerstand zum „Ich“ bildet – das heißt ein wirklich Anderer, ein wirkliches Du –, ist dieses „Ich“ als ein Knotenpunkt intersubjektiver Beziehungen überhaupt erst möglich. Die Bedeutung des Dus, des Anderen, für die Entstehung und den Bestand des „Ich“-Bewusstseins ruft Lahbabis Kritik am Bergson’schen Zeitkonzept der „reinen Dauer“ hervor: Die eigentliche Zeit für Bergson ist die Dauer, die Zeit des Tiefen-Ich; die spatialisierte Zeit, die „Uhrzeit“ ist die des Oberflächen-Ichs. Mit Hilfe der Unterscheidung dieser Zeitkonzepte ist es Bergson möglich, u. a. erkenntnistheoretische Dilemmata 76 Vgl. Gouhier: Dokument AJ/16/7094, S. 1. 77 Ebd.

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aufzulösen (man denke allein an seine berühmte Analyse des von Zenon von Elea entworfenen Paradoxon von Achilles und der Schildkröte). Die Dauer ist die Zeit des Tiefen-Ichs, welches allein zu ihr Zugang hat. Dagegen entdeckt Lahbabi gerade den intersubjektiven Ursprung der Zeit, die eben auch Zeit einer Epoche und einer Zivilisation ist und von der sich die jeweilige Zeit der Einzelnen nicht trennen lässt. Die Zeit, in der das „Ich“ sich befreit – bei Bergson wäre es im Zustand der Dauer schon frei, brauchte sich also nicht zu befreien –, ist Zeit mit anderen, Geschichte. Befreiung geschieht im Engagement in einer Gemeinschaft und in einer Epoche, was wiederum Verantwortung bedeutet (vgl. Freiheit 78 oder Befreiung?, S. [184], S. [221-222], S. [224]). Im zweiten und dritten Teil behandelt Lahbabi zwei Felder, die normalerweise dazu angetan wären, die Unabhängigkeit und den Selbststand des einzelnen Subjekts zu unterstreichen: Kunst und Besitz. Bergson hat zwar keine eigene Ästhetik geschrieben – wenn man von Le rire einmal absieht. Doch Lahbabi rekonstruiert aus seinen verstreuten Gedanken zum Thema einen Kunstbegriff. Er zeigt auch hier, dass Kunst etwas zutiefst Zwischenmenschliches ist. Der absoluten Intuition als höchster Erkenntnisstufe des schöpferischen Genies stellt er die kontextuelle Invention gegenüber, welche dem Künstler in Kommunikation mit Epoche und Milieu gelingt: „Die Kunst erscheint als der qualitative Ausdruck eines Moments der Zivilisation für eine bestimmte Gesellschaft; sie ist auch die Manifestation dessen, was diese Gesellschaft be wegt, und all dessen, wonach sie sich sehnt.“ (Freiheit oder Befreiung?, S. [113]). Was den Besitz angeht, so zeigt sich hier ein deutlicher Kontrapunkt zu sozialistischen Auffassungen. Der Besitz und die Aneignung gehören zum Befreiungsprozess. Auch hier ist die mystische Vertiefung Bergsons ins Tiefen-Ich „unrealistisch.“ Es bedarf materieller Voraussetzungen, um in den Genuss der Freiheiten zu kommen, auch der Freiheit des „reinen Bewusstseins.“ Dass die Menschen damit notwendigerweise in einer Konkurrenz- und Kriegssituation landen, sieht Lahbabi nicht, auch wenn er die Möglichkeit nicht ausschließt. Besitz und Konkurrenz gehören nicht ursprünglich zusammen. Vielmehr kann das Haben zu einer Stär78 Van den Boom weist darauf hin, dass das existenzialistische Freiheitsideal für

Lahbabi keine Alternative darstellt. Sartre stelle den Menschen in eine Welt, die bar jeden gemeinsamen Zwecks und jeder gemeinsamen Vernunft sei. Vgl. Van den Boom: Bevrijding van de mens, S. 50.

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3. Lahbabis Bergson-Lektüre

kung des Seins gerade auch in seiner intersubjektiven Relationalität führen (vgl. Freiheit oder Befreiung?, S. [142]). Dieser Teil ermöglicht es Lahbabi wiederum, zu zeigen, dass der Befreiungsprozess nicht einseitig idealistisch oder materialistisch reduziert werden darf (vgl. dazu auch das Supplement), sondern dass er subjektive und objektive Implikationen hat, die sich vor allem im Begriff der Arbeit verdichten. Durch die Ar beit, die Aktivität im Allgemeinen, findet Sinnbildung statt und werden Wege zur Befreiung eröffnet. Die Nähe des Handlungsbegriffs Lahbabis zu dem Blondels (L’action) und Mouniers (Le personnalisme) ist augenfällig. Die Handlung ist daher auch im vierten und letzten Teil ein zentrales Konzept, um zu verstehen, warum der Begriff Befreiung den der Freiheit überragt. Freisein ist nicht Zustand, sondern immer auch Aktivität: „ … am Anfang der Befreiung steht die Handlung, und die Befreiung hört auf, sobald die Handlung endet.“ (vgl. Freiheit oder Befreiung?, [S. 231]). Es stellt sich am Ende noch einmal die Frage, an wen sich dieses Buch eigentlich richtet. Sicherlich ist es ohne weiteres in die Forschungsliteratur zu Bergson einzureihen. Doch wurde in dieser Einleitung schon wiederholt auf die Motive hingewiesen, die Lahbabi zu seiner Komplementthese veranlasst haben. Juan Antonio Pacheco Paniagua hat unterstrichen, dass die auf den letzten Seiten von Freiheit oder Befreiung? (vor allem S. [243]) angesprochenen Probleme nicht so sehr die Bergson-Forschung berühren als vielmehr die Kontexte der Gesellschaften der arabischen Länder, wo diese Probleme diskutiert wurden, ohne dass Lahbabi diese 79 Bezüge offenlegt. Damian Howard hat die These stark gemacht, dass es sich um einen Personalismus für eine „einsame Elite“ in den kolonisierten Ländern 80 handelt. Diese Einschränkung des Adressatenkreises wird von dem Orientalisten Joseph Chelhod so weit getrieben, dass er den von Henri Gouhier herausgestrichenen humanistischen Charakter des Werks in Frage 79 Vgl. Pacheco Paniagua: Libertad y liberación, S. 343-344. Andere Rezensenten

lassen diesen Aspekt völlig außer Acht, vgl. Alessandri, A.: M. A. Lahbabi – Liberté ou libération? (Rezension), in: Revue philosophique de la France et de l'étranger (1959), S. 416-417; Voelke, André: Mohamed Aziz Lahbabi – Liberté ou Libération (Rezension), in: Revue de théologie et de philosophie (3. Reihe) 7 (1957), S. 78-79; David, Madeleine: M. A. Lahbabi – Liberté ou libération? (Rezension), in: Journal de psychologie normale et pathologique 54 (1957), S. 108-109. 80 Howard: Human Being in Islam, S. 66-69, hier vor allem S. 69.

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Einführung von Markus Kneer

stellt: Chelhod erkennt in Lahbabis „libération“ den Entwicklungsprozess vom Individuum zur Person, deren Gegenüberstellung auch von Mounier her bekannt ist. Ihre Realisation ist aber mit einer Reihe von politischen Vorbedingungen verbunden (Unabhängigkeit, Demokratie). Diese starke politische Einbindung von Lahbabis realistischem Personalismus führt den Rezensenten daher zu der Frage, inwieweit es sich hier noch 81 um einen Humanismus handelt. Wer soll nun befreit werden? Ist es die Elite der kolonisierten Länder, sozusagen pars pro toto, oder geht es um die Befreiung der Nation? Der oben schon angedeutete Übergang aus der kolonialen Situation in die Unabhängigkeit ist hier sicherlich das Entscheidende. Die Hinweise auf den Lebenskontext Lahbabis, die von ihm beschriebene Situation der doppelten Kultur, könnten zwar auf einen Elitendiskurs hindeuten, doch ist es – wie er es später auch in seiner intellektuellen Autobiographie „Philosophie im Interesse der Menschen der Dritten Welt“ darstellen wird – seine Personwerdung, in der die singulären Erfahrungen zugleich eine universale Dimension annehmen: Viele Kontexte bringen Entfremdungen hervor, die es zu überwinden gilt. So ist der Prozess der 82 Befreiung etwas zutiefst Menschliches. Und es geht dabei darum, dass sich Menschen geistig und psychisch – als Einzelne und als Gesellschaft – aus der Situation des Kolonialismus befreien. Lahbabi befasst sich also zum einen mit dem schwierigeren Teil dessen, was Michael Walzer unter dem Schlagwort „nationale Befreiung“ behandelt: „National liberation is an ambitious and also, from the beginning, an ambiguous project. The nation has to be liberated not only from external oppressors – in a way, that’s the easy part – but also from the 83 internal effects of external oppression.” Doch ist sich Lahbabi zum anderen auch im Klaren darüber, dass es nicht nur äußere Gründe für die koloniale Situation der Unterdrückung gibt, sondern auch innere („Herdengeist“, Patriarchalismus). Die Reflexionen europäischer personalisti81 Vgl. Chelhod, Joseph: M. A. Lahbabi – Liberté ou libération (Rezension), in: Re-

vue de l'histoire des religions (1958), S. 117.

82 Vgl. Lahbabi: Philosophie im Interesse der Menschen der Dritten Welt, in: Ders.:

Der Mensch: Zeuge Gottes, S. 39-57, vor allem die Abschnitte 3 „Die Entdeckung meines eigenen Selbst als philosophisches Problem“ und 4 „Von der Enttäuschung zur Philosophie“, S. 46-51. 83 Walzer, Michael: The Paradox of Liberation. Secular Revolutions and Religious Counterrevolutions, New Haven: Yale University Press 2015 (The Henry L. Stimson Lectures Series), S. 1.

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3. Lahbabis Bergson-Lektüre

scher Denker helfen ihm dabei, sowohl die inneren als auch die äußeren Gründe für diese Situation auszumachen. Aus Lahbabis Position der doppelten Kultur, der doppelten Unruhe und des „Zwischen“ sind die Adressaten dieses Werks alle, die ein ähnliche Erfahrung der „Zerrissenheit“ machen – vielleicht heute noch mehr als damals.

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Mohamed Aziz Lahbabi

Freiheit oder Befreiung?

Ein kritischer Versuch über die Freiheit bei Henri Bergson

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Vorwort

[5] Obwohl es nicht üblich ist, für ein Werk, das an der geisteswissenschaftlichen Fakultät als Doktorarbeit vorgelegt wurde, ein Vorwort zu schreiben, autorisieren uns hier zweifellos dieselben Gründe, die unseren Kollegen und Freund Pierre-Maxime Schuhl dazu geführt haben, Mohamed Aziz Lahbabis wichtige Studie De l’être à la personne ([Vom Sein zur Person], Paris: Presses Universitaires de France 1954) mit einem Vorwort zu versehen, zum Ausdruck zu bringen, wie sehr wir den Verfasser von Liberté ou libération? schätzen und was wir von ihm erwarten. Einige werden über den scheinbar disjunktiven Charakter des „oder“ erstaunt sein, welches im Titel dieser Zusatzthese „Freiheit“ von „Befreiung“ trennt. Die Lektüre des Buches wird ihnen jedoch zeigen, dass Mohamed Aziz Lahbabi in Wahrheit nicht zwei Begriffe einander gegenüberstellt, die untrennbare Aspekte derselben essentiellen Forderung darstellen, sondern dass er lediglich versucht, durch den Bezug auf den zweiten die konkreten Aspekte des ersten genau zu erfassen. Seine Hoheit, der kaiserliche Prinz Moulay Hassan, hat in einem Vortrag kürzlich zu Recht an die exemplarischen Jahrhunderte des maghrebinischen Islam erinnert und sie anhand einer großen Zahl von Dichtern, Künstlern und Staatsmännern veranschaulicht, die jedoch in unseren Augen vor allen anderen durch den Namen des Philosophen symbolisiert werden, den unser Mittelalter Averroes nannte. In dieser historischen Stunde für sein Heimatland mit allem, was sie an Versuchungen und Hoffnungen in sich birgt, ist es ermutigend, dass Mohamed Aziz Lahbabi [6] öffentlich, durch seine Person und durch sein Werk, die Verbindung zweier Kulturen zum Ausdruck bringt, deren Trennung genauso fatal wäre wie jeder künstliche Schnitt zwischen der „Freiheit“ und der „Be freiung“. Ob es sich um die reine Wissenschaft oder um die Technik handelt, die noch als „westlich“ bezeichnete Tradition tendiert jeden Tag mehr dazu, ein Gemeingut der Menschheit zu werden, dank der Zusammenarbeit von Forschern aller Rassen und aller geistigen Horizonte. Was uns jedoch am meisten berührt, ist die Tatsache, dass unser marokkanischer Freund treu den Faden einer Anstrengung des Denkens aufnimmt, mit der uns so vieles verbindet und die für eine ganze Generation untrenn41

Vorwort

bar mit dem Vermächtnis Emmanuel Mouniers verbunden ist. Theoretische und praktische Anstrengung in einem, die in einer fernen Vergangenheit wurzelt, die sich jedoch offen gibt für alle lebendigen Traditionen, gerade weil die in ihrer Authentizität erfasste Person zuerst in der Gemeinschaft verwurzelt ist und weil die Vielfalt der Kulturen und In stitutionen den absurden Traum einer abstrakten Universalität ausschließt. Als Erbe einer großen Reihe religiöser Denker und als äußerst aufmerksamer Exeget des Aristoteles, den die Lateiner „den Philosophen“ nannten, spielte Ibn Rušd, der von ihnen den Namen „der Kommentator“ verliehen bekam, in mehr als einer Hinsicht eine entscheidende Rolle in der Entwicklung dieses mediterranen Mittelalters, dessen mehr oder weniger untreue Erben wir als Araber, Juden und Christen, Mystiker und Rationalisten, Söhne Platons und Aristoteles’, aber genauso – bewusst oder unbewusst – als Enkel und Großneffen Abrahams (oder Ibrahims) sind. Heute könnte der Personalismus uns die ersten Elemente eines Lehrgebäudes bereitstellen, in dem sich [7] in der gemeinsamen Hochschätzung derselben Grundwerte die besten Geister zweier Welten wiederfänden, welche noch so viele Missverständnisse trennen, und die, nachdem sie lange Zeit auf blutige Weise aufeinandergeprallt sind, sich leider auch heute noch mit Waffen in der Hand und Hass im Herzen begegnen. Mohamed Aziz Lahbabi unternimmt die Anstrengung, diesen Personalismus neu zu denken, indem er in ihn das Beste des Bergsonismus integriert, den er in das Zentrum seiner Forschung stellt und an dem er nur mit einem ausdrücklichen Willen des Verstehens Kritik übt, und ihn mit den unanfechtbarsten Zusätzen aller Philosophien bereichert, von denen er selbst geprägt ist. In dieser Hinsicht halten wir es für kennzeichnend, dass Lahbabi den Namen alter und neuer Lehrer eines Westens, der, wie es schon im 15. Jahrhundert der Kardinal von Kues als Verfassers von De pace fidei bezeugt, niemals einer friedlichen Konfrontation mit dem Orient aus dem Weg ging, sehr oft diejenigen eines Ibn Ṭufail, eines al-Ġazālī, eines Ibn Ḫaldūn hinzufügt, wie wir sehen werden. Da er für die Aufgabe, die vor ihm liegt, besser qualifiziert ist als viele andere, wünschen wir, dass er sich in seinen nächsten Werken damit beschäftigt, die noch immer lebendigen Elemente einer dreifachen Tradition offen zu legen: diejenige der ahl at-taṣawwuf, der mutakallimūn und der falāsifa. So trüge er zur Bildung einer kulturellen Synthese bei, wel42

Vorwort

che die Ebene der zu einfachen Synkretismen oder frommen Reden hinter sich ließe und ohne die die Hoffnung der Menschen guten Willens zum wiederholten Male Gefahr liefe, schwer enttäuscht zu werden. Paris, den 15. März 1956 Maurice de Gandillac (Professor an der Sorbonne)

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Abkürzungsverzeichnis1 Les deux sources oder D. S. = Les deux sources de la morale et de la religion (Bergson) [= Die beiden Quellen der Moral und der Religion (Ü)]. Discours = Discours de la méthode (Descartes) [= Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs (Ü)]. E. C. = L’évolution créatrice (Bergson) [= Schöpferische Evolution (Ü)]. E. S. = Energie spirituelle (Bergson) [= Die seelische Energie (Ü)]. Essai = Essai sur les données immédiates de la conscience (Bergson) [= Zeit und Freiheit (Ü)]. Lalande = Vocabulaire technique et critique de la philosophie (Société française de philosophie). M. M. = Matière et mémoire (Bergson) [= Materie und Gedächtnis (Ü)]. P. M. = La pensée et le mouvant (Bergson) [= Denken und schöpferisches Werden (Ü)]. R. I. P. = Revue internationale de philosophie (3. Jahrgang, Oktober 1949, Spezialnummer über Bergson, veröffentlicht mit der Unterstützung der Fondation Universitaire de Belgique). R. P. = Revue philosophique de la France et de l’étranger (Paris).

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Im nachfolgenden Text werden die Angaben Lahbabis, insofern es möglich ist, sowohl durch die Seitenangabe der kritischen Neuedition [NE] als auch durch diejenige einer deutschen Übersetzung [Ü] ergänzt. Vgl. dazu auch die Bibliographie im Anhang.

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Einleitung

[9] In einer früheren Arbeit haben wir uns bemüht, die Grundlagen eines „realistischen Personalismus“ zu entwerfen: Ontologie, Dimensionen der Person und diverse Probleme hinsichtlich der Erforschung und des Ver1 ständnisses der Personalisierung. Das vorliegende Werk stellt zugleich eine Illustration und eine Ergänzung des ersteren dar. Die beiden Bücher haben ein gemeinsames Ziel: Sie sollen zeigen, dass der Personalismus eine Philosophie der Befreiung ist. Und wenn wir uns im ersten Buch darum bemüht haben, die positiven Elemente freizulegen, auf die sich der Personalismus gründet, so handelt der vorliegende Essay davon, seine negativen Aspekte aufzuzeigen, d.h. freizulegen, was der Personalismus nicht ist: Weder eine rein subjektive Freiheit noch eine Selbst-Abkapselung noch schließlich ein freier Wille könnten ihm genügen. Er erkennt das Individuelle an, ohne sich [10] durch es vollständig absorbieren zu lassen; er erkennt die „Dauer“ an, betrachtet sie aber nur als eine der Arten des Zeitlichen. Der vorliegende Essay umfasst eine Reihe von Reflexionen über den Bergsonismus, den wir hier als bekannt voraussetzen, und auf seiner 2 Grundlage. Daher wird man auf den folgenden Seiten weder ein detailliertes Exposé der Themen Bergsons noch eine historisch ansetzende Arbeit finden. Wir bescheiden uns also damit, im ersten Teil den gemeinsamen Nenner der verschiedenen „Freiheiten“ zu suchen, denen man im Werk Bergsons begegnet, und der Entwicklung zu folgen, welche der Begriff der Freiheit von dem Essai sur les données immédiates de la conscience (1889) bis zu Les deux sources de la morale et de la religion (1932) genommen hat. In drei weiteren Teilen werden Freiheiten in ihrer Anwendung auf praktische Probleme analysiert, das heißt ihre jeweiligen Rollen in der künstlerischen Schöpfung, in der Aneignung und in dem Bestreben des 1 2

Mohamed Aziz Lahbabi: De l’être à la personne. Essai de personnalisme réaliste, Paris: PUF 1954. Genau genommen ist es kaum mehr als der erste Teil, welcher in Gänze der kritischen Untersuchung der Bergson’schen Freiheiten gewidmet ist.

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Einleitung

Ichs, sich in das historische Werden einzuordnen und sich durch die Beziehung zum Anderen im Wir zu verorten. Auf diese Weise wollen wir, in der jeweiligen Praxis, den realen Sinn der Befreiung begreifen. [11] Es stellt sich die Frage: Warum gehen wir vom Bergsonismus aus? Ist diese Wahl nicht willkürlich? Diese Wahl ist durch das Wesen unseres Forschungsgegenstandes selbst bestimmt worden. Da es sich ja um eine Untersuchung handelt, die am Schnittpunkt der großen Denkwege der Moderne entsteht, war – besonders in Frankreich – die Begegnung mit dem Bergsonismus unausweichlich. Seit dem Beginn des Jahrhunderts bewegt sich das ganze französische Denken in einer Atmosphäre, die mit Themen Bergsons gesättigt ist. Denken wir besonders an die letzten 25 Jahre. Emmanuel Mouniers Personalismus zählt das Werk Bergsons zu seinen unmittelbaren Quel3 len. Wir verweisen dafür auf Beispiele, die wir an anderer Stelle geben. Wir werden auch wiederholt einen Vergleich bestimmter Analysen Sartres mit wichtigen Ideen des Bergsonismus anstellen, obwohl der Exis4 tenzialismus sich generell nicht auf Bergson berufen will. [12] Auf den ersten Blick scheint es, dass die dritte große Strömung, der Marxismus, außerhalb jedes Bergson’schen Einflusses, sei er direkt oder indirekt (historisch gesehen übrigens unmöglich), liegt. Und doch kann man den Bergsonismus mit dem Marxismus in Frankreich (trotz der unterschiedlichen Natur ihrer Prinzipien) in Verbindung bringen. Denn es lässt sich leicht feststellen, dass auch die französischen Marxisten bergsonistisch denken und vor allem gedacht haben, bevor sie die Phänomenologie und die Existenzphilosophien bekämpften. Das Buch L’Existentialisme, in dem der Theoretiker des Marxismus in Frankreich, 3 4

Vgl. De l’être à la personne, der dem Personalismus Mouniers und Lacroix’ gewidmete Teil, S. 97-104 und passim. Vgl. Auguste Cornu: Bergsonisme et Existentialisme, in: L’activité philosophique en France et en Amérique, Bd. 2, Paris: PUF 1950. Der Existentialismus ist für den Autor im Wesentlichen die Weiterführung der Philosophie Bergsons: „Der Übergang vom objektiven [Hegelianischen] Idealismus zum subjektiven Spiritualismus ist durch Bergson vollzogen worden, der dadurch dem Existentialismus den Weg bereitet hat.“ (S. 170). Man könnte in gleicher Weise die Unterscheidung Sartres zwischen dem „für sich“ und dem „an sich“ derjenigen Bergsons zwischen dem „Tiefen-Ich“ und dem „Oberflächen-Ich“ annähern, obgleich sich beide Philosophien in zwei klar unterschiedenen Bereichen einordnen.

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Einleitung

Henri Lefebvre, sich die Phänomenologie und das Denken Heideggers 5 und Sartres vornimmt, ist erst 1946, und das von Henri Mougin, La sain6 te famille existentialiste, 1947 erschienen. Aber Arouet alias Georges Po7 litzer hatte sein Pamphlet gegen Bergson schon 1929 verfasst. Dies ist nichts Erstaunliches; es handelt sich, in der Geschichte des marxistischen Denkens in Frankreich, um eine Dialektik, [13] in der der Bergso8 nismus gewissermaßen die Rolle des Moments der Negation erhält. Zwei Punkte ergeben sich also aus dem Gesagten: 1. Das gesamte französische Denken, seit Beginn des Jahrhunderts, ist durch den Bergsonismus direkt oder indirekt beeinflusst. 2. Die Gegner des Bergsonismus bedürfen seiner ebenso wie seine Anhänger. Damit wäre die Gültigkeit unserer Wahl gerechtfertigt. Natürlich hat der Bergsonismus nicht alle Themen seiner Zeit erörtert (was übrigens für jede Philosophie unmöglich ist), aber er hat einen großen Teil dieser Themen umfasst. Und wenn das, was er abgedeckt hat, sich den Kritikern ausgesetzt sieht, dann in dem Maße, wie die historische Entwicklung Neues, Unvorhergesehenes hervorgebracht hat und in einer Epoche anderes erscheinen lässt, als ihr selbst zu sehen möglich war. Daher beurteilen wir, indem wir die abgelaufene Epoche aus einer neuen Perspektive bewerten, den Bergsonismus mit anderen Normen, als Bergson und seine Zeitgenossen es getan hätten. Der Misserfolg und die

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Henri Lefebvre: L’Existentialisme, Paris: Éditions du Sagittaire 1946. Henri Mougin: La sainte famille existentialiste, Paris: Éditions sociales 1947. Im selben Jahr erschien in demselben Verlagshaus das Pamphlet von Jean Kanapa: L’existentialisme n’est pas un humanisme, Paris: Éditions sociales 1947 (Collection „Problèmes“). Vgl. François Arouet: La Fin d’une parade philosophique : le bergsonisme, Paris: Les Revues 1929 [Georges Politzer hat diese Schrift unter vorstehendem Pseudonym veröffentlicht]. Wiederveröffentlichung: Georges Politzer: Le bergsonisme, une mystification philosophique, Paris: Éditions sociales 1947 (Collection „Problèmes“) [Neuauflage: Georges Politzer: Le bergsonisme, une mystification philosophique, in: Ders.: Contre Bergson et quelques autres. Präsentiert und kommentiert durch Roger Bruyeron, Paris: Flammarion 2013 (Champs essais), S. 127-133]. In dieser Hinsicht ist auch der Fall von Georges Sorel sehr interessant, der gleichzeitig unter dem Einfluss des Marxismus-Leninismus und Bergsons stand.

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Einleitung

Versäumnisse [14] mindern daher in keiner Weise Bergsons Rang als einer der größten Beleber des modernen Denkens. Ein anderer Grund hat uns in unserer Wahl geleitet. Wenn der „realistische Personalismus“ auf der Suche nach einer Philosophie der Befreiung ist, wie können wir da nicht den Bergsonismus in Betracht ziehen, der sich in der Moderne als die Verteidigung der Freiheit des Geistes schlechthin darstellt? Das sind die beiden Hauptgründe, um derentwillen wir vom Bergsonismus ausgehen. Wie jedoch Handlung, Geschichte und Leben die reine Spekulation übersteigen, so haben wir es als notwendig erachtet, über die Bergson’schen Freiheiten hinauszugehen. Eine Sache ist es nämlich, eine Philosophie zu durchlaufen, eine andere ist es, mit ihr zu enden. Im Licht des Bergsonismus haben wir gewisse Aspekte des Problems der Befreiung verstanden, aber eben nur gewisse. Wir werden zuerst zeigen, dass es nicht nur eine Freiheit bei Bergson gibt, sondern mehrere; dann, dass diese Freiheiten – eine nach der anderen – unzureichend sind, und dass sie auch in ihrer Gesamtheit unvollständig sind. Unsere Anstrengungen werden sich auf diese beiden Aspekte des Problems konzentrieren.

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Erster Teil: Auf der Suche nach den Bergson’schen Freiheiten

[17] Metaphysiker, Wissenschaftler, Ethiker, Theologen, Ökonomen – alle sind auf das Problem der Freiheit gestoßen und sind ihm mit den Mitteln begegnet, die ihnen in ihren jeweiligen Disziplinen zur Verfügung stehen. Noch in unseren Tagen bleibt das Problem aktuell. Niemals hat man so viel von Freiheit und Determinismus gesprochen, auf allen Sinnebenen und in allen Bereichen, wie in unserer Zeit. Man diskutiert selbst den freien Willen des Elektrons! Daher muss man von Freiheiten sprechen und keinesfalls von der Freiheit. Eine Arbeit über die Freiheit muss diese Freiheit (oder Freiheiten), über die sie handelt, genau bestimmen. Wir nehmen uns vor, uns auf die Freiheiten des menschlichen Wesens – und zwar des menschlichen Wesens unserer Zeit – zu beschränken, im Gegensatz zu den Freiheiten im Allgemeinen und der absoluten Freiheit. Es wird darum gehen, zu zeigen, dass die Freiheit weder ein Attribut noch ein fester und unwandelbarer „Besitz“, eine ursprüngliche Tatsache, ist, sondern eine fortschreitende Errungenschaft und eine Totalität.

Kapitel 1: Im Bergsonismus führt alles zur Freiheit [19] Die Freiheit ist die Grundthese bei Bergson. Sein ganzes Werk ist darauf zurückzuführen. Während L’essai sur les donnés immédiates de la conscience [Versuch über das dem Bewusstsein unmittelbar Gegebene] eine Theorie der Freiheit ist, Theorie einer subjektiven Freiheit, so beschäftigt sich Matière et mémoire [Materie und Gedächtnis] mit der Freiheit in Aktion. Das erste Werk analysiert die inneren Hindernisse, welchen die Freiheit begegnet, das zweite untersucht die äußeren Behinderungen, auf die sie stößt. Ein drittes Buch, L’évolution créatrice [Schöpferische Entwicklung] beschäftigt sich mit der Beschreibung der Hindernisse, denen das Leben als Ganzes überall begegnet. Es handelt sich vor allem um tatsächliche durch den „élan vital“ [„Lebensschwung“] in das Universum eingeführte Veränderungen: Wir schauen dem Leben bei der Arbeit zu. In einem vierten großen Werk schließlich, Les deux sources de la morale et de la religion [Die beiden Quellen der Moral und der Religion], wandelt sich ein 49

Erster Teil: Auf der Suche nach den Bergson’schen Freiheiten

Aspekt des „élan vital“ in Erstarrung der Freiheit innerhalb der statischen Religion und Moral: Die Freiheit [20] hebt an, erstarrt, um wieder anzuheben und wieder zu erstarren, und so fort. Es handelt sich also für Bergson um eine Autonomie, die er als natürliche und unmittelbare „Gegebenheit“ begreift. Seine Analyse wird uns nicht nur erlauben, die Konzeption der menschlichen Freiheit als Spontaneität zu verstehen, sondern wird uns auch den Weg darüber hinaus auf die fortschreitende Erlangung der Befreiung hin öffnen. Bergson hat die spiritualistische Bewegung seiner Zeit gut widergespiegelt – die Reaktion gegen den Szientismus, und hier hat man ihm viel zu verdanken –, aber das ist nur einer der Aspekte der Wahrheit des 19. und 20. Jahrhunderts. Die industrielle Zivilisation stellt vor sehr komplexe Probleme; der Bergsonismus ist der Lösungsversuch für eines von ihnen. Indem er das Bewusstsein als gemeinsame Quelle der Intuition und 1 des Intellekts annimmt, gleichzeitig der Materie und des Lebens, vollzieht Bergson eine allzu systematische Reduktion der menschlichen Welt; wir sind nicht nur Subjektivität, reines Bewusstsein, sondern Be2 wusstsein von, … in, … und mit anderen Bewusstseinen. Das Leben stellt 3 sich nicht als „das durch die Materie geschossene Bewusstsein“ dar, sondern eher als das Bewusstsein der Kämpfe gegen die Materie, um sie zu verändern, und gegen unsere eigene Natur, um sie zu beherrschen. Jede Gesellschaft hat – zu einer gegebenen Zeit – ein Bewusstsein des Kampfes, welches [21] den technischen und ideologischen Mitteln entspricht, mit denen sie ausgerüstet ist. Der Philosoph spielt eine große Rolle in der Bereitstellung der Kampfmittel, er weckt das Bewusstsein der Gesellschaft und deckt die Wahrheit seiner Epoche auf. Und von dem Zeitpunkt an, wo er sich für die Erledigung dieser Aufgaben einsetzt, sorgsam die Wahrheit zu verbreiten, die er bekennt, findet er sich verpflichtet, sich zu erklären und seine Positionen zu verteidigen: Er ist ein Sozialkritiker und permanenter Aktivist. Er stellt sich gegen die Ideologie, die der gegenwärtigen Situation nicht mehr entspricht, hebt deren Fehler und überholte Teile ebenso hervor wie die Neuheiten, die seine ei1 2 3

L’évolution créatrice, S. 194, 203, 258 [NE S. 179, S. 186, S. 238-239; Ü S. 205-206, S. 213, S. 270-271]. Siehe unten S. [222] und vgl. De l’être à la personne, 1. Teil, Kapitel 1, II, III und IV [S. 20-47]. [L’évolution créatrice, NE S. 183; Ü S. 209]

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Kapitel 1: Im Bergsonismus führt alles zur Freiheit

gene Philosophie mitbringt, um seine Mitmenschen in ihren Kämpfen für die Befreiung besser zu wappnen. Der Bergsonismus hat eine Reihe von Angriffen ausgelöst und ist selbst Gegenstand vieler Angriffe gewesen: Wenn er eine mächtige Bewegung der Ideen angeregt hat, so beschränkt sich diese philosophische Erneuerung auf gewisse Universitäts- und Intellektuellenkreise. Denn Bergson hat sich nicht mit eigentlichen sozialen Fragen beschäftigt. Ohne Zweifel muss die Philosophie Philosophie bleiben, das heißt man muss in ihr das Menschliche berühren und ausdrücken. Aber der Philosoph kann nur dorthin gelangen, wenn sein System dieses Menschliche durch die Wahrheit einer gegebenen Epoche hindurch freilegt, wenn er das genaue Bewusstsein dessen erlangt, was „ist“. Im Analysieren des Lebens, im Erklären und im Beschreiben dessen, was ist, und dessen, was man tun muss, beschleunigt der Philosoph die Bewegung der Emanzipation des Menschen im Kampf gegen die Materie und seine Natur. Das Problem der Befreiung ist nicht das Problem [22] eines Menschen vor seinem Bewusstsein, wie bei Hamlet vor dem Phantom seines Vaters, oder eines völlig isolierten Menschen wie Robinson, bevor er Freitag traf – es ist vielmehr das Problem des in der Gesellschaft und in der Natur engagierten menschlichen Wesens. Im Bergsonismus stellt sich das Problem der Freiheit als ein Umfassendes, das sich entwickelt hat, ohne jedoch sein Wesen zu verändern. Aber man könnte bei Bergson genau genommen kein privilegiertes Zentrum finden, in dem die großen Themenrichtungen, deren Verlauf die definitiven Umrisse der Freiheit zeichneten, zusammen kämen. Man kann nur vereinzelte Schnitte machen oder eine annähernd summierende Sicht freilegen. Das Paradox liegt in der Natur des Problems selbst. Tatsächlich ist die Freiheit eine komplexe Realität, und alles Komplexe bleibt nur dadurch es selbst, dass es sich niemals ganz unter einem einzigen Aspekt darbietet. Daher sprechen wir von Freiheiten und nicht von einer Freiheit. Man findet bei Bergson gewisse unterschiedliche Aspekte derselben Freiheit. Aber es scheint uns, dass es mehr sind als Varianten, es gibt Unterschiede der Natur nach. Die Analyse dieses Punktes wird uns im Laufe unserer Untersuchung erlauben, die Grundlagen der Befreiung hervorzuheben, wo die verschiedenen gegenläufigen Aspekte der Freiheiten zu einer Synthese, gegenseitiger Befruchtung und Selbstüberschreitung gelangen. 51

Erster Teil: Auf der Suche nach den Bergson’schen Freiheiten

[23] Wir haben bereits signalisiert, dass der gesamte Bergsonismus auf 4 die Freiheit zuläuft. Gleichwohl wird man auf verschiedenen Wegen dorthin geführt. An gewissen Punkten ist die Freiheit Selbstgegenwart (Essai) (das Ich enthält die Potentialitäten, die es ihm erlaubten, seine eigenen Grenzen zu übersteigen), an anderen Stellen wird sie eine Wahl (Matière et mémoire) oder eine Spontaneität (L’évolution créatrice) und ein Appell (Les 5 deux sources). Bergson hält an diesem doppelten Charakter der Freiheit fest, die gleichzeitig Spannung und Wahlvermögen zwischen zwei in gleicher Weise möglichen Handlungen ist (Matière et mémoire). Er begreift jedoch dieses Vermögen als ein „rein symbolisches“ Schema und sieht „eine wahrhafte Zweiteilung unserer psychischen Aktivität im 6 Raum“, denn allein der Raum erlaubt, zwei unterschiedliche Wege zu ersinnen, die koexistieren. Die bewusste Aktivität ist jedoch eine Sache, die „andauert“. Man sieht also nicht, wie sie mit der Gleichzeitigkeit oder dem Raum verbunden sein könnte. [24] Hier stellt sich nun das Problem der Wahl. Liegt das freie Handeln in der Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten? Bergson antwortet: Nein. Nach ihm muss man die Freiheit „in einer bestimmten Schattierung oder Qualität der Handlung selbst und nicht in einer Beziehung dieses Aktes zu dem, was er nicht ist, oder zu dem, was er hätte 7 sein können“, suchen. Bergsons Definition der Dauer schließt die Repräsentation des Möglichen und des Zukünftigen aus. Die ganze Wirklichkeit des Ich ist in der Dauer selbst enthalten. Denn das noch nicht seiende Mögliche ist nichts. Auf der anderen Seite behauptet Bergson die Ohnmacht der konzeptuellen Erkenntnis, die freie Aktivität übersetzen zu können: Diese Erkenntnis würde nirgendwo mit dem Wirklichen korrespondieren. Wenn nämlich der Assoziationismus eine Verbindung zwischen den Begriffen und 4

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Daher teilen wir nicht die Ansicht einiger Autoren (wie Albert Thibaudet), nach denen die Freiheit nur ein untergeordnetes Thema innerhalb des Bergsonismus ist: „Es wäre zweifellos ungenau zu sagen, die Philosophie Bergsons habe sich um das Problem der Freiheit herum entwickelt. Selbst in seiner Dissertation über die Données immédiates wird die Freiheit nicht als erstrangiges und wesentliches Problem gesehen.“ Albert Thibaudet: Le bergsonisme. 2 Bde., Paris: Gallimard 21923 (Trente ans de vie française 3), Bd. 1, S. 241-242. Diese kurzen Ausführungen werden ihre Begründung im Fortgang unserer Darlegungen finden. Essai, S. 137 [NE S. 135; Ü S. 160]. Essai, S. 146 [NE S. 137; Ü S. 162].

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Kapitel 1: Im Bergsonismus führt alles zur Freiheit

dem Induktionsbegriff herstellt (durch zeitliche oder räumliche Nähe oder durch jeden anderen Vorgang), oder wenn das Subjekt zögert und überlegt, bevor es eine Entscheidung trifft (das Für und Wider abwä gend), tut es so, als handelte es sich um Dinge, die sich im Raum befinden, und führt die Vielheit in das ein, was eins ist und außerhalb des Raumes. Im Essai ist allein derjenige frei, der „die Kruste abwerfen und sehen“ kann, der dahin kommt, mit sich selbst eins zu sein, das Tiefen-Ich zu läutern und es von jeder äußeren Verunreinigung zu säubern. Frei zu sein heißt, man selbst zu sein. Denn dadurch, [25] dass man sich wieder in die Dauer versetzt, übernimmt man auch wieder den Besitz seines 8 Selbst. Und man handelt frei. Diese Dauer, das ist „die Form, die das Aufeinanderfolgen unserer Bewusstseinszustände annimmt, wenn unser Ich sich leben lässt, wenn es darauf verzichtet, eine Trennung zwischen dem gegenwärtigen Zu9 stand und den früheren Zuständen herzustellen.“ In Matière et mémoire hingegen ist die Freiheit in der Wahrnehmung impliziert: Derjenige, der wahrnehmen kann, ist auch derjenige, der wählen, das heißt eine gewisse Freiheit genießen kann. Ein strenges Gesetz verbindet die Intensität der Handlung mit dem Konzentrationsgrad der Wahrnehmung. Einer größeren Spannung entspricht ein breiteres Handlungsfeld. Und es ist diese Intensität der Spannung, die die Wahrnehmung bewusst macht. Die größere oder geringere Lebensintensität drückt sich in der größeren oder geringeren Intensität der Dauer der Lebewesen aus; sie bestimmt die Konzentrationskraft ihrer Wahrnehmung und den Grad ihrer Freiheit derart, dass „die Unabhängigkeit ihres Einwirkens auf die umgebende Materie immer deutlicher in Erscheinung tritt, je mehr sie sich von dem 10 Rhythmus befreien, in dem diese Materie dahinfließt.“ Aber die Selbständigkeit unserer Wirkung auf die Materie ist in beträchtlichem Maße durch die Tatsache begrenzt, dass wir selbst Körper und damit Materie sind. Die drei ersten Kapitel von Matière et mémoire, dem Werk, dessen Ziel es ist, die Beziehung zwischen Körper und Geist genauer zu fassen, führen zu dieser allgemeinen Schlussfolgerung, [26] „dass die wesentliche Funktion des immer auf die Handlung ausgerichteten Körpers darin 8 Vgl. Essai, S. 147 [NE S. 137; Ü S. 162]. 9 Ebd., S. 76 [NE S. 74-75; Ü S. 91-92]. 10 [Matière et mémoire, NE S. 236; Ü S. 261]

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Erster Teil: Auf der Suche nach den Bergson’schen Freiheiten

besteht, das Leben des Geistes im Hinblick auf die Handlung zu be11 schränken.“ Denn unterhalb der Prinzipien der Spekulation „gibt es“, nach Bergson, „jene Tendenzen, deren Studium man vernachlässigt hat und die sich schlicht durch die Notwendigkeit zu leben, das heißt in 12 Wirklichkeit: zu handeln, erklären.“ Während im Essai das Bewusstsein mit dem Tiefen-Ich identifiziert wurde, so ist es in Matière et mémoire Wahl. Die Rolle, die dem Verstand zugewiesen wird, scheint größer geworden zu sein. Mit L’évolution créatrice spürt man eine Veränderung des Entwurfs: Es gibt eine reine und einfache Freiheit, die mit dem Leben selbst in eins fällt, auch wenn sie nicht bewusst ist. Die Freiheit von Les deux sources schließlich, diejenige der Inspirierten, kommt aus dem Leben, sie ist Einwilligung in das Leben wie bei Malebranche. Frei sein heißt nach Les deux sources „man selbst sein“ (wie im Essai), aber man-selbst-sein in der Kommunikation mit anderen. Allein diese Kommunikation, ganz dafür da, neue bereichernde Elemente an das Ich heranzuführen, scheint dort eine gewisse Dualität einzuführen. Denn Bergson konstituiert nicht das Wir, das Soziale, als Dimension der Person. In Le Rire ist die Art der Dualität noch ausgeprägter: Sie wird Gegensatz, in dem sich die beiden Begriffe per Definition ausschließen: „Etwas 13 Mechanisches überdeckt etwas Lebendiges.“ Man lacht nicht über eine [27] Maschine, die nur eine Maschine ist. Man lacht über das Zweideutige. Und wenn wir über die Zweideutigkeiten lachen, heißt das, dass wir ihnen gegenüber unabhängig sind. So gibt es eine aufsteigende Stufenfolge von der Spontaneitäts-Freiheit des Essai zu der von Les deux sources, welche die Vollendung und Synthese der Bergson’schen Freiheiten ist: 1. Die Freiheit fällt mit dem „Tiefen-Ich“ zusammen (Essai). 2. Sie beherrscht den Körper (Matière et mémoire). 3. Sie fällt mit dem „élan vital“ zusammen (L’évolution créatrice). 4. Sie wird Handlung bei den Inspirierten (Les deux sources). In diesem letzten Stadium erreicht die Freiheit die höchste Stufe der Entfaltung. Die Freiheit des Inspirierten fällt mit seinem Tiefen-Ich zusam11 Matière et mémoire, S. 197 [NE S. 199; Ü S. 223]. 12 Ebd., S. 220. [NE S. 221; Ü S. 246]. 13 [Le Rire, NE S. 38; Ü S. 41]

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Kapitel 1: Im Bergsonismus führt alles zur Freiheit

men, beherrscht seinen Körper; sie wird gleichzeitig Intuition, Lebensschwung [élan vital] und Emotion der offenen Seele.

Kapitel 2: Charakteristika der Bergson’schen Freiheit [28] In all diesen Bedeutungen der Freiheit und trotz der Nuancen, die sie unterscheiden, findet man drei wesentliche gemeinsame Charakteristika: Es handelt sich jeweils um eine innere, abstrakte und allgemeine Freiheit.

1. Eine rein innere Freiheit Der Essai definiert die Freiheit als „das Verhältnis des konkreten Ichs zu 14 dem Akt, den es vollzieht.“ Es wird darum gehen zu betrachten, was Bergson unter „konkretem Ich“ versteht, und dann, worin die Beziehung zwischen diesem konkreten Ich und dem Akt besteht. Es gibt dem Bergsonismus zufolge zwei Ichs. Zuerst jenes, an das sich z. B. der Assoziationismus hängt: ein unpersönliches Ich, das durch äußere Einflüsse geformt wird (eine Anhäufung von Bewusstseinsfakten: [29] Sinneswahrnehmungen, Gefühlen und Ideen). Dieses unpersönliche, oberflächliche Ich wäre nicht frei. Aber es gibt ein zweites Ich, jenes, welches die Eigentümlichkeiten unseres Wesens konstituiert: Das ist unser inneres Ich. Allein dieses letztere kann frei sein, weil die Freiheit die Bestimmung des Ich durch das Ich ganz allein ist. Das innere oder konkrete Ich fühlt sich daher als Ursache und Wirkung in jedem seiner freien Akte. Was die Beziehung dieses konkreten Ichs zum Akt betrifft, so ist sie 15 nach Bergson undefinierbar, „eben gerade weil wir frei sind.“ Diese Beziehung ist eine Verbindung zwischen den vollzogenen Akten und einem Ich im Werden. Nun: „Ein Ding nämlich analysiert man, nicht aber einen 16 Fortschritt; man zerlegt Ausgedehntheit, nicht aber Dauer“. Hier liegt der Grund, warum man die Beziehung zwischen dem Ich und dem Akt nicht definieren kann, ohne die psychische Aktivität zu stereotypisieren und ohne darin die Spontaneität zu lähmen und sie auf Untätigkeit zu reduzieren. 14 Essai, S. 165 [NE S. 165; Ü S. 192]. 15 Ebd., S. 165 [NE S. 165; Ü S. 192]. 16 [Essai, NE S. 165; Ü S. 192]

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Erster Teil: Auf der Suche nach den Bergson’schen Freiheiten

Man muss dem Ich vertrauen, weil es sich in seinen unmittelbaren und unfehlbaren Feststellungen frei fühlt und dies äußert; aber sobald das Ich seine Freiheit zu erklären sucht, „gewahrt es sich nur noch in ei17 ner Art Brechung durch den Raum“. Der freie Akt ist nicht sagbarer als das Tiefen-Ich, aus dem er hervorgeht. Und er ist unaussprechbar, weil er eben frei ist. Wie die Beziehung, die sie „definiert“, bleibt die Freiheit undefinierbar. Der Versuch, sie zu definieren, bedeutet die Einführung 18 des Determinismus in das psychologische Leben. Nur [30] der Determinismus bezieht sich auf die räumlich aufteilbare Zeit, während die Dauer dem Determinismus gerade dadurch entkommt, dass sie sich nicht angemessen durch den Raum abbildet. Das zeigt, warum die Idee der Freiheit nicht in Sprache übersetzbar ist: Sie ist innerlich, wogegen die Sprache ein Instrument ist, das gemacht wurde, um die äußere Welt auszudrücken. Nun verschlechtert sich unsere Freiheit mit jedem Mal, in dem sich eine der unmittelbaren Gegebenheiten des „Tiefen-Ich“ durch den Kontakt mit der äußeren Welt infiziert findet. Die Freiheit wird so zu einer „Tatsache“, deren man sich bewusst ist, die aber jeder verstandesmäßigen Erkenntnis entkommt. Man erkennt die Freiheit durch Intuition: die Freiheit ist „eine Tatsache, und unter den 19 Tatsachen, die man erkennt, gibt es keine klarere.“ Was ist über diese zutiefst innere Freiheit zu denken? Der Bergsonismus scheint uns zu einem gewissen „Isolationismus“ einzuladen, in dem uns ausschließlich unser Bewusstsein beschäftigt, da es der alleinige Sitz der wirklichen Dauer und damit der Freiheit ist. Diese Konzeption bricht nämlich die Brücken mit den anderen Bewusstseinen, mit der konstanten primordialen Sozialbeziehung ab, ohne die das Tiefen-Ich keine Tiefe hätte und sich über der Leere öffnete [31] (Conscience [frz. Bewusstsein] kommt von conscientia: Erkenntnis von etwas, 20 geteilt mit jemandem, gemeinsame Erkenntnis). Das Bewusstsein be17 18 19 20

Ebd., S. 140 [NE S. 137; Ü S. 162]. Siehe unten, S. [38]. Essai, S. 166 [NE S. 166; Ü S. 193]. In seinen Fondements de la morale et de la religion schreibt Maine de Biran: „Das Wort Bewusstein [frz. conscience] (conscium) ist ein zusammengesetzter Begriff, der die Beziehung zwischen zwei Elementen ausdrücken soll […]. Es (das Subjekt) kann nur fühlen und wissen in Verbindung mit einem ihm ähnlichen Wesen …“ Maine de Biran: Fragments relatifs aux fondements de la morale et de la religion, in: Ders.: Œuvres choisies. Hg. von Henri Gouhier. Paris: Aubier-Mon-

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Kapitel 2: Charakteristika der Bergson’schen Freiheit

zeugt sowohl die wirkliche Existenz der äußeren Welt als auch deren direkte Einflüsse auf unsere innere Welt. Bergson betrachtet die Zustände der Seele wie Einheiten, von denen sich die einen von den anderen nur durch den Grad ihrer Intensität unterscheiden. In ihrer Vielfalt verlaufen sie in der psychologischen Zeit – der Dauer – und konstituieren so eine einzige Wirklichkeit trotz der Vielfalt. Wenn jedoch in einer Philosophie wie der des Heraklit der Kampf der Gegensätze überwunden wird, weil die Vielheit ein Element ist, das in die Konstitution der Einheit eingeht, so wird bei Bergson die Dualität der zwei Ichs nicht überwunden, weil es ein Ich gibt, welches das andere entstellt; das Oberflächen-Ich verhüllt unser Tiefen-Ich. Der Bergson’sche Gesichtspunkt wäre stichhaltig, wenn die ins Extreme getriebene Trennung unseres Wesens in oberflächliches und fundamentales Ich [32] nicht künstlich wäre. Wo beginnen die Grenzen des einen und des anderen und wo enden sie? Wenn das fundamentale Ich in Bewegung, im Fortschreiten ist, dann hat es keine Konturen. Der Ausgangspunkt ist das Leben und die letzte Grenze kann nur der Tod sein. Die Existenzialisten sagen: Was der Mensch ist, ist sein Projekt; und am Tag des letzten Projekts hört der Mensch auf zu leben. Nach dem Tod 21 fällt man in den öffentlichen Bereich (Geschlossene Gesellschaf). Aber wenn es einen letzten Zeitpunkt für die Dauer wie für das Projekt gibt, muss es auch einen Anfang geben. Für das Projekt ist es der Moment der Wahl und des Engagements. Aber wie den Beginn des „Tiefen-Ich“ abgrenzen? Muss man nach der Konzeption einiger Freudianer vorgeburtliche Ursprünge annehmen? Geschieht es dadurch, dass wir uns unserer Innerlichkeit bewusst werden? Aber es ist nicht allen gegeben, auf vollkommene und angeborene Weise dem „Tiefen-Ich“ anzugehören. Es erfordert ein Lernen ab einer gewissen geistigen Stufe und einem gewissen

taigne 1942, S. 255-284, hier S. 258. Eine andere Interpretation sieht in dem Cum ein Präfix, welches anzeigt, dass die Beziehung zwischen inneren Elementen besteht, nicht sozialen. Vgl. Maurice Pradines: Traité de psychologie générale, Bd. 1: Le psychisme élémentaire, Paris: PUF 21946: „Das Bewusstsein ist eine Bündelung, eine Organisation von Erkenntnissen (cum scire), d.h. eine vollendete, intentionale, einem Plan folgende, vereinheitlichende Operation.“ (S. 6). Daher: „Sich eines Zustands bewusst sein, heißt, sich in planvoller Einheit mit anderen Zuständen (cum scire) zu fühlen. Buchstabengetreu […] kann es nur Gruppen von bewussten Zuständen geben …“ (S. 7). 21 Anspielung auf Sartres Roman Huis clos (Geschlossene Gesellschaf).

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Erster Teil: Auf der Suche nach den Bergson’schen Freiheiten

Aufmerksamkeitsgrad. Man müsste das Alter des Subjekts und überdies seine geistige Reife bestimmen. Wie das Vermögen des diskursiven oder auch des intuitiven Verstehens, so entwickelt sich die Konzentrationsleistung durch Übung und Gewohnheit. Wenn nun diese vor allem eine Gesamtheit von Begabungen ist, die sich organisch entwickeln, ist sie dennoch eine soziale Tatsache, und dadurch hat sie am „Ich der Oberfläche“ Teil. Es scheint uns, dass es keinen Gegensatz der beiden Ichs gibt, sondern dass es ein einziges gibt, dessen Tiefen man nach und nach erforschen kann. Innen und Außen sind untrennbar. [33] Die Welt ist ganz im Innen und ich bin ganz außer mir (Heidegger). Wenn man das Problem aus diesem Blickwinkel betrachtet, dann verschwindet die Dualität, und an die Stelle der schweren Gefahr einer Verunreinigung des Ichs durch ein anderes, an die Stelle zweier feindlicher Brüder, tritt das eine als die Ergänzung des anderen, oder man wird dar in nur noch ein Ganzes mit unterschiedlichen Beleuchtungsgraden sehen. Der Randstein, der Brunnenschacht und die Wasseroberfläche formen nur eine einzige Sache: den Brunnen. Man taucht seinen Eimer niemals direkt, „unmittelbar“, in das Wasser, man muss die reale Existenz eines Randsteins, eines Rohrs und einer Dunkelheit berücksichtigen. Die Laterne, das Seil, der Eimer und die Anstrengung des Wasserschöpfens, das alles kommt von außen. Zur Vervollständigung unseres Vergleichs sagen wir, dass das Wasser selbst von außen kommt, bevor es sich auf dem Grund des Brunnens sammelt. Die äußere Welt gibt der inneren Welt sowohl den Inhalt als auch die Mittel, sie zu erforschen. Es gibt also nur ein totales Ich mit zwei Seiten. Es ist nicht unsere Innerlichkeit, die unser Wesen ausmacht, es ist auch nicht unsere Äußerlichkeit, sondern ihre Gesamtheit, das totale Ich. Es gibt nicht die psychologische Realität des menschlichen Wesens ohne physische und physiologische Unterstützung. Bergson scheint ein Binom rein ontologischer Ordnung zu setzen. Aber führt diese Voraussetzung nicht dazu, dass der Akt der Bewusstwerdung das „Innere“ verformt trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, die man getroffen hatte? Bergson ersetzt die mechanische Energie durch die geistige Energie, das unzusammenhängende Wesen der Empiristen durch ein veränderliches Wesen, „das aber, wenn von ihm gesagt wird, [34] es verströme sich, gleichfalls in dritter Person zur Be22 schreibung kommt.“ 22 Maurice Merleau-Ponty: La phénoménologie de la perception, Paris: Gallimard

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Kapitel 2: Charakteristika der Bergson’schen Freiheit

Ist es im Grunde nicht eine Freiheit, der wir erst in der „reinen Dauer“ begegnen? Da die ursprüngliche Reinheit der Dauer nur auf dem Teil von uns beruht, der andauert, ist sie eine unsichere Freiheit. Zuallererst gibt es die gemeinsamen Empfindungen, Gefühle, Eindrücke und Glaubensweisen, die man nur in der Gruppe fühlt und erlebt. Auf der anderen Seite ist der Mensch immer Mensch in einer Situation, einem Geschichtsmoment, dessen vielfältige Ereignisse sich in der quantitativ messbaren Zeit abspielen. Diese Trennung zwischen der Zeit und dem Raum unserer Geschichte, zwischen unseren Handlungsmodi einerseits und unserer Dauer (reine Qualität) und unserem Sozialleben andererseits, würde diese Freiheit des inneren Ichs auslöschen. In unseren Augen scheint Bergson die Freiheit nicht ausreichend unter dem Gesichtspunkt der Beziehungen des Menschen zu seiner Umwelt betrachtet zu haben. Seine Position ist sehr verständlich als Reaktion gegen den gar zu aufdringlichen Mechanismus, Szientismus und Positivismus des letzten Jahrhunderts. Hat der Spiritualismus seinerseits als Reaktion auf diese Tendenzen nicht auch übertrieben im gegenläufigen Sinn? Er lässt uns von einem Extrem ins andere übergehen. Die äußeren Faktoren [35] des Systems, welches er uns anbietet, übernehmen nur die Rolle, die „Reinheit der Dauer“ zu trüben, „das in Quantität“ wiederzugeben, „was Qualität ist“, „das, was gelebte Zeit ist, in Räumliches“ zu verwandeln, Spontaneität in Leblosigkeit umzuwandeln … Eine realistische Philosophie darf sich nicht völlig der Verdächtigung der äußeren Einflüsse hingeben, sondern muss sie als – gute oder schlechte – Realitäten annehmen und ihre Beziehungen zur Freiheit aufdecken. Unsere Verbindungen mit unseresgleichen in dem Stadium, in dem sich die Technik unserer Gesellschaft befindet, ihre Glaubenswei sen, ihre Sitten usw., nehmen einen großen Raum in der Konzeption ein, die wir uns vom Begriff der Freiheit machen. Die Freiheit, auch als „Idee 23 und Repräsentation“ betrachtet, besteht nämlich in Relation zu unserer Weltanschauung, unserer Kultur, unseren Lebensweisen, zu all dem, was unsere intellektuellen und praktischen Handlungen bestimmt. Wie der 1945, S. 72 [Ders.: Phänomenologie der Wahrnehmung. Übers. von Rudolf Boehm, Berlin: de Gruyter 1966, S. 83]. 23 „ … beim Menschen, einem denkenden Wesen, darf der freie Akt als eine Synthese von Gefühlen und Ideen bezeichnet werden, und die Evolution, die dorthin führt, als eine vernünftige Evolution“ (Matière et mémoire, S. 205) [NE S. 207; Ü S. 232].

