Freiheit nach Kant: Tradition, Rezeption, Transformation, Aktualität 9789004383586, 9789004383579

Kant’s conception of freedom is of special importance in the history of philosophy. It not only brings together older

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German Pages viii, 369 [377] Year 2018

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Freiheit nach Kant: Tradition, Rezeption, Transformation, Aktualität
 9789004383586, 9789004383579

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Freiheit nach Kant

Critical Studies in German Idealism Series Editor Paul G. Cobben Advisory Board Simon Critchley – Paul Cruysberghs – Rózsa Erzsébet – Garth Green Vittorio Hösle – Francesca Menegoni – Martin Moors – Michael Quante Ludwig Siep – Timo Slootweg – Klaus Vieweg

VOLUME 22

The titles published in this series are listed at brill.com/csgi

Freiheit nach Kant Tradition, Rezeption, Transformation, Aktualität Herausgegeben von

Saša Josifović Jörg Noller

LEIDEN | BOSTON

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Names: Josifović, Saša, editor. | Noller, Jörg, 1984– editor. Title: Freiheit nach Kant : Tradition, Rezeption, Transformation, Aktualität  / herausgegeben von Sasa Josifovic, Jorg Noller. Description: Leiden ; Boston : Brill, 2019. | Series: Critical studies in  German idealism ; Volume 22 Identifiers: LCCN 2018040782 (print) | LCCN 2018044024 (ebook) | ISBN  9789004383586 (Ebook) | ISBN 9789004383579 (hardback : alk. paper) Subjects: LCSH: Kant, Immanuel, 1724–1804. | Liberty. Classification: LCC B2799.L49 (ebook) | LCC B2799.L49 F74 2019 (print) | DDC  123/.5092—dc23 LC record available at https://lccn.loc.gov/2018040782

Typeface for the Latin, Greek, and Cyrillic scripts: “Brill”. See and download: brill.com/brill-typeface. issn 1878-9986 isbn 978-90-04-38357-9 (hardback) isbn 978-90-04-38358-6 (e-book) Copyright 2019 by Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands. Koninklijke Brill NV incorporates the imprints Brill, Brill Hes & De Graaf, Brill Nijhoff, Brill Rodopi, Brill Sense, Hotei Publishing, mentis Verlag, Verlag Ferdinand Schöningh and Wilhelm Fink Verlag. All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, translated, stored in a retrieval system, or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording or otherwise, without prior written permission from the publisher. Authorization to photocopy items for internal or personal use is granted by Koninklijke Brill NV provided that the appropriate fees are paid directly to The Copyright Clearance Center, 222 Rosewood Drive, Suite 910, Danvers, MA 01923, USA. Fees are subject to change. This book is printed on acid-free paper and produced in a sustainable manner.

Inhaltsverzeichnis Einleitung 1 Saša Josifović und Jörg Noller

Teil 1 Kant im Kontext Kontrafaktische Kontingenz und Entscheidungskontrolle durch Reflexion: Wie Leibniz mit der vorkantischen Tradition Freiheit angesichts von Determination denkt 7 Michael-Thomas Liske Freiheit und Selbstherrschaft: Über den gemeinsamen Grund von Theodizee und moralischer Verbindlichkeit beim frühen Kant 37 Heiner F. Klemme Das Moralische: Der absolute Standpunkt. Kants Metaphysik der Sitten und ihre Herausforderung für das moderne Denken 54 Theo Kobusch

Teil 2 Freiheit bei Kant Kant on Freedom as Autonomy 95 Karl Ameriks Kant über die Natur der Freiheit 117 Dieter Sturma Ethische Freiheit, Autonomie und Selbstbewusstsein bei Kant mit einem Ausblick auf Fichte 134 Klaus Düsing

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Inhaltsverzeichnis

Teil 3 Debatten nach Kant „Es giebt schlechterdings keinen Mittelweg zwischen Nothwendigkeit und Zufall, zwischen Determinismus und Indeterminismus“: Die unmittelbare Rezeption des Kantischen Freiheitsbegriffs in der Aetas kantiana 153 Faustino Fabbianelli „Freyheit durch oder wider das Gesetz“: Reinhold und Schiller über symmetrische Selbstbestimmung 172 Jörg Noller Von der Unmöglichkeit der Kant’schen Freiheitslehre nach Salomon Maimon 187 Amit Kravitz Zwischen Spinoza und Kant: Jacobi über die Freiheit der Person 208 Birgit Sandkaulen Die Theorie des Willens in Fichtes Wissenschaftslehre nova methodo 224 Andreas Schmidt Schellings Theorie des Guten 236 Markus Gabriel Das Primat der Freiheit nach Leibniz, Hume und Kant: Zu Hegels Aufhebung des Kompatibilismus 251 Pirmin Stekeler-Weithofer Schopenhauer’s System of Freedom 276 Günter Zöller

Teil 4 Kants systematische Relevanz Autonomie der Vernunft und praktische Erkenntnis 297 Thomas Buchheim

Inhaltsverzeichnis

Kants Theorie des freien Handelns 316 Saša Josifović Kann man nichtzeitliche Verursachung verstehen? Kausalitätstheoretische Anmerkungen zu Kants Freiheitsantinomie 331 Geert Keil Sachregister 367

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Einleitung Saša Josifović und Jörg Noller Die Freiheitsdebatte im unmittelbaren Ausgang von Kant muss immer noch als ein Stiefkind der Forschung gelten.1 Dies ist erstaunlich, darf doch der Freiheitsbegriff – nicht nur bei Kant, der ihn als „Schlussstein“2 seines Systems ansieht und der praktischen Vernunft den Primat vor der theoretischen gibt, sondern auch für die gesamte Klassische deutsche Philosophie und darüber hinaus – als ein Fundamentalbegriff gelten. Dieser Forschungsbedarf ist nicht unbeachtet geblieben. Dieter Henrich hat darauf hingewiesen, dass zu der Freiheitsdebatte im Ausgang von Kant „noch immer eine umfassende Untersuchung fehlt“.3 Ebenso bemerkt Paul Guyer, dass es noch „genügend Raum für weitere Forschung im Zusammenhang von Ursprung und Rezeption kantischer Philosophie, insbesondere seiner Moral[philosophie]“4 gibt. Die Freiheitsdebatte im Ausgang von Kant ist jedoch nur unzulänglich charakterisiert, wenn man sie als bloße Übernahme und Ausgestaltung kantischer Prämissen begreift. Einer solchen Perspektive entgeht, dass Kants Konzept einer Autonomie der Vernunft bereits früh nicht so sehr als ein unhinterfragter Ausgangspunkt angesehen, sondern als eine begriffliche Herausforderung verstanden wurde, deren Probleme es in immer neuen Theorieentwürfen zu beheben galt. Durch eine solche Perspektive auf Kants Freiheitsbegriff werden auch seine Vorläufertheorien wieder ins Bewusstsein gerufen, an die Kant einerseits kritisch anknüpft, von denen er zugleich aber auch in entscheidenden Punkten abweicht. Dass Kants Freiheitsbegriff auch für die aktuelle Freiheitsdebatte von Relevanz ist, zeigt die Diskussion um Determinismus, Indeterminismus, Kompatibilismus und Inkompatibilismus, vor allem hinsichtlich der Akteurskausalität, einer Position, die ihre Ressourcen in vielerlei Hinsicht aus der kantischen Theorie schöpft. Gemäß seinem historisch-systematischen Forschungsinteresse gliedert sich der vorliegende Sammelband in vier Teile, im Rahmen derer Kants Freiheitsbegriff entlang der Leitbegriffe „Wille“, „Willkür“, „Autonomie“ und „Vernunft“ verortet werden soll: 1  Vgl. Jörg Noller, Die Bestimmung des Willens. Zum Problem individueller Freiheit im Ausgang von Kant, Freiburg/München 22016, 33 ff. 2  Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 3. 3  Dieter Henrich, Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt/M. 2007, 369. 4  Paul Guyer, „Zum Stand der Kant-Forschung“, in: Information Philosophie 1 (2004), 10–21, 21.

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Josifović und Noller

(1) Kontexte, die den Hintergrund von Kants eigener Freiheitstheorie bilden. Eine besondere Rolle spielt hierbei die vorkantische Debatte um die Vereinbarkeit von Determinismus und Freiheit, insbesondere bei Leibniz, der sich Michael-Thomas Liske (Passau) in seinem Beitrag widmet. Aber auch Kants frühe Moralphilosophie (Heiner Klemme [Halle/S.]) im Kontext der freiheitstheoretischen Auffassungen bei Leibniz und Wolff, sowie sein Projekt einer Metaphysik der Sitten (Theo Kobusch [Bonn]) spielen für das tiefere Verständnis von Kants Freiheitsbegriff eine zentrale Rolle. (2) Kants eigener Freiheitsbegriff, unter besonderer Berücksichtigung seines Begriffs der Autonomie der Vernunft im Kontext seines gesamten Werkes. Karl Ameriks (Notre Dame, IN) entwickelt dazu Kants Autonomiebegriff als vernünftige Selbstbestimmung. Auch werden die ontologischen und epistemischen Voraussetzungen des kantischen Freiheitsbegriffs expliziert und auf das Problem der Naturdetermination bezogen (Dieter Sturma [Bonn]). Klaus Düsing (Köln) untersucht insbesondere das Verhältnis von Autonomie und Selbstbewusstsein in Kants Freiheitsbegriff, aber auch seine Bedeutung für die unmittelbar darauf folgende Philosophie Fichtes. (3) Die historische Rezeption, Kritik und Transformation von Kants Freiheitstheorie in der Klassischen deutschen Philosophie. Besonderes Gewicht liegt auf der Frage, wie in den verschiedenen nachkantischen Entwürfen das Verhältnis von Wille, Willkür, Autonomie und Vernunft bestimmt wird. Ebenso interessiert die Frage nach dem Freiheitssubjekt, seiner Individualität, Normativität und Personalität, aber auch seinem Verhältnis zu anderen Freiheitssubjekten, der Geschichte und Gesellschaft. Der Beitrag von Faustino Fabbianelli (Parma) behandelt die unmittelbare Rezeption des kantischen Freiheitsbegriffs durch bislang nur wenig bekannte Denker der Aetas Kantiana wie Ulrich, Schmid und Creuzer und die darin virulent werdende Determinismus/FatalismusProblematik. Jörg Noller (München) befasst sich mit der ersten eigenständigen Interpretation und Transformation des kantischen Freiheitsbegriffs durch Karl Leonhard Reinhold und Friedrich Schiller, die zu einem Begriff individueller Freiheit der Person führt. Amit Kravitz (Jerusalem/München) behandelt Salomon Maimons bislang nur wenig bekannte Kritik der kantischen Moral- und Freiheitstheorie. Birgit Sandkaulen (Bochum) nimmt sich Friedrich Heinrich Jacobis Interpretation des kantischen Freiheitsbegriffs im Spannungsfeld von Spinoza und Kant, von System und Freiheit an. Andreas Schmidt (Jena) geht der Frage nach, wie Fichte Kants Autonomiebegriff rezipiert und transformiert hat. Pirmin Stekeler-Weithofer (Leipzig) erörtert, wie in Hegels Philosophie Kants Transzendentalphilosophie aufgenommen und im Rahmen seiner Theorie des objektiven Geistes begriffslogisch kritisiert und modifiziert wird. Markus Gabriel (Bonn) untersucht Schellings bislang nur wenig thematisierten

Einleitung

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Begriff des Guten in seinen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit. Günter Zöller (München) beschließt den historischen Teil durch einen Beitrag, der Schopenhauers Rezeption des kantischen Freiheitsbegriffs zum Gegenstand hat. (4) Die systematische Relevanz von Kants Freiheitsbegriff. Koordinaten dieses Teils bilden die Unterscheidung von Handlungs- und Willensfreiheit, das Determinismus- und Kompatibilismusproblem, aber auch die Position der Akteurskausalität und ihr spezifischer Kausalitätsbegriff. Thomas Buchheim (München) untersucht das systematische Problem einer Freiheit zum Bösen bei Kant und den zugrunde liegenden Rationalitätsbegriff. Saša Josifović (Köln) befasst sich mit Kants kritischer Handlungstheorie und bezieht sie auf die gegenwärtige Debatte. Geert Keil (Berlin) schließlich widmet sich Kants Theorie mentaler Verursachung vor dem Hintergrund der Problematik transzendentaler Freiheit.

Teil 1 Kant im Kontext



Kontrafaktische Kontingenz und Entscheidungskontrolle durch Reflexion: Wie Leibniz mit der vorkantischen Tradition Freiheit angesichts von Determination denkt Michael-Thomas Liske 1

Kontingenz und Spontaneität qua kausale Geschlossenheit sind Freiheitsvoraussetzungen, Spontaneität als Vernunftbestimmtheit begründet die Grade der Freiheit.

Leibniz erhebt in den verschiedensten Fragen den charakteristischen Anspruch, er könne bei seinen metaphysischen Grundannahmen das, was man immer schon angenommen habe, wahren und aus seinen Gründen heraus vertieft erklärbar machen. Vor allem zwei Grundüberzeugungen haben wohl die philosophische wie die außerphilosophische Debatte über die Freiheit bestimmt. Zum einen: Freiheit als Grundlage der sittlichen Verantwortung schließt Kontingenz ein, die bedeutet, dass man sich auch anders hätte entscheiden können und sich daher zu Recht für die Art verantworten muss, wie man sich tatsächlich entschieden und aufgrund dieser Entscheidung gehandelt hat. Zum anderen: Freiheit ist Innen- oder Selbstbestimmung (Autonomie) im Gegensatz zur Fremd- oder Außenbestimmtheit (Heteronomie). In Theodizee § 288 versucht Leibniz anhand der drei klassischen Freiheitsbedingungen der scholastischen Theologie: Vernünftigkeit (intelligence), Spontaneität und Kontingenz aufzuzeigen, dass seine Freiheitskonzeption dem traditionellen Begriff völlig Genüge tut: Wir haben aufgezeigt, dass die Freiheit (so wie man sie in den theologischen Schulen verlangt) in der Vernünftigkeit besteht, die eine distinkte Erkenntnis des Gegenstands der Überlegung einschließt, in der Spontaneität, kraft deren wir uns selbst bestimmen, sowie in der Kontingenz, die die logische oder metaphysische Notwendigkeit ausschließt. Die Vernünftigkeit ist gleichsam die Seele der Freiheit, die übrigen Bedingungen sind quasi der Körper und die Grundlage. Die freie Substanz bestimmt sich selbst und zwar aufgrund des vom Verstand erfassten Guten als Beweggrund, der sie geneigt macht, ohne sie zu

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nötigen. Die gesamten Bedingungen der Freiheit sind in diesen wenigen Worten begriffen. (Übersetzungen vom Verfasser) Das Anders-entscheiden-und-handeln-Können liegt sicher in der Kontingenz begründet. Selbstbestimmung setzt Leibniz dagegen geradezu mit der Spontaneität gleich. Dies entspricht dem gängigen Verständnis: Das Spontane ist das, was dem eigenen Inneren entspringt und bildet so den Gegenbegriff zum äußeren Zwang.1 Dies müssen wir hier aber angesichts der Aussage einschränken, es sei die Vernünftigkeit, die (gleichsam als die Seele) die Freiheit ausmache und begründe, während Spontaneität und Kontingenz die Grundlage (base) oder ermöglichende Voraussetzung darstellen.2 Dies schließt ein, dass sich Kontingenz und Spontaneität nicht graduell abstufen lassen: Entweder sind die Voraussetzungen erfüllt und Freiheit ist gegeben, oder sie sind gar nicht erfüllt, und so ist Freiheit nicht möglich, jedenfalls nicht im eigentlichen Sinne. Entweder herrscht Kontingenz oder es herrscht metaphysisch-logische Notwendigkeit. Desgleichen lässt sich die Spontaneität nicht graduell differenzieren, sofern sie in Leibniz’ Metaphysik soviel bedeutet wie kausale Geschlossenheit, jede Substanz bringe all ihre Zustände, d.h. für Leibniz’ mentalistischen Ansatz die gesamte Abfolge ihrer Vorstellungen spontan aus dem eigenen Inneren hervor, indem das Äußere nur idealiter den Anlass biete (z.B. Specimen dynamicum GM VI 251; Theod. § 59). Hingegen ist die Innen- oder Selbstbestimmtheit das Moment, in dem die Handlungen sich graduell unterscheiden, in welchem Grade sie inneren Motiven entspringen, in welchem sie durch äußere Faktoren aufgezwungen sind. Nicht nur unterscheiden sich verschiedene handelnde Subjekte darin, in welchem Grad sie selbstbestimmt handeln; auch eine einzelne Person muss darum ringen, ihren Freiheitsspielraum zu erweitern oder den Grad ihrer Selbstbestimmung zu erhöhen, indem sie die (im Schlussteil zu besprechenden) psychologischen Techniken anwendet. Dieser Unterschied der Freiheit liegt offenkundig im Grad der Vernunftbestimmtheit begründet als dem Moment, das bei gegebenen Voraussetzungen die Freiheit konstituiert.

1  Vgl. „spontaneitas contra coactionem“ (Grua 475). In Theod. § 34 expliziert Leibniz ,spontanéité‘ als „on ne vous force pas“. 2  In „[N]otre spontanéité soit conjointe avec connaissance et délibération ou choix, ce qui rend nos actions volontaires“ (Grua 480) ist klar ausgesprochen: Nicht schon die Spontaneität (im allgemeinen Sinne), sondern erst die Vernünftigkeit, die Abwägen (délibération) und Wahl ermöglicht, begründet Willentlichkeit. – Phemister (1991) betont: Während Spontaneität und Kontingenz auch bei unfreien Handlungen auftreten, ist Vernünftigkeit bei allen freien Menschen und nur bei ihnen anzutreffen.

Kontrafaktische Kontingenz

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Wir haben die Spontaneität bei Leibniz also doppelt zu verstehen. Im metaphysischen Sinne einer kausalen Geschlossenheit, dass eine substantielle Einheit ohne realen Einfluss von außen alles aus dem eigenen Inneren hervorbringt, ist sie absolut und kommt jeder Substanz zu. So gefasst ist sie nach Leibniz nur eine notwendige Voraussetzung der Freiheit. Graduell differenzieren lässt sie sich in dem ethisch bedeutsamen Sinne der Innen- oder Selbstbestimmung und nähert sich hier der Freiheitsbedingung ‚Vernunftbestimmtheit‘ an.3 Vernünftigkeit (intelligence) aber schließt nach Theod. § 288 eine distinkte Erkenntnis des einschlägigen Gegenstands ein, d.h. hier des anzustrebenden Guts als des Motivs zum Handeln. Distinkt aber ist eine Erkenntnis nach Leibniz, wenn sie in einer Begriffsanalyse ihren Gegenstand aufgrund seiner Merkmale zu unterscheiden vermag.4 Diese Vernunftbestimmtheit erlaubt eine graduelle Abstufung gemäß dem Gegensatz, der in der intellektualistisch ausgerichteten Philosophie seit Platon geläufig und besonders von Spinoza5 hervorgehoben worden ist. In Leibniz’ Terminologie von ,distinkt‘ und ,konfus‘ ausgedrückt: In dem Maße ist der Mensch selbst- oder innenbestimmt, als er durch Begriffsanalyse zu distinkten Erkenntnissen vorzudringen und so mit der Vernunft die Situation geistig zu bewältigen und zu beherrschen vermag. In dem Maße ist er fremdbestimmt, in dem aufgrund konfuser, geistig nicht verarbeiteter sinnlicher Vorstellungen, die sich in Affekten äußern, die Außenwelt über sein Entscheiden und Handeln Macht erlangt.6 In der 3  An der Stelle „In spontaneo tendentia est seu principium agendi, in electione posset intervenire impedimentum, cum scilicet turbamur in deliberando. Ita qui in passionibus turbentur, dicentur minus liberi esse“ (Grua 487) wird die graduelle Abstufung der Freiheit auf die mit der Spontaneität einhergehenden Überlegungen des Intellekts zurückgeführt. Trotz der aktiven Tendenz in der Spontaneität können wir beim aktuellen Entscheiden und den zu ihm hinführenden Überlegungen gehindert werden, indem in Leidenschaften das Äußere unser Handeln bestimmt. Insofern sind wir fremdbestimmt und daher in minderem Grad frei. – Rutherford (2005) nennt die beiden Formen der Spontaneität: monadic spontaneity and agent spontaneity. Die Monadenspontaneität, dass die Zustände einer Monade allein durch eigene voraufliegende Zustände bedingt sind, reicht nicht, unser Selbstverständnis als willentlich Handelnden zu erklären, dass wir teils ungehindert und spontan unsere Umwelt nach unseren Vorstellungen verändern, teils durch äußere Ursachen gezwungen werden, die erklärbar machen, was wir erleiden. Hierzu müssen wir auch eine Handlungsspontaneität annehmen. 4  Vgl. Meditationes de cognitione, veritate et ideis A VI 4, 586 f. 5  Ethica, pars quarta, prop. 66 schol., prop. 67–73, G 260–265, pars quinta: de potentia intellectus seu de libertate humana, G 277–308. 6  Einer der vielen Textbelege hierfür findet sich gleich im folgenden § 289 der Theodizee: „la connaissance distincte ou intelligence a lieu dans le véritable usage de la raison, mais les sens nous fournissent des pensées confuses […] nous sommes exempts d’esclavage en tant que nous agissons avec une connaissance distincte, mais […] nous sommes asservis aux passions en tant que nos perceptions sont confuses. C’est dans ce sens que nous n’avons pas toute

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Vernunftbestimmtheit erreicht die Spontaneität mithin ihre höchste Ausprägung, die nicht bei allen Substanzen vorliegt. Hier ist sie die spontaneitas intelligentis, durch die Leibniz die Freiheit definiert (GP VII 108).7 Inwiefern die beiden im Begriff ‚Spontaneität eines vernünftigen Wesens‘ enthaltenen Bestandteile aufeinander aufbauen, wird auch an dem nahezu synonymen Leibniz‘schen Begriff eines spirituellen Automaten (z.B. Theod. § 52 u. § 483) deutlich. Der dem griechischen αὐτόματον (von sich aus tätig) entlehnte Begriff eines Automaten bezeichnet bei Leibniz wie ,Spontaneität‘ ein allgemeines Charakteristikum jeder einfachen Substanz, die gesamte Abfolge ihrer Zustände und Tätigkeiten aus sich hervorzubringen. Worin die Besonderheit eines spirituellen Automaten oder die Spontaneität speziell eines geistbegabten Wesens besteht, wird an der Monadenhierarchie in der Monadologie deutlich. Die höchste endliche Monade, die den Geist des Menschen ausmacht, ist nach Mon. §§ 29 f. durch zwei Merkmale gekennzeichnet: Zum einen vermag sie ewige Vernunftwahrheiten zu erfassen, zum anderen hat sie nicht bloß (wie jede Monade) irgendeine Art Vorstellungen (perceptions), sondern hat auch ein reflexives Bewusstsein von sich selbst als dem Subjekt der mentalen Zustände, hat also Apperzeptionen8 oder Vorstellungen, deren sie sich als ihrer Vorstellungen bewusst ist. Diese für die Freiheit wesentliche la liberté d’esprit qui serait à souhaiter.“ Hier erläutert Leibniz die Freiheitsbedingung der Vernünfigkeit (intelligence) und macht an ihr die bloß relativen Grade unserer Freiheit fest (pas toute la liberté). In welchem Grade unser Entscheiden und Tun Vernünftigkeit aufweist, ist in unsere Verantwortung gestellt, hängt nämlich davon ab, in welchem Maße wir von dem uns gegebenen Vernunftvermögen Gebrauch machen (usage de la raison). Wenn wir dadurch zu wohlunterschiedenen (distinkten) Vorstellungen gelangen und ihnen gemäß handeln, erlangen wir Verfügungsgewalt über die verstandenen Dinge, sind ihnen nicht versklavt, sondern frei. Wenn wir uns dagegen (eher passiv) den Sinneseindrücken hingeben, haben wir nur begrifflich nicht differenzierende, also verworrene (konfuse) Gesamteindrücke. Sie manifestieren sich oft in Leidenschaften (passions), denen wir unterworfen sind (sommes asservis); durch sie erlangen die Dinge Macht über uns, und wir sind unfrei. 7  In diesem Sinne sagt er in einem Gespräch mit Niels Stensen (Steno) über die Freiheit (A VI 4, 1380), bei den Alten sei das Spontane die Gattung für die Freiheit als vernünftige Spontaneität (spontaneitas rationalis) gewesen. Anderswo definiert er Freiheit (wie sie angeblich bereits Aristoteles verstanden hat) als Spontaneität verbunden mit Wahl (spontaneum cum electione, Confessio philosophi A VI 3, 133, entsprechend Theod. § 34). Diese Wahl geht aus vernünftiger Überlegung hervor. Daher tritt in Causa Dei § 20 neben das Spontane statt der Wahl als Bedingung der Handlung aus freiem Willen, dass sie überlegt (deliberata) ist, d.h. aus einem Abwägen der Gründe durch die Vernunft hervorgeht. Mit ,Wahl‘ zielt Leibniz mithin auch auf die Freiheitsbedingung der Vernünftigkeit. Vernunft setzt auch der hier wohl gemeinte Aristotelische Begriff der προαίρεσις voraus, dass ich das eine bewusst vor dem anderen erwähle. Zum Ganzen s.a. Parkinson (1970), 57f. 8  Vgl. etwa Principes de la Nature et de la Grace § 4, GP VI 600.

Kontrafaktische Kontingenz

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Fähigkeit zur Reflexion macht die Eigenart des menschlichen Geistes gegenüber einem Automaten im heutigen Sinne aus. Ein Computer vermag aufgrund der einprogrammierten Algorithmen oft schneller und verlässlicher als jeder menschliche Geist Informationen zu verarbeiten, was man heute als mentale Operationen zu sehen geneigt ist. Er hat aber kein reflexives Bewusstsein, weiß nicht, was er tut. Diese Fähigkeit, innezuhalten, zu den eigenen Operationen kritisch Stellung nehmen und sie gegebenenfalls korrigieren zu können, aber ist (wie sich uns noch zeigen wird) für die Freiheit zentral, um nicht unmittelbaren Eindrücken zu erliegen und uns von ihnen zu Entscheidungen und Taten hinreißen zu lassen, die wir nicht wahrhaft wollen.9 2

Die voluntaristische Indifferenzfreiheit

Diese Gleichsetzung von Selbstbestimmung und Vernunftbestimmtheit beruht auf der intellektualistischen Grundüberzeugung, die Vernunft sei das eigentliche Selbst des Menschen. Damit tritt sie in Opposition zum voluntaristischen Konzept vom Menschen und seiner Freiheit. So ist für Duns Scotus der Wille das eigentliche rationale Vermögen. Dieser Begriff geht auf Aristoteles zurück, der in Met. Θ (IX) 2 und 5 den Gegensatz eines naturalen Vermögens, das auf eine Wirkung festgelegt ist, zum rationalen Vermögen entwickelt, das für Gegenteiliges offen ist und insofern die Grundlage der Entscheidungsfreiheit darstellt.10 Nach Duns Scotus ist der Intellekt kein rationales Vermögen in diesem Sinne. Denn er sei durch das von ihm als Bestes erkannte, also gleichsam 9  Um Leibniz’ Rede von einem spirituellen Automaten richtig zu verstehen, kommt es also nicht so sehr auf den Gesichtspunkt des Automaten oder der Spontaneität an, sondern auf die besondere Weise, wie ein geistbegabtes Wesen seine spontanen Tätigkeiten ausübt. Nach Leibniz ist nämlich die Art, wie ein sich seiner selbst bewusstes geistiges System die Festlegung durch vernünftiges Abwägen der Gründe im Hinblick auf ein Ziel zustande bringt, ganz verschieden von der Art, wie in einem materiellen System die Determination mechanisch durch Kausalgesetze zustande kommt. (Vgl. dazu die in 4.1 besprochenen Stellen aus A VI 4, 1519 (Anm. 18 und 19), in denen Leibniz es als grundsätzlich unmöglich ansieht, dass eine Kreatur aufgrund von Kausalgesetzen eine Willensentscheidung voraussagt.) Kant verkürzt daher in KpV 174 die Freiheitskonzeption von Leibniz, wenn er das automaton spirituale im Hinblick auf die Freiheit gleich einem automaton materiale behandelt und so zum Schluss kommt: Leibniz’ Ansatz garantiere nur eine relative (komparative) Willensfreiheit gleich der Freiheit eines mechanischen Systems, das aufgezogen seine Bewegungen von selbst verrichtet, wie der eines Bratenwenders. 10  Duns Scotus’ Auffassung findet sich denn auch in den Quaestiones subtilissimae IX q. 15 [6] f. über Aristoteles’ Metaphysik. Zum Gegensatz von Natur und Wille bei Duns Scotus vgl. Hoffmann (1999) und Gonzales-Ayesta (2008).

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durch den Zwang der von ihm erkannten Tatsachen auf diese eine Option festgelegt. Damit ist er ein naturales Vermögen, das durch voraufliegende Bedingungen festgelegt und damit in den Determinationszusammenhang der Natur eingebunden ist. Allein der Wille vermöge unabhängig von der Feststellung und Beurteilung der Tatsachen durch den Intellekt in einer Art creatio ex nihilo eine Entscheidung zu setzen. In eben diesem Sinne versteht Duns Scotus ein rationales Vermögen, vorgängig indeterminiert erst im Akt der Entscheidung Bestimmtheit schaffen zu können. Als Rationalist bekämpft Leibniz entschieden die aus dieser Konzeption erwachsene molinistische libertas indifferentiae: Auch wenn alle notwendigen Voraussetzungen (requisita) sowohl seitens des Objekts als auch des handelnden Subjekts gegeben seien, sei der Wille noch unentschieden (oder indifferent) angesichts der Sachlage und ihrer intellektuellen Beurteilung, könne sich zum Handeln wie zum Nichthandeln entschließen.11 Ganz zu schweigen, dass Leibniz bei seiner deterministischen Sicht in einer kausal nicht bedingten, absoluten Setzung des Willens einen Verstoß gegen das Prinzip vom zureichenden Grund sehen und sie daher als unmögliche Chimäre verwerfen muss; selbst wenn sie möglich wäre, ist eine derartige Willkür gar nicht wünschenswert.12 3

Warum Selbstbestimmung auf Vernunfteinsicht beruht

Auch wenn wir zunächst intuitiv dahin tendieren mögen, Selbstbestimmung voluntaristisch als das Vermögen aufzufassen, etwas unabhängig von der vorgegebenen Sachlage und ihrer Bewertung durch den Intellekt in einem ursprünglichen Willensakt erwählen oder verwerfen zu können, hat das seit Platon bis Leibniz vorherrschende intellektualistische Konzept der Selbstbestimmung als Bestimmtsein durch die Vernunfteinsicht wohl doch die höhere innere Plausibilität. Freiheit qua Selbstbestimmung ist nicht unmittelbar beobachtbar. Leibniz hat zu Recht gegen Descartes eingewandt, die lebendige innere Empfindung, dass ich mich in meinen Entscheidungen ungebunden fühle, sei wenig aussagekräftig. Sie könnte schlicht darauf beruhen, dass die determinierenden Momente, von denen ich tatsächlich abhängig bin, meiner inneren Selbstbeobachtung entgangen sind (Theod. § 50). Wenn nicht unmittelbar beobachtbar ist, dass eine bestimmte Art des Handelns selbstbestimmt ist, so lässt es sich doch indirekt daraus erschließen, dass bestimmte

11  Vgl. etwa A VI 4, 1380, Z. 1–3. 12  Vgl. etwa NE II c. 21, § 15.

Kontrafaktische Kontingenz

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Reaktionen darauf angemessen sind.13 Wenn eine Entscheidung dem Selbst entsprungen sein soll, statt mir durch äußere Faktoren unbemerkt nahegelegt oder sogar aufgezwungen worden zu sein, dann muss ich sie auch später, wenn ich auf sie reflektiere, als mir gemäß empfinden können, brauche sie also nicht zu bereuen. Eine solche Reue aber stellt sich oft ein, wenn Entscheiden und Handeln impulsiv unter dem unkontrollierten Einfluss unmittelbar wirkender Affekte zustande gekommen sind. Eine Willkürsetzung des Willens unabhängig von Abwägungen und Einschätzungen des Verstandes aber dürfte gewisse Ähnlichkeiten damit haben. Derartige Entscheidungen und Handlungen empfinden wir, wenn wir zu einem späteren Zeitpunkt zur Besinnung gekommen sind und auf sie reflektieren, nicht mehr als unserem wahren Selbst, d.h. unseren innersten Absichten, Überzeugungen und Grundsätzen gemäß und zeigen ihnen gegenüber daher solche Einstellungen wie Reue, Gewissensbisse, Selbstvorwürfe oder Verärgerung über uns selbst. Das ist ein recht sicheres Indiz dafür, dass sie letztlich fremdbestimmt sind, und zwar in einer für uns grundsätzlich vermeidbaren Weise. Hingegen kann ich eine Entscheidung auch später noch bejahen, wenn ich sie als meinen Grundsätzen gemäß betrachten kann. Damit aber muss sie der Vernunft als dem Vermögen entspringen, durch das ich solche Grundsätze und Maßstäbe zu erfassen vermag. Da die Vernunft gegenüber den schwankenden Affekten beständig ist, garantiert eine Vernunftentscheidung, dass ich dauerhaft zu ihr stehen kann. Wenn eine Handlung daher nach gründlicher Prüfung der bedeutsamen Gesichtspunkte dafür und dagegen durch die Vernunft zustande gekommen ist, dann zeige ich bei einer späteren Begutachtung keinerlei innere Ablehnung meiner Entscheidung und der aus ihr erwachsenen Handlung, ich kann zufrieden oder sogar stolz bejahen, mich zu dieser Handlung entschieden zu haben. Selbst wenn ich später anders entschiede, nachdem ich zu Informationen gelangt bin, die ich zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht haben konnte, brauche ich mir zumindest keine Vorwürfe zu machen. Dies alles sind Anzeichen für ein selbstbestimmtes Handeln.