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Mensch sich niemals als in „dieses Ich“ und in „jenes Ich“, in Dauer und Raum aufgeteilt präsentiert, sondern als Wesen, das in einer im ständigen Wandel befindlichen Umwelt lebt und Bedürfnisse zu befriedigen, Kämpfe zu führen hat, so muss man es so nehmen, wie es ist, als eine Totalität, und es in seinen Verbindungen mit den Freiheiten unter Rücksicht auf diese Totalität verorten. Es gibt wohl ein Schema der Totalität bei Bergson, [36] aber es wird in einem anderen Sinn verstanden. Das totale Ich ist grundsätzlich Innerlichkeit, nur eine vorhergehende Dichotomie verbleibt: Das Äußere vereinigt sich nicht mit dem Inneren, um eine Einheit, eine Totalität zu bilden, das Äußere ist einfache Äußerung des inneren Zustands, der „eine freie Handlung“ ist, „da das Ich allein ihr Autor gewesen sein wird, da sie 25 [die Freiheit] das gesamte Ich zum Ausdruck bringen wird“. Es gibt keine Rationalität, die den freien Akt steuert (in Molières Le Misanthrope ist 26 Alceste frei, weil sein Zorn seine ganze Persönlichkeit ausdrückt). Der Essai behauptet wohl, dass Freiheit und Persönlichkeit Synonyme sind, da doch der freie Akt derjenige ist, welcher „das ganze Ich“ ausdrückt. Dennoch tragen die von Bergson vorgetragenen Vorbehalte zu diesem Thema dazu bei, die Reichweite der Synonymie zu reduzieren: Sehr zahlreich sind die Personen, die „leben und sterben, ohne die wahre Freiheit 27 je gekannt zu haben.“ Übrigens sind die freien Akte „selten, sogar bei denen, die am ausgeprägtesten sich selbst zu beobachten und über das, 28 was sie tun, nachzudenken pflegen.“ Daher können wenige Menschen behaupten, frei zu sein. Die Freiheit hat also durch ihre Identität mit der Persönlichkeit und ihre Korrelation mit der Totalität nichts [37] gewonnen, da – wie Bergson sie begreift – diese Synonymie und diese Totalität 24 Das Tiefen-Ich und das Oberflächen-Ich stehen sich einige Male klar gegenüber. 25 26

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An anderen Stellen erscheint das Oberflächen-Ich nur als das verunreinigte Tiefen-Ich. Essai, S. 124-125 [NE S. 124-125; Ü S. 147]. Hinsichtlich dieser Konzeption der Totalität erinnert Henri Gouhier in seiner unveröffentlichten Vorlesung zur Agrégation an der Sorbonne (1950–51) über Matière et mémoire an diese Seite, wo Bergson selbst schreibt, dass „sie [die Seele, M.K.] sich selbst bestimmt“ (Essai, S. 126 [NE S. 124; Ü S. 147]), und bemerkt dann, dass, da das Schema der Totalität dasjenige der Diskontinuität impliziert, „man Bergson fragen kann: In welchem Augenblick erkennen Sie die Totalität des Ich?“ Essai, S. 128 [NE S. 125; Ü S. 148]. Ebd. [NE S. 126; Ü S. 149].

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die Freiheit doch zu umfangreich und gleichzeitig zu eingeschränkt präsentieren. Wenn nämlich der Autor des Essai den Bedarf für so viele Einschränkungen sieht, dann geschieht das genau deshalb, weil er die Bedeutung der subjektiven Freiheit in einem solchen Maße überdehnt hat, dass er sie mit dem ganzen Ich, dem Ich einiger Privilegierter, koinzidieren lässt. Um diese Art des Widerspruchs zu überwinden, hätte Bergson die Freiheit – so, wie sie übrigens in Wirklichkeit ist – nicht als Synonym der Persönlichkeit betrachten dürfen, sondern einfach als eine Di29 mension der Person. Man kann nicht, wie wir weiter sehen werden, von der Freiheit sprechen, sondern von Graden der Befreiung oder von Freiheiten, die in Proportion zum Format der Persönlichkeit stehen: Die Freiheit, die Freiheiten variieren entsprechend des Wissens, des Könnens, der historischen Situation, der Intelligenz und des Willens eines jeden Individuums: eine angemessene Freiheit. Um allen diesen Schwierigkeiten zu entkommen, empfiehlt uns Bergson, die Freiheit nicht zu definieren, denn sie zu definieren hieße, sie unwil30 lentlich zu leugnen. Jede Bestimmung der Freiheit gäbe dem Determinismus Recht. Diese Freiheit, die sich „per [38] definitionem“ nicht definiert, versteht Bergson wie eine Spontaneität, die man auch bei den Tieren finden könne, ja sogar bei den leblosen Wesen. Høffding hebt diesen Widerspruch hervor: „Man kann denn also nach Bergson die ‚Freiheit‘ nur behaupten, wenn man nicht sagt, was sie sei! Und doch hat er selbst die Freiheit definiert, wenn er ihr wesentliches Merkmal in der Kontinuität zwischen Vergangenheit und Zukunft findet … Bergson ist also selbst Determinist, nicht nur weil er die ‚Freiheit‘ definiert, sondern weil er sie 31 so definiert.“ Wie die Freiheit wesentlich reine Dauer ist, so lebt man die Freiheit, wie man die Dauer lebt. Aber ist das Leben nicht reicher als die Dauer? Bergson besteht sehr auf der Notwendigkeit, Aufeinanderfolge und Gleichzeitigkeit, Ausdehnung und Dauer zu trennen, was eine große Anstrengung bedeutet, und ist diese Trennung einmal erreicht, dann muss noch eine 29 Vgl. De l’être à la personne, 3. Teil: „Die Tiefendimensionen“. 30 Vgl. oben, S. [29]. 31 Harald Høffding: La pensée humaine, ses formes et ses problèmes. Übersetzt von

Jacques de Coussange, Paris: Félix Alcan 1911, S. 295 [Ders.: Der menschliche Gedanke, seine Formen und seine Aufgaben. Erweiterte Ausgabe der „Philosophie der Probleme“, Leipzig: O.R. Reisland 1911, S. 322].

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andere Anstrengung, die nicht weniger wichtig ist, unternommen werden: Es handelt sich um eine vertiefte Reflexion, um zum Ich der Dauer, zum Ich der Freiheit zu gelangen, welches uns ermöglicht, unsere inneren Zustände wie in ununterbrochener Umbildung befindliche lebende 32 Wesen zu erfassen. Sind wir dann im Besitz der Freiheit? Ja, sagt Bergson, unter der Bedingung, dass die Freiheit im „Tiefen-Ich“ verbleibt, welches man nur sehr schwer und in Ausnahmemomenten erreicht: „Deshalb sind wir sel33 ten frei.“ Es handelt sich also um eine Freiheit, die [39] nur einen Teil von uns, und dann auch nur unregelmäßig, erleuchtet. Das Postulat, das dem Bergsonismus eigen zu sein scheint, besteht nicht nur darin, die Möglichkeit der Aufspaltung unseres Wesens durch eine Tiefenreflexion anzunehmen, sondern die Gleichgültigkeit eines Ichs hinsichtlich eines anderen zu behaupten, was in anderen Worten heißt, zu glauben, sobald wir unsere inneren Zustände in ihrem Ablauf erfassten, hörte die Interaktion der zwei Ichs auf. Aber, so kann man sich fragen, hinterlässt nicht eine Form wenigstens einige Spuren an den Gegenständen, die sie enthält? Wir wollen damit sagen, dass man sich genau genommen zu keinem der so „seltenen“ Momente, in denen die Freiheit des Tiefen-Ichs unmittelbar begriffen wird, in der reinen Dauer eines Ichs ohne Bindung an das andere befindet. Es kommt uns nun so vor, dass das, was den Stoff des Lebens ausmacht, nicht die Dauer eines inneren Ichs ist, sondern die vertraute Interaktion des Inneren und des Äußeren, und dass die geringste Trennung, der geringste Konflikt zwischen den beiden Persönlichkeitskrisen, eine Fremdheit des Seins (mangelnde Anpassungsfähigkeit, Neurosen, Schizophrenie, Persönlichkeitserkrankungen usw.) auslöst. Ein derart tiefes Gefühl der Angst ist ein Alarmsignal, welches das innere Ich in seinem Kampf gegen das Über-Ich (das Soziale) aussendet. Die Spaltung bringt ein Gefühl der Leere hervor, ein Unbehagen, das aus dem Gegensatz des Psychischen und des Vitalen entsteht. Die „Verlassenheit“ der Existenzialisten ist die empfundene Leere, wenn man den Graben zwischen dem inneren Ich und dem Rest der Welt aushebt. Wir machen nichts anderes, als über die Existenz zu spekulieren, wenn wir die aktive und bewusste Existenz des gesellschaftlichen Lebens [40] aufgeben und uns in der Spontaneität und „Tiefe“ unseres Ichs einschließen. 32 Vgl. Essai, S. 174 [NE S. 173-174; Ü S. 202]. 33 [Essai, NE S. 174; Ü S. 202]

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Warum vom Gegensatz zweier Aspekte eines Ganzen ausgehen, die in der Realität immer miteinander verbunden sind? Durch welchen vom Tiefen-Ich ausgehenden Vorgang erschafft man die äußere Welt neu und begründet interpersonale Verbindungen? Wie kann man vorgeben, ein Ich zu verstehen, welches von seinen Aktivitäten in der gegenständlichen Welt getrennt ist? Bergson scheint, indem er die beiden Ichs auf derart radikale Weise trennt, uns sogleich vor eine beängstigende Freiheit zu stellen. Er holt Kierkegaard ein, bei dem sich die Begriffe der Freiheit und der Angst 34 vermischen. Und wie sich auf der anderen Seite für Kierkegaard die Angst mit der Erfahrung des Nichts vermischt, so würde sich die Freiheit ebenfalls nach dem Nichts ausstrecken (dem „Pseudo-Problem“ des Nichts, wie Bergson sagt). „Im Allgemeinen ist die moralische Angst“, so sagt er, „eine Störung der Beziehungen zwischen dem sozialen Ich und 35 dem individuellen Ich.“ Die Freiheit wäre in dem Maße, indem sie die Beziehungen des totalen Ich mit der es umgebenden Welt berücksichtigte, reale Freiheit. Sie ist unsere Freiheit, solange sie die Situationen aufklärt, welche diese Beziehungen hervorbringen, und hilft, uns zu befreien durch die Überwindung der inneren und äußeren Krisen, welche das Zusammenleben verursacht. Ist die Bergson’sche Freiheit tatsächlich aufklärend? Mit Sicherheit nicht, da sie „sich [41] gewissermaßen ohne unser Wissen in jedem Mo36 ment der Dauer in den dunklen Tiefen unseres Bewusstseins fortsetzt“. Und noch weiter: Das Gefühl der Dauer selbst kommt aus diesen dunklen Tiefen. Diese bilden das fundamentale Ich. Das in seinem Grunde dunkle Ich kann unsere Situationen und unsere Krisen nicht aufklären. Es könnte nicht der Führer in das Leben unseres totalen Seins sein. Kehren wir zum Oberflächen-Ich zurück. Es ergibt sich folgende Alternative: Entweder ist es das, was uns aufklärt, d. h. es ist das, was sich uns als Bewusstsein vorstellt und dadurch den Vorrang vor dem anderen haben muss, dem „wirklichen Ich“. Oder muss man die Hypothese des totalen Seins, der Interaktion aufstellen, und in diesem Fall wäre kein Ich fundamentaler als das andere. Sie besteht in der Interdependenz der beiden Ichs, die uns das Problem dieses besonderen Dualismus aufzulösen und uns den Königsweg zu öffnen scheint, der zur Befreiung führt. Es ist 34 Der Einfluss Kierkegaards auf Bergson ist nicht nachgewiesen. 35 Les deux sources, S. 10 [NE S. 10; Ü S. 13]. 36 Essai, S. 178 [NE S. 178, Fn. 1; Ü S. 207, Fn. 58].

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ein Weg, die Dualität zu überwinden und ein klares Bewusstsein unserer Akte zu erlangen. Unsere Freiheit misst sich an der Intensität dieses Lichts, welches uns erlaubt, zwischen den Möglichkeiten zu wählen. Die Repräsentation beim Kind ist anfangs unpersönlich. Erst mit zu37 nehmendem Alter, nach einer gewissen Entwicklung, wird sein eigener Körper zum Zentrum der Repräsentation, seiner Repräsentationen. Aus der Unterscheidung, die ich zwischen [42] einem privilegierten Körper, genannt „mein“ Körper, und anderen Körpern mache, erwachsen die Be38 griffe der Innerlichkeit und der Äußerlichkeit. Hieraus erwachsen einer Konzeption rein subjektiver Freiheiten in ihrer Entwicklung gewisse Hindernisse. Eine realistische Philosophie der Freiheit begreift sich als gemeinschaftliche und fortschreitende Anstrengung von Denkern, die sich gegenseitig ergänzen. Durch diese Anstrengung weitet sich in uns die Humanität und wir übersteigen uns selbst. Aber der Bergsonismus, der in seiner festen subjektivistischen Zitadelle derart eingeschlossen ist, schließt jede Zusammenarbeit aus. Und wenn die ursprüngliche Bewegung des Bergson’schen Geistes nicht ohne große Anstrengung die Hindernisse, auf die sie im Laufe seines Weges stößt, überwinden kann, so ist diese Anstrengung vor allem durch eklektische Haltungen und einen Willen zur Überwindung durch eine Art Auflösung der Probleme geprägt. Bergson geht nämlich fast immer von zwei entgegengesetzten Thesen aus, die er analysiert und danach überschreitet. Er zeichnet sich darin aus, die gemeinsamen Postulate in den beiden entgegengesetzten Thesen zu entdecken. In seinem ganzen Werk hat er versucht, Gegensätze nebeneinander zu stellen, um sie dann zu überwinden durch die Entfaltung einer ebenso einfallsreichen wie stetigen Anstrengung, die derjenigen Heraklits ähnelt. Im Gegensatz zu dem Philosophen aus Ephesus, der so stark [43] den dialektischen Aspekt von Gegensätzen betont hat, die durch das Gleichgewicht ihrer Spannungen harmonieren, hat Bergson allerdings lediglich den Gegensatz in sich selbst offen gelegt. Im Essai ist eine Spielart des Determinismus mit einer Spielart der Freiheit eine Verbindung eingegangen, um ein Gemisch zu bilden, ein Bewusstsein, das „dauert“, anpasst und angleicht: „Das lebende Wesen 37 Ungefähr am Ende des ersten Lebensjahres. 38 Bergson stimmt diesem Gedanken zu, vgl. Matière et mémoire, S. 45-46

[NE S. 46-47; Ü S. 50-51].

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wählt, oder es strebt danach zu wählen. In einer Welt, wo alles Übrige 39 determiniert ist, ist es von einer Zone der Indeterminiertheit umgeben.“ Der Essai beleuchtet die geistigen Bedingungen des freien Akts. Matière et mémoire vergeistigt gewissermaßen die Materie und passt in mancher Hinsicht den Geist der Materie an. Der freie Akt muss einem Körper angehören; das ist die Wirkung, welche das Denken auf die Welt haben kann. Kann auf der anderen Seite das, was sich entwickelt, erschaffen, das heißt: Kann das, was sich im Verändern fortsetzt, aus Nichts entstehen? Bergson will diesen Gegensatz überwinden und zeigen, dass „die Evolution schöpferisch ist“. Wenn in Les deux sources die offene Seele wesentlich von der verschlossen Seele unterschieden ist, so wird dennoch eine Verbindung zwi40 schen beiden hergestellt dank der „Seele, die sich öffnet“. Eine Formulierung von Julien Benda fasst diese eklektische Haltung des Bergsonismus zusammen, die man, so sagt er, „die Philosophie des eingeschlosse41 nen Dritten nennen“ könnte. [44] Dieses „eingeschlosse Dritte“, der Begriff, der dem Bergson’schen Eklektizismus ständig inhärent erscheint, ist die Dauer. Ihre Infiltration ist überall sichtbar. Sie ist bei Bergson genauso wichtig wie z. B. die „Empfindung“ bei den Stoikern, für die sie gemeinsame Quelle aller unserer Ideen und aller Veränderungen der Seele ist. Die Dauer ist in der Philosophie Bergsons nicht nur die Quelle, sondern auch ihr Gerüst. Und dieser Eklektizismus stützt sich auf eine Realität, diejenige der inneren Erfahrung.

2. Eine abstrakte und allgemeine Freiheit Da die Bergson’schen Freiheiten in keinem der Werke Bergsons auf eine explizite und klare Weise definiert worden sind, ist man nicht weit gekommen, wenn man behauptet, dass der Bergsonismus eine Philosophie 39 L’énergie spirituelle, S. 13 [NE S. 12-13; Ü S. 12. Zwischen den beiden zitierten

Sätzen findet sich noch: „Son rôle est de créer.“ („Seine Aufgabe ist: schaffen.“)].

40 [Les deux sources, NE S. 62; Ü S. 50] 41 Julien Benda: Sur le succès du bergsonisme. Précédé d’une Réponse aux Défenseurs

de la Doctrine, Paris: Mercure de France 1929, S. 98. Benda gibt ein Beispiel, das er dem Bulletin de la société française de philosophie (November 1909) entnommen hat, wo Bergson das Unbewusste als eine Möglichkeit des Bewusstseins definiert [Bulletin de la société française de philosophie 10 (1910), S. 17-51 (Séance du 25 novembre 1909), z. B. S. 35].

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der Freiheit ist. Die Definition, die uns im Essai begegnet, ist uns als durchaus anfechtbar erschienen. Andernorts gibt der Autor eine andere, die, obwohl ganz metaphysisch gehalten wie die des Essai, trotzdem neue Elemente beiträgt. Es handelt sich um eine zwischen zwei Begriffen „vermittelnde Freiheit“ (wobei das „eingeschlossene Dritte“ immer mitzudenken ist). „Das Wort Freiheit“, so sagt Bergson nämlich, „hat für mich eine vermittelnde Bedeutung zwischen denjenigen, die man [45] gewöhnlich 42 den beiden Begriffen Freiheit und freier Wille gibt.“ Im Essai neigt der Verfasser eher dem Determinismus als dem freien Willen zu: Auf der Ebene des Tiefen-Ich-Bewußtseins gibt es keinen freien Willen, seine Verteidiger sind Parteigänger einer wundersamen Freiheit. Dagegen sind die Deterministen, die keine Abweichung zulassen, konsequenter. Hier ist es andererseits der freie Wille, dem die Vorlieben Bergsons gelten: „Wenn man sie (die Freiheit) mit aller Gewalt mit einem der beiden (Ausdrücke) austauschen müsste, würde ich für den freien 43 Willen optieren.“ Bestimmen wir die beiden Ausdrücke, zwischen denen sich die Freiheit verortet. Bergson behauptet, dass die Freiheit darin besteht, ganz man selbst zu sein, in Übereinstimmung mit sich zu handeln. Das wäre also in einem gewissen Maße die „moralische Freiheit der Philosophen, die Unabhängigkeit der Person dem gegenüber, was sie nicht ist …“ Diese Unabhängigkeit der Person, diese Übereinstimmung mit einem „Selbst“, das sich wahrhaftig offenbart, holt gewissermaßen die These des allein „realen“ und „Tiefen“-Ichs des Essai ein. Nun will Bergson hier diese These nicht mehr: „Aber das ist ganz und gar nicht diese Freiheit, denn die Unabhängigkeit, die ich beschreibe, hat nicht immer einen moralischen 44 Charakter.“ Er akzeptiert den freien Willen auch nicht vollständig, denn dieser impliziert in der gewöhnlichen Bedeutung des Ausdrucks [46] die gleiche Möglichkeit zweier Gegensätze und „man kann hier meiner Ansicht nach die These von der gleichen Möglichkeit zweier Gegensätze nicht formulieren oder gar begreifen, ohne sich schwer im Wesen der Zeit 45 zu irren.“ Die beiden definierten Ausdrücke also: Die Freiheit, so wie sie Berg42 Während einer Sitzung der Société française de philosophie, vgl. Art. Liberté, in:

André Lalande: Vocabulaire technique et critique de la philosophie, Paris: PUF 2006 [Nachdruck der 10. Auflage], S. 558-567, hier S. 561. 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Ebd.

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son jetzt versteht, wäre demnach zwischen diesen beiden verortet, mehr zum freien Willen hinneigend als zur moralischen Freiheit. Das, was das Problem noch verkompliziert, ist, dass die „beiden Ausdrücke“ selbst auch vage bleiben, da Bergson sie postuliert und sie nicht beweist. Das einzig neue Element, welches sich durch die Mitteilung an die Société française de philosophie für die Bergson’sche Konzeption der Freiheit ergibt, besteht in einer Veränderung: Bergsons Präferenz neigt jetzt mehr dem freien Willen als dem Determinismus zu, was im Essai nicht der Fall war. Es stellt sich nun die Frage, warum Bergson den freien Willen nicht bis zum Ende akzeptiert. Die Neuheit, die der freie Wille mit sich bringt, zieht ihn an. Durch unsere Wahl führen wir Kontingenz in unser Leben ein. Aber diese Neuheit, welche die Freiheit der Wahl zwischen Gegensätzen voraussetzt, ist in den Augen Bergson keine reine und völlige Erneuerung. Er nimmt [47] nicht an, wie es die Parteigänger des freien Willens tun, dass wir uns vor zwei Wegen befinden, die zwei unterschiedliche Möglichkeiten darstellen. Ist der Weg einmal vorgezeichnet, dann kann man nur feststellen, dass er so und nicht anders vorgezeichnet gewesen ist. „Sie vergessen“, hält er den Verteidigern des freien Willens entgegen, „dass man von einem Weg erst sprechen kann, wenn die 46 Handlung einmal vollzogen ist; dann aber wird er gezeichnet sein.“ Im Licht der vorhergehenden Entwicklung gelangen wir zu der Erkenntnis, dass, wenn auch Bergson den freien Willen nicht absolut ablehnt, die Freiheit, wie er sie versteht, nicht der freie Wille ist. Gemäß unserem Autor bedeutet Freisein, ganz man selbst zu sein und mit sich übereinstimmend zu handeln, es bedeutet eine Anstrengung, sich selbst ganz zu erobern. Das zweite Merkmal dieser Freiheit ist, „nicht von sich selbst abhängig zu sein wie eine Wirkung von der Ursache abhängt, die 47 sie notwendigerweise bestimmt“. Man schließt so die Notwendigkeit aus und nähert sich dadurch dem freien Willen und entfernt sich vom Determinismus: Es genügt, die Dauer zu leben, um sich frei zu fühlen. Was Bergson indessen am freien Willen stört, ist der Einschnitt zwischen Gegenwart und Zukunft; es liegt in der Wahl ein absoluter Anfang, der die Kontinuität des psychischen Lebens, des schöpferischen Werdens in Frage stellt. Der Dualismus dauert an: auf der einen Seite Kontinuität, auf der anderen Auftauchen eines neuen Unvorhersehbaren. 46 Essai, S. 139 [NE S. 137; Ü S. 161-162]. 47 Lalande: Vocabulaire, S. 561.

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Könnte man nicht [48] angesichts dieser Konzeption der Freiheit von Widersprüchlichkeit sprechen? Man muss sich vor rein statischen Interpretationen in Acht nehmen, für die sich die Bergson’sche Formel „Freisein bedeutet, ganz man selbst sein“ anbietet, denn um frei zu sein, muss man mit seinen Akten übereinstimmen, in Anbetracht der Tatsache, dass allein „der Akt, der das Signum unserer Person trägt, wahrhaft frei ist, da unser Ich allein An 48 spruch auf die Vaterschaft erheben wird.“ Die Freiheit ist so ein Gefühl der subjektiven Selbstbestimmung, der Eindruck, dass man spürt, in sich 49 selbst zu bleiben. Der erste der Einwände, die die so vorgestellte Konzeption der Freiheit hervorruft, besteht in der Frage, ob sie nicht eine Begrenzung des Horizonts des Menschen ist. Eine Freiheit, die nur im Bewusstsein dessen existiert, der sie fühlt und spürt (unter Abstraktion von jeder Unterscheidung der Zustände oder der Beziehungen zwischen sich, der Oberflächenwelt und den Dingen), ignoriert jede Abhängigkeit und Interdependenz, das heißt, dass sie gegen die Wirklichkeit rebelliert oder ihr wenigstens nicht ausreichend Beachtung schenken will. Die dem TiefenIch entsprechenden Bereiche grenzen sich dermaßen ab, dass man an die Leibnizsche Monade ohne Tür und Fenster nach außen denkt. Und wenn man dem Tiefen-Ich das Gefühl zugesteht, zu einem [49] wie auch immer gearteten Unendlichen zu gelangen, wird sich die Freiheit auf die Ebene des Pantheismus eines Spinoza begeben. „Bergson weist sowohl den Determinismus als den Indeterminismus zurück; aber er warnt vor dem Versuche, die Freiheit zu definieren, da dies immer auf den Determinismus zurückführen werde, weil man die Freiheit nur dadurch definieren könne, dass man den Willensakt von der Persönlichkeit abhängig sein lasse. Man kann denn also nach Bergson 50 die Freiheit nur behaupten, wenn man nicht sagt, was sie sei!“ Es scheint, dass man auch nicht sagen kann, was sie „nicht ist“, weil Behaupten oder Verneinen im Hinblick auf die Freiheit ein Versuch der Bestimmung und Definition wäre, während sie nach dem Essai ihrem We48 Essai, S. 132 [NE S. 130; Ü S. 154]. 49 Vgl. oben, S. [35ff.]. 50 Harold Høffding: La pensée humaine, S. 295 [Ders.: Der menschliche Gedanke,

S. 321-322].

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sen nach undefinierbar ist. Doch definiert Bergson sie nicht selbst, wenn er die Kontinuität zwischen Vergangenheit und Zukunft als ihr wesentliches Merkmal betrachtet? Zeigt sich Bergson nicht selbst in gewisser Weise als Determinist, indem er die Freiheit als Bereicherung der Gegen51 wart durch die Vergangenheit (Matière et mémoire) oder als das „Ver52 hältnis des konkreten Ich zu dem Akt, den es vollzieht“, definiert? Indem man von „Beziehung“ spricht, setzt man notwendigerweise eine Verbindung zwischen unterschiedlichen Dingen, die sich gegenseitig determinieren und aufeinander einwirken. Zuviel Determinismus erdrückt die Freiheit unter dem Gewicht des Mechanismus, zuviel Indeterminismus löst ebenfalls den Inhalt der Freiheit auf und treibt in Anarchie 53 und Chaos. [50] Sicherheit gibt es für den Menschen nicht ohne eine Ordnung, und Ordnung gibt es nicht ohne einige Wiederholungs- und Voraussagegarantien, aufgrund derer wir wissen können, auf wen und auf was man sich verlassen kann, gemäß Gesetzen, welche uns die Human- und Naturwissenschaften liefern. Wenn auch die Freiheit nicht im Determinismus besteht, so schließt sie doch die Möglichkeit der Vorhersage mit ein, 54 die Macht, Überraschungen vorzubeugen. Z. B. sind das Barometer und das Thermometer hervorragende Hilfsmittel, um sich gegen diese oft unangenehmen Überraschungen zu schützen. Sie tragen in der Vorausschau dazu bei, sich gegen die blinden und bedrückenden Naturkräfte zu wehren. Ebenso verbinden uns die physikalischen und sozialen Gesetze mit dem Wirklichen und richten die Bewegung der Gedanken auf die Objektivität der Welt. Stellen wir uns ein Universum ohne Gesetze und Voraussage vor: Das Leben wäre für den Menschen ein Ertrinken in Subjektivität. Die Idee einer Welt reiner Subjektivität erinnert uns an gewisse chinesische Malereien, in denen die Personen in der Luft zu gehen scheinen, weil der Künstler den Boden nicht abgebildet hat. Wenn die Welt der subjektivistischen Philosophien (Bergson, Sartre, …) uns auch helfen kann, von Zeit zu Zeit Subjektivitäts-Kuren zu machen, um uns besser gegen den Einfluss des Objekts zu wappnen, so zeigt es sich doch, dass diese Philosophien unfähig sind, zur Befreiung zu führen. Denn wie 51 [Matière et mémoire, NE S. 236; Ü S. 260] 52 Essai, S. 165 [NE S. 165; Ü S. 192]. 53 Vgl. unsere Studie über den „weichen Determinismus“ in De l’être à la personne,

3. Teil, Kapitel 2, III, IV, und besonders V [S. 275-303].

54 Ebd.

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Erster Teil: Auf der Suche nach den Bergson’schen Freiheiten

diese Malerei des Bodens entbehrt, so fehlt jenen das Gefühl der [51] Sicherheit, welches der Determinismus verschafft, die regulierende Grundlage der Beziehungen von Mensch zu Mensch und von Mensch zur Natur: die Voraussage. Das Nichtvorhandensein dieser Regulierungs- und Regelmäßigkeitsbegriffe trifft für die subjektivistischen Philosophien in extremis zu, für die Systeme, die sich auf nichts stützen: Der Wiederbeginn des Selbst in jedem Moment ist eine neue Schöpfung ohne Beziehung zu dem, was ihm vorangeht. Anstatt sich auf das zu stützen, was erreicht worden ist, greift man auf nichts zurück. Die Freiheit ist nur Freiheit durch eine Anstrengung der „Ver-Nichts-ung“, die, weit davon entfernt, sie zu nutzen, ihr nur im Weg steht. Diese Freiheit, welche das Nichts, wenn man das sagen kann, „unterstützt“, erzeugt schließlich ein unvermeidbares Schwindelgefühl: Man ist „verdammt, frei zu sein“ (Sartre). Der Fortschritt wird zu einer rein individuellen Neuerschaffung, die in jedem Moment wieder in Frage gestellt wird, und ein Verweis auf das Nichts. Eine gegenstandslose Freiheit. Ravaisson schlägt eine Sichtweise vor, die den Vorteil hat, das Schwindelgefühl, welches wir angesichts dieser vernichtenden Bewegung haben, aufzulösen: den Verweis auf eine geistige Anstrengung, welche sich über das ganze Universum und alle Seinsstufen erstreckt. Die Bergson’sche Konzeption der Freiheit könnte – fast – als Synthese der Standpunkte Ravaissons und Sartres betrachtet werden. Die Frage ist erlaubt, ob Bergson in seiner – doch gerechtfertigten – Reaktion auf den Szientismus nicht zu weit weggetrieben wurde, bis zum Misstrauen gegen die Wissenschaft selbst, oder wenigstens gegen die Grundlage der Wissenschaft, den Determinismus. Stellt sich die Bergson’sche Freiheit nicht grundsätzlich dem physikalischen [52] Determinismus entgegen? Und würde man auch die Gültigkeit des physikalischen Determinismus zugeben, würde dieser, nach Bergson, doch immer noch eine psychologische Hypothese beinhalten. Denn „die Wissenschaft im eigentlichen Sinne hat hiermit also gar nichts zu tun; wir stehen vor einer willkürlichen Gleichsetzung zweier Konzeptionen der Dauer, die sich, uns zufolge, zutiefst unterscheiden. Kurz, der angebliche physikalische Determinismus reduziert sich im Grunde auf einen psy55 chologischen Determinismus.“ 55 Essai, S. 119 [NE S. 117; Ü S. 138].

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Kapitel 2: Charakteristika der Bergson’schen Freiheit

3. Eine rein metaphysische Methode Eine Untersuchung, deren Methode „psycho-metaphysisch“ ist, kann sich einer „reinen“ Subjektivität, einer abstrakten Allgemeinheit nicht entziehen. Die Frage, die sich zunächst stellt, beschränkt sich hierauf: Führt die Spekulation über die Freiheit zu den wahren Freiheiten? Anders gesagt: Ist die Bergson’sche Metaphysik als akzeptierte Methode geeignet, eine Lösung für das Problem der Freiheit zu bieten? Es ist der Metaphysik eigentümlich, dass sie sich auf die Suche nach dem Absoluten begibt. Aber als Methode wäre sie nicht absolut. Man könnte die Schlussfolgerungen aus einem metaphysischen System nicht als eine Realität betrachten, sondern höchstens als Hypothesen. Bergson jedoch stellt seine Metaphysik als einen Weg dar, der zu sicheren und nicht nur hypothetischen Realitäten [53] führt. Er will sie nutzen, um die Sache des Spiritualismus zu verteidigen, was ihn dazu führt, psychologische Tatsachen und metaphysische Betrachtungen zu vermischen. Sein philosophisches Anliegen hat ihn zu abstrakten und metaphysischen Interpretationen der beobachtbaren experimentellen und konkreten psychologischen Fakten veranlasst. Der Essai, der doch ein Versuch über „die unmittelbaren Gegebenheiten des Bewusstseins“ ist, widmet, neben den Begriffen der Dauer, der Intuition und der Freiheit, einen großen Teil rein begrifflichen Analysen, welche jede Intervention der Erfahrung aus56 schließen. Das wahre Problem ist im Grunde, ob die Freiheit eine Realität ist, die sich konkret verwirklicht, oder ob sie eine abstrakte, „intuitive“ Idee ist. Im ersten Fall könnte die Bergson’sche Metaphysik – die Abstraktion ist – nicht zur Freiheit führen, aber wenn man umgekehrt die menschliche Freiheit als eine einfache Repräsentation dessen darstellt, als was sie sich in den Beweisführungen Bergsons zeigt, dann würde sich die Metaphysik für etwas öffnen, was eine Idee der Freiheit wäre, eine Art Vision, jedoch nicht die reale Freiheit. Ist die Repräsentation nicht immer etwas anderes als das Repräsentierte? Wie die Wahrnehmung niemals den wahrgenommen Gegenstand ausschöpft, so vermittelt die Repräsentation höchstens eine annähernde Kopie dessen, was man sich vorstellt. Freilich muss man den subjektiven Faktor des Wahrnehmenden berücksichtigen. Aufgrund dieser Tatsache ist die Annäherung des Subjekts an den Ge56 Z.B. den homogenen Raum, die Bewegung, die Gleichzeitigkeit, usw.

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Erster Teil: Auf der Suche nach den Bergson’schen Freiheiten

genstand [54] niemals absolut vollkommen, und andererseits haben zwei Wahrnehmende aufgrund ihrer persönlichen Koeffizienten immer zwei nicht völlig identische Repräsentationen desselben Gegenstands. Ohne die platonische Konzeption einer der sensiblen Welt gegenüberstehenden intelligiblen zu vertreten, kann man behaupten, dass die Idee, die man sich von der Freiheit macht, etwas anderes ist als die wahre und reale Freiheit. Der Bergson’schen Metaphysik zufolge reichte es aus, zu „dauern“, um frei zu sein. Nur ist diese „Freiheit“ keineswegs eine spezifisch menschliche, da die Dauer sowohl für den Menschen (Essai) als auch für die Bewegung und die Materie (Matière et mémoire) sowie für das Leben im Allgemeinen (L’évolution créatrice) zutrifft. Der „freie“ Mensch wird also mit den Dingen vergleichbar. Auf der anderen Seite könnte niemand mit einer in einer abstrakten und allgemeinen Dauer gegebenen Freiheit zufrieden sein. Die Freiheit, die sich ein Gefangener sehnsüchtig wünscht, hat nicht dieselbe Bedeutung wie die, nach der ein Schriftsteller im Namen der „Gedankenfreiheit“ trachtet, oder die, welche ein Konzern verlangt, der für das „freie Unternehmertum“ und den „freien Handel“ kämpft. Jede dieser Kategorien von Leuten bildet einen Aspekt des Realismus ab, und jeder Realist wählt seine Freiheit in der Realität. Aber es gibt eine implizit geteilte Übereinstimmung hinsichtlich dessen, was die reale Bedeutung der grundlegenden und spezifisch menschlichen Freiheit betrifft: die Freiheit, die sich auf der Ebene der [55] sozialen Beziehungen manifestiert. Nehmt den Menschen diese weg und niemand von ihnen wird mehr an seine partikuläre „Freiheit“ denken. Sowohl die intellektuelle Freiheit als auch die Handelsfreiheit setzen die Freiheit als gesichert und garantiert voraus, die dem Häftling und dem Arbeitslosen, der seine unmittelbarsten materiellen Bedürf57 nisse nicht befriedigen kann, fehlt. Man könnte einwenden: Die auf den äußeren Bereich gerichtete Frage ist unangebracht, da das Problem, dem sich Bergson stellt, innerer Natur ist. Auf diesen Einwand wird man mit der Frage antworten: Gibt es eine innere Welt, die von der äußeren vollständig und in Gänze getrennt ist? Die Interaktionen zwischen dem inneren Leben und dem äußeren Leben verbinden beide so innig, dass man das eine nicht unabhängig 57 Vgl. weiter unten, 3. Teil, Kapitel 2, Die Aneignung.

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Kapitel 2: Charakteristika der Bergson’schen Freiheit

vom anderen betrachten könnte. Das Freiheits-Gefühl oder die FreiheitsRepräsentation spiegeln notwendigerweise die äußeren Freiheiten wider und sind von ihnen abhängig. Die Art und Weise zu fühlen und sich zu re-präsentieren steht in Wechselbeziehung zum kulturellen Niveau des Subjekts und den Modalitäten seines Lebens. Das ökonomisch-politische System eines Milieus verändert bis in die Weltanschauung und die Weisen des Denkens und Fühlens hinein. Es gibt einen Determinismus der Modelle und der Verhaltensweisen, und jede Gruppe hat ihre eigenen Modelle und Verhaltensweisen. In gleicher Weise gibt es Haltungen, die sich von einer Stufe zur anderen innerhalb einer sozialen Hierarchie unterscheiden, und soziale Rollen, die jedem eine Reihe eigener Haltungen auferlegen. Wir [56] identifizieren uns mit der Rolle, wir spielen sie mit unserer ganzen Person. Und indem wir unsere Aufgaben in jeder der Gruppen, denen wir angehören, annehmen, geben wir unserer Persönlichkeit Färbungen, bereichern wir damit selbst die unbewussten Teile. Außerdem geht die Gesellschaft den Empfindungen voraus, denn sie ist es, die sie hervorruft und ihnen ihre Ausdrucksweise verleiht. Dass das Milieu für vieles in unserem Gefühlsausdruck prägend ist, schließt Gesichtsausdrücke, affektive Reaktionen physiologischer Art, welche unse58 re Empfindungen übersetzen, mit ein. Allein die Tatsache, unsere Empfindungen auszudrücken, bleibt sozial: Man weint, um als zart zu gelten (La Rochefoucauld); man lacht, um 59 sein Vergnügen zu bezeigen. Wie jede Emotion ist das Lachen ein Akt sozialer Natur, das heißt eine organisierte Antwort auf eine Situation. Es ist die ganze Persönlichkeit, die sich dort einbezogen sieht. Aber ist es nicht auch die Gesellschaft, in der die Nuancen und Bezüge unserer Gefühle und ihre Bedeutungen ihren Ursprung haben? Sie drückt eine Empfindung aus und spezifiziert sie, aber sie löst sie auch in den jeweiligen Umständen aus und sensibilisiert die Subjekte für gewisse Situationen (z.B. die Grande Peur [während der Französischen Revolution von 1789]). Es ist sehr leicht, dem entgegenzuhalten, dass von Sensibilisierung zu sprechen die Annahme einer vorherigen Sensibilität voraussetzt. Wenn 58 Vgl. Georges Dumas, in Traité de psychologie, „die emotive Mimik“ in dem auf

diesen Ausdruck bezogenen Kapitel [Georges Dumas: L’expression des émotions (Kapitel 2), in: Ders. (Hg): Traité de psychologie. Bd. 1, Paris: Alcan 1923, S. 606690 (S. 611: „nos expressions mimiques émotionnelles“)]. 59 Vgl. Le Rire, und F. Jeanson: La signification humaine du rire, Paris: Seuil 1950.

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Erster Teil: Auf der Suche nach den Bergson’schen Freiheiten

sich eine Furcht, eine Angst, ein Lächeln usw. nach sozialen Umgangsformen ausdrücken, dann [57] ist in ihnen gleichwohl eine Sache enthalten, die etwas anderes ist als ihr Ausdruck. Dieser Einwand führt uns zu der Frage, ob es die Affektivität ist, die die Soziabilität hervorruft oder umgekehrt. Die Antwort ist einfach: Affektivität und Soziabilität sind untrennbar, keine ist in Bezug auf die andere die erste, da das Ich eine Totalität ist. Der Psychologe kann nämlich behaupten, dass es beim Kind ein „Bedürfnis“ gibt, geliebt zu werden, also Quellen der Affektivität, was häufig seine Verhaltensweisen erklärt: Ein vernachlässigtes Kind wird aggressiv … Darauf wird der Soziologe antworten, dass die Eigenliebe in der Gesellschaft entsteht (siehe Rousseau) und dass das Bedürfnis, geliebt zu werden, die Existenz einer Gesellschaft voraussetzt, selbst wenn diese nur aus den Eltern oder aus der Amme besteht: das Bedürfnis, sich beschützt und umgeben zu fühlen. Freud hat den Ödipuskomplex analysiert, aber angesichts der psychoanalytischen Interpretation kann der Soziologe zeigen, dass dieser Komplex nicht natürlich ist. Die Familienstruktur begünstigt den Ödipuskomplex – oder auch nicht. Maine de Biran behauptet seinerseits, dass „das Prinzip jeder sittlichen Handlung ganz und gar in dem Bedürfnis eines jeden Menschen liegt, geschätzt und für gut befunden zu werden durch andere Seelen, das heißt durch 60 dieselbe Vernunft, an der alle in gleicher Weise teilhaben.“ [58] Daher lässt uns die Metaphysik Bergsons in Anbetracht der Tatsache, dass der Bergsonismus vor allem eine Psychologie ist, die sich in Metaphysik erweitert, nicht in Richtung Befreiung gehen. Er will sich gegen die vorhergehenden metaphysischen Systeme wehren, weil sie sich widersprechen und zu keiner Lösung irgendeines Problems führen. Was hat er gemacht? Er hat seinerseits eine Philosophie um ein meta60 Maine de Biran: Fragments relatifs aux fondements de la morale et de la religion,

S. 264. Dieselbe Idee (das Bedürfnis, vom anderen anerkannt zu werden) findet sich bei Hegel in der Dialektik der Liebe als natürliche Anerkennung eines Selbstbewusstseins in einem anderen, die Erkenntnis des gegenseitigen Anerkanntseins (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phénoménologie de l’Esprit. Bd. 2. Übers. von Jean Hyppolite, Paris: Aubier-Montaigne 1941, S. 23 [Ders.: Phänomenologie des Geistes, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 9, Hamburg: Meiner 1980, S. 394: „das unmittelbare sich Erkennen des einen Bewußtseyns im anderen, und das Erkennen des gegenseitigen Anerkanntseyns.“]. Man findet sich auch im Besitz der Dinge, welche die anderen dem Ich zuerkennen und durch die sie ihm die Gleichheit mit ihnen zuerkennen.

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Kapitel 2: Charakteristika der Bergson’schen Freiheit

physisches Thema herum konstruiert: die Dauer oder „Veränderung im Selbst“, ein Begriff, der nicht Probleme löst, sondern vielmehr hervorruft. Man kann also der Freiheit – oder genauer den Freiheiten – weder eine feste Formel geben noch sie von ihren sozialen und historischen Kontexten trennen. Überhaupt ist eine Freiheit nicht einfach eine spirituelle Haltung oder eine metaphysische Idee, sondern vielmehr eine konkrete und soziale Wirklichkeit, die den Zufälligkeiten von Raum und Zeit unterworfen ist. Für den realistischen Personalismus handelt es sich keineswegs um eine Freiheit im Allgemeinen, abstrakt und dem Individuum – einem von den anderen getrennten Individuum – innerlich. „Es ist nicht der Mensch, sondern dieser Mensch“, sagte Hegel, das heißt es handelt sich nicht um das menschliche Wesen im Allgemeinen, um einen abstrakten Menschen. Jedes menschliche Wesen ist durch historisch-soziale Koordinaten derart bestimmt, dass, wenn es eine „Kontinuität“ gibt, diese sich keineswegs als [59] „reine Dauer“ eines „Tiefen-Ichs“ darstellt, sondern als eine, die jedes (menschliche Wesen, M. K.) in seiner Solidarität mit der Gesamtheit der Menschheit lebt. Daher präsentieren sich die Freiheiten als errungene Institutionen, die nicht auf dem abstrakten Gebiet der Repräsentationen auftreten, sondern auf dem der Ereignisse, welche die Geschichte des Ichs, des Sozialwesens, des Sich-personalisierenden-Ichs formen. Und um jede dieser Freiheiten in ihrer Realität zu verstehen, muss man, wie um die Veränderung oder die Dauer zu verstehen, sich vom Synkretismus, den unklaren und umfassenden Gesamtansichten eines komplexen Ganzen, lösen. Man muss in direkte Beziehung mit den realen Bedürfnissen des Subjekts treten, das so genommen werden muss, wie man es in den empirischen Realitäten vorfindet, der Zivilisation seiner Zeit verpflichtet: Man muss die Freiheiten, die die drängenden Bedürfnisse stillen und mit der lebendigen Wirklichkeit übereinstimmen, von der bloßen Spekulation über die Freiheit unterscheiden. Es handelt sich keineswegs um ein Subjekt, das „das 61 menschliche Schicksal verkörpert“ wie jener Protagonist bei Goethe. Es gibt einen großen Unterschied zwischen der abstrakten und allgemeinen Freiheit des „Tiefen-Ichs“ und der Möglichkeit, in einem gegebenen sozialen Milieu und gemäß gegebener Umgangsformen zu handeln, um ein präzises Ziel zu erreichen. Denn der Mensch lebt nicht in einem göttli-

61 Faust.

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chen Gemeinwesen von Mystikern, Helden und Heiligen, sondern bloß in einem Gemeinwesen von Personen, in dem die Existenz von außergewöhnlichen Wesen nicht ausgeschlossen, jedoch eher rar ist.

Kapitel 3: Befreiende moralische Praktiken [60] Außer der als rein innere Angelegenheit verstandenen Bergson’schen Konzeption der Freiheit, die allein das „Tiefen-Ich“ betrifft, gibt es Freiheiten, die sich in praktische Zusammenhänge einordnen. Versuchen wir nun, sie in der moralischen und sozialen Anwendung in Aktion zu sehen, wie sie zum Beispiel Les deux sources de la morale et de la religion ins Auge fasst.

1. Freiheit und Gerechtigkeit Was finden wir in diesem wichtigen Werk? Zwei Arten von Moral. Ebenso zwei Seelen. Zwischen „der geschlossenen Seele“ und „der geöffneten Seele“ gibt es die Seele, die sich öffnet, diejenige, die einem vermittelnden Zustand entspricht, einer Moral des Übergangs. Diese kann nicht der Sitz der Freiheit sein, denn sie gehört weder zur infra-intellektuellen Moral, der „statischen“, noch zur supraintellektuellen Moral, der „dynamischen“. Muss man infolgedessen [61] die Freiheit im Übergang der einen zur anderen suchen? Sicherlich nicht, da im Übergang von der geschlossen Seele zur sich öffnenden Seele der Zwang der statischen Moral nicht völlig aufgehoben ist. Die schöpferische Emotion ist dort noch nicht vorhanden. Im Übergang von der sich öffnenden Seele zur geöffneten Seele jedoch hat der supra-intellektuelle Reiz eine starke Wirkung. Auf der Stufe dieses zweiten Übergangs könnten wir die Freiheit verorten, ohne vielleicht das Denken Bergsons zu verraten. Dieser Übergang erfolgt jedoch nur bei den außergewöhnlichen Wesen, den Supra-Intellektuellen. Die so verstandene Freiheit wird die Apanage gewisser Privilegierter, während die wahrhaftige Befreiung nur die aller Menschen sein könnte. Der Sozialismus sucht sie in der sozialen Gerechtigkeit. Bergson räumt der Gerechtigkeit einen großen Raum ein, jedoch versteht er sie anders als die sozialistischen Reformer. „Den Fortschritt der Gerechtigkeit“, sagt er, „definiert man gern als den Weg zur Freiheit und zur Gleichheit.“ Diese Definition ist unangreifbar, 62 Vgl. Les deux sources, „die offene Moral“ [NE S. 56-65 „Morale close et morale

ouverte“].

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Kapitel 3: Befreiende moralische Praktiken

aber was folgert man daraus? Der Verfasser selbst fügt einschränkend hinzu, dass sie „für die Vergangenheit gilt; selten wird sie unsere Ent63 scheidung für die Zukunft orientieren können.“ Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit schließen einander gegenseitig ein und setzen einander gegenseitig in der Weise voraus, dass die Behauptung, die Gerechtigkeit gelte nicht für die Gegenwart oder könne unsere Wahl für die Zukunft nicht leiten, der Verneinung der Existenz und Möglichkeit von Gleichheit und Freiheit gleichkommt. Gerecht zu sein, heißt zuerst, [62] anzuerkennen, dass ein anderer nicht gehindert werden kann, dieselben Rechte zu besitzen wie ich – was nur möglich ist, wenn seine Freiheit dieselben Garantien hat wie meine. Die Gerechtigkeit ist zugleich die Anerkennung des anderen als eine der meinen gleiche Persönlichkeit. Es versteht sich von selbst, dass dies nicht zu verwirklichen ist, wenn man nicht im Vorhinein einräumt, dass die Gerechtigkeit mit der Vernunft identifiziert wird, das heißt mit dem, was der menschlichen Spezies universell eignet: Dadurch bezieht sie sich auf jede 64 beliebige Person und auf jeden beliebigen Moment der Geschichte. Man sagt häufig, dass das Individuum das Recht auf jede Freiheit hat, die nicht die Freiheit anderer beeinträchtigt. Das ist offensichtlich. Aber diese Behauptung, die viel Wahres enthält, wird doch unzureichend bleiben, so lange sie nicht zuerst die Freiheit definiert und ihren Begriff abgegrenzt hat. Nun beschränkt sie sich darauf, uns die Grenzen vorzuzeichnen, an denen das Recht, dass jeder auf seine Freiheit hat, aufhört. Wir berühren hier die Frage des Verhältnisses des Rechts zur Pflicht. Mein Recht kann dort beginnen, wo meine Pflicht endet. Meine Pflicht ist es, in jeder Situation die Freiheit der anderen zu respektieren, [63] 63 Les deux sources, S. 79 [NE S. 79; Ü S. 62]. 64 Die Gerechtigkeit hat also einen dreifachen Charakter. Sie tritt immer in Korre-

lation mit Gleichheit und Freiheit auf. Sie gilt unter allen Umständen und unterschiedslos für alle. Dadurch unterscheidet sie sich z.B. von der Nächstenliebe, die an die Gefühle appelliert und den Status quo der Situationen opfert, „indem sie sich nur mit den Konsequenzen beschäftigt, die Gerechtigkeit mit den Taten“, wie Jean Lacroix es während einer Vorlesung mit dem Titel „Justice et charité“ bemerkte. (Sonderdruck „Lumière et Vie, Collège théologique“, Saint-Alban-Leysse, Savoyen) [Jean Lacroix: Justice et charité, in: Lumière et vie. Revue de formation doctrinale chrétienne, Bd. 2 (1952–1953) Heft 8 (Februar 1952: „Crise de la morale“), S. 79-93, hier S. 82. In besagtem Text wird das Zitat etwas anders wiedergegeben: „La charité en somme s’attaque aux conséquences et la justice aux causes.“].

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und ich habe das Recht auf denselben Respekt. Bergson analysiert die vorausgehende Behauptung in anderer Weise. Für ihn „könnte“ die Wirkung einer neuen Freiheit, „die in der gegenwärtigen Gesellschaft ein gegenseitiges Sich-niedertreten aller Freiheiten gegeneinander zur Folge hätte, (…) gerade die entgegengesetzte Wirkung hervorbringen in einer Gesellschaft, deren Gefühle und Sitten durch diese Reform verändert worden wären. So dass es oft unmöglich ist, a priori zu sagen, welches das Maß von Freiheit ist, das man dem Individuum ohne Schaden für die Freiheit seiner Mitmenschen zubilligen kann: wenn die Quantität wech65 selt, ist es nicht mehr die gleiche Qualität.“ Diese Analyse hebt klar den dialektischen Aspekt der Freiheit hervor, aber sie bleibt unvollständig. Zum einen, weil sie nicht bestimmt, was man unter Freiheit versteht, und dann aufgrund der Bergson’schen Konzeption, die will, dass es eine Freiheit gäbe, „die in der gegenwärtigen Gesellschaft ein genseitiges Sich-niedertreten aller Freiheiten zur Folge hätte.“ Es scheint uns im Gegenteil so zu sein, dass, anstatt zur Fesselung durch „ein genseitiges Sich-niedertreten“ der Freiheiten beizutragen, jede Freiheit wenigstens eine der Ketten des Menschen sprengt. Durch das Niedertreten würde die Freiheit zur Entfremdung, dem Gegenteil der Freiheit. Es versteht sich von selbst, dass jede Errungenschaft des Men schen hinsichtlich seiner Befreiung bei ihm eine Qualitätsveränderung hervorruft, eine Verbesserung in seinen Empfindungen und in seinen Sitten, so dass es unmöglich ist, [64] a priori die Verhältnisse dieser Quantität-Qualität-Beziehung zu bestimmen. Was gewiss ist, ist ihr dialektischer Fortschritt. Was aber, über die Existenz einer solchen Korrelation hinaus, auch interessant gewesen wäre zu analysieren, ist die Existenz der Freiheit selbst. Um die Freiheit, besonders in ihrem Verhältnis zur Gerechtigkeit, zu erklären, reicht es keineswegs aus, festzustellen, dass jedesmal, wenn ein gewisses Maß individueller Freiheit erworben wurde (Bergson sagt „gewährt“), eine gewisse neue Qualität in der Gesellschaft entsteht. Man müsste, scheint es uns, einräumen, dass erstens diese gegenseitige Abhängigkeit (Quantität der durch das Individuum erworbenen Freiheit und Qualität der Gesellschaft) selbst Möglichkeiten von Befreiung erzeugt, dass zweitens der Grad der sozialen Entwicklung der Gruppe (die „Qualität der Gesellschaft“) den Gang in Richtung der Freiheit des Individuums bedingt, genauso wie dieses (zum „Helden“oder „Mystiker“ 65 Les deux sources, S. 80 [NE S. 80; Ü S. 62-63].

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Kapitel 3: Befreiende moralische Praktiken

geworden) der Gesellschaft neue Horizonte öffnet. Wenn man diese Idee zulässt, dann bekäme das Auftauchen des „Appells“ des Helden eine historische Erklärung (ohne Rückbezug auf Wunder) und erhellte sich durch die Beziehungen, die ihn mit dem Leben eines Milieus verbinden. Z. B. besteht die Originalität des Christentums in seinen Anfängen, eingebettet in seinen sozialen Kontext, in der Interpretation der Moral seiner Zeit und in der neuen Orientierung, die es der Gesellschaft gegeben hat. Aus dieser Gesamtheit von Reformen ist eine neue Sicht der Welt hervorgegangen. Dies vermindert in keiner Weise den Beitrag des Christentums. [65] Anstatt daher zu versuchen, gemäß der Bergson’ schen Methode dem Genie Jesu durch seine Emotion der offenen Seele gerecht zu werden, werden wir die Geschichte um Informationen über die palästinensische Gesellschaft vor und nach Christus ange hen. Das war eine Gesellschaft mit hebräischer Religion und Kultur. Da nun der Gottessohn sich inkarniert hat, um Christus zu werden, da er eine historische Existenz angenommen hat, war es für ihn notwendig, die Denkprinzipien und Lebensweisen Judäas anzunehmen, auch wenn er sich ihnen in der Folge widersetzen musste, und auch um sich ihnen besser widersetzen zu können. Christus war darauf festgelegt, aramäisch zu sprechen und sich wie ein Israelit seiner Zeit zu verhalten: Er hat also in einer historischen Situation gelebt. Nehmen wir an, er wäre in einem anderen Milieu und in einer anderen Zeit als im Bethlehem des Jahres 5509 der Weltgeschichte (oder 749 ab urbe condita) geboren worden, so wäre die Botschaft Jesu notwendigerweise eine andere gewesen als diejenige, die sie gewesen ist, und als diejenige, die sie geworden ist. Man gehört nicht einer Zeit an, sondern man gehört seiner Zeit an, was ein ganzes Bündel von politischen, ökonomischen, rechtlichen Strukturen usw. bedingt. Da haben wir also das, was die Bergson’sche „Emotion“, ohne sie dadurch auszuklammern, auf ihren genauen Wert reduziert: Sie ist ein unterstützender Faktor und nicht eine oder die Grundlage. Die Idee Bergsons bleibt attraktiv, aber nicht überzeugend, da wir weder wissen, warum diese „Emotion“ ausgelöst wird, noch durch welche Gnade sich die Seele öffnet. Die Emotion wäre in der Perspektive, die wir vorschlagen, ein Werden: Alles würde uns klar werden nach einem langen Nachdenken über die soziale Situation und über die Moralität der Zeitgenossen mit den Mitteln, die das Milieu zu unserer Verfügung bereithält. Diese Frucht, einmal zur Reife gekommen, fällt unvermittelt vom Ast. „Die 79

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Emotion“ erscheint folglich beim Mystiker oder beim Helden genauso normal wie eine Leidenschaft, die man unterdrückt, aber die fortfährt, im Dunkeln zu arbeiten, bis zu dem Tag, an dem sie überfallartig in uns eindringt. Die offene Seele könnte dieses Auftreten der großen Emotion ex nihilo niemals erklären, umso mehr als es ebendiese Emotion ist, durch die sich die Seele gerade öffnet.

2. Freiheit und Gleichheit Nachdem er über die Gewährung einer Freiheit gesprochen hat, welche die Zerstörung aller Freiheiten zur Folge haben könnte, kommt der Verfasser der Deux sources auf die Gleichheit zu sprechen, die nach ihm nur auf Kosten der Freiheit zu erlangen ist, und zwar in der Weise, „dass man sich zunächst fragen müsste, welche der beiden der andern vorzuziehen 66 sei.“ Ebenfalls gibt er zu verstehen, dass die beiden Begriffe völlig verschieden sind. Man darf sich fragen, ob Freiheit und Gleichheit in der Realität einander, konträr zur Bergson’schen Konzeption, nicht notwendigerweise einschließen. Weil es nämlich eine Ungleichheit der Klassen in der athenischen Gesellschaft gab, war den Sklaven die Freiheit entzogen. Für die Freiheit ist dort kein Platz vorhanden, wo man von Herren [67] und Sklaven, von Superiorität und Inferiorität, von Kolonisatoren und Kolonisierten spricht. Daher verbinden zweifellos alle Religionen und alle Reformer die beiden Begriffe Gleichheit und Freiheit mit einem dritten, der ihre Synthese zu sein scheint: der Brüderlichkeit. Indem sich Bergson fragt, welcher der beiden Begriffe, Gleichheit oder Freiheit, vorzuziehen sei, stellt er ein Pseudo-Problem. Der Mensch fühlt sich nur in dem Maße im Besitz der Fülle seiner Würde, der Realität, die aus ihm ein menschliches Wesen macht – im erhabensten Sinn des Wortes –, wie er sich sowohl frei als auch gleich mit seinesgleichen fühlt. Es gibt keinen Vorzug für eine der beiden Bedingungen, die für die Personalisierung zu gleichen Teilen notwendig sind und in enger gegenseitiger Abhängigkeit stehen. Auf ihrer Einheit gründet sich die innere und äußere Architektur der menschlichen Würde und Wirklichkeit. Bergson selbst erkennt, jedoch aus einem anderen Grund, an, dass 67 die Frage „keine allgemeine Antwort“ mit sich bringt, denn „das Opfer 66 Les deux sources, S. 80 [NE S. 80; Ü S. 63]. 67 Müsste man nach dem Vorhergehenden nicht eher sagen: Weder eine allgemei-

ne Antwort, noch eine besondere?