13  Etwas Entsprechendes gilt für die Freiheit voraussetzende Verantwortung, mit einem Unterschied. Da Freiheit in der inneren Struktur vor allem des Entscheidungsprozesses begründet liegt, machen wir sie daran fest, ob bestimmte innere Einstellungen wie Reue der eigenen Entscheidung gegenüber angemessen sind. Verantwortung demgegenüber ist wesentlich dialogisch: sich jemandem gegenüber verantworten. Dass ich eine Handlung zu verantworten habe, zeigt sich daher daran, ob ein außenstehender Beobachter ihr gegenüber angemessen solche Haltungen wie Entrüstung, Groll, Hochachtung, Dankbarkeit zeigen kann.

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Kontrafaktische Kontingenz als Voraussetzung der Freiheit

Unsere bisherige Untersuchung hat ergeben: Freiheit ist bei einer intellektualistischen Konzeption wie der Leibnizens wesentlich in der inneren Entscheidungsstruktur gegründet: Unterlag die Entscheidung einer rationalen Kontrolle? Hat die Vernunft der Entscheidung erst dann zugestimmt, nachdem sie die Gründe für und gegen ein bestimmtes Handeln ausreichend abgewogen hat, oder hat sich der Handelnde unbedacht von seinen Affekten zu einer bestimmten Entscheidung hinreißen lassen? Diese Fragen sind offenbar weitgehend neutral gegenüber dem Gegensatz von Determinismus und Indeterminismus: Entspringt ein solcher Entscheidungsprozess kausalen Vorbedingungen oder vermag er kausal unbedingt etwas zu setzen?14 Dies bedeutet aber nicht, dass die Kontingenz irrelevant ist als Voraussetzung, um überhaupt sinnvoll von Freiheit reden zu können. Dies ergibt sich daraus: Grundlage dafür, einem Menschen seine Entscheidungen und die daraus resultierenden Handlungen zurechnen und ihn dafür verantwortlich machen zu können, ist offenbar die Freiheit. Eine Verantwortung schreiben wir dem Subjekt nur insofern zu, als es frei war, sich auch anders zu entscheiden, wenn ihm also nicht von vornherein durch einen äußeren oder psychischen Zwang keine andere als diese Entscheidung möglich war. Eben weil es auch anders hätte entscheiden können, muss es sich dafür verantworten, so und nicht anders entschieden zu haben. Freiheit schließt (jedenfalls nach intellektualistischer Überzeugung) ein: Der Mensch war in der Lage, Gründe für verschiedene Optionen gegeneinander abzuwägen, und hat die Gründe für die Option, für die er sich schließlich entschieden hat, als die stärksten und seinen Grundsätzen am ehesten entsprechenden betrachtet. Freiheit beruht wesentlich darauf, dass das handelnde Subjekt aufgrund seiner eigenen mentalen oder psychischen Situation und bei der äußeren Sachlage, so wie sie sich ihm 14  In diesem Sinne betont auch Vihvelin (2013), bes. 169 f., 188–190: Die Fähigkeit, sich auf der Grundlage von Vernunftgründen zu entscheiden, in der viele die notwendige und hinreichende Bedingung der sittlichen Verantwortung und damit Freiheit sehen und die ihrerseits ein Bündel intrinsischer, d.h. auf inneren Eigenschaften beruhender Dispositionen (sowie angemessener Umweltbedingungen, diese Dispositionen zu manifestieren) darstellt, könne sowohl als mit dem Determinismus kompatibel als auch mit ihm unvereinbar betrachtet werden. – In der Forschung besteht eine gewisse Tendenz zu einem neutralen Kompatibilismus. So betonen Fischer/Ravizza (1998), 253 f.: Unser Status als sittlich verantwortlicher Handelnder kann als gesichert gelten, gleich ob die Wissenschaftler dereinst empirisch nachweisen, dass der kausale Determinismus wahr ist, oder ob ein Indeterminismus von einer Art, die keine zu weit gehende Zufälligkeit auf makroskopischer Ebene zulässt, endgültig bestätigt wird.

Kontrafaktische Kontingenz

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zum Zeitpunkt der Handlung darstellte, sinnvoll zwischen Alternativen und den Gründen für sie abzuwägen vermochte.15 4.1

Auch bei einem bloß kontrafaktischen Andersseinkönnen lassen sich in einem Entscheidungsprozess sinnvoll Gründe abwägen. Damit läuft alles auf die Fragen hinaus: In welchem Sinne muss es möglich sein, dass das Weltgeschehen anders verläuft, damit ein Abwägen sinnvoll ist? In welchem Sinne muss sich ein Mensch anders entscheiden können? Kausal ist es für Leibniz nicht möglich, dass irgendetwas anders verläuft, und so auch nicht, dass sich ein Mensch anders entscheidet. Da für ihn in einem weltumspannenden Bedingungsnetz alles mit allem zusammenhängt, innerhalb des wirklichen Weltgefüges mithin nicht das kleinste Detail geändert werden kann, ohne dass alles andere angepasst werden müsste, folglich bereits nicht mehr dieser Weltverlauf vorläge, sondern eine andere mögliche Welt, ist Kontingenz im Sinne eines realen Andersseinkönnens (innerhalb der wirklichen Welt) nicht gegeben. Bei der gegebenen Ereigniskonstellation des wirklichen Weltverlaufs und den ihn bestimmenden Gesetzen war es nicht möglich, dass irgendein Moment und so auch eine menschliche Entscheidung anders eintrat, als es tatsächlich geschah. Vorausgesetzt, die wirkliche Welt soll bestehen, innerhalb deren alles kraft der wahrhaft universellen, ausnahmslos geltenden, also notwendigen Naturgesetze miteinander verknüpft ist, so ist alles innerhalb ihrer notwendig (im Sinne einer hypothetischen Notwendigkeit); kontingent ist es nur insofern, als ein anderer Weltverlauf hätte wirklich werden können. Es macht aber einen Entscheidungsprozess, in dem Gründe für alternative Vorgehensweisen gegeneinander gewichtet werden, nicht von vornherein sinnlos, wenn realiter gar keine Alternativen bestanden haben. Nur darf dem Subjekt die reale Festlegung auf einen einzigen Geschehensablauf nicht bekannt sein. Zwecklos wäre ein Abwägen nur bei den von Leibniz scharf verworfenen Annahmen eines Fatalismus: Für diesen ist ein Ergebnis sozusagen isoliert für sich immer schon festgelegt, d.h. ganz gleich, was ein Mensch entscheidet oder unternimmt, es herbeizuführen oder zu verhindern.16 Für den 15  In der heutigen Diskussion besteht ein Ansatz darin, die Freiheit in inneren Fähigkeiten (abilities) oder Dispositionen, anders zu handeln, zu begründen. Kittle (2015) glaubt, die Fähigkeit, anders zu handeln, verschieden von der Dispositionserklärung des freien Willens durch Vihvelin (2013) sehen zu müssen. 16  Den Fatalismus bringt Leibniz auch mit der Schicksalsgläubigkeit der Mohammedaner zusammen (fatum Mahometanum) oder bezeichnet ihn als Trugschluss der faulen Vernunft (la raison paresseuse, λόγος ἀργός). Denn wenn es keine Möglichkeit gibt, den Geschehensverlauf zu beeinflussen, ist jedes Nachdenken müßig. Vgl. dazu A VI 1, 538– 542; Confessio philosophi A VI 3, 129; Theodizee § 55; Causa Dei § 45, §§ 106 f.

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von Leibniz vertretenen Determinismus ist das Ergebnis hingegen nur insofern festgelegt, als auch der Weg dahin festgelegt ist, die Festlegung also aus einem Determinationsgeschehen erwächst, in dem alle Momente durchgängig miteinander vernetzt sind. Innerhalb eines solchen Determinationsgeschehens aber treten nicht bloß physische, kausale Prozesse auf, sondern auch psychische, mentale – für Leibniz ohnehin die eigentliche Wirklichkeit. Ein wichtiges Moment, das zu einem Entschluss eines Menschen und der anschließenden Ausführung hinführt, sie in dieser bestimmten Form festlegt, ist gerade der Prozess der Entscheidung, also ein Abwägen der Gründe. Alles läuft daher auf die Frage hinaus: Kann jemand sinnvoll Gründe für und gegen ein bestimmtes Tun gegeneinander abwägen, obgleich das Resultat von der Sache her immer schon festgelegt ist? Leibniz bejaht dies. Aufschlussreich ist hier eine Stelle im Discours de métaphysique § 30 (A VI 4, bes. 1575, Z. 16–1576, Z. 13). Hier weist Leibniz die Klage einer Seele darüber zurück, für ihre Sünde verurteilt zu werden, obgleich sie doch immer schon von Gott zu diesem Verhalten determiniert sei.17 In der Antwort lassen sich folgende Gesichtspunkte unterscheiden: 1.) Von der Sache her sind beide Verhaltensalternativen möglich (l’un et l’autre part étant et demeurant possible). Wenn sie sich so entscheidet, tritt daher die eine Option ein, wenn sie sich anders entscheidet, die andere. Abwägen ist also sinnvoll, weil sie davon ausgehen kann: Durch die Art, wie sie sich entscheidet und daraufhin handelt, trägt sie wesentlich dazu bei, dass das tatsächliche Ergebnis zustande kommt. 2.) Subjektiv aber besaß die Seele das Vermögen, sich für das eine oder das andere zu entscheiden oder die endgültige Entscheidung und anschließende Handlung vorerst zu suspendieren. Diese psychologische Technik ist von zentraler Bedeutung, um nicht dem Überraschungseffekt der unmittelbaren Eindrücke zu erliegen (les surprises des apparences). Um sich gegen diese trügerischen Erscheinungen zu wappnen, kann man den festen Vorsatz (ferme volonté) fassen, sich erst dann zu entscheiden, wenn man Pro und Contra reiflich überlegt hat (murement délibéré), wenn man die verschiedenen Handlungsoptionen bedacht und die Motive, aus denen man so handeln würde, reflektiert hat (faire des réflexions). Wenn der Mensch von diesen ihm zu Gebote stehenden mentalen Möglichkeiten keinen Gebrauch macht, ist dies seine Schuld. 3.) Es ist auch deshalb sinnvoll, alternative Optionen und die Gründe dafür und dagegen abzuwägen, weil das immer schon feststehende Resultat, dass sich dieser Mensch zur Sünde entscheidet, ihm selbst nicht vorhersehbar ist. – Dass der Mensch künftige Willensentscheidungen und deren Ergebnisse nicht vorhersagen kann, beruht für Leibniz sogar auf 17  Zur Vereinbarkeit von Entscheidungsfreiheit und Vorhersehbarkeit durch Gott vgl. Taver (2006), 156.

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einem grundsätzlichen Unterschied der Willensentscheidung zum körperlichphysischen Naturgeschehen, das von subalternen Naturgesetzen in Gestalt wirkursächlicher Gesetzmäßigkeiten bestimmt ist. Der Wille vermag sich dagegen im Hinblick auf Zwecke oder Finalursachen dem Einfluss der Kausalgesetze der Natur zu entziehen und sich spontan selbst zu bestimmen.18 Daher lassen sich keine subalternen psychologischen Gesetze aufstellen, die unter dem Vorbehalt allgemeingültig sind, dass sie nicht durch ein Wunder von Gott außer Kraft gesetzt werden, und die daher einer Kreatur mit höheren geistigen Kapazitäten wie einem Engel die Entscheidung eines Geistes voraussagbar machten, so wie diese ein Naturgeschehen beim regelmäßigen Naturverlauf vorhersehen kann.19 Dass Leibniz im Unterschied zu heutigen Kompatibilisten keine Naturgesetze für psychische Vorgänge wie die Entscheidung annimmt, heißt natürlich nicht, dass diese der Determination entzogen wären. Anderswo betont er, es gebe unter den Gedanken nicht

18  At vero Substantiae Liberae sive intelligentes majus aliquid habent […], ut nullis certis Legibus universi subalternis alligentur, sed quasi privato quodam miraculo est sola propriae potentiae sponte agant et finalis cujusdam causae intuitu efficientium in suam voluntatem causarum nexum atque cursum interrumpant.“ (A VI 4, 1519) 19  „Itaque adeo verum est, ut nulla creatura sit καρδιογνώστης quae certo praedicere possit, quid Mens aliqua secundum naturae leges sit electura, quemadmodum alias praedici potest saltem ab angelo quid acturum sit aliquod corpus, si naturae cursus non interrumpatur.“ (A VI 4, 1519) Murray (1995), bes. 97–100 folgert aus der u.a. in diesem Text vollzogenen Unterscheidung zwischen den untergeordneten physikalischen Gesetzen für die regelmäßigen Naturereignisse und den wahrhaft allgemeinen Gesetzen, kraft deren Gott alles vorauszusagen vermag, dass Leibniz kein Kompatibilist im heutigen Sinne ist, der einen kausalen Determinismus zugrundelegt; Murray (2005) begründet die von ihm behaupteten inkompatibilistischen Sympathien Leibnizens mit seinem theologischen Anliegen. Damit Gott nicht als Urheber für die Sünde verantwortlich ist, müsse die moralische Notwendigkeit von einem psychologischen Determinismus scharf getrennt werden. Die (im Erfassen des Guten liegenden) praktischen Vernunftgründe legen unseren Akt zweckursächlich fest. Damit ist der freie Entscheidungsakt gerade nicht durch vorgängige psychische Bedingungen kausal in einer Art physischer Notwendigkeit determiniert. In seiner Konzeption der moralischen Notwendigkeit der Zweckursache nähere Leibniz sich dem libertarischen Ansatz der Jesuiten. Auch Adams (2005) stellt, ohne freilich inkompatibilistische Konsequenzen zu ziehen, der mit Freiheit vereinbaren moralischen Notwendigkeit, mit der wir nach Leibniz aus werthaften Gründen die Entscheidung ableiten, die blinde Notwendigkeit entgegen, sei es die (logisch-) metaphysische Notwendigkeit, bei der eine Alternative durch einen Widerspruch grundsätzlich ausgeschlossen ist, sei es die physische Notwendigkeit eines wertfrei wirkenden Determinationsmechanismus der Natur. Begby (2005), bes. 89 f. besteht jedoch darauf: Es widerspreche Leibniz’ Philosophie, aus der Nichtvorhersagbarkeit einer freien Entscheidung oder Handlung durch andere Geschöpfe zu schließen, die (kausale) Determination werde durchbrochen.

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weniger determinierende Verknüpfungen wie bei den Bewegungen,20 nur lassen diese sich nicht in Gestalt von Kausalgesetzen verallgemeinern. Realiter im wirklichen Ereignisablauf darf also feststehen, wie ich mich entscheide und wie daher das Geschehen verläuft. Freilich muss ich davon ausgehen können, dass es grundsätzlich anders hätte verlaufen können. Ohne ein solches kontrafaktisches Andersseinkönnen wäre ein Abwägen in der Tat leerlaufend, weil ich dann nicht davon ausgehe, dass das Geschehen so oder anders verläuft, je nachdem für welche Alternative ich mich entscheide.21 Oder in Bezug auf die heutige Diskussion betrachtet: Hier spricht man im Anschluss an G. E. Moore (1912), ch. 6 von einer Konditionalanalyse des Andershandelnkönnens. ,Ich kann anders handeln‘ bedeutet soviel wie ,Wenn ich mich aus guten Gründen dazu entschiede anders zu handeln, dann handelte ich anders‘. Diese Analyse liegt, wie wir gesehen haben, der Sache nach bereits bei Leibniz vor. Sie setzt voraus, dass ich unter irrealen Bedingungen oder kontrafaktisch anders handelte. Mithin müssen andere Weltverläufe möglich sein.22 4.2

Ist die gleichzeitige Möglichkeit zum Gegenteil erforderlich, um Freiheit zu garantieren? Ja, man könnte sogar argumentieren, dass ein kontrafaktisches Andersseinkönnen oder die irreale Möglichkeit zum Gegenteil nicht bloß hinreichend ist, Freiheit und Verantwortung zu begründen, sondern sogar eine notwendige Bedingung ist. Denn das Wirkliche steht irreversibel fest, sofern es faktisch gegeben, d.h. in Vergangenheit oder Gegenwart bereits vorliegt. In diesem Sinne aber ist es notwendig. Diese Einsicht war den mittelalterlichen Philosophen durchaus bewusst. Immer wieder hat man Aristoteles’ berühmtes Diktum aus int. 9 zitiert: „Dass das Seiende (der Fall) ist, wenn es ist, und dass 20  „[I]l n’ y a pas moins de connexion ou de détermination dans les pensées que dans les mouvements.“ (NE II 21, § 13, A VI 6, 178) 21  Ähnlich betont Leibniz in Causa Dei § 20: Damit neben der Spontaneität auch die Freiheitsbedingung der Vernünftigkeit gesichert ist, die sich im Überlegen oder Abwägen manifestiert (Libertas […] consistit in eo, ut Actio Voluntaria sit spontanea ac deliberata), muss die absolute logisch-metaphysische Notwendigkeit, deren Gegenteil unmöglich ist, ausgeschlossen sein, weil diese ein Überlegen vereitelte (excludat necessitatem quae deliberationem tollit). Kontingenz im Sinne eines grundsätzlichen oder kontrafaktischen Andersseinkönnens ist also die Bedingung, sinnvoll überlegen und Gründe abwägen zu können. 22  Vihvelin (2013), bes. 18 f. bezeichnet eine solche Position, die das Vermögen anders zu handeln, als mit dem Determinismus vereinbar ansieht, als metaphysischen Kompatibilismus. Der (rein) moralische Kompatibilist betrachtet den Determinismus als vereinbar mit der sittlichen Verantwortung, ohne diese vom Andershandelnkönnen abhängig zu machen.

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das Nichtseiende nicht (der Fall) ist, wenn es nicht ist, ist notwendig.“ (19a23 f.) Offen für menschliche Gestaltung ist nur die Zukunft. Damit aber scheint das für die Freiheit konstitutive Andershandelnkönnen gar nicht gewährleistet, wenn wir uns auf die Wirklichkeit beschränken. Denn mein Entscheiden und Handeln muss sich in der Gegenwart als der einzigen mir wirklich gegebenen Zeit vollziehen; das Vergangene ist nicht mehr, das Künftige aber ist noch nicht. Damit ich frei handle, muss ich offenkundig frei sein, die Handlung, die ich jetzt vollbringe, in diesem Augenblick auch nicht zu tun. Wenn die Handlung aber bereits wirklich geschieht, wie kann ich dann diese Handlung zu demselben Zeitpunkt auch nicht vollbringen? Denn das Geschehene kann nach Aristoteles’ Grundsatz nicht ungeschehen gemacht werden. Wenn es frei sein soll, dass ich jetzt sitze, muss offenbar die Möglichkeit für mich gegeben sein, jetzt auch zu stehen. Angenommen ein Sitzen impliziere ein Nichtstehen und umgekehrt,23 dann kann diese Möglichkeit zu stehen nicht real sein oder sich auf den wirklichen Weltverlauf beziehen, da ein Widerspruch unmöglich ist. Sie muss also kontrafaktisch sein: Bei einem anderen Ereignisverlauf hätte ich stehen können. Bereits in der mittelalterlichen Scholastik entbrannte zwischen Duns Scotus und Wilhelm von Ockham ein Streit, ob zur Erklärung der Freiheit kontrafaktische Möglichkeiten angenommen werden müssen. Duns Scotus glaubte aufgrund solcher Überlegungen, wie wir sie gerade entwickelt haben, Freiheit (die er voluntaristisch und indeterministisch verstand) sei nur bei einer gleichzeitigen Möglichkeit zu Gegenteiligem gewährleistet. Diese Möglichkeit kann sich bei Gefahr eines Widerspruchs nicht auf den wirklichen Ereignisverlauf beziehen, setzt also bloß mögliche, niemals wirkliche alternative Weltverläufe voraus, eben mögliche Welten, wie sie schon vor Leibniz in der Tradition von Duns Scotus bei Barockscholastikern erörtert wurden.24 Kurz nach Duns Scotus hat Wilhelm von Ockham jedoch 23  Wenn wir Sitzen dadurch definieren, dass der größere Teil des Gewichts auf dem Gesäß ruht und Stehen dadurch, dass der Hauptteil des Gewichts auf den Füßen ruht, dann kann jemand nicht gleichzeitig sitzen und stehen. 24  Duns Scotus selbst hat dabei weniger kontrafaktische Möglichkeiten im universalen Rahmen möglicher Weltverläufe bedacht, sondern stellte die Entscheidungsfreiheit des individuellen Willens in den Vordergrund. Diese verlangt, dass der Wille an den Akt, den er in einem bestimmten Augenblick hervorbringt, nicht gebunden ist. Die Möglichkeit, zu diesem Zeitpunkt auch den gegenteiligen Akt zu setzen, begreift Scotus sogar als reale Möglichkeit, weil der Wille seinen Akten vorausliegt, natürlich nicht zeitlich, sondern in einem logisch-ontologischen Voraussetzungsverhältnis (instantia naturae). Vgl. etwa Lectura I d. 39, n. 49–51, 60. Auch Opus oxoniense II d. 18, n. 17 ist die Existenzweise der Kreatur durch Kontingenz ausgezeichnet, dass gleichzeitig zum faktischen Existieren auch das Gegenteil der Fall sein könnte, dass das Geschöpf dann nicht existiert. Auch hier ist die kontrafaktische Möglichkeit nicht auf bloß mögliche Weltverläufe bezogen,

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solche kontrafaktischen Möglichkeiten verworfen. Bei seiner nominalistischen Grundeinstellung beargwöhnte er es im Sinne des ontologischen Sparsamkeitsprinzips, solche abstrakten Entitäten wie nie wirkliche Möglichkeiten anzunehmen, wenn sie unnötig (praeter necessitatem) sind, d.h., wenn sie nicht zur Erklärung unabdingbar sind. Zur Erklärung der Freiheit aber muss keine gleichzeitige Möglichkeit zu Gegenteiligem angenommen werden, die zwingend kontrafaktisch ist. Damit ich frei bin, ist es nicht nötig, dass mir im Moment der Handlung das Gegenteilige möglich ist; es reicht, wenn ich dies im nächsten Moment zu tun vermag, ohne dass mich eine Änderung in der Situation zu einem solchen anderen Tun motivieren müsste.25 4.3

Kann Leibniz eine Identität über mögliche Welten anerkennen, die offenbar erforderlich ist, damit Andershandelnkönnen in einer anderen Welt für die Freiheit bedeutsam ist? Ein zentrales Problem von Leibniz’ deterministischer Konzeption ist freilich: Wenn es real unmöglich und nur kontrafaktisch möglich ist, dass ich anders handle, ist diese Möglichkeit für meine Freiheit überhaupt von Bedeutung? Nach Leibniz’ Theorie des vollständigen Individualbegriffs (Discours de métaphysique §§ 8 u. 13), in den jede Eigenschaft dieses Individuums eingeht, handelte es sich bereits nicht mehr um dieses Individuum, wäre auch nur eine einzige, noch so unbedeutend erscheinende Eigenschaft anders. Weil alle Eigenschaften sich wechselseitig bedingen, müssten nämlich alle anderen Eigenschaften angepasst werden. Wenn aber nur mein Gegenstück (counterpart) in einer anderen möglichen Welt [im Sinne von Lewis (1973) und (1986)] anders handelte, was für eine Bedeutung hätte das für meine Freiheit? Offenkundig muss es möglich sein, dass ich selbst bei einem anderen Weltverlauf anders handelte.26 Also muss es eine Identität über mögliche sondern den kontingenten Willensentschluss Gottes, der sich nicht hätte zu entscheiden brauchen, der Kreatur zu diesem Zeitpunkt Existenz zu verleihen. Vgl. Liske (2003a), bes. 352–355. Weiterhin ist zu beachten: Scotus geht es weniger um willentlich verursachte äußere Handlungen (actus imperatus) (wie es unser Beispiel nahelegen könnte und wie sie Ockham in seiner Auseinandersetzung zugrunde legt), sondern um das Hervorbringen des Willensaktes selbst (actus elicitus). 25  Wilhelm von Ockham, Tractatus de praedestinatione et de praescientia Dei respectu futurorum contingentium, OP II 507–539, v.a. q. 3, 532 f. Vgl. Liske (2003b). 26  Borst (1992), 56 glaubt, Lewis’ Counterpart-Theorie liefere aufgrund dessen, was eines meiner Gegenstücke in einer anderen Welt tut, die Bedingungen, unter denen es wahr ist, im wörtlichen Sinne zu sagen, ich selbst hätte anders handeln können. Auch wenn Lewis dies beansprucht, lässt sich diese Forderung m.E. durch keinerlei Gründe plausibel machen. Denn wenn Lewis in seinem Realismus bezüglich möglicher Welten annimmt, die anderen Welten seien genauso real wie die, die wir von unserem Standpunkt als

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Welten hin geben. Halten wir uns an das von Leibniz ausdrücklich Gesagte, kann es schwerlich eine solche transworld identity geben. Ist doch für ihn die Äquivalenz der Indiszernibilität, d.h. der begrifflichen Ununterscheidbarkeit oder Übereinstimmung in allen Eigenschaften und der Identität bedeutsam.27 Können wir Leibniz, ohne von seinen Grundüberzeugungen abzuweichen, in seinem Sinne so weiterdenken, dass das Andershandelnkönnen bei einem anderen Weltverlauf für die Freiheit des Individuums selbst konstitutiv ist? Eine Identität über mögliche Welten hin im strengen Sinne ist durch den Ursprung garantiert, dass die Weltgeschichte bezüglich eines Individuums bis zu einem bestimmten Punkt wie die wirkliche verläuft und sich dann verzweigt.28 Das ist bei Leibniz durch die Forderung ausgeschlossen, alles hänge mit allem zusammen. Wenn ein Individuum künftig anders handelt, hat dies seine Wurzeln in der Vergangenheit dieser Person. Ohne die These einer weltumspannenden Verknüpfung aber kann es keinen Determinismus geben. Leibniz’ Freiheitskonzeption kann wohl nicht dadurch gerettet werden, dass wir die Annahme des vollständigen Individualbegriffs als peripher aufgeben. Dann wäre es bereits nicht mehr seine Philosophie. Wir müssten vielmehr annehmen, eine etwas schwächere Relation als die Identität stricto sensu sei stark genug zu garantieren, dass das Tun einer Person in einer anderen Welt für meine Fähigkeit der Entscheidungsfreiheit bedeutsam ist. Nun kennt Leibniz im Discours neben der Individuation durch den vollständigen Begriff auch eine Natur der Dinge (nature des choses, § 7).29 Wichtig ist der Unterschied des Wesens (essence) zur Natur im § 16. Das Wesen, das geradezu mit dem Individualbegriff gleichgesetzt wird, umfasst alles, was wir nur irgendwie ausdrücken, mithin unendlich vieles, nämlich das gesamte Universum. Damit übersteigt es unser distinktes Fassungsvermögen. Das Natürliche (naturel) oder die Natur können wir dagegen erfassen. Nicht so sehr spiegeln wir nämlich kraft der weit gefassten Natur das gesamte Universum konfus, vielmehr gehört das, was unsere Natur vollkommener (in einem höheren Grade klar und distinkt) ausdrückt, ihr in besonderer Weise zu, macht ihr besonderes Vermögen aus.30 wirklich bezeichnen, dann sind die möglichen Welten eigenständig, also voneinander (relativ) unabhängig. Damit ist auch ein Ereignis einer Welt weitgehend eigenständig gegenüber dem parallelen Ereignis einer anderen Welt. Wie soll dann das Handeln eines Gegenstücks in einer anderen möglichen Welt für mein Handeln bedeutsam sein? 27  Vgl. etwa A VI 4, 1645. 28  Kripke (1980), 110–115 betont die Notwendigkeit des Ursprungs. Bei einem verschiedenen Ursprung könnte es sich also nicht um dasselbe Individuum handeln. 29  Auf diesen Punkt hat mich Professor Buchheim aufmerksam gemacht. 30  „Mais comme ce que notre nature exprime plus parfaitement lui appartient d’une manière particulière, puisque c’est en cela que sa puissance consiste, et qu’ elle est limitée […].“ (Discours § 16) Auch im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Bayle um das système

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Diese endliche individuelle Natur in ihrem begrenzten besonderen Vermögen könnte über verschiedene Welten hin erhalten bleiben. Im praktisch bedeutsamen Sinne macht wohl diese begrenzte Natur eher unsere Individualität aus als der allumfassende vollständige Individualbegriff. Denn für das Handeln ist die uns besonders prägende begrenzte Natur oder der Charakter, den wir (sofern er endlich ist) reflektierend erfassen und damit verbessern können, wichtiger als der allumfassende metaphysische Individualbegriff. Da nichts im Wege steht, dass diese Natur über mögliche Welten hin erhalten bleibt und damit auch die Individualität im ethisch bedeutsamen Sinne, ist das Andershandeln der Person mit der gleichen individuellen Natur für mein Andershandelnkönnen doch wohl maßgeblich. 4.3.1

Die Aussagen über die individuelle Natur als zwischen weltgebundenen kontingenten und universalen notwendigen Wahrheiten stehend Wegen der Wichtigkeit wollen wir diese Frage vertieft im Kontext der Leibniz’schen Philosophie betrachten. Die Konzeption des vollständigen oder vollkommenen Individualbegriffs ist auch deshalb so unlösbar mit Leibniz’ Philosophie verknüpft, weil sie mit einer anderen zentralen Lehre verbunden ist, seiner Definition der Wahrheit durch Enthaltensein des Prädikats im Subjekt,31 die für jeden Typus einer wahren affirmativen Aussage gilt, ob notwendig oder kontingent, universell oder singulär. Weil demnach der Begriff des Prädikats im Begriff des Subjekts eingeschlossen ist, lässt sich grundsätzlich jede wahre Aussage a priori durch Analyse ihrer Begriffe in ihre Werte oder die in ihr enthaltenen Termini beweisen. Dies setzt freilich eine vollkommene Kenntnis der Begriffe voraus, wie sie allein Gott besitzt.32 Begriffsanalytische nouveau unterscheidet er zwischen dem im strikten Sinne notwendigen, unveränderlichen Wesen und dem Natürlichen als dem der Natur der Sache bloß Angemessenen, wo also Variationsspielraum besteht. „Ce qui est naturel, est convenable à la nature de la chose, mais ce qui est nécessaire, est essentiel et ne saurait être changé.“ (GP IV, 592) 31  So stellt Leibniz in einer Abhandlung über logisch-metaphysische Prinzipien heraus: Der vollständige Begriff einer Einzelsubstanz enthält alle ihre Prädikate: vergangene, gegenwärtige und zukünftige. Weil es (für ihn) jetzt schon wahr ist, dass ein künftiges Prädikat künftig gelten wird, muss es gemäß der begriffsanalytischen Wahrheitsdefinition im Individualbegriff des Subjekts enthalten sein. „Utique enim praedicatum futurum esse futurum jam nunc verum est, itaque in rei notione continetur.“ (A VI 4, 1646) 32  So beginnt eine Abhandlung über die Natur der Wahrheit, Kontingenz etc.: „Verum est affirmatum, cujus praedicatum inest subjecto. Itaque in omni Propositione vera affirmativa, necessaria vel contingente, universali vel singulari Notio praedicati aliquo modo continetur in notione subjecti, ita ut qui perfecte intelligeret notionem utramque, quemadmodum eam intelligit Deus, is eo ipso perspiceret praedicum subjecto inesse.“

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Wahrheitsdefinition und vollständiger Individualbegriff implizieren offenbar gleichermaßen einen Nezessitarismus, der ein Andershandeln ausschließt. Wenn jede Wahrheit durch Enthaltensein des Prädikats im Subjekt definiert ist, ist dann nicht jede Aussage analytisch im Sinne Kants, also notwendig? Wenn alle Eigenschaften eines Individuums, nicht nur die absoluten, einem Individuum für sich genommen zukommenden, sondern auch die relationalen, also die Beziehungen eines Individuums zu anderen Individuen (des jeweiligen Weltverlaufs),33 in seinem Begriff enthalten sind, dann ist es unausweichlich weltgebunden.34 Das individuelle Subjekt selbst kann offenbar nicht anders handeln, als es tatsächlich gehandelt hat. Diese Schwierigkeit ergibt sich keineswegs bloß (wie es hiernach scheinen mag) aus spezifisch Leibniz‘schen Annahmen, sondern ist von systematischer Bedeutung, da sie jede eigentliche Form eines Determinismus angeht. Wenn das Weltgeschehen einschließlich des menschlichen Handelns nicht nur weitgehend in seinen Grundzügen, sondern bis in jede Einzelheit hinein kausal durch Voraufliegendes bedingt ist, dann muss das Geschehen bezüglich eines Individuums mit dem bezüglich jedes anderen ursächlich zusammenhängen. Sonst könnten zwei untereinander nicht kausal zusammenhängende Ereignisverläufe zusammenstoßen. Dies wäre Zufall. Damit ist in jedem noch so unbedeutend erscheinenden Zustand eines Individuums jeder andere Zustand des durchgängig verknüpften Universums irgendwie eingeschlossen. (A VI 4, 1515) Ähnlich Generales Inquisitiones (GI) § 132: „Omnis propositio vera probari potest; cum enim praedicatum insit subjecto […] seu notio praedicati in notione subjecti perfecte intellecta involvatur, utique resolutione terminorum in suos valores seu eos terminos quos continent oportet veritatem ostendi.“ 33  Um das Prinzip „Praedicatum inest subjecto“ durchgängig anwenden zu können, versucht Leibniz relationale Ausdrücke auf absolute zurückzuführen. Vgl. etwa A VI 4, 114 f. 34  Adams (1994), 71–74 zeigt im Anschluss an Mates: Die Theorie der Wahrheit als begriffliches Enthaltensein verlangt nicht, eine kontrafaktische Identität über verschiedene Welten hin zu bestreiten, wenn man weltindizierte Eigenschaften einführt. Dann kann z.B. Arnaulds Individualbegriff sowohl enthalten, in einer bestimmten Welt zeitweilig verheiratet zu sein, als auch in der wirklichen als der bestmöglichen dauernd ehelos zu leben. Diese Konzeption weltindizierter Eigenschaften ist aber nur bei einem Individualbegriff sinnvoll, der (relativ) unabhängig nebeneinanderstehende Prädikate in sich einschließt. Leibniz führt den Individualbegriff aber gerade wegen seiner deterministischen Grundüberzeugung ein, alles bedinge sich wechselseitig. Wenn jede einzelne Bestimmung eines Individuums nicht nur mit der gesamten Lebensgeschichte dieses Individuums zusammenhängt, sondern auch in Bedingungszusammenhängen zu allen kompossiblen Individuen derselben Welt steht, dann ist dieses Individuum, aber auch jede Wahrheit über es unausweichlich weltgebunden [zur Weltgebundenheit auch kontingenter Wahrheiten vgl. Liske (1993), 171–180]. Weltindizierte Prädikationen werden damit hinfällig. Erst recht widerspricht es Leibniz’ Grundanliegen, durch Weltindizierung eine Identität über mögliche Welten hin zu garantieren.