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dieser oder jener bestimmten Freiheit, wenn es von der Gesamtheit der 68 Bürger freiwillig auf sich genommen wird, ist auch Freiheit.“ Denn Zustimmen heißt Wählen zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten, und 69 daher bedeutet jede Wahl Freiheit. Aber es scheint, dass es hier einen Einwand gegen Bergson geltend zu machen gäbe [68] oder zumindest einen Punkt, der zu präzisieren wäre: Man opfert nicht, auch nicht aus freien Stücken, diese oder jene Freiheit, man erweitert stetig den Bereich, der zur Bildung von Freiheiten führt, oder man verschafft einer von ihnen immer allgemeinere Geltung, indem man ihr mehr Konsistenz verleiht. Zum Beispiel geben Bürger, die für das Recht auf Arbeit und die Arbeitsplatzgarantie demonstrieren, durch ihre Aktion der Arbeitslosigkeit eine neue Bedeutung. Diese erscheint dann als ein Hindernis für die individuelle Freiheit, als ein Übel, das die ökonomische Entfremdung erzeugt, was wiederum eine mentale Schwächung bewirkt und sowohl die Kriminalität als auch den Sittenverfall begünstigt. Das Recht auf Arbeit wird eine Existenzbedingung, eine Errungenschaft, im Sinne der Befreiung, gegenüber dem schweren Joch der ökonomischen Entfremdung und seinen unterschiedlichen Folgen. Es ist eine neue Freiheit, die sich zu den bereits gesicherten anderen hinzugesellt. Keine Freiheit ist zugunsten dieser letzten geopfert worden. Jede Errungenschaft ist im Gegenteil ein Reichtum, der sich unserem Schatz ohne jede Minderung hinzugesellt hat, und durch die Gesamtheit der Freiheiten kann ein Individuum die Gleichheit mit seinesgleichen erlangen. Dies ist an dieser Stelle nicht die Auffassung von Bergson. Seiner Idee folgend behauptet er, dass nach „dem Opfer“ dieser oder jener Freiheit das, was bleibt, „von höherer Qualität sein kann, wenn die im Sinne der Gleichheit durchgeführte Reform eine Gesellschaft ergeben hat, wo 70 man leichter atmet, wo man mit mehr Freude handelt.“ Dies führt wieder auf den Gegensatz zwischen der Quantität und der Qualität zurück, der schon im [69] Essai dargestellt wurde. Auf der einen Seite gibt es Opfer – eine Minderung –, auf der anderen Seite eine höhere Qualität. Aber dieser Gegensatz bleibt eine Abstraktion, die niemals zum Verständnis 68 Les deux sources, S. 80 [NE S. 80; Ü S. 63]. 69 Diese These weist auf die Freiheit von Matière et mémoire, wo sie als Vermögen

des Wählens verstanden wird (s.o. S. [23]). Die Wahl verweist jedoch auf den Determinismus, welchen Bergson durch das Fenster in seine Lehre scheinbar hat eintreten lassen, um ihn dann, kurz danach, durch die Vordertür wieder zu verjagen (s. o., S. [24-30]). 70 [Les deux sources, NE S. 80; Ü S. 63]

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Erster Teil: Auf der Suche nach den Bergson’schen Freiheiten

der Freiheit führt. Die Freiheit, von der der Verfasser der Deux sources spricht, verweist auf die Konzeption dieser ethischen Schöpfer-Persönlichkeiten, „die sich mittels des Denkens eine neue soziale Atmosphäre 71 vorstellen, ein Milieu, in dem besser zu leben wäre.“ Es ist unbestreitbar, dass das Denken eine ausschlaggebende Rolle in jeder Sozialreform einnimmt, aber es zeigt nur, was es kann, wenn die ethischen Schöpfer-Persönlichkeiten sich nicht damit begnügen, „sich“ eine neue soziale Atmosphäre „durch das Denken vorzustellen“, als Schöpfer einer Welt reiner Vorstellungen. Ein Platon, ein Ibn Ṭufail und unlängst ein Auguste Comte haben schöne Bilder idealer Gesellschaften erdacht, aber sie haben dafür niemals ihr Milieu in ein anderes umge72 wandelt, „in dem besser zu leben wäre.“ Man ist Schöpfer tatsächlich nur in dem Maß, in dem man sich bemüht, die Welt durch die Handlung zu verändern, und sich nicht allein damit zufrieden gibt, sie zu interpretieren. Erschaffen bedeutet Handeln, und „Sich Vorstellen“ bedeutet, in seinem Denken zu leben. Eine Brücke zu errichten zwischen dem realen Gang der Geschichte und dem Willen, auf sie einzuwirken, seine generöse Vorstellung einer besseren Welt in die reale Welt zu übertragen, das ist [70] es, was die wahre, zugleich freie und weise und dadurch kreative Schöpfung ausmacht. Wie groß auch immer der Reiz des „Appells“ der Heiligen, der Helden und der Mystiker in Les deux sources ist, er wird nur zum Keim einer glücklichen Reform durch die Anpassung ans Reale, das heißt, was wir daraus dank unserer eigenen Freiheiten machen. Der wahre „Held“ wird der, der handelt, d. h. die Schöpfer-Persönlichkeit (gemäß dem Bergson’schen Vokabular), das freie Subjekt, das seine Freiheiten in den Dienst einer Reihe von Veränderungen im Sinne des Fortschritts stellt, und nicht, wer, durch eine „Emotion“ bewegt, eine Idee in Umlauf 73 bringt. An gewissen Punkten spricht Bergson selbst der Repräsentation 71 Les deux sources, S. 80 [NE S. 80; Ü S. 63]. 72 Arabischer Philosoph und Arzt des 12. Jahrhunderts, der im mittelalterlichen

Europa unter dem Namen Abubacer bekannt war. Er ist der Verfasser des überaus wertvollen Romans Hayy Ibn Yaqdhān („Der Lebende, Sohn des Wachenden“), einer Abhandlung über die Geheimnisse der illuminativen Philosophie [Abū Bakr Ibn Ṭufail: Der Philosoph als Autodidakt. Ḥayy ibn Yaqẓān. Ein philosophischer Inselroman. Übers., mit einer Einleitung und Anmerkungen hg. von Patric O. Schaerer, Hamburg: Meiner 2009]. 73 Vgl. den Begriff des Menschen in De l’être à la personne, S. 163-177, „La transcendance“ und passim.

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Kapitel 3: Befreiende moralische Praktiken

die Kraft ab, den Willen zu führen: „Als ob eine Idee jemals kategorisch 74 ihre eigene Verwirklichung verlangen könnte!“ ruft er aus. Gegenüber dem Mystiker, der „sich im Denken“ eine ideale Gesellschaft „vorstellt“, gibt es den Reformer, der im Realen verändert, zerstört und aufbaut. Er erschafft einen moralischen Fortschritt, der sich nicht über die Idee definiert, die man sich von ihm macht, sondern vielmehr über die Handlungen, die ihn erzeugen. Auch bezüglich der Freiheit in ihrem Verhältnis zur Moral und zur Gesellschaft genügt es nicht, sie sich vorzustellen oder sie zu denken, um sie zu erlangen. Man verwirklicht sie, lebendig und schöpferisch, durch das mühselige, tagtägliche und andauernde Ringen. Obwohl [71] Bergson immer die wichtige Rolle der Anstrengung betont hat und den authentischen Mystiker nur an der Wirksamkeit seiner Handlung erkennt, wird die Freiheit weiterhin als unmittelbare Gegebenheit verstanden, als emotionales Ergriffensein: Privileg außergewöhnlicher Persönlichkeiten. Die Freiheit des Weisen ist Freiheit der mystischen Kontemplation, Freiheit durch die Vermittlung einer Art Ekstase, einer Art vergöttlichter Begeisterung, in der der freie Akt identisch ist mit der Teilnahme am Schöpfungsakt Gottes. Hier erfasst man, dem Bergsonismus zufolge, das Prinzip des Lebens, denn man befindet sich nicht mehr auf der Stufe der Hindernisse, der Freuden und der Leiden. Aus dieser Bergson’schen Perspektive kann man nicht mit Hegel sagen, dass die Natur durch die Arbeit des Menschen menschlicher wird und sich durch den Menschen selbst betrachtet, denn der Weise und der Heilige der Deux sources scheinen sich mehr dem Engel als dem Menschen anzunähern. Dahin scheint die These der Deux sources über die beiden einander diametral gegenüberstehenden Seelen, „die geschlossene Seele“ und „die offene Seele“, zu führen. Nach dieser kritischen Darstellung der Bergson’schen Freiheiten scheint es uns, dass die analysierten Thesen und die wichtigsten Entgegnungen, die sie hervorrufen, sich so zusammenfassen lassen: Im Essai handelt es sich um eine Freiheit des Geistes als „Nuance der Handlung“, erlebt in der Handlung selbst, als Akt, „der sich selbst 74 Les deux sources, S. 98 [NE S. 98; Ü S. 76]. In ihrem realen Auftreten hat die

Bergson’sche Emotion vor allem die Rolle eines Schocks inne, der wichtig sein kann, wenn es darum geht, welche Orientierung und welchen Sinn wir unserem Leben geben.

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Erster Teil: Auf der Suche nach den Bergson’schen Freiheiten

schafft“ [„qui se fait“], im [72] Gegensatz zum klassischen Determinismus und Indeterminismus, die immer auf das „Abgeschlossene“ [„tout fait“] ausgerichtet sind. Mit Matière et mémoire und L’évolution créatrice kann man nicht mehr von der Freiheit sprechen, sondern von Freiheiten oder unterschiedlichen Graden der Bergson’schen Freiheit, wovon einer dem Vitalen, ein anderer dem Psychologischen, ein dritter dem Sozialen und schließlich ein letzter dem Spirituellen entspricht. Als höchster Grad erscheint jedoch der, der das spirituelle Leben als schöpferische Aktivität erreicht. Wir sind nicht mehr auf der Stufe der einfachen vitalen Spontaneität. Nichtsdestoweniger lassen sich diese unterschiedlichen Grade der Freiheit nur von der „reinen, qualitativen Dauer“ aus begreifen, die das das zentrale Thema des Essai ist. Der Wille seinerseits enthält Abstufungen: Je bewusster er wird, desto freier ist er. Auf der höheren Stufe scheint die Bergson’sche Freiheit ihre Fülle zu erreichen. Das ist der Grad, wo die Entscheidung sich über die Alternativen erhebt, um sich dann ihrerseits durch den eigentlich schöpferischen Willen übersteigen zu lassen. Die Schöpfung ist allerorts in uns und um uns herum. Daraus ergibt sich die Verbindung der Bergson’schen Psycho-Metaphysik mit einer philosophischen Sicht der soziale Aktivitäten und mit der moralischen Praxis. Standen wir im Essai einer Freiheit diesseits des bewußten Lebens gegenüber, so haben wir nun eine als Gesamtheit der bewussten Akte begriffene Freiheit, einen schöpferischen Willen, der die Alternativen übersteigt, vor uns. Werden sich diese willentlichen Handlungen am wahren Sinn der Befreiung ausrichten? Auf welchen Prinzipien [73] gründen sie? Les deux sources de la morale et de la religion übernimmt es, auf diese Fragen zu antworten. Trotzdem hat dieses Werk nicht ganz das erfüllt, was wir von ihm erwarteten. Und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Im Zentrum der Bergson’schen Theorie der Freiheit findet man jetzt die göttliche Freiheit, Freiheit, an der der Mensch nur teilhaben kann, indem „durch sie gehandelt“ wird. Auch wäre nur derjenige wirklich frei, der das Privileg hat, die mystische und religiöse Erfahrung zu erleben. So gibt es folglich keine menschliche Befreiung, sondern eine göttliche Freiheit.

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Kapitel 3: Befreiende moralische Praktiken

Wie man sieht, sind die Bergson’schen Freiheiten die Entwicklung einer individuellen Erfahrung, die mit der Dauer zusammenfällt, d.h. des Lebensstroms, der in uns fließt, ohne sich in den Staub der Augenblicke aufzulösen. In die Dauer einzutauchen ist wie das Eintauchen in ein erwecktes und schöpferisches Bewusstsein, das die Anstrengung der „Intuition“ beim Philosophen und den Reiz des „Appells“ beim Mystiker erhellt. Aber in beiden Fällen handelt es sich um ein vollkommen individuelles Bewusstsein, in dem die anderen, das Du und das Wir vollständig ignoriert werden. Wir können uns mit Jankélévitch fragen: Da sich die Bergson’sche Intuition, die sich als Sympathie definiert, doch als Standpunkt des Bewusstseins vorstellt [74], das notwendigerweise Stellung nimmt, warum 75 ergreift der Bergsonismus nicht Partei bis zum Schluss? In Verkennung der konkreten Bedingungen menschlichen Verhaltens, die von wesentlicher Bedeutung sind (psychologisch und moralisch), ergreift der Bergsonismus zwar nicht Partei bis zum Schluss. Aber was auch immer seine Unvollkommenheiten sein mögen, die Bergson’sche Freiheit erscheint als einer der großen Siege über die Wissenschaftsgläubigen und Mechanisten, die das psychische Leben beinahe 76 ausgetrocknet hätten, er erscheint auch als ein geeigneter Ansatz, diejenigen Dimensionen unserer Person zu stärken, die den objektiven Experimenten und den klinischen Observationen entgehen. Doch trotz dieser so wertvollen Beiträge schlägt der Bergsonismus, indem er sich allein auf den Bereich der individuellen – und rein subjektiven – Psychologie beschränkt, den Weg in den Spiritualismus ein, mit all dem, was das an Größe und Schwäche mit sich bringt: Es ist eine Philosophie der Freiheit – einer Freiheit – und nicht der Befreiung. Und selbst wenn es in dieser Philosophie der „Dauer“ und „reinen Kontinuität“ Schöpfung gibt, so bringt diese nur völlig neue, absolut unvorhersehbare Akte und Ereignisse hervor – in Anbetracht der Tatsache, 75 Vladimir Jankélévitch: Bergson, Paris: Alcan 1931 [NA: Vladimir Jankélévitch:

Henri Bergson, Paris: PUF 2008 („Quadrige“), S. 30-31].

76 [Der französische Ausdruck „psychisme“ wird laut Lalande (Vocabulaire téchni-

que et critique de la philosophie, S. 851) auf Deutsch mit „Psyche“ oder „Psychismus“ wiedergegeben. Definition ist laut Lalande: „Seelisches Leben; Gesamtheit der ein Ganzes bildenden psychischen Phänomene“. Es sei ein vager Begriff, der vor allem dazu gedacht ist, präzisere Aussagen zugunsten der Vorurteilsfreiheit zu vermeiden. Der Begriff findet bei späteren Philosophen Verwendung, z.B. bei Emmanuel Levinas.]

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Erster Teil: Auf der Suche nach den Bergson’schen Freiheiten

dass die Wirkung nicht potenziell in ihrer Ursache enthalten ist: Die Zu77 kunft ist niemals durch die Gegenwart bestimmt. Natürlich gibt es ein Werden, aber ist die Zukunft [75] nur reine Kontingenz, nur ein Zufall, der sich selbst sein eigenes Wesen gibt? Die unverständliche Spontaneität (Essai) als Freiheit zu nehmen bedeutet, einen Gegenstand, nicht ein Bewusstsein, zu beschreiben und eine irrationale Verbindung zu setzen, da der Erzeuger im Verhältnis zur erzeugten Sache passiv ist. Übrigens geht die Spontaneität häufig über die Freiheit hinaus: ich will eine tragische Szene vergessen, nicht mehr an dieses oder jenes Ereignis denken, und ich bin „verdammt“, mich zu erinnern, an einen traurigen Augenblick meiner Vergangenheit zu denken und ihn wachzurufen, mir Sorgen zu machen über den Inhalt des Ereignisses, das ich eben vergessen wollte, wenigstens vorläufig. Ich glaubte, die Freiheit aus meiner Spontaneität zu schöpfen, und ich fand dort Ärgernis, Schwächung meines Willensvermögens: so etwas wie ein Gefühl des Ungenügens. Meine Spontaneität erschreckt mich, anstatt mich zu befreien, denn sie zwingt mir das zu Ertragende auf und annulliert das Gewollte. Das Bewusstsein ist der Fatalität – wenn man das so sagen kann – seiner Spontaneität unterworfen.

77 Vgl. Essai, S. 151-166 [NE S. 151-166; Ü S. 177-194] und L’évolution créatrice,

S. 233-234 [NE S. 345; Ü S. 390].

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Zweiter Teil: Die künstlerische Aktivität als Befreiungsvermögen

[79] Der erste Teil unserer Untersuchung war der kritischen Darstellung der Hauptthesen Bergsons über die Freiheiten gewidmet, wie sie sich im Studium seiner grundlegenden Werke Essai sur les données immédiates de la conscience, Matière et mémoire und L’évolution créatrice eröffnen. Dann haben wir uns bemüht, die wesentlichen auf die menschlichen Freiheiten bezogenen Themen von Les deux sources de la morale et de la religion zu analysieren und zu sehen, in welchem Maß dieses Hauptwerk neues Licht auf jene Thesen wirft. Im letzten Teil haben wir vor allem versucht, die Befreiung zu gewissen moralphilosophischen Konzepten und zum sozialen und praktischen Leben in Beziehung zu setzen. Wir nehmen uns jetzt in zwei weiteren Teilen vor, die Freiheiten in Aktion zu begreifen, die Freiheiten des Menschen, der konkret in einem sozialen Milieu agiert. Der erste Teil wird sich besonders mit dem Engagement befassen, welches – um sich selbst zu befreien – auf die künstlerische Schöpfung zurückgreift, der zweite mit der Macht zu besitzen und dem Haben. Es sei schließlich noch der Hinweis gegeben, dass, wie im vorhergehenden Teil, die folgenden Seiten im Ausgang von den Bergson’schen Thesen versuchen werden, die Positionen eines realistischen Personalismus zu entfalten.

Kapitel 1: Der Begriff der Schöpfung Das Negationsvermögen stellt einen wesentlichen Aspekt der Befreiung dar. Das „Nein“ charakterisiert die menschliche Spezies. Durch das Nein setzt sich das Ich als Wahlvermögen und realisiert sich in ausgeführten oder erfolgenden Handlungen, seien sie möglich oder geplant, und nicht bloß in einfachen Gedanken oder einfachen Wünschen. Das Werden, die Geschichtlichkeit ist notwendigerweise Veränderung. Verändern heißt, das zu verneinen, was „ist“, entsprechend dem, was man plant. Dialektik der Freiheit. Denn das natürlich Gegebene, das Materielle, das Historische oder Psychologische zu verneinen, bedeutet – wenn man nicht im Nichts enden will –, zu erfinden und zu erschaffen, das heißt zu handeln und sich zu befreien. Der Mensch ist das einzige Wesen im Tierreich, das 87

Zweiter Teil: Die künstlerische Aktivität als Befreiungsvermögen

sich transzendiert durch und in seinem Werk, welches zugleich Arbeit und Verneinung (Veränderung) ist. Indem er sein Menschsein realisiert, verlässt er die Animalität: Er kann sein Leben in bewusst geführten Kämpfen riskieren. Im Gegensatz dazu riskiert ein Tier niemals sein Leben in einem Kampf für ein „Ideal“ oder um sich zu rächen, ein Weibchen stirbt niemals bei der Verteidigung seiner „Ehre“ gegen ein respektloses Männchen. Die nichtmenschlichen Lebewesen [82] haben weder transzendierende Bilder von sich selbst, welche sie verwirklichen könnten, noch Werte, die sie verwirklichen und in deren Namen sie das tie1 risch oder pflanzlich biologisch Gegebene zurückweisen könnten: Sie bleiben auf der Stufe ihrer vitalen Instinkte – der Selbsterhaltung und der Reproduktion. Sie haben auch nicht das Bewusstsein des geheimen Bandes, das uns zwischen den Dingen in der Welt sein lässt, die wir zu für uns daseienden machen, indem wir sie als empirisch Gegebenes ver2 neinen, um sie in unseren Horizont zu integrieren. Die künstlerische Schöpfung, Privileg der menschlichen Spezies, ist ein Königsweg, der zur Befreiung führt. Diese schöpferische und befreiende Tätigkeit ist es, deren Analyse wir uns in den folgenden Seiten vornehmen, immer ausgehend von kritischen Reflexionen über einige Bergson’sche Konzeptionen. Bergson hat der Ästhetik kein besonderes Werk gewidmet, abgesehen von dem kleinen Essay Le Rire. Darin entfaltet er den Gedanken, dass die Kunst die Schau einer ursprünglichen Reinheit ist. Der Künstler befreit uns gewissermaßen, indem er uns hilft, aus der Unordnung und dem Unzusammenhängenden herauszukommen. Er ist es, der uns die Koexistenz der Dinge offenlegt, die nicht zueinander passen, und uns zu verstehen gibt, dass es keine Komik außerhalb dessen gibt, was im eigentlichen Sinne [83] menschlich ist. Das Komische: „Etwas Mechanisches über3 deckt etwas Lebendiges.“ Diese Formel stellt eine Beziehung zwischen Gegenständen unterschiedlicher Natur her, die normalerweise einander entgegengesetzt sind: Das Komische entsteht aus der Begegnung zweier Ordnungen. Außerdem ist diese Begegnung anormal, ungeschickt, da es sich um ein 1 2 3

Vgl. De l’être à la personne, 2. Teil, Kapitel 1, III [S. 163-176] und 3. Teil, Kapitel 1 [S. 235-263]. Ebd., 2. Teil, Kapitel 1, II [„Der Horizont“, S. 147-162]. [Le rire, NE S. 38; Ü S. 41.]

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Kapitel 1: Der Begriff der Schöpfung

„Überdecken“ handelt. Wir lachen darüber, dass wir das Mechanische sich aus seinem spezifischen Bereich befreien und gewissermaßen in den dem Lebendigen vorbehaltenen Bereich vordringen sehen. Mechanisches, das auf Mechanisches übertragen wird, wird uns niemals zum Lachen bringen. Aber wenn es anscheinend über eine Art von „Freiheit“ verfügt, die es ihm erlaubt, sich mit dem Lebendigen zu mischen und sich dessen Platz widerrechtlich anzueignen, können wir uns das Lachen nicht verkneifen. In dieser Art des durch sich Über-sich-selbst-Hinauswollens des Mechanischen besteht das Komische: Transzendenz- und Befreiungsvermögen, das nicht am richtigen Platz ist. Das Lachen ist ein expressives Verhalten, das die ganze Persönlichkeit bindet, eine auf eine Situation hin organisierte Antwort. Es bewaffnet das freie Leben gegen die Mechanismen, die es anketten wollen. Das Mechanische ist das in sich Abgeschlossene, das Starre, das Lachen eine Flexibilität, ein Bruch der Steifheit des Mechanischen und ein lebendiger Ausdruck des Gefühls, das der Mensch von seiner Überlegenheit hat. Er lacht über die Unordnung, weil er der Harmonie einen Wert beimisst (Kosmos bedeutet zuerst Ordnung); er lacht über die Zerstreuung, weil sie der Triumph der Unordnung [84] über die Ordnung, die Aufmerksamkeit ist; er lacht über den Automatismus, weil alles, was nicht vernünftig und geordnet ist, unsere freien Aktivitäten gegenläufig durchkreuzt. In diesem Kapitel werden wir „Schöpfung“ im Sinne der künstlerischen Invention verstehen, im Gegensatz zum Akt, der am Anfang des Lebens 4 steht als „Bewusstsein, oder besser: Überbewusstsein“ einerseits, und dem freien Willen des Schöpfers, der allein fähig ist, die Abgründe zu überschreiten, die das Leben und die Materie, den Menschen und das Tier trennen, und durch den sich die Zufälligkeit der Welt und unsere eigene Freiheit erklären und garantieren, andererseits, „diese Freiheit, die, wenn schon nicht etwas aus Nichts, so doch Vieles aus Wenigem herauszieht. Wenn es keinen Freiheitsakt am Anfang der Welt gab, dann gäbe es auch keinen Platz für die Freiheit in der Welt. Wenn jedoch die Welt aus dem schöpferischen Akt einer souveränen Freiheit hervorgeht, dann ist unsere Freiheit nicht nur möglich, dann ist sie wirklich, ich will sagen

4

L’évolution créatrice, S. 283 [NE S. 261; Ü S. 296].

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Zweiter Teil: Die künstlerische Aktivität als Befreiungsvermögen

realisierbar durch die Kontaktnahme mit der schöpferischen Anstren5 gung, die im Prinzip unseres Seins liegt.“ 6 Dieser Schöpfer, dieses „etwas“, das „immer schon existiert hat“, dieses Zentrum, „aus dem die Welten emporschießen wie die Raketen eines riesigen Feuerwerksbuketts – vorausgesetzt, dass ich dieses [85] Zentrum nicht als ein Ding ausgebe, sondern als eine Kontinuität des Empor7 schießens“, ist Gott. So definiert hat er „nichts fertig Abgeschlossenes an sich, er ist unaufhörliches Leben, Handlung, Freiheit. Die so verstandene Schöpfung ist kein Mysterium, wir erfahren sie in uns selbst, sobald wir 8 frei handeln.“ Wir lassen also die Diskussionen theologischer Art beiseite, zu welchen die vorangehenden Zitate aufrufen, wo es um die Frage der Natur Gottes, des Mysteriums, geht und wo der Mensch am Werk Gottes teilnimmt. Wir werden uns nur für die Invention und die Kunst in ihren exakten Bedeutungen interessieren. So zeigt sich der Prozess schöpferischer Aktivitäten, welche durch die Ichs, das heißt Lebewesen, die sich in der Welt befinden, mit anderen, realisiert werden. Es handelt sich also um willentliche menschliche Akte, die konkrete Engagements sind, durch die sich die Personalisierung vollzieht. Letztere verwirklicht sich im vollen Sinne nur dank des Lebens der Wirs und der Bestätigung des Schöpfer-Selbsts als Teil eines kollektiven Lebens und als direkt Handelnder im Rhythmus und in der Entwicklung nicht nur einer Gesellschaft, sondern einer ganzen Zivilisation. Mit der Idee der Evolution verschafft sich der Begriff der Schöpfung Einlass in das Bergson’sche Denken. Von der Schöpfung zu sprechen heißt, von freien Schöpfungsakten [86] zu sprechen, und da „wir uns unaufhör9 lich selbst erschaffen“, sind wir frei. Nachdem Bergson das Denken in seiner Beziehung zur Materie (Matière et mémoire) und in seiner Beziehung zur Evolution (L’évolution créatrice) analysiert hat, untersucht er es nun als handwerkliche und künstlerische Aktivität. In jedem von uns schlummert ein Künstler, der die Idee der Unvorhersehbarkeit zulassen 5 6 7 8 9

Vgl. Jacques Chevalier: Bergson, Paris: Plon, S. 237-238. Bergson: Lettre au P. Tonquédec, Mai 1908 [12 mai 1908, Bergson à Joseph de Tonquédec, in: Henri Bergson: Écrits philosophiques, Paris: PUF 2011 («Quadrige»), S. 361-362, hier S. 362]. L’évolution créatrice, S. 270 [NE S. 249; Ü S. 282]. L’évolution créatrice, S. 270 [NE S. 249; Ü S. 282]. L’évolution créatrice, S. 7 [NE S. 7; Ü S. 17].

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Kapitel 1: Der Begriff der Schöpfung

könnte, welche der Handwerker zurückweist. „Insofern wir Mathematiker sind, weisen wir das Unvorhersehbare zurück. Freilich könnten wir es annehmen, insofern wir Künstler sind, denn die Kunst lebt von Schöpfung und impliziert einen latenten Glauben an die Spontaneität der Natur. Die interesselose Kunst aber ist ebenso ein Luxus wie die reine 10 Spekulation. Lange bevor wir Künstler sind, sind wir Handwerker.“ So „sympathisiert“ der Künstler mit dem Gegenstand durch die Intuition, die ihn gerade ins Innere dieses Gegenstands hinein versetzt, gerade so wie der „élan vital“ den Menschen am Schöpfungsakt zu Beginn des Lebens teilhaben lässt. Wenn daher die Kunst von Schöpfung lebt und sie vergleichbar mit der schöpferischen Aktivität des Lebens ist, dann schließt sie, wie das Leben, das Unvorhersehbare und den Glauben an die Spontaneität der Natur ein. Die Kunst stellt sich als Bereicherung der Wirklichkeit, als eine Invention, eine Schöpfung in dem Sinne dar, dass sie dem Menschen eine neue Sicht der Dinge zur Verfügung stellt, die der Seele des Künstlers entstammt, eine Offenbarung eines Wirklichkeitsaspekts, der bisher unbemerkt geblieben oder vollkommen verkannt worden ist. [87] Die künstlerische Schöpfung offenbart sich also als eine Gelegenheit für unsere Freiheit, sich zu zeigen und zu entfalten, und gleichzeitig als ein Mittel der Erkenntnis. Die Analogie zwischen der philosophischen Spekulation und der Kunst wird eines der geläufigen Themen des Bergsonismus werden. Die Kunst wird verstanden als eine spontane Äußerung natürlicher Begabungen und psychischer Virtualitäten, die durch reflektierte Anstrengung zu entwickeln sich eine Philosophie der 11 Intuition zur Aufgabe macht.

Kapitel 2: Befreiende Schöpfung und Emotion [88] Die beiden Werke L’évolution créatrice und Les deux sources de la morale et de la religion ergänzen einander, denn man muss zuerst eine Metaphysik des élan vital akzeptieren, die die offene Moral und „den Appell des Helden“ stützt, bevor man letztere postuliert. So sind wir also keineswegs überrascht, wenn wir das Schöpfungsvermögen als Privileg 10 L’évolution créatrice, S. 49 [NE S. 45; Ü S. 60]. 11 Vgl. Henri Bergson: La perception du changement (Conférences faites à l’Univer-

sité d’Oxford les 26 et 27 mai 1911), in: Ders.: La pensée et le mouvant, S. 170-174 [NE S. 149-153; Ü S. 154-158].

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Zweiter Teil: Die künstlerische Aktivität als Befreiungsvermögen

der Heiligen und Helden sehen, das heißt derer, die zu Empfindungen fähig sind, in Anbetracht dessen, dass „Schöpfung vor allem Emotion be12 deutet.“ Hier treten heikle Probleme auf: Handelt es sich um Schöpfung an sich, in der noumenalen Welt, wie ein Kantianer sagen könnte, oder eher – um in einer realistischen Philosophie zu bleiben – um Schöpfung, die durch „künstlerisches“ Verhalten auf Beweggründe und Bedürfnisse eines Lebens in Gesellschaft antwortet? Im ersten Fall wäre die Schöpfung ein einfacher Dilettantismus und eine bloße Abstraktion. Dagegen wäre im zweiten Fall der Künstler nur Schöpfer, wenn er sich auf die menschlichen und sozialen Realitäten stützt, [89] die er umformt. Wenn im Übrigen die Schöpfung in erster Linie Emotion wäre, wie Bergson behauptet, so würde die Freiheit emotional werden und wir verzichteten schnell auf all das, was mit der Notwendigkeit in Zusammenhang stünde, da die Schöpfung wesentlich, immer noch Bergson zufolge, eine „supra-intellektuelle“ Emotion ist. Auch das Genie, derjenige, der erfindet, würde dahinkommen, sich von materiellen Sorgen zu befreien, 13 um sich „mit dem Prinzip des Lebens selbst eins“ zu fühlen. Das ästhetische Vermögen würde sich aus der Reinigung unserer gewöhnlichen Erkenntnisfunktionen ergeben, und diese Wahrnehmungsreinheit „im14 pliziert (…) einen Bruch mit der nützlichen Konvention.“ Les deux sources unterscheidet Stufen in der Invention, die von der fabulatorischen Funktion bis hin zur „schöpferischen Emotion“ gehen. Wie die Intuition im Essai wird die Invention in Les deux sources nicht definiert und erklärt: Sie wird allein durch die innere Erfahrung begrif15 fen. Wie der freie Akt, der aus dem „Tiefen-Ich“ hervorgeht, bleibt die Invention für das Einsichtsvermögen geheimnisvoll. Das Werk bringt den Künstler zum Ausdruck wie der freie Akt das Tiefen-Ich. Eine Philosophie des Realen muss sich als eine Handlung präsentieren, in der sich die Geschichtlichkeit durch die Diskontinuität der Invention manifestiert, deren Unvorhersehbarkeit gerade ihr Merkmal ist. Diese Unvorhersehbarkeit [90] macht alle Schöpfung möglich. Die Arten entwickeln sich im Laufe ihres Lebens und „die Evolution ist schöpfe12 13 14 15

Les deux sources, S. 41 [NE S. 42; Ü S. 36]. Les deux sources, S. 51 [NE S. 52; Ü S. 43]. Le rire, S. 160 [NE S. 120; Ü S. 111]. Vgl. Essai, 3. Kapitel [NE S. 105-166; Ü S. 125-194: „Von der organischen Strukturierung der Bewusstseinszustände. Die Freiheit“].

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Kapitel 2: Befreiende Schöpfung und Emotion

risch.“ Aber die „spirituelle Energie“ oder der „élan vital“ kommt von weiter oben. Der lyrische Moment der schöpferischen Evolution ruft einen dramatischen Moment hervor, den der Metaphysik der Schöpfung. Die Lyrik befindet sich auf der Stufe der Schöpfung selbst. Die Schöpfung setzt sich fort und die Freiheit offenbart uns dies. Die Freiheit tritt als die ständige Offenbarung unserer selbst für uns selbst in unseren faktischen Engagements auf. Bachelard denkt, dass es für eine vollständige philosophische Untersuchung der poetischen Schöpfung unerlässlich ist, zwischen formaler und materialer Imagination zu unterscheiden, denn „die Vorstellungskräfte unseres Geistes entwickeln sich auf zwei unterschiedlichen Ach16 sen.“ Die einen finden ihren Aufschwung vor der Neuheit, die anderen heben den Grund des Seins aus. Die Vorstellungen der Form unterliegen unserem inneren Leben, diejenigen der Materie sind direkt. Daher gibt es, auch für die sehr idealisierten Bilder, organische Ursprünge. Ist die Vorstellung nicht wie die Pflanze, „die bedürftig ist nach Erde und Him17 mel, Substanz und Form“? Man versteht nun die Wichtigkeit, die die materiellen Elemente in der These des Autors von La psychanalyse du feu einnehmen. An einem Element wie dem Wasser oder dem Feuer lässt sich ein Traumtyp festmachen, der die Glaubensüberzeugungen, die [91] Leidenschaften, das Ideal, die Philosophie eines ganzen Lebens bestimmt. Wenn wir die künstlerische Schöpfung als Befreiungsweg geltend machen, so verstehen wir darunter, dass in jeder inventiven Aktivität außer – was wir später sehen werden – sozialen Faktoren die beiden „Achsen“ der Vorstellungskräfte kooperieren. Die enge Wechselbeziehung zwischen uns und der Welt verlangt, dass jedes Kunstwerk ein Reflex der engen Beziehung ist, die das Lebewesen mit dem Gegenstand verbindet. Das, was sich besonders im Her18 zen bildet, sagt der muslimische Philosoph al-Ġazālī, „sind diese unregelmäßigen Eindrücke, die man ḫawāṭir nennt, das heißt die Gedanken und Erinnerungen, die sich im Herzen bilden, genau wie die Wahrnehmungen kürzlich erfolgter Erkenntnisse oder Erinnerungen.“ Diese Ge16 Gaston Bachelard: L’eau et les rêves. Essai sur l’imagination de la matière, Paris:

José Corti 1942, S. 26.

17 Gaston Bachelard: L’eau et les rêves, S. 4. 18 Abū Ḥāmid Muḥammad al-Ġazālī, geboren und gestorben in Tūs (450–505 n.H.,

1058–1111 n.Chr.)

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Zweiter Teil: Die künstlerische Aktivität als Befreiungsvermögen

danken, fügt al-Ġazālī hinzu, regen den Willen an, „denn die Intention, die Entscheidung und der Wille bilden sich nur, wenn die gewollte Sache sich dem Geist präsentiert. Daher sind die ḫawāṭir Keimzellen der Handlung. Sie setzen das Begehren in Bewegung, dieses regt die Entscheidung an, diese setzt die Intention in Gang und letztere setzt die Glieder in Be19 wegung.“ So verwirklicht der Künstler, ausgehend von der Abbildung der gewollten Sache, durch diesen so geistreich von al-Ġazālī beschriebenen Prozess, die geschaffene Sache. Er verwirklicht sie durch die doppelte Teilhabe am Begehren und an der Furcht, von der Bachelard spricht, [92] Teilhabe am Guten und am Schlechten, stille Teilhabe am Weißen und am Schwarzen – auf dass das materielle Element die ganze Seele 20 einbinde. Beim Bergson des Essai ist das ästhetische Gefühl weder partikulare Empfindung noch besonderes Gefühl. Jedes Gefühl kann in dem Maße einen ästhetischen Charakter annehmen, in dem es hervorgerufen und nicht verursacht wird. „… Das Ziel der Kunst“ liegt „darin …, die aktiven oder vielmehr widerständigen Kräfte unserer Persönlichkeit einzuschläfern und uns so in einen Zustand perfekter Fügsamkeit zu versetzen, in welchem wir die Idee, die uns suggeriert wird, verwirklichen und mit 21 dem ausgedrückten Gefühl sympathisieren.“ Derart, dass zwischen der Seele des Künstlers und uns, sowie zwischen der Natur und uns – durch die Vermittlung des Künstlers – eine Art Kommunikation, Ansteckung 22 und Sympathie entsteht. In Le Rire ist das ästhetische Vermögen auch nicht mehr irgendein spezifisches Vermögen, das man nicht auf unsere gebräuchlichen Erkenntnistätigkeiten reduzieren könnte, es ergibt sich vielmehr aus deren Reinigung. Es ist eine natürliche Begabung und nicht die Wirkung einer bewussten Anstrengung, „eine angeborene, feststellbare Unbeteiligtheit

19 al-Ġazālī: Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn (Die Wiederbelebung der Religionswissenschaf-

ten), 3. Bd., S. 26 [al-Ġazālī: Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn, K. 21 (Kitāb šarḥ ʿaǧāʾib al-qalb), b. 11, Kairo: Dār as-Salām 2007, S. 883, vgl. auch die Übersetzung in Die Wunder des Herzens. Ein Beitrag zur Religionspsychologie des Islām. Aus Al-Ġazzālīs Werk Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn übertragen und mit Kommentar und Glossar versehen von Karl Friedrich Eckmann, Mainz 1960, S. 165]. 20 Bachelard: L’eau et les rêves, S. 17. 21 Essai, S. 11 [NE S. 11; Ü S. 18]. 22 „… die Regelmäßigkeit des Rhythmus stellt zwischen ihm und uns eine Art Verbindung her“, Essai, S. 9 [NE S. 9; Ü S. 16].

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Kapitel 2: Befreiende Schöpfung und Emotion

der Sinne oder des Bewusstseins“ (spontane Manifestation der Intuition, 23 wie es L’évolution créatrice behaupten wird).

Kapitel 3: Invention und Intuition Das dritte Kapitel des Essai definiert die freie Handlung durch die ästhetische Schöpfung und skizziert so eine Psychologie des Erfinder-Ichs. Nur scheint es uns, dass man die beiden Sachen nicht gleichsetzen kann, ohne willkürlich untrennbare Elemente zu isolieren. Man kann weder den freien Akt unabhängig von Situationen und Dispositionen des Handelnden definieren, noch kann man die Schöpfung dadurch definieren, dass man von ihr nur einen einzigen Faktor berücksichtigt, die unterschiedlichen Determinationen und ihre vielfältigen Überlagerungen aber im Dunkeln lässt. Wir sind in der zwischenmenschlichen Situation von ästhetischer Gemeinschaft. Ein Kunstwerk zu schaffen bedeutet not wendigerweise, sich in einem menschlichen Beziehungssystem zu befinden. Die Intuition, die als ein Erfassen dieser Wirklichkeit verstanden wird, als ein feiner Sinn für das Leben in einer umfassenden und unmittelbaren Weise, versetzt den Künstler ins Innere der brutalen Solidarität von Situationen und in zwischenmenschliche Beziehungen. Sie erlaubt ihm, wie Bergson sagt, „das wahrzunehmen, was die anderen nur [94] flüchtig bemerken“. Die Intuition wäre dann ein Moment jäher Erleuchtung, die einen sozial inspirierten Ursprung hat ohne direkte Beziehung zur Mystik oder den Mysterien. In diesem weniger Bergson’schen Sinn, den wir der Intuition geben, wird eine Art Einfallsreichtum möglich. Wir sind alle – zu unterschiedlichen Anteilen – Teilhaber an diesem Einfallsreichtum, welcher notwendig ist, um auf die vielfältigen Situationen zu reagieren, welche das Leben ständig hervorbringt. Wenn man aber den Einfallsreichtum seines zwischenmenschlichen Inhalts, durch den sich die Kunst als kommunizierbar erweist und die Invention eine soziale Bedeutung erhält, entleert, dann wäre die Intuition etwas Wundersames, welches das Feld der menschlichen Angst übersteigen würde. Indem er die Intuition als „die absolute Erkenntnis“ definiert, macht Bergson das Problem noch komplexer; es läuft wieder darauf hinaus, das 23 Le Rire, S. 160 [NE S. 120; Ü S. 111].

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Zweiter Teil: Die künstlerische Aktivität als Befreiungsvermögen

Unbekannte mit dem Unbekannten zu erklären. Die Theologen definieren Gott nicht anders: „der absolut absolute Absolute“. Ebenso fragen wir uns, ob es nicht einen gewissen Widerspruch zwischen den Termini dieser anderen Definition gibt, nach der die Intuition „interesseloser, seiner 24 selbst bewusst gewordener Instinkt“ ist. In Ermangelung engerer Verbindungen zu den sozialen Realitäten erweist sich Bergsons Theorie der Schöpfung als eine ohne Rückgrat, sie stützt sich auf nichtexperimentelle und nicht verallgemeinerbare Beweise (weil sie ursprünglich emotionaler und rein persönlicher Natur sind). Es ist ganz einfach, dieser Konzeption Fakten aus der alltäglichen Erfahrung entgegenzuhalten, um sie aus der transzendenten Zone [95] „großer mystischer Emotionen“ zu vertreiben und sie der frischen Luft auszusetzen. Wenn eine Person ein Instrument baut, handelt es sich für sie um eine Invention, allein die Emotion – und es gibt eine, die den Schöp25 fungsakt begleitet – ist oft intensiver am Ende als am Anfang. Der Primitive ist bewegt, festzustellen, dass der Stock ein nützliches Instrument wird, ein Hebel. Die Freude, aus diesem einfachen Stock ein ungeahntes Hilfsmittel zu machen, krönt den über die Natur errungenen Erfolg: die Genugtuung, sich als Handwerker und Veränderer im Universum zu entdecken. Die Invention ist ein Bewusstwerden unserer selbst, und jede schöpferische Arbeit hat eine besondere Bedeutung in Bezug auf unsere Freiheit. So finden wir die Emotion, die Bergson an den Anfang der Invention stellt, vornehmlich und stärker an ihrem Ende. Im Laufe der schöpferischen Schritte gibt es wohl auch Sorgen und unvollständige Freuden. Was den Anfang angeht, so muss man ihn eher in den Bedürfnissen suchen, die das Leben schafft, und in der Notwendigkeit zu handeln, um diese Bedürfnisse zu befriedigen. Das schöpferische Vermögen eines Künstlers ist sicherlich zu einem großen Teil vom eigenen Genie des Künstlers abhängig: Der Bildhauer hat den Marmor vor sich, er hat ihn nicht geschaffen, genauso wenig wie die Werkzeuge oder die darzustellende [96] Persönlichkeit. Die Materie ist gegeben, immer dieselbe, 24 [L’évolution créatrice, NE S. 178; Ü S. 204] 25 Für Bergson gibt es zwei Emotionen. Die eine entsteht in Folge einer Repräsen-

tation, die zweite als schöpferische Emotion. Neben der, „die die Wirkung der geistigen Vorstellung ist und sich dieser noch hinzufügt, gibt es eine andere, die der Vorstellung vorangeht, sie virtuell enthält und bis zu einem gewissen Punkte ihre Ursache ist.“ (Les deux sources, S. 44 [NE S. 44; Ü S. 37], vgl. auch S. 40-43).

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Kapitel 3: Invention und Intuition

aber die Form muss geschaffen werden. Auch wenn die Formen dem Künstler eigen sind, bleibt es dennoch so, dass die Gesellschaft ihm die Modelle und die Techniken durch Normen und oft uralte Erfahrungen sowie durch über Generationen ständig perfektionierte Arbeitswerkzeuge zur Verfügung stellt. Ebenso bietet die Gesellschaft dem Künstler die allgemeinen, moralischen und ästhetischen Werte einer Zeit, an denen er teilhat und die er sich in seinen Werken auszudrücken bemüht. Sicherlich spielen die erfinderische Intuition und die Vorstellung in der Hypothesenbildung genauso wie in der Verbesserung von Arbeitsmethoden eine Rolle, aber sie sind dennoch etwas anderes als die Invention. Weder unbedingte Inspiration (idealistischer Standpunkt), noch mechanistischer Determinismus. Die Kunstwerke bringen einander hervor wie auch die philosophischen Systeme oder die literarischen Schulen, und ein Künstler geht als Schöpfer aus der Kultur seiner Gesellschaft und der ganzen Zivilisation, in der er sich bewegt, hervor. Deshalb ist, wie Alain behauptet, „die Improvisation ohne Regel niemals schön. (…) 26 Sagen wir: Eine Träumerei ist kein Werk.“ Das Reale allein ist schön und Inspirationsquelle für die Schönheit: Das Genie erkennt man nur in seinen gemalten, modulierten, geschriebenen oder gesungenen Realisationen. Das Genie kann nicht stumm bleiben oder ein einsames Leben erdulden: Jedes Werk ist [97] persönlich und kollektiv zugleich. Wie André Malraux sagt, ist die Verbindung eine Verwandlung: Die Dialektik ist 27 eine Dialektik des Bruchs. Im Werk, das ihm vorausgeht, sucht der Künstler den Platz, der für ihn freigelassen wurde, und nicht die Form, die er zu übernehmen hat. Ebenso liefert die Kultur die Rahmen, innerhalb derer die Kunst ihrer besonderen Dialektik folgen kann. Historische Schemata und Psychologie der Schöpfung ergänzen einander.

Kapitel 4: Jede Schöpfung ist ein zwischenmenschliches Gut Vielleicht gäbe es auf den ersten Blick einen Fall, bei dem die künstlerische Schöpfung eine „reine“ Intuition oder ein imaginatives Verhalten, das keine Verbindungen zur gegenständlichen Umgebung hat und kei26 Alain: Système des beaux-arts, Paris: Gallimard 1926, S. 33 [NA: Alain: Système

des beaux-arts, Paris : Gallimard 2014, S. 34].

27 André Malraux: Psychologie de l’art, Genf: Éd. Skira, 1947–1948–1950 (vgl. beson-

ders Bd. 3) [André Malraux: Psychologie der Kunst. 2 Bde., Baden-Baden: Klein 1949/58].

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Zweiter Teil: Die künstlerische Aktivität als Befreiungsvermögen

nem früheren Einfluss unterworfen ist, zur Ursache haben könnte: Es handelt sich um den Fall der abstrakten Kunst, die der inneren Freiheit zu entsprechen scheint, der künstlerischen Empfindung im Bergson’schen Sinne. Wenn aber selbst in diesem privilegierten Fall der abstrakten Kunst der Künstler durch die Imagination geleitet ist, der irgendeine Intention zugrunde liegt, wird das Werk nur zum „Kunstwerk“ erklärt, wenn man eine Bedeutung dafür findet, d.h. wenn es irgendeine Realität ausdrückt oder auf das Bedürfnis irgendeiner Ordnung antwortet. Aber wo findet man die Kriterien für diese Bedeutung außer in der Gesellschaft? Durch den künstlerischen Ausdruck verlässt der Mensch seine Einsamkeit, um in die Gemeinschaft bewußter Wesen einzutreten. Die künstlerische Schöpfung lässt ihn herauskommen aus seiner Isolation, aus seiner Verzweiflung, [99] die durch die erdrückende Gegenwart von Gegenständen hervorgerufen wird, die die Sehnsucht nach seinesgleichen und sein Bedürfnis, mit ihnen zu kommunizieren, noch betont. Der Erfinder wird, indem er die Materie umformt oder einen Gegenstand erschafft, deren Herr und dadurch frei. Durch den Gebrauch, den man vom Gegenstand macht, und durch den Ort, den die Invention im Leben einnimmt, empfängt die Schöpfung ihren Sinn und spiegelt die Freiheit des Menschen wieder. Die Kunst bietet Wege in die Welt der Seelengemeinschaften, oder sie ist keine Kunst. Die Schöpfung im Allgemeinen hat entweder eine Bedeutung, antwortet auf ein Bedürfnis, löst eine Problemsituation oder sie ist keine Schöpfung, sondern willkürliche Handlung. Wenn der künstlerische Ausdruck so unscharf bleibt, dass sich der direkte Kontakt zwischen dem Künstler und seinem Publikum (der übrigens nicht auf Anhieb eintritt) nicht einstellt, bleibt das Werk toter Buchstabe. Anstatt seine Einsamkeit durch die Ästhetik zu vertreiben, gerät der Mensch noch tiefer hinein, bis sie das Limit erreicht hat: die Traurigkeit, sich unverstanden zu sehen. Die Kunst duldet keine Isolation: Sie ist von Natur aus Gemeinschaft. Der von anderen nicht verstandene Künstler leidet, weil er seine Traurigkeit oder seine Freude annehmen muss, ohne sie kommunizieren zu können, seine Botschaft verwandelt sich in bloßen Monolog. Darum bemüht er sich, seine Kunst ausdrucksstark, kommunizierbar zu machen. In gleicher Weise suchen die Spezialisten der Geschichte und der Kunstkritik in einer künstlerischen Schöpfung deren Bedeutung, das anvisierte Ziel, interpretieren die Symbole, bemühen sich, Bezugspunkte im Leben des Autors zu finden. 98

Kapitel 4: Jede Schöpfung ist ein zwischenmenschliches Gut

Man muss, wie Nietzsche sagt, den Maler erraten, [100] um das Bild zu verstehen. Eine natürliche Neigung, eine Art Bedürfnis will, dass jedes Bild eines großen Malers einen erklärbaren „rationalen“ Sinn hat, ohne den es ein Phantasieprodukt wäre. „Der Dichter ordnet seine Eindrücke, indem er sie mit einer Tradition verbindet. In seiner guten Form belebt und verjüngt ein Kulturkomplex eine Tradition. In seiner schlechten Form ist der Kulturkomplex der schulische Habitus eines Schriftstellers 28 ohne Vorstellungskraft.“ Das Erfordernis, die historische Situation zu studieren und den kulturellen Kontext des Werkschaffenden zu rekonstruieren, bevor man ein Werk erklärt, beschränkt sich keineswegs auf den Bereich der Künste, es ist für alle menschlichen schöpferischen Aktivitäten gültig. Man versteht z. B. den Platonismus besser, wenn man damit beginnt, Platon in seine 29 Zeit und in Beziehung zum vorsokratischen Denken einzuordnen. Als Beispiel für die engen Beziehungen zwischen Kunst und Philosophie nennt Etienne Souriau gerade den Fall von Bergson, dessen Geburtsjahr „ebenso das des Dichters Albert Samain und des Malers Georges Seurat ist. Die Tatsache, dass Bergson chronologisch den Neo-Impressionisten zugeordnet ist und nicht der Phalanx von Monet, Manet, Sisley, Pissarro, Renoir, die alle durchschnittlich zwanzig Jahre älter sind und ihre stärkste Schaffensperiode haben, als Bergson noch Student ist – das ist eine [101] menschliche Tatsache, aus der der Bergsonismus, als geistige Tatsache, nicht herausgerissen werden kann, ohne Schaden zu neh30 men.“

Kapitel 5: Schöpfung und soziale Realitäten [102] Der wahrhaftige Schöpfer, dessen Werk zu seiner Befreiung und der seinesgleichen beiträgt, muss ein sich für alle Horizonte oder Zwi31 schenhorizonte, die ihn umgeben, öffnendes Bewusstsein haben und ein Herz, das, um einen Vergleich von al-Ġazālī wieder aufzunehmen, 28 Bachelard: L’eau et les rêves, S. 26. 29 Vgl. Pierre-Maxime Schuhl: Œuvre de Platon, Paris: Hachette 1954, S. 5-58, 74-77

und passim, und Ders.: Platon et l’Art de son temps (arts plastiques), Paris: PUF 2 1952, besonders S. 20ff. 30 Étienne Souriau: Art et Philosophie, in: Revue philosophique de la France et de l’Étranger 79 (1954) Nr. 1-3, S. 1-21, hier S. 4. 31 Bezüglich dieses Begriffs vgl. De l’être à la personne, 2. Teil, Kapitel 1, II [S. 147-162].

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Zweiter Teil: Die künstlerische Aktivität als Befreiungsvermögen

„wie ein aufgeschlagenes Zelt mit mehreren Türen ist, durch jedwelche von denen die unterschiedlichen Zustände, aḥwāl, hereinkommen, oder wie ein Spiegel, durch den alle Arten von Bildern vorüberziehen, oder wie ein Teich, in dem sich die Wasser der unterschiedlichen Bäche ent32 leeren, die sie dorthin führten …“ Diese unterschiedlichen Eindrücke bereichern lose das Bewusstseinsfeld des Schöpfers und differenzieren seine Weltsicht, sie kommen in massiven Wellen oder getrennt voneinander, die einen verstärken und vergrößern die bereits existierenden Blöcke, die anderen reißen die Einheiten auseinander, um sich Platz zu [103] schaffen. Ein Künstlerbewusstsein ist umso weiter und umso reicher, je besser es sich für Bewegungen und Konflikte von Eindrücken eignet, die sich in ihm in allen Situationen entfalten und deren Ursprung sich entweder in den Sinnen oder im Imaginären (Begehren, Zorn, Leidenschaft, Revolte oder moralisches Ideal) befindet. Die Aufgabe des genialen Schöpfers besteht darin, aus dieser Gesamtheit der Eindrücke eine zusammenhängende und signifikante Realität zu gestalten, indem er jenseits des rein und individuell Gegebenen den charakteristischen Aspekt einer Zeit oder einer Gesellschaft findet und jenseits des Empirischen und Sinnlichen die ewige und menschliche Verfassung. Das Du ist eine Notwendigkeit für die Affirmation des Ich. Es existiert eine aller Erfahrung vorausgehende Gewissheit des Du. Die Erkenntnis des Selbst ist nicht zuerst, wir rekonstruieren nicht die anderen nach Maßgabe dessen, was wir durch Selbstbeobachtung in uns selbst entdecken. Die Personalisierung geschieht umgekehrt durch und in einem menschlichen Milieu. Der Analogieschluss ist nur in einer introspektiven Psychologie gültig, dort gibt es außerdem nur fiktive und willkürliche Kriterien. Die Erkenntnis des Selbst geht der der anderen nicht 33 voraus: Das Ich des Kindes ist „ein Geschenk der anderen“. Das Wir geht dem Ich, dem Du und ihrer Unterscheidung voraus. Am Ausgangspunkt gibt es das Wir der Kommunität [die real existierende Gemeinschaft, M. K.] und am Ankunftspunkt das Wir der Kommunion [die ideale Gemeinschaft, M. K.]. In der Kommunität ist es die Schöpfung und der Schöpfer, die Kunst und [104] der Künstler zugleich, die ihre Bedeutung 32 al-Ġazālī: Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn, 3. Bd., S. 25 [al-Ġazālī: Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn, K. 21

(Kitāb sharḥ ʿaǧāʾib al-qalb), b. 11, S. 883; vgl. Übersetzung Die Wunder des Herzens, S. 164]. 33 Vgl. Georges Gusdorf: Traité de l’existence morale, Paris: Armand Colin 1949, und unser De l’Être à la Personne, 1. Teil, Kapitel 1 und 2.

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Kapitel 5: Schöpfung und soziale Realitäten

erhalten, indem sie sich in die dialektischen Beziehungen einordnen. Diese weiten sich in der Kommunion aus, um die Gemeinschaft der Seelen einzuschließen, die Seelen sind immer für die unendlichen Reichtümer geöffnet, welche diese Beziehungen als mögliche in sich tragen. Darum ist das menschliche Leben nichts anderes als das Engagement in der dialektischen Synthese Kommunität-Kommunion: Aus diesem Grund hat jede Schöpfung notwendigerweise ihre Quellen in der einen wie in der 34 anderen. In der Auseinandersetzung mit dem Problem der Schöpfung geht Bergson in L’évolution créatrice bis zu der Kraft zurück, die sich durch die Hervorbringung des materiellen Universums und die Erschaffung lebender Organismen manifestiert, dann findet er, gestützt auf die biologischen Daten seiner Zeit, in uns – vor allem durch die Reflexion und die deduktiven Gedankengänge – den Impuls, aus dem unser Wesen ent35 springt. [105] Aber auf dem Umweg über diese These sind wir in einen Komplex aus Biologie und Metaphysik eingestiegen, der uns weit von der Ästhetik und der Befreiung entfernt. Das Geheimnis des Anfangs, von dem die Schöpfung ausgeht, wird von neuem in Les deux sources vorgestellt. Eine neue Form der Intuition erlaubt es den Mystikern, in Kontakt mit dem transzendenten Wesen zu treten, das die Quelle aller Dinge wäre, Gott, dessen Natur Liebe ist. Um dem Leser zu gestatten, sich davon eine Idee zu machen, besinnt sich Bergson auf die Analogie zwischen der mystischen Intuition und der Erfahrung der künstlerischen Schöpfung. Im vorliegenden Kapitel ist es diese letztere Art der Schöpfung, die uns interessiert. 34 Indem sie die Schönen Künste als Ausdruck des Gefühls definieren, d. h. als eine

der grundlegenden Seinsweisen der Menschheit, legen die Saint-Simonisten diese wechselseitige Handlung aus Individuellem und Sozialem offen. Ohne die Schönen Künste „gäbe es eine Leerstelle im individuellen Leben, eine Leerstelle im sozialen Leben. Durch sie ist der Mensch auf soziale Handlungen ausgerichtet, wodurch er erzogen wird, sein privates Interesse im allgemeinen Interesse zu sehen. Sie sind die Quelle der Hingabe, der lebendigen und zärtlichen Affektionen.“ (Saint-Simon [Claude Henri de Rouvroy, Comte de Saint-Simon]: Doctrine de Saint-Simon. Exposition Jahrgang 1 (1829), neu herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von C. Bouglé, Paris: Marcel Rivière 1924, S. 143). 35 Es ist zu bemerken, dass die Entdeckung des élan vital sich mit Hilfe der Reflexion und der Deduktion zu vollziehen scheint, obwohl Bergson behauptet, dass dies eines der Privilegien der Intuition sei.

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Zweiter Teil: Die künstlerische Aktivität als Befreiungsvermögen

Gleichwohl beraubt Bergson, indem er die Invention von ihren materiellen Bedingungen isoliert, jede Schöpfung ihrer sozialen Beziehungen und Erfordernisse, er stellt uns dann vor eine gewisse Freiheit, welche höchstens eine motorische Fähigkeit oder kinetische Freiheit ist, wenn wir uns so ausdrücken dürfen. Ein Affe könnte einen motorischen Test genauso gut bestehen wie ein Kind, und manchmal besser. Aber Letzteres führt, um dieselbe Übung zu vervollständigen, in die Erfahrung einen neuen, sehr wichtigen Faktor ein: die Anstrengung, die Situation zu erfassen; es setzt seine Ehre daran. Es will das Hindernis bezwingen, operative Abläufe erfinden gemäß dem, was es bei anderen gesehen hat, und aufgrund der eigenen vergangenen Erfahrungen: wesentliche Rolle des Gedächtnisses für die Arbeit der Invention. Die Freiheit dieses Kindes entfaltet sich in der Wahl der Methode, der es folgt, und aus der Untersuchung, der es das Problem im Vorhinein unterzieht. [106] Sein „Gespür“ oder seine Intuition kann ihm helfen, die richtige Lösung zu finden, ohne sich zu sehr im Ausprobieren der Hypothesen, im Herumtasten zu verlieren. Die intuitive und ungreifbare Vorahnung des Kindes von der Lösung ist nicht die Lösung selbst. Sehr häufig ist die erste Ansicht verwirrt, das Kind sieht das Problem undeutlich im Profil, ohne es in einem klaren und wohl definierten Gedanken zusammenfassen zu können. Durch diesen Vergleich zeigt uns die Psychologie, wie die Freiheit auf einer Ebene einfachster Akte am Werk ist. Auf der Ebene der Verstandesvorgänge gewahrt man sie leichter. Da ist zum Beispiel der Fall des Vermessungsingenieurs vor einem Problem. Muss man nicht auch hier die Gewohnheit zu Rate ziehen? Besteht nicht „der geometrische Geist“ in einer Art Vertrautheit, die durch die Übung 36 gestärkt wird, bis sie zu einer Art Erleuchtung wird? Das Genie, so sagt man, braucht Langmut. „Indem man immer wieder darüber nachdenkt, entdeckt man die Schwerkraft.“ Zu ermessen und zu verstehen, was ge nial ist, will nicht heißen, allein das zu schätzen und zu verstehen, was nur die Spezialisten verstehen und erklären können. Ein Werk ist umso genialer, je reicher, tiefer und besser sein Inhalt dazu geeignet ist, den Singular hinter sich zu lassen zugunsten der Inspiration und Bewegung 36 Für die innige – und notwendige – Verbindung zwischen dem intuitiven und

diskursiven Denken in der Mathematik vgl. Georges Bouligand: Les méthodes mathématiques. De l’intuition à l’algébrisme, la structure des théories, l’axiomatisation, les méthodes directes, la formalisation, Paris: Centre de Documentation universitaire Tournier & Constans 1948.

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Kapitel 5: Schöpfung und soziale Realitäten

der größtmöglichen Anzahl von Personen. Wenn all das, was verständlich ist, nicht genial ist, dann ist im Gegenteil [107] all das, was wirklich genial ist, verständlich: Das Einfache ist nicht das Einfältige. Unter all ihren Aspekten analysiert scheint man die Intuition besser durch die soziale Wirklichkeit erklären zu können. Wenn sie sich außerhalb jedes „Flirts“ mit der Gesellschaft verwirklichen könnte und allein von der persönlichen „Spontaneität“ abhängig wäre, ohne Öffnung für die Welt zwischenmenschlicher Beziehungen, würde jede Schöpfung (künstlerisch, moralisch oder religiös) mit Reaktionen der folgenden Sorte aufgenommen: „Das macht keinen Sinn“, oder: „Was soll das heißen?“ Denn es hängt von der Dichte ihrer möglichen oder tatsächlichen Nützlichkeit – gegenwärtig oder zukünftig, intellektuell, spirituell oder materiell –, von den Dimensionen der Leere, die sie ausfüllt, ab, wie eine Schöpfung bewertet wird. Ein Werk erwartet das Imprimatur der Öffentlichkeit, an die es sich wendet. Und wenn ein Erfinder stirbt, so ist es auch die Gesellschaft, die seine Hauptwerke unsterblich macht und eine Auswahl zwischen den Schöpfungen trifft. Das Kunstwerk ist ein Band zwischen Generationen und Völkern, die gemeinsame Sprache für die ganze Menschheit. Sicherlich ist ein großer Teil einer Schöpfung den persönlichen Fähigkeiten, dem spezifischen Genie des Schöpfers geschuldet. Die Invention, das Kunstwerk sind teilweise indeterminiert, aber Indetermination [108] ist 37 nicht Zufall. Wenn die Erkenntnis von Elementen es uns nicht erlaubt, zu erraten, um was es sich beim vollendeten Werk handelt, kann man weder von einem Werk sprechen noch es als eine zu realisierende Idee begreifen, wenn man nicht von dieser Erkenntnis der Elemente ausginge. Die Vorstellung bedarf eines Ausgangsbegriffs. Die technischen Elemente, welche die Gesellschaft uns zur Verfügung stellt, die durch die Menschen veränderte Natur und die kulturellen Schemata einer Zivilisation sind Basisbedingungen für das Heranreifen und die Entwicklung des spezifischen Genies des Schöpfers. Die Beispiele, die diese These illustrieren, sind schlüssig: Homer hat das Universum seiner Epen nicht erschaffen. Ausgehend von historischen Tatsachen (dem Trojanischen Krieg, dem Kampf um die Meer38 engen, den religiösen Glaubensüberzeugungen der Umgebung, in der er 37 Vgl. De l’être à la personne, 3. Teil, Kapitel 2, IV [S. 284-294]. 38 Vgl. unten, S. [141-153].

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Zweiter Teil: Die künstlerische Aktivität als Befreiungsvermögen

lebte) gab Homer seiner Vorstellung freien Lauf, indem er diese Tatsachen ausschmückte und indem er sie „in Romanform brachte“. Die Ilias und die Odyssee wurden durch klare Gegebenheiten bestimmt, die Homer in der Atmosphäre seiner Zeit fand. Wenn der moderne Existenzialismus unter gewissen Gesichtspunkten einer Ontologie des Scheiterns ähnelt, liegt das nicht daran, dass er genau aus einem Nachdenken über die schwierigen Situationen der chronischen Krisen und des Scheiterns kommt, welche wir auf unterschiedlichen Ebenen erleben, sowohl auf der Ebene von Individuen als auch auf der von Nationen, ja sogar auf der der ganzen zeitgenössischen Menschheit? 39 [109] Ein nicht weniger treffendes Beispiel ist das Dostojewskis. Aufgezogen von einem Vater, der Habgier und Grausamkeit als dominierende Charakterzüge aufwies, hatte Dostojewski gegenüber seinem Vater von Kindheit an eine Art Widerwillen und wünschte ihm den Tod. Sein ganzes Werk bleibt durch ein Gefühl der Schuld und der Gewissensbisse gekennzeichnet. Die Themen der Sünde und der Erlösung kehren dort oft wieder. Die Brüder Karamasow haben den Vatermord zum Thema. Ein anderer bestimmender Einfluss auf sein (schon aufgrund der empfangenen Erziehung gewalttätiges) Temperament ist sein vierjähriger Aufenthalt in einem Zuchthaus in Sibirien unter 250 von Rechts wegen Verurteilten. Aus einem Totenhaus, Schuld und Sühne, Die Dämonen ... So hat Dostojewski wirklich – sein ganzes Werk hindurch – seinen eigenen Prozess erlebt. In einer Gesellschaft, oder auch in einer anderen Zeit, in der er anderen Einflüssen unterworfen gewesen wäre als denen, die er aufgenommen hat, hätte er ein anderes Werk verfasst. Jede Zeit und jedes Milieu hat seine Neigungen, seine ästhetischen und moralischen Kriterien, Weisen des Fühlens, des Denkens und des Handelns, die ihnen eigen sind. Im Bereich der Musik finden wir [110] dasselbe Phänomen und kommen zu Schlussfolgerungen, die den vorhergehenden ähnlich sind. Wie der Dichter drückt der Musiker – in Tönen – Eindrücke, Empfindungen und unterschiedliche Themen aus. Er stellt den Rhythmus des Lebens dar und akzentuiert ihn, aber er erschafft weder den Rhythmus, noch die Töne, noch das Leben. Er komponiert ausgehend von den Ele39 Vgl. z. B. André Suarès: Trois hommes: Pascal, Ibsen et Dostoïevsky, Paris: Galli-

mard 21935; Jacques Madaule: Amour et agressivité chez Dostoïevsky, Brügge: Desclée de Brouwer 1946 (Études carméliennes).

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Kapitel 5: Schöpfung und soziale Realitäten

menten des Lebens, von den folkloristischen Schemata und den Modellen, die er in der Gesellschaft findet. Die musikalische Harmonie beruht auf bekannten Gesetzen. Das Fundament der Musik als Kunst fällt mit dem der Mathematik zusammen. Die Pythagoreer haben nicht nur die Affinitäten beleuchtet, die es zwischen der Musik und der Mathematik gibt, sondern auch die musikalischen Intervalle und die Tonleiter studiert – ausgehend von Proportionen und arithmetischen Regeln. Daher erklärt es sich, dass in der Geschichte der griechischen Kultur der Unterricht der Musik gleichzeitig mit dem der heute als Physik und Mathematik bekannten Fächer gegeben wurde. Noch heutzutage interessieren sich viele Mathematiker und Physiker für die Musik. Es ist klar, dass man, um zu singen, erst einmal Lust haben muss, zu singen, dass man das Bedürfnis verspüren muss, sich durch eine Melodie auszudrücken. Wir befinden uns also mitten im subjektiven Bereich, soviel ist sicher, jedoch schließt die Subjektivität keineswegs das Soziale aus. Wir haben wiederholt zu zeigen versucht, dass jede Empfindung, wie intim sie auch ist, das Siegel der Gesellschaft trägt. Die Gesellschaft gibt der Empfindung ihren Sinn, ordnet sie nach konventionellen, von ihr aufgestellten Kriterien ein [111] und färbt sie so in ihrem Inhalt und in ihrem Ausdruck. Wie Bergson mit Recht sagt: „Die uneigennützige Kunst ist ein Luxus wie die Spekulation. Lange bevor wir Künstler sind, 40 sind wir Handwerker.“ Heutzutage versuchen die Parteigänger der konkreten Musik, „Geräusche“ zu untersuchen, eine Kompositionstechnik der Geräusche zu be41 gründen. Das Ziel der Initiatoren ist nicht, sich vor einem Publikum auszudrücken, „sondern es zu provozieren, den Gegenstand zu betrachten. Es ist vielleicht der Gegenstand, der uns etwas zu sagen hat“ (Pierre Schaeffer). Dieser Ruf des Gegenstands und diese Aufmerksamkeit, die man den Geräuschen entgegenbringt – in diesem Fall durch die Kraft von Dingen, 40 L’évolution créatrice, S. 45. P.-M. Schuhl führt eine große Zahl von Texten an, die

zeigen, dass bis vor relativ kurzer Zeit die Begriffe der Kunst und des Handwerks dieselbe Realität ausdrückten. Vgl. P.-M. Schuhl: Machinisme et philosophie, Paris: PUF 21947. 41 Eine Unternehmung, die 1948 begann und unter der Schirmherrschaft des französischen Rundfunks steht. Wie jeder Versuch in seinen Anfängen sucht die konkrete Musik weiter nach ihren Techniken wie auch nach ihren Ausdrucksweisen.

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Zweiter Teil: Die künstlerische Aktivität als Befreiungsvermögen

kann man wohl sagen –, lassen sich nur im besonderen Kontext unserer Zivilisation in ihrer aktuellen, immer mechanisierteren Phase verstehen. Warum ist das industrielle Leben nicht genauso die Quelle von Künsten, wie es beispielsweise das Landleben ist? Das Material der konkreten Musik ist einfach der Ton in seinem natürlichen Zustand, so wie er von der maschinisierten Gesellschaft hervorgebracht wird. Die Maschinen fixie ren ihn, verändern ihn in ihren Manipulationen. Was den durch die konkrete Musik erfüllten Raum betrifft, so ist es „der, den die Maschine bestimmt, [112] diese Welt von Vibrationen, von Farben, von Volumen, die unseren noch in Mechanismen gefangenen Musikerohren bisher unbe42 kannt waren“ (Serge Moreux). Daher ist die Rolle des Schöpfers in der Kunst primär, die adäquate Form für die Themen zu entdecken, die sich im Milieu seiner Zeit finden. Die Meisterwerke schweben nicht ewig in irgendeinem Limbus möglicher Essenzen, wo der Künstler sie sozusagen nur am Schopf zu packen braucht. „Sobald es einen Bach gab, wurde die Johannespassion ein mögliches Sein, aber indem er ihr Existenz verlieh, machte Bach sie zu dem, 43 was sie ist: Die Existenz war also die Quelle dieser Möglichkeit.“ Es ist zu ergänzen, dass die christliche Kultur der Gesellschaft, in der Bach lebte, ihrerseits die Quelle der Möglichkeit dieser Existenz war und dass, wenn jede Essenz nur durch ihre Existenz besteht, diese letztere ihrerseits durch die Umgebung bedingt ist, die ihr die Möglichkeit gibt, sich zu verwirklichen bzw. wirkliche Gegenwart zu werden. [113] Die Originalität des Künstlers liegt in der Übersetzung, die er den in seiner Umgebung gefundenen Themen gibt, im Akzent, den er auf diesen oder jenen Aspekt der Realität legt, und im persönlichen Verhalten, das er an den Tag legt, um dorthin zu gelangen. Dieselbe biblische Szene kann durch den Künstler auf unterschiedliche Weise verstanden und übersetzt werden, wofür uns die Kunstgeschichte so viele Beispiele lie42 Unseres Wissens ist bisher nichts über die konkrete Musik erschienen. Wir

zitieren auf der Grundlage von Mitschriften zweier Vorlesungen, die im März 1950 an der École Normale de Musique in Paris und an der Sorbonne stattgefunden haben. Dieses Kapitel war bereits abgeschlossen, als das Werk Pierre Schaeffers À la recherche d’une musique concrète (Paris: Seuil 1952) erschien, in dem der Autor die Absicht dieser Musik beschreibt, dem schon Gehörten zu entfliehen und eine neue Tonwelt zu entdecken. 43 Étienne Gilson: L’Être et l’essence, Paris: Vrin 11948, 32008 (Bibliothèques des textes philosophiques), S. 308.

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Kapitel 5: Schöpfung und soziale Realitäten

fert. Und in jedem Fall gibt es eine Art kombinatorischer Algebra der Daten, der Proportionen, der Lichtspiele, der Harmonien, der Gleichgewichte und der Arabesken des Bildes. All das hängt natürlich von Verfassung und Geschmack des Künstlers ab. Ebenso gewiss ist jedoch, dass die Auffassungen über Kunst und die Techniken, die der Schöpfer in der Gesellschaft erlernt, sowie die ideologischen Einflüsse, denen er dort ausgesetzt ist, für das Werk genauso viel, wenn nicht mehr, ausmachen. Dass man die Schöpfung als die Manifestation von freien Akten begreifen muss, damit stimmen wir ohne weiteres überein, aber jede Invention streng persönlichen Intuitionen zuzuschreiben und daraus eine völlige Innerlichkeit zu machen, erscheint uns problematisch. Die Kunst erscheint als der qualitative Ausdruck eines Moments der Zivilisation für eine bestimmte Gesellschaft, sie ist auch die Manifestation dessen, was diese Gesellschaft bewegt, und all dessen, wonach sie strebt. Sie ist der Ort, an dem die Zeitlichkeit [114] und die Zweckbe44 stimmtheit ans Licht kommen. Bergson hat den Akzent zu sehr auf den subjektiven und eigenständigen Aspekt der Schöpfung gelegt. Und auch nachdem er Intuition und Willen zu Recht verbunden und den konstruktiven und schöpferischen Charakter eingeschlagener Lösungswege im Laufe von Entscheidungen, die der Wahl vorangehen, offen gelegt hat, behauptet Bergson, als wollte er das Vorausgehende zerstören, dass die willentliche Handlung eine Handlung sei, die erst nach Ausführung ihre Berechtigung bekomme, durch eine Art rückwärtsgewandten Beschluss. Was wird dann aus der Wahlfreiheit, der beschlossenen Entscheidung, dem willentlichen Akt? Wo wird die Bewusstwerdung ihre Erfüllung finden? Das sind andere Aspekte der Zweideutigkeit der Bergson’schen These über die Freiheit und – allgemeiner gesprochen – jeder subjektivistischen Konzeption der Freiheit. In den vorangehenden Kapiteln haben wir uns zu zeigen bemüht, was uns an einer derartigen Position kritisierbar erschien.

44 Wir geben diesem Begriff den gleichen Sinn, welchen Bergson dem Wort „Zeit“

gegeben hat: „Die Zeit ist immer als eine Art der Veränderung begriffen worden, welche sich in allen anderen Veränderungen wiederfindet.“ L’évolution créatrice, S. 50.

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Zweiter Teil: Die künstlerische Aktivität als Befreiungsvermögen

Nach den vorangehenden Ausführungen kann die Rolle des Künstlers eine messianische Rolle sein: Friedensbotschaft, Appell an die Würde und die Moral durch die Belebung der höheren Empfindungen und die Verbreitung der Freude am Erhabenen … lauter Königswege in die Welt der Befreiung.

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Dritter Teil: Der Besitz als Befreiungsvermögen

Eigentum – Arbeitsbegriff – Krieg – Konkurrenz – Solidarität

[117] In Fortsetzung unserer Forschungen auf den Wegen, die zur Befreiung führen, oder genauer zu Aktivitäten, die sie verwirklichen, werden wir jetzt auf eine allgemeinere Ebene wechseln: auf diejenige der Bedeutungen der Aneignung, der Begriffe und Empfindungen des Besitzes. Auf dieser Ebene richten sich die Befreiungsaktivitäten nicht mehr, wie im vorhergehenden Kapitel, auf die Invention und das Schöne, sondern auf die sozialen Konflikte und die intermediären Harmonien und Ungleichgewichte.

Kapitel 1: Die Aneignung – Begriffe von Eigentum und Arbeit [119] Seit der Antike gehört das Problem des Besitzes zu denjenigen, welche die Menschen am stärksten beschäftigen. Um seine Verbindung mit dem Problem der Befreiung herauszuarbeiten, genügt es vielleicht, ihn unter der privilegierten, aber einfachen Form von Zugehörigkeit anzuschauen: die Arbeit und ihre Produkte als Manifestationen ihres Urhebers, durch die dieser sich setzt und sich verwirklicht. Aber auch wenn es sich als Ausdehnung der Individualität in der Gegenstandswelt darstellt oder als „Teilhabe“, bleibt das Eigentum unlösbar mit dem Begriff der Freiheit verbunden. Wird das nicht durch Sklaverei und Leibeigenschaft illustriert? „Die Alten unterschieden, wie wir, zwei Arten von Eigentum, das bewegliche und das unbewegliche. Der Sklave konnte zu der einen wie zu der anderen Kategorie gehören. Es gab den an die Person gebundenen Sklaven, der vom einen Herrn zum anderen weitergereicht werden und von einer Hand in die andere wechseln konnte wie ein [120] beweglicher Gegenstand. Es gab den unbeweglichen, das heißt dem Boden, an den er gebunden war, ähnlichen Sklaven. Dies hat man in ande1 ren Epochen die schollengebundene Leibeigenschaft genannt …“ Daher gehört das Problem des Erwerbs nicht bloß in den Bereich der Wirtschaftsordnung. Der Sinn, das Schicksal und die Befreiung des Men1

Numa Denis Fustel de Coulanges: La Cité antique. Étude sur le culte, le droit, les institutions de la Grèce et de Rome, Paris: Hachette 1908 [Ders.: Der antike Staat. Kult, Recht und Institutionen Griechenlands und Roms, Stuttgart: Klett-Cotta 1981].

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Dritter Teil: Der Besitz als Befreiungsvermögen

schen sind darin eingeschlossen und die zwischenmenschlichen Beziehungen sind involviert. Deshalb haben sich Denker aller Disziplinen an die Untersuchung der Beziehung von Eigentum und Mensch gemacht, seien es Historiker, Soziologen, Ethnographen, Philosophen, Juristen oder Ökonomen. Es ist ein zentrales Problem sowohl für die Intelligenz einer jeden Zivilisation und den Wert der Freiheiten, die dort ausgeübt werden, als auch für die psychologische Kenntnis des menschlichen Wesens. Denn das, was wir besitzen, scheint in unsere eigene Substanz einzugehen und sie zu erweitern: Eigentümer zu sein heißt, mit der besessenen Sache eine Einheit zu bilden – das Eigentum wird, physisch und 2 moralisch, ein Teil des Ichs. Man verdankt Platon eine der ersten Kritiken des Eigentums. Er verkündet ein System des Sozialismus, in dem fast planmäßig das Eigentum ein Gemeingut wird: „Ich will“, sagt er, „erstens, dass keiner von ihnen etwas habe, [121] was ihm allein gehört, außer wenn dies nicht absolut unent3 behrlich ist.“ Dennoch ist dies nur auf den Wächterstand der platonischen Stadt anwendbar, die produktiven Klassen leben hingegen unter 4 dem System des Privateigentums. Später wird Aristoteles das Privateigentum – vor allem das Grundeigentum – ohne Einschränkung verteidi5 gen und die Sklaverei rechtfertigen. Er betrachtet Menschen, die den Rang von Sklaven haben, als Privateigentum. Diese sind „belebte Instrumente“, sagt er, und sie werden es bleiben, solange sich der große Traum nicht realisieren wird – eine eher hypothetische Realisation übrigens: „Wenn ein Befehl oder ein Zeichen genügen würde, damit jedes Instrument seine Arbeit erfüllt […], hätten weder die Architekten an Arbeitern 6 Bedarf, noch die Herren an Sklaven.“ Eines Tages werden die Maschinen die Sklaven bei Arbeiten aller Art ersetzen, ohne die freien Bürger aus 2 3 4

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Nach einem arabischen Sprichwort: „al-māl min al-akbād“, was man mit: „Unsere Güter verkörpern sich in unserem Fleisch“ übersetzen könnte. Platon: Politeia 416d. „Die platonische Stadt ist niemals eine kommunistische Stadt.“ A. Koyré: Introduction à la lecture de Platon, New York: Brentano’s 1945, S. 145, Anm. 2 (der französischen Ausgabe) [Alexandre Koyré: Introduction à la lecture de Platon. Suivi des Entretiens sur Descartes, Paris: Gallimard 1962, S. 128, Fn. 1]. Übrigens hat Aristoteles selbst (mehr als 15) Sklaven besessen. Vgl. Aristoteles: Politik I, 4 (1253b33-1253b37) und P.-M. Schuhl: Machinisme et philosophie, Paris: PUF 21947. S. 11 ff. Obwohl er gebürtiger Aristokrat war, besaß Plato den Mut, den Sklaven Vernunftbesitz zuzusprechen – eine damals sehr revolutionäre Idee.

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Kapitel 1: Die Aneignung – Begriffe von Eigentum und Arbeit

ihrem liberalen Leben, aus ihren Spekulationen und ihrer Kontemplation herauszureißen. Der ebenso konventionelle und relative wie willkürliche Charakter einer Institution wie der Sklaverei entging Aristoteles, während er von den Sophisten sehr wohl bemerkt worden war. Hippias behauptete, dass die Sklaverei nicht in der Natur begründet liege [122], auf jeden Fall nicht mehr als der Gegensatz zwischen Griechen und Barbaren, fügt Antiphon hinzu. Auch die Stoiker erträumten ein groß dimensioniertes Gemeinwesen, in dem alle an den öffentlichen Angelegenheiten teilnehmen würden. Zenon denkt an einen vollständigen „Kommunismus“, der viel weiter geht als der oligarchische Sozialismus, der von Plato in seiner Politeia befürwortet wurde. Und im Unterschied zu Aristoteles entwarf der Begründer der Stoa, indem er nicht mehr Griechen und Barbaren, freie Bürger und Sklaven einander gegenüberstellte, schon die großherzige Ideologie des „Internationalismus“, die bei den Stoikern des Römischen Reichs, bei Seneca und Marc Aurel, aufblühen wird. In der muslimischen Welt muss man vielleicht auf die Position aufmerksam machen, die im ersten Jahrhundert nach der Hiǧra (im 7. Jahrhundert n. Chr.) durch den Gefährten des Propheten, Abū Ḏarr al-Ġifārī, vertreten wurde, der die völlige Unterdrückung des Privateigentums predigte und die „Revolution“ der Armen für eine egalitäre Gesellschaft be7 fürwortete. Während seines Lebens hörte er nicht auf, folgendes zu wie8 derholen: „wail lil-aġniyāʾ min al-fuqarāʾ!“ Dieser Slogan könnte so übersetzt werden: „O Ihr Reichen! Habt acht auf den Fluch, der von den Armen über Euch kommen wird!“ Abū Ḏarr hatte jedoch keine Schüler, und es ist eher die der koranischen Inspiration entgegengesetzte Tendenz (in diesem Punkt dem aristotelischen Denken ähnlich), die die Vorherrschaft hatte und heute noch maßgeblich ist. 9 Mit Ibn Ḫaldūn wird das Problem des Eigentums [123] angereichert. Es betrifft nicht mehr allein die juristische Ebene oder die reine Philosophie. Die Konzeption von Ibn Ḫaldūn bezieht die eigentlichen wirtschaftlichen und sozialen Realitäten mit ein: Von jetzt an wird der Eigentumsbegriff mit der Güterverteilung, mit der politischen Macht, mit der Klas7 8 9

[Vgl. J. Robson: Art. Abū Dharr al-Ghifārī, in: EI², Bd. 1, S. 118] [wörtlich: „Wehe den Reichen von Seiten der Armen!“] Abū Zaid ʿAbd ar-Raḥmān Ibn Ḫaldūn, arabischer Historiker, Philosoph und „Soziologe“, geb. in Tunis 732 n. H./1332 n. Chr., gest. in Kairo 808 n. H./ 1406 n. Chr.

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Dritter Teil: Der Besitz als Befreiungsvermögen

sentrennung verbunden. Die Ausführungen von Ibn Ḫaldūn zu diesem Thema kündigen, in einer Reihe von wichtigen Punkten, diejenigen künftiger Wirtschafts- und Sozialreformer an, der Enzyklopädisten, der 10 Proudhons, der Considérants, der ,Marx-Engels‘, usw. Nach Ibn Ḫaldūn muss man zuerst die unterschiedlichen Kategorien von Gütern nach ihrem zweckdienlichen Gebrauch betrachten. Eine Sache wird nur unter der Voraussetzung wirklich besessen, dass sie benutzt wird; der Vorrang wird daher dem tatsächlichen Gebrauch gegeben und nicht, wie z.B. im römischen Recht, dem juridischen Konzept des Besitzrechts. Hier stimmt Ibn Ḫaldūn mit Abū Ḏarr al-Ġifārī überein, ohne jedoch so weit zu gehen, die vorbehaltlose Abschaffung des Eigentums zu fordern. Für ihn ist der Besitz moralische Verpflichtung, aber als humanistischer und realistischer Denker empfiehlt er, dass man sich, bevor man über den Wohlstand und den Überfluss nachdenkt, mit dem Notwendigen befasst, damit allen die Stillung ihrer Bedürfnisse gewährleistet werden kann. [124] In der Moderne bringt das Eigentum viel kompliziertere Probleme mit sich. Die menschlichen Beziehungen sind immer stärker mit den verschiedenen Produktionsabläufen, den Transformationsmethoden des Materials, der Aneignungskapazität der Materie und den Produkten, die man daraus durch die Arbeit erhält, verbunden. Von nun an macht dies einen Teil des Wesens des Bewusstseins selbst aus, welches das Ich [moi] von sich selbst als Individualität und als ich [je], welches ins Wir eingebunden ist, hat. Das ist die Aussendung des Geistes, wie Proudhon sagt. In der Dialektik des Warenaustausches und in den Beziehungen des Besitzenden zu den Besitztümern zeigt sich die Arbeit, trotz des Klassengegensatzes, als Quelle von Werten, als universale Konstituante, die die Einheit in der Vielheit stiftet. Es gilt, zwei Ebenen zu unterscheiden: die Arbeit, die uns durch die Befriedigung der biologischen Bedürfnisse befreit, und die Arbeit, die, Kunst geworden, uns aus der Umklammerung dieser allzu repressiv gewordenen Bedürfnisse befreit und uns bei der 10 Vgl. Ibn Ḫaldūn: al-Muqaddima, Kairo. Dieses Werk wurde von M.-G. de Slane

ins Französische übersetzt (Paris: Imprimerie impériale 1863-1868 [Bd 1. 1863, Bd. 2 1865, Bd. 3 1868]) unter dem Titel Les Prolégomènes d’Ibn Khaldūn (3 Bde). Vgl. besonders den zweiten Band der Übersetzung, fünfter Teil Über die Mittel, um sich zu Subsistenz zu verhelfen, über den Erwerb, die Künste und all das, was sich daran anschließt. Prüfung der angeschlossenen Fragen, zu welchen dieses Thema Anlass gibt [Bd. 2, S. 319-425].

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Kapitel 1: Die Aneignung – Begriffe von Eigentum und Arbeit

Überschreitung des rein vegetativen Lebens sowie der Erlangung des Bewusstseins, nicht nur ein Verdauungstrakt zu sein, hilft. Darum tritt im modernen Denken die Befreiung des Menschen in Korrelation mit dem Aneignungsvermögen, der Arbeit, dem Profit usw. auf. Und da sich die Freiheiten in den historisch-ökonomischen Zusammenhang eines Milieus integrieren, trifft man selten eine große humanistische Philosophie an [125], die diesen Fragen, besonders in unserer Zeit, keinen besonderen Platz zugestanden hätte. Man könnte die Lehre Hegels nicht erklären, ohne seine politischen und sozialen Neigungen zu berücksichtigen. Es ist eine Philosophie, die die Wünsche der Mittelschicht des Deutschlands des 19. Jahrhunderts übersetzt – begierig darauf, sich vom Feudalsystem zu befreien, aber noch zu schwach, um es zu Fall bringen zu können; sie ist daher gezwungen, sich mit den Überbleibseln der Vergangenheit abzufinden. Hegel macht sich Gedanken über die gegenseitige Abhängigkeit von Klassen (dies ist insbesondere eine der möglichen Bedeutungen der Dialektik von Herr und Knecht) und die Beziehungen einer jeden von ihnen zur Arbeit. Der Knecht hat als wesentliche Aufgabe, Gegenstände zu erschaffen, die anderen gehören werden. Da seine Existenz von diesen Gegenständen abhängt, ist seine Freiheit entfremdet durch denjenigen, der die Gegenstände besitzt, und sein wirkliches Wesen konstituiert sich durch diese Knechtschaft und reduziert sich darauf. Aber infolge seiner konservati ven Position nimmt Hegel das Ungleichheitssystem des Privateigentums als notwendig in Kauf, so sehr er auch die Knechtschaft anprangert, die im System des Industrialismus die Unterordnung des Individuums unter den Gegenstand seiner Arbeit verursacht. Um diesen Gegensatz zu überwinden, verwandelt er das ökonomische und soziale Problem, welches das Phänomen der Entfremdung darstellt, in ein rein ideologisches Problem der Beziehung zwischen dem Bewusstsein und seinem Gegenstand (die Dialektik von Herr und [126] Knecht verbleibt dann auf der Ebene von Bewusstseinsbeziehungen). Sein Schüler Karl Marx, der erneut das Problem der Entfremdung der Arbeit im kapitalistischen System aufbringt, versucht, ihm auf der ökonomischen und sozialen Ebene eine gleichermaßen ökonomisch-soziale Lösung zu geben: Er befürwortet als einzig brauchbare Lösung die Abschaffung „der Entfremdungsursache“, die Abschaffung des Systems des Privateigentums. 113

Dritter Teil: Der Besitz als Befreiungsvermögen

Im Unterschied zu den klassischen französischen Ökonomen, die die Augen vor den sozialen Fragen des Industrialismus verschlossen, haben die „großen Drei“ Saint-Simon, Proudhon und Fourier eine rationale oder zumindest rationalistische Sicht der Krisen und der Misere dieser Zeit gehabt. Aber ohne damit einem Pessimismus das Wort zu reden, der die Gegenwart und die Zukunft einschließt und durch den die klassischen französischen Ökonomen geprägt waren, denken sie, dass das Übel weder fatal noch ewig ist: Eine rationale Wirtschaft wird es in den Griff bekommen. Ist der Eigentumsbegriff eigentlich nicht im Laufe der Gesellschaftsentwicklung entstanden? Er verbindet sich mit dem Begriff des Reichtums in der Bedeutung, den die Theoretiker diesem Wort geben, nämlich: alles, 11 was ein Bedürfnis stillt. An dem Tag, an dem „die Geisteswissenschaften“ einen solchen Entwicklungsgrad erreichen werden, dass die Person besser verstanden wird und [127] ihre Bedürfnisse in ihrer Gesamtheit gut erforscht und weitgehend befriedigt sind, wird sich die Vereinigung dieser Wissenschaften mit den Naturwissenschaften verwirklichen und die Summe der Reichtümer des Universums wird zum Gemeineigentum aller. Es gibt keinen Grund, weder theoretisch noch materiell, der dem entgegenzustehen scheint. Es ist die Angst vor der Zukunft und die unvollständige Kenntnis des Universums, die misstrauisch und gierig nach Reichtümern machen. Das stellte Ibn Ḫaldūn schon im 14. Jahrhundert fest: „Der größere Teil [der Stadtbewohner]“, sagt er, „wenn nicht alle, sorgen sich um den Kornvorrat, und die, die im Umland der Städte wohnen, machen dasselbe […] Nun legt sich jeder einen Kornvorrat an, dessen Menge freilich größer ist als seine Bedürfnisse und die seiner Familie, eine Menge, die für eine große Anzahl der Bewohner dieses Ortes ausreichen würde. Es ist also gewiss, dass man sich viel mehr Korn verschaffen wird, als die Ernährung der Bevölkerung erfordert. Das Getreide wird dort also billig sein, […] wenn die Einwohner in der Angst [vor der Hungersnot] davon nicht im Voraus gekauft hätten, würde das Korn um12 sonst gegeben werden und ohne jeden Handel.“ 11 Vgl. die oben dargestellte Konzeption Ibn Ḫaldūns, S. [123]. 12 Ibn Khaldūn: Les Prolégomènes, Bd. 2, S. 283 [Vierter Teil: Über die Dörfer, Städte,

Gemeinwesen und andere Orte, wo sich sesshafe Bevölkerungen finden – Über die dortigen Gegebenheiten – Vorbereitende und ergänzende Beobachtungen (S. 238318), Paragraph: Über die Preise (der Lebensmittel und Waren) in den Städten (S. 282-286)].

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Kapitel 1: Die Aneignung – Begriffe von Eigentum und Arbeit

Wenn dieser Ḫaldūn’sche Optimismus vor sechs Jahrhunderten erlaubt war und man schon die Möglichkeit einer „distributiven“ Ökonomie von Getreide in den Blick nehmen konnte, welch stärkeren Grund hätte unsere Zeit dazu, in der die technischen Produktions-, Kommunikations- und Verteilungsmittel so mannigfaltig sind und noch weiter verbessert werden könnten. [128] Leider ernüchtern uns die Tatsachen. Bis in die jüngste Zeit hatte das Kapital (etymologisch prädestinierter Begriff: Kopf, Hauptelement eines Guthabens) den Vorrang vor der produktiven Anstrengung. Dann hat sich die Arbeit – als soziales Thema, als Zivilisationsmotor – nach und nach begrifflich entwickelt und sich als grundlegende Realität durchgesetzt. Von diesem Moment an ist ein sehr markanter Gegensatz zwischen der Welt des Kapitals und der Welt der Arbeit entstanden. Die Zivilisation erlebt augenblicklich die akuten Konflikte und Krisen, die durch diesen Gegensatz erzeugt werden. Das Wirtschaftsleben, das über die Reichtümer bestimmt und das Privateigentum heiligt, umfasst die Produktion, den Verkehr, die Ausschüttung und den Konsum von Reichtümern. Wenn die in den Dienst der Produktion gestellte Wissenschaft Fortschritte macht, macht auch die Produktion Fortschritte; sie kann auch totale Veränderungen herbeiführen: Die Atomenergie könnte Berge in Ebenen und Seen in Prärien verwandeln. Der Konsum hängt von der Produktion und von der Konzeption ab, die man sich von der Verteilung macht, das heißt letzten Endes von der menschlichen Würde und der zwischenmenschlichen Solidarität. In gewissen Gesellschaften kann das Verteilungssystem die einen auf Kosten der anderen begünstigen: Das Eigentum entbindet gewisse Personen davon, selbst an Anstrengungen teilzunehmen, von denen sie profitieren – was die Entfremdung der einen gegenüber den anderen voraussetzt. Die Produktion entwickelt sich nicht mehr entsprechend der gesellschaftlichen Bedürfnisse, sondern entsprechend des Profits des Kapitals. Indem sie sich depersonalisiert, verliert die Arbeit ihren befreienden [129] Wert. Solange die Produktion sich nicht auf die moralischen Prinzipien von Brüderlichkeit, Gerechtigkeit und Solidarität stützt und solange in den wirtschaftlichen Beziehungen die besessenen oder besitzbaren Gegenstände über die Person gestellt werden, wird die Zivilisation sich weiterhin entmenschlichen. Bedeutet das arabische Wort ʿazīz nicht zugleich „selten“ und „teuer“ (im doppelten Sinn des Wortes cher im Fran115

Dritter Teil: Der Besitz als Befreiungsvermögen

zösischen: geliebt und kostspielig)? Es wird, im Arabischen wie im Französischen, der Preis eines Gegenstands oder eines Lebewesens mit der Liebe identifiziert, die man ihm entgegenbringt. Es gäbe viele Fälle in Bezug auf das Phänomen der Depersonalisierung zu unterscheiden, welches das Gefühl des Besitzes verursacht. Zuerst das 13 Eigentum als mystische Teilhabe, in der der Besitz eine Verbindung zwischen dem Besessenen und dem Besitzenden ist: Die Länder sind Besitztümer von Gruppen; dann gibt es das erbliche Eigentum, das einen geheiligten Charakter hat, weil die Toten darin in der Nähe der Lebenden zu leben fortfahren. Man sieht so, dass Elemente, die ursprünglich außerhalb der Ökonomie ihren Sitz im Leben hatten, nun den Begriff des Besitzes mit einem Heiligenschein solchen Ausmaßes umgeben, dass sie darin schließlich als Konstitutiva des Eigentums selbst erscheinen. Im Grunde war für die Primitiven dieser religiöse Aspekt die beste [130] Eigentumsgarantie. In einer späteren Periode wurde das Eigentum durch ein juristisches Statut sanktioniert und der Begriff, den man sich von ihm machte, veränderte sich. Dies ist nicht so, weil die Menschheit, gemäß dem Ausdruck Bergsons, „durch ihre Struktur für das Eigentum prädestiniert“ wäre, sondern eher, weil es das Eigentum ist, das zu allen Zeiten durch den Krieg bestimmt, dass Reichtum und Armut entstehen. Und um sein Vermögen zu verteidigen, wendet man sich bald an die Religion (Totem usw.), bald an die kollektive Teilhabe bei der Bearbeitung des Bodens und beim Profit (eher um eine homogene Gruppe zu haben, die voll und ganz an der Verteidigung des gemeinsamen Bodens interessiert ist, als aus Liebe zum kommunitären Leben). Proudhon hat einen anderen Aspekt der Frage analysiert, denjenigen korrelativer Entwicklungen von Ökonomie und Eigentum: „Redet mir vom römischen Eigentum. Dort zog der Familienvater […] alles aus der bäuerlichen Arbeit; er erbat von niemandem etwas, verkaufte wenig, kaufte noch weniger […]. Damals existierte das Eigentum wahrhaftig, denn der Eigentümer existierte durch sich selbst […]. Der Anfang und das Ende des Eigentums war der Eigentümer, [… der] für sich selbst Produktion, Warenverkehr und Absatzmarkt war; er lebte in sich, durch sich und für sich.“ Dem antiken Eigentum folgte das feudale, das bis 1789 an13 Vgl. Lucien Lévy-Bruhl: Les fonctions mentales dans les sociétiés inférieures,

Paris: Alcan 1910 und Lucien Lévy-Bruhl: L’Ame primitive, Paris: Alcan 1927.

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Kapitel 1: Die Aneignung – Begriffe von Eigentum und Arbeit

gedauert hat … Auch hier war die Familie wie eine kleine Welt, abgeschlossen und ohne äußere Verbindungen, „jeder bei sich, jeder für sich, man hatte keinerlei Bedürfnis nach jemand anderem. Das Eigentum war eine Wahrheit; der Mensch war durch das Eigentum vollkommen […]. [131] Die Unabhängigkeit der Vermögen machte die Sicherheit des Vol14 kes aus …“. Heute ist das Eigentum schließlich meistens ein nominaler Titel geworden, der seinen Wert nicht mehr aus persönlicher Arbeit, sondern aus dem allgemeinen Warenaustausch zieht. „Wenn der Warenverkehr regelmäßig und vollständig ist, trägt das Eigentum dem Eigentümer als Privileg [etwas] ein; wenn der Warenverkehr unterbrochen ist, verliert das Privileg seine Wirkung: Der Eigentümer ist augenblicklich 15 genauso arm wie der Proletarier.“ Indem sie sich also im Raum und in der Zeit ausdehnt, bietet die Welt neue Produktionsmöglichkeiten und neue Reichtümer. Das Eigentum verändert seine Ausmaße und in vielen Punkten seine Natur. Das ist eine Feststellung, die sowohl der Historiker als auch der Ökonom macht. Der Philosoph kann seine Rolle nicht aufs Beobachten beschränken. Seine Sorge ist es, die angemessensten und wirksamsten Mittel zu suchen, damit der materielle Fortschritt vielerlei Nutzen bringt und einem jeden von uns hilft, die völlige Entfaltung seiner Person in einer wirklich menschlichen Gesellschaft zu erlangen, in der die Gerechtigkeit sich durchsetzt. Die wahre Philosophie zielt darauf ab, die menschlichen Gesellschaften zu befreien und die wirkliche und universelle Gleichheit von Personen wiederherzustellen, das heißt „den spontan empfundenen und gegenseitig garantierten Respekt der menschlichen Würde in jedweder Person und unter jedwedem Umstand, in dem sie sich [132] befindet, und unter jedwedem Risiko, welchem uns ihre Verteidigung aussetzt“, 16 durchzusetzen. Jede Norm positiven Rechts garantiert und verteidigt ein erworbenes Recht, ein bestimmtes Interesse. Und je weiter dessen personalisierende Tragweite reicht, desto moralischer wird es und desto mehr hat es an der 14 Pierre-Joseph Proudhon: Solution du problème social. Banque d’échange, in:

Ders.: Œuvres complètes, Éditions Lacroix, Bd. 6, S. 149 [Ders.: Textes choisis. Présentés et commentés par J. Lajugie, Paris: Librairie Dallioz 1953, S. 303]. 15 Ebd. [Ders.: Textes choisis, S. 304]. 16 Pierre-Joseph Proudhon: De la Justice dans la Révolution et dans l’Eglise, Paris 1923 [Ders.: De la Justice dans la Révolution et dans l’Église, in: Ders.: Œuvres complètes. Nouvelle édition. Bd. 8, 1, Genf : Slatkine 1982, S. 423].

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Dritter Teil: Der Besitz als Befreiungsvermögen

Befreiung Anteil. Umgekehrt hieße das: Je mehr die individuellen Interessen die Person und die zwischenmenschliche Solidarität ihrer Realisierung unterordnen, desto mehr sind sie moralisch – als Antipoden zur Gerechtigkeit – und philosophisch – als Entfremdung – verwerflich. Denn die Interessen hängen von den sozialen Verhältnissen, den Produktionskräften und der menschlichen Natur ab. Einmal entstanden beginnen sie, sich in unserem Bewusstsein auf die eine oder andere Weise zu äußern. Gewiß, um ein Interesse zu verteidigen, muss man von ihm im Vorhinein Bewusstsein erlangt haben. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das die Interessen hervorbringt, welche das Recht verteidigt. Es ist der Zustand des sozialen Bewusstseins, der den Rechtsinhalt bestimmt und der zu jeder Zeit die Form bestimmt, welche der Reflex dieses oder jenes Interesses in uns annehmen wird. „Das Recht ist nicht wie die physikalisch oder natürlich genannten Kräfte eine Sache, die unabhängig von der Aktivität des Menschen existiert […]. Es ist im Gegenteil eine durch die Menschen und für sie eingesetzte Herrschaft. Es ist im vorliegenden [133] Fall unwichtig, ob der Mensch in seiner Aktivität dem Kausalitätsgesetz untersteht oder ob er frei bzw. willkürlich handelt. Das Recht konstituiert sich niemals außerhalb der Aktivität des Menschen, egal ob das Kausalitäts- oder das Freiheitsgesetz zugrunde gelegt wird, sondern einzig und allein aufgrund der menschlichen Aktivität, durch ihre Vermitt17 lung.“ Und wenn die Arbeit, die Aktivität im Allgemeinen, auch ebenso viele Leiden wie Freuden erzeugen kann, so ist sie trotzdem die charakteristischte Bestätigung des menschlichen Wesens: Die Arbeit erhebt uns zu autonomem Willen und zu Veränderungsvermögen, durch die wir die Natur beherrschen, das heißt wir geben ihr einen Sinn und erschaffen uns Gesellschaft, Solidarität und Transzendenz. Dieser Begriff von der Arbeit als wirksamem Befreiungsmittel war von den Alten oft ignoriert worden, wovon die Verachtung mechani scher Künste zeugt, die Platon Sokrates unterstellt: „Welche die Dienste auch immer sein mögen, die ein Ingenieur leisten kann, du verschmähst 18 ihn und du möchtest nicht, dass dein Sohn seine Tochter heiratet.“

17 Nikolai Mikhailovitch Korkounov: Conférences sur la théorie générale du droit,

Saint-Pétersbourg: Imprimerie Stasioulevitch 1894, S. 279.

18 Platon: Gorgias, 512c. Für die Verachtung, die Platon für all das, was nicht „frei-

er Beruf“ ist, hat, vgl. Nomoi 8, 846d; Politeia 6, 495e; 7, 522b; 9, 590c; Theaitetos 175 c-e, 176 c-d.

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Kapitel 1: Die Aneignung – Begriffe von Eigentum und Arbeit

Nach Aristoteles wird im idealen Gemeinwesen kein Bürger Handwerker 19 sein.

Kapitel 2: Eigentum, Konkurrenz und Krieg [134] Wir kamen beiläufig auf einige der großen Systeme zu sprechen, die die Beziehung zwischen dem Eigentum und den Freiheiten analysiert haben. Das Problem der Aneignung ist per definitionem vom Bergsonismus ausgespart, weil die Freiheiten dort grundsätzlich individuell, unmittelbar und abstrakt sind. Die Vermittlung der Arbeit und das Eigentum im Allgemeinen stehen im Gegensatz zur Konzeption der inneren Freiheit oder „Koinzidenz von sich mit sich“, der das Essai gewidmet ist. Im Gegensatz dazu ist Les deux sources de la morale et de la religion ein Werk, das die Moral und die Religion, das heißt soziale Institutionen, in den Blick nimmt, wo also normalerweise die Frage des Eigentums behandelt werden müsste. Dem ist aber nicht so. Eine Lücke im Bergsonismus? Wenn die Frage dort auch nicht auf eine systematischen Weise gestellt wird, so wird sie doch in einigen Passagen des letzten Kapitels aufgeworfen. Die Ausdehnung der „offenen Moral“ auf die ganze Menschheit [135] bringt Bergson dazu, ein Problem in den Blick zu nehmen, das, vor allen anderen, die zeitgenössische Gesellschaft beunruhigt: die Mittel zu fin den, die Einzelinteressen einem der Gattung gemeinsamen Interesse unterzuordnen, dem Frieden. Die „offene Moral“ ist so in einem historischen Zusammenhang situiert und greift auf die Aktualität über. Über diesen Umweg werden wir zum Problem des Eigentums und dem Interessengegensatz von Individuen und Völkern zurückgeführt. Der Hinweis auf die Gleichzeitigkeit der Idee einer „offenen Moral“ mit der Bildung des Völkerbundes in Genf ist erlaubt; es ist auch möglich, dass sie Bergson durch Auguste Comtes Traum von der Einrichtung einer „Menschheitsreligion“ nahe gelegt wurde. In Bezug auf das Parlament des Völkerbunds ist der Autor von Les deux sources der Ansicht, dass es eine Institution im Dienst des Friedens ist, eine erhabene Tat sei20 ner Gründer, die „die Wohltäter der Menschheit“ sind. Und Bergson 19 Aristoteles: Politik III, 5 [1278a8]. 20 Bergson: Les deux sources, S. 306 [NE S. 305-306; Ü S. 223].

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Dritter Teil: Der Besitz als Befreiungsvermögen

prophezeit mit einer ebenso treffenden wie angstvollen visionären Kraft die aktuelle Krise grauenhafter Waffen. „Bei dem Tempo, mit dem die Technik marschiert, ist der Tag nicht fern, wo einer der Gegner, der eine geheime Erfindung in Reserve hat, die Möglichkeit haben wird, den andern zu vernichten. Es wird dann vielleicht von dem Besiegten keine 21 Spur mehr zurückbleiben.“ Dies ist ein sehr gravierendes [136] Problem, das sich in der Zeit zwischen den beiden vorigen Kriegen gestellt hat und das bis in unsere Tage noch, und mehr denn je, seine ganze Heftigkeit bewahrt. Die Befreiung des Menschen wird sich nur realisieren können in einer Atmosphäre des Vertrauens in die Menschen und der Hoffnung in die Zukunft. Schon Kant hatte dieselben Sorgen und dachte an die Bildung einer internationalen Institution (welche an den Völkerbund denken lässt, von dem Bergson spricht). Es gibt bei ihm nämlich, zusätzlich zur theoretischen und praktischen Philosophie, eine Geschichtsphilosophie. Und diese hat ihre Postulate, genauso wie die praktische Vernunft die ihren hat: die Idee einer höheren Form der menschlichen Gemeinschaft, eines Bundes, der brüderlich alle Nationen vereinigt, als notwendige Bedingung für einen ewigen Frieden in der Welt. Diese internationale menschliche Gemeinschaft ist ein praktisches Erfordernis, 21 Bergson: Les deux sources, S. 305 [NE S. 305; Ü S. 223]. Am Vorabend des Krieges

1939–1940 und am Ende seiner Laufbahn war Bergson von der Unruhe der Kriegsgefahr ergriffen. In einer im Radiosender Radio Paris gehaltenen Vorlesung mit dem Titel „Einige Worte über die französische Philosophie …“ drückt sich dieses Angstgefühl mit tiefer Bewegung aus. Er sagt: „Wir können uns daran erinnern, was wir sind. Und wir müssen es zu einer Zeit, wo das Vertrauen, welches wir in uns selbst haben dürfen, in der Gefahr steht, geschwächt zu werden. Wir machen mit der ganzen Welt eine schwere Krise durch. Wir werden eine große Anstrengung machen müssen. Wir werden sie so oder so machen …“ (Die Vorlesung wurde vom französischen Rundfunk in einem Sammelband Entretiens philosophiques (Paris: Imprimerie du Mont-Cenis) veröffentlicht [Henri Bergson: Quelques mots sur la philosophie française et sur l’esprit français, in: Ders.: Ecrits philosophiques. Eingeleitet von Frédéric Worms, Paris: PUF 2011 (Quadrige Grands Textes), S. 671-676, hier S. 675]. Schon zu Beginn des vorhergehenden Krieges von 1914 hatte Bergson einen genauso machtvollen wie bewegenden Alarmruf ausgestoßen. Vgl. Séances et Travaux de l’Académie des Sciences morales et politiques, N. S., Bd. 71 (1914), I, S. 132 [Discours de Bergson élu président de l’Académie des Sciences morales et politiques, in: Ders: Écrits et paroles. Zusammengestellt von R.-M. Mossé-Bastide. Bd. 2, Paris: PUF 1959, S. 393-395 (Nr. 99)]. Vgl. ebenfalls seine Rede bei der Entgegennahme des Nobelpreises 1928 [Henri Bergson: Écrits et paroles. Bd. 3, S. 590-591 (Nr. 150)].

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Kapitel 2: Eigentum, Konkurrenz und Krieg

ohne das die Geschichte [l’Histoire] ihren Sinn und ihre Bedeutung verlieren würde. Was schlägt Bergson vor? Den Krieg zu beseitigen. Nehmen wir die Entwicklung seines Denkens unter die Lupe, um [137] besser zu sehen, welchen Wegen es folgen musste, um dieses Ziel zu erreichen. Nach dem Verfasser der Deux sources muss man zuerst die Ursachen des Krieges beseitigen. Diese Aufgabe obliegt einem internationalen Organismus: Es ist die moralische Verpflichtung zu einer offenen Gesellschaf. Nur müsste man, um den Krieg im Ausgang von seinen Ursachen zu beseitigen, diese Ursachen kennen. Die schwerwiegendste unter ihnen ist die Überbevölkerung. Also rationalisieren wir die Reproduktion des Menschen. „Nirgends ist es gefährlicher, sich auf den Instinkt zu verlassen. Die antike Mythologie hatte das sehr gut begriffen, als sie die Göttin der Liebe mit dem Gott des Krieges verband. Lasst Venus schalten und sie wird uns 22 den Mars bringen.“ Dieser Gedanke ist, bei guter Absicht, aus wissenschaftlicher Sicht fragwürdig aufgrund seiner direkten oder indirekten Malthusianischen Inspiration. Nun hat man ja erkannt, dass Malthus’ These falsch ist. 1802 behauptete Malthus, dass sich in einer bestimmten Region die Tiere gemäß einer geometrischen Zunahme fortpflanzen, während die Pflanzen, die ihnen als Nahrungsmittel dienen, gemäß einer arithmetischen Zunahme wachsen. Der Tag wird also kommen, an dem die Überbevölkerung der einen Seite auf den Nahrungsmittelmangel der anderen Seite trifft. Diese Unumgänglichkeit muss die Tiere zum Kampf ums Überleben verurteilen. Auf Malthus’ These wird Darwin seine Theorie der natürlichen Selektion aufbauen. Die vitale Konkurrenz [138] wird das Überleben der Anpassungsfähigsten begünstigen. Der Krieg wird so indirekt gerechtfertigt. Die Natur, die kleine Gesellschaften will, „hat gleichwohl die Tür für ihre Vergrößerung geöffnet. Denn sie hat auch den Krieg gewollt, oder zum wenigsten hat sie dem Menschen Daseinsbedingungen gege23 ben, die den Krieg unvermeidlich machten.“ Bergson wird, einige Seiten später, eine Art Fatalität des Krieges behaupten: „Der Ursprung des Krieges ist das Eigentum, das individuelle oder das kollektive, und da die

22 Les deux sources, S. 309 [NE S. 309; Ü S. 226]. 23 Les deux sources, S. 293 [NE S. 293; Ü S. 214-215].

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Dritter Teil: Der Besitz als Befreiungsvermögen

Menschheit ihrer Struktur nach für das Eigentum bestimmt ist, ist der 24 Krieg natürlich.“ Die Malthusianisch-Darwinsche These erwies sich nicht nur als derart fehlerhaft, dass sie niemand mehr unterstützt, sondern man zeigt heutzutage in der Wirtschaftspolitik, gestützt auf Statistiken, dass das aktuelle System häufig mehr unter dem Joch der Überproduktion (oder genauer des Mangelkonsums, der einer schlechten Güterverteilung und der ungenügenden Kaufkraft geschuldet ist) keucht, als dass es an Über25 bevölkerung leidet. In manchen Ländern hat man die Vorräte an landwirtschaftlichen Produkten vernichtet, um die Stabilität der Preise zu er26 halten. Schon in seiner Analyse der Beziehung zwischen Arbeitslosigkeit [139] und Konsumrückgang des Jahres 1846 erklärt Proudhon, dass die Ursache von Krisen „der Produktionsüberschuss, das heißt das Unge27 nügen der Absatzmärkte oder die Not des Volks“, ist. Es ist also nicht die Natur, die dem Menschen Lebensbedingungen geschaffen hätte, die den Krieg unausweichlich machten, wie Bergson denkt, es sind vielmehr die Menschen, die eine gerechte und intelligente Verteilung der Naturreichtümer und Arbeitsprodukte verweigern. Und weil die Menschen einander zur Seite zu drängen suchen und gierig und unaufhörlich Besitz anhäufen, machen sie durch ihre Konkurrenz und den Wettlauf um Absatzmärkte das homo homini lupus erschreckend real. Es liegt gewiss auch nicht in der menschlichen Natur, aus dem Krieg 24 Les deux sources, S. 303 [NE S. 303; Ü S. 221]. 25 Noch heute sind mehr als zwei Milliarden Personen auf der Welt unterernährt.

Gleichzeitig wissen wir durch offizielle Berichte, dass gewisse Staaten Probleme durch überschüssige Landwirtschaftsprodukte haben und alle Scheunen voll sind. 26 In einer kleinen Anmerkung auf S. 326 von Les deux sources [NE S. 326, Fn. 1; Ü S. 238, Fn. 5] anerkennt Bergson die Existenz von Überproduktionskrisen, die Landwirtschaftsprodukte betreffen. Unglücklicherweise zieht er daraus nicht die Konsequenzen, die sich einem Moralphilosophen aufdrängen. Seine Philosophie hat bis dahin, wie A. Thibaudet schreibt, „keinen praktischen Charakter und ist zu keinem moralischen Schluss gekommen. Er (Bergson) ist ein Psychologe und ein Metaphysiker geblieben, der sich noch dazu nur einer Reform der Spekulation angeschlossen hat.“ (Albert Thibaudet: Trente ans de Vie française. Bd. 3,1: Le bergsonisme, Paris: Gallimard 21923, S. 77). Dieser Urteil ist heute noch gerechtfertigter, denn nach der Veröffentlichung des Werks Thibaudets (1923) ist Les deux sources de la morale et de la religion (1932) erschienen. 27 Pierre-Joseph Proudhon: Système des Contradictions économiques ou Philosophie de la misère. Eingeleitet und kommentiert von Roger Picard, in: Ders.: Œuvres complètes. Neuedition hg. von C. Bouglé und H. Moysset. Bd. 1,1, Paris: Marcel Rivière 1923, S. 183.