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Das Individuum ist also weltgebunden. Sowie es anders handelte, müsste alles andere im weltumspannenden Kausalnetz angepasst werden. Es wäre bereits ein anderer Weltverlauf und ein anderes Individuum. Das Problem, dass Kontingenz und damit Freiheit vereitelt scheint, wenn jedes wahre Prädikat durch Analyse als im Subjektbegriff enthalten erwiesen werden kann, versucht Leibniz dadurch zu lösen, dass er mit den mathematischen Mitteln des von ihm entdeckten Infinitesimalkalküls zwei Formen der Analyse und damit des Enthaltenseins bei notwendigen und kontingenten Prädikaten unterscheidet. Diese Unterscheidung lässt (indem wir Leibniz weiterdenken) noch einen dritten, mittleren Typus eines Prädikats zu: die Prädikate, die die individuelle Natur charakterisieren, auf die wir im Discours bereits gestoßen sind. Die ,notwendig-kontingent‘-Unterscheidung vollzieht Leibniz in beiden von uns zitierten Texten im Anschluss an die These des begrifflichen Enthaltenseins, um deren nezessitaristische Konsequenzen zu vermeiden. Eine absolut notwendige Aussage wird dadurch bewiesen, dass sie in einer endlichen Anzahl von Analyseschritten auf eine explizite Identität zurückgeführt wird, d.h. (modern gesprochen) eine Tautologie der Form ,AB ist A‘ und ihr Gegenteil damit als widersprüchlich erwiesen wird (GI § 133 u. A VI 4, 1515). Bei einer kontingenten Wahrheit wird die Identität niemals erreicht, auch wenn beide Termini beliebig (unendlich) weiter analysiert werden.35 Das Enthaltensein des Prädikats im Subjekt erweist sich aber darin, dass die unendlich fortgesetzte Analyse sich beliebig der Identität als Grenzwert annähert.36 Notwendige und kontingente Wahrheiten lassen sich daher mit einem kommensurablen Verhältnis, das sich in natürlichen Zahlen ausdrücken lässt (rationes effabiles numerorum commensurabilium), gegenüber einem irrationalen oder inkommensurablen Verhältnis (rationes surdae numerorum incommensurabilium, A VI 4, 1516), das zu nie endenden Reihen führt, vergleichen (A VI 4, 1516). Dennoch besteht ein wichtiger Unterschied. Die Unendlichkeit mathematischer Reihen ist bloß formal, lässt sich also auf ein endliches, vom menschlichen Geist erfassbares Reihenbildungsgesetz zurückführen. Bei der Analyse kontingenter Wahrheiten sind wir dagegen mit einer unendlichen inhaltlichen Mannigfaltigkeit konfrontiert.37 Daher kann allein Gott, dessen Geisteskraft auf einmal eine unendliche Vielfalt zu erfassen 35  „[R]esolutione utriusque termini indefinite continuata“. (A VI 4, 1516) 36  „[O]stendendo continuata magis magisque resolutione accedi quidem perpetuo ad identicas“. (GI § 134) 37  Carriero (1993) versucht (v.a. in Bezug auf C 18 f. = A VI 4, 1517 f.) aufzuweisen: Die Unendlichkeit der Analysereihen kontingenter Wahrheiten beruht nicht auf formallogischen Gründen des Beweises, sondern ist vielmehr durch inhaltliche, physikalische Gesichtspunkte bedingt.

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vermag, a priori aus Begriffen heraus, Gewissheit über das kontingente Enthaltensein des Prädikats im Subjekt erhalten (wie beide Texte betonen). Diese unendliche Inhaltsfülle rührt offensichtlich daher, dass in den kontingenten Zusammenhang einer Eigenschaft mit ihrem individuellen Subjekt der unendlich komplexe Kausalzusammenhang der Welt eingeht. Nicht nur ein kontingentes Individuum, auch eine kontingente Wahrheit ist weltgebunden, ja ihre Kontingenz besteht gerade darin, nur in der wirklichen und nicht in anderen möglichen Welten zu gelten. Der endliche Begründungszusammenhang einer notwendigen Wahrheit kann demgegenüber im Kontext aller Welten gelten. Das aber kennzeichnet die Notwendigkeit.38 Damit kann es offenbar einen dritten Typus von Prädikaten und Wahrheiten zwischen den weltgebundenen und den universal in allen Welten geltenden geben: diejenigen, die die individuelle Natur betreffen, also jene hervorstechenden Charaktermerkmale, Betätigungen, Errungenschaften, durch die ein Individuum uns besonders bemerkenswert und ausgezeichnet erscheint. Solche Prädikate sind nicht 38  Lagerlund/Myrdal (2006/7) argumentieren dagegen, Leibniz definiere wie die heutige Modalsemantik Notwendigkeit und Kontingenz als Geltung in allen bzw. in einigen, aber nicht in allen möglichen Welten. Historisch ist sicher zutreffend, dass die Konzeption möglicher Welten auf Gottes Wahl zu beziehen ist (wie es die Autoren betonen). So haben Leibniz’ Vorläufer in diesem Begriff, die Barockscholastiker, mit der Rede möglicher Welten ausgedrückt: Gott in seiner Allmacht war nicht darauf beschränkt, die Welt so zu erschaffen, wie sie wirklich ist. Richtig ist auch, dass Leibniz Notwendigkeit versus Kontingenz und Freiheit vorwiegend als dem Individualbegriff interne Bestimmungen aufgefasst hat, in welchem Modus das Prädikat dem Subjekt zukommt. Wenn der Individualbegriff Adams einschließt, freiwillig zu sündigen, dann ändert Gottes Entschluss, die Welt, die diesen Individualbegriff enthält, zu erschaffen, nichts an der inneren Natur, dass diese Bestimmung Adam kontingent und frei eignet; er macht das Gegenteil nicht unmöglich (Theod. § 231). Dieser interne Subjekt-Prädikat-Zusammenhang zeigt sich nach Leibniz daran, dass ein notwendiges Prädikat in einer endlichen Analyse als im Subjekt enthalten bewiesen werden kann, die Analyse einer kontingenten Wahrheit sich einer Identität als Grenzwert dagegen nur beliebig annähert. Als Folge dieser Bestimmung von Notwendigkeit und Kontingenz ergibt sich aber, dass notwendige Wahrheiten in allen, kontingente in zumindest einer Welt gelten, d.h. weltgebunden sind. Dies hat unsere Erörterung ergeben, die durch A VI 4, 1517 bestätigt wird: Weil die essentialen oder notwendigen Wahrheiten durch Begriffsanalyse als virtuell identisch, ihr kontradiktorisches Gegenteil aber als virtuell widersprüchlich bewiesen werden können, ihre Verneinung also ausgeschlossen ist oder sie nicht nicht-sein können, gelten sie in allen möglichen Welten, auch wenn Gott die Welt anders erschaffen hätte (etiam obtinuissent, si Deus alia ratione Mundum creasset). Die kontingenten oder existentialen Wahrheiten sind dagegen wegen ihrer unendlichen, nur Gottes allumfassendem Geist überschaubaren Inhaltsfülle auf das aktuell Existierende (quid actu existat), also das Faktische, das nicht hätte zu sein brauchen, oder die wirkliche Welt bezogen. Oder sie beziehen sich auf das, was bei bestimmten (nicht zwingenden) Voraussetzungen existierte (certis positis contingenter extiturum), also eine bloß mögliche Welt.

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notwendig oder wesentlich, weil sie nicht für das Sein dieser Person konstitutiv sind. Bei einem anderen Weltverlauf hätte dieses Individuum (oder sein Gegenstück in dieser Rolle im Geschehensablauf) gerade nicht diese Stellung gehabt (z.B. als Wissenschaftler) oder das vollbracht (bemerkenswerte Entdeckungen), was wir sogleich mit seiner Person zusammenbringen. Da sie umgekehrt nicht den absolut vollständigen Individualbegriff ausmachen, also nicht alle Beziehungen zur Welt spiegeln, sind sie nicht weltgebunden, sondern können im Kontext mehrerer, wenngleich nicht aller Welten auftreten. Indem sie die hervorstechende individuelle Eigenart ausmachen, garantieren sie eine Identität über mögliche Welten hin. 4.3.2

Inwiefern die mehreren möglichen Adame nicht als Gegenstücke aufzufassen sind Zu der Frage, ob und wie sich neben der eigentlichen Individuation durch den vollständigen Individualbegriff noch eine nicht weltgebundene Individualität im weiten Sinne denken lässt, ist eine Stelle aus der Arnauldkorrespondenz aufschlussreich, wo Leibniz von mehreren Adamen spricht, die disjunktiv möglich sind, d.h. je nachdem ob er dieser oder jener möglichen Welt angehört. Im Schreiben an Arnauld vom 14. Juli 1686 schreibt Leibniz: Sie sagen sehr berechtigt, dass es ebenso wenig möglich ist, mehrere mögliche Adame (plusieurs Adams possibles) zu denken, wenn man Adam als eine individuelle Natur auffasst (une nature singulière), wie mehrere Ich zu denken. Dem stimme ich zu. Aber bei der Rede von mehreren Adamen habe ich Adam nicht als ein bestimmtes Individuum aufgefasst (pour un individu déterminé), sondern als eine unter einem Allgemeinbegriff gedachte Person (pour quelque personne conçue sub ratione generalitatis), unter Umständen, die uns Adam auf ein Individuum festzulegen scheinen, die ihn aber in Wahrheit nicht hinlänglich festlegen, wenn man beispielsweise unter Adam den ersten Menschen versteht, den Gott ins Paradies versetzt, das er aber wegen der Sünde wieder verließ, und aus dessen Rippe Gott eine Frau hernahm. […] Aber all dies legt nicht hinlänglich fest, und so gäbe es mehrere disjunktiv mögliche Adame oder mehrere Individuen, denen all das zukäme. (A II 2, 77) Es ist eine allgemeine Überzeugung, über die auch Leibniz und Arnauld sich einig sind: Die Individualität zeichnet sich dadurch vom Allgemeinen aus, einmalig zu sein, sich also nicht beliebig oft vervielfältigen zu lassen. Wenn Leibniz daher im Plural von mehreren möglichen Adamen spricht, d.h. Personen in verschiedenen möglichen Weltverläufen, die in ihrer Welt die

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Rolle Adams einnehmen, also all die charakteristischen Merkmale aufweisen, durch die wir Adam definiert sehen, geht es streng genommen nicht um dasselbe Individuum. Ein Individuum muss nach Leibniz nämlich als lebendiger Spiegel die jeweilige mögliche Welt wiedergeben, der es angehört. Zwei Mitglieder verschiedener Welten können damit eo ipso nicht inhaltlich oder qualitativ ununterschieden, also dasselbe Individuum sein, sondern sind eine bestimmte Art Person im Allgemeinen. Die allgemeine Überzeugung ist also zurückzuweisen, diese hervorstechenden Merkmale legten die Individualität fest. Diese wird erst durch den absolut vollständigen Individualbegriff konstituiert, aus dem sich das kleinste Detail über dieses Individuum ableiten lässt. So weit bewegen wir uns auf der metaphysisch strengen Ebene, deren Individualitätsauffassung die Freiheit gefährdet. Nun geht es aber trotz Leibniz’ Rede von Allgemeinheit bei den vielen möglichen Adamen nicht um den Allgemeinbegriff im üblichen Sinne eines Begriffs von einem bestimmten Typ von Menschen, der außer der für diesen Typ charakteristischen Merkmalen in recht unterschiedlichen Exemplaren vorliegen kann. Vielmehr weist er alle Eigenschaften auf, die zusammen für uns das Individuum ausmachen – sonst gebrauchten wir nicht den Eigennamen –, mögen diese im strengen metaphysischen Sinne auch nicht ausreichen, ein Individuum von jedem anderen möglichen abzugrenzen. Die mehreren möglichen Adame müssen jedenfalls sorgfältig von Lewis’ Gegenstücken unterschieden werden. Die Auffassung der counterparts ist auf dem Boden von Lewis’ Realismus bezüglich möglicher Welten entstanden. Hiernach stehen die möglichen Welten gleichberechtigt, mithin eigenständig neben unserer, der wirklichen. Damit ist unmöglich, dass dasselbe Individuum mehreren Welten angehört. Man kann nur fragen, welches Individuum einer anderen Welt einem Individuum in unserer Welt qualitativ in den meisten oder gewichtigsten Eigenschaften gleicht. Das Andershandelnkönnen einer anderen, nur qualitativ sehr ähnlichen Person aber ist für meine Freiheit allenfalls indirekt von Belang.39 Wenn das kontrafaktische Andershandelnkönnen für meine Freiheit bedeutsam sein soll, müssen wir vom wirklichen Weltverlauf 39  Lodzinski (1994), bes. 183 f. argumentiert gegen den Überessentialismus, der zu weltgebundenen Individuen führt, und plädiert dafür, auch bei Leibniz einen traditionelleren Begriff der Essenz zugrunde zu legen, der eine Zwischenweltidentität gestattet, so dass dieselbe Person Adam unter verschiedenen möglichen Umständen leben und entsprechend anders handeln kann. Die überessentialistische Annahme weltgebundener Individuen führe zu einer abstrusen Situation: Wenn ein Handelnder verschiedene Alternativen abwägt, betrachtet er, da seine Person unlösbar mit der wirklichen Handlungsoption verbunden ist, bei den übrigen gar nicht seine eigenen Handlungsmöglichkeiten, sondern die anderer Personen (seiner Gegenstücke), als wären es die eigenen.

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als Bezugspunkt ausgehen und jedenfalls die möglichen Welten, in denen ich anders handelte, als alternative Weisen auffassen, wie das wirkliche Weltgeschehen hätte verlaufen können. (Daneben mag es auch ganz eigenständige mögliche Welten geben, die andere Individuen oder sogar Naturgesetze haben, sie sind hier aber nicht zu beachten.) In diesen Alternativen zum wirklichen Geschehensablauf sind mögliche Adame keine bloßen counterparts, die aufgrund der größten qualitativen Nähe erst als Gegenstücke zu erweisen sind. Vielmehr ist es von vornherein Adam mit all den für ihn charakteristischen Eigenschaften und seiner Rolle unter alternativen Verhältnissen. Zwar nicht im strikten metaphysischen, wohl aber im praktisch bedeutsamen Sinne kann man hier von der Selbigkeit des Individuums ausgehen. Die Rede von den „plusieurs Adams disjunctivement possibles“ lässt sich in diesem praktischen Sinne so verstehen: Entweder stellt sich Adam – wohlbemerkt Adam selbst – bei diesem Weltverlauf als dieser Adam dar oder bei einem anderen als jener Adam oder wieder bei einem anderen als noch ein anderer Adam. Hier ist von vornherein klar, ob in einem gegebenen Weltverlauf Adam existiert oder nicht. Wir brauchen nicht aufgrund qualitativer Nähe zu entscheiden, ob man in diesem Weltverlauf berechtigt von einem Gegenstück reden kann.40 Die kontrafaktische Kontingenz der Deterministen und die Leugnung der Kontingenz durch die Nezessitaristen Duns Scotus hat kontrafaktische Möglichkeiten angenommen, um eine indeterministisch verstandene Freiheit zu begründen. Nun ist die kontrafaktische Möglichkeit aber unabhängig von der Zeitstufe: Wenn die für die Freiheit unerlässliche Möglichkeit des Andersseins und Anderstuns in alternativen Weltverläufen gründet, die parallel zum wirklichen Weltgeschehen verlaufen, dann gibt es zum Geschehen gleichermaßen jeder Zeitstufe kontrafaktische Alternativen. Damit brauchen wir zur Begründung des Andershandelnkönnens nicht die indeterministische Annahme einer zeitlichen Asymmetrie von festgelegter Vergangenheit und offener Zukunft. Ein zeitlich symmetrisches Determiniertsein als die charakteristische Annahme des Determinismus hat den epistemischen Vorzug einer größeren Einfachheit. An einem Beispiel aus Theod. § 36 veranschaulicht: Es war vor hundert Jahren bereits ebenso 4.4

40  Bemerkenswerterweise geht Leibniz Theod. § 414 bei einer Rede von annähernd gleichen Sexti (des Sextus approchants) davon aus: Sie weisen alles auf, was vom richtigen Sextus der wirklichen Welt als seine vergangene Lebensgeschichte bekannt ist – wodurch eine Gleichheit im lockeren Sinne garantiert ist – und weichen nur im künftigen Lebensweg ab. Da dieser für den Deterministen (für uns freilich nicht wahrnehmbar) im gegenwärtigen Zustand bereits angelegt ist, ist keine strikte Identität möglich.

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festgelegt, dass ich jetzt schreiben werde, wie es in 100 Jahren irreversibel feststeht, dass ich jetzt geschrieben habe. Nun mag man sich fragen, ob für eine Freiheit, die als Selbstbestimmung der Vernunft im Leibniz‘schen Sinne gegenüber der Unfreiheit als Fremdbestimmtsein verstanden ist, überhaupt Kontingenz erforderlich ist. Dies scheint man zunächst verneinen zu können. Denn Spinoza, der in seinem Nezessitarismus jede Kontingenz verwirft, entwickelt ganz prominent am Ende der Ethik den Gegensatz von Knechtschaft (servitudo) als Beherrschtsein von den Affekten und Freiheit als Herrschaft der Vernunft. Die Unentbehrlichkeit der Freiheitsbedingung Kontingenz erweist sich jedoch angesichts der ethisch bedeutsamen Unterscheidung zweier Formen der Unfreiheit. Wenn wir uns unter dem Einfluss von Hypnose, Gehirnwäsche, starkem psychischen Druck, neurophysiologischen Manipulationen oder ähnlichem zu einem üblen Tun entschieden haben,41 empfinden wir keine Reue, die stets auch Selbstvorwürfe einschließt, bedauern allenfalls, dass mit uns etwas derartiges geschehen ist. Genuine Reue zeigen wir dagegen (zumindest sofern wir uns selbstkritisch 41  Auf derartige psychologische Eingriffe beruft sich Frankfurt (1969) in seinem Aufsatz, der die heutige Diskussion der Freiheitsdebatte nachhaltig bestimmt. Frankfurt konstruiert hier Beispiele, um die bislang allgemein anerkannte Voraussetzung in Frage zu stellen, ein Andershandelnkönnen sei eine notwendige Bedingung für die sittliche Verantwortung. Auf die Einzelheiten des Beispiels kommt es nicht an. Deshalb spricht man sogar von Frankfurt-type-cases [z.B. Fischer (1987)]. Die Konstellation ist folgende: B ist sehr daran interessiert, dass A eine bestimmte Tat vollbringt, und hat auch die Möglichkeit, durch solche Eingriffe wie starke Drohungen, Hypnose, Drogen oder unmittelbare Manipulationen des Nervensystems in A das unwiderstehliche Verlangen nach dieser Tat zu erzeugen. Welche Mittel genau B zu Gebote stehen, spielt dabei keine Rolle. Nun entschließt A sich aber von sich aus zu dieser Tat, vollbringt sie also aus freien Stücken. Damit ist er für sie moralisch verantwortlich, obgleich die Bedingung nicht erfüllt ist, dass er anders hätte handeln können. Es sei nämlich angenommen, B verfüge über technische Mittel, As Entscheidungen sogleich zu erfahren, und greife daher sofort mittels psychologischer Manipulation ein, sobald er merkt, dass sich A eines anderen besinnt, die gewünschte Tat von sich aus also nicht ausführte. Damit ist es unausweichlich, dass A die Tat (von sich aus oder unter Bs Einwirkung) vollbringt. Dieses für eine analytisch beeinflusste Diskussion typische science-fiction-Beispiel ist aber nicht unüberwindlich. Unbestritten dürfte sein: Eine notwendige Bedingung einer freien Entscheidung ist, dass keinerlei äußerer Zwang im Spiel war. Nun brauchen sich die verschiedenen notwendigen Bedingungen nicht zu überschneiden. Daher können wir die Bedingung des Andershandelnkönnens, indem wir den Zwang ausklammern, enger fassen: Frei ist jemand nur dann, wenn er sich von sich aus (was also die inneren Bedingungen der Entscheidung angeht) anders hätte entscheiden und daher anders hätte handeln können. Von sich aus, aber ohne die manipulierenden Eingriffe von B hätte sich A sehr wohl anders entscheiden können. Vihvelin (2000) glaubt, auch von einem kompatibilistischen Standpunkt aus sei der Anspruch Frankfurts zurückzuweisen, das Prinzip alternativer Möglichkeiten (des Handelns als conditio sine qua non der Verantwortung) durch seine Beispiele widerlegt zu haben.

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reflektierend um ein sittliches Handeln bemühen), wenn wir den Affekten erliegen. Diese Reue zeigt offenkundig unsere Überzeugung an: Wir hätten den Affekten nicht zu erliegen brauchen, wenn wir uns selbst beherrscht hätten oder durch psychologische Techniken hinreichend an uns gearbeitet hätten. Die ethisch bedeutsame Unfreiheit, die als schuldhaft bereut wird, setzt daher Andersentscheidenkönnen, also Kontingenz voraus. 5

Freiheitsgarantierende psychologische Techniken

Auch wenn die Kontingenz eine unerlässliche Voraussetzung der Freiheit ist und Leibniz sie unterstreicht, um sich von Spinoza abzuheben, ist tatsächlich die reflexive Selbstkontrolle der Entscheidung und Handlung durch die Vernunft für seine Freiheitskonzeption bedeutsamer. Freiheit ist wesentlich in der inneren Beschaffenheit des Entscheidungsvorgangs gegründet. Für diese aber ist es gleichgültig, ob er als ein Element unlösbar in ein Bedingungsgeflecht eingebunden ist, das zur Determination meiner Handlung führt, oder ob er eine spontane creatio ex nihilo ist. Damit läuft die Freiheit zentral darauf hinaus: Damit die Vernunft später bei einer selbstkritischen Reflexion ihre Entscheidung und Handlung als ihren inneren Grundsätzen und Absichten gemäß dauernd anerkennen kann – ein sicheres Anzeichen der Freiheit – und sie nicht als ihrem Selbst widersprechend zu verwerfen braucht, muss die Entscheidung selbst aus einem angemessenen Abwägen der Gründe und Gegengründe hervorgegangen sein. Um die so verstandene Freiheit sicherzustellen, sind psychologische Techniken wie namentlich die Urteilssuspension42 wichtig, auf die wir bereits im Discours de métaphysique § 30 gestoßen sind. Damit wir nicht aus noch nicht bewältigten Emotionen heraus handeln, in denen eine rational nicht verarbeitete Umwelt Macht über unser Handeln gewinnt und uns zu einem uns nicht gemäßen Tun hinreißt, müssen wir die Entscheidung so lange suspendieren, bis die aufbrausenden Affekte sich so weit besänftigt haben, dass eine klare Vernunftüberlegung die erforderlichen Gesichtspunkte gegeneinander gewichten kann. Damit wir im anderen Falle nicht aus einem vermeidbaren Mangel an Kenntnissen der Handlungssituation heraus eine Entscheidung fällen, die nachher zu bereuen ist, müssen wir eine von der Sache her nicht sofort verlangte Entscheidung suspendieren, bis die erforderlichen Kenntnisse uns zugänglich sind und wir sie gewonnen haben. Gerade dieser zweite Gesichtspunkt zeigt, dass die Urteilssuspension eine für 42  Leibniz spricht von „judicium suspendere“ oder französisch von „suspendre son choix“ (NE II c. 21, § 22).

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den beschränkten menschlichen Geist charakteristische Technik ist, seine Freiheit zu sichern. Gott, bei dem angesichts seiner Allwissenheit Unwissen und Zweifel von vornherein nicht in Frage kommen, kann auch nicht unentschieden sein, er braucht und kann sein Urteil daher nicht suspendieren.43 Die Festlegung auf das am besten Erscheinende gefährdet nicht die Freiheit Indem er sich auf solche freiheitsgarantierenden psychologischen Techniken wie das Suspendieren des Urteils beruft, vermag Leibniz dem voluntaristischen Vorwurf zu entgehen: Der Intellektualismus beraube den Menschen seiner Freiheit durch die Annahme, sein Geist müsse zwingend das als Beste Erscheinende erwählen. Es bedürfe der Indifferenzfreiheit, sich auch gegen das Urteil der Vernunft für eine Option entscheiden zu können. Angesichts solcher Vorwürfe konzediert Leibniz, nach seiner intellektualistischen Position könne ich mich nicht für die Option entscheiden, die die Vernunft gegenwärtig als die schlechtere beurteilt.44 Das bedeutet aber nicht, dass ich gezwungen wäre, sogleich die Option zu erwählen und zu verwirklichen, die mir augenblicklich als die bessere erscheint – was in der Tat die Freiheit gefährdet. Vielmehr kann ich das Urteil so lange suspendieren, bis in einem erneuten Abwägen der Gründe unter einem erweiterten Gesichtspunkt (ampliare) vielleicht die andere Seite das Übergewicht gewinnt. Ich kann zwar keinem anderen als dem augenblicklich stärksten Gesamteindruck (aus bewusstem Vernunfturteil und unbewussten Perzeptionen) folgen.45 Ich kann aber an meinen Dispositionen arbeiten, dass künftig etwas anderes der stärkste Gesamteindruck ist. Dazu 5.1

43  „[N]eque judicium ille suspendere potest, quoniam suspensio judicii non nisi ex ignorantia proficisci potest.“ (A VI 4, 1596) Ähnlich Theod. § 337: „Mais Dieu est incapable d’être indéterminé […], il ne saurait ignorer, il ne saurait douter, il ne saurait suspendre son jugement.“ 44  „Et quamquam illud unum sit verissimum, mentem nunquam eligere quod impraesentiarum apparet deterius; attamen non semper eligit, quod impraesentiarum apparet melius, quia ampliare et judicium usque ad ulteriorem deliberationem suspendere atque animum ad alia cogitanda avertere potest.“ (A VI 4, 1520) 45  Wenn für einen Indeterministen oder Libertarier Freiheit nicht darin bestehen soll, irrationale Willkürentscheidungen treffen zu können, muss er zugestehen: Ein rational Handelnder hätte nicht in dem Augenblick, wo er sich aufgrund der gegenwärtig besten Gründe für eine Handlungsoption entschieden hat und diese ausführt, auch die gegenteilige Handlung vollbringen können. Dies könnte nur wider besseren Wissens geschehen, wäre also irrational. Wohl aber hätte er auch zu diesem Zeitpunkt die Möglichkeit gehabt, die endgültige, handlungsbestimmende Entscheidung zu suspendieren, um weiter zu überlegen und die Alternativen gründlicher zu prüfen. Dies ist im Normalfall, wenn kein sofortiges Handeln verlangt ist, vernünftig. Denn man kann sich nie sicher sein, ob man nicht einen gewichtigen Gesichtspunkt übersehen hat, so dass die augenblicklich

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reicht sicher die Urteilssuspension nicht, die eher ein übereiltes Fehlurteil verhindert, als ein besseres zu fördern. Zu diesem Zweck nennt Leibniz hier wie auch an anderer Stelle eine weitere psychologische Taktik, die geistige Aufmerksamkeit vom gegenwärtigen Gedanken ab- und anderen, besseren zuzuwenden, um sich so der motivierenden Macht des ersten Gedankens zu entziehen. Darin bestehe sogar die Freiheit der endlichen Kreatur,46 deren Geisteskraft gleichzeitig nur endlich viel beachten kann. 5.2 Langfristige Charakterbildung bei Aristoteles Solche psychologischen Techniken waren in der philosophischen Tradition schon vor Leibniz bekannt. Sie gründen in der spezifisch menschlichen Fähigkeit, nicht bloß mentale Akte zu vollziehen, sondern auch auf sie zu reflektieren und kritisch zu ihnen Stellung zu nehmen. Die Fähigkeit, das eigene Urteil zu beurteilen, stellt eine wichtige Grundlage der Freiheit dar (wie schon Thomas von Aquin47 wusste). Diese freiheitsbegründende Reflexivität darf jedoch nicht so einfach gesehen werden wie beim frühen Augustinus: „Nichts ist so sehr in unserer Gewalt wie der Wille selbst; sobald wir wollen, stellt er sich ein“ (de libero arbitrio III 3). Leibniz hat in Theod. § 287 die Schwäche dieser Konzeption klar erwiesen: Was wir willentlich sofort herbeiführen können, ist lediglich die Tatsache des Wollens, dass wir einen Willensakt vollziehen. Für die Freiheit kommt es jedoch darauf an, dem Wollen die gewünschte inhaltliche Ausrichtung zu geben, dass wir wollen, was wir zu wollen wünschen (nous voulons ce que nous souhaitons de vouloir). Dass dies nicht ohne Weiteres möglich ist, hat bereits Aristoteles mit seiner Konzeption von Tugend und Laster als einer durch wiederholtes gleichartiges Handeln, also Gewöhnung erworbener Grundhaltung (ἕξις) aufgewiesen. Aufgrund eines solchen Habitus handeln wir stets in einer ihm entsprechenden Weise, ohne zwischen Alternativen zu schwanken. Dies bedeutet für Aristoteles keineswegs, dass der Charakter, einmal erworben, unveränderlich feststeht und mit ihm auch die Art unseres Handelns. Dies vereitelte sicher Freiheit. Ausgeschlossen ist durch eine solche Konzeption nur die skotistisch-molinistische libertas indifferentiae, dass ein Mensch unentschieden oder indifferent, d.h. weder durch seine intellektuelle Einschätzung der Sachlage, noch durch seinen Charakter festgelegt, in einer Art Urwahl oder einem ursprünglichen Akt des Wollens eine Festlegung trifft. überwiegenden Gründe, die jetzt als die besten erscheinen, tatsächlich gar nicht die besten sind. Vgl. Keil (2013), 128–132. 46  „[I]deo libertas eius [sc. creaturae] consistit in potentia avertendi mentem ad alias cogitationes […].“ (A VI 4, 1455) 47  Vgl. etwa de veritate q. 24, a. 1 und 2.

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Damit ist aber die Freiheit keineswegs aufgehoben. Denn die Reflexivität gestattet nicht nur, sein eigenes Urteil kritisch zu beurteilen, sondern auch zu seinem Charakter Stellung zu nehmen und ihn so auf lange Sicht hin zu ändern. Hier werden psychologische Techniken bedeutsam. So rät Aristoteles: Ähnlich wie jemand, der einen verbogenen Stab zurechtbiegt, ihn zunächst in die andere Richtung biegt, bis er gerade wird, sollen wir, um ein Laster als das eine Extrem zu bekämpfen, lieber zunächst dem gegenteiligen Extrem zuneigen, bis das schwer zu treffende rechte Maß oder die Tugend als Mitte erreicht ist (Nikomachische Ethik II 9, 1109b4–7). Nun legen die Laster aber unser Handeln fest. Dem Geizhals wird bei seinem Habitus kaum gelingen, auf einmal großzügig, geschweige denn verschwenderisch zu sein. Er kann seine Haltung kaum durch das entgegengesetzte Laster korrigieren. Dennoch besteht bei Aristoteles’ Voraussetzung die Chance, seinen Charakter auf lange Sicht hin zu ändern. Denn der Charakter legt nicht auf genau diese Handlung fest, sondern lässt einen Handlungsspielraum offen. Innerhalb dessen nun kann man Aristoteles’ Taktik anwenden, Handlungen mit der Tendenz zu vollbringen, zu der hin man sich verändern will, z.B. ein klein wenig großzügiger zu sein. Ein wiederholtes derartiges Handeln führt zu einer leicht geänderten Handlungsdisposition. Aus dem Geizhals ist ein sehr sparsamer Mensch geworden, der es übers Herz bringt, noch etwas großzügiger zu spenden. Auf diese Weise lässt sich der Habitus allmählich in die gewünschte Richtung verändern. 5.3 Psychologische Techniken versus Indifferenzfreiheit All diese psychologischen Techniken gehen von der Annahme aus, Freiheit trete in abgestuften Graden auf. Daher muss der Mensch gegen die inneren Freiheitshindernisse (wie falsche Gewohnheiten und Handlungsdispositionen oder unbeherrschte Leidenschaften) den ihm möglichen Freiheitsspielraum erkämpfen, dass er die Handlungen zu vollbringen vermag, die er als seinen innersten Tendenzen entsprechend eigentlich zu tun wünscht. Diese Auffassung schließt die Indifferenzfreiheit aus, der Mensch könne jederzeit ohne kausale Vorbedingungen (durch Vernunfturteil oder Charakter) sozusagen aus dem Stande die gewünschte Entscheidung treffen. Einen solchen absoluten Willensentschluss verwirft nicht bloß Leibniz aus einer deterministischen Grundüberzeugung heraus als Chimäre. Es widerspricht auch unserer Lebenserfahrung, dass wir in unserem Entscheiden und Handeln durch eingesehene Sachzwänge und unseren (z.T. genetisch bedingten, z.T. durch Erziehung und Gewöhnung erworbenen) Charakter zu einem guten Teil festgelegt sind. Darum sind wir aber der freiheitsbeschränkenden Determination etwa durch Emotionen und Gewohnheiten nicht hilflos ausgeliefert. Vielmehr vermögen wir auf unsere Entscheidungsvorgänge zu reflektieren, sie kritisch zu beurteilen und

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ihnen durch psychologische Techniken auf lange Sicht hin die gewünschte Ausrichtung zu verleihen. Vor allem zwei Formen dieser Techniken sind zu unterscheiden. Die eine Form versucht wie die Urteilssuspension zu verhindern, dass die Entscheidung in einer die Freiheit be- oder sogar verhindernden seelischen Lage vollzogen wird. Die andere versucht dem unseren Entscheidungen zugrundeliegenden Charakter die gewünschte Ausrichtung zu geben. Diese Herangehensweise an die Freiheitsproblematik lehnt die Indifferenzfreiheit ab, ist aber neutral gegenüber dem Gegensatz eines Determinismus und eines eingeschränkten Indeterminismus.48 Dieser nimmt neben einer mehr oder minder weitreichenden kausalen Ordnung und damit Festlegung unseres Entscheidens und Handelns auch Zufälle an, die die Zukunft unvorhersagbar machen. Für den Leibniz‘schen Determinismus steht das Resultat dagegen immer schon fest, gleich ob die Handlung frei oder unfrei ist. Der Unterschied liegt darin, wie die Determination zustande kommt. Erwächst sie einem irrationalen Getriebensein von unbewältigten Eindrücken und daraus entspringenden Affekten oder konstituiert sie sich in einem vernünftigen Entscheidungsprozess? Siglen und Literaturverzeichnis Adams, Robert Merrihew (1994), Leibniz. Determinist, Theist, Idealist, Oxford/New York. Adams, Robert Merrihew (2005), „Moral Necessity“, in: Donald Rutherford/J.A. Cover (Hg.), Leibniz: Nature and Freedom, 181–193. Begby, Endre (2005), „Leibniz on Determinism and Divine Foreknowledge“, in: Studia Leibnitiana 37(1), 83–98. Borst, Clive (1992), „Leibniz and the Compatibilist Account of Free Will“, in: Studia Leibnitiana 24(1), 49–58. Carriero, John (1993), „Leibniz on Infinite Resolution and Intra-mundane Contingency. Part One: Infinite Resolution“, in: Studia Leibnitiana 25(1), 1–26. 48  Zwischen kompatibilistischen Deterministen und Libertariern sollte konsensfähig sein: Freiheit kann keine völlig ungebundene Willkürfreiheit sein und weitgehenden Zufall verlangen. Hätte eine freie Entscheidung nicht ihre Grundlage in unserem Charakter, wären letztlich gar nicht wir es, die kraft unserer Persönlichkeit entscheiden und handeln. Ohne kausale Regelmäßigkeiten wäre es gar nicht möglich, die zu erwartenden Folgen alternativer Handlungsweisen vernünftig gegeneinander abzuwägen [vgl. Poser (2016), 225]. Umstritten ist, ob dazu eine weitreichende Regelmäßigkeit nicht genügt, sondern eine vollständige Determination erforderlich ist oder ob diese nicht gerade Freiheit vereitelt, wenn das Resultat immer schon feststeht.