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Kapitel 2: Eigentum, Konkurrenz und Krieg

eine Notwendigkeit zu machen, sondern es ist die soziale Struktur der freien Konkurrenz, welche den Krieg nach sich zieht (die Konkurrenz ist das erste Stadium des Krieges, es ist schon der kalte Krieg), die auf die menschliche Natur Einfluss hat und sie dehumanisiert. Mit der Stillung ihrer Bedürfnisse entwerfen [140] die Menschen ihre eigene Geschichte und ändern ihre eigene Natur. Die Soziologie und die Geschichte erklären uns übrigens, wie die unterschiedlichen Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse auf die sozialen Beziehungen und auf die geistige Aktivität Einfluss haben. Die Sklaverei fand in der Antike (historisch und moralisch) für diejenigen, die sie praktizierten, ihre Rechtfertigung darin, dass sie sich als grundlegende Basis damaliger Ge28 sellschaften anbot. Der Krieg war für diese Völker das einzige Mittel, sich mit Sklaven zu versorgen, eine Notwendigkeit der Wirtschafts- und Lebensordnung. Aber die Moral und die Philosophie setzen seit der Zeit des Sokrates bis in unsere Tage immer mehr den Akzent auf die Würde der Person und auf die richtige Bedeutung menschlicher Aktivitäten. Die Arbeit wird nicht mehr als eine niedrige und absurde Einrichtung betrachtet, ihr ist es vielmehr zu verdanken, dass auch der Begriff der Person an Schärfe gewinnt und sich als ein Vermögen durchsetzt, das fortschreitend an die Stelle der bitteren natürlichen Feindschaft eine humanisierte Wertewelt setzt. Die Wissenschaft ihrerseits hat die Entstehung von Ge sellschaften und die materielle Befreiung des Menschen ermöglicht, seit den Sklavenhalter- und Feudalsystemen Systeme nachgefolgt sind, die sich auf den Maschinismus gründen und so den aristotelischen Traum 29 verwirklichen. Folglich gestattet nichts, weder aus moralischer noch aus naturwissenschaftlicher Sicht, eine Rechtfertigung der Kriege in unserer Zeit. Aber man könnte entgegenhalten: Wie sind [141] dann die bewaffneten Kämpfe zwischen den Völkern zu erklären, die trotz der in allen Bereichen verwirklichten Fortschritte stattfinden? Gibt es irgendeine „Zwangsläufigkeit“ des Krieges? Bergson denkt, dass der Ursprung des Krieges im Eigentum liegt. Es wäre schwierig, ihm dies völlig zu bestreiten. Um sich zu schützen oder sich zu vergrößern, kann das Eigentum nämlich, so scheint es uns, zur Konkurrenz anregen, das heißt zum freien Gegensatz von Interessen, bei dem die Starken die Schwachen auslöschen. So dass, wenn die Konkur28 Vgl. Aristoteles: Politik I, 2 [1252a24-1252a36]. 29 Siehe oben, S. [121].

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renz sich bis zum äußersten als eine „Freiheit“ darstellt, es derart geschieht, dass wir den versteckten und perfiden ökonomischen Krieg vor unseren eigenen Augen verbergen. Kann man in Frieden leben, während man in ein höllisches Räderwerk eingefügt ist, wo allen die Normen des Profits unerlässlich sind? Dieser erbarmungslose Krieg, der seinen Namen nicht nennt, der Krieg der Interessen, umfasst mehrere Phasen, vom kalten und hinterhältigen bis zum offenen Kampf, der nichts verschont. Die Konkurrenz schafft es nämlich häufig, Konflikte, auch zwischen nahen Verwandten, zu verursachen und diese familiären Kämpfe können auf bestimmten Ebenen zu nationalen führen, ja sogar internationale Kriege auslösen. Dies ist heute so wahr, wie es in der Antike wahr gewesen ist. So ist 30 z. B. die Ilias nur ein Kapitel in der ewigen Frage der Meerengen. Es ist die Illustration innerer Kämpfe rivalisierender griechischer Städte des 7. Jahrhunderts v. Chr. um die Eroberung von Militärbasen und Wirtschaftsmärkten [142] in Kleinasien und um die Beherrschung der Bosporusdurchfahrten. Die Ilias zeigt uns, wie die kleinen griechischen Metropolen, die unter dem Antrieb der Konkurrenz schon imperialistisch geworden waren, sich in eine überseeische Eroberung stürzen mussten. „Zeus hat den Krieg von Troja beschlossen, um das überlastete Land zu entlasten.“ Dasselbe gilt für die Odyssee: Es ist die Geschichte eines Zinnfiebers – daher die Eroberung von Meerwegen, von Meerengen und Anlegeplätzen, die zu den Minen führen, teils in Italien, teils im Kaukasus, wo die zur Herstellung von Waffen notwendigen Metalle lagerten. Auf dieser realen Grundlage des Wirtschaftslebens Griechenlands entstand durch den freien Lauf der Vorstellungskraft Homers ein poetischer und mythologischer Text. Wir meinten mit Bergson, dass das Privateigentum zum Krieg führen könne, wenn er das Privateigentum, das durch eine Moral des Ansporns und der Solidarität sanktioniert wird, von jenem unterscheidet, das nur das alleinige Gesetz der Konkurrenz kennt. In dem Maße, in dem es das Sein stärkt und reinigt, führt das Haben personalisierende Reichtümer 31 ein, die uns tatsächlich menschlich, brüderlich und frei machen. Ein anderer Vorbehalt: Es scheint ziemlich schwierig, das Privat30 Vgl. Émile Mireaux: Les poèmes homériques et l’histoire grecque. 2 Bde., Paris:

Albin Michel 1948-1949 und Ders.: La vie quotidienne au temps d’Homère, Paris: Hachette 1954. 31 Vgl. De l’être à la personne, 3. Teil, Kapitel 3 u. bes. III [„Das Haben“, S. 328-337].

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Kapitel 2: Eigentum, Konkurrenz und Krieg

eigentum und das Kollektiveigentum auf dieselbe Ebene zu stellen, wie es Bergson macht. Die „unausweichlichen“ und „natürlichen“ Kriege, von denen Bergson spricht, lassen sich nur [143] in Korrelation zu den einander entgegengesetzten Interessen in einer Gesellschaft begreifen, in der der Egoismus die Moral erstickt, weil, wie Saint-Simon sagt, „man den Menschen nicht mehr bewegt, indem man zu seinem Herzen spricht, 32 man muss ihn seinen Reichtum gefährdet sehen lassen.“ Umgekehrt werden mit der Abschaffung des Krieges einander entgegengesetzter Interessen meine Mitmenschen zu meinen Verbündeten. Je mehr Konkurrenz, desto mehr Feindseligkeit. Ein anderer Punkt in Les deux sources erscheint uns fragwürdig: Die Behauptung, dass die Menschheit „durch ihre Struktur für das Eigentum vorherbestimmt“ ist, woraus Bergson ableitet, dass der „Krieg natürlich ist“. Zunächst sieht man nicht, nach welchem Prinzip die Dinge so „vorherbestimmt“ wären. Es ist eher die Befriedigung unserer Bedürfnisse, die notwendig und primär erscheint, wie es weiter oben gesagt worden war. Nun ist es nicht ausgeschlossen, Lebensweisen zu erwägen, in denen unsere Bedürfnisse befriedigt werden und in denen uns ein anständiges, der menschlichen Person würdiges Leben garantiert wird – jenseits der Alternative von absolutem Dirigismus oder integralem Liberalismus. Das wäre ein System des Privateigentums, in dem das Tauschhandelssystem nicht mehr auf Konkurrenz basieren würde. Ohne die individuelle Initiative zu untersagen, ohne das häusliche Sparen zu verbieten, wäre es möglich, an die Gesellschaft unverzüglich das von den Reichtümern zurückzuführen, was [144] die Ausbeutung der Anstren33 gungen der Mehrheit durch eine winzige Minderheit unterschlägt. Dies ist nur in einem System möglich, in der die Wirtschaftsphilosophie ihre Ansprüche nicht darauf begrenzt, eine einfache Wissenschaft von Statistiken zu sein, wohin die Tendenz geht. Die Statistiken sind notwendig, aber nicht ausreichend, auch auf rein methodologischer Ebene. Denn man kann sie mehr sagen lassen als sie besagen: Anordnungen, Ablehnung störender Faktoren, die sich nicht zur Zählung eignen, über32 Saint-Simon [Claude Henri de Rouvroy, comte de Saint-Simon]: Doctrine de

Saint-Simon. Exposition Jahrgang 1 (1829), neu hg. eingeleitet und kommentiert von C. Bouglé, Paris: Marcel Rivière 1924, S. 146-147. 33 Vgl. zu diesem Thema den Standpunkt von Proudhon in Organisation du crédit et de la circulation, Œuvres complètes, S. 113 [Ders.: Textes choisis, S. 401-403].

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Dritter Teil: Der Besitz als Befreiungsvermögen

mäßiges Bemühen um selektive Systematisierung und systematische Selektion usw. Eine wirkliche Wirtschaftswissenschaft darf nicht in der Spur der Wissenschaftsgläubigkeit stecken bleiben, in der die Zahlen, als Objektivität verkleidet, schließlich nur der fahle Widerschein enthumanisierter Schemata und austrocknender „Realitäten“ sind. Unter diesen Bedingungen reduziert sich die Rolle des Wirtschaftsstatistikers darauf, Zahlen anzuhäufen wie eine Rechenmaschine. Die klassische Wirtschaft berief sich immer auf abstrakte Gedankengänge, auf Ableitungen: Man konstruierte gedanklich die wirtschaftlichen Realitäten aus Hypothesen, die sich auf die menschliche Natur bezogen und der Introspektionspsychologie entlehnt waren. Gewisse moderne Ökonomen, die ausschließlich für die Statistiken optieren, setzen an die Stelle der klassischen literarischen Ökonomie eine mathematische Wirtschaftslehre, das heißt: Wenn sie in ihrer Wissenschaft das Stadium der artikulierten Erörterung überwinden, [145] dann um in eine zahlenmäßige Erörterung zu geraten: Veränderung der Gliederung – oder Form – und nicht der Struktur und der Spannung. Denn die logisch-mathematischen Ableitungen sind nicht weniger hypothetische Konstruktionen als die Intuition und die romantischen und introspektiven Betrachtungen. Die Wissenschaft der Wirtschaftspolitik muss, um die großen Aufgaben auf sich zu nehmen, die ihr zukommen, nicht nur ihre Ziele und Methoden überdenken, sondern sich auch bemühen, eine wissenschaftliche Philosophie zu werden und grundsätzlich einen offenen und wirklichen Humanismus in sich aufzunehmen. So vom Sinn für das Menschliche erfüllt wird die Ökonomie nicht zur Legitimation der Situation des Faktischen oder der Ideologie eines Wertsystems, das einem bestimmten Geschichtsmoment angehört, sondern eine wirkliche Wissenschaft, die, um objektiv und darauf bedacht zu sein, die Realität in ihren Veränderungen und ihrer Relativität genau widerzuspiegeln, sich gleichwohl dem Interesse der ganzen Menschheit unterordnet.

Kapitel 3: Die Konkurrenz steht am Anfang des Bösen „Und wenn ihr die Liebe besser verstehen wollt, die ich für euch habe, seid gewiss, dass ihr so viel wert seid, wie ihr habt, und ich 34 euch so viel liebe und nicht mehr.“ 34 Cordelia an ihren Vater, den König Lear, in der Chronik von Holinshed (Quelle

der Tragödie König Lear von William Shakespeare). Vgl. die Einleitung der fran-

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Kapitel 3: Die Konkurrenz steht am Anfang des Bösen

1. Von der Perversität der Konkurrenz zum Pseudoliberalismus [146] Wenn Bergsons Denken uns auch Malthusianisch inspiriert zu sein scheint, ist es trotz allem nuancierter, wenn auch weniger demonstrativ als dasjenige Malthus’. Bergson bescheidet sich mit der Betrachtung der 35 Tatsache, dass „ein Bevölkerungsüberschuss eintritt“, dass die Kriege in der modernen Welt [147] „mit dem industriellen Charakter unserer Zivi36 lisation“ verbunden sind und sich mit einigem Pessimismus zu fragen gilt: „Muss man fürchten, darf man hoffen? Lange Zeit galt als selbstverständlich, dass die Industrialisierung und Technisierung dem Menschengeschlecht das Glück bringen würden. Heute möchte man die Übel, un37 ter denen wir leiden, gerne auf ihr Konto setzen.“ So wird mit dem Zweifeln an der industriellen Anstrengung und infolgedessen an der Macht der Wissenschaft, die dieser Anstrengung zugrunde liegt und die Natur immer mehr beherrscht, zugleich der wissenschaftliche Fortschritt in Frage gestellt, auf den sich die Hoffnung einer wirksamen Befreiung der Menschen gründet. Richtig angewandt ist die industrielle Anstrengung eines der wirksamsten Mittel, um das schwere Joch der Natur und der Notwendigkeit abzuschütteln. Die Maschine tritt bei allen Schwerstarbeiten an unsere Stelle, erhöht unsere Produktivkraft, vereinfacht die Kommunikation und die Kontakte zwischen den verschiedenen Weltregionen und könnte eine gerechte Verteilung der Güter begünstigen. Der in unseren Dienst gestellte Maschinismus würde uns nicht nur helfen, uns zu befreien, sondern würde der „offenen Moral“, von der Bergson spricht, eine tatsächliche Realität geben. Die Arbeit des Moralphilosophen darf nicht darin bestehen, das Anathema über den technischen Fortschritt auszusprechen, der den Fort schritt in den anderen Bereichen bedingt, sondern die Art und Weise zu verurteilen, mit der man sich seiner bedient. Anstatt vor diesem Fatum, das in einem wirklich „starken kriegerischen Instinkt (…), [148] den die 38 Zivilisation verdeckt“, bestünde, Angst zu haben, müsste der Moralphilosoph die Mittel suchen, das Übel an seinen Wurzeln abzuschneiden. Es scheint uns, dass eine von ihnen – und nicht die unschädlichste –, wie

35 36 37 38

zösischen Übersetzung von Camille Chemin, S. 12 [William Shakespeare: Le Roi Lear (King Lear). Übersetzung und Vorwort von Camille Chemin, Paris: AubierMontaigne 1942 (Collection bilingue des Classiques Étrangères)]. Les deux sources, S. 307 [NE S. 307; Ü S. 224]. Les deux sources, S. 307 [NE S. 307; Ü S. 224]. Les deux sources, S. 310 [NE S. 310; Ü S. 227]. Les deux sources, S. 306 [NE S. 306; Ü S. 224].

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Dritter Teil: Der Besitz als Befreiungsvermögen

wir es schon erwähnt haben, die Konkurrenz ist: Sie macht aggressiv, weil jeder sich seinem Schicksal in der Welt ausgesetzt fühlt und, um sich seines Teils im Leben zu versichern, gegen die anderen kämpfen muss. Nun aber müsste er ganz logisch mit den anderen für dasselbe Erbe in der Verwirklichung eines gemeinsamen Geschicks kämpfen. Daher müsste man die Konkurrenz abschaffen. „Es ist wichtig, sich zu erinnern“, sagt Huxley, „dass die Menschheitsgeschichte in weiten Teilen die Geschichte der Konkurrenz zwischen Gruppeneinheiten oder Gemeinschaften ist. Wenn einige wenige Gruppen diesem Zug zur Konkurrenz entgehen konnten und die Energie und die so befreiten Ressourcen absichtlich zur Verbesserung der Regulierung der Gemeinschaft und des Lebens der Individuen, die sie bilden, eingesetzt haben, wie damals in Dänemark, haben sie sich auf den Weg des wirklichen Fortschritts bege39 ben.“ Wie wir weiter oben gezeigt haben, bringt die Konkurrenz den Krieg hervor. Wäre es nicht wünschenswerter, das System der Konkurrenz durch ein System der kollektiven Solidarität zu ersetzen, in dem gerade die Konkurrenz annulliert wäre und dadurch die wichtigste der Kampfes- und Kriegsursachen? Der Personalismus zögerte nicht, [149] darauf mit „Ja“ zu antworten. Der Lösung dieses Problems hat übrigens Emmanuel Mounier sein Leben als engagierter Personalist gewidmet. Er unternahm die schwierige Aufgabe, „die moderne Idee des Eigentums von den Heucheleien und Missverständnissen zu befreien, die der Liberalismus und der Kapitalismus ihr angelegt haben, um den christlichen Begriff des 40 menschlichen Eigentums freizulegen.“ Jenseits des Ausgleichs von Kräften und Interessen, den die Reformökonomen suchen, bemüht sich der Personalismus zuerst darum, die Probleme zu lösen, die dem menschlichen Bewusstsein diese Interessen- und Kräfteverhältnisse für den Augenblick bereiten; dann versucht er, die Folgen des Konkurrenzsystems zu beseitigen: die moralische Verwirrung und die psychische Unausgeglichenheit. Im Unterschied zu dem, was die Mehrheit der Ökonomen denkt, scheint es nämlich, dass die Tragik des Problems des Eigentums genauso morali39 Julian Huxley: Essai d’un biologiste. Übersetzt von Jules Castier, Paris: Stock,

Delamain et Bautelleau 1946, S. 66.

40 Pierre Corval: Le «Personnalisme» d’Emmanuel Mounier, in: L’Homme nouveau

(3. Jahrgang) Dezember 1936, Nr. 31.

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Kapitel 3: Die Konkurrenz steht am Anfang des Bösen

scher wie ökonomischer Natur ist, wenn nicht sogar überwiegend. Es hat, juristische und ökonomische Theorien des Eigentums gegeben und sie sind immer noch reichlich vorhanden, aber was fehlt, ist eine Ethik der Aneignung. Gewisse Moralphilosophen und gewisse Religionen beschäftigen sich mit dem Eigentumsproblem, aber wenn sie den rein rechtlichen Bereich hinter sich lassen wollen, dann eher, um sich dem Asketentum [150] und der Mystik zu nähern als einem realistischen Standpunkt. Von da aus ziehen sie wiederum, auf umgekehrtem Weg, hinsichtlich des zu erreichenden Resultats mit Positionen extremistischer Ökonomen gleich. Das Unbehagen kommt nicht vom Eigentum als Besitz, als einfaches Verfügen über eine Sache oder ihre Nutzung, vom Eigentum „an sich“, wenn man es so ausdrücken will, sondern von der Konkurrenz, die die Aneignungsweisen erzeugen. Besitzen heißt für den Menschen, seinen Horizont auszuweiten, sich in die Welt des Objekts hinein zu verlängern. Hier müsste diese den hellenischen Denkern so teure Idee vermitteln: die 41 richtig Mitte, das Maß; den Gegenstand besitzen zu können, ohne sich von ihm unterwerfen zu lassen, ihn in unseren Horizont zu integrieren, ihn aber völlig auf Distanz zu halten zu den Zonen, die unreduzierbar uns selbst ausmachen. Der besessene Gegenstand hat die Neigung, die personalisierende Bewegung in ihrem Schritt nach vorn zu zerschlagen und die Person auf einen homo oeconomicus zu reduzieren, auf ein Wesen, das einzig und allein durch seine unmittelbaren Interessen bewegt wird. Er versucht, die Person in eine doppelte Welt zu brechen, einerseits die der angeeigneten und der Aneignung fähigen Dinge und andererseits diejenige intellektueller Aktivitäten und menschlicher Aktivitäten im Allgemeinen, wobei er völlig auf die erste Welt ausgerichtet bleibt. Jeder Gegenstand erscheint wie ein Kosmos, der umschlossen ist von Geheimnissen, die in Versuchung führen und beherrschen. Nun finden sich diese dort nur, weil ein Mensch [151] sie dort platziert hat. Wenn der Handel das Stadium der blinden Konkurrenz und des ständigen Konflikts zum Stadium der Kooperation hin überschritte, würde der umgekehrte Aufwertungsprozess, der die Sache über die Arbeit und den Menschen in den Dienst des Arbeitsgenstands stellt, aufhören. Man gelangte von der Vergöttlichung des Gegenstands zur Aufwertung der 41 Der pythagoreische Gelehrte Archytas gibt der Politik folgende Definition, die

uns gut die „rechte Mitte“ in allen Bereichen zu charakterisieren scheint: „Die Politik ist die Lösung eines Proportionsproblems.“

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Intelligenz, die den Gegenstand herstellt. Von da an würde die Arbeit eine Aufgabe und eine Freude werden, anstatt ein Verzicht auf die personalisierende Handlung zu bleiben, und sie ließe uns aus dem verdinglichten und unglücklichen Bewusstsein herauskommen, um das mit sich selbst und der Welt versöhnte Bewusstsein zu erlangen. So bleiben die angeeigneten Dinge und die herrenlosen Dinge in gleicher Weise Dinge in der Gesamtheit der den Menschen unterworfenen oder zu unterwerfenden Gemeingüter, gemäß der jeweiligen Versorgungsbedürfnisse. Eines dieser Bedürfnisse, vielleicht das wesentlichste, offenbart sich durch die Anziehungskraft des Besitzen-Wollens. Der eigentümliche Gegen stand, der „mein“ Eigentum ist, ist soviel wert, wie er „mir“ Macht verschafft, durch die ich mich zum Herrn von Dingen erkläre und mich mit meinesgleichen verbünde gegen die Dinge, für die Eroberung anderer Dinge. Diese Macht humanisiert die Natur und befreit mich dadurch. Ein zweites Bedürfnis besteht darin, durch den anderen anerkannt zu werden, ein von Hegel umfassend analysiertes Bedürfnis. Das Eigentum „gilt als das Meinige, das alle andern anerkennen, und von dem sie sich ausschließen. Aber darin, dass ich anerkannt bin, liegt eher meine Gleich42 heit mit Allen, das heißt das Gegenteil der Ausschließung.“ Diese Gleichheit [152] von Personen, allen von allen zuerkannt, existierte nur in einer Gesellschaft, in der man nicht mehr wie Monsieur Pouget sagen könnte, dass „die Freiheit niemals sehr existent gewesen ist, außer für 43 die Großen dieser Welt.“ Wie man sieht, hat Bergson wiederholt das Böse geahnt, aber es nur teilweise aufgedeckt. Er hat die Kriegsbedrohungen, die auf der zeitgenössischen Zivilisation lasten, richtig gesehen und ist zu dem Schluss gekommen, das Eigentum als Ursache des Krieges darzustellen. Aber warum ist das Eigentum Ursache des Krieges? Dort liegt der Kern des Problems. Bergson antwortet, dass man, wenn einem nicht gerade der Hungertod droht, der Ansicht ist, dass das Leben uninteressant ist, „wenn man nicht auch Komfort, Vergnügen und Luxus hat; man hält die heimische Industrie für ungenügend, wenn sie sich auf das Lebensnotwendige beschränkt, wenn sie nicht Reichtum gewährt; ein Land hält sich für un42 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: La phénomènologie de l’esprit. Übersetzt und

annotiert von Jean Hippolyte. Bd. 1, S. 351 [Ders.: Phänomenologie des Geistes, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 2, S. 233-234]. 43 Jean Guitton: Dialogues avec Monsieur Pouget, Paris: Grasset 1954.

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vollkommen, wenn es nicht gute Häfen hat, Kolonien usw.“ Dies ist alles richtig, aber es erklärt nicht, weshalb die „guten Häfen“, weshalb „die Kolonien“. Bergson antwortet: aufgrund des Geschmacks an Luxus und 45 Überfluss, der sich in unseren Industriegesellschaften entwickelt. Nun haben wir schon daran erinnert [153], dass die Antike auch den Krieg um Häfen und Kolonien kannte, dass dies keineswegs etwas Besonderes 46 für die Industriegesellschaft ist. Es scheint uns eher, dass die Verantwortung für ein so skandalöses Phänomen dem System der Konkurrenz zukommt. Wenn nämlich der Binnenmarkt für eine Ware gesättigt ist, muss man sie exportieren. Die Beherrschung der Häfen begünstigt den Verkehr und schwächt Konkurrenten. Die Kolonien liefern Rohstoffe und billige Arbeitskraft. So sinkt der Selbstkostenpreis der Produkte und die Konkurrenz trägt ihre Früchte auf Kosten derer, die keine Häfen beherrschen und keine Kolonien ausbeuten. Schon in seiner Rede vom 28. Juli 1885 behauptete Jules Ferry, „dass die Kolonialpolitik auf einer dreifachen Grundlage ruht: ökonomisch, humanitär, politisch. Erstens unter wirtschaftlichem Gesichtspunkt, warum die Kolonien? Weil in der Krise, welche alle europäischen Industrien durchmachen, die Gründung einer 47 Kolonie die Schaffung eines Absatzmarktes bedeutet.“ Schafft die Konkurrenz zuerst auf Stammesebene, dann auf nationaler und internationaler Ebene ab und ihr schafft d ie Maschine ab, die die Kämpfe und Kriege verbreitet! Hier, so scheint es uns, findet sich eine Perspektive für den Moralphilosophen, der eine Arbeit schaffen möchte, die der Struktur der zeitgenössischen Gesellschaft angepasst ist, eine Basis für 48 die Ethik [154] der Aneignung, von der wir gerade gesprochen haben. 44 Les deux sources, S. 308 [NE S. 308; Ü S. 225]. 45 Vgl. Bergson: Les deux sources, S. 325-326 [NE S. 325-326]: Der Erfindergeist „hat

zu viel an das Überflüssige gedacht.“ „Es handelt sich um das Streben nach Komfort und Luxus, das die Hauptsorge der Menschheit geworden zu sein scheint“, S. 317 [NE S. 317; Ü S. 232]. 46 Vgl. das bereits zitierte Werk von Émile Mireaux: Les poèmes homériques et l’histoire grecque und oben S. [141]. 47 Assemblée nationale: Journal Officiel, S. 1062 [http://www2.assemblee-nationale. fr/decouvrir-l-assemblee/histoire/grands-moments-d-eloquence/jules-ferry1885-les-fondements-de-la-politique-coloniale-28-juillet-1885 (konsultiert am 13.08.2016), wiederabgedruckt Jules Ferry: Le devoir de civiliser, in: Patrice Lumumba: Africains, levons-nous! Paris: Éditions Points 2010, S. 37-51, hier: S. 3940, in etwas anderem Wortlaut als im Zitat Lahbabis, aber in der Sache gleich]. 48 Siehe oben, S. [149].

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Man betrachtet die Konkurrenz oft als eine der am meisten charakteristischen Formen der Freiheit („freie Unternehmung“, „freier Warenaustausch“ usw.). Man hat das Recht, das, was man besitzt, „zu gebrauchen oder zu missbrauchen“, nach der Definition des römischen Rechts, die man vom Eigentum gibt. Auf den ersten Blick ist das eine wahrhaftige Freiheit, weil man auch das Recht hat, seine Reichtümer zu zerstören. Nur muss man dann auch Reichtümer besitzen. Erste Einschränkung für die große Mehrheit der Menschen. Das System der Konkurrenz bleibt unmenschlich, solange es nicht allen die Verwirklichung des notwendigen Minimums von Privateigentum erlaubt. Man hat nicht ausreichend beachtet, sagt Bergson, dass „die Mechanik durch einen Zufall der Weichenstellung auf einen Weg geraten ist, an dessen Ende übertriebenes Wohlleben und Luxus für eine gewisse Anzahl und nicht die Befreiung 49 für alle steht.“ Diese Enterbten werden immer zu kämpfen haben, um die Hindernisse zu überwinden, denen sie sich überall gegenüber sehen und die nichts anderes als Sperren sind, die die Besitzenden immer besser gesichert haben, um ihre Güter zu schützen und mögliche Konkurrenz zu verhindern. Wenn also die Konkurrenz für einige eine Freiheit zu sein scheint, [155] ist sie in Wirklichkeit ein Hindernis für die Befreiung der anderen, welche die Mehrheit darstellen. Der Arbeiter ist seiner Arbeit fremd, obwohl sie doch seine Ergänzung sein müsste. Die Arbeit gehört einem anderen: demjenigen, der die Produktionsmittel besitzt. Vielleicht hat niemand besser als Hegel dieses „entzweite Bewusstsein“ beschrieben und die Empörung der Person, die sich der Herrschaft der Din50 ge, dem Geld unterworfen sieht. Die Marxisten haben große Anstrengungen auf ebendiesem Weg entfaltet, mit einem selbstverständlich objektiveren und realistischeren Geist als dem Hegels. Wenn indessen der wirtschaftliche Klassizismus „in einem sterilen Dogmatismus“ versunken ist und wenn die politische Wirtschaft schon seit einer Weile eine schwere Krise erlebt, scheinen auch die marxistischen Standpunkte ein wenig starr geworden zu sein, trotz der genialen Anfangsimpulse. Wie nämlich Marchal wahrnimmt, „mündet der Marxismus, der unter anderem den Vorzug hat, die Untersuchungen 49 Les deux sources, S. 329 [NE S. 329; Ü S. 240]. 50 Nach J. Hippolyte eine durch Diderots Le Neveu de Rameau inspirierte Idee. Vgl.

G. W. F. Hegel: La phénomènologie de l’esprit. Übersetzt und annotiert von Jean Hippolyte. Bd. 2, S. 77ff. [ausdrückliche Erwähnung auf S. 77, Fn. 58; S. 80, Fn. 67. S. 81, Fn. 68].

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Kapitel 3: Die Konkurrenz steht am Anfang des Bösen

seiner Gegner anzuregen, die Geschichte zu beleben, das Fundament für eine umfassende dynamische Erklärung zu legen, heute in eine ,Blockade des Denkens‘. Denn seit einem Jahrhundert kann man wohl sagen, dass die Marxisten zumindest in Sachen Wirtschaftstheorie zwar nichts vergessen [156] haben, aber auch nichts gelernt haben. Und dies ist es, was ,die Krise‘ der Wirtschaft charakterisiert: die Verknöcherung, die Unbeweglichkeit. Es liegt nämlich in der Natur einer Wissenschaft – die Wirtschaftswissenschaft macht hier keine Ausnahme von der Regel –, ständig in Frage gestellt zu werden, ihre Methode zu überprüfen, ihre Er51 gebnisse zu diskutieren.“ Die Denker, die über diesen Punkt des politischen Denkens gestolpert sind, haben in der Konkurrenz die Entfaltung der individuellen Freiheit gesehen, im Gegensatz zum „Dirigismus“, zum „Etatismus“ usw. Sie gefallen sich auch darin, das System der Konkurrenz dem Sozialismus entgegenzusetzen, der sich ihrer Meinung nach durch die Unterdrü52 ckung des Eigentums definiert. Nun ist der Sozialismus von der Repu53 blik Platons über das Pamphlet Proudhons bis in unsere Tagen ein Denken, das sich sehr entwickelt hat. Die „aneignungsfähigen“ Gegenstände gehören zwei Ordnungen an: auf der einen Seite die Produktionsmittel (Fabriken, Maschinen) und die natürlichen Reichtümer (Kohle, Erdöl, Mineralien, Wasserfälle usw.), auf der anderen Seite die Konsumgüter (Nahrung, Kleidung, Wohnung, usw.). Die Konkurrenz betrifft alle diese Gegenstände. Man kämpft darum, das größte Landgut, die größte Zahl [157] an Häusern zu haben, und darum, sie möglichst teuer vermieten zu können. Nach dem Bild des Eigentums, mit dem ohne irgendeine Beschränkung verfahren wird, kennt die Konkurrenz ebenfalls keine Einschränkung. Das gleiche Individuum 51 André Marchal: Un demi-siècle de pensée économique, in: Revue philosophique de

la France et de l’Étranger 79 (1954) Nr. 10-12, S. 544-570, hier: S. 544-545.

52 Gegensatz, den man z. B. bei Ducattillon findet. Vgl. Joseph Vincent Ducattillon:

Doctrine communiste et doctrine chrétienne, in: Ders., François Mauriac, Nicolas Berdiaeff et al.: Le Communisme et les Chrétiens, Paris: Plon 1937, S. 5-151. Übrigens leitet man diese Gegenüberstellung damit ein, dass man den Sozialismus auf eine einzige seiner Varianten, den Kommunismus, reduziert. 53 Pierre-Joseph Proudhon: Qu’est-ce que la propriété? C’est le vol. [Was ist das Eigentum? Es ist Diebstahl. Ders.: Qu’est-ce que la propriété? Premier mémoire, in: Ders.: Oeuvres complètes. Bd. 4, S. 131-363, hier S. 131-133; Ders.: Was ist das Eigentum? Untersuchungen über die Grundsätze des Rechts und der Regierung. Übersetzt von Lena Völkening. Vorwort von Gérard Raulet, Münster: Unrast 2014 (Klassiker der Sozialrevolution; 20), S. 21-22].

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Dritter Teil: Der Besitz als Befreiungsvermögen

oder die gleiche Gruppe von Individuen kann eine Fabrik besitzen, die Transportmittel zur Beförderung seiner Waren, Steinkohlevorkommen, Rohstoffe, kann die Wasserfälle nutzen, Nahrungsmittel und Kleidung besitzen. Der Sozialismus zielt (seit Adam Smith, Proudhon und besonders Marx und Engels) darauf ab, die Arbeit aufzuwerten, das Privat54 eigentum auf das von Konsummitteln zu begrenzen sowie die Produktionsmittel dem Staat zuzueignen. Die Sozialisten denken, auf diese Weise das Problem des „unglücklichen Bewusstseins“ des Proletariers zu lösen, der von seinem Werk abgelöst und von seiner eigenen Arbeit getrennt ist, wo er sich doch in diesem Werk hätte wiederfinden und sich durch diese Arbeit hätte befreien sollen. Aber während Marx und Engels behaupten: „Erarbeitetes, erworbenes, selbstverdientes Eigentum! (…) Wir brauchen es nicht abzuschaffen, die Entwicklung der Industrie hat es abgeschafft und schafft es täglich 55 ab“, scheint uns, dass diese Abschaffung eher von der Konkurrenz her kommt und nicht direkt vom Fortschritt der Industrie, der diese Konkur renz nur stärker, zwingender und besser organisiert hat werden lassen; er hat ihr durch eine immer gründlichere Ausrichtung sehr weite Horizonte eröffnet. [158] Auf der anderen Seite scheint es uns, dass sich der Marxismus, der vor allem die Infrastruktur darlegen will, durch einen „suprastrukturalen“ Aspekt hat täuschen lassen, da die Konkurrenz sowohl Mechanismus als auch Quelle des Ungleichgewichts ist, das die befreiende Bewegung des Menschen behindert. Gerade in diesem System sind die Arbeiter ihren Werken fremd, weil sie, die „sich stückweis verkaufen müssen, (…) eine Ware“ sind „wie jeder andere Handelsartikel und daher gleichmäßig allen Wechselfällen der Konkurrenz, allen 56 Schwankungen des Marktes ausgesetzt.“ Die Konkurrenz ist sehr alt, aber sie hat niemals eine solche Ausdehnung angenommen, niemals eine so zerstörerische Kraft besessen wie seit Beginn des Industrialismus. Schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts studierte Adam Smith die Beziehung zwischen dem Reichtum und der Ar54 Wir präzisieren, dass es sich um eine Begrenzung und nicht um eine Abschaf-

fung handelt.

55 Karl Marx, Friedrich Engels: Le Manifeste du Parti communiste suivi de la Contri-

bution à l’histoire de la Ligue des Communistes, Paris: Editions sociales 1945, S. 22 [Dies.: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Dies.: Werke. Bd. 4, Berlin: Dietz 1964, S. 459-493, hier S. 475]. 56 Karl Marx, Friedrich Engels: Le Manifeste du Parti communiste, S. 16 [Dies.: Manifest der Kommunistischen Partei, S. 468].

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Kapitel 3: Die Konkurrenz steht am Anfang des Bösen

beit. Tatsächlich ist offensichtlich, dass die Erde nur dem gibt, der sie kultiviert (pflügen [frz. labourer] kommt von laborare). Die Industrie, der Handel sind nur besondere Formen, die zu ein- und derselben allgemeinen Quelle zurückführen: der Arbeit. Der Reichtum, das ist die Produktion. Diese Konzeption Smiths inspirierte die Schulen von Hegel und Proudhon. Wenn die Arbeit die Quelle des Reichtums ist, muss man dem Arbeitenden [travailleur] nicht seine ökonomische Freiheit garantieren? Wenn, so antwortet [159] Proudhon, dann unter der Bedingung, dass der Arbeitende in seiner Produktion seinen aktuellen Lebensunterhalt, die Garantie seines zukünftigen Lebensunterhalts und schließlich die Unabhängigkeit und Sicherheit für die Zukunft findet. Wenn nur eine dieser drei Forderungen nicht realisiert wird, wird sich der Arbeitende nicht 57 durch seine Arbeit befreien können. Ein Chef zahlt Arbeitern [ouvriers] ein festes Gehalt für eine bestimmte Arbeit, die er zu einem höheren Preis als den Selbstkosten verkauft. Die Arbeiter sind ihres Rechts beraubt, vom Gewinn zu profitieren, den der Chef der Arbeit entnimmt. Und zusätzlich zu diesem Gewinn gibt es noch einen weiteren, der nicht weniger wichtig ist: Die Mehrarbeit [frz. surtravail] erzeugt den Mehrwert [frz. plus-value], der allein dem Chef Vorteile bringt. Proudhon stellt in seiner Analyse des Mehrwerts fest, „dass die Arbeitskraft von 1000 Mensc hen während 20 Tagen wie die Arbeitskraft eines einzigen während 55 Jahren bezahlt worden ist. Doch die Arbeitskraft von tausend hat in 20 Tagen erreicht, was die Arbeitskraft eines einzigen, und würde er sich eine Million Jahrhunderte abmühen, nicht erreichen würde: Ist der Handel, der da gemacht wurde, gerecht? Noch einmal: Nein. Als Sie all die einzelnen Arbeitskräfte bezahlt haben, haben Sie die Kraft der Gruppe nicht be 58 zahlt …“. 57 Proudhon: Qu’est-ce que la propriété?, Kapitel 3 [Die Arbeit als Wirkursache des

Eigentums]. Daher definiert Ibn Ḫaldūn (al-Muqadimma) die Arbeit zurecht zuerst als maʿāš, d.h. Anstrengung, durch welche sich das menschliche Wesen seinen Lebensunterhalt sichert. Wenn dieser garantiert ist, dann wird die Funktion der Arbeit zu einem sozialen Faktor, einem Mittel, die Volkswirtschaft zu bereichern. So verstanden befreit die Arbeit den Arbeitenden und erlaubt ihm dann in einem zweiten Schritt, zur Befreiung der Gesellschaft beizutragen. Vgl. Ibn Khaldūn: Les prolégomènes, Bd. 2, S. 323-325 [Paragraph: Über Wege und Mittel, seinen Lebensunterhalt zu verdienen: „Das Wort ma’āsh wird zur Bezeichnung des Aktes des Menschen verwendet, der seine Subsistenz wünscht und Anstrengungen macht, sie zu sichern.“ (S. 323)]. 58 Proudhon: Qu’est-ce que la propriété? [Ders.: Was ist das Eigentum?, S. 138].

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Dritter Teil: Der Besitz als Befreiungsvermögen

Damit die Arbeit eines jeden Arbeiters [ouvrier] vollständig [160] bezahlt werden, müssen die Produktionsmittel der Gemeinschaft gehören, damit der Mehrwert im Interesse der Gesellschaft (indirekt im Interesse eines jeden Arbeitenden [travailleur]) gebraucht und das Werk nicht mehr gegen den Arbeiter [ouvrier] gerichtet wird.

Kapitel 4: Entfremdung von Konkurrenten [161] „Das kollektive Eigentum, das man wie ein fernes Monster fürchtet, umkreist uns schon in Gestalt tausender vertrauter Formen. Es erschreckt, wenn man es ankündigt, und man gebraucht 59 schon die Vorteile, die es verschafft.“ Auf der Ebene der Industrie ist die Konkurrenz keine Freiheit, sondern selbst für diejenigen, die sie ausüben, eine Flut der Entfremdung. Das Privateigentum hört in dem Moment auf, ein Mittel der Befreiung zu sein, in dem es die Konkurrenz verursacht. Nehmen wir z.B. den Fall der landwirtschaftlichen Entwicklung in Beziehung zur Ausdehnung des Einsatzes von Maschinen in den USA. Vom 19. Jahrhundert an und besonders seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts steht man einer paradoxen Wechselbeziehung gegenüber: Auf der einen Seite vereinfachen immer zahlreichere und perfektionierte Maschinen die Arbeit des Arbeiters und verbessern unaufhörlich den Ertrag des Bodens; auf der anderen Seite [162] reduzieren sie die Zahl der Arbeiter 60 so sehr, dass sich gravierende soziale Probleme einstellen. „Der kleine Bauer kann nicht gegen die Konkurrenz großer Landwirte kämpfen. Er ist auf Mehrfruchtbewirtschaftung zurückgeworfen, oder meistens zur 61 Aufgabe des landwirtschaftlichen Berufes gezwungen.“ Das ist das Drama, das, wie Schuhl schreibt, der erschütternde Roman The Grapes of Wrath (Früchte des Zorns) von John Steinbeck veranschaulicht.

59 Anatole France: Monsieur Bergeret à Paris. Paris: Calman-Lévy 1551923 (Histoire

contemporaine 4), S. 253.

60 Zur Vertiefung dieser Frage vgl. Pierre-Maxime Schuhl: Machinisme et Philoso-

phie, S. IX-XI [Les trois époques de l’âge de la machine. Interférence avec l’évolution agricole]. Der Verfasser gibt eine Reihe von Bezügen, Zahlen und Beispielen. 61 Daniel Faucher: Géographie agraire. Types de cultures, Paris : Librairie de Médicis 21949. Vgl. P.-M. Schuhl: Machinisme et Philosophie, S. X.

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Kapitel 4: Entfremdung von Konkurrenten

So wurde die maschinelle Arbeitsweise, die die Arbeitenden hätte entlasten und den Wohlstand verbreiten sollen, von Anfang an, mangels moralisch und ökonomisch gesunder und heilsamer Grundlagen, im Räderwerk pausenloser Konkurrenz zum alleinigen Profit einiger Minderheiten eingesetzt. Denn je mehr die Maschinen die Anstrengung des Arbeiters vermindern, „desto mehr verkürzen und vermindern sie die Ar62 beit“, das heißt sie vernichten Arbeitskraft und begünstigen die Ar beitslosigkeit, also das Elend der Mehrheit der Arbeitenden. Das wirtschaftliche Gleichgewicht – und demnach das soziale – beruht nicht mehr auf der eigentlichen Arbeit, sondern auf dem Arbeitsersatz, auf einem System von Übereinkünften, Zufällen und mehr oder weniger moralischen Machenschaften, die unermüdlich chronische Krisen erzeugen, die mit Nöten für die Arbeitswelt und [163] Feindseligkeits- und Unsicherheitsempfindungen für die Eigentümer des Kapitals verbunden sind. Der Chef verkauft die Ware und erzielt einen Gewinn. Derselbe Gegen stand wird aber vom Käufer mit einer Gewinnspanne weiterverkauft. Dieser letztere erzielt allein durch die Vermittlerrolle, die er zwischen Produzent und Konsument spielt, Profite, deren sich der Chef seinerseits beraubt sieht. Der Chef findet sich daher gestört durch die Existenz der Zwischenhändler, die ihn vom Konsumenten trennen und Gewinne nehmen. Ein Hindernis für seine „Unternehmensfreiheit“! Warum diese Zwischenhändler nicht beseitigen, die ihm einen Teil des Profits „rauben“ (die Kaufleute: Großhändler, Zwischenhändler und Einzelhändler; Spediteure usw.)? Deshalb finden sich all diese durch dasselbe Spiel der Konkurrenz zur Seite geschoben. Es gilt, eigene Läden, eigene Transportmittel zur Beförderung der Ware, eigene Zeitungen für die Werbung usw. zu haben. Vertikale und horizontale Trusts. Dieses Programm erfordert viel Kapital. Der Chef sieht sich gezwungen, die völlige Unabhängigkeit seines Unternehmens oder seiner Fabrik aufzugeben, um Teilhaber aufzunehmen, die das nötige Kapital beibringen. Also eine andere Einschränkung seiner Freiheit, welche gerade durch die Beseitigung der Zwischenhändler erforderlich wurde. Um der einen Entfremdung zu entgehen, gerät man in eine andere. 62 Proudhon: Système des Contradictions économiques ou Philosophie de la

misère, S. 179.

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Dritter Teil: Der Besitz als Befreiungsvermögen

Aber neben diesem Chef gibt es andere, die auf seinem eigenen Gebiet mit ihm konkurrieren können, [164] wenn sie über perfektionierte Produktionsmittel oder billigen Rohstoff verfügen, was ihnen erlaubt, ihren Verkaufspreis zu senken, ohne ihre Gewinnmarge zu verkleinern, und so dem Geschäftsgang ihres Konkurrenten einen manchmal tödlichen Schlag beizubringen. Dies alles geschieht nach dem Gesetz der freien Konkurrenz. Ein Konzern ist fortwährend durch seinen Nebenbuhler bedroht und beständig auf der Hut: Die Angst vor der Krise ist immer vorhanden. So wird der Reichtum, der ursprünglich ein Mittel zur wirtschaftlichen Befreiung sein sollte, eine Art Zweck an sich: Man strengt sich an, um ihn bestmöglich zu entwickeln. Der Mensch ist „Geschäftsmann“ bevor er Mitglied einer menschlichen Gemeinschaft ist, und an statt durch die Geschäfe zu leben, lebt er nur für die Geschäfe. Das System der Konkurrenz umfasst heutzutage die beiden Sphären der Arbeitswelt, über die Hegel in seiner Dialektik von Herr und Knecht spricht, die eine von der anderen fein säuberlich getrennt. Im Unterschied zum Proletarier fühlt sich der Chef unabhängig gegenüber Gegenständen, über welche er verfügt, ohne dass er sie hat erschaffen und sein Wesen in ihnen hat entfremden müssen. Aber durch die Behandlung dieser Gegenstände als sein Eigentum integriert er sie ständig in sich und kämpft gegen jede Konkurrenz um die Ausdehnung der Märkte und die vorteilhaftesten Selbstkostenpreise usw. Dadurch macht er sich nicht nur von den Arbeitern abhängig, die für ihn diese Gegenstände herstellen, sondern auch von dem Geschmack und den Bedürfnissen der Käufer sowie von der Situation seiner Konkurrenten, die ihn begünstigen oder ruinieren kann. [165] Er wird sich daher bewusst, dass sein wahres Wesen im Sein für andere besteht. Und andere berücksichtigt er nur in dem Maße, in dem sie in Beziehung zu den Gegenständen treten, die sein Eigentum sind. Ein anderer hat nicht mehr Bedeutung, als dass er Hersteller, Käufer oder Konkurrent ist. Daher die Umwandlung von „An-sichs“ in „Für-sichs“. Hier legen wir den Finger in die Wunde, die fatalste der Wunden des Konkurrenzsystems: die quasi vollständige Depersonalisierung. „Der Besitzer wird durch seine toten Güter besessen, genießt nur noch das Prestige, das sie ihm geben, und stirbt verdurstend in der Wüste seines Über63 flusses.“ 63 Emmanuel Mounier: Le personnalisme, Paris: Seuil 1949, S. 58 [E. Mounier: Le

personnalisme, in: Ders.: Œuvres. Bd. 3, Paris: Seuil 1962, S. 427-525, hier S. 466].

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Kapitel 4: Entfremdung von Konkurrenten

Nichts mehr könnte jetzt die aggressiven Instinkte aufhalten, den Ehrgeiz, der jede Grenze in dem Maße überschreitet, in dem sich die Konkurrenz verstetigt und die Unternehmen größer werden. Ernest Seillière zeigt, wie diese Ambitionen sich göttliche Sendungen zuschreiben: 64 Der „Imperialismus wird gewöhnlich zur Mystik.“ Wenn man, behauptet Bergson, diesem letzten Wort die Bedeutung gibt, die es bei Ernest Seillière hat und die eine lange Reihe von Werken zur Genüge bestätigt, ist die Tatsache unbestreitbar. „Indem er sie feststellt, sie mit ihren Ursachen verbindet, und ihre Wirkung verfolgt, liefert der Verfasser einen unschätzbaren Beitrag zur Philosophie der Geschichte. Aber er würde wahrscheinlich selbst der Meinung sein, dass die so verstandene Mystik – übrigens so verstanden von dem ‚Imperialismus‘, wie er ihn darstellt – nur eine Nachahmung der wahren Mystik, [166] der ‚dynamischen Reli65 gion‘ ist, die wir in unserem letzten Kapitel untersucht haben.“ Durch die klare Unterscheidung der Mystik der „dynamischen Religion“ vom Mystizismus im Imperialismus stellt Bergson beide als zwei getrennte Realitäten dar. Aber er gibt sich damit zufrieden, auf letzteren aufmerksam zu machen, ohne ihn zu studieren. Nun besitzt der Imperialismus einen tiefgehenden Mystizismus, der „Ekstasen“ birgt und eine sehr eingehende Analyse verdiente. Wenn die Mechanik mystische Ursprünge hat, muss der Imperialismus, den sie voraussetzt, ebenso An66 wandlungen des Mystizismus haben. Werden die Geschäfte unter der Herrschaft der Konkurrenz nicht Gegenstände der Liebe, eine Art von Götzenbildern? Sie regen die Spezialisten an, geben einen gewissen dynamischen Schwung; kurz, mit der Konkurrenz entsteht der Mystizismus der Geschäfe [mysticisme des affaires]. Die Selbsthingabe ist meistens total: Emigration, gefährliche Reisen, man läuft sogar manchmal Gefahr, seiner Ehre oder seinem Leben zu schaden. Schafft die Konkurrenz ab und ihr werdet Millionen von Individuen, die Sklaven dieser vis a tergo [lateinisch: Kraf von hinten, Schubkraf] sind, die sie unaufhörlich zu neuen Ufern amoralischer, ja sogar unmenschlicher Abenteuer antreibt, den Platz des Nachbarn zu erobern oder gnadenlos für den Erhalt des eigenen zu kämpfen (ohne jemals die 64 Zitiert in: Les deux sources, S. 331 [NE S. 331; Ü S. 241]. 65 Les deux sources, S. 331 [NE S 331; Ü S. 241-242]. 66 „Die Ursprünge dieser Mechanik sind vielleicht mystischer als man glaubt.“ [Les

deux sources, S. 331; NE S. 330-331; Ü S. 241].

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Dritter Teil: Der Besitz als Befreiungsvermögen

Gewissheit zu haben, erfolgreich zu sein), die Gemütsruhe und das Gefühl für sich selbst zurückgeben! Die Erfahrung der Angst findet hier ihr [167] größtes Feld. „Die Geschäfte sind die Geschäfte“, weder die Normen der „geschlossenen Moral“ noch jene „des Heldenappells“ der „offenen Moral“ finden dort einen Platz. Die Moral geht erst an dem Tag über der Freiheit der ganzen Menschheit auf, an dem sie nicht mehr auf Aneignungssysteme stößt, die auf Konkurrenz beruhen. Die Konkurrenz führt zur Abschaffung der Freiheit, der Besitzende lässt sich vom Eigentum besitzen, das zum Gegenstand von Kampf und 67 Kult geworden ist. Der „Teufelskreis“, von dem die zeitgenössischen Ökonomen sprechen, ist nicht allein ökonomischer, er ist auch psychologischer Natur. Die Konkurrenz hat immer einen diabolischen Charme, der hypnotisiert, dem Kapitalisten jedoch, der sich durch ihre Versuchungen so sehr täuschen lässt, dass er sie schon zu beherrschen meint, antwortet sie wie Penelope mit einer beständigen und eisigen Weigerung. Der Konkurrent verdoppelt seine Anstrengungen, kämpft ohne Unterlass, aber zu seiner großen Enttäuschung bleibt das Tuch Penelopes unvollendet. Maxim Gorki zeichnet in einem Pamphlet das Porträt eines 68 Millionärs, das diese Idee gut veranschaulicht:

67 Diese Dialektik der Entfremdung ist von Mounier analysiert worden. Vgl.

E. Mounier: De la propriété capitaliste à la propriété humaine, Paris: Desclée de Brouwer 1936 [Emmanuel Mounier: De la propriété capitaliste à la propriété humain, in: Ders.: Œuvres. Bd. 1, Paris: Seuil 1961, S. 417-477] und Ders.: Traité du caractère. Paris: Seuil 1946, Kap. X [Emmanuel Mounier: Traité du caractère, in: Œuvres. Bd. 2, Paris: Seuil 1961, S. 523-600 (Kap. X: „L’affirmation du moi“)]. Vgl. auch Jean Lacroix: La notion du travail, in: Cahiers universitaires catholiques. Supplement zu Nr. 7 (Mai 1952, Lyon), S. 12-31 und Henri Bartoli: Vers une civilisation du travail, in: Cahiers universitaires catholiques. Supplement zu Nr. 7 (Mai 1952, Lyon), S. 55-79. Karl Marx hat die Kritik des Habens in zahlreichen Texten geübt, vgl. besonders Karl Marx: Économie politique et philosophie. Idéologie allemande (1ère partie), Übersetzt von J. Molitor. Hg. von S. Landshut und J.-P. Mayer, Paris: Alfred Costes 1937 (Œuvres philosophiques; 6), S. 5-135, vgl. auch S. 30 [Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: Karl Marx: Die Frühschrifen. Hg. und eingeleitet von Siegfried Landshut, Stuttgart: Körner 7 2004, S. 292-378, hier vor allem S. 313] und Karl Marx/Friedrich Engels: Le Manifeste du Parti communiste [Manifest der Kommunistischen Partei]. 68 Ein König der Republik (1916) [Es handelt sich hier höchstwahrscheinlich um die französische Übersetzung von Gorkis Text Odin iz korolej respubliki (dt. Einer der Könige der Republik) aus dem Jahr 1906 (vgl. http://az.lib.ru/g/gorxkij_m/text_0480.shtml, konsultiert am 14.08.2016)].

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Kapitel 4: Entfremdung von Konkurrenten

[168] „Was machen sie aus ihrem Geld?“ fragt Gorki den Reichen. Der Millionär zuckt die Achseln, rollt die Augen und antwortet: „Ich mache damit noch mehr Geld …“ „Warum?“ 69 „Um damit noch mehr Geld zu machen …“ Henry Ford antwortete seinerseits jemandem, der ihn fragte, warum er ohne Unterlass seine Unternehmen entwickelte: „Weil ich mich nicht anhalten kann.“ Denn Ford gehört zu denjenigen, die, wie Jean Jaurès sagt, 70 Sklaven ihres Reichtums sind „wie die anderen Sklaven ihrer Armut.“ Das veranschaulicht gut die These, die wir entwickeln: Der „Herr“ (in der Hegel’schen Dialektik von Herr und Knecht) verliert sich, nimmt den besessenen Gegenstand in sich auf, wird letztlich aber selbst von dem Gegenstand absorbiert. Er fühlt sich dadurch entfremdet. Die Konkurrenz ist ein Räderwerk, man legt einen Finger hinein und der ganze Körper wird hineingezogen. Daher kommen Angst und Furcht; man kämpft, kämpft kontinuierlich, aber ohne klare Hoffnung, denn „das Geld ist 71 nach Gott Herr geworden“. In Ermangelung des wirklichen Glücks – des richtig verstandenen und der gesamten Menschheit gemeinsamen – zeigen sich die Galeerensträflinge der Geschäfe resigniert und oft sogar zufrieden mit ihrer Situation des kontinuierlichen Kampfes unter Wölfen und ihrer Bedrohung [169] der anderen, ihrer Mitmenschen, die durch das System der Konkurrenz auf den Status von mehr oder weniger gefügigen Lämmern reduziert sind. Sie schreien Demagogie, sobald man ihre Dschungelgesetze in Frage stellt, die jedoch ebenso sie selbst ins Verderben stürzen wie sie die Benachteiligten oder die weniger Begünstigten unterdrücken. „Die Unterdrückung demoralisiert“, wie der maghrebinische Philosoph und Soziologe Ibn Ḫaldūn darlegt, „und zerschlägt unsere Energie. Unter einer Regierung [oder einem System], das sich durch 69 Im gleichen Sinn spricht Proudhon vom „Königtum des Goldes“: „Das Gold ist

der Talisman, der das Leben in der Gesellschaft erstarren lässt, der die Arbeit und den Kredit tötet, der zwischen allen Menschen eine wechselseitige Sklaverei hervorbringt.“ (Proudhon: Organisation du Crédit, in: Ders.: Œuvres complètes, S. 113 [Ders.: Textes choisis, S. 401]). 70 [Jean Jaurès: Au clair de lune. «La Dépêche» du mercredi 15 octobre 1890, in: Ders.: Action socialiste. Première série, Paris: Georges Bellais 61899, S. 106-114, hier: S. 107.] 71 Charles Péguy: Ève, in: Cahiers de la Quinzaine XV, Paris 1913, S. 11 [Charles Péguy: Ève, in: Œuvres poétiques complètes, Paris: Gallimard 1957 (Bibliothèque de la Pléidade), S. 933-1174, hier: S. 972].

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Dritter Teil: Der Besitz als Befreiungsvermögen

Härte an der Macht hält, verlieren die Untergebenen ihren Mut; gezüchtigt, ohne Möglichkeit zum Widerstand, verfallen sie in einen Zustand 72 der Demütigung, der ihre Energie bricht“, was ihren revoltierenden Geist und ihren Durst nach Rache stark anheizt. An dieses ewige Drama der Menschheit erinnert uns jener arme Bauer aus einer Erzählung Dostojewskis, dem man anbot, dass er, wenn er die Grenzen einer sehr großen landwirtschaftlichen Domäne vollständig abliefe – im Laufschritt und ohne anzuhalten – am Ende des Laufs Herr der Domäne sein würde. Der Bauer fing schwer keuchend an zu laufen. Außer Atem lief er den ganzen Tag und die ganze Nacht, bis er tot zu Boden fiel, genau in dem Moment, als ihm nur noch eine kurze Strecke blieb, das begehrte Ziel zu erreichen! So hatte der Koran recht, die Gläubigen zu Wachsamkeit aufzurufen: „Wisset, dass eure Güter […] eine Versuchung sind“ (Sure 8,28), eine Prüfung, die euch zum Verhängnis werden kann.

Kapitel 5: Wettstreit und Solidarität [170] Nach den vorangehenden Kapiteln ist das System der Konkurrenz, das – auf den ersten Blick – die Verkörperung der Freiheit schlechthin zu sein scheint („liberale“ Wirtschaft), eher deren Hindernis. Es ist das System, in dem sich die Inflation und der Individualismus am besten entfalten, in dem die Interessen, da sie einander entgegenstehen, das progressive Element von Streitgesprächen eliminieren und die Dialektik in eine verwüstende Kraft umformen: Anstatt sich gegenseitig anzuspornen, desolidarisieren sich die Anstrengungen und zielen auf die Zerstörung der Personen ab. Das Spiel der Konkurrenz müsste im Prinzip den Verbraucher durch das Angebot einer Auswahl-, Qualitäts- und Preispalette begünstigen, aber das ist nicht der Fall. Im Gegenteil, die Konkurrenz begünstigt die Konzentration der Produktionsmittel in den Händen von Personen und Gruppen, deren Ziel es – wie im Wesen der Konkurrenz angelegt – ist, die eigene Anzahl immer mehr einzuschränken, so dass viele unter ihnen dem zum Opfer fallen. Lasst die Konkurrenz gewähren [171] und sie 72 Ibn Khaldūn: Les prolégomènes, Bd. 1, S. 265 [Paragraph: Die Unterwerfung un-

ter die verfassten Autoritäten schadet dem Mut der Städter und nimmt ihnen das Eigenschutzdenken, S. 264-268].

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Kapitel 5: Wettstreit und Solidarität

führt zum Monopol, öffnet dem Monopol das Fenster und es jagt euch vor die Tür! Darin liegt die ganze grundsätzliche Tragik der aktuellen Gesellschaf. Die Konkurrenten laufen der Geschichte hinterher, aber das Rad der Geschichte dreht sich zu schnell für sie. Der tragische Plan des Laufs der Welt, dessen Verzweiflung Hegel gefühlt hat, scheint auf ihren Schultern zu lasten und ihren Rücken zu krümmen, sie laufen einem Absoluten hinterher, das sie niemals erreichen. Anstatt einer interpersonalen Beziehungsethik werden Verbindun gen zwischen abstrakten Personen, Firmen, Gesellschaften, Banken usw. etabliert. Anstelle menschlicher Wesen findet man nur Schecks, Titel und Gold, das das System der Konkurrenz vergöttlicht, vor sich. Und der Mensch wird zum Geizhals und hält das Gold für das Absolute. Aber man hat das Absolute verloren, man weiß nicht, wo es ist, man hat sogar die Hoffnung verloren, es wiederzufinden, trotzdem setzt man die Suche danach fort. Anstatt für die Befreiung zu arbeiten, legt man sich selbst Ketten an, anstatt zur Begründung des Friedens und zur Festigung der Solidarität beizutragen, führt die teuflische Gier nach Reichtümern zum Krieg. Denn wie Courteline sagt, „ist“ das Geld „so etwas wie ein Dummkopf, der sich für etwas Besonderes hält, durchdrungen, ohne dass man weiß warum, vom Gefühl seiner Überlegenheit gegenüber der mühseligen Arbeit, die er bezahlt und behandelt wie ein Dieb. Daher kommt eine häufige Anomalie: Die Demut bei dem, der arbeitet, und die hochmütige oder gönnerhafte Unverschämtheit bei dem, der dabei zusieht. Und von ihrer gleichgültigen Höhe herab ist die öffentliche Meinung auf dem Zuschauerbalkon der Ansicht, dass alles sehr gut läuft. Und alles läuft in der Tat sehr gut. Und alles ist zum [172] Besten gestellt in der besten aller Welten. Und dann passiert es. 73 Und dann, am Ende von all dem, gibt es Prügel.“ Aus dem, was in diesem Abschnitt entwickelt worden ist, geht hervor, dass die Frage des Eigentums mit dem Faktum der Befreiung verbunden ist und dass auch unser eigenes Bewusstwerden über das Wesen, das wir sind (Sklave, Knecht oder Arbeiter, Herr oder Chef), durch die Vermittlung hergestellter oder besessener Gegenstände zustande kommt. Was 73 Georges Courteline: La Philosophie de Georges Courteline, in: Ders.: Théâtre,

contes, romans et nouvelles, philosophie, écrits divers et fragments retrouvés, Paris: Robert Laffont 2009, S. 801-844, hier S. 811.

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Dritter Teil: Der Besitz als Befreiungsvermögen

dies auch immer für das psychologische oder moralische Bewusstsein bedeutet, die Beziehung Eigentum – Freiheit ist wesentlich, denn die Beweglichkeit des Habens steht in Korrelation mit der Beweglichkeit unseres Charakters und unserer diversen Verhaltensweisen. Weil er diese Beziehung nicht analysierte, hat Bergson sich verleiten lassen, zur Lösung des Problems des Krieges Betrachtungen anzustellen, die, wie wir schon sahen, unzureichend erscheinen. Weder die Überbevölkerung noch das Eigentum – generell gesprochen – stehen „schicksalhaft“ am Ursprung des Krieges. Der Krieg ist nicht „natürlich“. Wir haben uns schon bemüht zu zeigen, dass es die Konkurrenz ist, die die Kämpfe verursacht und die Kriege verbreitet. Andererseits haben wir auf der Tatsache beharrt, dass die menschliche Gesellschaft nicht für das System der Kon kurrenz „prädestiniert“ ist – andere Arten des Tausches sind möglich, wo die Aufhebung [173] der Konkurrenz uns erlauben würde, auf Bergson zu antworten: Die Natur hat den Krieg nicht gewollt, sie hat „dem Menschen“ nicht „Daseinsbedingungen gegeben, die den Kriege unvermeid74 lich machten.“ Das Ideal für eine realistische, der Situation der zeitgenössischen menschlichen Gesellschaft angepassten Philosophie wäre, die unbe grenzte Konkurrenz abzuschaffen. Denn es gibt kein edleres Ideal als dasjenige einer Gesellschaft, in der die Arbeit souverän wird und in der sich das individuelle Bewusstsein innerhalb der Gemeinschaft des Wir nicht mehr wie in einem Feindesland fühlt, den Menschen misstrauend und von den Dingen unterjocht. Selbst unter jenen, die man als „die Glücklichen“ ansieht, ist fast niemand glücklich, denn sie erleben die Kehrseite der Aneignung: Die Entfremdung durch die besessenen Dinge lässt ihnen nicht das Recht, sie selbst zu sein, weil ihr innerer Friede dem Reich des Besitzes geopfert worden ist. Beseitigt die Konkurrenz und ihr beseitigt auch viele stürmische Kämpfe, die sich immer fieberhafter steigern werden von einer Entfremdung zur nächsten! Oben wie unten fesselt die Konkurrenz die Individuen und die Kollektive. Die res (Sache, Ding) entfremdet das Humane, denn wer weder die Zeit noch die Mittel noch selbst den Wunsch hat, mit den edelsten Seiten seiner Person zu le75 ben, ist nicht frei, wie Jaurès sagte. 74 Les deux sources, S. 293 [NE S. 293; Ü S. 215]. 75 [Vgl. Jean Jaurès: Au clair de lune. «La Dépêche» du mercredi 15 octobre 1890, in:

Ders.: Action socialiste. Première série, Paris: Georges Bellais 61899, S. 106-114, hier: S. 107.]

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Kapitel 5: Wettstreit und Solidarität

Die Konkurrenz durch den Wettstreit zu ersetzen, bedeutet, allen gleiche Chancen zu geben und dadurch auch den erbitterten Kampf durch das Gefühl der Solidarität zu ersetzen. Denn die Konkurrenz ist im Ganzen genommen eine [174] „Freiheit“, aber die einen verfügen über sie gegen die anderen und auf deren Kosten. „Zwischen Starken und Schwa76 chen ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit“, sagte Lacordaire. Die Solidarität würde alle Ängste beseitigen und die Feindseligkeit an der Wurzel abschneiden, die die Konkurrenz zwischen den Menschen sät. Müsste das Ziel der Gesellschaft nicht das Gemeinwohl sein? Jacques Maritain empfiehlt mit Recht, nicht zu glauben, dass das Ziel der Gesellschaft das Individualwohl oder einfach die Sammlung der individuellen Güter aller Personen ist, die sie konstituieren. Eine solches Modell, so sagt er, würde die Gesellschaft als solche zugunsten ihrer Teile auflösen und sie zur „Anarchie von Atomen“ führen: Sie würde zurückkehren „entweder zu einer eindeutig anarchistischen Konzeption oder zu der alten, vom bürgerlichen Materialismus maskierten anarchistischen Konzeption, nach der jedes Amt des Gemeinwesens auf den Respekt der Freiheit eines jeden bedacht sein muss, mittels dessen die Starken ungestraft 77 die Schwachen unterdrücken können“. Um diesen Schwierigkeiten ein Ende zu setzen, scheint uns, dass man der Legitimität der etablierten Ordnung, die als sicheren Garanten einzig ein übertrieben naives Vertrauen in die Beständigkeit gegenwärtiger sozialer Strukturen hat, die personalistische Gesellschaft gegenüberstellen müsste, welche wirklich gerecht und wirklich menschlich ist, wo [175] wir schließlich mit Victor Hugo den Triumph des Menschen besingen 78 können: 76 [Henri-Dominique Lacordaire: Conférences de Notre-Dame de Paris, Paris:

Sagnier et Bray 1848, S. 246. Das Zitat ist von Lahbabi etwas abgekürzt.]

77 Jacques Maritain: Les droits de l’homme et la loi naturelle, New York: Edition de

la Maison Française 1942, S. 13-14 [vgl. auch Ders.: Œuvres complètes. Bd. 7, Fribourg-Paris: Éd. Universitaires-Éd. St. Paul 1988, S. 617-695, hier S. 623]. 78 Vgl. dazu: Joseph Vialatoux: La signification humaine du travail, in: Bulletin des Facultés Catholiques de Lyon, Juli-Dezember 1948, S. 20-59; Henri Bartoli: La Prolétarisation, mythe ou réalité?, in: Esprit 17 (September 1949), S. 374-399, Ders.: Économie et travail humain, in: Esprit 21 (Januar 1953), S. 49-64; Ders.: Vers une civilisation du travail, in: Cahiers universitaires catholiques. Supplement zu Nr. 7 (Mai 1952, Lyon) (schon angezeigter Artikel), und in derselben Nummer der Bericht von Jean Lacroix über La notion du travail. Ebenfalls: Spezialnum-

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Dritter Teil: Der Besitz als Befreiungsvermögen

Die bittere Fatalität verliert sich in der Ferne, Die ganze abscheuliche und entstellte antike Geschichte Wurde vor dem neuen Horizont zu Rauch. 79 Die Zeiten sind gekommen … Der nachfolgende Abschnitt dieses Essays wird gewisse notwendig vorauszusetzende Bedingungen für das Kommen dieser Gesellschaft, in der alles auf die Befreiung der gesamten Menschheit ausgerichtet und dieser untergeordnet wäre, darzulegen suchen.

mer Le Travail et l’Homme, in: Esprit 1 (Juli 1933). P.-M. Schuhl: Machinisme et Philosophie, Paris: PUF 21947, besonders die Seiten 91-109 und 112-129. Emmanuel Mounier hat schon das wirtschaftliche und soziale Organisationsprinzip der personalistischen Gesellschaft aufgezeigt (s. z.B. Manifeste au service du personnalisme, besonders S. 81-85 [Emmanuel Mounier: Manifeste au service du personnalisme, in: Ders.: Œuvres. Bd. 1, Paris: Seuil 1961, S. 479-649]). Mounier unterscheidet zunächst zwischen dem absolut notwendigen Existenzminimum und dem personalen Existenzminimum. Dann skizziert er die großen Linien der Ethik der Grundbedürfnisse „eingeordnet in die umfassende Perspektive der Person.“ (S. 592) Im besonderen Hinblick auf die Produktion muss die Organisation der personalistischen Gesellschaft auf folgenden allgemeinen Prinzipien aufruhen: 1. Vorrang der Arbeit vor dem Kapital, 2. Vorrang der personalen Verantwortlichkeit vor dem anonymen Apparat, 3. Vorrang der Organismen vor den Mechanismen. Vgl. auch, was J. Lacroix „einen integralen Humanismus“ und „eine Republik der Arbeit“ nennt (J. Lacroix: Socialisme? Paris: Édition du Livre français 1945, „integraler Humanismus“, S. 89; „Republik der Arbeit“, S. 48 und 55). Vgl. von demselben Autor Les Catholiques et la Politique, in: Esprit 13 (Juni 1945), S. 70-78 und La promotion des masses, in: Esprit 21 (Januar 1953), S. 29-44. 79 [Victor Hugo: Plein Ciel (in: La Légende des siècles LVIII), in: Ders.: Œuvres poétiques complètes. Bd. 2, Paris: Pauvert 1961, S. 481-738, hier: S. 723, Z. 464-467.]

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Vierter Teil: Von den Freiheiten zur Befreiung

[179] Bis hierher haben wir versucht, alle Themen zu bilanzieren, die die Bergson’schen Freiheiten begründen, und neben dieser Bilanz haben wir uns bemüht, das Unzureichende jeder spontanen Freiheit oder puren Subjektivität aufzuzeigen. Parallel zu dieser Arbeit der Darlegung und Annäherung und im gleichen Rhythmus mit den Analysen zeichnen sich die konstitutiven Elemente der Konzeption ab, die wir uns von der Befreiung machen. In einer Philosophie der Befreiung geht es nicht um den Beweis, dass der Mensch frei ist, sondern darum zu zeigen, wie man ihn freier macht und wie man seine Freiheiten harmonisiert, um sein Befreiungsvermögen zu erhöhen, das jenseits der einzelnen Freiheiten liegt. Wenn die Freiheit, wie sie in dieser Untersuchung verstanden wird, real ist, welchen Inhalt muss man dem Wort „Realität“ geben? Welches sind die notwendigen Bedingungen und Kriterien, um diese Realität zu behaupten? Die Antworten auf diese beiden Fragen sind im Lauf der vorangehenden Kapitel [180] skizziert worden. Die Gesamtheit der gegenüber dem Bergsonismus vorgebrachten Vorbehalte bildet den Hintergrund für die Konzeption dessen, was wir unter Befreiung/Freiheiten verstehen und was die nun folgenden Seiten erklären wollen. Wir fühlen uns mitten im Kampf von ineinander verschlungenen Kräften eines Schicksals, das wir annehmen müssen. Und nur indem wir uns darauf einlassen, können wir es als freie Personen herausfordern, frei, weil fähig, Verantwortung „für das Leben in der Welt“ zu übernehmen. Dieses Engagement ist weder Zwang noch Fluch, es ist das, was den Sinn des Lebens ausmacht. Der Mensch ist weder ein ewiger Narziss, noch, wie Mounier sagt, „ein leichtes und souveränes cogito im Ideenhimmel, sondern ein schwerfälliges Wesen, dem ein einziger unbeholfener Ausdruck Gewicht geben wird: ich bin ein Hier-und-Jetzt-Ich. Man müsste noch schwerfälliger formulieren und sagen: ein Hier-und-Jetzt-Ich-wie-dies1 zwischen-diesen Menschen-mit-einer-Vergangenheit.“ 1

Emmanuel Mounier: Qu’est-ce que le personnalisme?, Paris: Seuil 1947, S. 26 [Emmanuel Mounier: Qu’est-ce que le personnalisme?, in: Ders.: Œuvres. Bd. 3, Paris: Seuil 1962, S. 177-245, hier S. 192 (kleine Variante bei Lahbabi)].

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Vierter Teil: Von den Freiheiten zur Befreiung

Niemals hat der Mensch so viele Möglichkeiten des Engagements gekannt wie heute, und die Verpflichtungen sind selten ebenso dringend wie auch fordernd gewesen wie heute. Wir bewegen und in einer Umwelt, die auf uns den Eindruck macht, allem Menschlichen gegenüber feindlich zu sein. Um sich darin seiner Souveränität zu versichern, muss der Mensch auf der Hut bleiben [181] und seine Begriffe, seine Empfindungen und seine Werkzeuge dem Rhythmus der ihn umgebenden Welt beständig anpassen, sonst wird er aus dem Spiel geworfen. Jeder Akt der Anpassung ist ein Engagement, und jedes Engagement impliziert eine Verantwortlichkeit gegenüber dem Ich, gegenüber dem Wir und gegenüber anderen. Unsere Freiheiten hängen alle von der Art und Weise ab, wie wir uns engagieren. Daher der relative Aspekt der Befreiung: Sie ist eine Quantität, deren Koeffizient, das heißt deren Tonart von einem Subjekt zum anderen wechselt. Sie befindet sich an der Kreuzung unterschiedlicher ideologischer, politischer, sozialer, wirtschaftlicher, beruflicher und anderer Engagements, die beständig die künftige Entwicklung, von der sie lebt, nähren. Jedes Engagement ist Positionsnahme und Ablehnung möglicher Positionen: Wahl, durch die man sich engagiert und die frei macht von einer Freiheit, die sich an der Macht der Negationen misst, mit der sie ausgestattet ist. Wir haben gesehen, dass es unter dem System der Konkurrenz auch Negationen gibt, aber es handelt sich darum, den anderen, den Konkurrenten zu vernichten und zu eliminieren: ein Auseinanderreißen des Wir im alleinigen Interesse eines Ichs. Im Gegensatz zur Befreiung setzt uns die Konkurrenz auf den Weg gegenseitiger Exklusionskämpfe und der Knechtung eines jeden unter seine Eigeninteressen und unter die von anderen. Das sind negative Beziehungen.

Kapitel 1: Die Befreiung ist eine positive Summe von Freiheiten [183] In dem „der künstlerischen Schöpfung“ gewidmeten Kapitel haben wir Nachdruck auf den Sieg gelegt, den der Künstler über seine eigene Natur davonträgt: Er befreit sich aus der Einsamkeit durch die Kommunikation mit seinen Mitmenschen und durch die Veränderungen, denen er die Materie unterzieht, um sich zu ihrem Herrn zu machen und sich von der nervenaufreibenden Gegenwart träger Gegenstände zu befreien, die ihn umgeben. Gegen den Gedanken Sartres, dass mich der Blick des anderen bestiehlt und mich entleert, haben wir versucht zu zeigen, dass die Gegenwart des anderen ein Bedürfnis des Ichs ist und dass durch die 148

Kapitel 1: Die Befreiung ist eine positive Summe von Freiheiten

Beziehung zum anderen jede Invention Anerkennung als solche findet. Die Gegenwart des anderen entleert mich nicht, lähmt meine Freiheit nicht, sondern lässt mich im Gegenteil zum Ausdruck kommen und macht mich verfügbar. Hegel hat mit Nachdruck auf der Identität zwischen Erkenntnis und Anerkennung bestanden: Ich kann den anderen nur dank meiner Reflexion kennen, nur durch mich hindurch, und ich kann mich nur im anderen kennen; [184] ich erkenne mich in ihm. Jeder 2 von uns ist der Spiegel der anderen, sagt ein ḥadīth. Ich bin Person, weil gemeinschaftlich, und gemeinschaftlich, weil ich sehr der „Zeitlichkeit“ verhaftet bin, weil ich mich in die Geschichte einfüge und mich bemühe, meine Handlungen an dieser Geschichte auszurichten. Mein Bewusstsein ist nichts anderes als dieses fortgesetzte Bemühen um Anpassung an Erfahrungen, die mich in jedem Moment auffordern, zu erschaffen, zu erfinden: zu leben. Die Handlung ist Mittel der Erkenntnis, sie macht die Geschichte und sie unterwirft sich ihr zu gleich: Man befreit sich, indem man sich engagiert. Die Philosophen, schreibt Marx, „wachsen nicht wie Pilze aus der Erde, sie sind die Früchte ihrer Zeit, ihres Volkes, dessen subtilste, kostbarste und unsichtbarste Säfte in den philosophischen Ideen rouliren. Derselbe Geist baut die philosophischen Systeme in dem Hirn der Philosophen, der die Eisenbahnen mit den Händen der Gewerke baut. Die Philosophie steht nicht außer der 3 Welt …“. Wie jedes menschliche Bewusstsein, so begreift sich auch das philosophische Bewusstsein wieder in der Geschichte und in Bezug auf die Geschichte und beginnt dort. Durch die Untersuchungen der Beziehungen zwischen Eigentum und Befreiung haben wir gesehen, was für eine zweischneidige Waffe die Arbeit und der Besitz darstellen und dass ihr richtiges Verständnis wahrhaftige Mittel der Befreiung hervorbringen würde. Wir werden [185] die Frage jetzt unter einem anderen Blickwinkel erwägen, ausgehend von der Idee, dass „Haben“ und „Sein“ einander ergänzen und nicht in Opposition zueinander stehen. Man „ist“ von Natur aus (das Sein ist eine bloße Gegebenheit), aber man wird „das denkende Sein“, wenn man von der Gesellschaft die Modalitäten des Denkens und den Denkinhalt, die Begriffe, empfangen hat. Man ist das Wesen, das eine derartige Stellung hat (Universitätstitel, mi2 3

Ausspruch des Propheten des Islam. Karl Marx, in: Rheinische Zeitung. Nr. 195, 14. Juli 1842. Beiblatt [Karl Marx, Friedrich Engels: Gesamtausgabe. Bd. 1, Berlin: Dietz 1975, S. 183].

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Vierter Teil: Von den Freiheiten zur Befreiung

litärischer Rang, Anstellung usw.), das einen derartigen Besitz, derartige Beziehungen usw. hat. Das Ich ist das, was es ist, und das, was es hat, zugleich, so wie es sich auf seinem Personalausweis darstellt, wo neben den Gesichtszügen und der Hautfarbe auch der Beruf und das Geburtsdatum (die Jahre der Geschichte, deren Träger man ist) abgebildet sind. Auf der Ebene der intimen Synthese von Haben und Sein situieren sich 4 unsere Freiheiten. Bergson hat diese Synthese nicht vollständig in den Blick genommen. Zweifellos hat er sich nicht auf das biologische Sein beschränkt und sich für die Evolution des Wesens, die Schöpfung und den Geist genauso interessiert wie für den Instinkt und die Materie; aber das Haben, welches das evolutive, schöpferische, intelligente, emotive, instinktive usw. Sein bedingt, ist vom Bergsonismus, der sich doch als Doktrin der Realität begreifen möchte, nicht in den Blick genommen worden. Daher kommt es, dass er die richtigen Proportionen der unterschiedlichen Aspekte der Realität des Menschen, welche er sich bemüht zu übersetzen, nicht begreifen kann. Einer einzigen der Perspektiven ihrer Zeit verpflichtet – dem Spiritualismus – [186] bagatellisiert die Bergson’sche Philosophie zu sehr die materielle Seite, all das, was das „Über-Ich“ konstituiert: den Anteil der Wirtschaft und der Politik an den sozialen Beziehungen – und dadurch an der Individualpsychologie. Es gibt natürlich eine Realität diesseits der sozialen Realität – für Bergson die reine Dauer, das Tiefen-Ich –, aber es ist ihre Unabhängigkeit und ihre Dissoziation beim Menschen, die uns unzulässig erscheint. Die gesamte Seite des „Habens“ der sozialen Realität wird geopfert zugunsten derjenigen des „Seins“. Sicherlich sind die Begriffe im Bergsonismus anpassungsfähig, wie es eine Lehre erfordert, die auf der Fluidität des Realen besteht, und vom methodischen Gesichtspunkt aus ist das ein großer Vorteil. Aber könnten wir uns vom Standpunkt der reinen Beobachtung der Realität, so wie sie sich uns darstellt, nicht fragen, ob es im modernen Leben nicht mehr Unbeweglichkeit und Härte als Geschmeidigkeit und Fluidität gibt? Der Bergsonismus ist keine Philosophie der Leichtigkeit, aber er hat nicht die Tragik der gegenwärtigen Welt in all den Krümmungen und Labyrinthen verfolgt, in die sie eingebunden ist. Wie die inneren Gegensätze unserer Engagements überwinden? Wie die Krisen lösen, die die immer komplexere Zivilisation, in der wir leben, hervorbringt? 4

Vgl. De l’être à la personne, Kap. I, G I, und Kap. VII, G II.

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Kapitel 1: Die Befreiung ist eine positive Summe von Freiheiten

Die Antworten auf diese Fragen findet man nicht – und könnte man nicht finden – in einer dualistischen Philosophie der Welt, in der das Subjekt seiner Umgebung fremd bleibt, in der die Realität ausschließlich innerlich ist. Anstatt die eines Subjekts zu sein, [187] welches mit der Gesamtheit seines Wesens und seiner Person vollständig in die Welt integriert ist einschließlich der Persönlichkeit seines Personalausweises, ist die Realität im Bergsonismus zuerst und vor allem diejenige des „TiefenIchs“, der „reinen Dauer“ und der „Spontaneität“: Die Freiheit müsste, um real zu sein, spontan ergriffen werden, in der Dauer durch das Tiefen-Ich. Nun versinkt der Mensch nicht völlig in der Subjektivität seines Ichs, er lebt in einem notwendigen, lebendigen Kontext, der ebenso sehr physisch und physiologisch als auch psychologisch ist. Es gibt Freiheiten und nicht die Freiheit, wie es Determinismen gibt und keinen Determinismus, der im Ganzen gegeben wäre. In der Mathematik gründet sich der Determinismus auf die Verkettung von Konsequenzen im Inneren ein und desselben Bezugssystems. Der physikalische Determinismus gehört einer anderen Gattung an, er ist auf Ursachen gegründet. Nun definiert sich die Ursache in mathematischer Sprache nicht notwendigerweise univok. Eine andere Unterscheidung zwischen den Determinismen ist möglich, diejenige eines negativen und eines positiven Determinismus. Um eine bestimmte Abfolge von Phänomenen zu definieren, muss man möglichst präzise und exakt sein, aber die Genauigkeit der physikalischen Maßstäbe hat ihre Grenzen: Sind sie einmal erreicht, bleibt man bei ihnen stehen und man räumt eine leichte Unwissenheit, eine leichte Fluktuation in der Voraussage ein. Was man vorhersagt, ist das, was das Phänomen [188] nicht sein wird. Und diese negativen Voraussagen haben ihrerseits noch einmal Grenzen. Wir sind uns alle „gewiß“, dass niemand unserer Zeitgenossen zweihundertjährig ist, gleichermaßen stellt eine Schuhfabrik niemals Schuhe der Schuhgröße 50 oder unter Größe 5 her. Sie handelt, „als ob“ sie sich über die Nicht-Existenz von Klienten, die die gewöhnlichen Normen überschreiten, absolut gewiss wäre. Solche Grenzen geben uns vorteilhafterweise Anhaltspunkte, die uns erlauben, das Gesetz jedes Mal wiederherzustellen, wenn wir den geringsten Zweifel hegen, sie liefern uns einen begrenzenden Rahmen für die möglichen Fehler und Ungenauigkeiten und ein maßstabsgetreues Feld der geplanten Untersuchung. 151

Vierter Teil: Von den Freiheiten zur Befreiung

So gibt es zwei Arten von Voraussagen: die Voraussage, dass das Phänomen eintreten wird, und die Voraussage, dass das Phänomen nicht eintreten wird, je nach dem Gesichtspunkt, den man einnimmt. Die Frage stellt sich auf ähnliche Weise für das Problem der Freiheit. Wie die Determinismen, so vervollständigen und bedingen sich die Freiheiten gegenseitig. Ein Beispiel: Die Redefreiheit und die Versammlungsfreiheit implizieren einander. Die erste besteht darin, mündlich und schriftlich ohne Furcht auszudrücken, was man denkt, die zweite darin, sich mit Leuten, die dasselbe denken, versammeln und diskutieren zu können. Die eine Freiheit geht also Hand in Hand mit der anderen. Aber setzt die eine wie die andere nicht die Existenz eines von Ausdruck und Ort zugleich unabhängigen Denkens voraus, [189] welches danach trachtet, sich zu erklären? Diese Forderung des Denkens, vollständig in Akte umgesetzt zu werden, die es setzen und bekräftigen, macht selbst einen Teil des Wesens des Denkens aus. Die Freiheit präsentiert sich daher mit zwei Seiten, die mit einer doppelten Forderung verbunden sind. Zuerst hat sie einen Inhalt, der der Vernunft im strikten Sinne innewohnt, womit sie sich erkennbar macht; sie ist ein bloßer Appell an das Sein mit der Ambition, es durch denselben Akt zu beherrschen, mit dem sie sich setzt und expliziert. Durch diese „Explizierung“, durch diese Inkarnation im wirklich Konkreten, verbinden und vereinen sich die zwei innerlich-äußerlichen Seiten der Freiheit. Jede von ihnen ist auf ihre Weise mit einer Vielzahl von Aspekten versehen. Im Laufe der vorangehenden Analysen habe ich auf einige davon hingewiesen, die uns zufällig auf unserem Weg begegnet sind. Wir werden mit der Erforschung dieser Aspekte fortfahren und uns auf diesem Umweg näher mit dem wirklichen Sinn der Befreiung beschäftigen. Wir haben uns gerade den Unterschied zwischen positivem Determinismus und negativem Determinismus in Erinnerung gerufen. Es scheint, als könne man dieselbe Unterscheidung auch im Hinblick auf die Freiheiten machen. Es gäbe damit negative Philosophien der Freiheit, worunter man diejenigen verstehen müsste, die ausschließlich eine der beiden Seiten betrachten, auf die wir hingewiesen haben. Das ist der Fall der idealistischen Richtung, in der die Affirmation der Freiheit die Bedeutung einer metaphysischen Erfahrung annimmt, in der die Freiheit eine – privilegierte – Repräsentation ist, die sich [190] jenseits der Gegenstände platziert und auf der Ebene des Denkens verbleibt. Es ist 152

Kapitel 1: Die Befreiung ist eine positive Summe von Freiheiten

ebenso der Fall bei denjenigen Philosophen, die, indem sie die Freiheit in der Subjektivität verorten, daraus ein Hervorquellen, einen Elan, eine 5 unmittelbare Gegebenheit oder ein Geheimnis machen. Durch die Konzentration auf das innere Ich sind diese Philosophien gezwungen, die subjektive Freiheit exklusiv zu halten. Diese „enthüllt sich“ als eine Rückkehr zu sich in die Reinheit des Selbst, als die Freiheit im Inneren des Geistes als sich ohne äußeren Druck bemerkbar machen6 de Bewegung. In voller Anerkennung des Ichs als einer Totalität, aufgrund deren es in fortschreitender Bewegung auf seine Befreiung zugeht, reduzieren andere Denker es auf eine spirituelle Anstrengung. Für Ravaisson strebt diese Anstrengung im gesamten Universum und auf allen Seinsebenen nach Ordnung, Harmonie und dem Guten. Indem wir die Sicht des Auges um die des Geistes verlängern und unter der Intuition der Sinne die des Intellekts suchen, gelangen wir zur Einheit, die die Wesen miteinander verbindet, und zugleich, in immer höherer Konzentration, zum göttlichen Denken, das jede Sache denkt, indem es sich selbst denkt. Die Freiheit muss nicht mehr – wie bei Kant – in der Unterscheidung zweier Welten [191] gesucht werden. Die Materie ist eine Art Erstarrung des Geistes. Die Freiheit steht am Ende eines Fortschritts, dessen Beginn sich auf den niedrigeren Stufen der Realität befindet. Der Determinismus drückt dies aus: die Erschlaffung einer Kraft, die praktisch Herrin des Selbst bleibt; die Freiheit steht am Ende eines Fortschritts, der sich auf höchster Ebene befindet. Das heißt mit anderen Worten, dass die Ordnung der Wirkursachen die Ordnung der Finalursachen aufruft und sich ihr unterordnet. Es gibt andere, ebenfalls „negativistische“ Philosophien, deren Schwachpunkt jedoch genau entgegengesetzt liegt: Wenn sie die Freiheit nun nicht ausschließlich mehr in die alleinige innere Aktivität verbannen, beschränken sie sich jedoch andererseits zu sehr auf äußere Manifestationen der Befreiung, d.h. auf Wahl-, Rede- und Handelsfreiheit usw., die alle notwendig, doch für sich alleine ungenügend sind. Alle 5 6

Vgl. z.B. Nicolas Berdiaeff, für den „das Geheimnis der Freiheit“ dasjenige der unendlichen Tiefe des Geistes ist. „Wir sehen also diese der These, die die Wahrheit auf eine inhaltliche Weise definiert, zugrundeliegende Idee, dass der Geist die Freiheit ist, dass er nicht er selbst sein kann ohne sich zuerst von allen Dingen getrennt zu sehen. Es kann keine andere Spiritualität geben als die Freiheit …“ Aimé Forest: Consentement et création, Paris: Aubier-Montaigne 1943, S. 112-113.

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Vierter Teil: Von den Freiheiten zur Befreiung

Parteigänger sozialer Freiheiten verneinen nicht völlig die „innere“ Freiheit, aber sie gelangen zu ihr durch die Vermittlung der „äußeren“ Freiheit, der sie die Vorherrschaft zusprechen und von der sie alles abhängig sein lassen, was subjektiv oder spirituell ist, den „Überbau“. Der Behaviorismus oder die Reaktionspsychologie sind Versuche gewesen, das Subjekt in die äußere Welt und die soziale Welt wieder einzusetzen. Um ein Lebewesen zu studieren, muss man sein Verhalten beobachten, das heißt die Gesamtheit seiner Reaktionen, insoweit sie nicht Stereotypen der Gattung sind, sondern sich aus seiner früheren individuellen Erfahrung [192] ergeben. Es gibt also anscheinend eine Zone, in der die individuellen Handlungs- und Entscheidungsinitiativen gewahrt sind, doch obwohl Watson und seine Schule nicht die Intention gehabt hatten, die Psychologie auf Physiologie zu reduzieren, endete der Behaviorismus als reine Reflexologie. Indem er das Denken als ein bestimmtes verbales Verhalten betrachtet, als Resultat von Konditionierungen „sozialer Labyrinthe“, verneint der Behaviorismus das Mentale und das gesamte innere Leben. Letztlich reißt der Behaviorismus nur das Steuer herum: Blieb die klassische Psychologie in der Introspektion (Bewusstseinspsychologie) gefangen, so interessierte er sich für eine „Psychologie ohne Bewusstsein“, indem er jede Innerlichkeit des Subjekts äußeren Konditionierungen opferte. Dem Behaviorismus fehlt ein Element des Ausgleichs. Er hat von der klassischen Psychologie das Kausalitätsschema übernommen (Reize-Reaktionen), ohne innere Kräfte zu berücksichtigen, die sich im Hinblick darauf organisieren, unser Verhalten auf die Umwelt auszurichten, die Verhaltensweisen dem Reiz anzupassen und die Vielzahl möglicher Reaktionsweisen auf die vorliegenden Reize zu vergleichen in einer Wahl, das heißt in einem willentlichen, personalen Akt, in dem die Freiheit in Aktion tritt. Es gibt sicherlich Verhaltensweisen, die sich von einer Situation zur anderen unterscheiden, und man muss mit der Notwendigkeit der (politischen, historischen, sozialen usw.) Zeitgebundenheit rechnen, aber es gibt auch noch anderes: die Aufmerksamkeit für die Notwendigkeiten. Gewisse Philosophien lassen die Fähigkeit des Ichs, diese Aufmerksamkeit für die Notwendigkeiten als wachsame Selbstpräsenz [193] gegenüber jeder Virtualität aufzubringen, unbeachtet. Diese Fähigkeit der Aufmerksamkeit ist charakteristisch für die Persönlichkeit und hängt direkt von ihren Neigungen, ihren Interessen und Instinkten ab. Wenn die Tiere der Neugierde entbehren, so liegt das, wie Lamarck erklärt, an der geringen 154

Kapitel 1: Die Befreiung ist eine positive Summe von Freiheiten

Zahl der Neigungen und Interessen, die sie besitzen. Durch die Begrenzung ihrer Dispositionen zieht sie nur weniges von dem an, was sich vor ihnen abspielt. Die Aufmerksamkeit besteht entsprechend der Interessen, Leidenschaften und Dispositionen: Es gibt keine Aufmerksamkeit ohne Anspannung. Alle diese Philosophien, die spiritualistischen wie ihre Gegenspielerinnen, nennen wir negativ, weil sie die eine oder andere Seite der Befreiung verneinen. Diese auf eine Freiheit zu reduzieren, die nur die unmittelbare Gegebenheit eines Bewusstseins wäre, hieße, die materiellen, „zeitlichen“ Bedingungen zu verschweigen, ohne die keine Freiheit ausgeübt werden könnte, hieße, der Realität den Rücken zuzukehren. Umgekehrt lässt die auf rein äußere Freiheiten reduzierte Freiheit das Subjekt seiner Innerlichkeit verlustig gehen, das heißt das, wodurch es ein personales Ich ist. Im Gegensatz dazu wäre eine positive Philosophie der Freiheiten diejenige, die, alle Freiheiten – in ihren Konditionierungen und ihrer Komplementarität – berücksichtigend, sie [die Freiheiten] als das Endziel aller Anstrengungen des Menschen betrachten würde und nicht als ein spontanes Aufblitzen. Die positiven Freiheiten würden die tatsächliche Befreiung konstituieren. Wie vereinen und harmonisieren sich diese positiven Freiheiten miteinander? [194] Die Befreiung zielt darauf ab, sich in einem dialektischen Fortschritt zu vollenden, dessen Momente sich nicht im Kampf miteinander befinden, sondern in einem Zustand der Übereinstimmung, einer Übereinstimmung, die dabei nicht weniger aktiv bleibt, da sie durch eine Dynamik bewegt wird, die ihr eigentümlich ist: Komplementarität und Stimulation. Der Anblick der Dinge animiert unsere Instinkte, Neigungen und Interessen, dann vergrößert und stärkt unsere Aufmerksamkeit für die Anforderungen des Lebens unsere Fähigkeit, die Welt der Dinge und unsere eigenen Instinkte, Neigungen und Interessen zu verändern. Die Rückwirkung dieser Bewegung erweist sich darin, dass wir durch die Veränderung dieser Welt und unseres Verhaltens gegenüber dieser Welt neue Horizonte und neue für unsere Anpassung nötige Haltungen hervorbringen. Sich anpassen, indem man sich verändert, und sich verändern, indem man sich anpasst. Mit anderen Worten: Bildung an der Welt zur eigenen Veränderung, die mit der Veränderung der Welt einhergeht, kontinuierliche aufwendige Bewegung und kontinuierliche Vervoll155

Vierter Teil: Von den Freiheiten zur Befreiung

kommnung in einer Dialektik positiver Freiheiten, Aktionen und Reaktionen, die das Ich mit sich selbst und der Welt verbindet. Derart ist die Bedeutung der Befreiung. Sie ist zugleich Schöpferkraft und Manifestation des ganzen, handelnden Ichs. So erweist sich, dass die Philosophie der Befreiung realistisch ist. Anstatt einer Freiheit ohne Raum, die sich ganz im Innersten des Subjekts entfaltet, und anstatt einer Freiheit, die ihren axialen Charakter letztlich außerhalb des Menschen platziert, erscheint die Befreiung [195] nicht wie eine realisierte Totalität, sondern wie eine positive und qualitative Summe, die sich entsprechend des Personalisierungsrhythmus’ des Ichs verwirklicht. Diese Konzeption lässt die Freiheiten im menschlichen Wesen verankert und gleichzeitig in den äußeren Realitäten begründet sein. Und wenn es auch ganz offensichtlich einen Aspekt der Befreiung gibt, der aus den „dunklen Tiefen“ des einsamen Wesens aufsteigt, so könnte man doch nur in dem Maß vorgeben, frei zu sein, wie man zunächst die unter dem Gewicht des absoluten Subjektivismus eingezwängte Befreiung befreit. Der Bergsonismus, der diese dialektische Synthese der Freiheiten nicht ausgeführt hat, stellt sich wie eine Philosophie der alleinigen inneren Freiheit dar und nicht als eine Philosophie der Befreiung. Die Vokabel Bewusstsein hat zwar bei Bergson mehrere Bedeutungen, aber alle scheinen auf denselben fundamentalen Sinn zuzulaufen: absolute, unmittelbare Erkenntnis oder Erkenntnis der internen Aktivität. Alle tendieren dazu, die Vertiefung der Natur des Bewusstseins zu bezeichnen, es sich als das sich auf den Gegenstand projizierende Licht vorzustellen. Keine von diesen Bedeutungen bezeichnet es als analytische Erkenntnis von Problemsituationen. Ist die Erhellung des Gegenstandes nicht etwas anderes als sein unmittelbares Ergreifen? Und wie sollte der bewusste Akt, der den Gegenstand ergreift, mit dem Bewusstsein zusammenfallen? Dazu kommt noch, dass dieser Gegenstand in der Bergson’schen Definition des Bewusstseins nichts anderes ist als unsere interne Aktivität. So bleibt das Problem des Selbstbewusstseins-in-der-äußeren-Welt [196] hier vollkommen erhalten. Ebenso entscheidet die Freiheit, die ausgehend von dieser Konzeption des Bewusstseins, das „seinem Wesen nach frei [ist]; es ist 7 die Freiheit selbst …“, definiert wurde, nicht die Debatte über den freien Akt. Wenn man nicht die Strukturen der Handlung und der Erkenntnis 7

L’évolution créatrice, S. 293 [NE S. 270; Ü S. 306].

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Kapitel 1: Die Befreiung ist eine positive Summe von Freiheiten

beschreibt, in die das Bewusstsein hineingerät, dann beschränkt sich der Sinn der Handlung auf den einer vitalen Handlung. Daher fragen wir uns, wie sich für mich die Gegenstände und Lebewesen konstituieren, auf die hin meine Handlung ausgeführt wird. Und die Handlung, an die Bergson denkt, ist, wie Merleau-Ponty sagt, „immer nur die vitale Handlung, nämlich jene, durch die der Organismus sich im Dasein erhält. Im Akt der menschlichen Arbeit, in der intelligenten Konstruktion von Werkzeugen sieht er nur eine andere Art und Weise, Ziele zu erreichen, 8 die der Instinkt seinerseits verfolgt [… ]. Jenseits der biologischen Handlung bleibt nur eine mystische Handlung, die kein bestimmtes Objekt 9 mehr intendiert.“ Zwei Pole: die Angst der biologischen Existenz und die mystische Ekstase. Dazwischen gibt es auch das Leben der geschlossenen Gesellschaften, aber das ist eher ein Ort des Übergangs denn eine autonome Stufe ist. Bei Bergson ist die Freiheit eine Summe plötzlicher Vorkommnisse in unserem Tiefen-Ich und sie ist nicht kommunikabel, da sie sich der Intelligenz und Vernunft entzieht. Eine Spontaneität ohne Definition – sie ist eine Freiheit, die, für sich allein genommen, nicht [197] der Angst unserer Gesellschaft gerecht wird und die in keiner Weise auf das reale Be dürfnis beispielsweise eines Kulis im Fernen Osten antwortet. Bergson ist am Rande des realen menschlichen Lebens der Massen und ihrer täglichen Dramen geblieben. Für viele Leute, Nichtmetaphysiker, enthüllt sich die Bergson’sche Freiheit (als emotionale und tiefe) nicht, oder, wenn sie sich doch manifestieren sollte, dann um in einer leeren Welt ohne sozialen Inhalt zu stranden, gerade weil sie unsagbar tief und emotional ist. Durch das Ausblenden der Probleme, welche die zeitgenössische Zivilisation in ihrem alltäglichen Leben – mit ihren chronischen Kämpfen und Kriegen, ihren Teufelskreisen, dem Wettlauf um Absatzmärkte, den vielfältigen Ausbeutungen des Menschen durch den Menschen und die exzessiven Konkurrenzkämpfe – den Denkern stellt, gibt sich der Bergsonismus, auch in Les deux sources de la morale et de la reli8 9

Es gibt hier und dort „zwei divergierende, gleichermaßen elegante Lösungen ein- und desselben Problems“, lesen wir in L’évolution créatrice [NE S. 144; Ü S. 166]. Maurice Merleau-Ponty: La structure du comportement, Paris: PUF 1942 («Bibliothèque de Philosophie contemporaine»), S. 220 [Ders.: La structure du comportement, Paris: PUF 42013 («Quadrige»), S. 246; Ders.: Die Struktur des Verhaltens. Übers. und eingel. von Bernhard Waldenfels, Berlin: de Gruyter 1976 (Phänomenologisch-Psychologische Forschungen 13), S. 186].

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Vierter Teil: Von den Freiheiten zur Befreiung

gion, als eine mit Handlung und Effizienz unvereinbare Philosophie zu 10 erkennen. Bergson lehnt die Handlung nicht a priori ab. Er bemängelt an ihr nur, dass sie sich [198] durch die Alternativen, die ihr die Intelligenz auferlegt, als unfrei [asservie] erweist. Und wie jede Handlung eine vorherige Wahl voraussetzt, so ist eine Philosophie der Handlung im Bergsonismus unvereinbar mit einer Philosophie der Befreiung: Frei sein bedeutet nach dem Essai die Überwindung der Notwendigkeit, zwischen Alternativen zu wählen. Die Freiheit befindet sich also ausschließlich auf der Seite der Intuition und des Instinkts und nicht der Intelligenz, ausschließlich auf der Seite der reinen Spontaneität, des Elans, und nicht der Wahl und der Handlung. 11 Was ist eine wirkliche Philosophie der Handlung? Das erste Beispiel, das dem Leser zweifellos in den Sinn kommt, ist die Philosophie Maurice Blondels. Aber uns scheint, dass die Blondel’sche Philosophie nicht als Modell einer Philosophie der Handlung dienen kann, wie sie vom Personalismus anvisiert wird. Anstatt aus der Handlung eine praktische Aktivität zu machen, die den Menschen und die Natur verändert, geht es Blondel allein um die Spekulation. Das Problem wird wieder von der wissenschaftlichen und sozialen Revolution (oberstes Ziel beispielsweise für Descartes und die Personalisten) zu der Idee einer reinen und spirituellen Entwicklung durch einen sich selbst betrachtenden Willen verschoben: Sein heißt Handeln, aber Handeln gemäß den Postulaten eines höheren Willens, welcher als Finalursache die Allmächtigkeit Gottes impliziert. Nun muss eine realistische Philosophie, um voranzukommen, die Aprioris und die Dogmatismen beiseite lassen und in allen Fällen, wo 12 ihr dies [199] möglich ist, vom Erlebten, von der Erfahrung ausgehen, 10 1932 erschienen gleichzeitig die erste Nummer der Revue Esprit, Organ der per-

sonalistischen Bewegung gleichen Namens, und das letzte Werk Bergsons, Les deux sources de la morale et de la religion. Dieses Jahr markiert den Abschluss des Bergsonismus (besonders Bergsons), dieser brillanten und reichen, jedoch grundsätzlich spekulativen Philosophie, und den Beginn einer anderen Philosophie, jung und militant, die, wenn sie sich auch noch entwickelt, nicht weniger entschlossen ist, offen für die Welt und die menschlichen Gemeinschaften zu bleiben. 11 Vgl. Maurice Pradines: Critique des conditions de toute philosophie de l’action, Paris: Félix Alcan 1909. 12 Siehe unten S. [217ff.].

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Kapitel 1: Die Befreiung ist eine positive Summe von Freiheiten

so dass es möglich wird, mit Proudhon daran zu arbeiten, „die Meta13 physik zu popularisieren, indem man sie in Handlung umsetzt“ und aus der politischen Ökonomie selbst eine Metaphysik in Aktion zu ma14 chen. Mehr als jemals zuvor ist es in unserer Zeit von hoher Dringlichkeit, eine militante Arbeiterphilosophie zu haben. Das Engagement des Philosophen lag schon bei den Griechen, besonders seit Sokrates – und auch mit Pythagoras und Heraklit – vor allem in der Politik: Der Philosoph nahm seine Rolle ausgehend von seinen Beziehungen zum Gemeinwesen in den Blick. So ist für Platon „das philosophische Problem und das politische Problem nur eines“, wie Koyré sagt, der in der Fußnote ergänzt: „Umgekehrt sind das politische Problem und das philosophische Problem 15 ebenfalls eines.“ Heutzutage vermeiden gewisse Philosophen wohlweislich das soziale und politische Engagement und denken darüber nach, aus dem moralischen Problem das einzige Grundproblem zu machen. Nun müsste der wirkliche Philosoph der Handlung die Verbindung des Moralischen und des Politischen herstellen, um [200] die Politiker und die Politik moralisch zu stärken und die drei Äste des cartesianischen 16 Baumes an Stamm und Wurzeln wieder zu vereinigen. So liegt das höchste Bemühen einer Philosophie der Handlung darin, eine Richtung einzuschlagen, die ganz eng mit allen menschlichen Erkenntnissen verknüpft ist.

Kapitel 2: Die Befreiung ist auf ein Bündel von Freiheiten bezogen [201] Auch wenn man nur eine einzige Freiheit betrachtet, und diese als bloße Neigung oder bloßes Empfinden, müsste sie als solche nicht eine Quelle, eine Entstehung, eine Geschichte und Entwicklungsphasen haben? Dies ist die Geschichte ihrer Interdependenz mit dem gesamten Lebenslauf des Subjekts in einem gegebenen sozialen Umfeld. Die realen 13 Brief von Proudhon an Ackermann (zit. von R. Picard: Introduction, in: Pierre-

Joseph Proudhon: Système des contradictions économiques, S. 5-32, hier S. 31).

14 Brief von Proudhon an Karl Grün vom Dezember 1844 (R. Picard: Introduction,

in: Pierre-Joseph Proudhon: Système des contradictions économiques, S. 5-32, hier S. 13). 15 Alexandre Koyré: Introduction à la lecture de Platon, New York: Brentano’s 1945, S. 98, vgl. auch S. 176-177. 16 Siehe unten S. [210-213] und S. [217].

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Vierter Teil: Von den Freiheiten zur Befreiung

Freiheiten sind die positiven Freiheiten des realen Menschen, der weder total Handelnder noch total Erleidender ist: „der totale Mensch“. Die wahren Freiheiten sind diejenigen des Ichs-in-Beziehung-mit-anderenund-der-Welt. Hegel hat klar gesehen, dass die Freiheit nicht war, sondern wurde, dass der Mensch nicht frei war, sondern frei wurde. Und Brunschvicg schreibt, dass „es sich darum handelt, die Affirmation der Freiheit nicht als eine Sache, die gegeben, sondern als ein Werk, das zu vollbringen ist, 17 zu verstehen.“ Dieses Werk [202] besteht nicht in einer einzigen Freiheit oder in einer Alternative: entweder die metaphysische Freiheit oder die ökonomische Freiheit, die Gedankenfreiheit oder die moralische Freiheit etc., sondern in einer Art völliger Symbiose aller Arten von Freiheiten, die sich um den Begriff des Menschen in seiner Totalität artikulieren, der sich im Kampf um die Beherrschung seines Schicksals und der Natur engagiert. Allein diese synchrone Arbeit von Freiheiten ist fähig, die Handlungen des Ichs mit denjenigen des Wir zu harmonisieren und sie auf die Befreiung auszurichten. Jede Freiheit ist politisch aktiv [militante]: aktive Teilnahme an der Macht, durch die das Subjekt, das sich ihrer zu bedienen weiß, sich von Entfremdungen befreien und sein materielles und moralisches Los bestimmen kann. Und es ist diese Befreiung, die materiell und konkret die Freiheiten verwirklicht, indem sie sie historisch aktualisiert. Die Geschichte eines Subjekts kann sich weder von der Geschichte des Wir, von der ihnen innewohnenden Interdependenz engagierter Kollektive, noch von der Subjekt-Objekt-Dualität, noch von den Ich-Welt-Beziehungen, wie sie sich tatsächlich in der Erfahrung präsentieren, isolieren. Darum schreibt sich die praktische Existenz eines Ichs genauso wie die Existenz der menschlichen Gesellschaf in den Zusammenhang der allgemeinen Geschichte der Spezies ein, und nicht in denjenigen eines abgekapselten und von der fortwährenden Zwangsvorstellung eines „oberflächlichen Ichs“ alarmierten Bewusstseins. Es gibt eine Geschichte, weil es eine Menschheit gibt, und die Menschheit ist nicht das Ich, sondern das [203] Wir; für Ichs, die ursprüngliche und vollkommen einsame Freiheiten wären („das Tiefen17 Léon Brunschvicg: Le progrès de la conscience dans la philosophie occidentale,

Paris: Félix Alcan 1927.

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Kapitel 2: Die Befreiung ist auf ein Bündel von Freiheiten bezogen

Ich“), wäre keine Geschichte möglich, sie wären lauter inkommunikable Geschichten. Die Menschen erschaffen sich selbst ihre eigene Geschichte in einer Umgebung, die sie konditioniert. Die fortschreitende Beherrschung des Universums, die vertiefte Kenntnis der Umwelt und der eigenen Natur des menschlichen Wesens sind die wirklichen Wege, die zur Befreiung führen. Das Ich erreicht die Befreiung allein durch die Teilnahme an der Anstrengung des Wir, welche den biologischen und sozialen Zusammenhang humanisiert. Und die Bemühungen um das Verständnis und die Humanisierung des Universums hängen ihrerseits von Widerständen in der Natur ab. So führt uns das Problem des graduellen Erringens der Befreiung in die Geschichte. Die Tiere haben auch eine Geschichte, die ihren Ursprung und ihre Entwicklung bis zu ihrem aktuellen Stadium umfasst. Aber es ist eine erlittene Geschichte, die sie hinter sich herziehen von Generation zu Generation. Weder erschaffen sie sie durch die Gestaltung ihrer selbst, noch erschaffen sie sich selbst durch die Gestaltung der Geschichte: Sie nehmen daran unwissentlich teil. Demgegenüber übt der Mensch in dem Maße, in dem er sich vom Tier entfernt, seinen Willen auf die Strukturen der Natur aus und bringt bewusst seine eigene Geschichte hervor. Und je mehr sich der Einfluss von unvorhergesehenen Handlungen und unkontrollierten Kräften auf die Geschichte verringert, desto mehr entspricht der Ablauf der Ereignisse den vorhergesehenen und gewollten Zielen. Diese Beherrschung der eigenen Natur und der äußeren Natur durch den Menschen wird sich als Beginn der Versöhnung des Geistes und der Materie und [204] als die entscheidende Etappe der Befreiung erweisen – das wird die Zeit sein, in der, nach dem Wunsch von Pasteur „die Wissenschaft und der Friede über Unwissenheit und Krieg triumphieren werden und in der die Völker sich einigen, nicht um zu zerstören, sondern um aufzubauen.“ Drei Bündel unterschiedlicher Kräfte suchen das Ich heim: natürliche, psychologische und soziale. Alle drohen, auf dasselbe Ergebnis hinauszulaufen: uns einzukreisen und uns zu knechten. Sie alle sind ebenso gewalttätig wie blind und hören nur auf, destruktiv zu sein, wenn man mit ihnen rechnet, wenn man sie studiert, um sie zu kennen, bevor man sie beherrscht. Diese Kräfte, die auf ihren jeweiligen Wegen Zerstörung, Unordnung und Kontingenz säen, sind schließlich von uns abhängig, wenn wir einmal ihre Bewegung, ihre Richtung und ihre Wirkungen begriffen 161

Vierter Teil: Von den Freiheiten zur Befreiung

haben. Sie unterstellen sich immer mehr unserem Willen, der sie im Sinne unserer Interessen ausrichtet: Was in der physischen Natur „Kraft, die geht“ [„force qui va“] war, wird Kraft im Dienst unserer Befreiung, man schreitet nicht mehr auf ein undurchdringliches und unveränderliches Fatum zu. Die erste Etappe der Befreiung ist der Übergang von der Herrschaft der radikalen Kontingenz zur Welt zahmer Notwendigkeit. Die inter-individuellen Beziehungen und Kämpfe, die chronischen Krisen und sozialen Unruhen erscheinen nicht mehr als fatales, stummes Auflodern, uns gegenüber gleichgültig und ohne jedes Merkmal, welches als Anhaltspunkt dienen könnte. Den gut untersuchten – gut bestimmten – [205] gesellschaftlichen Krankheiten wird der Mensch Einhalt gebieten können. Denn dort, wo die Vernunft dominiert, verschwindet die Anar chie und die Kontingenz „tritt in die Ordnung ein“. Indessen wäre es ein Unsinn, zu glauben, dass die Befreiung sich auf sozialem Gebiet durch einfache „Überlegungen“ über unsere metaphysische Natur etabliert. Im Gegenteil: Sie erweist und erprobt sich in der Handlung. Diese Etappe unserer Befreiung fällt mit den ersten Siegen der Wissenschaft über das Unerkennbare, des Willens über die dunklen Kräfte unseres Seelenlebens und der menschlichen Werte in unseren sozialen Beziehungen zusammen. Folglich kann die Menschheit die Hoffnung nähren, den entscheidenden Sprung zu machen, von den steilen Graten der Notwendigkeit zur Herrschaft der totalen Befreiung. Diese Perspektive wird übrigens nur gut fundiert sein, wenn man sich, um die Naturkräfte, die Instinkte und Reflexe zu beherrschen und um das Wirrwarr der Antagonismen und sozialen Krisen zu entwirren, auf den Determinismus stützen kann, ohne deswegen gleich unter die Bestimmungen des integralen Mechanismus zu fallen. Es handelt sich um einen weichen Determinismus, der sich als ein Rettungsanker gegen 18 die Kontingenz und Anarchie anbietet. Viele Male hatten wir mit Individuen zu tun, die den Eindruck erwecken, von Instinkten bewegt oder von Reflexen geführt zu sein, die ihrer Kontrolle völlig entglitten sind. Demgegenüber sind andere Subjekte unter denselben Umständen Herren ihrer selbst und handeln [206] reflektiert. Bei den Menschen dieser zweiten Kategorie ist das Willensvermögen normal entwickelt und sie wissen sich seiner in den geeigneten Momenten zu bedienen: Sie legen ihre Handlungen fest aufgrund der Kenntnis, die sie von ihrem eigenen Cha18 Vgl. De l’être à la personne, 3. Teil, Kapitel 4 [„Die Notwendigkeit“, S. 284-295].