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Freiheit und Selbstherrschaft: Über den gemeinsamen Grund von Theodizee und moralischer Verbindlichkeit beim frühen Kant Heiner F. Klemme Vorbemerkung Kants Begriff der Freiheit als Autonomie in der Grundlegung zur Meta­ physik der Sitten geht seinem Ursprung nach auf Überlegungen zurück, die dem Problem der Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel in der Welt (Theodizee-Problem) und dem Problem der Bestimmung des Begriffs der moralischen Verbindlichkeit gewidmet sind. Unter dem Eindruck seiner Rousseau-Lektüre Anfang der sechziger Jahre des 18. Jahrhunderts und im Rahmen seiner in etwa zeitgleich stattfindenden Überlegungen zum Begriff der moralischen Verbindlichkeit in seiner Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (abgeschlossen 1762) entdeckt Kant die Grundzüge einer neuen Konzeption der Freiheit, durch die beide Probleme zugleich gelöst werden können. Im Zentrum dieser Entdeckung steht die Auffassung, dass die Freiheit Herrschaft über uns selbst auszuüben erlaubt. Freiheit ist Gesetz, aber zugleich auch freie Willkür, durch die wir uns aus eigenem Entschluss für oder gegen den Vollzug unserer Pflichten entscheiden können. Weder kann das Problem der Theodizee gelöst noch ein überzeugender Begriff moralischer Verbindlichkeit ohne einen Begriff der Freiheit vorgetragen werden, der den Menschen zum Urheber seiner Handlungen macht. Die Lösung des Theodizee-Problems im Sinne der von Kant 1791 so genannten „authentischen Theodizee“ durch die praktische Vernunft einerseits und die des Problems der moralischen Verbindlichkeit durch den Begriff der Autonomie gehen Hand in Hand. Diese Auffassung über den Ursprung von Kants für die spätere kritische Lehre vom kategorischen Imperativ zentralen Begriff der Freiheit als Selbstherrschaft soll im Folgenden holzschnittartig in vier Schritten (1. Freiheit und Theodizee; 2. Freiheit und Verbindlichkeit; 3. Exkurs. Freiheit und Verbindlichkeit bei Leibniz und Wolff; 4. Theodizee und Verbindlichkeit) erläutert werden.

© koninklijke brill nv, leiden, 2019 | doi:10.1163/9789004383586_004

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Klemme

Freiheit und Theodizee

Kants Erörterung der Begriffe der transzendentalen und der praktischen Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft und in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten könnte leicht den Eindruck vermitteln, als ob für sie eines der zentralen Probleme, welches in der Wahrnehmung der Philosophen im Zeitalter der Aufklärung mit dem Begriff der Freiheit verbunden ist, nicht von Relevanz wäre. Doch das wäre ein Missverständnis. Dieses Problem betrifft den Status der Freiheit in einer von Gott geschaffenen Welt: Wie ist die Freiheit des Menschen möglich, wenn Gott allwissend ist? Warum gibt es Übel in der Welt, wenn Gott gerecht und weise ist? Wäre es nicht besser, wenn der Mensch zwar unfrei, aber frei von Sünde wäre? In seiner 1710 publizierten Theodizee hat Leibniz Antworten auf diese und ähnlich gelagerte Fragen gegeben, die über Jahrzehnte die Diskussion der Zeit beherrscht haben. Dass Kant ein Interesse an diesen Diskussionen genommen hat, wird nicht erst aus seinem 1791 publizierten Aufsatz „Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee“1 deutlich. In ihm nennt er die Leibniz‘sche Fassung der Theodizee „doktrinal“, erklärt sie für gescheitert und versucht sie durch eine auf dem Begriff der „machthabenden praktischen Vernunft“ beruhende „authentische“ Theodizee (AA 8: 264) zu ersetzen. Kants Interesse ist nicht zuletzt zu einem Zeitpunkt in seiner philosophischen Entwicklung manifest, in der er sich intensiv mit moralphilosophischen Fragen beschäftigt und ihn die Lektüre von Rousseaus Schriften, des Émile und des Contract Sociale, die beide 1762 auch in deutscher Übersetzung erscheinen, bahnbrechende Anregungen für die Entwicklung seiner Lehre von der Autonomie geben.2 Zugespitzt könnte man sogar behaupten, dass Kant den Weg, der ihn zur Publikation der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten führen wird, zu einem Zeitpunkt einschlägt, zu dem ihm deutlich wird, mit welchen Mitteln das Theodizee-Problem gelöst werden kann. Gott ist angesichts des physischen und moralischen Übels in der Welt gerechtfertigt. Seine Schöpfung ist gut. Warum? Nicht aus theoretischen Gründen, wie Leibniz meint, sondern aus praktischen. In einer Reflexion in seinem Handexemplar der Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen notiert Kant:

1  Zu diesem Aufsatz und seinen verschiedenen Interpretationen siehe Dieringer (2009). 2  Einen besonderen Stellenwert haben Kants aus der Mitte der sechziger Jahre des 18. Jahrhunderts stammende „Bemerkungen“ in seinem Handexemplar der Beobachtungen über das Schöne und Erhabene, deren textkritische Edition von Marie Rischmüller stammt [siehe Kant (1991)].

Freiheit und Selbstherrschaft

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Newton sahe zu allererst Ordnung und Regelmäßigkeiten mit großer Einfalt verbunden wo vor ihm Unordnung und schlim gepaarte Mannigfaltigkeit anzutreffen war und seitdem laufen Cometen in geometrische Bahnen / Rousseau entdekte zu allererst unter der Mannigfaltigkeit der menschlichen angenommenen Gestalten die tief verborgene Natur desselben und das verstekte Gesetz nach welchem die Vorsehung durch seine Beobachtungen gerechtfertigt wird. […] Nach Newton und Rousseau ist Gott gerechtfertigt und nunmehr ist Popens Lehrsatz wa[h]r.3 Leider äußert sich Kant nicht näher zu der Frage, warum Gott nach Newton und Rousseau gerechtfertigt und Popes Lehrsatz („Whatever is, is right.“) wahr ist. Aber er gibt doch einen entscheidenden Hinweis: das Gesetz. So wie Newton die allgemeinen Gesetze der Natur, hat Rousseau das Gesetz der menschlichen Natur erkannt. Das Gesetz der menschlichen Natur ist die Freiheit. Kant scheint von diesem Gedanken Rousseaus geradezu elektrisiert gewesen zu sein. Freiheit bezeichnet nicht nur das Vermögen, entsprechend einer Verstandeserkenntnis handeln zu können, wie Leibniz meint. In der Freiheit und Selbstbestimmung besteht die wahre Natur des Menschen. Wenige Jahre später, in seiner ersten Vorlesung über Anthropologie von 1772/73, stellt Kant explizit einen Bezug zu Rousseaus Ich-Theorie und zur Theodizee-Problematik her: „Jeder Mensch, jedes Geschöpf, was sich selbst zum Gegenstand seiner Gedancken macht, kann sich nicht als ein Theil der Welt ansehen, das Leere der Schöpfung auszufüllen, sondern als ein Glied der Schöpfung, und als der Mittelpunkt derselben, und ihr Zweck.“4 Warum ist der Mensch der „Mittelpunkt“ und „Zweck“ der „Schöpfung“? Auf diese Frage gibt es eine eindeutige Antwort: Weil der Mensch aufgrund seiner Freiheit einen Vorrang vor allem hat, was es sonst noch in der Welt gibt. Denn vermittelst seiner reinen Vernunft ist der Mensch wie Gott. In den frühen Vorlesungen über Anthropologie gibt es zwei wichtige Hinweise auf den Gehalt dieser Freiheit: Erstens führt uns die Analyse des Gedankens „Ich“ zur Erkenntnis unserer Freiheit: „In dem Wörtchen Ich findet man so gar den Begriff der Freyheit, das Bewustseyn der Selbstthätigkeit; denn das Ich ist nicht eine äußere Sache.“5 Und zweitens ist Freiheit eine 3  Kant (1991), 48; der erste Satz in Rousseaus Emil lautet: „Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Urhebers der Dinge kömmt; alles artet unter den Händen des Menschen aus.“ (1762, 1) Vgl. Cassirer (2007), 160–161 u. 164. 4  A A 25: 10; vgl. AA 25: 12 5  A A 25:10. Zu den verschiedenen Modellen der Selbsterkenntnis, die Kant zwischen 1772 und der Publikation der Kritik der reinen Vernunft in den Vorlesungen über Anthropologie vertreten hat, siehe Klemme (1996), 76 ff.

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Eigenschaft unserer Willkür, aufgrund derer wir über unser unteres und oberes Begehrungsvermögen disponieren können.6 Im Gebrauch unserer freien Willkür besteht unser höchstes Glück: Der leidende Zustand ist uns offt angenehm; aber das freye Vermögen sich so wohl dem leidenden als thätigem Zustande beliebig zu überlaßen, das schätzt man fürs größte Glück, und kein Glück in der Welt kann den Mangel ersetzen, den wir durch die Freyheit über unseren Zustand beliebig zu disponiren verliren. […] In der Macht der freyen Willkühr, alle übrige actus unseres Vermögens in uns beliebig zu exerzieren und zurückzuhalten, hierin besteht das gröste Glück der Welt. Denn gesezt, es stößt mir das gröste Ubel zu, bin ich nur im Stande von meinen Vorstellungen zu abstrahiren, habe ich Macht, Vorstellungen gleichsam nach belieben zu verbannen, und andere herzu zu rufen, so bin ich gegen alle gewafnet und unüberwindlich. Die Oberste Herrschaft der Seele, die auch kein Mensch aufzugeben vermag, ist die Herrschaft der freyen Willkühr. (AA 25: 29–30) Wenig später heißt es in dieser studentischen Nachschrift, dass die Freiheit „die wahre Majestät des Menschen“ (AA 25: 30) ist. Es ist unschwer zu erkennen, auf welche Weise der Gedanke der Freiheit der These der Gerechtigkeit Gottes zuspielt. Denn wenn der Mensch sein größtes Glück in der „Herrschafft der freyen Willkühr“ findet, dann liegt es einzig und allein am Menschen, ob und in welcher Weise er Gebrauch von seiner Willkür macht. Dieser Gebrauch allein ist moralisch relevant. Die physischen Übel dieser Welt haben ihren Stachel verloren. Die freie Willkür macht uns frei von ihnen, indem wir uns selbst von ihnen distanzieren. Die Selbstherrschaft distanziert uns von der Welt. „Man gebe keinem Dinge einen wichtigen Werth, man sey Herr über alles, und Meister über sich selbst.“7 Dieser Gedanke ergibt 6  Auf den Kontext des Freiheitsbegriffs in der Metaphysik (und in der Kritik der reinen Vernunft) kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden; siehe umfassend Klemme (1996). Gleiches gilt für die schwankenden Bestimmungen der Begriffe „Wille“ und „Willkür“ bei Kant [vgl. Klemme (2013)]. 7  A A 25: 49. Kants These von der Herrschaft über sich selbst ist selbstverständlich nicht originell. In der neuzeitlichen Philosophie ist Bedeutung der Selbstherrschaft beispielsweise auch von Locke, Leibniz und Wolff hervorgehoben worden. Originell ist jedoch Kants Wendung von der Autokratie zur Autonomie, die Kant selbst in aller Deutlichkeit erst in der Grundlegung auf den Begriff bringt [siehe auch Klemme (2018)]. Die Gründe hierfür sind vielfältig und hängen nicht zuletzt mit der Frage zusammen, aus welchem Grunde der Mensch dem Moralgesetz Folge leisten sollte, wenn dies doch kein verlässliches Mittel ist, seine Glückseligkeit zu erreichen.

Freiheit und Selbstherrschaft

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selbstverständlich nur Sinn, weil Selbstherrschaft einen vorzüglichen Wert hat. Und genau das scheint die Idee zu sein, die Kant von Rousseau übernimmt und in den Vorlesungen über Anthropologie, wenn auch nur randständig, thematisiert: Weil der Mensch seinen ganzen Zweck, seine Freiheit und Moral, als Zweck in sich trägt, muss es Aufgabe der Erziehung sein, die Hindernisse aufzuheben, die die Hervorbringung dieses Zwecks behindern.8 Kant ergreift Partei für Rousseaus negatives Erziehungsprojekt, so wie es dieser in seinem Émile entwickelt hat: „Einiges Verfahren nennen wir negativ, wenn wir nehmlich nicht was eigentliches hervorbringen zu unserem Zweck, sondern bloß ein Hinderniß aufheben, das sich unsern Zwecken entgegenstellet. So ist Rousseaus Erziehungsplan, nehmlich auch negativ. Er sucht nicht so wohl den Jüngling mit Kenntnißen zu wafnen, als vielmehr zu verhüten, daß nicht böse Gewohnheiten Posten faßen, oder Irrthümer sich einnisteln.“ (AA 25: 33) Der Mensch trägt seinen Zweck in sich selbst, er ist dieser letzte oder höchste Zweck. Um sich als diesen letzten Zweck zu erkennen, muss er nicht die Welt studieren. Aber er muss sich Welt- und Menschenkenntnisse verschaffen, um seinen Zweck und seine Bestimmung in dieser Welt verwirklichen zu können. Dazu bedürfen wir der (pragmatischen) Anthropologie. Dass es der Mensch jedoch wert ist, erkannt und in seinen Zweckbestrebungen befördert zu werden, dies verdanken wir den aus der Philosophie und Metaphysik (der Sitten) stammenden Einsichten. Obwohl sich Kant nur beiläufig zum metaphysischen Kontext seiner Lehre vom Menschen als obersten Zweck der Schöpfung in den Anthropologievorlesungen äußert, nennt er in ihnen aber die Methode, die wir in der Moral befolgen müssen: Die „ganze Moral [ist] nur eine analysis des Vorraths von Begriffen und Reflxionen, die der Mensch im dunckeln schon hat.

8  Ernst Cassirer hat in seinem 1945 erschienenen Essay über „Kant and Rousseau“ die These vertreten, dass ein direkter Weg einerseits von Rousseau, dem Pädagogen und Autor des Émile, zu der Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten führt, und andererseits von Rousseau, dem Autor des Contrat social und Erfinder der volonté générale, zur allgemeinen Gesetzesformel des kategorischen Imperativs führt [Cassirer (2007a), 518]. Die entscheidenden Ideen der kritischen Moralphilosophie finden sich nach Cassirer also schon bei Rousseau, die Kant nur noch ausformulieren muss. Dieser These steht das Urteil von Klaus Reich entgegen, der in einem ebenfalls „Kant und Rousseau“ betitelten Aufsatz aus dem Jahre 1936 darauf hinweist, dass die auf stoische Quellen zurückgehende „Bestimmung der Freiheit als des Gehorsams gegen das Gesetz, das man sich selbst vorschreibt“, keinesfalls zu identifizieren ist mit der Kantischen „Formel der Autonomie des Willens als obersten Prinzips der Moral“ (2001, 154). Reichs Beobachtung ist sicherlich zutreffend, ändert aber nichts an der Stichhaltigkeit von Cassirers generalisierender Bemerkung.

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Ich lehre da nichts neues, und die feinste Betrachtungen sind ohne Bewust in uns entstanden.“9 Mit Kants durch Rousseau stark beeinflusster Auffassung von freier Willkür, Freiheit und Moral tritt die Herrschaft über sich selbst in das Zentrum von Kants praktischer Philosophie. Diese Herrschaft wird nicht mehr generell durch die Vernunft (wie bei Leibniz und Wolff), sondern durch die Freiheit begründet. Weil aller Wert des Menschen davon abhängt, welchen Gebrauch der Mensch von seiner Freiheit macht, ist Gott gerechtfertigt. Ihn trifft keine Schuld, wenn wir uns gegen unsere Pflichterfüllung entscheiden. Das physische Übel hingegen ist von bloß untergeordneter Bedeutung. An dieser Auffassung wird Kant zwar immer festhalten, modifiziert sie aber später vor allem in der Kritik der praktischen Vernunft mit seiner Lehre vom Höchsten Gut. Lust und Unlust, Freude und Schmerz gehören zu unserem Leben wie Tag und Nacht, aber wir können doch immer hoffen, dass das Leid, dessen Grund unsere Tugend, und das Glück, dessen Grund unser Laster ist, in einem zukünftigen Leben durch Gott als dem höchsten Richter ausgeglichen werden. Kant ergänzt den Gedanken der Nichtigkeit von Glück und Elend in dieser Welt mit dem Begriff einer Welt, in der Tugend und Glück in ein proportionales Verhältnis gebracht werden. Was könnte man mehr von Gott verlangen? Auch wenn Kant dies in den Vorlesungen über Anthropologie nicht explizit betont, weil es in den Bereich der Metaphysik fällt, wird aus seinen Ausführungen zur freien Willkür doch deutlich, dass diese nicht unter dem Gesetz der Naturkausalität steht. Leibniz‘ und Wolffs These, dass alles unter dem Prinzip des zureichenden Grunde steht, lehnt Kant mit Christian August Crusius ab. Der Mensch wird nicht durch seine Begierden, Neigungen oder Leidenschaften gezwungen bzw. genötigt, auf eine bestimmte Art und Weise zu handeln. Er kann Herrschaft über sie ausüben und auch selbst entscheiden, ob er seine moralische Pflicht erfüllen will oder nicht. 2

Freiheit und Verbindlichkeit

Kants Begriff der Freiheit gewinnt nicht nur vor dem Hintergrund der Theodizee-Problematik an Konturen. Dies trifft in gleicher Weise auf die Debatte um den Begriff der moralischen Verbindlichkeit zu.10 In seiner Ende 1762 abgeschlossenen Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der 9  AA 25: 20. In der Grundlegung wird Kant seine Auffassung partiell revidieren: Die analytische muss durch die synthetische Methode ergänzt werden (vgl. AA 4: 392). 10  Siehe u.a. Klemme (2015) u. (2018).

Freiheit und Selbstherrschaft

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natürlichen Theologie und der Moral betont Kant, dass die „ersten Gründe der Moral […] nach ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit noch nicht aller erforderlichen Evidenz fähig sind“. Zur Veranschaulichung seiner These verweist er auf den „ersten Begriff der Verbindlichkeit“.11 Es handelt sich bei ihm um den „ersten Begriff“, weil er im Zentrum der Ethik (oder Moralphilosophie) steht. Diese muss eine Antwort auf die Frage geben, durch welche Gründe, Prinzipien oder Gesetze der Wille in seinem Gebrauch gebunden wird. Kant führt aus: „Um dieses deutlich zu machen, will ich nur zeigen, wie wenig selbst der erste Begriff der Verbindlichkeit nach bekannt ist, und wie entfernet man also davon sein müsse, in der praktischen Weltweisheit die zur Evidenz nötige Deutlichkeit und Sicherheit der Grundbegriffe und Grundsätze zu liefern.“ (AA 2:298) Dass der Begriff der Verbindlichkeit im Zentrum der Ethik steht, ist unter den maßgeblichen Philosophen in den deutschen Ländern nicht umstritten. So definiert Alexander Gottfried Baumgarten bereits im § 1 der „Prolegomena“ seiner Initia Philosophiae Practicae Primae Acroamatice (1760) die praktische Philosophie als die Wissenschaft von der Verbindlichkeit des Menschen und thematisiert den Begriff der „obligatio“ ausführlich im ersten Hauptteil dieser Schrift. Leider klärt Kant seine Leser nicht darüber auf, worin seiner Ansicht nach die Bedeutung des Begriffs der Verbindlichkeit genau besteht. In jedem Fall darf seine Behauptung, dass dieser Begriff erst „wenig“ verstanden worden ist, erstens als Hinweis auf ein eigenes Forschungsprojekt und zweitens als Affront vor allem gegen Wolff, Baumgarten und auch gegen Crusius verstanden werden. Beschränken wir uns auf einige Bemerkungen zu den Begriffen der Freiheit und Verbindlichkeit bei Leibniz und Wolff.

11  Josef Schmucker hat in seiner klassischen und bis heute viel zitierten Studie über Die Ursprünge der Ethik Kants die Behauptung aufgestellt, dass die Hervorhebung der Verbindlichkeit als ein klarer Bruch mit der Ethik von Wolff zu verstehen sei, in deren Zentrum, so Schmucker, ja der Begriff der Vollkommenheit stehe (vgl. 1961, 60). Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Selbstverständlich ist auch bei Wolff die Verbindlichkeit der „erste Begriff“ der Ethik. Ohne Verbindlichkeit kann es überhaupt keine Ethik und auch keinen Vollkommenheitsimperativ geben. Denn die Verbindlichkeit bezeichnet das zwischen dem natürlichen Gesetz und unserem Willen bestehende Band. Erst nachdem Wolff den Nachweis geführt hat, dass die “Natur der Dinge und unsere eigene“ (1733, § 9) die Quelle der Verbindlichkeit ist, kann er spezifizieren, in welcher Weise diese Verbindlichkeit effektiv wird, nämlich in Gestalt der Aufforderung, uns zu vervollkommnen. Kant stellt sich mit dem Begriff der Verbindlichkeit also nicht gegen Wolff. Er gibt ihm vielmehr ausdrücklich Recht: Im Zentrum der Moralphilosophie steht der Begriff der Verbindlichkeit.

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Exkurs. Freiheit und Verbindlichkeit bei Leibniz und Wolff

Wegweisende und bis zu Kant und zur Philosophie des deutschen Idealismus einflussreiche Überlegungen zum Begriff der Vereinbarkeit von Freiheit, Gesetz und Notwendigkeit hatte Leibniz in seiner zuerst 1710 publizierten Theodizee vorgelegt. Leibniz hatte zwischen drei verschiedenen Begriffen von Notwendigkeit unterschieden, der moralischen, der physischen und der geometrischen (oder mathematischen) Notwendigkeit, und argumentiert, dass der freie Wille des Menschen zwar unter dem Prinzip des zureichenden Grundes steht. Jeder Willensentschluss wird durch die Gründe bestimmt, die dem Willen durch die Vernunft gegeben werden. Es ist unmöglich, gegen seine besten Gründe zu handeln. Doch weil es nach dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch möglich ist, dass der Wille sich auch anders zum Handeln bestimmt haben könnte, als er sich nach dem Satz vom zureichenden Grund bestimmen musste, steht der menschliche Wille unter keiner absoluten (geometrischen, mathematischen) Notwendigkeit. Aus der Perspektive des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch betrachtet ist die menschliche Willensentscheidung zufällig, weil wir uns widerspruchsfrei vorstellen können, dass sie auch anders hätte ausfallen können. Der Mensch ist frei, weil wir uns denken können, dass er anders gehandelt hätte, als er faktisch gehandelt hat. Freiheit und Notwendigkeit sind vereinbar, Freiheit und Zwang dagegen nicht. Es ist unschwer zu erkennen, warum Leibniz‘ Vorschlag, wie das Problem der Vereinbarkeit des Prinzips des zureichenden Grundes mit dem Begriff der Freiheit des Willens zu lösen ist, überwiegend nicht auf Zustimmung gestoßen ist. Denn wenn Gott der Schöpfer der Welt ist und sich nichts in der Welt ereignet, was nicht unter dem Prinzip des zureichenden Grundes steht, dann sind die Handlungen des Menschen seit dem Schöpfungsakt kausal vorherbestimmt. Der Mensch ist nicht im strikten Sinne des Wortes der Urheber seiner Handlungen sondern vielmehr Teil einer durch das Prinzip des zureichenden Grundes in ihrem Verlauf bestimmten Schöpfung. Keine guten Nachrichten für Gottes Güte und für die Sonderstellung des Menschen in der Schöpfung. Die Alternative zu Leibniz‘ Lösungsvorschlag, die Leibniz selbst in Gestalt der Position von Luis de Molina zurückgewiesen hatte, scheint aber ebenfalls nicht plausibel zu sein. Die Auffassung nämlich, dass der Mensch über einen freien Willen verfügt, der (wie Crusius annimmt) nicht unter dem Prinzip des zureichenden Grundes steht (die Freiheit der Indifferenz), scheitert genau an dem Problem, welches es zu lösen beabsichtigt: das Problem der Zurechnung von Handlungen. Denn wenn der Mensch sich völlig beliebig für oder gegen eine Handlung entscheidet, wird man schwerlich behaupten können, dass er

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ein vernünftiges Wesen ist und sich durch seine Erkenntnis des Guten und Schlechten im Handeln leiten lässt. Dass der Mensch vernünftig und für seine Handlungen verantwortlich ist (bzw. diese ihm zugerechnet werden können), wird durch den Aktus der Überlegung (delibratio) deutlich, der ein Moment der Spontaneität, der Selbsttätigkeit innewohnt. Die Überlegung richtet sich auf das Gute – und die Überlegung ist abgeschlossen, sobald ein Vernunftwesen meint, etwas für es Gutes deutlich erkannt zu haben. Philosophen des 18. Jahrhunderts sind damit vor eine Wahl gestellt: Entweder halten sie am Prinzip des zureichenden Grundes (oder dem Prinzip der Naturkausalität) fest. Dann bleibt unverständlich, worin die Willensfreiheit bestehen könnte. Oder aber sie geben den Zusammenhang von Freiheit und Vernunft zuungunsten der Letzteren auf. Der Preis der Freiheit wäre der Verlust zwar nicht der Vernunftfähigkeit, wohl aber der Eigenschaft des Menschen, immer seiner besten Erkenntnis des Guten zu folgen. Das radikal-rationale Projekt der Aufklärung, Freiheit in Abhängigkeit von der Vernunft zu definieren, d. h. Freiheit mit praktischer Vernunft zu identifizieren, wäre gescheitert. Freiheit wäre nicht Vernunft, und mehr Vernunft würde nicht mehr Freiheit bedeuten. In welcher Weise äußert sich Wolff zum Verhältnis von Freiheit und Vernunft? Wolff entwickelt seine Konzeption von Freiheit und Verbindlichkeit zwar unter Rückgriff auf Leibniz‘ These von der Unmöglichkeit eines Willens, der nicht unter dem Prinzip des zureichenden Grundes (oder der Kausalität) steht. Wie Leibniz ist Wolff auch der Ansicht, dass die Rationalität selbst die Basis einer Notwendigkeit von Regeln oder Prinzipien oder Gründen ist, denen der Wille Folge leistet. Die Verbindlichkeit unserer Handlungsgründe beruht also nicht auf Sanktionen, die mit ihnen verknüpft sind. Sie besteht einzig und allein in ihrer Rationalität, sodass selbst Gott ihnen Folge leisten muss. Aber im Gegensatz zu Leibniz weist Wolff den Gedanken zurück, dass sich die Freiheit des Menschen durch den Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs erklären lässt. Die Freiheit bezeichnet bei ihm keine logische Möglichkeit (wie bei Leibniz), die in Übereinstimmung mit einer realen Notwendigkeit der Naturkausalität steht. Vielmehr zögert Wolff nicht, Freiheit mit kausaler Notwendigkeit zu identifizieren. Notwendig ist alles, was vernünftig ist. Aber nicht alles, was vernünftig ist, wird von einer Person auch als vernünftig erkannt. Ich stehe also unter der Verbindlichkeit, immer vernünftiger zu werden. Ich soll mich in meiner Erkenntnis des Guten vervollkommnen. Dann werde ich auch vernünftig handeln. Unsere Vernunfterkenntnis des Guten kennt Grade, sie kann verbessert werden. Je vernünftiger ich werde, desto freier werde ich sein.

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Ganz im Sinne dieser Verhältnisbestimmung von Freiheit und Vernunft führt Wolff einen neuen Begriff der Verbindlichkeit ein, d.h. desjenigen Begriffs, der das Verhältnis zwischen dem freien Willen und seinen Gründen zum Ausdruck bringt. Wenden wir uns den Details von Wolffs Position etwas ausführlicher zu. Beginnen wir mit der Notwendigkeit. Wolff unterscheidet zwischen der physischen und der moralischen Notwendigkeit. Der physischen Notwendigkeit unterliegt alles, was der freie Wille nicht verändern kann. Die Planeten bewegen sich in elliptischen Bahnen um die Sonne und kümmern sich herzlich wenig darum, ob wir dies wollen oder nicht. Die moralische Notwendigkeit dagegen bezieht sich auf unsere „freyen Handlungen“ (1733, § 1). Der Grund der „freyen Handlungen“ ist der Wille. Der Wille ist jedoch nicht etwa deshalb frei, weil wir wollen können, etwas zu wollen. Der Wille ist nach Wolff vielmehr deshalb frei, weil wir selbst der Grund, die Quelle, die Ursache der Handlung sind. Wir selbst sind der Grund unserer Handlung, weil der freie Wille mit Notwendigkeit unserer Verstandeseinsicht folgt. Verbessern wir unsere Erkenntnis, ändern wir unser Wollen. Leibniz hätte es nicht besser als Wolff formulieren können. In deutlicher Abgrenzung zu Leibniz jedoch, der die Freiheit des Willens durch den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch zu erläutern und damit jenseits der vom Prinzip des zureichenden Grundes ausgehenden Notwendigkeit zu bestimmen versuchte, setzt Wolff, wie erwähnt, Freiheit und Notwendigkeit in eins. Es gibt für Wolff keinen Grund, den Zufall mit dem Satze vom ausgeschlossenen Widerspruch in einer durch die Prinzipien der Rationalität bestimmten Ordnung der Dinge zuzulassen. Es gibt auf der Ebene der vernünftigen Dinge keinen Zufall und keinen Spielraum für unsere Willkür, weil alles unter dem Prinzip des zureichenden Grundes steht. Und das ist auch gut so. Gerade weil es nach dem Satz vom zureichenden Grund keinen Zufall gibt, haben wir einen freien Willen. Zufällig sich ereignende Handlungen könnten nicht zugerechnet werden. So wie die Planeten um die Sonne kreisen, folgt der Wille mit Notwendigkeit der Verstandeseinsicht. Erkennt der Mensch die Ordnung der Dinge, ist er also objektiv vernünftig, dann wird für ihn auch alles gut werden. Der tugendhafte ist der glückliche Mensch – und Gott in seinem Wirken gerechtfertigt. Es kommt also auf den Menschen und den Prozess seiner Rationalisierung an. Der Begriff der moralischen, also der auf unseren freien Willen bezogenen Notwendigkeit wirft ein bezeichnendes Licht auf Wolffs Konzeption des natürlichen Gesetzes. Wir machen uns selbst vernünftig, wenn wir durch Beobachtung und Erfahrung sowie der Befolgung der demonstrativen Methode das Gesetz der Natur erkennen. Aber es ist die Natur, die uns

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verbindet. Die Natur ist die Quelle der Verbindlichkeit. Oder vielleicht sollten wir besser sagen: die zur Natur gewordene Vernunft. Würde es keinen notwendigen Zusammenhang zwischen dem natürlichen Gesetz als einem Ordnungsprinzip des Guten, unserer Erkenntnis dieses Gesetzes und unserem Wollen geben, könnte uns die Natur durch das natürliche Gesetz auch nicht verpflichten, uns zu vervollkommnen. Demnach gilt, dass das natürliche Gesetz nach Wolff „alles entschieden“ hat und „an sich ganz vollständig“ ist, „unerachtet es bisher noch nicht vollständig erkandt worden“ (1733, §27) ist. Unsere Vernunft ist die „Lehrmeisterin des Gesetzes“ der Natur. Erkennen wir die vernünftige Ordnung der Welt, dann erkennen wir dies mit derselben Vernunft, die auch Gottes Willen bei der Erschaffung der Welt geführt hat. Die „freyen Handlungen der Menschen“ sind „vor und an sich selbst gut oder böse, und werden nicht erst durch GOTTes Willen dazu gemacht“ (DE § 6), heißt es in der 1720 erschienenen so genannten Deutschen Ethik. Das sind keine guten Nachrichten für den theologischen Voluntarismus. Es sind aber auch keine guten Nachrichten für die Gnadentheologie. Nicht der Glaube macht uns frei, weil er uns aus der Knechtschaft der Dinge befreit, wie einst Luther meinte. Der „Grund der Freyheit“ ist einzig und allein die Vernunft. Und weil unsere Verstandeseinsicht in das Gute, in die Ordnung der Dinge, mehr oder weniger vollkommen ist, kennt auch unsere Freiheit Grade. Vollkommen ist unsere Freiheit nur dann, wenn wir das natürliche Gesetz vollkommen erkennen. Es gibt also noch viel zu tun. Es dürfte bereits deutlich geworden sein, was die Quelle unserer Verbindlichkeit ist: die Natur – und zwar entsprechend des Grades unserer Erkenntnis. Unsere Erkenntnis des natürlichen Gesetzes – und damit des Guten – stellt einen Bewegungsgrund, ein Motiv unseres Handelns dar. Wolff führt aus: „Die Erkäntniß des Guten ist ein Bewegungs-Grund des Willens […]. Wer die freye Handlungen der Menschen, die vor und an sich gut sind […] deutlich begreifet, der erkennet daß sie gut sind […]. Und daher ist das Gute, was wir an ihnen wahrnehmen, ein Bewegungs-Grund, daß wir sie wollen.“ (1733, § 6) Jede Verbindlichkeit setzt einen Akt der Verpflichtung voraus. Jemand wird durch jemand anderen verbunden. Es gibt eine aktive und eine passive Verbindlichkeit. „Einen verbinden etwas zu thun, oder zu lassen, ist nichts anders als einen Bewegungs-Grund des Wollens oder nicht Wollens damit verknüpffen.“12 12  1733, § 8. Mehr als vier Jahrzehnte später, in seiner Preisschrift Abhandlung über die Evidenz in Metaphysischen Wissenschaft, wird Moses Mendelssohn die Wolff‘sche Position wie folgt zum Ausdruck bringen: „Eine Verbindlichkeit ist nichts anders, als eine moralische Nothwendigkeit zu handeln, d.i. etwas zu thun oder zu unterlassen. Denn da kein physischer Zwang bey einem freyen Wesen statt findet; so kann ich auf keine andere Weise verbunden werden, etwas zu wollen oder nicht zu wollen, als in so weit man mich

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In seiner Deutschen Ethik beansprucht Wolff, den für die praktische Philosophie insgesamt leitenden Begriff der „natürlichen Verbindlichkeit in einem unverhofften Lichte vorgestellet“ (Vorrede 1722) und als Erster die „innere Beschaffenheit der freyen Handlungen“ in aller Deutlichkeit „erkandt“ (Vorbericht 3. Auflage, 1728, § 3) zu haben. Bekanntlich hätte ihn diese Erkenntnis fast den Kopf gekostet, musste er doch 1723 nach seiner berühmten Chinesenrede Preußen bei Androhung des Galgens innerhalb von 48 Stunden verlassen. Vernünftig zu sein kann gefährlich sein, gibt es doch dumme Zeitgenossen, die einen schlechten Willen und das Vermögen haben, ihn wirksam werden zu lassen. Im Marburger Exil lässt es sich Wolff 1728 jedoch nicht nehmen, in aller Deutlichkeit an die beiden Implikationen seiner Konzeption der Verbindlichkeit zu erinnern, die sie aus der Sicht der Pietisten so anstößig macht. Erstens muss nach Wolffs Auffassung „jeder vernünfftige Mensch“ der „natürlichen Verbindlichkeit“ „Platz geben“ (Vorbericht zur 3. Auflage). Jeder Mensch, also auch ein Atheist, der wie Konfuzius Gottes Wort nicht kennen konnte. Und zweitens benötigt ein unvernünftiger Mensch nur das natürliche Gesetz, um gut zu handeln. Er bedarf keiner zusätzlichen Beweggründe, die in Gestalt von Glück und Unglück mit dem göttlichen und dem menschlichen Gesetz verbunden sind. „Verständige und vernünfftige Menschen brauchen keine weitere Verbindlichkeit als die natürliche: aber unverständige und unvernünfftige haben eine andere nöthig und die muß die knechtische Furcht für der Gewalt und Macht eines Oberen zurücke halten, daß sie nicht thun, was sie gerne wollten. Wenn man demnach den Menschen lencken will, so kann man es auf zweyerley Weise angreiffen. Entweder man lencket ihn durch Zwang wie das Viehe; oder durch Hülffe der Vernunfft, wie eine vernünfftige Creatur.“ (Deutsche Ethik, Vorrede zur 2. Auflage, 1722) Damit hat Wolff vier wegweisende Einsichten für die vernunftaffine Seite der deutschen Aufklärungsphilosophie formuliert: Erstens ist die Vernunft die Quelle des natürlichen Gesetzes. In der Sprache der Zeit ausgedrückt: Das Gesetz ist die Form der Vernunft; die Notwendigkeit die Form des Gesetzes. Zweitens folgt der freie Wille der Vernunfterkenntnis mit Notwendigkeit. Es liegt also quasi eine doppelte Notwendigkeit vor: die des Gesetzes als Form der Vernunft und die der Beziehung, in der der freie Wille zum Gesetz steht. Drittens sind wir durch die Natur verbunden, unsere Erkenntnis des natürlichen Gesetzes zu verbessern, weil wir noch nicht vernünftig sind. Und viertens kennt unsere Freiheit Grade. Vor allem dieser vierte Aspekt ist für das Verständnis durch Beweggründe dazu veranlasset. Die Beweggründe aber veranlassen eine moralische Nothwendigkeit; daher ist jede Verbindlichkeit eine moralische Nothwendigkeit, etwas zu thun oder zu unterlassen.“ (1764, 54)

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von Wolffs eigenem philosophischen Anliegen von großer Bedeutung: Das Ziel menschlichen Tuns und Lassens liegt nicht so sehr in seiner Glückseligkeit. Das Ziel menschlichen Tuns und Lassens liegt vielmehr darin, durch den eigenen Vernunftgebrauch, durch Nachdenken frei zu werden. Frei zu sein, bedeutet nach Wolff, Herr über sich selbst zu sein, bedeutet, seinen „Sinnen“ widerstehen zu können und auf diese Weise sich von der „Sclaverey los zu reissen, und in die Freyheit zu versetzen“ (1733, § 184). Das Ziel unseres Tuns und Lassens ist die Autokratie. Indem Wolff die Vernunft als Ursache und Grund unserer „freyen Handlungen“ bestimmt, nimmt er einen Gedanken von Leibniz auf, den dieser in seiner Theodizee unter Berufung auf Aristoteles zum Ausdruck bringt: Unsere Herrschaft über unsere Handlungen beruht auf der Spontaneität und auf der Wahl.13 Handeln wir frei, dann zwingt uns keiner. Herrschaft über seine Handlung zu haben, bedeutet demnach, selbst Ursache seiner Handlungen zu sein. Dieses Selbst ist aber nichts anderes als die eigene Vernunft, nicht die dunklen Vorstellungen. Herr über sich selbst zu sein, bedeutet nach Wolff, Autokrat zu sein, Herrschaft über sich selbst durch die Erkenntnis des Gesetzes auszuüben. Ex ratione lux. Die Bedeutung von Wolffs Auffassung von Verbindlichkeit und Freiheit für die ihm nachfolgende Philosophie kann nicht überbetont werden. Dies erklärt sich neben seiner Neubestimmung der Verbindlichkeit nicht zuletzt durch seine systemtheoretischen Interessen, die weit über Leibniz hinausgehen. Wolff beansprucht nicht nur, einen neuen Begriff der Verbindlichkeit erfunden zu haben. Er beansprucht auch, mit der allgemeinen praktischen Weltweisheit erstmals eine Grundlagenwissenschaft für Ethik, Politik, Ökonomie und Recht geschaffen zu haben. Die nach 1703 zweite Version dieser Wissenschaft erscheint 1720 als erstes Kapitel („Von der allgemeinen Regel der menschlichen Handlungen und dem Gesetze der Natur.“) der Deutschen Ethik. Die umfangreichste Version der allgemeinen praktischen Philosophie erscheint in zwei Bänden 1738 und 1739 unter dem Titel Philosophia practica universalis. Es ist ein Handbuch der Freiheit. Ein barockes Werk über Begriffe wie freier Wille und Notwendigkeit, Gesetz und Maxime, Verbindlichkeit und Gewissen. Mit seinen mehr als 1400 Seiten enthält es die vermutlich umfangreichste Handlungstheorie der Philosophiegeschichte.

13  Vgl. Leibniz (1996), 260–261.

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Theodizee und Verbindlichkeit

Fassen wir zusammen: Die Frage nach der Güte Gottes und die Frage nach der Natur unserer moralischen Verbindlichkeit sind im Denken Kants und der Philosophen der Zeit nicht zu trennen. Anfang der sechziger Jahre scheint Kant, durch Rousseau beeinflusst, seinen Untersuchungen im Bereich der praktischen Philosophie eine neue Richtung gegeben zu haben, durch die beide Fragen durch ein und denselben Begriff der Freiheit beantwortet werden können. Die Frage nach der Theodizee durch einen Begriff der freien Willkür, die uns die Herrschaft über uns selbst ermöglicht und den Menschen zum letzten Grund des moralisch Schlechten in der Welt erklärt. Und die Frage nach der Natur der moralischen Verbindlichkeit, die einen Begriff der Freiheit voraussetzt, der einerseits gesetzesfähig ist, andererseits aber die Freiheit der Willkür umfasst, sich für oder gegen das moralische Gesetz zu entschieden. Wie die Lösung der Theodizee-Problematik erfordert also auch der Begriff der Verbindlichkeit einen Freiheitsbegriff, der uns unabhängig und frei von den Dingen der Welt und unserer sinnlichen Natur macht. Doch dieser Freiheitsbegriff ist auch zweideutig: Freiheit ist Gesetz (und Autonomie) und Freiheit ist Willkür, d.h. eine Kraft, sich selbst aus Achtung vor dem Moralgesetz einen guten Willen verschaffen zu können, wenn man es denn will. Diese Zweideutigkeit des Freiheitsbegriffs wird die weitere Entwicklungsgeschichte von Kants Denkens begleiten und Anlass von Kritik sein. Das philosophische Motiv jedoch, welches Kant zur Bestimmung der Freiheit als Gesetz und Willkür geführt hat, liegt auf der Hand: Wird der Mensch in den Stand der Selbstherrschaft versetzt, können die Probleme der Theodizee und der moralischen Verbindlichkeit zugleich gelöst werden. Um dies zu begründen, müssen jedoch eine Reihe von Annahmen gemacht und verteidigt werden: Erstens rationalisiert Kant mit Leibniz und Wolff den Begriff Gottes. Gott ist vernünftig und handelt nach denselben Begriffen des Guten, nach denen auch der Mensch handeln soll. Aus dem unberechenbaren Gott der Willkür wird der Gott der reinen Vernunft. Als Vernunftwesen sind wir Teil einer Welt, dem später von Kant so genannten Reich der Zwecke. Zweitens unterliegt der Mensch einer doppelten Gesetzgebung der Natur und der Freiheit, aufgrund derer er zu Gott und zur reinen Vernunft in ein distanziertes Verhältnis tritt. Drittens wird diese Distanz durch die Wertschätzung zu überwinden möglich, die der Mensch für seine eigene Vernunft, für seine Freiheit und Selbstgesetzgebung, für seine Herrschaft über sich selbst hegt. Handeln wir (wie Kant 1785 schreiben wird) nicht aus Gehorsam für ein uns gegebenes Gesetz, sondern aus Achtung für das moralische Gesetz in uns, dann sind wir im praktischen Gebrauch unseres freien Willens Gott ähnlich. Es gibt dann keine sichtbare

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Distanz zwischen uns und Gott. Viertens schließlich ist die Freiheit der Grund unserer Verbindlichkeit. Es ist dieselbe Freiheit, die Gott von aller Schuld für das moralische Übel in dieser Welt entlastet, weil wir selbst die Urheber unserer Handlungen sind. Das Ziel von Pädagogik und Menschenkenntnis, von Ethik, Recht und Politik muss deshalb die Förderung des Menschen als eines um seine moralische Bestimmung wissendes und um dieser Bestimmung und Zwecksetzung willen handelndes Wesen in dieser Welt sein. Es liegt an uns selbst, ob wir das werden, was wir unserer Natur nach sind: autonom. Kant stellt sich mit dieser Lösung sowohl des Problems der Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel in der Welt als auch der moralischen (oder natürlichen) Verbindlichkeit gegen die von Leibniz und Wolff geprägte Philosophie. Kant möchte nicht bestreiten, dass der Begriff des moralischen Gesetzes durch den Begriff der Notwendigkeit expliziert werden muss. Er möchte auch nicht bezweifeln, dass der Gegenbegriff zur Freiheit nicht die Notwendigkeit, sondern der Zwang ist. Wie aber ist es möglich, den Begriff der moralischen Notwendigkeit mit dem der freien Willkür zu vereinigen? Kants Antwort auf diese Frage wird Geschichte machen: Zwar steht der Wille (bzw. die Willkür) eines reinen Vernunftwesens unter der Notwendigkeit des moralischen Gesetzes. Ein reines Vernunftwesen (Gott) handelt notwendig nach diesem Gesetz. Es widerspräche seinem Begriff, wenn es nicht so wäre (es ist also unmöglich, dass Gott als ein reines Vernunftwesen nicht gut ist). Aber dies bedeutet gerade nicht, dass ein reines Vernunftwesen verbunden (verpflichtet) ist, gemäß des moralischen Gesetzes zu handeln. Verbindlichkeit darf nicht (wie dies Wolff und seine Anhänger machen) mit dem Begriff der Notwendigkeit identifiziert werden. Verbindlichkeit bezeichnet vielmehr die Beziehung eines nicht-reinen Vernunftwesens zum moralischen Gesetz. Das moralische Gesetz (bzw. die reine Vernunft) selbst verbindet uns, nach Maximen zu handeln, die sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung qualifizieren. In einem Satz formuliert: Kant definiert den Begriff der Verbindlichkeit als Nötigung: Wir sollen nach denjenigen Regeln bzw. Maximen handeln, nach denen zu handeln für ein reines Vernunftwesen notwendig ist.14 Aus der Perspektive dieser im Reich der reinen Vernunft herrschenden Notwendigkeit sollen wir das Reich der Natur und der in ihr herrschenden Notwendigkeit verlassen und in ihr eigenes Reich der durch die reine Vernunft gestifteten Notwendigkeit treten, in dem wir als noumenale Subjekte immer schon Mitglieder 14  „Die Abhängigkeit eines nicht schlechterdings guten Willens vom Prinzip der Autonomie (die moralische Nötigung) ist Verbindlichkeit. Diese kann also auf ein heiliges Wesen nicht bezogen werden. Die objektive Notwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit heißt Pflicht.“ (AA 4: 439)

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sind. Wir sollen als Menschen das werden, was wir als reine Vernunftwesen immer schon sind. Der freie Wille folgt nicht mit Notwendigkeit unserer Erkenntnis des Guten (wie Leibniz und Wolff meinten). Vielmehr sollen wir ihr folgen. Hiermit einher geht ein veränderter Vernunftbegriff. Ist bei Wolff der Prozess der Vervollkommnung unserer Erkenntnis des Guten und Schlechten im Prinzip unbegrenzt und auf das Studium aller Dinge der Welt (einschließlich des Menschen) angewiesen, vertritt Kant mit Rousseau die Auffassung, dass jeder Mensch ‚von Anfang an‘ (wenn er denn überhaupt im Gebrauche seiner Freiheit ist) eine vollumfängliche Erkenntnis des moralischen Gesetzes hat. Jeder Mensch ist befähigt, das moralische Gesetz in sich zu erkennen. Und zwar ohne zuvor Logik und Metaphysik studiert zu haben. Es kommt deshalb nur noch darauf an, dasjenige, was in der Theorie erkannt worden ist, nämlich der kategorische Imperativ, in die Praxis umzusetzen. Dazu bedarf es aber keiner zusätzlichen Erkenntnisse, sondern des festen Willens, dies auch tun zu wollen. Auch wenn Kant damit nicht behaupten möchte, dass eine gute Erziehung, hilfreiche Institutionen und friedfertige äußere Handlungsbedingungen unserem Entschluss, aus Achtung vor dem Moralgesetz zu handeln, nicht entgegenkommend wirken. Siglen und Literaturverzeichnis Baumgarten, Alexander Gottlieb (1760), Initia Philosophiae Practicae Primae Acroamatice, Halle. Cassirer, Ernst (2007), Die Philosophie der Aufklärung, bearbeitet von C. Rosenkranz, mit einer Einleitung von G. Hartung, Hamburg. Cassirer, Ernst (2007a), Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Band 24, hg. v. Birgit Recki, Hamburg. Dieringer, Volker (2009), Kants Lösung des Theodizeeproblems. Eine Rekonstruktion, Stuttgart-Bad Cannstatt. Kant, Immanuel (1900 ff.), Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften u.a. – Sigel: AA. Kant, Immanuel (1991), Bemerkungen in den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“, hg. v. Marie Rischmüller, Hamburg. Klemme, Heiner F. (1996), Kants Philosophie des Subjekts. Systematische und entwick­ lungsgeschichtliche Untersuchungen zum Verhältnis von Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, Hamburg. Klemme, Heiner F. (2013), „Kants Erörterung der ‚libertas indifferentiae‘ in der Metaphysik der Sitten und ihre philosophische Bedeutung“, in: Internationales

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Jahrbuch des Deutschen Idealismus / International Yearbook of German Idealism 9, Jahrgang 2011, 22–50. Klemme, Heiner F. (2015), „Freiheit, Recht und Selbsterhaltung. Zur philosophischen Bedeutung von Kants Begriff der Verbindlichkeit“, in: Normativität des Lebens – Normativität der Vernunft?, hg. v. Markus Rothhaar u. Martin Hähnel, Berlin / Boston, 95–116. Klemme, Heiner F. (2018), „How is Moral Obligation Possible? Kant’s Principle of Autonomy in Historical Context“, in: The Emergence of Autonomy in Kant’s Moral Philosophy, hg. v. Stefano Bacin und Oliver Sensen, Cambridge, 10–28. Leibniz, Gottfried Wilhelm (1996), Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels. Vorwort, Abhandlung, erster und zweiter Teil (= Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal: préface, discours, première et deuxième partie), franz./dt., hg. u. übers. von Herbert Herring, Frankfurt/M. Mendelssohn, Moses (1764), Abhandlung über die Evidenz in Metaphysischen Wissenschaften, Berlin. Reich, Klaus (2001), Gesammelte Schriften, hg. v. Manfred Baum u.a., Hamburg. Rousseau, Jean-Jacques (1762), Aemil, oder Von der Erziehung. Aus dem Französischen übersetzet und mit einigen Anmerkungen versehen, Erster Theil, Berlin, Frankfurt, Leipzig. Schmucker, Josef (1961), Die Ursprünge der Ethik Kants, Meisenheim am Glan. Wolff, Christian (1733), Vernünfftige Gedsancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit. Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet (= ‚Deutsche Ethik‘, 1720). Die vierdte Auflage hin und wieder vermehret, Frankfurt u. Leipzig. [ND: Hildesheim u.a. 1976 (= Gesammelte Werke, Abt. I., Bd 4)].

Das Moralische: Der absolute Standpunkt. Kants Metaphysik der Sitten und ihre Herausforderung für das moderne Denken Theo Kobusch Kants Metaphysik der Sitten, d.h. sowohl ihre Konzeption in der Grundlegung als auch ihre Durchführung in der gleichnamigen Schrift, ist ihrem Anspruch nach noch gar nicht recht durch das allgemeine Bewusstsein, zumindest der Forschergemeinde, wahrgenommen worden. Der Anspruch ist, durch das ethische Bewusstsein einen absoluten Standpunkt zu etablieren, dessen Absolutheit in einer besonderen Form der Allgemeinheit begründet liegt. 1

Metaphysik der Sitten – universale Ethik

Kants praktische Philosophie ist im Wesentlichen Willenslehre. Das geht nicht nur, aber besonders deutlich aus dem schwierigen Textstück in der Kritik der praktischen Vernunft über die „Kategorien der Freiheit“ hervor. Die neuere Forschung über dieses Textstück hat gezeigt, dass die aus der theoretischen Philosophie übernommene Vorstellung von der „Erscheinung“ der Handlung hier im Feld der praktischen Philosophie falsch ist und dass „es in allen Vorschriften der reinen praktischen Vernunft nur um die Willensbestimmung“ (KpV, AA V, 66), also um die Willensgesinnung beim Entschluss zu tun ist, nicht um die Naturbedingungen der äußerlichen Ausführung.1 In der Kritik der praktischen Vernunft wird zudem von der praktischen „objectiven Realität“ gesprochen, insofern, „als es nur auf das Wollen ankommt“ (KpV, AA V, 15). In diesem Sinne ist Kants praktische Philosophie eine Lehre von der praktischen Vernunft, d.h. vom Willen überhaupt, und dies wiederum besagt: von der Freiheit überhaupt, also „aller vernünftigen Wesen“, insofern sie von empirischen Bestimmungsgründen unabhängig sind und bloß eine Gesinnung nach Prinzipien haben.2 Ihr steht die Lehre von der Natur gegenüber. Durch 1  Näheres bei Kobusch (2016a). 2  Vgl. Kant, Refl nr. 7201, AA XIX, 275 f.: „Es ist hier nun der Unterschied, daß da im theoretischen Erkentnis die Begriffe keine Bedeutung und die Grundsätze keinen Gebrauch als nur in Ansehung der Gegenstände [der] Erfahrung haben, im practischen dagegen viel weiter, nämlich auf alle vernünftige Wesen überhaupt gehen und von allen empirischen

© koninklijke brill nv, leiden, 2019 | doi:10.1163/9789004383586_005

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diese Gegenüberstellung von Freiheit und Natur ist die kantische Philosophie zutiefst mit der mittelalterlichen verbunden, in der beide auch ontologisch als esse morale und esse naturae unterschieden wurden. Die kantische praktische Philosophie ist insofern die Lehre vom Moralischen, das Wort in seiner zweifachen Bedeutung genommen, nämlich im weiten, mittelalterlichen Sinne, nach dem es all das bezeichnen kann, was mit der Freiheit in irgendeiner Beziehung steht und was insofern das Gegenteil zum Physischen darstellt, und im engeren Sinne als das, was mit dem Sittengesetz oder der Autonomie des Willens vereinbar ist; sein Gegenbegriff ist bezeichnenderweise das Unmoralische oder das Unsittliche.3 In diesem allgemeinsten aller möglichen Gegenstände einer praktischen Philosophie liegt auch implizit der Anspruch des Universellen. Kant folgt in dieser Hinsicht den Spuren von Samuel Pufendorf. Denn Pufendorf hat seine eigene Lehre von den entia moralia als ontologische Grundlage der ersten „universalen Ethik“ angesehen, die bei ihm auch erstmals so genannt wird. Gegenüber der Tradition der aristotelischen Ethik, die als an die griechische Polis gebundene partikuläre Ethik verstanden wird, erhebt Pufendorf den Anspruch, als „erster das Eis gebrochen“ und „aufgrund reiner Vernunft“ (ex sola ratione) das eine Prinzip erforscht zu haben, das „alle Völker, welche Religion sie auch haben, zulassen oder zu dessen Zulassung sie doch durch die Evidenz der Gründe gezwungen werden (adigi) könnten“.4 Dieses Prinzip ist der Fundamentalsatz, der sich allein aufgrund der Beobachtung der menschlichen Natur ergibt, nämlich der von der „universalen Sozialität“, die „absolut alle Menschen“ betrifft und den Gesetzen aller partikulären Sozietäten zugrunde liegt.5 In diesem Sinne sind die Fundamente des Naturrechts nach Pufendorfs Bestimmungsgründen unabhängig, ja, wenn ihnen auch kein Gegenstand der Erfahrung correspondirte, die bloße Denkungsart und Gesinnung nach Principien schon genug ist“. 3  Georg Friedrich Meier hat diesen mittelalterlichen Sinn des Wortes ‚moralisch‘ vor Augen: „Es wird dieses Wort [d.h. das Sittliche] in so unendlich vielen verschiedenen Fällen gebraucht, daß wir uns keinen bessern allgemeinen Begriff davon machen können, als wenn wir alles sittlich oder moralisch in weiterer Bedeutung nennen, was in einer näheren und merklichen Verbindung mit dem freyen Willen steht“ (Meier [2007], 391 f.) Der mittelalterliche und der moderne Begriff des ‚Moralischen‘ werden durch den Kantianer Ludwig Heinrich von Jakob so unterschieden: „Alles, was von Freyheit abhängt, wird moralisch oder sittlich in weiterer Bedeutung genannt, und in diesem Sinne sind freye Handlungen mit sittlichen Handlungen einerley. In engerer Bedeutung aber heißen nur diejenigen Handlungen moralisch, welche durch die Freyheit nach dem Sittengesetz hervorgebracht sind, da hingegen diejenigen freyen Handlungen, welche dem Sittengesetz widersprechen, unsittlich oder unmoralisch genannt werden.“ (von Jakob [1794], §190, 98 f.) 4  Pufendorf (2002), 33. Zum Erstheitsanspruch siehe Pufendorf (2002), 180. 5  „Ea porro socialitas, non in illis tantum terminatur, qui peculiari nobiscum societate juncti sunt, sed ad omnes omnino homines porrigitur. Et leges universalis istius socialitatis

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ausdrücklicher Bemerkung von ihm deswegen gelegt worden, um alle Menschen, „insofern sie Menschen sind“,6 auf der Basis der Vernunft zu erreichen. Hält man sich diese selbstinterpretatorischen Bemerkungen vor Augen, kann es keinen Zweifel geben: Das Naturrecht in der Pufendorf‘schen Form versteht sich selbst als die erste kultur- und religionsübergreifende universale Ethik, deren Anliegen durch die philosophia practica universalis fortgesetzt und schließlich durch die Metaphysik der Sitten Kants vollendet wird. Es ist kein Zufall, sondern eher ein Beleg, dass der Ausdruck „universale Ethik“, durch den die Distanz zur partikulären aristotelischen Ethik gekennzeichnet wird, bei Pufendorf zum ersten Mal begegnet.7 Der frühe Kant hat denn auch diesen neuen Ansatz einer universalen Ethik als eine Eigentümlichkeit „unserer Zeiten“ herausgestellt.8 Wenn dagegen heutzutage namhafte Aristoteles- und Kant-Forscher den aristotelischen und kantischen Ansatz in der praktischen Philosophie miteinander harmonisieren wollen, dann wird gerade dieses neue Selbstverständnis der universalen Ethik, das zum Verständnis der praktischen Philosophie Kants unverzichtbar ist, übersehen. Der Anspruch auf Universalisierung der Handlungsregeln ist denn folgerichtig auch im Rahmen der philosophia practica universalis erhoben worden.9 Die Universalität der Ethik Kants findet ihren deutlichsten Ausdruck in quarumvis particularium societatum leges antecedunt“ (Pufendorf [2002], 64). Pufendorf charakterisiert öfter seinen „Fundamentalsatz“ als einen, der auf „Beobachtung“ (Pufendorf [2002], 164) beruht, d.h. auf Erfahrung. Abgelehnt wird damit zugleich Valentin Veltheims Ansicht, es sei ein apriorisches indemonstrables Prinzip vom Typ der per se nota (Pufendorf [2002], 179). Zur Unterscheidung dieser beiden Arten von Prinzipien, den principia per se nota und den auf Erfahrung beruhenden Prinzipien siehe Kobusch (1983). 6   Pufendorf (2002), 133. Zur Formulierung „ad captum omnium hominum“ siehe auch Pufendorf (2002), 282. Vgl. auch Pufendorf (2002), 154: „Verum cum nobis jus naturae et gentium hoc fine tractetur, ut sit regula actionum et negotiorum inter omnes homines non qua Christiani, sed qua homines sunt“. 7  Brief an Thomasius vom 19.6.1688, in Pufendorf (1996), 194 f.: „Uber Aristotelis ethicam, und undecim nomina virtutum habe ich mich vielmal mit H. Weigelio zu Jena lustig gemachet. […]. Es befindet sich aber so wohl bey Aristotele, als allen Graecis, daß sie ihre democratias für die beste art von republiquen halten, und demnach auch ihre morale einrichten. […]. Denn damit könnte man selbiger morale auf einmahl die kehle abschneiden, als die nur particuliere ist, und auf gewiße formam civitatis eigentlich eingerichtet. Wir aber suchen ethicam universalem.“ Siehe auch den Brief an Pregitzer vom 29.7.1687 in Pufendorf (1996), 164. 8  Kant, NEV, AA II, 312: „Diese Methode der sittlichen Untersuchung ist eine schöne Entdeckung unserer Zeiten und ist, wenn man sie in ihrem völligen Plane erwägt, den Alten gänzlich unbekannt gewesen.“ 9  Siehe z.B. Gottsched (1983), §12, 11: „Wir nennen diese Sittenlehre aber eine allgemeine, weil ihre Lehren sich in allen Altern, Geschlechtern, Ständen und Lebensarten der Menschen ohne Unterschied brauchen lassen. […]. Diese Allgemeinheit nun machet, daß diese Wissenschaft den Grund vor allen übrigen Theilen der practischen Philosophie in sich hält.

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der Idee einer Metaphysik der Sitten. Das Genre der Metaphysik der Sitten erscheint als eine nochmalige Steigerung des Universalitätsgedankens, ja als das Äußerste der universalen Geltung des Sittlichen, insofern in ihm die Gültigkeit der sittlichen Gesetze für alle vernünftigen Wesen, Gott eingeschlossen, bedacht wird.10 Auch der englische Deismus und die Cambridge Platonists hatten in diesem Sinne die Mitberücksichtigung des Göttlichen als die Erweiterung der Universalität des Begriffs des Moralischen angesehen.11 Eine Metaphysik der Sitten ist – so gesehen – gewissermaßen die eigentliche, wahre universale Ethik. Sie beruht auf dem Grundsatz, dass ein Reich der Freiheit nur dann denkbar ist, wenn das Sittengesetz für alle freien Wesen, sowohl für die Glieder als Personen als auch für das Oberhaupt der Personen – wie die bedeutsame Unterscheidung in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten lautet –, in gleicher Weise und in gleichem Sinne gültig ist. Nun könnte man sagen, das mag ja von der Konzeption der Metaphysik der Sitten in der Grundlegung her so sein, dass sie als die schlechthin universale Ethik gedacht sei, aber was die Ausführung in dem dann 1797 erschienenen Werk Metaphysik der Sitten angeht, so steckt da so viel Empirisches drin, dass doch gar nicht mehr von einer ‚Metaphysik‘ sinnvoll gesprochen werden kann. Kant ist sich dieses Problems durchaus bewusst. In der Tat scheinen Begriffe wie – um Beispiele aus der Rechtslehre zu nehmen – Geld, Ware, Kauf, Verkauf oder auch Buch ganz empirischer Art zu sein, so dass sie eigentlich in einer metaphysischen Rechtslehre keinen Platz finden dürften. Es ist aber der Anspruch der Metaphysik der Sitten, solche und ähnliche Begriffe „in lauter intellektuelle Verhältnisse“ auflösen zu können.12 ‚Intellektuelle Verhältnisse‘ bedeutet in unserem Zusammenhang natürlich ‚Willensverhältnisse‘ und zwar im Sinne des ‚allgemeinen‘ oder ‚gemeinsamen‘ Willens. Der aber ist, schon von seiner theologischen Herkunft her – die natürlich sowohl Rousseau wie auch Kant bekannt war –, notwendig ein Gegenstand der Metaphysik, der des Moralischen, wie sich von selbst versteht. Auch im Hinblick auf die Tugendlehre hat Kant durchaus den scheinbaren Eindruck ihres empirischen Charakters bedacht und entsprechend den Anspruch erhoben, „bis auf die Elemente   Herr Bar. Wolff hat die Nothwendigkeit derselben zu allererst eingesehen, und schon 1703 in einer besonderen Dissertation, hier in Leipzig den ersten Entwurf dazu gemacht“. 10  Siehe z.B. Hoffbauer (1798), §18, 11: „Die Wissenschaft der sittlichen Gesetze heißt die Moralphilosophie, insgleichen auch die praktische Philosophie. Sie wird die reine praktische Philosophie oder Metaphysik der Sitten genannt, in so fern sie diese in der Allgemeinheit betrachtet, in welcher sie für alle vernünftigen Wesen gültig sind“. 11  Cudworth (1743), 897: „[I]t extending universally to all, even to that of the deity itself. […] and therefore God himself cannot command, what is in its own nature unjust.“ 12  Vgl. Kant, MS RL, § 31, AA VI, 286.