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Kapitel 2: Die Befreiung ist auf ein Bündel von Freiheiten bezogen

rakter haben und aufgrund der Aufklärung durch Reflexion. Hierin bindet die Unterwerfung unter die Humanwissenschaften nicht, weit gefehlt, sondern öffnet einen Königsweg zur Befreiung. Dank der Anpassung an den psychologischen Determinismus beherrschen wir die dunklen Kräfte unserer Natur und empfinden die Gewissheit, dass unsere Handlungen aus unserem Willen entspringen: Wir erfahren auf unmittelbare Weise, dass wir die physiologischen Mechanismen dadurch beherrschen, dass wir zu Herren unserer Akte werden. Mit dem Fortschritt der zur Wissenschaft gewordenen Psychologie (das heißt der deterministischen Disziplin, die klar ihren Gegenstand und die Grenzen ihrer Untersuchungsinstrumente kennt) wird die Herrschaft des Willens begin nen und infolgedessen die Ära der Befreiung. Hier finden wir eine evidente Parallele zur cartesianischen Folgerung: „Wenn ich erkenne, kann ich entscheiden, zu handeln; ich handle, also befreie ich mich“, und zur Folgerung Auguste Comtes: „Wissen, um vorherzusehen, vorhersehen, um zu handeln“. Wie wohl wir uns auch „an Bord“ befinden, so hängt es allein von uns ab, das Steuer der Galeere zu erobern. Durch seine Kämpfe und trotz „der ewigen Stille der unendlichen Räume“ lässt der Mensch die Natur geständig sein und entreißt ihr fortschreitend ihre Geheimnisse durch Handlung und Intelligenz. Die Befreiung wird dann zum Synonym: [207] zum einen für die Beherrschung der Fülle biologischer und physiologischer Aktivitäten unserer eigenen Natur dank der Erziehung des Willens, zum anderen für das Vermögen, die zyklischen Krisen immer stärker abzubremsen, die ständig die gesellschaftliche Ordnung und den Frieden der Völker in Frage stellen. Die so definierte Befreiung kann weder eine Vorstellung noch eine Vision des Geistes sein: Sie übersteigt den kontemplativen Rahmen des Spiritualismus, sie kann nicht auf äußere Kräfte reduziert werden, auf vollkommen eingerichtete Mechanismen, weil sie von Grund auf psychische Macht, Reflexion, Wille und moralische Anstrengung ist. Das Ich beginnt sich an dem Tag zu befreien, an dem es sich seiner Knechtschaft bewusst wird und versucht, ihr durch die Erkenntnis der äußeren Welt und die Erkenntnis seiner selbst als eines im Wir inkarnierten Elements zu entfliehen. Sich befreien läuft dann darauf hinaus, sich selbst hervorzubringen, indem man sich von der Welt absetzt, und dies mit den anderen zu schaffen, oder wie Lequier sagte: „schaffen und 163

Vierter Teil: Von den Freiheiten zur Befreiung 19

schaffend sich schaffen“ [„faire, et en faisant, se faire“], was seitdem 20 eine Formel Sartres geworden ist. Und man ist umso freier, wie Leibniz sagte, „je mehr man nach der Vernunft handelt“. Ist das Bewusstsein von Notwendigkeit nicht schon eine Freiheit? Daher ist nach einem berühmten Satz von Francis Bacon die richtig verstandene Notwendigkeit [208] schon überwundene Notwendigkeit. Wer die Gesetze der Schwerkraft kennt und sie angemessen anzuwenden weiß, festigt seine Herrschaft über die Natur und vergrößert seine befreiende Macht. Wer die menschliche Natur und die Gesetze der historischen Entwicklung von Gesellschaften kennt, ist ebenfalls freier als derjenige, der ihnen passiv unterliegt, denn er kann sein eigenes Verhalten und die Entwicklung der Geschichte beeinflussen. Das Verstehen von Ereignissen, welche wir erleben, ist die erste Notwendigkeit für ein System, der Philosoph, der einer Gesellschaft ange hört, muss seiner Generation helfen, sich besser an den Rhythmus des alltäglichen Lebens anzupassen. Ist das Drama der modernen Geschichte nicht das Drama der modernen Menschheit? Und da die Probleme, die sich dem Menschen stellen, aus der Erde hervorkommen, können wir sie nicht im Absoluten regeln. Eine Philosophie der Befreiung wird eine dreifache Aufgabe haben: Sie wird uns lehren, wie sich die Probleme des Dramas stellen, welches wir erleben, wie dieses Drama anzunehmen ist und wie man es überwindet und zu Ende führt. Lernen, sich ganz in der realen Existenz zu verpflichten: kein Rückzug auf das Selbst, keine Flucht vor dem Selbst oder vor der Aktualität. „Man kann diesen Namen [Philosoph] nur dem Denken zuerkennen, das alle Arten der menschlichen Aktivität umfasst und die Lösung für alle sozialen und individuel21 len Probleme gibt.“ 19 Jules Lequier: La recherche d’une première vérité, Paris: Dugas 1925, S. 143

[Ders.: La recherche d’une première vérité, in: Ders.: Œuvres complètes. Hg. von Jean Grenier, Neuchâtel: La Baconnière 1952, S. 3-309, hier S. 71]. 20 [Jean-Paul Sartre: A propos de l’existentialisme: mise au point, in: Action, Nr. 17 (29. Dezember 1944), S. 11; Ders.: Zum Existentialismus. Eine Klarstellung. Übersetzt von Traugott König und Vincent v. Wroblewsky, in: Ders.: Der Existenzialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays 1943–1948. Hg. von Vincent v. Wroblewsky, Hamburg: Rowohlt 72014 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Philosophische Schriften; 4), S. 113-121, hier S. 116.] 21 C. Bouglé, Halévy: Einleitung, in: Doctrine de Saint-Simon. Exposition Jahrgang 1 (1829), neu hg., eingeleitet u. kommentiert von C. Bouglé, Paris: Marcel Rivière 1924.

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Kapitel 3: Die Befreiung ist die qualitative Summe der Freiheiten

Kapitel 3: Die Befreiung ist die qualitative Summe der Freiheiten [209] Wir haben gezeigt, dass alle Freiheiten, die der Spiritualisten ebenso wie die der Moralphilosophen und Metaphysiker oder die durch die Verfassungen garantierten politischen und sozialen Freiheiten, dass alle nur Einzelfälle einer sehr umfangreichen Auswahl sind. Die Befreiung ist inhaltlich komplexer, aspekt- und variantenreicher als die Gesamtheit der Einzelfreiheiten. Die Befreiung ist zunächst die qualitative Summe aller Einzelfreiheiten. Aber sie übersteigt auch und vor allem die quantitative und qualitative Summe ihrer Komponenten. Ein konkreter Vergleich kann durch den metaphysischen Charakter der kinetischen Theorie des Gases vorgeschlagen werden: Diese erreicht einen qualitativen Überstieg in dem Sinne, dass eine Qualität, welche nicht in den Komponenten zu finden ist, dennoch im Zusammengesetzten, in der Resultante vorkommt. Die Befreiung ist nicht etwas, was sich als Ganzes ein für allemal ergibt, sie ist unbestimmter [210] Fortschritt, dessen Rhythmus unmittelbar proportional zur Dichte der wissenschaftlichen Errungenschaften und Erkenntnisse aller Art ist. Es ist das Wissen, das gemäß jenes Gesetzes befreit, „das uns verpflichtet, das allgemeine Gut aller Menschen zu 22 schützen, soweit es an uns ist“, wie Descartes sagt. Es ist möglich, fügt der Verfasser des Discours hinzu, zu Erkenntnissen zu gelangen, die sehr nützlich für das Leben sind, und eine praktische Philosophie zu finden, die „uns die Kraft und die Wirkungsweise des Feuers, des Wassers, der Luft, der Sterne, der Himmelsmaterie und aller anderen Körper, die uns umgeben, ebenso genau kennen lehrt, wie wir die verschiedenen Techniken unserer Handwerker kennen, so dass wir sie auf ebendieselbe Weise zu allen Zwecken, für die sie geeignet sind, verwenden und uns so zu 23 Herren und Eigentümern der Natur machen könnten.“ Diese cartesische Konzeption einer Befreiung durch eine „praktische Philosophie“, die auf Erkenntnis beruht, müsste nach Bacon Absicht und Grund der Wis22 René Descartes: Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher

la vérité dans les sciences [Von der Methode des richtigen Vernunfgebrauchs und der wissenschaflichen Forschung. Französisch-Deutsch. Übers. und hg. von Lüder Gäbe, durchgesehen und mit einem neuen Register und Bibliographie versehen von George Heffernan, Hamburg: Meiner 21997 (Philosophische Bibliothek 261), S. 108-109. Lahbabi gibt das Zitat etwas verändert wieder]. 23 [Discours, S. 100-101.]

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senschaft sein. Später wird der Marxismus diese These wieder aufneh men, die sich die Enzyklopädisten vor Marx und Engels zu eigen gemacht hatten. Der großzügige und befreiende Ehrgeiz Descartes’ beschränkte sich nicht darauf, den Menschen zum Besitzer der Natur zu machen, sondern beabsichtigte auch, ihn von Krankheiten zu befreien und ihm Gesundheit zu garantieren. Dies berichtet ein Brief an den Grafen von Newcastle im Oktober 1645: „Die Erhaltung der Gesundheit“, schreibt Descartes, „ist zu jeder Zeit das Hauptziel [211] meiner Studien gewesen, und ich bezweifle keineswegs, dass es einen Weg gibt, viele Erkenntnisse hinsichtlich der Medizin zu erhalten, die bislang unbekannt gewesen sind. Aber die Abhandlung über die Tiere, die ich bedenke und welche ich bisher noch nicht abschließen konnte, war nur ein Beginn, um zu diesen 24 Erkenntnissen zu gelangen.“ Die Zitate, welche wir den cartesischen Texten entnommen haben, sind der beste Beitrag zu einem exakten Verständnis dessen, was eine Philosophie der Befreiung sein kann – und muss. Zwei Arten der Freiheit: diejenige, die ihren Anfang in den direkten, unmittelbaren und spontanen Gegebenheiten nimmt (Bergson), und diejenige, die dem organisierten, reflektierten und zur Bekämpfung der blinden Naturkräfte entschlossenen sozialen Verhalten entspricht, um das „allgemeine Gut aller Menschen (…) zu schützen“ (Descartes). Zwischen freien Bewusstseinen – mit einer unmittelbar gegebenen Freiheit – gibt es nur intuitive Koordinierungen und Abgrenzungen zwischen dem Ich, dem Du und dem Ihm/Ihr. Demgegenüber ist die Freiheit zwischen Menschen, die durch die Erkenntnis befreit sind, eine Vereinigung von Individualbewusstseinen im Wir, oder eine Gemeinschaft, deren Mitgliederinteressen sich gegenseitig durchdringen und bedingen. Hier ist die Gesamtheit den Teilen immanent und die Teile sind der Gesamtheit immanent. „Das Wir“, sagt [212] Georges Gurvitch, „will eine Interiorität und eine Intimität der Gemeinschaft im Wachzustand bezeichnen. […] Es hat 25 kollektive aktuelle Intuitionen zur Grundlage.“ Eine reziproke Immanenz, „die man auch als gegenseitige Teilhabe der Einheit an der Vielheit 24 René Descartes: Lettre au marquis de Newcastle d’octobre 1645, in: Ders.: Discours

de la Méthode. Hg. und kommentiert v. Etienne Gilson, Paris: Vrin 1930, S. 448.

25 Georges Gurvitch: Éléments de sociologie juridique, Paris: Aubier-Montaigne

1940, S. 148.

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und der Vielheit an der Einheit bezeichnen könnte, ist im Wir immer ak26 tuell, bis zu einem gewissen Grad wenigstens.“ Da er sich nur für die metaphysischen und individuellen Aspekte der Freiheit interessiert, sieht der Bergsonismus keinen Platz für die Freiheit auf der Ebene des Wir vor. Dagegen nimmt Descartes in der Passage des Discours de la Méthode eine Freiheit in den Blick, die sich allein auf der Ebene des Wir verwirklicht, durch die Zusammenarbeit aller Glieder einer Gesellschaft, ja sogar der Menschheit, für die technische Entwicklung der „Berufe unserer Handwerker“, für die vertiefte Erkenntnis der Naturwissenschaften und schließlich für den Fortschritt der Medizin, welche vor der biologischen Angst und vor den Bedrohungen durch Krankheiten schützen würde. Unter einem bestimmten Aspekt finden sich hier zwei komplementäre philosophische Haltungen in der Konzeption der Befreiung, wie sie in unserem vorliegenden Essai verstanden wird. In der Nachfolge Descartes’ wird auch Goethe in der Einwirkung auf die Natur und in der in den Dienst der Menschheit gestellten Erkenntnis die dynamische Einheit des Geistes und der Materie finden, welche das sicherste Mittel ist, um zu einer wirkungsvollen Befreiung [213] zu gelangen. Denn ausgehend vom Spinozismus, den er um einen dynamischen Charakter bereichert, gelangt Goethe dahin, die Offenbarung Gottes der intensiven Wirkung [action profonde] anzugleichen, welche die Natur auf uns ausübt. Indem sich die Menschen in die Natur integrieren, haben sie wirklich Anteil am universalen Leben, das die Welt belebt. Wie im Spinozismus, wo sich der Übergang vom zweiten zum dritten Grad der Erkenntnis der Intuition verdankt, so geschieht auch bei Goethe die Integration in die Natur durch die Intuition, die Empfindung (Werther) und auch, und besonders, durch die Handlung: „Am Anfang war die Tat“, sagt Faust. Und Tat nimmt nach und nach im Faust die Bedeutung von Geist, von Kraft und schließlich von Handlung [action] im eigentlichen Sinn an. Diese dynamische und vitalistische Konzeption der Welt holt den Cartesianismus (Descartes’) in der Bemühung ein, die Einheit von Geist und Materie zu realisieren und die äußere Welt dem Menschen zu unterwerfen. Eine Philosophie der Befreiung wird diejenige sein, die zeigt, wie sich die dynamische Einheit von Geist und Materie tatsächlich durch die Handlung verwirklicht, zweitens, wie sich diese „dynamische Einheit“ 26 Gurvitch: Éléments de sociologie juridique, S. 148.

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ausreichend öffnet – weiter, als es Goethe zu seiner Zeit erwägen konnte – für das ganze Spektrum der zahlreichen Probleme, welche sowohl die Möglichkeiten als auch die Störungen des aktuellen Lebens hervorrufen. Die Verhältnisse der Situation des Menschen sind viel komplizierter geworden von der Zeit Descartes’ zu Goethe und von Goethe bis heute. Ohne Zweifel wird man, um den Menschen der modernen Gesellschaften zu befreien, nicht nur [214] die medizinischen Untersuchungen ebenso wie die Gesamtheit des cartesianischen Programms, das wir uns gerade in Erinnerung gerufen haben, in „die Einheit“ aufnehmen, sondern auch jedem von uns ein anständiges ökonomisches und intellektuelles Leben ermöglichen müssen; unter dieser Voraussetzung wird es einen zufriedenstellenden Ausgleich zwischen der Würde des Menschen und seinen Bedürfnissen auf der einen Seite und zwischen den technischen oder wissenschaftlichen Fortschritten und den Humanwissenschaften auf der anderen Seite geben. Dank dieser doppelten Angleichung wird der Mensch über eine wirksame Befähigung verfügen, die es ihm erlaubt, sich durch den Geist und die Arbeit „von der Entfremdung zu befreien“ [désaliener] und sich mit sich selbst und mit der Natur zu versöhnen: die Undurchsichtigkeit der Welt zu reduzieren, sich seines eigenen Wertes bewusst zu werden und Geist und Materie zu vereinigen zum Wohl der Menschen. Dies stellt das menschliche Bewusstsein vor beängstigende Probleme, Probleme, die nur gelöst werden könnten, wenn man ihnen auf der Ebene der Gattung begegnet. So zu handeln, als existierten sie nicht, hieße, die Erfahrung verfälschen und damit ihre wirkliche menschliche Bedeutung entstellen. „Bei der Erfahrung kommt es darauf an“, sagt Hegel, „mit welchem Sinn man an die Wirklichkeit geht. Ein großer Sinn macht große Erfahrungen und erblickt in dem bunten Spiel der Erscheinung 27 das, worauf es ankommt.“ Seit dem letzten Jahrhundert sind tiefgehende Veränderungen [215] innerhalb unserer Gesellschaften vorgegangen. Die Kontinente haben sich immer stärker miteinander verbunden und niemals hat sich der Mensch auch räumlich so dicht an seinesgleichen angenähert, aber niemals zuvor 27 G. W. F. Hegel: Encyclopédie I, S. 53 [Ders.: Enzyklopädie der philosophischen

Wissenschafen I: Die Wissenschaf der Logik. Mit den mündlichen Zusätzen, in: Ders.: Werke in 20 Bänden, Frankfurt: Suhrkamp 1970 (Theorie-Werkausgabe 8), § 24, Zusatz 3, S. 87].

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waren die Beziehungen zwischen Nachbarn, ja sogar zwischen Landsleuten, komplizierter und die Rivalitäten gewaltiger. Zwei Hauptprobleme, die Wirtschaft und der Krieg, haben niemals eine gleichermaßen leidenschaftliche Heftigkeit gekannt; der Rückstand der Geisteswissenschaften auf die Techniken und Naturwissenschaften ist zu groß. In der schwindelerregenden Trennung zwischen Haben und Sein zeigt sich das ganze Drama der modernen Humanität und die Zerrissenheit ihres Bewusstseins: Diskrepanz zwischen einer Natur, deren Geheimnisse kontinuierlich aufgedeckt werden, und den moralischen und sozialen Krisen, die sich in einer erschreckenden Geschwindigkeit entwickeln, samt ihrer Auswirkungen auf dem intellektuellen und psychischem Gebiet. Eine Philosophie, die friedensstiftend und reformorientiert sein möchte, muss auf alle aktuellen Besorgnisse tiefgreifend eingehen und bessere Verständnishilfen geben, um sie beherrschbar zu machen und dadurch zu überwinden, dass man das Ich auf die technische und soziale Höhe der Zeit [contemporanéité technique et sociale] bringt. Denn die Philosophie hat nur in dem Maße Sinn, in dem sie das fundamentale Bedürfnis übersetzt, welches das menschliche Bewusstsein angesichts des immer wieder neuen Anfangens und Selbstverortens in Beziehung zur Welt empfindet, das ihm die Wissenschaften eröffnen. Weil sie kontinuierlich die technische Entwicklung erleichtert, bedarf die Wissenschaft einer immer ausgedehnteren zwischenmenschlichen Solidarität. Diese vielfältigen Kontakte implizieren eine ständig dichter werdende Interdependenz. [216] Aber die Interdependenz zerstört keineswegs die Unabhängigkeit, sie fördert deren Verwirklichung und stellt die Aufklärung in den Dienst von jedermann. Dieser Jedermann müsste der Mensch sein, das heißt alle Menschen und nicht ein Teil der Menschen. Es gab zwar Freiheit im antiken Griechenland, aber im Jahr 309 v. 28 Chr. zählte man in Athen 400 000 Sklaven auf 21 000 freie Bürger. Nach einem Text des Athenaios, der die Autorität von Ktesikles in Anspruch nimmt, hatte es allein in Ägina 470 000 Sklaven gegeben und 460 000 in 29 Korinth. Nun muss jede Befreiung, um den Anspruch auf diesen Titel 28 Nach der Volkszählung des Demetrios von Phaleron zählte Athen neben 20 000

Bürgern 10 000 Metöken und 400 000 Sklaven. Ebenfalls waren es in der Römischen Republik unter ungefähr 20 Millionen Einwohnern nur 21 400 freie Personen, die ein Anrecht auf die Bürgerschaft hatten. 29 Vgl. Henri Wallon: Histoire de l’esclavage dans l’antiquité. 3 Bde., Paris: Hachette 21879; A. Tourmagne: Histoire de l’esclavage ancien et moderne, Paris: Guillaumin 1880.

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zu Recht zu erheben, sich gleichzeitig in Weite und Tiefe entwickeln. Sie manifestiert sich nicht als eine Bewusstseinsgegebenheit, deren Aufblühen das Ich nur passiv zu erwarten hat, sie ist der endgültige Abschluss dessen, was die menschlichen Aktivitäten hervorbringen, der Sieg, der mit Mühe über die Natur errungen wird, die den Menschen heftig herausfordert, eine umstrittene Eroberung, die regelmäßig in Frage gestellt wird und die zu neuen gemeinsamen Kämpfen anregt.

Kapitel 4: Die Befreiung erweitert und verwirklicht sich … in einem historischen Kontext [217] Wie das Subjekt, das sie ausarbeitet, so entstammen die philosophischen Systeme der Gesellschaft, in der sie zu Tage treten; sie [die Gesellschaft] ist es, die die Probleme hervorbringt, welchen sie [die philosophischen Systeme] sich stellen; sie formuliert ihren Wortlaut, schafft die Perspektive, in der man sie in den Blick nimmt, und auch die Terminologie der Lösungen, die man ihnen zu geben sucht. Auch der unabhängigste Geist denkt in Gesellschaft mit anderen, indem er die Techniken und das geistige Handwerkszeug, die die nationale Kultur und die menschliche Zivilisation ihm zur Verfügung stellen, benutzt. Und erst ausgehend von diesen verschiedenen Mitteln und ihrer geistigen Verarbeitung ist es ihm möglich, sie zu überwinden: Jede Revolution ist Umsturz, bevor sie Schöpfung wird. Der Revolutionär Descartes hat damit begonnen, ein Aufrührer zu sein. Er ist zuerst gegen die herrschende Ordnung aufgetreten: „Was schließlich die okkulten Lehren angeht, so glaubte ich schon hinlänglich zu wissen, was sie wert sind, um nicht mehr getäuscht zu werden, weder von den Verheißungen eines Alchimisten noch den Vorhersagen [218] eines Astrologen, den Betrügereien eines Zauberers oder von den Kniffen und Prahlereien eines jener Schar30 latane, die vorgeben, mehr zu wissen, als sie wissen.“ Bewusst oder unbewusst bezieht der Revolutionär in Kunst, Wissenschaft und Politik Stellung gegenüber dem, was schon geschehen ist, und dem, was sich um ihn herum ereignet. Es ist die Beschaffenheit der herrschenden Ordnung, die sich in Frage gestellt findet. Der Konservative definiert die Revolution als Verletzung der Ordnung, als das, was die axiomatische Komposition der Mitte stört: das Klassische in Philosophie, Literatur oder Kunst, wie übrigens auch in der Politik, als privilegiertes 30 René Descartes: Discours de la méthode, S. 14-15.

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Modell. Die Revolution ist demgegenüber, in was für einem Bereich auch immer, der Erwerb neuer Mittel, um freie Wege für die Bewegung zu bahnen, die voranschreitet durch die Infragestellungen dessen, was „ist“. Ein Kampf um entgegengesetzte Modelle (die Schlacht der Anciens und der Modernes, die Schlacht um Hernani …). Das Bedürfnis der einen nach Wechsel stößt auf das Verlangen der anderen, das Gegenwärtige so zu respektieren, wie es ist. Aber diese wie jene machen in der Debatte, die sie einander gegenüberstellt, eine qualitativ andere Freiheit geltend. Es ist der Zusammenstoß von „Tatsachenlinien“ [lignes de faits], welcher die Krisen auslöst, die herrschenden Ordnungen umstößt und den Ablauf des Lebens in einer Gesellschaft verändert. Und jedem neuen Gesell 31 schaftstyp entsprechen neue Freiheiten. [219] Der Revolutionär ist zuerst „klassischer“ Konservativer und in der Folge Erneuerer: Die Originalität ist nie zuerst da. Der Erneuerer, oder auch das Genie, beginnt damit, sich den Auffassungen seiner Zeit zu fügen und sich der Prägung durch seine Umwelt zu unterziehen. Er assimiliert sich, bevor er modifiziert. Philosophieren heißt also nicht, sich der Zeitgenossenschaft zu entziehen, weder durch Abstraktion von der Gegenwart noch durch den Vorzug des Vergangenen. Durch die Gegenwart hindurch findet man zum Ewigen zurück. Denn jede Zeit hat erschütternde Fragen, die ihr eigen sind und worüber sich die Untersuchungen des Psychologen, des Historikers und des Soziologen äußern müssen. Da außerdem diese erschütternden Fragen für die jeweilige Epoche und das jeweilige Milieu die begrifflichen Strukturierungen des Denkens und Verhaltens begründen, könnte weder der Metaphysiker noch der Moralphilosoph sie vernachlässigen, ohne Metaphysik und Ethik zu verleugnen. Um die Grundlage von Pflichten und Werten zu behandeln, muss der Moralphilosoph das Werden berücksichtigen, das sie als Lebensweisen in der sich in Bewegung befindlichen Welt belebt. Er muss wie der Metaphysiker auf die Verwirklichung dessen aus sein, was Henri Gouhier 32 „das metaphysische Paradox“ nennt, das zugleich „ein Versprechen ewiger Wahrheiten und eine Antwort auf aktuelle Fragen“ ist; „ein gründliches Denken findet die Kraft, auf das Ewige zu zielen: Ein System degeneriert in Schulphilosophie genau dann, wenn es seine Aktualität zugunsten dieser künstlichen Ewigkeit verliert, [220] welche die Zeitlo31 Vgl. De l’être à la personne, Kapitel über die Werte [S. 235-263]. 32 Henri Gouhier: La philosophie et son histoire, Paris: Vrin 1944, S. 100.

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sigkeit von Handbüchern ist.“ Drückt nicht die Bildsprache durch die Empfindung des Künstlers hindurch die Lyrik einer Epoche aus? David war auf dem Niveau von Robespierre und Saint-Just. Jeder Moment der Geschichte hat seine Wahrheit. Wie der Schriftsteller und der Künstler ist der Philosoph aufgefordert, diese Wahrheit widerzuspiegeln und sie für andere aufzudecken, die sie wahrnehmen und leben, ohne sich dessen bewusst zu sein. Er serviert die Befreiung nicht auf einem silbernen Tablett: Er steckt Wege ab, die dorthin führen, er legt aus der Struktur der Gesellschaft heraus die Mittel frei, die ihn zum Erwerb der Freiheiten führen, die in der Befreiung konvergieren. Denn, wie Rousseau am Schluss des Discours sur l’origine de l’inégalité sagt, „das Menschengeschlecht des einen Zeitalters ist nicht das Menschengeschlecht eines an34 deren Zeitalters.“ Denn die Zeit verjüngt und lässt all das altern, woran sie sich reibt; das Leben ist eine ständige Veränderung. Und dies gilt sowohl für das Ich als auch für alles, was die Menschheit berührt, Institutionen, Konzeptionen, die man sich vom Leben macht, Weltanschauungen usw. Die ersten Begriffe, mit denen sich die philosophische Reflexion befasst hat, haben dasselbe Schicksal erlitten. So kommt es, dass sich das Konzept der „Freiheit“ von Zeitalter zu Zeitalter verändert hat. Aber hinter dieser geschichtlichen Instabilität, diesem Mangel an Beständigkeit im Inhalt des Freiheitsbegriffes gibt es zu allen Zeiten eine gemeinsame menschliche Grundlage, auf dem sich die besonderen charakteristischen Konzeptionen jedes Zeitalters ausbilden: der Drang [élan] nach der Befreiung in ihrem globalen Sinn. Die [221] Philosophie besteht darin, in „ihrer Ver35 gangenheit ihr gegenwärtig Ewiges“ zu suchen. Dieses „gegenwärtig Ewige“ bleibt trotz aller Streitereien und aller oft einander widerspre chenden Thesen, die sich seit Hunderten von Jahren unaufhörlich um die Entwirrung des Verwickelten bemühen, hinsichtlich seines tiefsten Ursprungs dasselbe: der menschliche Wille, das Joch der Entfremdungen 33 Henri Gouhier: La philosophie et son histoire, S. 100. 34 [Jean-Jacques Rousseau: L’origine et les fondements de l’inégalité parmi les

hommes, in: Œuvres complètes. Vorwort von Louis-Guillaume Deschard, SaintJulien-en-Genevois: Arvensa 2014 (Digitale Edition), S. 1051-1131, hier S. 1129; Ders.: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Übersetzt und hg. von Philipp Rippel, Stuttgart: Reclam 1998 (Reclams Universal-Bibliothek 1770), S. 111.] 35 Émile Bréhier: La philosophie et son passé, Paris: Félix Alcan 1940, S. 44.

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abzuschütteln. Jedes Zeitalter hat seine eigenen Entfremdungen und demnach seine eigenen Kämpfe. Die philosophischen Untersuchungen müssen also einen direkten, intimen Kontakt mit dem Leben haben, und der Weg führt, wenn sie auf die Ewigkeit abzielen, durch die Zeitlichkeit hindurch. Der Philosoph kann geschichtlich nicht neutral sein: Die Philosophien, die es ablehnen, politisch aktiv [militantes] zu sein, versinken in spekulativem Geschwätz. Der Philosoph hat eine Gesellschaft – nicht in dem Sinne, dass sie ihm gehört, sondern dass er ihr angehört –, das heißt er ist ein Teil menschlicher Gruppen, die in Debatten und fortgesetzten Kämpfen gegen die Natur und manchmal gegen andere menschliche Gruppen engagiert sind. Nun sind diese Aktivitäten nicht Ansichten des Geistes, sie sind in Zeit und Raum determiniert. Daher beschränkt sich die wahre Freiheit nicht auf den freien Strom des Bewusstseins, sondern nimmt „den ganzen Menschen“ in den Blick, der mehr ist als ein Bewusstsein. Die Person, Subjekt der Freiheit, ist mehr als das Sein [deutsch im Original] und [222] als das Dasein [deutsch im Original] (die determinierte Existenz Heideggers). Der Preis dieser Freiheit, in der sich das ganze Ich engagiert findet, ist die Verantwortung. Auf der Ebene des „Tiefen-Ichs“ kann man nicht verantwortlich sein: verantwortlich wem gegenüber? Die Empfindung von Verantwortung ist verbindend und extensiv durch ihre Natur und kann nicht rein reflexiv sein; sie bemisst sich nach unseren Handlungsmöglichkeiten, d.h. entsprechend unseren Freiheiten. Sie ist relativ und transitiv. Denn es gibt Verantwortung nur durch Beziehung zu einem erkennenden Bewusstsein [conscience-connaissante], das die Situation versteht und aufklärt, bevor es den angemessenen Antwort-Akt [acte-réponse] anordnet. Dieser letztere verpflichtet das Ich, und jede Verpflichtung ist mehr oder weniger klar nach dem Grad des Verständnisses und der Aufklärung, den das erkennende Bewusstsein erlangt: Das ist der relative Charakter der Verantwortung. Zweitens ist Verantwortung transitiv als Beziehung: auf der einen Seite zwischen dem Ich und dem, wohin es neigt (sie gehört nicht zum Selbstbewusstsein, sondern zum Bewusst36 sein von), und auf der anderen Seite zwischen dem Ich und dem, gegen36 Zum Sinn dieser drei Weisen des Bewusstseins vgl. De l’être à la personne,

1. Teil, Kapitel II, III und IV [S. 20-47].

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Vierter Teil: Von den Freiheiten zur Befreiung

über dem es mit seinen Verpflichtungen und Akten bürgen muss: doppelter Charakter der Transitivität. Indem er das Ich durch seine Partizipation an den Sozialnormen erklärt, setzt Durkheim sich dem Einwand aus, den ihm ein Bergsonianer machen könnte: Sie lassen die Person verarmen, indem Sie sie derart auf ihren sozialen Aspekt reduzieren. Worauf er antworten würde, [223] dass die Vernachlässigung der sozialen Seite eine nicht weniger schwere Verarmung darstellt. Für einen Personalisten sind die beiden Thesen in gleicher Weise Grenzübertretungen. Wie das Ich sich nicht auf die „reine Dauer“ reduzieren lässt, so könnte es auch nicht vollständig unter dem bloßen sozialen Aspekt seiner Existenz eingeordnet werden: Es ex-istiert in und durch die Gesellschaft, aber es ist Subjekt. Der Vorteil, der im Begriff der Befreiung liegt, ist genau genommen der seiner Ganzheitlich keit: Wir sind umso freier, wenn wir mit unserer ganzen Person handeln. Aber hindert nicht die ständige Neuheit der Skala unserer Engagements, die sich für uns vor jeder Situation öffnet, den moralischen Aufstieg? Stellt sie nicht in jedem Moment die ethischen Normen in Frage? Und wäre überhaupt noch, wenn sich das Subjekt auf den Inhalt des Bewusstseins reduzierte, Kommunikation von Ich zu Ich möglich? Denn es gibt, wie wir gesehen haben, nur relatives und transitives Bewusstsein. Tatsächlich gehe ich als Ganzes der Zukunft entgegen. Ich lokalisiere in einem bestimmten Augenblick das Wollen, welches vom Willen (Begriff der Intentionalität) unterschieden ist. Mein Bewusstsein ist immer intentional durch seine Natur und diese Intentionalität wird sich durch die Reflexion präzisieren. Aber Reflektieren heißt, das Denken an Rahmen und an Kategorien auszurichten, die durch die Gesellschaft gemäß der „logischen“ Sitten und der gebräuchlichen Ausdrucksweisen geliefert wurden. Keine Beweisführung kann sich von den sozialen Merkmalen lösen. Ist Reflektieren nicht, wie es die erste Bedeutung des Wortes anzeigt, ein Zurückwerfen in eine andere Richtung nach der [224] Art von Spiegeln, die die Bilder von Gegenständen „reflektieren“? Unser Denken spiegelt die Höhe der Kultur, die Weltanschauung und die Logik (oder die Arten zu argumentieren) einer Gesellschaft wider. Das mittelalterliche Denken spiegelt z.B. eine Weltanschauung auf syllogistischer Basis vor einem theologischen Hintergrund wider. Und stehen nicht zur selben Zeit entgegengesetzte Logiken nebeneinander? Die Logik eines Indianers (Rothaut) steht in keiner Beziehung zur Art des Argumentierens eines Einwohners von Washington, der doch Amerikaner ist wie er, und in 174

Kapitel 4: Die Befreiung erweitert und verwirklicht sich ...

Washington argumentieren der Geschäftsmann, der Akademiker und das Zimmermädchen unterschiedlich. Jeder hat die Logik seines Milieus, seiner Milieus: soziale Klasse, Berufsgruppe usw. Er geht auf die Zukunft los, ausgerüstet mit einem Gepäck von Traditionen und Erkenntnissen; und ist die Zukunft nicht selbst ein Begriff, der in der Gesellschaft erworben wurde? Das heißt, dass die ganze Geschichte des engagierten Ichs doch reicher und dichter ist als die des bloß biologischen Ichs. Man schreitet in der Zeit mit dem gegenwärtigen Ich voran, angefüllt mit der Summe von Erwartungen und vergangenen Erinnerungen, mit dem Gedächtnis, das 37 „aus materiellen Dokumenten, die zu uns gehören, entsteht“. Die personale Identität des Ichs ist das erste [225] Geschenk der Gesellschaft, welches das Kind in seiner Wiege findet. Determiniert in der Zeit und im Raum macht der Mensch als permanentes Element in der Geschichte die Geschichte zur Permanenz und wird sich dessen bewusst als ihr Baumeister-mit-den-anderen. Darum ist die Befreiung nicht die Freiheit eines Bewusstseins, sondern es sind die Freiheiten des bewussten und in der Geschichte handelnden Wesens. Und die Geschichte ist immer Gesellschaft. So stellt sich die Befreiung als eine Realität in Bewegung dar, die sich erweist, ohne sich zu zeigen. Und da sie ja ein Komplex von Beziehungen ist – wie die Geschichte, die dafür den Hintergrund bildet –, darf man sich nicht, um sie zu fassen, allein auf die Methode des „sich lebendig fühlen“ begrenzen. Vielfältige objektive Methoden sind ebenfalls geboten. Aber wenn die so verstandene Befreiung aufgerufen ist, „sich zu entpersonalisieren“, geschieht dies sicher nicht zugunsten des Universalismus – was sie aus der Zeitlichkeit herausstoßen würde: Eine abstrakte Befreiung des Menschen im Allgemeinen würde nur auf einen Menschen zutreffen, der weder einer Zeit noch einem Milieu angehörte. Darum ist es uns schwierig erschienen, alle Freiheiten auf eine einzige zu reduzieren, die als universelle Gegebenheit begriffen wird und sich nicht den beiden Dimensionen fügt, die ihre reale und objektive Existenz bedingen: Ort und Zeit. Den Rahmen bestimmen, der durch diese beiden Dimensionen gebildet wird, heißt, die Existenzbedingungen realer, tatsäch37 Félix Alexandre Le Dantec: Le problème de la mort et de la conscience universelle,

Paris: Flammarion 1917, S. 83 [Lahbabi gibt das Zitat etwas verändert wieder]. Vgl. Matière et mémoire.

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Vierter Teil: Von den Freiheiten zur Befreiung

lich realisierbarer Freiheiten zu bestimmen. Jede Philosophie, die nicht ein wesentlicher Bestandteil der Bewegung des Denkens [226] und Handelns ihrer Zeit ist, bleibt am Rande des Geschehens und kann damit nicht in Anspruch nehmen, sich um die menschliche Befreiung zu bemühen. So gibt sich die Befreiung nicht abstrakt, unmittelbar, außerhalb eines Rahmens; sie wird erworben und kennt daher Höhen und Tiefen. Wenn ihre Schwankungen bekannt sind, kann man ihre Kurve in einer Grafik aufzeichnen, deren Ordinaten und Abszissen geschichtlich und sozial bestimmt sind: Sie ist kontinuierliche Bewegung. Aber man darf nicht auf einen integralen Determinismus schließen. Wir haben bereits spezifiziert, dass, wenn der Determinismus eine Tatsache ist, er (was nicht weniger eine „Tatsache“ ist) eine gewisse Elastizität und Nuancen aufweist. Diese prägen sich der inneren Ökonomie des Determinismus ein. Bachelard hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass nur begrenzte, gemäßigte und zeitliche Determinismen existieren. Man muss also, wenn man das Reale nicht verraten und in seiner Integrität respektieren will, den Determinismus so nehmen, wie er tatsäch38 lich ist, und nicht so, wie man ihn theoretisch konstruiert. Der Personalismus erkennt an, dass sich die Realität in Form bloßer Tatsachen gibt, genauer gesagt in Überlagerungen bloßer Tatsachen, und allein aus methodischen Gründen vereinfachen [227] wir die komplexen Gegebenheiten und teilen sie in Elemente auf. Im Gegensatz dazu unterscheiden die dualistischen Philosophien in ihrer Rede über den Menschen Körper und Geist, Ich und Wir usw., bevor sie sie einander entgegensetzen, als wenn eine Person auf den Körper oder auf den Geist reduziert werden und Person bleiben könnte, oder als wenn ein in sich absolut abgekapseltes Ich nicht anormal würde. Dieselbe Beobachtung trifft für das klassische Paar Determinismus-Freiheit zu. Das Reale sorgt sich kaum um unsere Alternativen und unsere subtilen Unterscheidungen, und wären sie methodologisch, es ermattet nicht im Zaudern wie Buridans Esel: Die Realität stört sich nicht an Alternativen und Widersprüchen, sie überwindet sie nicht einmal. Angesichts der Tatsache, dass es gleichermaßen unterschiedliche Elemente sind, die sie konstituieren, findet sie sich damit ab. Das Problem ist eher das der Zusammenfügung als das der Dekomposition und Opposition. In seiner Realität ist das Ich 38 Vgl. De l’être à la personne, 3. Teil, Kapitel 5, I [S. 297-301].

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Kapitel 4: Die Befreiung erweitert und verwirklicht sich ...

ebenfalls determinierte Freiheit und die Natur ist zugleich Gegebenes und Werk, … derart, dass eine Person sich befreit, wenn sie zuerst die Materie und die Welt als Gegebenes bestätigt, um dann daraus Werke zu machen. Die Bestätigung determiniert die Handlung, aber die Handlung befreit vom Gegebenen. Mit anderen Worten setzt die Freiheit den Determinismus voraus, und sobald man den Determinismus anerkannt und seine wirksame Existenz berücksichtigt hat, beginnt die Freiheit. Man muss an den Historiker denken, der, um die Ereignisse, das heißt die für wichtig gehaltenen Tatsachen zu untersuchen, so vorgeht, dass er sie in einem stabilen, permanenten Rahmen situiert, indem er veränderliche Realitäten [228] in die physische Geographie einstellt: Er gründet das Diskontinuierliche auf dem Kontinuierlichen. So behindert das, was nach unseren Maßstäben als Mischung, Widerspruch, Inkohärenz erscheint, keinesfalls die Realität, das Reale folgt nicht den Bahnen, welche wir ihm ebnen, sondern seiner eigenen Logik. Zwischen den Idealisten und Materialisten scheint es einen gemeinsamen Nenner zu geben, der auf der Ebene der Erkenntnis die Verbindung beider Systeme herstellt. Die Idealisten vergeistigen die Materie, um daraus nur eine Repräsentation, ein Spiegelbild des Geistes zu machen, – wenn sie nicht so weit gehen, alles zu verneinen, den Geist ausgenommen. Sie reduzieren die Realität auf eine einfache Konstruktion, ausgehend von einem Schema, einem Bild der Idee. Die Materialisten gehen an die Untersuchung der Wirklichkeit ihrerseits mit einem bestimmten, vorher entworfenen Schema heran: Der Geist ist der Reflex der Materie (umgekehrte Formel der Idealisten). Daher setzen sich die realen Freiheiten, anstatt einander auszuschließen, gegenseitig voraus: Diejenige des Geistes ruft diejenige des Leibes hervor und umgekehrt, die Gewissensfreiheit setzt die politische Freiheit voraus usw.

Kapitel 5: Zur Überwindung der Zweideutigkeit der Freiheit [229] Die Freiheit gehört also nicht zu den Konzepten, die sich durch ein Arsenal von Begriffen definieren lassen. Im Gegenteil: Sie widersteht systematischen Definitionen und verlangt eine sehr nuancierte und sehr weite Bestimmung. Deshalb haben wir ihr den Begriff „Befreiung“ vorgezogen, der zugleich die Bedeutungsvielheit des Wortes „Freiheit“ voraussetzt und zum Handeln anregt. 177

Vierter Teil: Von den Freiheiten zur Befreiung

Die Befreiung ist „der Zustand“ des Freiseins und gleichzeitig die Handlung, die man ausführt, um es zu werden: Die synthetische Aktualisierung realer Freiheiten. Diese Definition enthält die ursprüngliche und klassische Bedeutung von Freiheit: die Abwesenheit äußeren Zwangs; man spricht vom „freien Menschen“ im Gegensatz zum Sklaven und Gefangenen, die eben nicht über autonome Aktivität verfügen und nicht die Initiative über ihre Akte haben. Das Wort Befreiung enthält ebenfalls die von der vorhergehenden Konzeption der Freiheit abgeleiteten Bedeutungen. Wir befreien uns von inneren Kräften, Instinkten, Wünschen, Leidenschaften usw., wenn wir dahin gelangen, [230] sie zu erkennen, sie zu adoptieren und sie zu adaptieren. Die Befreiung ist die Aktivität, die die dunkle Natur des Menschen durch das Licht der Vernunft und aufgrund des Willens be herrscht. Sie ist „das mögliche Maximum der Unabhängigkeit für den Willen durch die unter derselben Idee der Unabhängigkeit stehende Selbstbestimmung auf ein Ziel hin, von dem er in gleicher Weise die Idee 39 besitzt“. Diese Definition legt eher den Charakter des moralisch Handelnden frei, ohne den das Ich weder moralisch noch rechtlich verantwortlich wäre. Auch bei John Stuart Mill definiert die moralische Freiheit einen der charakteristischsten Aspekte der Befreiung, wie sie in dieser Untersuchung verstanden wird. Die Empfindung der Freiheit, deren wir uns bewusst sind, ist die Empfindung unseres Vermögens, unseren eigenen Charakter zu verändern, wenn wir es wollen: „Jemand fühlt sich sittlich frei, der das Gefühl hat, dass seine Gewohnheiten oder Versuchungen nicht seine Herren sind, sondern er der ihre – der, selbst wo er ihnen 40 nachgibt, weiß, dass er widerstehen könnte.“ Die politischen und sozialen Bedeutungen des Wortes „Freiheit“ fließen ebenfalls in „Befreiung“ mit ein. Wenn man sagt, dass das französische Bürgertum sich von der Feudalherrschaft befreit hat, behauptet man bloß, dass es ein Ensemble von Freiheiten erlangt hat, von dem es ausgeschlossen war; die Freiheit ist hier der mehr oder weniger hohe Grad an Unabhängigkeit, den das Bürgertum erstmalig gegenüber dem Feudalregime besessen hat, dem es angehörte. [231] Diese Unabhängigkeit, die 39 Alfred Fouillée: Psychologie des Idées-forces. Bd. 2, Paris: Félix Alcan 31912,

S. 290.

40 John Stuart Mill: System der deduktiven und induktiven Logik. Eine Darlegung

der Grundsätze der Beweislehre und der Methoden wissenschaflicher Forschung. Übersetzt von Theodor Gomperz, in: John Stuart Mill: Gesammelte Werke. Bd. 4, Aalen: Scientia-Verlag 1968, S. 241 (Bd. 3, Buch VI, Kapitel 2, Paragraph 3).

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Kapitel 5: Zur Überwindung der Zweideutigkeit der Freiheit

schrittweise erreicht worden ist, war schon von Anfang an von moralischen und rechtlichen Betrachtungen umgeben; sie konstituiert einen Wert und ein Recht (Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte). Die Befreiung schließt sicherlich den Indeterminismus in all seinen klassischen Formen aus: Freiheit der Gleichgültigkeit, freier Wille usw. Sie ist Anstrengung, um die äußeren oder inneren Hindernisse zu überwinden, und sie befindet sich immer am Ende verstandener und abgestimmter Kämpfe [luttes comprises et consenties], während die Freiheit der Gleichgültigkeit vor allem in der Nichtreduzierbarkeit des Wollens auf die Vernunft besteht, der Wahl ohne Betrachtung des Wertes; man wählt etwas oder dessen Gegenteil ohne jeden rechtfertigenden Grund. Man darf auch nicht von Wahl reden, da es ja keine Präferenz, kein Werturteil gibt. So sind die Bedeutungen, die die Befreiung umschreiben, präzisiert und umgrenzt. Sie ist Pluralität, in der die Vernunft die Leidenschaften und Instinkte dominiert, die Intelligenz den Zufall und die Kontingenz, der Wille die Neigungen und Gewohnheiten, die Anstrengung und der Kampf die Passivität und die Unterwerfung unter die Naturphänomene; am Anfang der Befreiung steht die Handlung, und die Befreiung hört 41 auf, sobald die Handlung endet. [232] Von den Freiheiten sind die einen nicht wesentlicher als die anderen – nichts ist Mittel, nichts ist Zweck. Es besteht ein notwendiges Ensemble für die Befreiung: Freiheit in Bezug auf die Natur und unsere Neigungen durch die Erkenntnis, ökonomische Freiheit, politische Freiheit, … alle bedingen einander, setzen einander voraus und gehen gleichzeitig voran. Es ist wie in einem Dreieck: Keine der Ecken ist privilegiert, da jede so notwendig ist, dass ihre Abwesenheit die Triangularität selbst ruinierte. Jede Ecke hat, geometrisch gesprochen, denselben Wert wie alle anderen. Der Vergleich mit den Freiheiten, die die unterschiedlichen „Ecken“ der Befreiung darstellen, ist daher nur berechtigt, wenn man einer jeden von ihnen eine Art von qualitativer Originalität verleiht, welche mit der gemeinsamen Eigenschaft verknüpft ist, die sie zu einem konstitutiven Faktum der Befreiung macht. Die unterschiedlichen Freiheiten sind so fest miteinander verbunden, dass keine von ihnen sich iso41 Diese Freiheiten – oder Befreiung – setzen eine nationale Unabhängigkeit und

eine wirklich demokratische Regierungsform voraus, in der die Entfaltung der einen nicht zum Schaden der anderen geschieht.

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Vierter Teil: Von den Freiheiten zur Befreiung

liert entfalten oder wachsen kann. Und wenn sich dies durch irgendeinen Zufall ereignete, gäbe es nicht mehr befreienden Fortschritt, sondern Unordnung und Konflikte. Sicher kann eine Freiheit in bestimmten Augenblicken vom Trab in den Galopp oder umgekehrt vom Galopp in den Schritt wechseln. Jede Zeit nimmt eine beherrschende Farbe an, welche der erreichte Zivilisationsgrad und den lokalen Ton erforderlich macht; zufällige Umstände können die Verwirklichung einer Freiheit verhindern (z.B. der politischen Freiheit, wenn sich das Land im Krieg befindet), aber ihr Prinzip bleibt als latenter Wert und als bewusste Realität für die unbestritten, die ihrer vorläufig beraubt sind. [233] Ein Verlust ruft andere hervor, ebenso gilt für den Fortschritt, dass ein Schritt voran den Weg für weitere öffnet. Die Suspendierung politischer Freiheiten in unruhigen Zeiten bringt eine ökonomische Kontrolle, eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Individuen mit sich … So schreiten die Freiheiten in der Praxis entweder gemeinsam voran oder machen gemeinsam einen Schritt zurück. Es gibt zu viele Ähnlichkeiten zwischen ihnen, als dass eine Isolierung möglich wäre. Die Befreiung ist der enge Zusammenschluss dieser Bündel.

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Schlussfolgerung

[237] Dass wir die Freiheit im Bergsonismus als Ausgangs- und Anhaltspunkt für unsere Untersuchungen genommen haben, hat für uns einen 1 doppelten Vorteil mit sich gebracht. Auf der einen Seite haben wir es mit einer sehr reichen und sehr nuancierten Philosophie zu tun gehabt, die, auch wenn man ihr nicht völlig anhängt, keineswegs gleichgültig lässt. Es entfaltet sich stets eine Art Sympathie zwischen Bergson und seinem Leser. Der zweite Vorteil, der sich aus unserer Wahl ergeben hat, liegt darin, dass die Bergson’schen Thesen uns die Möglichkeit gegeben haben, die Konzeption, die wir uns von der Befreiung machen, besser zu begreifen und auszudrücken. Der Bergsonismus bringt seinen Gegnern ebensoviel Nutzen wie seinen Anhängern. Er ist, um einen Vergleich wieder aufzunehmen, den wir anderswo verwendet haben, „wie das San2 delholz, das selbst den Holzfäller, der es fällt, mit seinem Duft erfüllt.“ Indem sie sich mit Thesen konfrontiert sieht, die ihr fremd, ja sogar entgegengesetzt sind, bestimmt eine Philosophie ihre eigene Architektur und wird sich sowohl ihrer Schwäche und als auch ihrer Originalität bewusst: Man setzt sich, indem man sich widersetzt, und man beweist, indem man sich selbst auf die Probe stellt [on se pose en s’opposant et on prouve en s’éprouvant]. [238] Ist die Freiheit bei Bergson für uns in gewisser Weise ein „Sprungbrett“ gewesen, so muss man noch anerkennen, dass sie ein „substanzielles“ Sprungbrett ist, wie geschaffen für einen ersten Aufschwung. Wenn es stimmt, dass eine Konzeption sich durch Widerspruch klarer ausdrückt, kann man unschwer sehen, wie sehr der Bergsonismus die Position und die Problemformulierungen der Befreiung begünstigt hat, wie wir sie verstehen. Denn der Widerspruch ist umso vorteilhafter, da er vornehmlich nicht die Tiefe betrifft, sondern die Weite – im Grunde gibt es Übereinstimmung mit graduellen Unterschieden: zwei Positionen, die sich gegenseitig voraussetzen, ohne sich auszuschließen, sogar im Gegensatz. Auf der einen Seite handelt es sich um die Interio1 2

Siehe oben, Einleitung. Vgl. Un poète marocain: Mohamed Lahbabi, in: Balkans et Proche-Orient. Revue mensuelle, politique, économique, scientifique, sociale, littéraire et artistique, Nr. 3 (1948), S. 18-19, hier: S. 19 [Es handelt sich um die Einleitung zum Gedicht „Seul“, wobei die Wiedergabe hier nicht exakt ist].

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Schlussfolgerung

rität in all dem, was sie an rein Individuellem besitzt, auf der anderen Seite geht es nicht um eine exklusive und apersonale Exteriorität, sondern um eine innerlich-äußerliche Einheit, begriffen in der Ganzheit ihrer untereinander verbundenen reziproken Konditionierungen. So gibt es eine Transpolarisation ohne Veränderung der Natur: Es ist, um die schöne Formulierung von Jean Wahl aufzugreifen, die dritte Substanz, die 3 Einheit der Seele und des Körpers. Die Bergson’sche Freiheit bewahrt ihren Ehrenplatz, verlässt aber ihre Isolierung, um in ein Ensemble von Freiheiten einzutreten, die sich zusammenschließen und einander ergänzen, wozu jede durch ihre eigene Farbgebung beiträgt. [239] In unserem Essai ist der Akzent auf diese Komplementarität gelegt worden, die eine feststehende Tatsache trotz des Gegensatzes bleibt. Das Problem, dem diese Arbeit gewidmet ist, stellt sich gerade innerhalb dieses Gegensatzes. Wir haben versucht, die Organisation der Bergson’schen Freiheit im Ausgang von ihrer Originalität darzulegen und ihren inneren Aufbau zu bestimmen – unter Weglassung all dessen, was diese Freiheit nicht ist, wir haben ebenfalls die Richtungen skizziert, in die man sich, so scheint es uns, wird orientieren müssen auf der Suche nach anderen Freiheiten, die mit der ersten das Gerüst der menschlichen Befreiung bilden. Einige werden denken, dass es von dem Moment an, da wir den Vorrang des mitzeitlichen [contemporel] Charakters der Freiheiten hervorheben, für die Theorie der Befreiung nur ein provisorisches Interesse gibt, dasjenige der Aktualität. Nun ist die Aktualität dazu bestimmt, mit den Ereignissen und Sorgen des Moments zu verschwinden. Alle aufeinander folgenden Schritte in dieser Untersuchung waren darauf ausgerichtet, zu zeigen, dass es neben der Zeitgenossenschaft [contemporanéité] oder „Mit-Zeitlichkeit“ [„co-temporalité] immer eine Anstrengung der „Verzeitlichung“ [„temporalisation“] gibt, die durch Aktualisierung der Freiheit eine fortwährend neue Dynamik einhaucht, da sie stetig den Bedingungen verbunden ist, in denen jeder Mensch leben muss, um auf dem Weg der Befreiung zu gehen. Dieser Gang setzt sich in Gesellschaft anderer fort: Die Einsamkeit befreit nicht. So stützt sich die Befreiung auf eine unauflösliche Triade: [240] Eroberung, Aktualität und Sozialleben. Sie ist konstante und erobernde Anstrengung, deren Intensität direkt vom Grad der Assimilation an die 3

Ausdruck, der auf den cartesischen Dualismus angewendet wird.

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Schlussfolgerung

jeweiligen eine Epoche charakterisierenden Bedingungen abhängt und von der Dichte der menschlichen Gruppierungen, die auf die Struktur der verschiedenen Momente dieser Epoche einwirken. Daher begreift sich der „realistische Personalismus“ als eine beständige für das Leben und die Zukunft offene Haltung, die darauf ausgerichtet ist, die Pluralismen der Rassen, der Ideologien usw., das heißt alle Divergenzen und Gegensätze zu übersteigen – als Hilfe zur Erlangung der spezifischen Einheit der Menschen. Bedeutet Philosophieren nicht, die einem Leben in menschlicher Gemeinschaft adäquatesten „Lebenswei sen“ [manières] zu entdecken, in einer Welt der Sympathie und Solidarität, die dem Realen durch eine besonders intensive Vertrautheit verbunden ist? Die Erkenntnistheorie, die in Europa seit der Morgenröte des philosophischen Denkens den Ehrenplatz besetzt, ordnet sich hier einer Weltanschauung unter, in der alles im Dienst des Menschen geschieht: Erkennen ist darauf ausgerichtet, den Menschen aufzuklären, um ihn zu erhöhen. Im Reich der Personen heißt „sich verwirklichen“, das Erkennen einzubeziehen und unterzuordnen, oder eher, die Erkenntnis allein dazu zu nutzen, zuerst zur Selbsterkenntnis und in der Folge zur Selbstanerkennung zu gelangen. Hier führt das Problem zu einer Dialektik, in der sich diese beiden Bewegungen gegenseitig und [241] kontinuierlich befruchten. Aber Sich Erkennen besteht darin, sich als das zu begreifen, was man ist, ein-Ichals-Teil-eines-Wir-in-der-Welt. Wie erreicht man das im realistischen Personalismus? Auch wenn 4 das Cogito akzeptabel ist, so erweist es sich dennoch als ungenügend. Man ist bei der Selbstoffenbarung des menschlichen Wesens zugegen, einer Offenbarung, die sich wegen des Verwandtschaftsverhältnisses mit dem Aufbau des cartesischen Cogitos von diesem doch nicht wesentlich unterscheiden lässt. An der Kreuzung großer Strömungen des modernen Denkens gelegen und an allen mehr oder weniger teilnehmend bewahrt der realistische Personalismus dennoch seine Originalität, vor allem wegen seiner Anfangsimpulse. In seiner Konzeption stellt sich die Person, durch ihre Existenz als „ekstatisches“ Wesen, das heißt in ihrem Bei-sich- und gleichzeitig Bei-den-Dingen-Sein, als eine Art Januskopf dar, welcher der 4

In De l’être à la personne haben wir diese Frage in einem längeren Abschnitt entwickelt, S. 35-48.