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der Metaphysik zurück zu gehen, ohne die keine Sicherheit und Reinigkeit, ja selbst nicht einmal bewegende Kraft in der Tugendlehre zu erwarten ist“.13 Man wird somit sagen können, dass die Metaphysik der Sitten eine allgemeine Willenslehre ist, oder noch deutlicher: die Lehre vom ‚allgemeinen Willen‘. Man hat lange Zeit die Idee des Genres ‚Metaphysik der Sitten‘ für eine kantische Erfindung gehalten. So wird etwa im Kant-Handbuch auf die „transzendentallogische Methode“ Kants Bezug genommen, „die zum ersten Male eine Metaphysik der Sitten ermöglichte, die es zuvor tatsächlich nicht gegeben hatte“.14 Schon 1989 sagte Rüdiger Bittner: „Der Gedanke einer Metaphysik der Sitten ist neu“, und Ottfried Höffe fügte hinzu, dass schon der Titel der Schrift „eine Erfindung Kants“ sei. Beide Aussagen sind 2010 unverändert – als ob es die historische Kant-Forschung nicht gäbe – wieder abgedruckt worden.15 Beide sind falsch. Der Gedanke einer Metaphysik der Sitten ist im Schrifttum der Wolffschule unter dem Titel der philosophia practica universalis grundgelegt. Der Titel Metaphysik der Sitten dagegen geht auf den in der Wolffschule neu geprägten Disziplinentitel der metaphysica moralis zurück, den Kant schon bei seinem Lehrer Martin Knutzen hatte kennenlernen können. Da die Zusammenhänge an anderer Stelle ausführlich dargelegt sind,16 kann ich mich hier auf die Nennung der Autoren beschränken, deren Werke die Grundlage für eine wirklich universale Ethik gelegt haben und insofern den Hintergrund der kantischen Metaphysik der Sitten darstellen. Da sind vor allem Alexander Gottlieb Baumgarten, dessen Schüler Georg Friedrich Meier, der Wolffschüler Israel Gottlieb Canz, August Friedrich Müller, Franz Albert Aepinus, Johann Heinrich Winckler, Johann Andreas Fabricius – sie alle haben im Sinne Wolffs eine der Moralphilosophie und Naturrechtslehre vorgeschaltete „Wissenschaft von den allgemeinen gründen unserer handlungen“ entworfen.17 Auch die Metaphysik des Rechts hat ihre historischen Vorläufer. Ich erwähne nur die Namen Johann Wolfgang Wisling und Johann Christoph Hartung.18 Kurzum: Kants Metaphysik der Sitten steht somit am (vorläufigen) Ende einer langen Entwicklung – die ja, auch vom Titel her, von Arthur Schopenhauer fortgesetzt wird – in der der menschliche Wille und seine Äußerungen, ja sogar das Willensphänomen überhaupt, immer mehr in den Fokus einer der praktischen Philosophie immanenten, metaphysikähnlichen Disziplin geriet. 13  Kant, MS TL, Vorrede, AA VI, 376. 14  Vgl. Irrlitz (2002), 277. 15  Bittner (2010), 13; Höffe (2010), 210. 16  Vgl. Kobusch (1997), 93–100. 17  Baumgarten (1760); Meier (2006); Canz (1739); Müller (1733); Aepinus (1714); Winckler (2002). Vgl. auch Carpov (1999); Fabricius (1784), 304. 18  Wisling (1748); Hartung (1692).

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Auch Hegels Rechtsphilosophie ist nach Ausweis von Zeitgenossen eine Art Fortführung der Metaphysik der Sitten.19 2

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Was die Metaphysik der Sitten inhaltlich besagt, ist noch ganz unklar. Kant hat uns aber selbst den Weg zum Verständnis der Metaphysik der Sitten gewiesen. Die Metaphysik der Sitten untersucht im Unterschied zur allgemeinen praktischen Weltweisheit die „Idee und die Prinzipien eines möglichen reinen Willens“.20 Ein Ergebnis dieser Untersuchung ist, dass ein reiner, d.h. ein guter Wille allein jener Wille sein kann, der sich selbst ein Gesetz ist, d.h. dessen Maximen für eine allgemeine Gesetzgebung tauglich sind. Kant sieht es als die Aufgabe der Metaphysik an, zu prüfen, ob das für alle vernünftigen Wesen, also auch für den göttlichen Willen gilt. Will man aber die allgemeine Notwendigkeit des moralischen Gesetzes für alle vernünftigen Wesen und damit die innere Verbindung zwischen dem objektiven Gesetz und dem Begriff des Willens überhaupt durchschauen, so muss man, wie Kant an einer bedeutsamen Stelle der Grundlegung sagt, „einen Schritt hinaus thun“21 zur Metaphysik der Sitten. Gemeint ist die Idee einer Metaphysik, deren Gegenstand nicht das Seiende als solches, sondern gewissermaßen das Wollen als solches, genauer gesagt: das reine Wollen als solches darstellt. Dieser Schritt in das Feld der Metaphysik der Sitten zeigt, was es mit dem Wollen eines Willens überhaupt, also mit dem menschlichen und göttlichen Wollen auf sich hat.22 Es kann nur als ein Wollen gedacht werden, das sich durch Vernunft, durch ein objektiv-praktisches Gesetz selbst bestimmt.23 Immer wieder ruft Kant in diesem Zusammenhang in Erinnerung, dass es hier um die Selbstbestimmung des Willens vernünftiger Wesen überhaupt geht. Das, was den objektiven Grund der Selbstbestimmung eines Willens ausmacht, nennt Kant den Zweck. Im Unterschied zum subjektiven Zweck, der auf der Triebfeder des Wollens beruht und nicht durch bloße Vernunft vorgestellt wird (wie etwa die Glückseligkeit), muss der objektive 19  Vgl. Baumbach (1823), §5, 15. 20  Kant, GMS, AA IV, 390,34–35. 21  Kant, GMS, AA IV, 426,28. 22  Reinhard Brandt hat das richtig erkannt. Nach seiner Interpretation (Brandt [1990], 84f.) bezeichnet der von Kant angezeigte „Schritt“ (GMS, AA IV, 426, 28) den Übergang von der Philosophia practica universalis zur Metaphysik der Sitten. Und zwar bestehe dieser Schritt allein darin, dass der Begriff eines Willens von vernünftigen Wesen überhaupt gewonnen wird. 23  Kant, GMS, AA IV, 427,13–15.

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Zweck, weil er von der bloßen Vernunft gegeben ist „für alle vernünftigen Wesen gleich gelten“.24 „Nun sage ich:“, so sagt Kant, „der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existirt“ als ein solcher objektiver Zweck, der als Endzweck auch „Zweck an sich selbst“ genannt werden kann. An seiner Stelle kann nie ein anderer Zweck gesetzt werden. Ein solcher unersetzbarer, einmaliger Zweck ist in unserer Welt alleine die Person, der deswegen auch ein absoluter Wert, d.i. Würde zukommt, während alles, was einen ersetzbaren Zweck darstellt, also alle „Sachen“, nur einen endlichen Wert, d.i. einen „Preis“ haben.25 Der Begriff der Person ist die Angel, um die sich die Welt des Moralischen dreht. Denn die Person hat absoluten Wert, und daran hängt der kategorische Imperativ. Wenn es sie nicht gäbe, wenn also aller Wert bedingter und somit zufälliger Natur wäre, „so könnte für die Vernunft überall kein oberstes praktisches Princip angetroffen werden“.26 Konsequenterweise ist der Begriff der Person in einer Formulierung des kategorischen Imperativs erhalten geblieben: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“.27 Der absolute Wert der Person liegt nun nach Kant in ihrer inneren Freiheit, d.h. in ihrer Autonomie begründet. Ein schlechterdings guter Wille – mit dessen Idee die Grundlegung ja anhebt –, dessen Prinzip in dieser Welt ein kategorischer Imperativ sein muss, kann gar nicht anders denn als autonom gedacht werden (GMS, AA IV, 444). Der Gedanke der Autonomie des Willens beinhaltet nach Kant zweifelsohne auch, dass theologische Ansprüche zurückgewiesen werden (vgl. KpV, AA VI, 25 f.). Wenn der Wille Gottes als die Ursache des Sittengesetzes angesehen und es durch den menschlichen Willen deswegen befolgt würde, weil Gott es befiehlt, liefe es auf eine Form der Heteronomie hinaus. Das Sittengesetz autonom zu befolgen bedeutet, den eigenen Willen der Bestimmung durch die reine Vernunft zu unterwerfen. Kant hat deswegen zwar die Religion als die „Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote“28 definiert, aber nicht weil sie Gottes Gebote sind, sind sie unsere Pflicht, sondern weil apriorische Gründe unserer Vernunft den Willen bestimmen. Die so verstandene Autonomie des Willens, die in der Tradition, d.h. bei Christian Wolff und in seiner Schule, zwar nicht den erkenntnistheoretischen 24  Kant, GMS, AA IV, 427,24. 25  Kant, GMS, AA IV, 428. 434 ff. 26  Kant, GMS, AA IV, 428,31–33. 27  Kant, GMS, AA IV, 429,10–12. 28  Kant, RGV, AA VI, 158.

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Status wie bei Kant haben mag, aber dem Geist, ja dem Buchstaben nach schon vorbereitet ist,29 ist der eigentliche Grund der Würde der Person. Der absolute Wert der Person, der in ihrer inneren Freiheit, in ihrer Autonomie, begründet liegt, hat aber auch die Bedeutung, dass er einen unendlichen Wert für jedes Bewusstsein darstellt. Das ist in der Kantforschung bezweifelt worden. Man hat versucht, die Person (nach kantischem Verständnis) ihres Charakters eines „metaphysisch objektiven Gutes“ zu entkleiden mit dem Hinweis darauf, dass sie „nur aus menschlicher Perspektive als höchstes Ziel“ erscheine und somit ihr absoluter Wert nur für ein menschliches Bewusstsein bestünde.30 Doch besagen die Kantischen Texte genau das Gegenteil. Das moralische Gesetz, das in der Zweckformel seinen Ausdruck findet, gilt nämlich, freilich nicht in der Form eines Gebotes, auch für den göttlichen Willen. Somit gibt es auch für ihn einen Zweck an sich selbst. Kant erklärt denn auch unmissverständlich in der Kritik der praktischen Vernunft: „Diese Bedingung“ – nämlich ein vernünftiges Geschöpf nur dann als Mittel zu einem Zweck zu gebrauchen, wenn es zugleich auch als Zweck an sich selbst angesehen wird – „legen wir mit Recht sogar dem göttlichen Willen, in Ansehung der vernünftigen Wesen in der Welt, als seiner Geschöpfe, bei, indem sie auf der Persönlichkeit derselben beruht, dadurch allein sie Zwecke an sich selbst sind“.31 Die Person als moralisches Wesen hat den Charakter des „Endzwecks“. Nur ein moralisches Wesen kann als Endzweck gedacht werden, niemals ein Naturding, d.h. ein Zweck in der Natur.32 Die Person hat somit nicht nur für den menschlichen Willen den höchsten Wert, insofern sie im Modus der Achtung, d.h. durch die den endlichen Vernunftwesen eigene Art der Wertschätzung, erkannt wird, sondern auch für den göttlichen Willen. Die Person hat auch für ein göttliches Bewußtsein absoluten Wert. Das drückt auch ein Text der Grundlegung deutlich aus: 29  Vgl. z.B. Wolff (1976), § 38, 28 f.; vgl. auch Wolff (1971), Pars I, Cap. II, § 268, 212; dazu Joesten (1931), 26–30; ebd., 30: „Die Moral ist autonom“. 30  Horn (2004), 211 f. 31  Kant, KpV, AA V, 87,27–29. 32  Vgl. Kant, KU § 86, AA V, 445: „Denn daß alsdann dieser nach der subjectiven Beschaffenheit unserer Vernunft, und selbst wie wir uns auch die Vernunft anderer Wesen nur immer denken mögen, kein anderer als der Mensch unter moralischen Gesetzen sein könne: kann a priori für uns als gewiß gelten; da hingegen die Zwecke der Natur in der physischen Ordnung a priori gar nicht können erkannt, vornehmlich, daß eine Natur ohne solche nicht existiren könne, auf keine Weise kann eingesehen werden.“ – Vgl. Kant, KU, § 87, AA V, 448: „Nun ist, wenn man der letztern Ordnung nachgeht, es ein Grundsatz, dem selbst die gemeinste Menschenvernunft unmittelbar Beifall zu geben genöthigt ist: daß, wenn überall ein Endzweck, den die Vernunft a priori angeben muß, Statt finden soll, dieser kein anderer, als der Mensch (ein jedes vernünftige Weltwesen) unter moralischen Gesetzen sein könne.“

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„[U]nd was […] den absoluten Werth des Menschen allein ausmacht, darnach muß er auch, von wem es auch sei, selbst vom höchsten Wesen beurtheilt werden“.33 Die Person ist also, von welcher Perspektive auch immer betrachtet, ein höchster Wert, und dies, obwohl sie jederzeit „böse“ werden kann, indem sie z.B. sich ihrer „Persönlichkeit“ im Selbstmord entäußert.34 Der Begriff der Person hat deswegen einen univoken Sinn. Darin liegt übrigens auch die eigentliche Bedeutung des berühmten Anfangssatzes der Grundlegung: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“!35 Die Voluntarisierung des eigentlich Guten und Schlechten ist schon den Stoikern zu verdanken, die das christliche Denken tief beeinflusst haben. Dass aber das Moralische auch „außerhalb“ dieser Welt und damit in allen möglichen Welten Geltung hat, das ist, obwohl auch sie schon von der Stoa grundgelegt ist,36 die Errungenschaft der neueren Zeit und besonders der Philosophie Kants. Wenn das schlechthin Gute aber ein guter Wille ist, dann muss auch gelten: Das größte Übel ist ein schlechter Wille.37 Wille, Freiheit und Person gehören aber in den umfassenden Kontext einer Theorie vom univoken Sinn moralischer Begriffe. Kants Metaphysik der Sitten, die den gleichen Wert des Moralischen für jedes vernünftige Wesen bedenkt und voraussetzt, erscheint so als der Höhepunkt einer historischen Entwicklung, die schon früh begann, aber erst durch die Antwort auf die Herausforderung des theologischen Voluntarismus ihre prägende Gestalt erhielt. 3

Die Herausforderung des theologischen Voluntarismus

Die Philosophie Platons stellt auch den Beginn der Moralisierung des Gottesbegriffs dar. Hier wird Gott verstanden als der Inbegriff des Sittlichen. Im Dialog Euthyphron taucht die Frage auf (10 d), ob denn das Fromme deswegen fromm sei, weil es die Götter lieben, oder ob umgekehrt die Götter es lieben, weil es fromm ist. Platon und der Platonismus aller Zeiten haben immer angenommen, dass das Fromme, d.h. das Gute und Gerechte sich nicht einem Willensentschluss Gottes verdanken, sondern dass Gott – eben als Inbegriff des Sittlichen – das Gute und Gerechte will, weil es gut und gerecht ist. Das 33  Kant, GMS, AA IV, 439, 22–24. 34  Vgl. Kant, MS TL, §6, AA VI, 422. 35  Kant, GMS, AA IV, 439,22–24. 36  Zur stoischen Position vgl. Kobusch (2016). 37  Vgl. Kant, Refl nr. 7217, AA XIX, 288: „Die freyheit ist das größte Gut und das größte Übel“.

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ist, wie man zeigen kann,38 im Prinzip die Position der Philosophie geblieben bis ins hohe Mittelalter – die auch in der Neuzeit wieder aufgenommen wird.39 Dagegen hat der sogenannte ‚theologische Voluntarismus‘ des 14. und 15. Jahrhunderts in dieser Frage eine Kehrtwendung vollzogen. Unmittelbar ist sie schon daran erkennbar, dass die platonische Ausgangsfrage, ob das Gute gut ist, weil es die Götter wollen oder ob es die Götter wollen, weil es gut ist, nun, in Zeiten des Voluntarismus, gegen den Geist des Platonismus beantwortet wird. Ein im gesamten Nominalismus kolportierter, gegen Platon gerichteter Satz lautet bei Pierre d’Ailly, gewissermaßen auf dem Höhepunkt des Voluntarismus, so: „Nicht deswegen schreibt Gott das Gute vor, weil es gut ist oder verbietet das Schlechte, weil es schlecht ist, sondern deswegen ist es gut, weil es geboten und deswegen schlecht, weil es verboten ist“.40 Ähnlich heißt es bei Gabriel Biel aus der Sicht des Moralpositivismus: „Nicht deswegen, weil etwas recht oder gerecht ist, will es Gott, sondern weil es Gott will, deswegen ist es gerecht und recht“.41 Es gibt kein in sich Gutes oder in sich Böses, das Gott notwendigerweise liebte oder hasste, sondern alle positiven moralischen Qualitäten sind, was sie sind, aufgrund der Liebe, d.h. der „Akzeptation“ Gottes. Und entsprechend sind auch die negativen moralischen Qualitäten nicht aufgrund ihrer Natur, also in sich Gott hassenswert, nicht einmal der Gotteshass selbst, sondern sie werden dem Menschen zur ewigen Strafe „nur aufgrund des reinen göttlichen Willens angerechnet“.42 Deswegen spricht man vor allem im angelsächsischen Bereich von einer Divine Command Theory. Für das rechte Verständnis des theologischen Voluntarismus ist es wichtig zu bemerken, dass er in seiner extremen Form, die uns in Pierre d’Aillys und Gabriel Biels antiplatonischer Antwort auf die Euthyphron-Frage präsentiert wird, den Höhepunkt einer allmählich fortschreitenden Entwicklung im 38  Vgl. Kobusch (2016b). 39  Vgl. die erhellenden Ausführungen von Wasmaier-Sailer (2011). 40  Petrus de Alliaco In Sent. I, q. 14, art. I B: „Nec ideo precipit [Deus] bona quia bona sint, vel prohibet mala quia mala sint, sed […] ideo bona sunt quia precipiuntur, et mala quia prohibentur“. 41  Gabrielus Biel, Collectorium, lib. I, d. 17, q. 1, dub. 4,44–45, 423; op. cit., lib. II, d. 37, a. 3, dub. 1, 643. 42  Petrus de Alliaco In Sent. II principium D (vgl. auch In Sent. princ. E und In Sent. II princ. Q): „[N]ullum est ex se peccatum sed precise quia lege prohibitum“.    In Sent. I 9 R: „[N]ullum est bonum vel malum quod Deus de necessitate sive ex natura rei diligat vel odiat […]. Nec aliqua qualitas est ex natura rei iusticia sed ex mera […] Acceptatione divina“.    In Sent. I 9 P: „[N]ec odium Dei nec alius quicumque actus culpabilis est Deo odibilis ex natura rei sive ex sui natura. Patet: nullus talis actus deacceptatur ad vitam aeternam vel imputatur ad penam aeternam nisi ex mera voluntate divina“.

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Mittelalter ist. Dem wird jene Position nicht gerecht, die undifferenziert von einer einheitlichen Antwort auf das Problem z.B. des Abrahamopfers auszugehen scheint, wo es doch, wie wir sehen werden, geradezu einen Probierstein darstellt, durch den man erkennen kann, wie es mit dem Wesen des Moralischen bestellt ist.43 In Wirklichkeit kündigt sich der radikale oder extreme theologische Voluntarismus – dem nach Scotus᾿ univokem Willensbegriff ein humaner Voluntarismus entspricht – schon früh an. Man hat in letzter Zeit große Anstrengungen unternommen, um Duns Scotus vom Vorwurf des „unmitigated voluntarism“ freisprechen zu können.44 Allen Wolter, Mary Beth Ingham, Richard Cross und hierzulande besonders Ludger Honnefelder und seine Mitstreiter haben versucht, den scotischen Voluntarismus, der von keinem bestritten wird, zu „mildern“.45 In den meisten Fällen geschieht das durch den Hinweis auf die recta ratio, die eine starke Rolle im Wollensprozess spiele. Aber es bleiben letzte Zweifel: Es gibt Hinweise, dass die rechte Vernunft nicht das letzte Wort hat, sondern dem göttlichen Willen untergeordnet ist,46 so dass wir hier schon eine Andeutung jenes Satzes bei Wilhelm von Ockham vor uns haben, der aus berufenem Munde als Ursprung der sog. Ethics of divine command bezeichnet wurde: „Aber eben dadurch, dass der göttliche Wille dies will, befiehlt die rechte Vernunft, dass man es wollen soll“. Konsequenterweise wird in diesem Zusammenhang die recta ratio als second-order moral principle angesehen.47

43  Vgl. Honnefelder (1995), 301. Zu einer differenzierteren Betrachtung beider Probleme vgl. Kobusch (1989); (1992). 44  Der schon immer erhobene Vorwurf ist durch einen Aufsatz von Thomas Williams (vgl. Williams [1998]) und in anderen Arbeiten erneuert worden. 45  Wolter (2003); Ingham (2001); Cross (1999), 190, note 50; Honnefelder (2008), 188–206; Mandrella (2002), 132–150. Andererseits hat Mandrella (2002) das Verdienst, in mehreren Arbeiten auf die Vorwegnahme des Etsi Deus non daretur-Prinzips, das gewöhnlich erst mit dem Namen Hugo Grotius verbunden wird, bei Gregor von Rimini und damit auf eine Art Platonismus mitten in der Zeit des Voluntarismus aufmerksam gemacht zu haben. Vgl. z.B. Mandrella (2004). Voluntarismusmildernd liest sich auch Möhle (1995), das uns erstmals die Welt der scotischen praktischen Philosophie erschlossen hat. Auffälligerweise – da sie doch beide den Voluntarismus „mildern“ wollen – stimmt Möhle (1995), 361, Wolter (2003) darin zu, „daß das Naturgesetz nur insofern verpflichtenden Charakter hat, als es von Gott gewollt wird“. 46  Vgl. Iohannes Duns Scotus, Rep. 1A, d.44, q.2: „Nihil est melius simpliciter recta ratione quin inquantum volitum a Deo, … Unde auctoritas nihil vult dicere nisi quod quodcum­ que Deus fecit, hoc scias eum recta ratione fecisse; omnia enim quaecumque voluit fecit.“ 47  Guillelmus de Ockham, Ordinatio I, d. 41, q. un., OT IV, 610. – Vgl. zur späteren Rezeption des Satzes im Voluntarismus besonders Idziak (1997), XX.

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Wie aber nach der voluntaristischen These die rechte Vernunft ungeachtet der Inhalte immer rechte Vernunft bleibt, solange sie dem göttlichen Willen gehorcht, so hat auch das „rechte Gesetz“ (lex recta) von sich her keinen bestimmten Inhalt außer dem, der durch den göttlichen Willen festgelegt wird. Jeder Wille aber, d.h. sowohl der göttliche wie der menschliche kann kraft seiner potentia ordinata dem Gesetz gemäß oder kraft seiner potentia absoluta gegen das Gesetz handeln. In jenem Falle sprechen die Juristen von einem Handeln ‚de jure‘, in diesem von ‚de facto‘. Das Gesetz ist allein deswegen ein „rechtes Gesetz“, weil es durch einen Willen festgelegt wurde. Wenn nun der Wille, sei es der göttliche oder der eines irdischen Fürsten, kraft seiner potentia absoluta etwas anderes tun will, als das „rechte Gesetz“ besagt, dann handelt er gleichwohl „ordnungsgemäß“, d.h. dem „rechten Gesetz“ gemäß, denn durch seinen Willen wird de potentia absoluta ein „anderes rechtes Gesetz“ festgelegt, so dass ein solcher Wille immer „ordnungsgemäß“ handelt. Nach Duns Scotus hat der Begriff des Willens offenbar einen univoken Sinn. Das bedeutet, dass der göttliche und menschliche Wille die gleiche Struktur haben und hinsichtlich ihrer Unbestimmtheit und der synchronischen Kontingenz, sowie in ihrer Funktion als Grund der Kontingenz sehr ähnlich sind.48 Nach dieser Lehre, die den Hauptinhalt der distinctio 44 in der Ordinatio und in der Lectura und auch in der Reportatio Parisiensis darstellt, sind alle Ordnungen, die sittliche, die rechtliche und die Naturordnung, das durch den göttlichen Willen inhaltlich jeweils Festgelegte.49 Sie sind nichts an sich und können daher auch keine Kontrollfunktion gegenüber einem Willen ausüben. Die Sittenordnung, d.h. das in der zweiten Tafel der zehn Gebote Festgelegte, ist dispensabel, veränderbar, umstürzbar und damit absolut kontingent. Die Beachtung des Widerspruchsprinzips alleine aber erzeugt noch keine Moralität. ‚Moralpositivismus‘ ist vielmehr der in Analogie zum ‚Rechtspositivismus‘ gebildete, polemische Ausdruck für solches Denken. Wenn Duns Scotus daneben sagt, dass alles von Gott Verschiedene „deswegen gut ist, weil es von Gott gewollt ist, nicht umgekehrt“ – dem Ludger Honnefelder freilich kurzerhand eben dieses Umgekehrte hinzufügt50 –, dann sieht das sehr nach einer Vorwegnahme des antiplatonischen Satzes im späteren extremen Voluntarismus aus. Doch was sich hier gegenüber steht, sind nicht nur einzelne Sätze. Vielmehr zeigt die antiplatonische Antwort auf die Ausgangsfrage eine allgemein 48  Vgl. Kobusch (2011), 357 f.; Möhle (1995), 378. 49  Vgl. Iohannes Duns Scotus, Rep. I d. 44 q. 1, ed. Söder [= Pariser Vorlesungen], 188–201. 50  Honnefelder (2016), 137: „Daher gilt zwar, daß etwas gut ist, weil es von Gott gewollt ist, daß es aber zugleich von Gott gewollt ist, weil es gut ist“.

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kritische Haltung gegenüber allem An-sich-Seienden an. Die nominalistische Lehre von der potentia absoluta mit ihrem moralphilosophischen Anspruch stellt zweifellos eine Steigerung, ja, eine Radikalisierung des voluntaristischen Grundgedankens dar. Unter dem Vorzeichen der absoluten Macht Gottes kann jetzt das Sittengesetz als aufgehoben, d.h. eine Umkehrung der sittlichen Ordnung gedacht werden, ohne dass dies zu inneren Widersprüchen führte. So kann Gott nach Ockham einen Menschen, der Gott immer geliebt und gute Werke getan hat, vernichten oder der ewigen Strafe übergeben, ohne selbst Unrecht zu tun. Wenn zwei Menschen wie Jakob und Esau in allem ganz gleich wären, so kann er de potentia absoluta doch den einen annehmen, den anderen verdammen. Gott kann jemanden hassen, der ohne jegliche Ungerechtigkeit ist, denn Gott ist niemandes Schuldner. Und wenn Gott den Befehl gäbe, ihn zu hassen, zu stehlen und Unzucht zu treiben, dann könnte dies nicht mehr Diebstahl, Unzucht usw. genannt werden. Denn diese Bezeichnungen implizieren alle jetzt, nach dem status quo, die Pflicht zum Gegenteil aufgrund der göttlichen Vorschrift. Fielen sie aber unter die Vorschrift, so könnte der menschliche Pilger, der ihr folgte, sich sogar Verdienste erwerben.51 Mit anderen Worten: Es gibt keine unbedingte Pflicht zum Guten, sondern nur eine durch den göttlichen Befehl bedingte. Es gibt kein bonum oder malum per se. 4

Die Kritik am Voluntarismus – Das Moralische: keine Willenssetzung – moralische Univozität

4.1 Englischer Deismus und Cambridge Platonists Die neuzeitliche Philosophie ist zu großen Teilen auch der Aufstand gegen den extremen Voluntarismus spätmittelalterlicher Prägung, der sowohl von katholischen wie protestantischen Theologen übernommen worden war. Frontal gegen den spätmittelalterlichen Voluntarismus ist vor allem der Platonismus der Cambridger Platoniker gerichtet. So beruht nach Ralph Cudworth die Sicherheit des sittlichen Wissens darauf, dass das Moralische keine göttliche Willenssetzung ist, sondern gerade dasjenige, wodurch Gott und Mensch miteinander verbunden sind: „Justice and honesty are no factitious things, made by the will and command of the more powerful to the weaker, but they are nature and perfection, and descend downward to us from the Deity“.52 Jene Ideologie dagegen, die, wie die Hobbes᾿sche, von einer falsch verstandenen göttlichen absoluten Macht auch eine politische absolute Macht 51  Guillelmus de Ockham, In II Sent. q. 15, OT V, 352,3 ff. 52  Cudworth (1678), c. 4, 205.

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abzuleiten versucht, die als ihre einzige Äußerung verstanden werden soll, macht in Wirklichkeit den eigenen Willkürwillen zur Regel der Gerechtigkeit und nicht diese zur Regel des Willens.53 Der englische Deismus hat die Idee aufgegriffen. Thomas Chubb, Thomas Morgan und Matthew Tindal haben in bemerkenswerter Einmütigkeit darauf hingewiesen, dass die moralischen Inhalte von Gottes Willen abhängig zu machen den Ruin der Moralität und der Religion bedeutete. Wenn Gott im Bereich des Moralischen willkürlich handeln könnte, d.h. mit solchen Gründen, die nur ihm selbst bekannt und unserem Forschen entzogen wären, dann würde Gott die Autorität der Vernunft untergraben – der ja die Gründe offenbar sein müssen – und damit seine eigene Autorität.54 Deswegen müssen, wenn Handeln als vernunftgeleitet gedacht werden soll, die Gründe des Handelns jedermann, d.h. allen vernünftigen Wesen zugänglich sein. Was zudem auf diese Weise unweigerlich verfehlt wird, ist die Universalität des Rechts und der Gerechtigkeit, denn soll das Gerechte sich universell auf alles erstrecken, auch auf die Gottheit selbst, dann kann Gott selbst nicht etwas befehlen, was seiner eigenen Natur nach ungerecht ist, dann ist ein willkürlicher Wille als Quelle und Regel der Gerechtigkeit, die andere verpflichtet, ein absoluter Widerspruch dazu.55 Was daraus folgt für den Charakter der menschlichen Verpflichtung, liegt auf der Hand. Thomas Chubb hat die Konsequenz in klassischer Weise formuliert: Die Verpflichtung des moralischen Gesetzes kann nicht im positiven Willen Gottes ihren Grund haben, sondern nur in den „Gründen“ der Dinge, d.h. im Guten und Bösen selbst.56 53  Cudworth (1678), 699: „[A] power of making their mere Arbitrary Will the Rule of Justice, and not Justice the Rule of their Will.“; vgl. auch Cudworth (1678), c. 5, 897: „God’s Will is Ruled by his Justice, and not his Justice Ruled by his Will“. 54  Chubb (1730), 61: „Only in moral Matters he thinks that God cannot act thus arbitrarily, and unsearchably, and for Reasons only known to himself. For where is it said, either in Scripture, or any other sober Writer, that God Almighty’s Commands in moral Matters are founded in Reasons to us unsearchable, and the sublimity of the divine Counsels, and Ways of acting brought in Justification of them? If they were, so that he could require us to act differently from what Reason concludes to be fit and right, to prefer a positive Duty before a moral, he would overthrow the Authority of Reason, and consequently his own Authority founded upon it; and therefore cannot do it“. 55  Ebd.: „[I]t extending Universally to all, even to that of the Deity it self. […]. [A]nd therefore God himself cannot Command, what is in its own nature Unjust. And thus have we made it Evident, that Infinite Right and Authority of Doing and Commanding any thing without Exception, so that the Arbitrary will of the Commander, should be the very Rule of Justice it self to others, and consequently might Oblige to any thing, is an Absolute Contradiction“. 56  Chubb (1730), 17: „Then the Obligation of the moral Law does not arise from the positive Will of God, but from the Reasons and Fitnesses of Things“. – Chubb (1730), 18: „These

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Im englischen Deismus wird auch die besondere Rolle des Moralischen bewusst. Es ist die einzige wirkliche Brücke zwischen Gott und Mensch. Die moralische Wahrheit, so sagt Thomas Morgan in seinem bedeutenden Buch The Moral Philosopher von 1737, ist das einzige sichere Kriterium der göttlichen Wahrheit.57 Und Thomas Chubb unterstreicht diese besondere Funktion des Moralischen, indem er darauf hinweist (mit Worten, die seinem Lehrer, Samuel Clarke, in den Mund gelegt werden), dass allein im Bereich des Moralischen Gott nicht willkürlich handeln kann. Thomas Chubb hat das Moralische, also die moralische Pflicht, geradezu als dasjenige definiert, das in sich selbst richtig ist und von jedem vernünftigen Wesen als solches anerkannt wird.58 Und auch das Naturgesetz, d.h. die Regel der Handlung, ist notwendigerweise eine allgemeine, für alle intelligenten Wesen gültige Regel, Gott eingeschlossen, der es zu seiner Regel gemacht hat. Es ist aber nicht ein auf Gottes Willen und Befehl zurückgehendes Gesetz, eben weil es für alle intelligenten Wesen gültig ist, gewissermaßen ganz unabhängig davon, ob es Gott will und anordnet oder nicht.59 Wenn aber das Richtige und Falsche, das Gerechte und Ungerechte, die Weisheit und die Unvernunft, Gut und Böse von Gottes Willen abhingen, dann stünde unsere moralische Existenz auf einem prekären Boden, denn Gott könnte seinen Willen ändern, und was heute weise und gut ist, könnte morgen verrückt und böse sein, so dass wir keine Gewissheit über Gut und Böse erlangen könnten. Die moralischen Inhalte von Gottes Willen abhängig zu machen, bedeutet nach Chubb, den Ruin der Moralität und der Religion heraufzubeschwören.60 Deswegen ist es notwendig, davon auszugehen, dass fitnesses of Things, thus recommended and ratified to us, are the only Foundation of the Law of Nature, and not the positive Will of God“. 57  Morgan (1737), 85: „But the whole Truth of the Matter is, I think, in short this: There is one, and but one certain and infallible Mark or Criterion of divine Truth, or of any Doctrine, as coming from God, which we are obliged to comply with a Matter of Religion and Conscience: And that is the moral Truth, Reason or Fitness of the Thing itself, whenever it comes to be fairly proposed to, and considered by, the Mind or Understanding“. 58  Chubb (1731), 33: „By moral duties, I understand the performance of such actions as are in themselves right and fit to be performed by every intelligent being, or moral agent, in equal circumstances“. 59  Chubb (1731), 54 f.: „And it is God’s law, as he adopts it, and makes it his, by giving it as a rule of action to his subjects […]. But it is not God’s law as founded solely on his will and commandment; because it is, and ought to be, a law or rule of action to all intelligent beings, whether God willed or commanded it, or not“. 60  Chubb (1731), 37 f.: „For if right and wrong, just and unjust, wisdom and folly, good and evil, have no foundation in nature, and if it depends upon the will of God what shall or shall not constitute each of these; then it must surely be allowed, that all these stand upon a very precarious bottom; because God may be constantly altering his will, and his determinations, with respect to them: that is, what God constitutes to be wise and good

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das Moralische, Gut und Böse, immer und überall, d.h. für endliche und unendliche Wesen dasselbe ist und dieselbe Bedeutung hat. Nicht zuletzt war es Matthew Tindal, der in seinem einflussreichen Werk Christianity as old as the Creation (1730) die allgemein deistische Position von der Identität der Regeln, die den menschlichen und göttlichen Willen bestimmen, auch expressis verbis vertreten hat. Das Leben Gottes hier auf der Erde zu leben, besagt eben so viel wie nach denselben Regeln zu leben, die Gott für sein Leben lebt. Es besagt, so zu leben, wie Gott an unserer Stelle leben würde. Denn „dieselben Regeln würden unseren Willen bestimmen, die auch seinen bestimmen“.61 Daraus kann man entnehmen, dass der menschliche und göttliche Wille der prinzipiellen Struktur und den Regeln nach, durch die sie bestimmt werden, der gleiche ist.62 Deswegen kann auch kein Befehl von Gott kommen, der inkompatibel wäre mit den Pflichten, die die Menschen als Menschen einander schulden.63 Wenn diese Parallelität zwischen dem menschlichen und göttlichen Willen aber angenommen werden soll, dann müssen auch die Gebote des göttlichen Willens, wenn sie wirklich gut und heilig sind, in der „Natur und Vernunft (Reason) der Dinge“ gründen.64 Wenn dagegen der göttliche Wille ein arbiträrer, also ein Willkürwille wäre, dann wäre die Beziehung auf die Welt des Objektiven (Things) rein zufällig und der Mensch könnte nicht wissen, ob die göttlichen Gebote aus diesem Grunde, um der objektiven Wahrheit willen, gegeben würden. Der Mensch wäre dazu verurteilt, die „Dinge“ nur von einer Autorität entgegen zu nehmen, und wenn to day, he may constitute to be foolish evil to morrow, […] so that we can never come to any certainty what is right and what is wrong, […] because we have no certain principle to reason from, with respect to them, and consequently the foundation of morality, and all religion, must be destroyed“. 61  Chubb (1731), 24: „We then, if I may so say, live the Live of God; that is, we, in our Place and Station, live after the same Manner, and by the same Rules as he does in his; and we do what God himself wou’d do was he in our Place; and there wou’d be no other Difference between his Life and ours, but what arises from our different States and Relations; since the same Rules wou’d determine our wills as determine his Will; and by our repeated Acts of Virtue, we shou’d be continually making nearer and nearer Approaches to the most perfect, and the most happy Being“. 62  Chubb (1731), 279: „Their will is the same with his. […]. As this is the Rule both of God and Man, so is it in common to the unlearned as well as learned“. 63  Chubb (1731), 273: „And if the Light of Nature, (the Voice of God himself) teaches us, […] that God is infinitely wise and good; does it not likewise demonstrate, that no Command, not stam’d with these Characters, can come from him; much less a Command inconsistent with all those Duties that Men as Men to one another?“ 64  Chubb (1731), 355: „Which supposes that all God’s Commands, if they are all holy and good (between which, I think, the Distinction is only verbal) are founded on the Nature, and Reason of Things“.