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Schlussfolgerung

schrecklichen Unruhe, die die Welt quält, ins Gesicht schaut und mit dem anderen Gesicht offenherzig gelassen lächelt. Philosophie der Angst, weil sie realistisch ist, und Philosophie des Optimismus, weil sie auf die Zukunft ausgerichtet ist; hoffnungsvoll, weil sie Philosophie der Handlung und vor allem junge Philosophie ist. Ist die Philosophie nicht eine fortwährende Verjüngung des Lebens, des Denkens, der Menschheit? [242] Genauer gesagt unterscheidet sich der kommunitäre Mensch vom Massenmensch. Es handelt sich genau darum, den Menschen zu repersonalisieren, ihm seine Würde und seine Berufungen bewusst zu machen, ihn gegen die Depersonalisierung zu wappnen, von der für ihn immer die beiden Gefahren ausgehen: Massenmensch zu werden oder im auf sich selbst zurückgezogenen Menschen zu versinken. Der Personalismus will ein „System“ sein, das Ereignisse genauso wie Ideen berücksichtigt, wenn nicht sogar mehr, denn die ereignishaften Erfahrungen übertreffen die Ausblicke des Geistes: Die Geschichte wird nicht konstruiert, sie geschieht, sie bringt Ideen hervor, aber unterwirft sich ihnen weder vollständig noch notwendig. Darin liegt, so scheint es uns, die Überwindung des Idealismus. Die Geschichte bietet mögliche Lesarten an und ruft Interpretationen hervor, aber alle Ideen, die sie vorspiegelt, gelten nur, vom personalistischen Standpunkt aus gesehen, in dem Maße, in dem sie (die Ideen) an einer Ausbreitung der personalen Bewusstwerdung solcher Art teilnehmen, dass man sich nicht in die Masse aufgelöst fühlt und jedes Leben einen menschlichen Inhalt zu eigen hat, welchen es anerkennt und den man ihm zuerkennt. Dadurch, dass wir sowohl die Realität als auch den Humanismus berücksichtigen, lösen wir uns vom Individualismus. Die Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Masse wurde bereits durch die französischen und deutschen Personalisten herausgestellt. Sie erhält hier eine neue Erhellung, [243] denn ich gehöre einem Volk an, innerhalb dessen diese Frage noch sehr unklar bleibt: Unser patriarchalisches Leben, das zum Herdengeist [esprit grégaire] geführt hat, überhäuft die Persönlichkeit und die Person mit vielen Überlastungen! Der realistische Personalismus wurde aus einer doppelten Kultur, der muslimischen und der westlichen, entworfen und ist aus einer doppelten Unruhe entstanden: dem Anliegen, den realistischen Geist und den Geist der Synthese in der Welt des Islam zu entwickeln bzw. wiedererstehen zu 184

Schlussfolgerung

lassen, und einen Drang [élan] zum Wir hervorzurufen, in dem das Ich 5 sich übersteigt ohne sich zu entpersonalisieren. Unter mehr als einem Aspekt zwischen zwei unterschiedlichen Gesellschaften hin und her gerissen, habe ich persönlich das „Gefühl der Leere“ erdulden müssen, ein Gefühl, das mich auf sein Gegenstück gestoßen hat: die Kommunikati6 on. Durch diese Öffnung zum anderen habe ich mich selbst wieder gefunden, ich habe die Sympathie, die Liebe usw. entdeckt, all das, was mich mit meinesgleichen verbindet und mich genau in dieser Spannung zum anderen, als kommunitäres Wesen enthüllte. In dieser Periode habe ich auch Bekanntschaft mit den Werken von Max Scheler, Emmanuel 7 Mounier, Jean Lacroix und später Paul Ludwig Landsberg gemacht. [244] Kein anderer als der „Weise von Weimar“ fasst diese Konzeption der Befreiung besser zusammen, in der das Ich und das Wir zu Einem werden. Hören wir diese Worte des sterbenden Faust: Das ist der Weisheit letzter Schluss: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss. Und so verbringt, umrungen von Gefahr, hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr. Solch ein Gewimmel möchte’ ich sehen, auf freiem Grund mit freiem Volke stehen.

5

6 7

Die Begegnung mit dem zeitgenössischen westlichen Personalismus hat uns geholfen, die Grundlagen des muslimischen Personalismus zu entdecken – oder eher: wiederzuentdecken –, dem wir eine eigene Studie widmen möchten [Mohamed Aziz Lahbabi: Le personnalisme musulman, Paris: PUF 1964, 21967 (Collection „Initiation philosophique“ 65), wieder erschienen unter dem Titel La personne en islam. Liberté et témoignage. Hg. und eingeleitet von Markus Kneer, Namur: Lessius 2015]. Diese psychische und intellektuelle Autobiographie gibt die Ausrichtung unserer Arbeit De l’être à la personne vor, vgl. besonders den 2. Teil, Kapitel 1 und 2 [S. 123-230]. Selbstverständlich könnten hier auch andere Repräsentanten des französischen Personalismus wie Henri Bartoli, Paul Ricœur, Nédoncelle usw. in Erinnerung gerufen werden.

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Bibliographie

I. Werke Bergsons Von Lahbabi verwendet nach den Angaben der Thèse complémentaire Essais sur les données immédiates de la conscience, Paris: PUF 371940 (11889) Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à l’esprit, Paris: PUF 361941 (11896) L’évolution créatrice, Paris: PUF 121941 (11907) Les deux sources de la morale et de la religion, Paris: PUF 381941 (11932) Le rire. Essai sur la signification du comique, Paris: Félix Alcan 411934 (11900) L’énergie spirituelle, Paris: Félix Alcan 31919 (11919) La pensée et le mouvant, Paris: PUF 121941 (11934) Kritische Neuedition [NE, Seitenzahlen bei Zitaten jeweils in eckigen Klammern angegeben] Essai sur les données immédiates de la connaissance. Eingeleitet von Frédéric Worms, Dossier critique v. Arnaud Bouaniche, Paris: PUF 2011 (Quadrige Grands Textes) Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à l’esprit. Eingeleitet von Frédéric Worms, Dossier critique von Camille Riquier, Paris: PUF 2012 (Quadrige Grands Textes) L’évolution créatrice. Eingeleitet von Frédéric Worms, Dossier critique von Arnaud François, Paris: PUF 2009 (Quadrige Grands Textes) Les deux sources de la morale et de la religion. Eingeleitet von Frédéric Worms, Dossier critique von Frédéric Keck u. Ghislain Waterlot, Paris : PUF 2008 (Quadrige Grands Textes) L’énergie spirituelle. Eingeleitet von Frédéric Worms, Dossier critique von Arnaud François u.a., Paris: PUF 2009 (Quadrige Grands Textes) La pensée et le mouvant. Essais et conférences. Eingeleitet von Frédéric Worms, Dossier critique von Arnaud Bouaniche u.a., Paris: PUF 2009 (Quadrige Grands Textes) Le rire. Essai sur la signification du comique. Eingeleitet von Frédéric Worms, Dossier critique von Guillaume Sibertin-Blanc, Paris: PUF 2012 (Quadrige Grands Textes) Übersetzungen [Ü, Seitenzahlen bei Zitaten jeweils in eckigen Klammern angegeben] Zeit und Freiheit. Versuch über das dem Bewusstsein unmittelbar Gegebene. Neu aus dem Französischen übersetzt von Margarethe Drewsen u. eingel. von Rémi Brague, Hamburg: Meiner 2016 (Philosophische Bibliothek 632) [Essai]

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Bibliographie

Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Neu aus dem Französischen übersetzt von Margarethe Drewsen u. eingel. von Rémi Brague, Hamburg: Meiner 2015 (Philosophische Bibliothek 664) [Matière et mémoire] Schöpferische Evolution. Neu aus dem Französischen übersetzt von Margarethe Drewsen u. eingel. von Rémi Brague, Hamburg: Meiner 2013 (Philosophische Bibliothek 639) [L’évolution créatrice] Die beiden Quellen der Moral und der Religion. Aus dem Französischen von Eugen Lerch, Frankfurt: Fischer 1992 (Copyright für dt. Ausgabe Eugen Diederichs-Verlag, Leipzig 1933) [Les deux sources de la morale et de la religion] Die seelische Energie. Aufsätze und Vorträge. Autorisierte Übersetzung von Eugen Lerch, Jena: Eugen-Diederichs-Verlag 1928 [L’énergie spirituelle] Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge. Übersetzt von Leonore Kottje, Einführung von Friedrich Kottje, Nachwort von Konstantinos Romanòs, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2008 [La pensée et le mouvant] Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen. Übersetzt von Roswitha Plancherel-Walter, Hamburg: Meiner 2011 (Philosophische Bibliothek 622) [Le rire]

II. Werke über Bergson [nach dem Literaturverzeichnis von Liberté ou libération?]

Adolphe, Lydie: La Philosophie religieuse de Bergson. Préface d’Émile Bréhier, Paris: PUF 1946 Benda, Julien: Sur le succès du Bergsonisme. Précédé d’une Réponse aux Défenseurs de la Doctrine, Paris: Mercure de France 1929. Benda, Julien: Le Bergsonisme ou une philosophie de la mobilité, Paris: Mercure de France 1932 Brunschvicg, Léon: M. Henri Bergson, in: Revue de Paris 1929, S. 671-688 Cantin, Stanislas: Henri Bergson et le problème de la liberté. Québec: Éd. de l’Université Laval (Auszug aus: Laval théologique et philosophique. Bd. 1, Nr. 1). Challaye, Félicien: Bergson, Paris: Mellottée 1929 Chevalier, Jacques: Bergson, Paris: Plon 1926 Cornu, Auguste: Bergsonisme et Existentialisme, in: L’activité philosophique en France et en Amérique. Bd. 2, Paris: PUF 1950 Gouhier, Henri: Bergson et l’histoire des idées, in: Revue internationale de philosophie (3. Jahrgang, Oktober 1949, Spezialnummer über Bergson (R.I.P.). Gouhier, Henri: Maine de Biran et Bergson, in: Les Études bergsoniennes. Bd. 1, Paris: Albin Michel, 1948, S. 129-173

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Bibliographie

Grégoire, Franz: La collaboration de l’intuition et de l’intelligence, in: Revue internationale de philosophie (3. Jahrgang, Oktober 1949, Spezialnummer über Bergson) (R.I.P.) Høffding, Harald: La philosophie de Bergson. Suivi d’une lettre de Bergson à l’auteur, Paris: Félix Alcan 1916 Husson, Léon: L’intellectualisme de Bergson. Genèse et développement de la notion bergsonienne d’intuition, Paris: PUF 1947 Hyppolite, Jean: Aspects divers de la mémoire chez Bergson, in: Revue internationale de philosophie (3. Jahrgang, Oktober 1949, Spezialnummer über Bergson) (R. I. P.) Jankélévitch, Vladimir: Bergson, Paris: Félix Alcan 1931 Jankélévitch, Vladimir: Deux philosophes de la vie: Guyau et Bergson, in: Revue philosophique de la France et de l’étranger 49 (1924) Nr. 97, S. 402-449 Lacombe, Roger: Psychologie bergsonienne: Étude critique, Paris: Félix Alcan 1933 Maritain, Jacques: La philosophie bergsonienne. Études critiques, Paris: Téqui 31948 Metz, André: Bergson et le bergsonisme, Paris: Vrin, 1933 Romeyer, Blaise: Morale et religion chez Bergson, in: Archives de philosophie 9 (1932), Heft 3 (Études d’Histoire de la Philosophie), S. 283-317 Romeyer, Blaise: La liberté humaine d’après Henri Bergson, in: Revue néoscolastique de philosophie Jg. 35, 2. Reihe (1933) Nr. 38, S. 190-219 Thibaudet, Albert: Le bergsonisme. 2 Bde., Paris: Gallimard 21923 (Trente ans de vie française 3) Tonquédec, Joseph de: Sur la philosophie bergsonienne, Paris: Beauchesne 1936

III. Zusätzliche Literatur [nach dem Literaturverzeichnis von Liberté ou libération?]

Um diese Liste zu verkürzen nehmen wir nicht mehr die Werke allgemeiner Natur auf, die bereits in Fußnoten erwähnt sind. Wir zeigen dennoch an: Alain [Chartier, Émile-Auguste]: Système des Beaux-Arts, Paris: Gallimard 1926 Aristoteles: Politik Bachelard, Gaston: Le nouvel esprit scientifique, Paris: PUF 1946 Benrubi, J.: Les sources et les courants de la philosophie contemporaine en France. 2 Bde., Paris: Félix Alcan 1939 Bréhier, Émile: Histoire de la philosophie, Paris: Félix Alcan, 1928-1929 Bréhier, Émile: La philosophie et son passé, Paris: Félix Alcan 1940 Descartes, René: Discours de la Méthode. Hg. u. kommentiert von Etienne Gilson, Paris: Vrin 1930 Dufrenne, Mikel: La notion de personnalité de base et son contexte dans l’anthropologie américaine, Paris: PUF 1953

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Bibliographie

Engels, Friedrich: Dialectique de la nature. Übersetzt von Denise Naville. Vorwort, Einleitung und Anmerkungen von Pierre Naville, Paris: Marcel Rivière 1950 Freud, Sigmund: Psychologie collective et analyse du moi, Paris: Payot 1924 Gouhier, Henri: La philosophie et son histoire, Paris: Vrin 1944 Gurvitch, Georges: Éléments de sociologie juridique, Paris: Aubier-Montaigne 1940 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: La phénoménologie de l’esprit. Übersetzt von Jean Hyppolite. 2 Bde., Paris: Aubier-Montaigne 1941 Høffding, Harald: La pensée humaine, ses formes et ses problèmes. Übersetzt von Jacques de Coussange, Paris: Félix Alcan 1911 Kojève, Alexandre: Introduction à la lecture de Hegel, Paris: Gallimard 1947 Koyré, Alexandre: Introduction à la lecture de Platon. New York: Brentano’s 1945 Koyré, Alexandre: Entretiens sur Descartes, New York: Brentano’s 1944 Lacroix, Jean: Verschiedene Werke und Artikel Merleau-Ponty, Maurice: La structure du comportement, Paris: PUF 1942 («Bibliothèque de Philosophie contemporaine») Mireaux, Émile: Les poèmes homériques et l’histoire grecque. 2 Bde., Paris: Albin Michel 1948-1949 Mounier, Emmanuel: Verschiedene Werke und Artikel Pirou, Gaëtan: Traité d’économie politique, Paris: Sirey, 1941 Proudhon, Pierre-Joseph: Œuvres complètes. Neuedition hg. von C. Bouglé u. H. Moysset, Paris: Marcel Rivière 1923 Sartre, Jean-Paul: L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris: Gallimard 1948 Schuhl, Pierre-Maxime: Platon et l’Art de son temps (arts plastiques), Paris: PUF 21952 Schuhl, Pierre-Maxime: Machinisme et philosophie, Paris: PUF 21947 Waelhens, Alphonse de: La philosophie de Martin Heidegger, Louvain: Institut supérieur de philosophie 1942 Wahl, Jean: La situation présente de la philosophie française, Paris: PUF 1950 Wahl, Jean: Tableau de la philosophie française, Paris: Fontaine 1946 Wahl, Jean: Études kierkegaardiennes, Paris: Aubier-Montaigne 1938

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Supplement Die Befreiungsphilosophie ist weder idealistisch noch materialistisch [bisher unveröffentlicher Paragraph aus der Thèse complémentaire]

Es handelt sich bei der folgenden Übersetzung um § 5 des vierten Kapitels der Thèse complémentaire, der nicht Eingang in das später veröffentlichte Buch gefunden hat. Da dieser Paragraph eindrücklich Lahbabis Positionierung im Spannungsfeld Idealismus–Materialismus zeigt, der im Kontext der arabisch-islamischen Philosophie eine gewisse Originalität besitzt, wird er hier wiedergegeben. Die Seitenzahlen in eckigen Klammern beziehen sich auf das Original der Thèse complémentaire.

Die Befreiungsphilosophie ist weder idealistisch noch materialistisch [160] Sich anzupassen bedeutet, die Zahl der Bedrohungen einzudämmen, welche das Engagement im Leben mit sich bringt, bedeutet, die Feindschaften gegenüber dem, was „ist“, zu reduzieren im Hinblick auf die Realisierung dessen, was man daraus machen „kann“. Man passt die Natur nicht an, wenn man sich zuvor nicht selbst an sie angepasst hat; aber uns anzupassen ist etwas anderes als uns der Knechtschaft der Dinge auszuliefern. Wir sind weder Sachen noch Rädchen. „Die Ausbeutung der Natur ist nicht dadurch bestimmt, ein Netz aus Determinismen mit einem Netz aus bedingenden Reflexen zu verbinden, sondern der schöpferischen Freiheit einer immer größeren Zahl von Menschen die höchsten Möglichkeiten der Humanität zu eröffnen. Die Kraft der personalen Bejahung zerbricht das Hindernis und bahnt den Weg. Daher muss sie die Natur als Gegebenes verneinen und als Werk bejahen. (…) Dann wird 1 die Zugehörigkeit zur Natur zur Beherrschung der Natur.“ Das ist der berühmte Gedanke von Francis Bacon: der Natur gehorchen, um sie zu beherrschen. Ob wir nun für unsere Existenz vollkommen verantwortlich sind oder nicht, unbezweifelbar ist, dass wir dafür verantwortlich sind, was wir aus dieser Existenz machen. Unserer Übernahme von [161] Eigenverantwortung und von Verantwortung für die Welt entspricht eine ganze Palette von Verhaltensweisen. Der Gläubige kann ein Resignierter 1

Emmanuel Mounier: Le personnalisme, Paris PUF 1949 (Que sais-je?), S. 29-30 [Ders.: Le personnalisme, in: Ders.: Œuvres. Bd. 3, Paris: Seuil 1962, S. 427-525, hier S. 447-448].

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Supplement 2

sein, der Existentialist ein Rebell, der Marxist ein Determinist. Und jede dieser Verhaltensweisen untersteht einer anderen Philosophie. Die Resignation beruft sich auf einen Glauben an eine transzendente und allwissende Kraft, die die Welt gemäß ihrem eigenen Wollen beherrscht. Der existentialistische Rebell fühlt sich in jedem seiner Akte im Prozess der Neubildung und seine gegenwärtige Freiheit stellt immer wieder die Natur in Frage, die er erworben hat. Das Vergangene ist unser einziges Wesen und unsere einzige Natur; und doch ist es das, was es in uns an Tod gibt. Aber wir nehmen uns nur ganz an, wenn wir uns auf das Nichts beziehen (Sartre). Die Welt hat keinen anderen Sinn als den, den ihr jeder für sich individuell in jedem Moment durch sein Projekt gibt. Der Marxist bezieht sich auf die Geschichte. Er geht von der Conditio humana aus, die er ändern will: Er ist Revolutionär. Der Weg der Menschheit bietet ihm seinen rationalen Anhaltspunkt. Also drei unterschiedliche Positionen: die subjektive Position, die sich auf übernatürliche Kräfte stützt, welche die Quelle jeder menschlichen Freiheit wären; die subjektive Position, die es dem Individuum überlässt, in jedem Augenblick sein Wesen zu wählen und sein Schicksal zu verwirklichen; schließlich die objektive Position, die eine sich nach „Gesetzen“ richtende anhaltende Entwicklung verfolgt. Die erste Position, d. h. diejenige der Gläubigen, nimmt uns dadurch, dass das Übernatürliche in den Lauf der Welt und unser Verhaltensweisen eingreift, die [162] Autonomie unserer Akte und mindert den Anteil des Menschen an der „menschlichen“ Freiheit. Der Existentialismus, besonders derjenige Sartres, schließt durch die sich immer erneuernde Wiedererschaffung, den Bezug auf das Nichts und die Ablehnung von Voraussagen die Türen vor unserer Vernunft, eingeschlossen der Sicherheitstür, und wirft uns in eine eher anarchistische denn freie Welt. Der Marxismus scheint einen solideren Ansatzpunkt zu haben. Nur die Geschichte stellt sich als ein unpersönliches Wesen sui generis vor, welches den Menschen in die Zeit einbindet, aus der er nicht entkommen kann und welche er nicht zu beherrschen vermag. Die Gesellschaft wiederum scheint den Individuen mehr oder weniger äußerlich zu sein. Aber durch eine lange Reflexionsarbeit und infolge vielfältiger Erfahrungen gelangt der Mensch zu der umgekehrten Einsicht, in der sozialen Zugehörigkeit nicht mehr eine Entfremdung oder einen Zwang zu sehen, sondern ein Mittel der Befrei2

Resignation wird hier im Sinne einer aktiven Annahme des Einverständnisses verstanden.

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Supplement

ung des Individuellen. Andererseits kann die zeitliche Macht der Geschichte nicht das unveräußerliche Bedürfnis des Menschen stillen, vor der Notwendigkeit dieser schweren Momente, wo alles im Leben sich gegen uns zu verschwören scheint, wo wir uns vom Schicksal „im Stich gelassen“ und durch die Gegebenheiten der Geschichte „notwendigerweise“ verdammt fühlen, die Schultern zu zucken. Was tun? Wie dem entkommen? Alle Prognosen stimmen darin überein, dass die Situation ernst und ausweglos ist. Anstatt uns aber der Verzweiflung hinzugeben und zum Selbstmord zu entschließen, bieten wir der Notwendigkeit die Stirn durch das intime Vermögen der Distanzierung und der Weigerung, welches sich im Zweifel ausdrückt. Der Zweifel ist [163] der Ausdruck der Subjektivität, wo ich „nichtrationale“, gelegentlich irrationale Gründe des Hoffens finde, der Vernunft zum Trotz und gegen die Prognosen und die Notwendigkeit. So lösen sich viele verzweifelte Situationen auf unvorhergesehene und oft unvorhersehbare Weise. Der ins Extreme getriebene Determinismus grenzt an den Mechanismus. Es handelt sich keineswegs um die falsche Hoffnung des Träumers, des Betrunkenen oder des Drogenabhängigen, die den Kampf aufgegeben haben und die Entfremdungen im Traum, im Alkohol und im Betäubungsmittel zu vergessen suchen. Es ist auch nicht die ungerechtfertigte Hoffnung, die auf der blinden Unterwerfung und der Abdankung zugunsten des Fatalismus gründet, wie es gewisse religiöse Sekten wollen. Es ist auch nicht die Zuflucht in das Ewigkeitsgefühl, das nach dem Personalismus die Geschichte über die Zeitlichkeit hinaus verlängerte (Jean Lacroix). Es handelt sich im Gegenteil um alles andere als eine Flucht: Vertrauen in den Menschen bewahren trotz der Ereignisse und der Verschwörung des Schicksals. Das ist das Einverständnis zwischen Arzt und Krankenschwester, ihre Arbeit fortzusetzen trotz der Ansteckungsgefahr; die Ergebenheit [résignation] derjenigen, die eine große Operation über sich ergehen lassen, und ihr Glaube an die Zukunft. In dieser Familie der Antriebskräfte [élans] muss man ohne Zweifel auch den Ursprung des Muts all derjenigen Forscher suchen, welche zahlreiche Risiken auf sich nehmen in der Hoffnung, zu Ergebnissen zu gelangen, die nicht notwendigerweise gewiss sind. Also weit davon entfernt, ins Transzendente zu flüchten, transzendiert man das Gegenwärtige, ohne ihm die Virulenz zu nehmen, um den Kampf besser fortsetzen zu können. Die Befreiung ist keine Anarchie; frei zu sein [164] bedeutet aber auch nicht, zu unfreiwilligen Arbeiten einer unwiderruflichen Geschichte verdammt zu sein. Wie Mounier sagt: „Wir 192

Supplement

können nicht sein ohne anzunehmen, und wir sind nicht ohne Hoffen 3 und Wollen.“ Anstatt den Schwung [élan] aus dem Übernatürlichen abzuleiten, wie es gewisse Personalisten möchten, muss dessen Ursprung im Menschen verortet werden, in diesem Menschen, der hoffen kann und der, wenn es sein muss, starren Notwendigkeiten die Stirn bieten kann. So dispensiert uns die Psychologie von der Eschatologie und der Theologie. Ebenso nimmt der Begriff der Transzendenz hier eine humanistische und etymologisch anschauliche Bedeutung an: Der Mensch ist es, der sich erhebt und überschreitet. Im Gegensatz dazu stellen die Personalisten, die von einer „ewiglichen“ [éternitaire] Interpretation des Menschen ausgehen, die Transzendenz in den Übergang vom Zeitlichen zum Ewigen, obwohl es möglich ist, in ihr eine Projektion des Subjekts in die Zukunft zu sehen, ohne das Zeitliche zu verlassen. Ein typisches Beispiel der Überschreitung des Gegebenen – ohne jedoch die Ebene des experimentell Wirklichen zu verlassen –, wird uns durch die Ästhetik zur Verfügung gestellt. Die Zeit kann der wahren Schönheit in der Kunst nichts anhaben, weil die Kunst an von ihr unabhängige Normen gebunden ist und die Individualität des Künstlers übersteigt, andernfalls könnte man nicht mehr Omar Khayyam, Dante und Goethe noch Leonardo da Vinci, Beethoven oder Rodin schätzen. Der Künstler erschafft nicht das Schöne, er drückt es aus: Die Schönheit, die wir an einem Ding bewundern, ist nicht eine [165] bloße intuitive Anordnung der Teile dieses Dings, es ist der Widerschein einer überindividuellen Idee. So ist das, was wir wirklich in der Sinnenwelt bewundern, dasjenige, worauf wir durch eine notwendige Dialektik zurückgeworfen sind, die die Ordnung von der Unordnung, das Kohärente vom Unförmigen, dasjenige, was eine Bedeutung hat, von demjenigen, was unsinnig ist, trennt. Natürlich schaffen es nicht alle Menschen, sich oder die Welt zu überschreiten, die sie von allen Seiten überflutet. Da sie sich nicht effektiv an den Rhythmus ihrer Zeit anpassen können, verlieren sie die Herrschaft über ihr Schicksal. Dann wohnt man dem Drama eines kranken Menschen in einer „zerbrochenen“ Welt bei und sieht überall „Götter, die dürsten“. Die Tragik der Unausgeglichenheit. Der verfluchte Einsame der durch den Existenzialismus entdeckten absurden Welt ist, obwohl er mu3

Emmanuel Mounier: Qu’est-ce que le personnalisme?, Paris: Seuil 1947, S. 27 [Ders.: Qu’est-ce que le personnalisme?, in: Ders.: Œuvres. Bd. 3, Paris: Seuil 1962, S. 177-245, hier S. 192].

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Supplement

tig seine Lage akzeptiert, nicht der Held eines realistischen Personalismus, der nicht nur in großartiger Weise sein Schicksal annimmt, sondern der es beherrscht und verändert. Der geschwächte und verfluchte Mensch des Existenzialismus wird im Personalismus Mouniers und Jean Lacroix’ ein optimistischer Held. Ohne sich die Welt in der Weise der Idealisten zu erträumen, stellt sich dieser Held weniger als ein guter, großzügiger und von guten Vorsätzen angetriebener Abenteurer vor, sondern als jemand, der gewissermaßen verwirrt: Ein Ritter, der gleichzeitig den gesunden Menschenverstand des Sancho Pansa und den träumerischen Geist des Don Quichotte verkörpert. „Es gibt keine Menschheit, wenn es kein menschliches, und immer offenes, Abenteuer gibt. (…) Der gnädigste Willen des Monarchen ist das Dekret der [166] Geschichte geworden (…): Es hat sich nichts geändert, außer dass der nur auf einen Menschen mögliche Rückbezug in Hinblick auf ein System nicht mehr 4 möglich ist.“ Mounier übernimmt so auf seine Weise den desillusionierten Geist des existenzialistischen Rebellen. Es gibt genügend Abenteuer, aber in der Geschichte. Die Verdammung des Determinismus und die Reduktion der Bedeutung der Aufklärung, welche der menschliche Geist in die Ereignisse einträgt, bedeutet auch, die Möglichkeiten der Menschen zu reduzieren. Mounier sagt etwas später: „Unser Schicksal ist es, in der Geschichte voranzugehen und Geschichte zu machen, auch in einer ewigen Perspektive, in der alles menschliche Arbeiten [tout le labeur hu5 main] sein höchstes Ziel jenseits seiner selbst hätte.“ Dieses zweite Zitat führt als Korrektur des ersten (Zugeständnis des aktiven Engagement in den historischen Situationen: ein Punkt, über den vollkommene Übereinstimmung mit Mounier herrscht) ein neues Element ein: nämlich, dass das Werk den Arbeiter transzendiert. Dagegen wurde in dieser Untersuchung der Akzent auf die Tatsache gelegt, dass der Mensch sich in und durch seine Werke übersteigt. [167] Ganz im Austausch mit den großen Strömungen des modernen philosophischen Denkens neigt die Philosophie der Befreiung weder übermäßig der Seite des Objekts noch der des Subjekts zu. Sie versteht sich als ein dialektischer Überstieg der Subjekt-Objekt-, Materie-Geist-Antinomien usw. und der Kausalität-Werte-, Quantität-Qualität-Oppositionen usw. Sie ist der Schmelztiegel, in dem das Innere und Äußere mit ihrem unendlichen Massen- und Formenreichtum zusammenschmelzen. Sie ist 4 5

Mounier: Qu’est-ce que le personnalisme? S. 222. Mounier: Qu’est-ce que le personnalisme? S. 242.

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Supplement

auch gleichweit vom mechanistischen Materialismus wie vom dogmatischen Idealismus entfernt. Eine umfassende und offene Philosophie. Sie nimmt die Idee des Verhaltens auf – wird aber nicht zu einem behavioristischen Materialismus. Sie lehnt es in gleicher Weise ab, den Tendenzen eines Kierkegaards zu folgen, der aus dem Subjekt etwas Unaussprechliches, Unqualifizierbares macht. Das cartesische Cogito, so behauptet Kierkegaard, entspricht nicht der Realität des Existenten: Je weniger ich denke, desto weniger existiere ich. Der Mensch Kierkegaards ist das Geheimnis. So fällt man ins andere Extrem: Keine Philosophie ist mehr möglich, keine systematische Studie hat mehr Sinn. Es genügt, sich auf sich selbst zurückzuziehen und über die eigene Existenz nachzudenken. So sieht man, in welchen Grenzen sich eine Philosophie der Befreiung bewegt. Anpassungsfähig und nuanciert wie das Wirkliche, an dem sie sich ausrichtet, ist sie konkret – als Summe der menschlichen Errungenschaften – und wie der Mensch im Werden. Wenn sie die kontextuellen Bedingungen betrachtet, löst sie die Originalität, die aus jeder möglichen Kombination dieser Bedingungen [168] – welche ihrem Wesen gemäß den Rahmen ihrer Bewegungen selbst überschreiten – entsteht, nicht auf. Es gibt die Konditionierungen und es gibt die Realität des Konditionierten. Eine Philosophie der Befreiung wird versuchen, die Gesamtheit der Ersten in den Dienst der Zweiten zu stellen. Sicher soll man nicht die Augen vor den sozialen Anforderungen verschließen, aber man soll ihnen nicht die Rechte des Geistes opfern. Dies ist die Position, die aus der Philosophie der Befreiung eine realistische, aber undogmatische Philosophie macht: ein realistischer Personalismus. Es ist die Gesamtheit der Untersuchungen über den sich in der Geschichte verwirklichenden Menschen, mit denen der realistische Personalismus die Situationen erfasst, ohne sich völlig darauf zu reduzieren. Der Mensch erlebt das Ereignis, aber er besteht nicht aus reinen Ereignissen. In dem Maße, in der die Anstrengungen als Operationen in erster Person aufgefasst werden, die vom „Ich“ untrennbar sind und sich in einer Atmosphäre der Menschlichkeit bekunden, humanisiert sich alles – die Natur und die Gerätschaften – welche die Zivilisation hervorbringt, beim Kontakt mit uns. Indem sie Wege sucht, das Vermögen des Menschen so zu steigern, dass davon sowohl seine Gedanken und als auch seine Handlungen genährt werden, erweist sich die personalistische Philosophie als realistisch und kann auf den Titel Befreiungsphilosophie Anspruch erheben. 195

Nachwort des Übersetzers

Der Text des Buches Liberté ou liberátion? (A partir des libertés bergsoniennes), der im Verlag Aubier-Montaigne im Jahr 1956 erschienen ist, basiert auf der Thèse complémentaire pour le Doctorat ès Lettres présentée devant la Faculté des Lettres de l’Université de Paris par Mohamed Lahbabi (im Folgenden abgekürzt mit TC), die unter dem Titel Liberté ou Libération? (Essai critique sur la liberté bergsonienne) 1952 an der Sorbonne vor1 gelegt wurde. Das Vorwort der TC beginnt mit dem Satz „Le présent texte est la troisième partie d’un ensemble sur la liberté-libération auquel 2 un travail ultérieur sera consacré.“ Es ist zu vermuten, dass es sich bei einem der weiteren Teile um die Thèse principale De l’être à la personne. Essai d’un personnalisme réaliste handelt. Unklar ist, um was es sich bei dem verbleibenden Teil handeln könnte. Es ist zu vermuten, dass Lahbabi mit der „späteren Arbeit“ den vorliegenden Text von 1956 meint. Lahbabi hätte auch schreiben können, dass er das Manuskript der TC mehrmals überarbeitet und bei den Gutachtern eingereicht hat, wie Gouhier berichtet: „Unglücklicherweise ist Herr Lahbabi Opfer einer ersten Redaktion geworden, die mir im März 1951 vorgelegt wurde: Ein ausladendes Manuskript, dessen Anlage zwangsläufig Wiederholungen beinhaltete und in dem alle Lesestoffe wahllos durcheinander liefen. Das verbesserte Manuskript vom April 1952 zeigte einen beachtlichen Fortschritt. Um jedoch ein dem Inhalt würdiges Werk zu erhalten, war es nicht nur notwendig, den Umfang zu beschneiden, sondern das gesamte 1

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Vgl. das Typoskript mit der Signatur 4-Z Wahl-94, das in der französischen Nationalbibliothek (Site François Mitterand) einsehbar ist. Die Zugehörigkeit zum Fonds Jean Wahl weist darauf hin, dass Jean Wahl, Professor für Metaphysik an der Sorbonne und Autor einiger einflussreicher philosophischer Werke wie Vers le concret, in das Promotionsverfahren Lahbabis eingebunden war. Dafür spricht auch, dass sich die Thèse principale ebenfalls im Fonds Wahl findet und dass sich in beiden Texten handschriftlich eingebrachte kurze Notizen, Korrekturen und Unterstreichungen finden, die aller Wahrscheinlichkeit nach von Jean Wahl stammen. Im Folgenden wird diese Version mit TC (= Thèse complémentaire) abgekürzt. Vgl. auch die an den Dekan der Faculté des Lettres gerichtete gutachterliche Stellungnahme von Jean Wahl zur Thèse principale vom 20. Mai 1952 im französischen Nationalarchiv Pierrefitte-sur-Seine (Dokument AJ/16/7094). TC, S. 1: „Der vorliegende Text ist der dritte Teil eines Ensembles über die Freiheit-Befreiung, dem eine spätere Arbeit gewidmet wird.“

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Nachwort des Übersetzers

Dokument einer erneuten Redaktion zu unterziehen. Deshalb habe ich Herrn Lahbabi eine zweite Verschiebung und die folgende Lösung vorgeschlagen: Unter der Voraussetzung, dass die Lehre Bergsons bekannt ist, 3 soll er den persönlichen Teil seiner Arbeit beibehalten …“. Es ist also davon auszugehen, dass uns dieser Interpretationsteil im Buch von 1956 vorliegt. Für die Drucklegung wurden von Lahbabi neben der Veränderung des Untertitels und der Gliederung einige Änderungen am Text vorgenommen. An vielen Stellen handelt es sich um sprachliche Adjustierungen, die keine wesentlichen inhaltlichen Veränderungen bedeuten. Darüber hinaus werden in den Text noch zusätzliche Reflexionen eingebracht, die sich auf die Bedeutung der Arbeit für den Prozess der Person4 werdung und Befreiung beziehen. Ein Kapitel erscheint in der späteren Druckversion nicht: der Paragraph 5 des vierten Kapitels mit dem Titel 5 La philosophie de la libération n’est ni idéalisme ni matérialisme. Ansonsten führt Lahbabi in der TC die von ihm verwendeten Ausgaben der Werke Bergsons im Literaturverzeichnis auf, was er in der gedruckten Version unterlässt. Weiter wurden dem Literaturverzeichnis einige Titel hinzugefügt, die entweder neuere Literatur zu Bergson bzw. die schon angesprochene Reflexion über das Thema „Arbeit“ betreffen. Liberté ou libération? (A partir des libertés bergsoniennes) erlebte in den 1970er Jahren eine zweite, unveränderte Auflage, die von der Société 6 Nationale d’Edition et de Diffusion in Algier besorgt wurde. Ein biographischer Grund wird hier eine entscheidende Rolle gespielt haben: Lahbabi lehrte von 1969 bis 1974 in Algerien und baute in dieser Zeit das 3 4

5 6

Gouhier: Dokument AJ/16/7094, S. 2. Vgl. dazu auch oben Freiheit oder Befreiung?, S. [10]. Hier kann diese Einarbeitung nicht im Einzelnen nachvollzogen werden, auffällig ist jedoch, dass Lahbabi für seine Reflexionen in extensiver Weise auf katholische Sozialphilosophen zurückgreift, die sich mit der Frage der Arbeit auseinander gesetzt haben, besonders mit der Lyoneser Schule (Joseph Vialatoux, Jean Lacroix u.a.). Auch der von diesen stark frequentierte französische Genossenschaftstheoretiker Pierre-Joseph Proudhon wird gewürdigt. „Der realistische Personalismus ist weder Idealismus noch Materialismus.“ Die Übersetzung dieses Kapitels findet sich im Supplement im Anschluss an die Bibliographie. Vgl. Lahbabi, Mohamed Aziz: Liberté ou libération? (A partir des libertés bergsoniennes), Algier: Société Nationale d’Édition et de Diffusion 2o.J. Die französische Nationalbibliothek (Site François Mitterand) gibt als Erscheinungsjahr 1974 an, worauf auch die Kennziffer: „No. Edition 375/74“ hindeutet.

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Nachwort des Übersetzers

dortige Hochschulwesen mit auf. Die dritte, ebenfalls textlich unveränderte Auflage (mit aktualisierter Bibliographie Lahbabis) erschien im 7 Jahr 1989 in Marokko. Hier ist der Kontext die Nominierung Lahbabis für den Literaturnobelpreis, deretwegen eine ganze Reihe seiner Werke noch einmal veröffentlicht wurden. Viele der philosophischen Werke, die Lahbabi zuerst in französischer Sprache veröffentlicht hatte, wurden von ihm später ins Arabische übertragen. So auch Liberté ou libération?. Die arabische Version erschien 1972 unter dem Titel Min al-ḥurrīyāt ilā t-taḥarrur (Von den Freiheiten 8 zur Befreiung) beim Verlag Dār al-Maʿārif in Kairo. Neben der Änderung des Titels, einem neuen Vorwort und einer überarbeiteten und erweiterten Einleitung und Konklusion wurde der Übersetzung ein Kapitel mit der Überschrift al-Ḥurriyya wa d-dīmuqrāṭiyya (Die Freiheit und die De9 mokratie) vorangestellt. Was Margarethe Drewsen in Bezug auf die Neuübersetzungen der Werke Bergsons schreibt, gilt in weiten Teilen auch für das vorliegende 10 Werk, das sich an der Terminologie Bergsons abarbeitet: Agir und action umfassen das Bedeutungsspektrum von „handeln, Handlung, wirken, Wirkung“ und werden so entsprechend dem jeweiligen Kontext übersetzt. Acte wird in der vorliegenden Übersetzung mit „Akt“ wiedergegeben, effort weitgehend mit „Anstrengung“, élan vital als „LebensDie einzige Änderung ist eine neue Setzung des Textes, was veränderte Seitenzahlen zur Folge hat, und besagter Anhang mit der Bibliographie des Autors (S. 201-203). Vgl. Lahbabi, Mohamed Aziz: Liberté ou libération? (À partir des libertés bergsoniennes), Paris-Rabat: Montaigne-OKAD 1989. 8 al-Ḥabābī, Muḥammad ʿAzīz [Mohamed Aziz Lahbabi]: Min al-ḥurrīyāt ilā ttaḥarrur. Kairo: Dār al-Maʿārif 1972 (Maktabat ad-dirāsāt al-falsafiyya). Das Vorwort von Maurice de Gandillac wurde nicht in die arabische Version aufgenommen. 9 Vgl. ebd., S. 15-53. In der vorliegenden Übersetzung wurde von der Aufnahme dieses Kapitels abgesehen, da es in der philosophischen Stringenz von der ursprünglichen Version abfällt. Die Ergänzung dieses Kapitels in der arabischen Version ist sicherlich auch vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Maghrebstaaten in den 1960er und 1970er Jahren zu betrachten. War das Jahr der Erstveröffentlichung der französischen Version zugleich das der Unabhängigkeit Marokkos, so erlebte das Land ab Mitte der 1960er Jahre schwere politische Krisen. Algerien, das 1962 unabhängig geworden war, hatte sich einem sozialistischen Staatsmodell zugewandt und steuerte mit Marokko auf die Krise um die Westsahara zu. 10 Vgl. Drewsen, Margarethe: Nachwort der Übersetzerin, in: Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 307-316. 7

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Nachwort des Übersetzers

schwung“. Manches Mal steht der französische Begriff zur Präzisierung in eckigen Klammern hinter dem deutschen Übersetzungsvorschlag. Hingewiesen sei auch auf Lahbabis spezifische Verwendung von Begriffen, die bei ihm eine zentrale Rolle spielen: So verwendet er für die Hinwendung zum Du, zur Gemeinschaft, im künstlerischen und arbeitenden Engagement das Substantiv dépassement bzw. das Verb dépasser, was sehr häufig mit „Überstieg, übersteigen“, manchmal auch mit „Überwindung, überwinden“ übersetzt wurde. Dépassement/dépasser stehen in besonderer Nähe (bis zur Bedeutungsgleichheit) mit transcéndance/transcender. Diese Nähe zeigt für die beiden letzteren auch an, dass sie im rein horizontal-immanenten Sinn von Lahbabi gebraucht werden, nie zur Bezeichnung einer jenseitigen Transzendenz. Ein weiterer von Lahbabi sehr spezifisch gebrauchter Begriff ist das en train de, das sich am besten mit „im Begriff sein (etwas zu tun)“ übersetzen lässt. Dieser Terminus gibt Lahbabi die Möglichkeit, die Dynamik, Offenheit und Unabgeschlossenheit einer Handlung zu bezeichnen im Gegensatz zum tout fait. In diese Richtung geht auch seine häufige Benutzung von devenir (werden, sich entwickeln). Das Wort changement wird mit „Veränderung“ übersetzt, d.h. es wird verwendet wie bei Bergson. Zentral ist auch die Bezeichnung der Alterität: Allerdings schwankt hier Lahbabi zwischen autre (andere/anderer) und autrui (anderes/anderer), was zum einen vielleicht noch eine gewisse Unentschiedenheit bedeutet, andererseits Andersheit nicht nur in Personen, sondern auch in gegebenen Gegenständen wahrnimmt, die das Ich nicht gänzlich aus sich heraus konstituieren kann. Selbstverständlich habe ich mich bemüht, alle in Liberté ou libération? verwendeten Zitate zu überprüfen bzw. ausfindig zu machen. Dabei habe ich auch gegebenenfalls Hinweise auf neuere Ausgaben der zitierten Werke bzw. deutsche Übersetzungen angeführt. Diese Hinweise finden sich zum überwiegenden Teil in eckigen Klammern. Ebenfalls in eckigen Klammern findet man die Seitenzahlen der französischen Originalausgabe von 1956 (worauf sich auch die Seitenangaben im Personenregister beziehen), um einen schnellen Vergleich zwischen Original und Übersetzung zu ermöglichen. Das abschließende Glossar vermittelt einen Eindruck, wie intensiv Lahbabi an der Übertragung von Begriffen aus dem Französischen ins 11 Arabische arbeitete. Dabei fällt auf, dass er uns in Min al-ḥurriyāt ilā 11 Vgl. Min al-ḥurrīyāt ilā t-taḥarrur, S. 225-228.

199

Nachwort des Übersetzers

t-taḥarrur einen großen Teil der zentralen Termini Bergsons wie z.B. durée (Dauer), élan (Schwung) und intuition (Intuition) vorenthält. Der Grund dafür liegt wahrscheinlich in der Tatsache, dass er einen Großteil der Terminologie Bergsons schon in dem Glossar wiedergibt, das er der 12 arabischen Version von De l’être à la personne angefügt hat. Dort findet man auch jene von Lahbabi verwendeten arabischen Termini, die den oben genannten Zentralbegriffen der Bergson’schen Philosophie entsprechen. Die vorgelegte Übersetzung beruht also auf dem Text von 1956, der bei Aubier-Montaigne erschienen ist. Ergänzt wird sie hier durch ein Supplement, nämlich das bisher unveröffentlichte Kapitel aus der TC; und zum anderen durch das (nun dreisprachige) Glossar aus der arabischen Version. Allerdings habe ich mir erlaubt, anstatt des Untertitels von 1956 denjenigen der TC zu übernehmen, da er mir nach wie vor zutreffend erscheint. Lahbabis Buch ist Ein kritischer Versuch über die Freiheit bei Henri Bergson.

12 Vgl. al-Ḥabābī, Muḥammad ʿAzīz [Mohamed Aziz Lahbabi]: Min al-kāʾin ilā

š-šaḫṣ. Dirāsāt fī š-šaḫṣāniyya al-wāqiʿiyya, Kairo: Dār al-Maʿārif 1962 (Maktabat ad-dirāsāt al-falsafiyya) (Vom Sein zur Person. Studien über den realistischen Personalismus), S. 149-165.

200

Anhang Glossar

Glossar (französisch-deutsch-arabisch) der philosophischen Terminologie Lahbabis (auf der Grundlage des Glossars der arabischen Version von Liberté ou libération?) actualisation – Aktualisierung – taḥayyun – ُ‫تحيّن‬ actualiser – aktualisieren – ḥayyana – َُ‫حيّن‬ َ sʼactualiser – sich aktualisieren – taḥayyana – َُ‫حيّن‬ َ َ‫ت‬ adéquation – Übereinstimmung, Entsprechung – tanāsub, mulāʾama – ‫ ملءامةة‬,‫تناسب‬ affinité – Affinität – taǧānus – ‫تجانس‬ ajustement – Anpassung, Zusammenfallen – tawāfuq – ‫توافق‬ anormal – anormal, unrichtig – lā sawiyy, šāḏḏ – ‫ شاذ‬,‫ل سوي‬ antithèse – Gegenteil, Antithese – naqīḍ al-uṭrūḥa, ṭibāq – ‫ طاباق‬,‫نقيض الطاروحة‬ a priori – apriorisch – qablī – ‫قبلي‬ apriorisme – Apriorismus – qabliyya – ‫قبلية‬ assertion – Behauptung – qaula – ‫قولة‬ autonomie – Eigenständigkeit, Autonomie – istiqlāl ḏātī – ‫استقللا ذاتي‬ causéité – Ursächlichkeit – maʿlūliyya – ‫معلولية‬ choséité – Dinglichkeit – shaiʾiyya – ‫شيئية‬ chosifier – verdinglichen – shayyaʾa – ‫شيّأ‬ communauté – Gemeinschaft – maʿshar – ‫معشر‬ conscience morale – Gewissen – ḍamīr – ‫ضمير‬ conscience psychologique – Bewusstsein – wiǧdān, shuʿūr – ‫ شعور‬,‫وجدان‬ conscience de soi – Selbstbewusstsein – waʿy – ‫وعي‬ coexistence – Koexistenz – tawāǧud – ‫تواجد‬ délaissement – Verlassenheit, Getrenntheit – ihmāl, haǧr – ‫ هجر‬,‫إهمالا‬ dépasser – übersteigen, überwinden – taǧāwaza – ‫تجاوز‬ le devenir – das Werden – aṣ-ṣairūra – ‫الصيرورة‬ eclectisme – Eklektizismus – intiqāʾiyya – ‫انتقائية‬ l’en train de – das „im Werden sein“, im Begriff sein – al-ḥainūna – ‫الحينونة‬ esclavage – Sklaverei – istirqāq – ‫استرقاق‬ esclavagisme – Sklavenhaltergesellschaft – istirqāqiyya – ‫استرقاقية‬ esthétique – Ästhetik – ǧamālūǧiyā (istītīkā) – (‫جمالوجيا )استيتيكا‬ histoire – Geschichte – taʼrīḫ – ‫تأريخ‬ L’Histoire – die Geschichte, die Historie – at-tārīḫ – ‫التاريخ‬ historicité – Geschichtlichkeit, Historizität – at-tārīḫiyya – ‫التاريخية‬ humaniser – menschenwürdiger gestalten, humanisieren – ansana – َُ‫أَ ْنسَن‬ humanisme – Humanismus – insiyya – ‫إنسية‬ idéologie – Ideologie – fikrulūǧiyā – ‫فكرلوجيا‬

201

Anhang individualisme – Individualismus – fardāniyya (negativ konnotiert) – (‫فردانية )معنى قدحي‬ individualiser – auf den Einzelfall abstimmen, individualisieren – fardana – َ‫فَرْ دَن‬ individuation – Individuation – tafrīda, tafrida – ‫ تفردة‬,‫تفريدة‬ inertie – Passivität, Unbeteiligtheit, Leblosigkeit – ʿuṭāla, sukūn – ‫ سكون‬,‫عُطالة‬ infinitude – Unendlichkeit – lā nihāʾiyya – ‫ل نهائية‬ intime – vertraut, innig, intim – ṣamīmī – ‫صميمي‬ introspection – Introspektion, Selbstbeobachtung – istibṭān – ‫استبطان‬ intentionalité – Intentionalität – hadafiyya, qaṣdiyya – ‫ قصدية‬,‫هدفية‬ interdépendance – Interdependenz – istiqlāl fī tarābuṭ – ‫استقللا في ترابط‬ matriarcat – Matriarchat – umūsiyya – ‫أموسية‬ modalité – Modalität – namṭiyya – ‫نمطية‬ un mode – Art und Weise – namṭ – ‫نمط‬ le moi-total – das totale Ich, das umfassende Ich – al-anā al-kull – ‫النا الكل‬ néant – Nichts, Nichtexistenz – laisiyya, ʿadam – ‫ عدم‬,‫ليسية‬ néantisation – Auslöschung, Vernichtsung – taʿdīm – ‫تعديم‬ névrose – Neurose – ʿusāb – ‫عُصاب‬ objectiver – objektivieren, verdinglichen – mauḍaʿa – ‫ض َع‬ َ ْ‫َمو‬ s’objectiver – sich verdinglichen – tamauḍaʿa – ‫تموضع‬ patriarcat – Patriarchat – abīsiyya – ‫أَبيسية‬ ْ‫ش‬ personnaliser – personalisieren – šaḫṣana – َُ‫َخصَن‬ se personnaliser – sich personalisieren – tašaḫṣana – ُ‫تشخصن‬ personnifier – personifizieren, verkörpern – šaḫḫaṣa – ‫ص‬ َ ‫َش ّخ‬ processus – Ablauf, Prozess – siyāq, sairūra – ‫ سيرورة‬,‫سياق‬ simultanéité – Gleichzeitigkeit – taʾānī (maʿiyya zamāniyya) – (‫تآني )معية زمانية‬ situer – situieren, einordnen – mauqafa – َ‫َموْ قَف‬ se situer – sich situieren, sich einordnen, seinen Platz haben – tamauqafa – ‫تموقف‬ social – sozial, gesellschaftlich – muǧtamaʿi – ‫مجتمعي‬ sociologique – soziologisch – iǧtimāʿi – ‫اجتماعي‬ sondage – Untersuchung, Erforschung, Umfrage – istibār – ‫استبار‬ statique – ruhend, statisch – sukūnī – ‫سكوني‬ subjectiver – subjektivieren – ḏawwata – َ‫َذ ّوت‬ syncrétisme – Synkretismus – taufīqiyya – ‫توفيقية‬ système – Ordnung, Art und Weise, System – manẓūma, nasaq – ‫ة نسق‬,‫منظومة‬ temporaliser – verzeitlichen, temporalisieren – zammana – َُ‫َز ّمن‬ temporalité – Zeitlichkeit – zamāniyya – ‫زمانية‬

202

Personenregister Ackermann [199] Alain [96] Antiphon [122] Archytas [150] Aristoteles [120], [121], [122], [133], [140] Athenaios [216] Bach [112] Bachelard [90], [91], [100], [226] Bacon [207], [210] Bartoli [167], [174], [243] Benda [43] Berdiaeff [190] Biran, Maine de [31], [57] Blondel [198] Bouglé [208] Bouligand [106] Bréhier [221] Brunschvicg [201] Chemin [146] Chevalier [84] Comte [69], [135], [206] Considérant [123] Cornu [11] Corval [149] Courteline [171] Darwin [137] Demetrios von Phaleron [216] Descartes [198], [210], [211], [212], [213], [217] Diderot [155] Dostojewski [109], [169] Ducattillon [156] Dumas [56] Durkheim [222] Engels [123], [157], [167], [210] Faucher [162] Ferry [153] Ford [168] Forest [190] Fouillé [230] Fourier [126]

France [161] Freud [57] Fustel de Coulanges [120] al-Ġazālī [91], [102] al-Ġifārī, Abū Ḏarr [122], [123] Gilson [112], [211] Goethe [59], [212], [213], [243] Gorki [167] Gouhier [31], [36], [57], [219] Grün [199] Guitton [152] Gurvitch [212] Gusdorf [103] Halévy [208] Hegel [57], [58], [71], [125], [151], [155], [158], [164], [171], [183], [201], [214] Heidegger [12], [33] Heraklit [31], [40], [199] Hippias [121] Høffding [38], [49] Holinshed [146] Homer [108], [141], [142] Hugo [175] Huxley [148] Hyppolite [155] Ibn Ḫaldūn [122], [123], [125], [126], [127], [159], [169] Ibn Ṭufail, Abubacer [69] Ibn Rušd, Averroes [5], [6] Islam, Koran, Muḥammad [169], [184], [243] Jankélévitch [73] Jaurès [168], [173] Jeanson [56] Kanapa [12] Kant [136], [191] Kierkegaard [40] Korkounov [133] Koyré [120], [121], [199] Ktesikles [216] Lacroix [11], [62], [167], [175], [176], [243] Lalande [44], [45], [47] Lamarck [193]

203

Personenregister Landsberg [243] La Rochefoucauld [56] Le Dantec [224] Lefebvre [12] Leibniz [207] Lequier [207] Lévy-Bruhl [129] Madaule [109] Malraux [97] Malthus [136], [146] Malebranche [26] Manet [100] Marc Aurel [122] Marchal [155], [156] Maritain [174] Marx [123], [126], [157], [167], [184], [210] Merleau-Ponty [34], [196] Mill [230] Mireaux [141], [153] Molière [36] Monet [100] Moreux [112] Mougin [12] Mounier [11], [149], [165], [167], [175], [180], [243] Nédoncelle [243] Nietzsche [99] Pasteur [204] Péguy [168] Pissaro [100] Platon [69], [100], [120], [122], [133], [156], [199] Politzer [12] Pradines [31], [198] Proudhon [123], [124], [126], [130], [131], [132], [139], [144], [156], [157], [158], [159], [162], [168], [199]

Pythagoras [199] Ravaisson [51], [190] Renoir [100] Ricœur [243] Rousseau [57], [220] Samain [100] Sartre [11], [12], [50], [51], [183] Schaeffer [111], [112] Scheler [243] Schuhl [100], [111], [120], [121], [162], [175] Seillière [165] Seneca [122] Seurat [100] Shakespeare [146] Saint-Simon [104], [126], [143], [207] Sisley [100] Slane, de [123] Smith [157], [158] Sokrates [133], [199] Sorel [13] Souriau [100], [101] Spinoza [49] Steinbeck [162] Suarès [109] Thibaudet [23], [139] Tonquédec [84] Tourmagne [216] Vialatoux [175] Wahl [238] Wallon [216] Watson [192] Zenon [122]

204

ISLAMKUNDLICHE UNTERSUCHUNGEN Şuayip Seven

Traditionelle Hadith-Hermeneutik

im Zusammenhang mit modernen Ansätzen der Ankaraner Schule IU 335. Berlin 2017. Hc 338 pp., 978-3-87997-470-2 Gabriele Dold-Ghadar

Pers—Andalus

Iranische Kulturdenkmäler in „al-Andalus al-aqṣā“ Bewertung der Forschungsergebnisse für das 8.–12. Jahrhundert IU 330. Berlin 2016. Pb 338 pp., 978-3-87997-454-2 Ingeborg Huhn

Johann Gottfried Wetzstein

Orientalist und preußischer Konsul im osmanischen Syrien (1849 –1861) IU 329. Berlin 2016. Pb 398 pp., 978-3-87997-452-8 Jasmina Jäckel de Aldana

Feuerfunken im Orient 1914–16

Arabisch-osmanische Offiziere und haschemitische Aristokraten vor dem Großen Arabischen Aufstand IU 323. Berlin 2015. Pb 214 pp., 978-3-87997-441-2 Ülkü Ağır

Pogrom in Istanbul, 6./7. September 1955

Die Rolle der türkischen Presse in einer kollektiven Plünderungsund Vernichtungshysterie IU 319. Berlin 2014. Pb 304 pp., 978-3-87997-439-9 Catherine Mayeur-Jaouen / Alexandre Papas (eds.)

Family Portraits with Saints

Hagiography, Sanctity, and Family in the Muslim World IU 317. Berlin 2013. Pb 440 pp., 978-3-87997-422-1 Stéphane A. Dudoignon / Christian Noack (eds.)

Allah‘s Kolkhozes

Migration, De-Stalinisation, Privatisation and the New Muslim Congregations in the Soviet Realm (1950s–2000s) IU 314. Berlin 2014. Pb 541 pp., 978-3-87997-421-4 Alexandre Papas / Thomas Welsford / Thierry Zarcone (eds.)

Central Asian Pilgrims

Hajj Routes and Pious Visits between Central Asia and the Hijaz IU 308. Berlin 2011. Pb 331 pp., 978-3-87997-399-6 Klaus Schwarz Verlag GmbH • Fidicinstr. 29 • D-10965 Berlin Tel. +30-916 82 749 / 751 • Fax +30-322 51 83

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Studien zum Modernen Orient SMO 31 Giuliano Mion (ed.)

Mediterranean Contaminations

Middle East, North Africa, and Europe in Contact Berlin 2018. Pb. ca 320 pp., 978-3-87997-468-9 SMO 30 Sevil Özçalık

Promoting an Alliance, Furthering Nationalism Ernst Jäckh and Ahmed Emin in the Time of the First World War Berlin 2018. Pb. ca 250 pp., 978-3-87997-471-9 SMO 29 Britt Ziolkowski

Die Aktivistinnen der Ḥamās

Zur Rolle der Frauen in einer islamistischen Bewegung Berlin 2017. Pb. 479 pp., 978-3-87997-458-0 SMO 27 Amer Nizar Ghrawi

An Elusive Hope

State Reform in Syria 2000—2007 Berlin 2015. Pb. 382 pp., 978-3-87997-444-3 SMO 21 Christiane Czygan

Zur Ordnung des Staates

Jungosmanische Intellektuelle und ihre Konzepte in der Zeitung »Hürriyet« (1868–1870) Berlin 2012. Pb. 315 pp., 978-3-87997-407-8 SMO 19 Claus Schönig / Ramazan Çalık / Hatice Bayraktar (Hg.)

Türkisch-Deutsche Beziehungen

Perspektiven aus Vergangenheit und Gegenwart Berlin 2012. Pb. 426 pp., 978-3-87997-386-6

***** Seyed Reza Kazemeini

Wörterbuch Persisch-Deutsch

für Recht–Wirtschaft–Politik Soraya Verlag Berlin 2015, Hc. 416 pp., 978-3-87997-430-6 Klaus Schwarz Verlag GmbH • Fidicinstr. 29 • D-10965 Berlin Tel. +30-916 82 749 / 751 • Fax +30-322 51 83

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