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das Gegenteil von derselben Autorität verkündet würde, dann ist die menschliche Vernunft samt ihren rationalen Motiven ganz und gar ausgeschaltet (discarded), und gegenüber den göttlichen Willkürgesetzen ist nur noch ein sklavischer Gehorsam, getrieben von Furcht, möglich.65 Wie eine Zusammenfassung des deistischen Denkens nimmt sich aus, was A. Collins in dem 1713 erschienenen Discourse of Free-Thinking über den Gebrauch der moralischen Begriffe überhaupt sagt. Es ist eine generelle Absage an die mittelalterliche Analogielehre. Im Moralischen kann nur ein univoker Sinn der Begriffe unterstellt werden, alles andere führt zu inneren Widersprüchen: „Diese in der Schrift genannten Eigenschaften kommen also Gott (nach der Meinung vieler Theologen) nicht im eigentlichen und direkten Sinne zu, sondern nur im uneigentlichen oder, wie die Schulen sagen, analogen Sinne zu. Aber wenn die Schrift Gott Verstand, Weisheit, Wille, Güte, Heiligkeit, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit beilegt, dann müssen diese Worte im strengen und eigentlichen Sinne, d. h. in ihrer gewöhnlichen Bedeutung verstanden werden. […]. Wenn wir daher keinen sicheren und festen Begriff von der Güte, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit Gottes hätten, so wäre es ein schlechthin unverständliches Wesen und die Religion, die in der Nachahmung Gottes besteht, wäre völlig verloren“.66 4.2 Deutsche Philosophie Vom englischen Deismus ist die deutsche Philosophie zutiefst beeinflusst. Gemeinsam bekämpfen sie die spätmittelalterliche Idee von einem Willkürgott, der die moralische Ordnung durch seinen Willen konstituierte und jederzeit ändern könnte. Im Werk Georg Wilhelm Leibniz’ ist dieser Widerspruch zu einem Hauptanliegen geworden. Schon in seiner Metaphysischen Abhandlung hält Leibniz der spätmittelalterlichen Antwort auf die Euthyphron-Frage nach dem Grund des Moralischen entgegen, dass dann die Kategorie des Lobenswerten ihren Sinn verlöre: „Wie mir scheint, zerstört man auch gedankenlos alle Liebe zu Gott und seine ganze Herrlichkeit, wenn man sagt, die 65  Chubb (1731), 133: „If God can command some Things arbitrarily, we can’t be certain, but that he may command all Things so; for tho’ some Commands should relate to Things in their own Nature good, yet how can we know that an arbitrary Being commands them for this Reason; and, consequently, since an arbitrary Will may change each Moment, we can never be certain of the Will of such a Being“. – Chubb (1731), 151: „But when Men take Things merely on Authority, and would have taken the contrary on the same Authority; Reason is discarded, and rational Motives cease to operate; nor can Men any longer perform moral Duties with a free and cheerful Mind; bur slavishly obey, out of Fear, the suppos’d arbitrary Commands of a Being, too mighty to be contended with“. 66  Collins (1965), 50*.

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Dinge seien nicht durch eine Regel der Güte gut, sondern allein durch Gottes Willen. Denn weshalb sollte man ihn wohl für das, was er geschaffen, loben, wenn er bei gegenteiligem Tun gleichermaßen lobenswert wäre?“.67 In der um 1700 (zusammen mit Molanus) verfassten Schrift Unvorgreiffliches Bedencken, die die Frage der Gnadenwahl behandelt, nimmt Leibniz ausdrücklich noch einmal die platonische Frage auf, „ob nehmlich der wille gottes eigentlich das Recht mache, und ob etwas deshalber allein guth und Recht sey, weil es gott will, oder ob es gott deshalben wolle, weil es an sich guth und recht ist.“68 Die erste Position beruht offenbar auf dem Grundsatz stat pro ratione voluntas, mein bloßer Wille dient mir als Grund. Aber dieser Grundsatz ist nach Leibniz der Wahlspruch eines Tyrannen, der dem christlichen Gott nicht zugeschrieben werden darf, weil sonst „Gott kaum mehr vom Teufel“ unterschieden werden kann. Wenn Nominalisten, katholische und protestantische Theologen, annehmen, Gott könne mit absolutem Recht Unschuldige verdammen und tue es, er übergebe die ohne Taufe gestorbenen Kinder den ewigen Flammen usw.,69 so haben sie nicht nur eine recht schwache Vorstellung von der Güte und Gerechtigkeit Gottes, sondern sie verletzen zudem den „Kern der Religion“.70 Die Grundlage dieser falschen Gottesvorstellung ist aber die Ansicht von der Analogie der Begriffe im Bereich des Moralischen. Leibniz stellt dem seine These von der Univozität der moralischen Begriffe bzw. der universalen Gerechtigkeit gegenüber. Wenn der Begriff der Gerechtigkeit und Güte Gottes einen verbindlichen Sinn haben soll, dann muss der reale Grund dieses Begriffs, eben das Wesen der Gerechtigkeit selbst, „Gott und dem Menschen gemeinsam sein“. Ganz unbestreitbar ist, dass es große Unterschiede zwischen der vollkommenen Gerechtigkeit Gottes und der unvollkommenen menschlichen gibt, aber „dieser Unterschied ist nur ein gradueller“.71 Es kann mithin im Reich der Gnade oder der Freiheit zwar Stufen der Freiheit geben, aber kein prinzipi67  Leibniz (1999), 1532,16–1533,1: „Aussi, disant que les choses ne sont bonnes par aucune regle de bonté, mais par la seule volonté de Dieu, on détruit, ce me semble, sans y penser, tout l’amour de Dieu, et tout sa gloire. Car pourquoy le louer de ce qu’il a fait, s’il seroit egalement louable en faisant tout le contraire?”. 68  Leibniz (2011), 469,11–14. 69  Vgl. Ockham, Quaestiones variae, q. 1, OT VIII, 18,385–387: „Sed deus potest punire aeternaliter sine aliquo peccato actuali praecedente vel concommitante. Patet de pueris non baptizatis damnatis qui puniuntur poena damni.“ 70  Vgl. das wohl aus der Zeit um 1705 entstandene Fragment der Schrift Meditation sur la notion commune de la justice, abgedruckt (ins Deutsche übersetzt) in: Leibniz (1966), 506– 516, Zitat: 507. Der Vergleich des Willkürgottes mit einem Tyrannen kommt bei Leibniz öfter vor, vgl. Leibniz (1999), 1532–1533; Leibniz (1895), 35, mit Hinweis auf die Lehre des Thrasymachos in Platons Politeia. 71  Leibniz, Meditation sur la notion commune de la justice, 509.

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ell oder qualitativ Anderes, das auch frei oder gerecht genannt werden sollte. Wer dagegen sagt, dass die Gerechtigkeit willkürlicher göttlicher Festsetzung entspringt und dass die Gerechtigkeit, die wir kennen, nicht die sei, die Gott befolgt, der zerstört sowohl das Gottvertrauen wie auch die Gottesliebe.72 Das ist Leibniz᾿ Grundsatz von der „universalen Gerechtigkeit“, der seiner Théodicée zugrunde liegt. Er findet komprimiert in einem Satz Ausdruck, der dem stoischen, von Origenes zitierten Grundsatz von der Identität der göttlichen und menschlichen Tugend sehr ähnelt: „Le droit universel est le même pour Dieu et pour les hommes“.73 Im Rahmen dieser universalen Gerechtigkeit ist nur ein gradueller Unterschied denkbar. Deswegen sagt Leibniz: „[Gottes] Gerechtigkeit und Güte, ebenso wie seine Weisheit, unterscheiden sich nur dadurch von der menschlichen, daß sie unendlich vollkommener sind“.74 5 Abrahamsopfer Veranschaulicht wird das Problem der Setzung bzw. der Univozität des Moralischen an der Erzählung vom Abrahamsopfer im Buch Genesis, das im Mittelalter vorwiegend aus moralphilosophischer Sicht interpretiert wurde.75 Mittlerweile hat sich aufgrund der historischen Forschung herausgestellt, dass auch hier Duns Scotus eine Wendemarke darstellt. Wie Klaus Hedwig und Hannes Möhle gezeigt haben, ist die Forderung Gottes an Abraham, seinen Sohn zu töten, nach Duns Scotus nicht mehr, wie bei Thomas, als eine Ausnahme von einer allgemeinen Regel aufzufassen, sondern als der Umsturz eines „universalen Gesetzes“ selbst.76 Es ist somit für Duns Scotus denkbar – und die, die einem milderen Voluntarismus das Wort reden, bestätigen das –, dass Gott eine Ordnung festlegte, in der das allgemeine Tötungsverbot keine Gültigkeit hätte.77 Wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt, dann 72  Leibniz (1895), n. 177, 220. 73  Leibniz (1895) (Discours Preliminaire…), n. 35, 70. Zum stoischen Hintergrund vgl. Kobusch (2016 b). 74  Leibniz (1895) (Discours Preliminaire…), n. 4, 51. 75  Ein erster Zugang zur Geschichte des Problems vom Nominalismus bis ins 20. Jh. findet sich bei Kobusch (1992). Mandrella (2002) hat ihre ausführlichen Analysen besonders der vornominalistischen Tradition der Exegese des Genesis-Kapitels gewidmet, während die neuzeitliche Auslegung desselben (engl. Deismus, Aufklärung, Kant, Deutscher Idealismus, Kierkegaard) nur in einem „Ausblick“ (258–260) thematisiert und ihre fundamentale Sprengkraft nicht wirklich erkannt worden zu sein scheint. 76  Vgl. Hedwig (1992), 652; Möhle (1995), 428 f. 77  Vgl. Möhle (1995), 428: „Wenn die Opferung des Isaak erlaubt sein soll, dann muß das allgemeine Tötungsverbot aufgehoben werden“; Mandrella (2002), 144: „[W]enn Gott die

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kommt heraus, dass die Sittenordnung überhaupt nicht an bestimmte, unverrückbare, unveränderliche Inhalte gebunden ist, sondern formal nur an die Prinzipien der Konsonanz und Kohärenz – wie die (aus den Texten herausgepickten) Schlagworte der modernen Interpretation lauten78 –, die jedoch nur innerhalb einer jeweils „statuierten“ Ordnung Geltung haben. Kohärenz und Konsonanz innerhalb solcher durch den göttlichen Willen festgelegten Ordnungen können vielleicht als die erfüllten Bedingungen von Rationalität angesehen werden, aber Moralität können sie sicher nicht begründen. Dazu bedürfte es vielmehr des Aufweises, dass auch zwischen diesen vom göttlichen Willen abhängigen, also kontingenten Ordnungen eine inhaltliche Kohärenz und Konsonanz bestünde. Das eben ist das Anliegen der neuzeitlichen Kritik am extremen Voluntarismus des Spätmittelalters, wie es auch an der andersartigen Interpretation des Abrahamsopfers ablesbar ist. Wurde die Erzählung vom Abrahamsopfer in der Spätscholastik als Beleg für den voluntaristischen Gottesbegriff gebraucht, so ist sie in der Aufklärung der Anlass moralischer Empörung. Repräsentativ sei hier auf drei kritische Reaktionen aus dem Bereich der neuzeitlichen Philosophie hingewiesen. Im Bereich des Deismus sind das die Bemerkungen von Thomas Morgan in seinem 1737–1740 erschienenen Werk The Moral Philosopher. Abraham glaubte sicher mit subjektiver Gewissheit, den Befehl zur Opferung seines Sohnes von Gott erhalten zu haben. Aber dass Gott in diesem oder einem anderen Fall das Naturgesetz suspendiert und etwas zur moralischen Pflicht gemacht hätte, was allen natürlichen Prinzipien und Gefühlen widerspricht, ist nach Thomas Morgan absolut unglaubhaft und unbeweisbar. Wenn man es aber für möglich hält – wie es offenbar Samuel Clarke, der Lehrer Morgans, nominalistischen Gottesvorstellungen folgend, getan hat79 –, dann gibt es kein Recht und Unrecht, kein moralisch Gutes oder Böses, das einem positiven Willen vorgegeben wäre, sondern alles derartige würde erst festgelegt „by mere arbitrary Will and Pleasure“. Die Annahme, Gott habe Abraham den Befehl erteilt, seinen Sohn zu opfern, würde nach Morgan das gesamte System der Natur erschüttern und alle Handlungsregeln aufheben.80 Noch deutlicher ist die Kritik in der deutschen Version des Deismus, in Reimarus’ Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, die zu großen Teilen von Lessing schon in den siebziger Jahren, die Bemerkungen bestehende Ordnung, die das Töten eines Unschuldigen verbietet, in eine solche, die es erlaubt, qua potentia absoluta umändert“; Honnefelder (2005), 123. 78  Vgl. L. Honnefelder (2016), 135; (2008), 201–203; H. Möhle (1995), 358; 429. 79  Vgl. Gawlick (1969), hier: 28*. 80  Morgan (1737), 133 f. Vgl. auch Gawlick (1967), 594.

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über das Abrahamsopfer jedoch erst 1787 publiziert wurden. „Kann Gott wohl eine Handlung befohlen haben“ – so kleidet Reimarus seine Kritik in provozierende Fragen – „die ihm ein Greuel ist, und die in der Schrift so oft verdammt wird? Kann darin eine gottgefällige Handlung gesetzt werden, wenn ein Vater sein eigenes Kind, das nichts verschuldet hat, jämmerlich ermorden soll, gleichsam als wenn es Gott zu Ehren geschähe? […]. Wer kann die Garstigkeit solcher Tath mit einem göttlichen Befehl zusammen reimen?“ Reimarus argumentiert von der inneren Natur der Dinge her: „Was in sich selbst unmöglich, ungereimt und falsch ist, was in jeder anderen Geschichte Lügen, Betrug, Gewaltthätigkeit und Grausamkeit heißen würde, kann dadurch nicht vernünftig, ehrlich, erlaubt und rechtmäßig werden, dass die Worte hinzukommen: so spricht der Herr!“ Deswegen müssen die in der Erzählung vom Abrahamsopfer enthaltenen Zumutungen für ein sittliches Gewissen als der Güte und Vollkommenheit Gottes widersprechend abgelehnt werden. Denn Gott eines solchen Befehls für fähig zu halten, heißt „ihn zu entehren und ihn zu einem ungerechten, fürchterlichen Wesen zu machen, das sich an der Vergiessung unschuldigen Bluts vergnügte“.81 Kant hat diese deistische Position nicht nur in seiner Religionsschrift, sondern auch besonders in seiner 1798 erschienenen Schrift Der Streit der Fakultäten übernommen. Nach Kant kann niemals bewiesen werden, dass, wenn der Mensch eine solche Stimme hört, wie im Falle des Abrahamsopfers, es Gott ist, der sich ihm so zu erkennen gibt, denn Gott kann als Gott nie mit den Sinnen erfasst werden. Dass aber das, was ihm da erscheint, in einigen Fällen ganz gewiss nicht Gott sein kann, dafür gibt es ein absolut sicheres Kennzeichen: „[W]enn das, was ihm durch sie [d.h. die Stimme] geboten wird, dem moralischen Gesetz zuwider ist, so mag die Erscheinung ihm noch so majestätisch und die ganze Natur überschreitend dünken: er muß sie doch für Täuschung halten“. Abraham hätte deswegen mit absoluter moralischer Gewissheit antworten müssen: „Daß ich meinen guten Sohn nicht töten solle, ist ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst, Gott seiest, davon bin ich nicht ganz gewiß, und kann es auch nicht werden, wenn sie auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallete“.82 Hier ist eine der größten Errungenschaften des neuzeitlichen Denkens erkennbar: Die moralische Gewißheit, d.i. das Wissen um den Unterschied von Gut und Böse, ist die absolute Gewißheit, der

81  Reimarus (1972), in der Reihenfolge der Zitate: II 2,8 (I 238–239); II 2,7 (I 237); II 2,8 (I 239). 82  Kant, SF, AA VII, 63 mit Fn.

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absolute Standpunkt, der weder durch das Religiöse (s.u. S. 81 ff.) noch durch die Ästhetik relativiert werden kann.83 Was die Relativierungsversuche vom Standpunkt des Ästhetischen aus angeht, so sind sie in der Geschichte der Philosophie von Augustinus bis Leibniz immer wieder gemacht worden, ausgehend von der klassischen Frage, ob das Böse ein Beitrag zur Schönheit des Universums sein könne. Wer sich gegen diese Ästhetisierung des Moralischen mit aller Macht gewehrt hat, ist kein Geringerer als Heinrich von Gent, der im 13. Jh. die philosophische Welt auf allen möglichen Gebieten durcheinander gewirbelt hat. Indem Heinrich den Willen als die irreduzible Letztinstanz des Moralischen begriffen hat, macht er auch deutlich, dass das Moralische selbst keinem anderen untergeordnet werden kann. Heinrich hat in diesem Zusammenhang der augustinischen Lehre widersprochen, dass jede Art des Übels von einem ästhetischen Standpunkt aus zur Schönheit des ganzen Universums beitragen könne. Mag das malum poenae so gesehen werden können, aber das eigentlich moralische Übel, d.h. das Böse (malum culpae), wird niemals in dieser Weise als ein Beitrag zur Schönheit des Universums angesehen werden können, „weil es von sich aus auf keine Weise auf den Zweck des Universums hin ausgerichtet werden kann“. Das Böse kann also nach Heinrich, von welchem Standpunkt auch immer betrachtet, niemals ein Gutes oder Sinnvolles sein.84 6

Moralische Notwendigkeit

Während das Beispiel des Abrahamsopfers in der neuzeitlichen Philosophie die Generalthese von der Univozität des Moralischen veranschaulicht, muss als eines der wichtigsten Elemente derselben ein Begriff angesehen werden, der erst in der Philosophie der Neuzeit geprägt wird und zu einem unverzichtbaren Essential der Freiheitsphilosophie in der gesamten klassischen deutschen Philosophie avanciert: Der Begriff der „moralischen Notwendigkeit“. Ohne dieses Lehrstück kann das, was Freiheit in der neuzeitlichen Philosophie genannt wird, nicht verstanden werden. Die neuzeitliche Philosophie ist auch durch die Moralisierung der Modalbegriffe gekennzeichnet. Während die Unterscheidung der logischen und physischen Notwendigkeit schon in der Pariser Scholastik des 16. Jahrhunderts 83  Das scheint auch die These von Boylan (2004) zu sein, der dafür plädiert, dass, wenn es einen „clash“ von religiösen Geboten oder ästhetischen Werten mit moralischen Gesetzen gibt, in einer gerechten Gesellschaft immer die Moralität die Oberhand haben müsse. 84  Heinrich von Gent, Quodl. V, q. 5 I fo. 160 vG-H; vgl. Summa art. 21, q.1, I fo. 123 vD.

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nachweisbar ist, kommt das, was die moralische Notwendigkeit und die moralische Unmöglichkeit ausmacht, erst in der spanischen Scholastik des 17. Jahrhunderts zu Bewusstsein. Das moralisch Notwendige wird dabei formal als das bestimmt, was „immer und untrüglich geschieht, obwohl es physisch nicht geschehen könnte“ oder auch, um das Moralische dieses Notwendigen auszudrücken, so definiert: „Die moralische Notwendigkeit im eigentlichen Sinne besteht darin, dass ein freies Vermögen so nach einer Seite hin geneigt wird, dass es sich nicht zum Gegenteil bestimmen kann“.85 Von besonderer Bedeutung ist, dass die Konzeption der moralischen Notwendigkeit auf Gott übertragen wurde. Wir kennen alle die Auswirkung dieser Idee. Es ist der Leibniz‘sche Optimismus, der besagt, dass Gott moralisch zur Wahl des Besten genötigt ist. Er beruht auf der sogenannten Regel des Besseren, die ihrerseits ausdrückt, dass „Gott das will und auch immer tut, was im Hinblick auf das Universum schlechthin besser und vernünftiger ist“.86 Dass diese Übertragung der Idee von der moralischen Notwendigkeit auf Gott eine revolutionäre Neuerung darstellt, bezeugt uns ein Kritiker dieser Lehre, nämlich Pedro Hurtado de Mendoza, der in Salamanca Theologie lehrte. Er sagt: „Ich gestehe, daß ich vor dieser Zeit in keinem katholischen Scholastiker etwas von dieser moralischen Notwendigkeit gelesen oder gehört habe“.87 Diese Idee ist erstmals um 1630 herum von Diego Ruiz de Montoya und Diego Granado im Jesuitenkolleg in Sevilla entwickelt worden. Dass Gott nur das Gute wollen könne, hatte schon Platon mit guten Gründen dargelegt. Es geht dabei, wie Ruiz hervorhebt, um jenes von Gott unfehlbar gewollte Gute, das im Hinblick auf das Universum das schlechthin Beste ist. Maßstab dafür ist aber nicht der göttliche Wille selbst – von ihm wird gerade abgesehen –, sondern die den Objekten zukommende eigene und reale Vollkommenheit und ihr Verhältnis zum ganzen Universum, also die innere Kongruenz und Vernünftigkeit des Ganzen. Dieses Gute, was das Beste ist, muss Gott quasi wollen, obwohl er, absolut betrachtet, ganz frei bleibt. Es ist die mit der Freiheit verträgliche moralische Notwendigkeit.88 Das ist zugleich einer der wichtig85  Vgl. Mauro (1687), T. 1, 173 a: „Necessitas moralis, proprie dicta consistit in hoc, ut potentia libera ita inclinetur ad unam partrm, ut non possit sine difficultate, conatu et excitatione omnium […] suarum virium se determinare ad oppositum.“ 86  Sie stammt von Ruiz de Montoya, zitiert bei Knebel (1991), 5. 87  Mendoza (1643), sec. VI, sub. 2, § 35, 19b: „Ego fateor ante haec tempora me in nullo Catholico Scholastico aut legisse, aut audiuisse hanc moralem necessitatem.“ 88  Montoya (1630), 77a: „Deus semper atque infallibiliter vult illud bonum, quod in ordine ad universitatem rerum est simpliciter optimum […]. Quamvis illius electio sit physice et absolute libera, nihilominus sit infallibilis et moraliter necessaria.“ – Vgl. Granado (1624), 430: „[Q]uod Deus velit optimum, licet non sit necessarium physice, sed potius absolute liberum […], moraliter tamen est necessarium.“

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sten Grundsätze, der in diesem Zusammenhang immer festgehalten wird und ausgestrahlt hat bis zu Leibniz: Die moralische Notwendigkeit hebt die absolute Freiheit nicht auf, ja, sie ist sogar die vollkommene Form der Letzteren.89 Verträglich mit der Freiheit ist sie aber insofern, als sie im Unterschied zur metaphysischen Notwendigkeit die Möglichkeit zum Gegenteil offenlässt.90 Und noch ein Element macht sie geradezu besonders freiheitstauglich, nämlich die Selbstbestimmtheit, die darin liegt. Die moralische Notwendigkeit ist eine vom Willen sich selbst auferlegte. Eben darin gleichen sich sogar der göttliche und menschliche Wille.91 Später hat Georg Friedrich Meier diesen Grundgedanken aufgenommen, dass die moralische Notwendigkeit die Willensbestimmung durch innere Bewegungsgründe meint, so dass eine „innere Verbindlichkeit“ entsteht, ohne die kein freies Handeln möglich ist.92 Das moralisch Notwendige – wie z.B. die Unmöglichkeit, ein ganzes Leben ohne Sünde zu leben – hat zudem die Eigenheit, dass es, obwohl es prinzipiell nicht sein könnte, d.h. nicht wirklich werden müsste, immer zukünftig wirklich wird. Es drängt gewissermaßen zur Verwirklichung. Wenn es tatsächlich nicht irgendwann wirklich würde, dann würde es den Charakter des moralisch Notwendigen verlieren und ein Indifferentes sein. An dieser Stelle sieht man am deutlichsten, gegen wen und was sich diese Lehre von der moralischen Notwendigkeit zuerst wendet, nämlich gegen die Freiheitsauffassung im Sinne 89  Granado (1624), 432: „[N]ecessitas moralis non aufert absolutam libertatem.“ – Vgl. Montoya (1631), 99b: „Quarta [sc.: propositio] est, libertatem simpliciter, quae dicitur ‚libertas physica‘, manere multoties integram et solutam, licet moralis indifferentia seu libertas sublata sit per moralem necessitatem […].“ – Vgl. Sousa (1680), 28: „[M]anifeste apparet compossibilitas necessitatis moralis cum physica libertate.“ – Vgl. Clarke (1738), 565: „Moral Necessity is evidently consistent with the most perfect Natural Liberty.“ – Vgl. Leibniz (1890), Leibniz an Clarke 5, 390: „Et quant ‚a la Necessité morale, elle ne deroge point non plus à la liberté. Car lorsque le sage, et sur tout Dieu (le sage souverain) choisit le meilleur, il n’en est pas moins libre; au contraire, c’est la plus parfaite liberté, de n’estre point empeché d’agir le mieux.“ – Vgl. Leibniz (1895), Causa Dei asserta per Justitiam ejus […], §21, 441: „Necessitas excluditur Metaphysica, cuius oppositum est impossibile, seu implicat contradictionem; sed non Moralis, cuius oppositum est inconveniens. Etsi enim Deus non possit errare in eligendo, adeoque eligat semper quod est maxime conveniens, hoc tamen ejus libertati adeo non obstat, ut eam potius maxime perfectam reddat.“ 90  Montoya (1630), 111a: „Nam ea quae simpliciter est necessitas, e diametro pugnat cum libertate, quoniam excludit omnino possibilitatem oppositi. Contra vero moralis necessitas relinquit absolute possibilitatem oppositi, proptereaque simpliciter libertatem custodit illaesam.“ 91  Vgl. Ribadeneira (1655), 401b: „Liberrime sibi Deus imponit necessitatem moralem.“; vgl. Sousa (1680), 336: „Respondeo necessitatem moralem maxime esse consentaneam libertati actus, quia est necessitas, quam sibimet ipsi libere imponit voluntas, et non ab alio accipit […].“ 92  Meier (2006), bes. §68 und §134. Vgl. auch §§65–67.

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der Indifferenz,93 ja gegen den Voluntarismus überhaupt. Das geht aus zeitgenössischen Kritiken der moralischen Notwendigkeit hervor.94 Der springende Punkt in dieser Konzeption ist, dass Freiheit der Standpunkt einer bloßen Möglichkeit ist. Die Lehre von der moralischen Notwendigkeit aber versteht die Freiheit als den Willen zur Entscheidung. Das ist die übergeordnete Frage, bei der sich das Schicksal der Philosophie entscheidet: Ist das Moralische ein Gott und Mensch und daher auch allen Menschen univok Gemeinsames, oder ist das Moralische ein äquivoker Begriff? Das Lehrstück von der necessitas moralis ad optimum ist der Versuch, eine Brücke zu bauen zwischen dem moralischen Bereich, d.h. dem Willensbereich Gottes und dem des Menschen. Ein gleichzeitiger, ähnlich ausgerichteter Versuch ist die 4. Meditation Descartes᾿, in der – wie bei den Kirchenvätern – „allein“ die Freiheit und nicht die Erkenntnis als der wahre Grund der Gottebenbildlichkeit bezeichnet wird. Es ist freilich nicht die Freiheit der Indifferenz, der untersten Stufe der Freiheit, die diese Gottähnlichkeit aufweisen könnte, sondern im Gegenteil jene Form der Freiheit, die die Indifferenz hinter sich lässt und einer „starken Neigung“ (magna propensio) des Willens folgt, hervorgerufen durch die evidente Erkenntnis des Grundes des Guten und Wahren. Das ist die höchste Stufe der Freiheit, nicht mehr die Qual der Wahl zu haben, sondern einer inneren Notwendigkeit zu folgen, die die spanische Scholastik die „moralische“ nennt.95 Dass aber das Lehrstück von der moralischen Notwendigkeit nicht nur ein innerscholastischer Streitpunkt war, sondern ein Wesensbestandteil neuzeitlichen Philosophierens, ist aus der Wirkungsgeschichte zu entnehmen. Denn das Thema wird nicht nur bei Christian Wolff und in der Wolffschule, z.B. breit bei Georg Friedrich Meier aufgenommen, sondern auch bei Kant und in der ‚Klassischen Deutschen Philosophie‘ sonst.96 Nach Kant liegt in dem 93  Vgl. Granado (1624), 430. 94  Jorge Hemelman, De voluntate ac Providentia Dei ad primae partis St. Thomae quaestiones 19,20 et 22, in Knebel (1992), Anm. 43: „[U]bi maior est indifferentia ad utrumlibet, maior est libertas; sed indifferentia ad utrumlibet, quae non solum est physica, sed etiam moralis, maior est quam ea quae solum est physica, siquidem nihil habet determinationis et carentiae indifferentiae […].“; ebd., Anm. 44: „[P]erfectior libertas in ratione libertatis est perfectior in ratione indifferentiae. Cum in hac indifferentia consistat formaliter libertas […]. Perfectior indifferentia est maior indifferentia ad utrumlibet et minor determinatio ad unum […]. Ergo, cum necessitas moralis ad optimum penitus auferat indifferentiam moralem ad utrumlibet et inducat determinationem moralem ad unum, relinquit absolute minus indifferentiae et per consequens libertatis.“ 95  Descartes (1904), 57. 96  Vgl. z.B. auch Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1785), JW I,1, 75.

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moralischen Gesetz, das allen vernünftigen Wesen Verbindlichkeit auferlegt, der Charakter der moralischen Notwendigkeit. Allerdings ist „für Menschen und alle erschaffenen vernünftigen Wesen die moralische Nothwendigkeit Nötigung“, während sie für Gott als „Gesetz der Heiligkeit“ besteht, d.h. ohne Nötigung, weil der Wille des allervollkommensten Wesens das moralische Gesetz nicht „macht“, sondern ihm schon immer entspricht.97 Auch in der nachkantischen Ära, in der versucht wird, Freiheit und Willkür noch deutlicher zu unterscheiden, ist es die moralische Notwendigkeit, die die wahre Freiheit, die göttliche wie die menschliche, als solche kennzeichnet. Nach Johann Gottlieb Fichte ist es die Verwechslung der Freiheit mit Willkür, weswegen „man sich die moralische (nicht etwa physische) Nothwendigkeit, womit ein Gesetz der Freiheit gebieten soll, so schwer denken konnte“. Wenn man nämlich Freiheit im Sinne der Willkür versteht („ein Gedanke, dessen noch immer viele sich nicht erwehren können“), so ist damit freilich nicht die moralische Notwendigkeit kompatibel. Aber Freiheit ist etwas von Willkür radikal Verschiedenes. Denn Freiheit ist die vom Zwang der Naturnotwendigkeit gänzlich befreite, spontane, praktische Selbstgesetzgebung der Vernunft. Fichte nennt das die „transcendentale Freiheit“, und von ihr ist vor allem dies zu sagen, dass sie, insofern sie praktisch ist, „jedem moralischen Wesen, folglich auch dem Unendlichen beizulegen“98 ist. Schließlich scheint auch Schelling, und zwar in seiner Freiheitsschrift, den Gedanken der moralischen Notwendigkeit aufgenommen zu haben. Wenn es darum geht, „das Verhältnis Gottes als moralischen Wesens“ zur Welt zu bestimmen, genügt es nicht, einfach auf die Freiheit zu verweisen, als ob er eine Entscheidung nach einer „Berathschlagung“ oder bei der „Wahl zwischen mehreren möglichen Welten“ getroffen hätte. Vielmehr ist die Schöpfung als eine Selbstoffenbarung zu denken, die mit „sittlicher Notwendigkeit“ erfolgt, und da die Freiheit das Wesen Gottes selbst ausmacht, kann man auch sagen: die mit metaphysischer Notwendigkeit erfolgt.99 97  Vgl. Kant, KpV, AA V, 81 f. und bes. Refl nr. 7089, AA XIX, 246: „Gott macht nicht […] die moralischen Gesetze, sondern sagt nur, daß sie die Bedingungen seines gütigen Willens seyn.“; ebd., nr. 7092, AA XIX, 247: „Gott ist nicht durch seinen Willen der Auctor des moralischen Gesetzes, sondern der (göttliche) Wille ist das moralische Gesetz, nemlich das Urbild des vollkommensten Willens und auch das principium aller Bedingungen, unseren Willen einstimig mit dem seinigen zu determinieren […].“ 98  Fichte, Versuch einer Critik aller Offenbarung [2. Aufl. 1793], §2 II, GA I,1, 147. Vgl. auch Fichte, Versuch einer Critik […] [1. Aufl., 1792], §2., GA I,1, 21 (Anm.): „[S]ondern nur in einem solchen [sc. Wesen], welches die Natur durchaus selbstthätig bestimmet; in welchem moralische Nothwendigkeit, und absolute physische Freiheit sich vereinigen. So ein Wesen nennen wir Gott“. 99  Schelling (1927a), 289.

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Die moralische Notwendigkeit erweist sich so als ein Element der Univozität des Moralischen, insofern sie für den göttlichen wie für den menschlichen Willen gilt. Johann Gottlieb Fichte hat den kantischen Standpunkt auf den Begriff gebracht. Es ist der „Gesichtspunkt Gottes“. Denn für ihn ist „jedes vernünftige Wesen absoluter und letzter Zweck“.100 Peter Strasser hat diesen Standpunkt für uns neu formuliert, indem er ihn mit der Idee des guten Lebens verbindet: „Denn die Idee des guten Lebens ist mit dem Gedanken der Nichtkontingenz des Guten notwendig mitgegeben. Das Gute ist gut in allen möglichen Welten, und das gute Leben wäre jenes, zu dem sich in keiner möglichen Welt ein besseres denken ließe“.101 Die Nichtkontingenz des Moralischen, also seine Absolutheit, beinhaltet aber nicht nur seine bleibende und unveränderliche Identität angesichts vieler möglicher Welten, sondern auch seine prinzipielle Entzogenheit vor den Zugriffen menschlicher Willkür. Deswegen kann das Moralische nicht Gegenstand von Verträgen sein. „Es gibt keine „morals by agreement“, so sagt Peter Strasser gegen David Gauthier. Ja, zuletzt kann es überhaupt nicht als ein Produkt eines Willens, auch nicht des göttlichen, gedacht werden.102 Der Grundsatz von der Univozität des Moralischen selbst aber, den wir im englischen Deismus, bei den Cambridge Platonists, in der deutschen Aufklärung, bei Kant und in der gesamten klassischen deutschen Philosophie gefunden haben, macht uns bewusst, dass das Moralische, d.h. die Grundlagen desselben, was Gut und Böse ist, ein Absolutes ist, das für alle Vernunftwesen und in allen möglichen Welten Geltung hat und von keinem anderen Standpunkt aus relativierbar ist. Mit den Worten von Peter Strasser gesagt: „Wir können uns keine Situation vorstellen, keine Welt am Abgrund, in der sich Auschwitz rechtfertigen ließe“.103 7

Moderne Relativierungen des Ethischen

Kierkegaards Suspension des Ethischen – Rückfall in den Irrationalismus – absolute Pflicht ohne Inhalt Der absolute Standpunkt Kants blieb jedoch nicht unwidersprochen. Die lauteste und einflussreichste Stimme gegen diesen Standpunkt ist Kierkegaards 7.1

100  Fichte, Das System der Sittenlehre III, §19, GA I,5, 230. 101  Strasser (2004), 81. 102  Strasser (2004), 49. 103  Strasser (2004), 77.

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Schrift Furcht und Zittern (1843), in deren Mittelpunkt bezeichnenderweise das Abrahamsopfer steht. In unserem Zusammenhang kann vernachlässigt werden, dass in dieser Schrift der Einfluss der Mystik unübersehbar ist, dass Schopenhauer seine Hände im Spiel hat, dass der Glaubensbegriff aus dem Mittelalter übernommen wurde und anderes mehr.104 Hier geht es nur um den springenden Punkt. Der besteht darin, dass das Ethische im Hinblick auf ein höheres Ziel, d.h. teleologisch, suspendiert und damit einer Relativierung unterworfen wird. Kierkegaard sagt ausdrücklich, dass das ethische Verhältnis Abrahams zu seinem Sohn Isaak „zum Relativen herabgedrückt wird im Gegensatz zum absoluten Verhältnis zu Gott“.105 Kierkegaard mag zu dieser Relativierung des Ethischen durch kurze Bemerkungen Schellings in dessen Vorlesungen über die Philosophie der Offenbarung – die der Däne neben anderen Berühmtheiten ja gehört hat – angeregt worden sein.106 Das absolute Verhältnis zu Gott nennt Kierkegaard den „Glauben“. Hier werden Ethik und Religion getrennt. Der Standpunkt des Glaubens, d.h. des Religiösen, ist jetzt der absolute Standpunkt, denn für den Glaubenden gibt es eine absolute Pflicht gegenüber Gott, nämlich Gott unbedingt zu lieben. Diese absolute Pflicht kann den „Ritter des Glaubens“ gegebenenfalls dazu bringen, „seiner Liebe zum Nächsten den entgegengesetzten Ausdruck dessen zu geben, was, ethisch gesprochen, Pflicht ist“.107 Das ist evidentermaßen die Rückkehr zur These des Nominalismus, dass unter dem Titel der Liebe zu Gott konkrete sittliche Gebote außer Kraft gesetzt werden können.108 Jacques Derrida hat im Namen der Kierkegaard‘schen Suspension des Ethischen diese innere Widersprüchlichkeit auf die Spitze getrieben: Abraham hasst die Seinen nicht aus Hass, gewiss, sondern aus Liebe.109 Wenn dann auch noch im Namen der 104  Vgl. dazu Kobusch (1992), 464 ff. 105  Sören Kierkegaard, Frygt og Bæven. Dialektisk Lyrik af JOHANNES DE SILENTIO, SKS 4, 162: „[T]hi er denne Pligt absolut, saa er det Ethiske nedsat til det Relative“ (Dt. Übers. nach Kierkegaard [1957], 76 f.). 106  Vgl. Schelling (1927b), 514–516. Dazu Rosenau (1985), 255: „Schellings Einwand, daß mit der Reduktion der Offenbarungsinhalte auf ein moralisch und theoretisch menschliches Maß die Offenbarung als solche im Prinzip überflüssig sei, deckt sich mit dem Anliegen Kierkegaards, das Religiöse als ein eigenständiges Phänomen in Abhebung vom Ästhetischen und Ethischen aufzuweisen“. Die kantische „Reduktion“ auf das Moralische war freilich keine auf ein bloß menschliches Maß, sondern im Verhältnis zur theoretischen Philosophie ausdrücklich als eine „Erweiterung“ gedacht. 107  Sören Kierkegaard, Frygt og Bæven. Dialektisk Lyrik af JOHANNES DE SILENTIO, SKS 4, 162: „Kjærlighed til Gud kan bringe Troens Ridder til at give sin Kjærlighed til Næsten det modsatte Udtryk af hvad der ethisk talt er Pligt.“ (Dt. Übers. nach Kierkegaard [1957], 77) 108  Vgl. Kobusch (2011), 427 f. 109  Derrida (1994), 391.

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Derrida‘schen Dekonstruktion der Begriff der Nächstenliebe sinnentleert wird mit den Worten: „Die Nächstenliebe gebietet, […] den anderen zu hassen, aber ihn zu hassen aus Liebe“,110 dann wird man unwillkürlich an den Ockham‘schen Satz erinnert, Gott könne de potentia absoluta dem Menschen befehlen, ihn aus Liebe zu hassen.111 Solche Überlegungen führen, wie man sehen kann, ins Reich des Irrationalen – wie der späte Ockham übrigens selbst eingesehen hat. Deswegen ist die Kierkegaard‘sche Suspension des Ethischen zugleich auch ein Rückfall in den Irrationalismus, insofern der Weg des Vernünftigen, des Allgemeinen, des Ethischen – „die Landstraße, wo jeder geht, wo niemand sich auszeichnet“ (Hegel) – verlassen wird. Jacques Derrida hat den Kierkegaard‘schen Ansatz noch überboten. Diese Überbietung lebt dabei von Voraussetzungen, die sie selbst nicht ausweisen und insofern nicht verantworten kann. Dazu gehören vor allem die neuplatonischen Vorgaben, dass Gott ein „Geheimnis“ sei, ein absolut Transzendentes, Verborgenes, ein ganz Anderes, ein Unerkennbares. Diesem absolut Anderen gegenüber aber sei Abraham absolut verpflichtet oder, wie Derrida jetzt öfter sagt, unendlich verantwortlich. Die Verantwortung, von der hier die Rede ist, besteht aber nicht in einem Antwortgeben, sondern darin, „in seiner eigenen Einzigartigkeit allein und abgeschnitten“ seine Entscheidung vor Gott zu fällen. Darum also geht es hier: Um die Einzigartigkeit Abrahams vor Gott, um das Außergewöhnliche, das Einsame, das Nichtvermittelbare, das Absolute. Denn losgelöst ist Abraham durch seine absolute Pflicht in der Tat, nämlich von allen seinen Pflichten und Bindungen. Derrida sagt es selbst: „Die absolute Pflicht geht über jede Schuld hinweg und entbindet von jeder Pflicht. Absolute Ab-solution“.112 Philosophisch ist solche Rede schwer erträglich. Zu offensichtlich ist, dass in ihrem Innersten wie ein nagender Wurm eine contradictio in adiecto nistet. Die absolute Pflicht vor Gott, von der Kierkegaard spricht, ist offenkundig eine Pflicht ohne Inhalt, genauer gesagt: eine Pflicht ohne Bindung an einen bestimmten Inhalt. Die innere Widersprüchlichkeit dieser Bestimmung wird erst dann sofort augenfällig, wenn man sich vor Augen hält, dass ‚Pflicht‘ die deutsche Übersetzung des lateinischen ‚obligatio‘ ist. Dementsprechend ist nicht zu erkennen, wofür Abraham in seiner „unendlichen Verantwortung“ vor Gott verantwortlich sein soll. Wenn das aber stimmt, dass die absolute Pflicht und die unendliche Verantwortung als solche keinen bestimmten Inhalt haben, bedeutet das auch, dass sie für jeden möglichen Inhalt offen 110  Vgl. Strowick (1999), 203. 111  Ockham, In Sent. II, q. 15, OT V, 342. 112  Derrida (1994), 400.

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sind, so die absolute Pflicht auch für das „Pflichtwidrige“, d.h. die Sünde, und die unendliche Verantwortung auch für das Unverantwortbare. Der religiöse Glaubensritter Kierkegaards, der sich von jeglichem Ethos gelöst hat, kann alle Handlungen, von der selbstlosesten Tat bis zur terroristischen Untat, zum Inhalt seiner absoluten Pflicht machen. Ludwig Wittgenstein und Robert Spaemann – Rückfall in den Voluntarismus Der Relativierungen des Ethischen sind aber in der modernen Philosophie noch mehr. Eine davon geht auf Wittgenstein zurück. Moritz Schlick habe gesagt, so bemerkt Ludwig Wittgenstein in einer Aufzeichnung von 1930, dass es in der theologischen Ethik zwei Auffassungen vom Wesen des Guten gegeben habe: „Nach der flacheren Deutung ist das Gute deshalb gut, weil Gott es will; nach der tieferen Deutung will Gott das Gute deshalb, weil es gut ist“. Und Wittgenstein fügt hinzu: „Ich meine, dass die erste Auffassung die tiefere ist: gut ist, was Gott befiehlt. Denn sie schneidet den Weg einer jeden Erklärung, ‚warum‘ es gut ist, ab, während gerade die zweite Auffassung die flache, die rationalistische ist, die so tut, ‚als ob‘ das, was gut ist, noch begründet werden könnte. – Die erste Auffassung sagt klar, dass das Wesen des Guten nichts mit den Tatsachen zu tun hat und daher durch keinen Satz erklärt werden kann. Wenn es einen Satz gibt, der gerade das ausdrückt, was ich meine, so ist es der Satz: Gut ist, was Gott befiehlt“.113 Wie man leicht sehen kann, liegt diesen Äußerungen die klassische Konstellation des sogenannten Euthyphron-Dilemmas zugrunde: Das Gute ist gut, weil Gott es will, ist die These des theologischen Voluntarismus. Gott will das Gute, weil es gut ist, ist die These Platons. Obwohl der Gegensatz in sich klar ist, entzieht ihm Wittgenstein gewissermaßen den Stachel. Denn bei der Wiedergabe dessen, was die erste Auffassung, die Wittgenstein für die tiefere hält, besage, definiert er: „Gut ist, was Gott befiehlt“. Das aber würden auch die Platoniker zugeben, denn Platon hat doch selbst gesagt, von Gott könne nur Gutes kommen. Das punctum saliens liegt doch in dem „weil“, nicht in dem „was“. Die Voluntaristen haben ja auch immer so formuliert: ‚quia prohibitum‘, ‚quia praeceptum‘ o.ä. Gegen dieses ‚quia‘ haben sich im Namen der menschlichen Freiheit alle Gegner des Moralpositivismus von Origenes bis Kant, von den griechischen Kirchenvätern bis zu den Autoren des Deutschen Idealismus aufgelehnt, weil es notwendigerweise Heteronomie implizieren würde. Was Ludwig Wittgenstein durch seine änigmatischen Sätze vor allem ausdrücken wollte, ist seine aus anderen Zusammenhängen wohlbekannte 7.2

113  Wittgenstein (1967), 115.

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tiefe Skepsis gegenüber jeder Form einer immanenten, normativen Ethik.114 Die Skepsis geht so weit, dass sie sogar einen göttlichen Voluntarismus in Kauf nimmt. Im Anschluss an Wittgenstein und Kierkegaard hat auch Robert Spaemann den voluntaristischen Standpunkt vertreten.115 Die Begründung ist allerdings sehr merkwürdig, um nicht zu sagen: in sich widersprüchlich. Denn Wittgensteins Berufung auf den göttlichen Willen sei deswegen der „höhere Standpunkt“, weil dadurch eine Person und nicht ein abstraktes Prinzip als Bezugspunkt unserer Verpflichtung erscheine. Nun muss man daran erinnern, dass gerade aus voluntaristischer Sicht der Wille Gottes unerforschlich und moralisch dunkel erscheint – andernfalls hätten wir die Situation der moralischen Univozität. Warum aber sollte der blinde Gehorsam gegenüber einem unerforschlichen Willen der „höhere Standpunkt“ sein im Vergleich zur Befolgung eines abstrakten Prinzips? Auch die Bezugnahme Spaemanns auf Kierkegaard schließt einen inneren Widerspruch in sich. R. Spaemann sagt: Kann im Sinne Kierkegaards das Ethische suspendiert werden? „Seine Antwort ist: Ja. Aber nur durch den, der dem Ethischen selbst seine bindende Kraft verleiht“. Wie sollen wir das denken können? Gott verleiht dem Ethischen die bindende Kraft und zugleich soll diese Bindung gelöst werden können? Die Suspension des Ethischen ist ja nicht – wie Spaemann unterstellt – gottgewirkt, sondern menschengemacht. Im Text heißt es ausdrücklich, dass der Glaubensritter es ist, der „sich als der Einzelne in ein absolutes Verhältnis zum Absoluten setzt“. Der Glaubensritter, d.i. die moderne Form des Voluntaristen, suspendiert angesichts des göttlichen Befehls das Ethische, von dem er – nach Spaemann – zugleich weiß, dass es seine bindende Kraft von eben diesem göttlichen Willen erhält. Das kann nicht zusammengehen. Das ist eine contradictio in adiecto. 7.3 Hilary Putnam – Einseitige Kritik am ‚Gesichtspunkt Gottes‘ Eine unzulässige Relativierung des Ethischen ist auch darin zu sehen, dass sein eigentlicher Anspruch, den absoluten Standpunkt, d.h. den Gottesstandpunkt darzustellen, einseitig aus der Sicht des Theoretischen zurückgewiesen wird. Das geschieht vor allem im Werk Hilary Putnams, ohne dass an dieser Stelle alle irritierenden Standpunktänderungen dieses Autors nachvollzogen werden 114  Vgl. von der Pfordten (2010), 47 ff. 115  Vgl. vor allem Spaemann (2016), 170. – In der „Einleitung“ zu Aquin (1990), XI heißt es, dass für Thomas der moralische Standpunkt nicht der „Gottesstandpunkt“ ist, weil die für uns unbedingte sittliche Ordnung einer „Relativität“ unterworfen sei. Thomas ein Voluntarist?

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könnten. In seiner Schrift Reason, Truth and History von 1981 hat Hilary Putnam den Versuch unternommen, den metaphysischen Realismus zu widerlegen. Die Unterscheidung zwischen einer externalistischen und internalistischen Perspektive dient diesem Zweck. Die Externalisten nehmen nach Putnam zur Beschreibung der Realität quasi einen göttlichen Standpunkt ein. In diesem Zusammenhang kommt es zu dem vernichtenden Verdikt über die klassische Metaphysik, das sofort von Philosophien und Theologien aller Couleur bereitwillig aufgenommen wurde: „What we have is the demise of a theory that lasted for over two thousand years. That it persisted so long and in so many forms in spite of the internal contradictions and obscurities which were present from the beginning testifies to the naturalness and the strength of desire for a God’s Eye View. […]. [W]e are left without the God‘s Eye View“.116 Und ein Jahr zuvor hatte Putnam schon geurteilt: „There is no God’s Eye point of view that we can know or usefully imagine“.117 Möglicherweise nimmt Putnam damit direkt Stellung gegenüber Kurt Baiers These, der den moralischen Standpunkt als den Gottesstandpunkt erklärt hatte.118 Doch wie Putnam der klassischen Metaphysik unterstellt, sie nähme einen göttlichen Standpunkt ein, so gilt es, seine Urteile über die Unmöglichkeit, den Gottesgesichtspunkt zu kennen, als standpunktbedingte zu erkennen. Dieser Standpunkt ist, wie das Werk insgesamt, aber auch das nähere Umfeld dieser Sätze zeigen, ein theoretischer Standpunkt. Er kann als solcher dem Ethischen, d.h. dem Bewusstsein der Freiheit und der Personalität, nicht gerecht werden.119 Eben dieses Bewusstsein hatte Fichte in den Spuren der kantischen praktischen Philosophie den „Gesichtspunkt Gottes“ genannt. Wir müssen Putnams Kritik an der Anmaßung der klassischen Metaphysik, den Gottesstandpunkt einnehmen zu können, als Weiterführung der kritischen Philosophie verstehen. Deren Anliegen aber war es, die Grenzen der theoretischen Vernunft aufzuzeigen. Es ist der theoretische Gesichtspunkt Gottes, der von Putnam für unmöglich erklärt wird. Der praktische Gottesstandpunkt, also derjenige, der von der Geltung des moralischen Gesetzes in allen möglichen 116  Putnam (1982), 74. 117  Putnam (1982), 74; vgl. schon Putnam (1980), 100. 118  Vgl. Baier (1958), 202: „There can be no doubt that such a God’s eye point of View is involved in the moral standpoint“. 119  Das gilt auch für Putnams Ethik (vgl. Putnam [2004]) die eine Absage an jeden Universalismus in der Ethik darstellt und sich – analog zur Bescheidenheit im Bereich des Theoretischen, mit massiver Anlehnung an Dewey auf sog. „praktische Probleme“ beschränkt. Ohne sich um die lange Auslegungsgeschichte des sog. Euthyphron-Dilemmas zu scheren wird in Putnam (2004), 89 ff. der Euthyphron-Dialog als Muster eines Lernprozesses verstanden.

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Welten ausgeht, bleibt von dieser Kritik unberührt. Er ist von einer großen Tradition immer vertreten worden, von den griechischen Kirchenvätern, indem sie die Gottebenbildlichkeit des Menschen nicht in der Erkenntnisfähigkeit, sondern in seinem Willen, d.h. in seiner Freiheit erkannten, von Descartes, indem er in der 4. Meditation von einer gleichen Struktur des göttlichen und menschlichen Willens, nicht der Erkenntnis, ausging, von den Cambridge Platonists, vom englischen Deismus, von der Aufklärung, von der Klassischen Deutschen Philosophie usw., die für die Lehre von der moralischen Univozität stehen. Für sie alle ist die moralische Bewertung des Handelns eine absolute Bewertung, zu der es keine Alternative gibt. Das „Als ob“ ist, wie Kant gezeigt hat, in diesem Bereich keine Hypothese. Das Moralische, die Freiheit, ist unser Absolutes, unser Göttliches, der Gottesstandpunkt – wir haben keinen anderen. Siglen und Literaturverzeichnis Alle Zitate der Schriften Kants erfolgen nach dem Wortlaut der Akademieausgabe: Kant, Immanuel (1900 ff.), Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin. Allen Seitenangaben geht die Sigle ‚AA‘ zur Angabe der Akademieausgabe sowie eine römischen Kardinalzahl zur Angabe des zitierten Bandes voraus. GMS KpV MS RL MS TL NEV RGV SF

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Kritik der praktischen Vernunft Metaphysik der Sitten (Rechtslehre) Metaphysik der Sitten (Tugendlehre) Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765–1766 Die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft Der Streit der Fakultäten

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Teil 2 Freiheit bei Kant



Kant on Freedom as Autonomy Karl Ameriks There are perhaps few philosophical topics that are as widely discussed currently, in both European and Anglophone contexts, as Kant’s notion of freedom as autonomy.1 Rather than daring to attempt a general overview of the new literature, I will focus primarily on restating some of the main features of my line of interpretation by explaining how they relate to some significant very recent work by younger scholars – most notably Owen Ware, a Canadian with a series of articles that grew out of his 2010 Toronto dissertation,2 and Jörg Noller, whose book based on his 2014 Munich dissertation is now the most relevant Leitfaden for the topic.3 Precisely because these recent publications are so valuable and generally appear to be largely in accord with my own approach, it is worthwhile to look closely at a few apparent differences, and in this way to offer a close reading of a number of important but especially tricky passages from Kant. 1. One such passage, of obvious central importance for the topic, is a brief phrase at Groundwork 452: “Mit der Idee der Freiheit ist nun der Begriff der Autonomie unzertrennlich verbunden.”4 Here the term “autonomy” is the one that, quite understandably, is italicized by Kant. Nonetheless, it can be argued that in this context it is equally important to stress the short adverb “nun,” which can be, and has been, all too neglected. The term is significant because it is a reminder that the notion of freedom as autonomy – and here I lay stress on the even shorter adverb “as” – is anything but trivial. Since Kant’s work has become so familiar, there are many who might take the connection between “freedom” and “autonomy” to be almost self-evident, an obvious matter of what Kant elsewhere calls their being “reciprocal” concepts (Gr 4: 450, KpV 5: 29). Kant’s use here of the term “nun,” however, is a signal that he is asserting a bold connection that needs to be understood in the context of all that is being stated around it. It is nothing less than a revolutionary proposal, 1  See e.g., recent valuable collections edited by Bernd Ludwig, Dieter Schönecker, Heiko Puls, Lara Denis, and Jens Timmermann. 2  Owen Ware’s recent essays include Ware (2009); (2010); (2014a); (2014b); (2014c); (2015a); (2015b); (2016); (2017a); (2017b). 3  Cf. Noller (2015). 4  In the Timmermann translation, “Now with the idea of freedom the concept of autonomy is inseparably bound up.” Kant (2011).

© koninklijke brill nv, leiden, 2019 | doi:10.1163/9789004383586_006

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one that is to be made sense of only after understanding how the separate terms “freedom” and “autonomy” are now each to be defined, within the Critical philosophy and the innovative arguments of the Groundwork. If one takes any of several common understandings – including, quite importantly, meanings that Kant makes use of himself – these two key concepts are hardly reciprocal but at first can appear far apart. Even within the first Critique (A 447/B 475), as well as in some of the earliest notes we have from Kant, there is a recognition that one natural way to think of “freedom” is as a kind of independence from law and regularity altogether – and hence as the opposite of the lawfulness that the “nomos” implicit in “autonomy” implies. In addition, it should be kept in mind that the original and primarily social and political notion of autonomy, which is still dominant to this day, is commonly understood in straightforward external terms that need not have anything to do with the internal power of individual personal freedom,5 in an absolute sense, which is at the center of Kant’s philosophical discussion of the term. It is also striking that not only does the term “autonomy” appear only very late in Kant’s career, but after the Groundwork the word itself is rarely used by him,6 and so whatever its relation is to other concepts, it can hardly be assumed to be a self-evidently close one. Along this line, Noller has noted that, within the German tradition, the understanding of freedom in terms of another key term, Willkür, has also varied significantly. Whereas, prior to the mid-eighteenth century, Willkür implied a situation of free choice informed by reasonable grounds, it later took on – perhaps as a result of the resented political activities of overbearing princes – a negative implication of arbitrariness (JN 52–54). This implication is sometimes absent in Kant’s use of the medieval notion of the distinctive human faculty of arbitrium liberum, which means choice involving rational motives rather than “brute” sensations (A 802/B 830). Often, however, readers have, somewhat understandably, thought that Kant meant to imply arbitrariness whenever contrasting Willkür with the explicitly law-involving notion of Wille, which he eventually defined in terms of pure practical reason and an appreciation of autonomy.7 These complexities call for further investigation, but for now the main point to see is that Kant surely realized that freedom commonly has not been understood in terms of autonomy, and he also must have realized, as we do, that autonomy can have a common meaning that need not be understood in terms of freedom as absolute individual choice. Moreover, when the two terms are 5  See e.g. Brandom (2009). 6  See Timmermann (2015), 75; and cf. the Feyerabend lecture notes from 1784, 22: 1326. 7  For a nuanced view, see Allison (2011).

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commonly connected – especially in our own time, as well as in an original instance in Sophocles’ Antigone – this often happens in such a way that both are unfortunately associated with notions such as arbitrariness and subjectivism. The “freedom” of having “a law of one’s own” is then often thought of as a matter of being self-determined in a radical sense that undermines the claim of any given common order. This subjectivistic misconstrual of autonomy, which I – and now presumably most Kantians in Germany at least – take to be contrary to Kant’s Critical view, is not a mere remote possibility but is still a familiar feature in Anglophone writings that make reference to Kant. Often this occurs in highly influential discussions that are carried out in broad strokes and sometimes colored by strong Aristotelian, Hegelian, or “Platonic” presumptions, such as in works by followers of Alasdair MacIntyre, Charles Taylor, or Iris Murdoch,8 but sometimes it also happens with leading analytic authors who go into the text in somewhat more detail, trying to appear sympathetic to at least some aspects of what they take to be Kant’s thought – as in David Velleman’s Korsgaard-influenced discussion of following a “law of one’s own.”9 A striking example of the common first tendency occurs in a recent American bestseller by the Berkeley and Harvard Heidegger-influenced philosophers, Hubert Dreyfus and Sean Kelly. They hold Kant’s notion of autonomy to be largely responsible for, or at least expressive of, a late modern tendency to fail altogether to appreciate the given “shining” meaning of things in one’s environment. They understand Kantian autonomy as just a “matter of setting up one’s own rules” and not allowing any “external forces to influence us in our actions,” for we are supposedly “free, self-sufficient” beings, “entirely responsible for our own existence,” and thus such that “the step is very short to the … notion of the human being as a free spirit who makes up whatever meaning he likes,” so that the next step is “active nihilism.”10 Most disconcerting is the fact that these misunderstandings are in part understandable as a reaction to significant Anglophone writers who have expressed sympathy with Kant precisely because they have assumed his thought is characterized by a kind of “Copernican Revolution” that idealistically liberates us from any form of moral realism.11 Were Kant himself still around, he might well say again that, with “friends” like these, who needs enemies.12 Nonetheless, the extreme 8  See Ameriks (2013). 9  See my KEP, ch. 6, for a discussion of Velleman (2005). 10  Dreyfus/Kelly (2011), 40–2. These pages conclude a chapter entitled “from Dante to Kant.” 11  Cf. my IKC, ch. 11, “On Two Non-Realist Interpretations of Kant’s Ethics.” 12  See the quotation from Kant, 12: 371, in my KFA, p. 2.

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fascination with the notion of autonomy, and the unceasing tendency to try to make something much more radical out of it than Kant ever intended, continues to grow in non-specialist circles and the riddle of this growth should not be neglected. In a number of writings, I have not only challenged this unfortunate but influential interpretive tendency but have also presented an account of what I take to be its immediate but generally forgotten sources.13 I have also explained various ways in which the complexities of Kant’s peculiar terminology, especially in somewhat loose English translation, can understandably lead to common misunderstandings. Above all, I’ve argued at a more systematic level that there are complex ways in which key conceptual moves in Kant’s inauguration of a philosophy of autonomy can naturally invite – and in fact did generate – a different kind of radicalization of the notion within German Idealism, one that has to do not so much with individualistic subjectivism but a premature absoluteness in one’s metaphysical assumptions and systematic claims.14 These points are worth mentioning again in this context simply to provide some background for understanding how my line of interpretation might best be characterized in relation to the helpful sketch that Noller offers of some of the main contemporary approaches to Kant on freedom. He begins by acknowledging the generation-dominating achievements of Dieter Henrich and Gerold Prauss. In addition to providing a succinct characterization of the distinctive merits of various major lines of Kant interpretation, Noller’s review provocatively suggests some limitations in their work if understood as attempted resolutions of the general problem of freedom. Henrich’s work, for example, for all its epochal value as an account of the close connections between Kant and the post-Kantians, and of the underlying continuities in their treatments of the unity of the subject, can appear to not say enough about the specific characteristics of personhood that go beyond the feature of merely being a subject, and also to underestimate, perhaps in overly Hegelian ‘progressivist’ terms, the challenging way in which later Idealists intended to separate themselves from Kant (JN 36). Similarly, beyond the specific insights of Prauss’s innovative attention to the not strictly moral aspects of Kant’s own Critical discussion of action, one could hope for a treatment of this topic that 13  See, most recently, my Ameriks (2017) and (2018). Cf. KEP, chs. 8 and 11, and Ameriks (2015a). Although my main account of the development of discussions of autonomy is in Kant and the Fate of Autonomy, published in 2000, the key arguments go back to articles from the early 1980s. 14  See the Introductions to KFA and KEP.

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is not framed so much in Kantian terms and lingers more over the full historical context of the debate at that time (JN 37). In contrast to some other interpreters who see Kant as simply inconsistent or who do not highlight the specific complexities of the concept of freedom, my own approach is then characterized by Noller as stressing – somewhat like Henrich’s work – epistemological themes concerning subjectivity. But, in contrast to Henrich, my work is also said to be more like Prauss’s in remaining Kant – rather than speculative Idealist-centered,15 and in being overly “conservative” or apologetic rather than progressive (JN 51). And in truth, the account I give of the “fate of autonomy” is largely a Kant-inspired story of regress, of how a sequence of post-Kantian misinterpretations led to basic problems in the systems of Reinhold, Fichte, and Hegel. Noller therefore understandably calls for a more inclusive approach, one that gets beyond the old “for or against Kant” debate, and that works “with Kant and against Kant” (JN 51) by exploring the full path by which the challenges of the early so-called post-Kantians provoked Kant to revise his own theory over time, and also led the whole Idealist generation to explore, after an overemphasis on the rational character of freedom as autonomy, better ways to account for the non-rational phenomenon of evil action.16 I am in fact sympathetic to the general motivation behind Noller’s proposals, for in Kant and the Fate of Autonomy, I too go on to make many critical remarks about Kant’s own arguments, especially in regard to his overly quick dismissal of compatibilism. Moreover, in discussions elsewhere of the “reversal” character of the relation between Kant’s Groundwork and his second Critique, I have stressed the point that Kant, under external pressure, went through a “zig-zag” path whereby he had to take back some of the not clearly Critical expressions in his early 1780s work, and, in particular, because of unclarity with regard to how much, after the first Critique, can be theoretically claimed about our individual absolute freedom.17 So, rather than being inherently “conservative,” I would characterize my main goals as a matter of also working – as Prauss often does too – “with Kant and against Kant”; that is, with the ever more Critical Kant in mind, as his work progressed even after 1781. 15  See my essay, “Remarks on Kant’s Three Unities: of the Subject, of the Object, and of Subject and Object Together,” which discusses Prauss (2015). Prauss maintains a sharp critique of Hegel – combined with some criticism of Kant – in Prauss (2008). 16  Noller devotes considerable attention to reactions to Kant’s attempt to deal with the intelligible possibility of non-moral action. I have defended Kant on this issue in KEP, ch. 8, “Ambiguities in the Will, Briefe II: Kant and Reinhold.” 17  See in particular my KTM, Preface; IKC, Introduction; and KEP, “Introduction: Appendix: The Complications of Freedom,” 24–5.

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Noller is certainly correct in stressing the often very negative nature of my treatment of various post-Kantian arguments, but this treatment now needs to be understood in its local context. That context was not a project of trying to defend Kant wholesale, or of simply impugning Reinhold (cf. JN 49) and other post-Kantians – for, in other ways, especially with respect to the theme of a “historical turn,”18 as well as, early on, with respect to even some features of Kant’s own treatment of evil,19 I have stressed virtues in the new procedures of the post-Kantians – despite what could be called their own “scientistic self-misunderstanding.” The negative tone of the treatment of the theme of the “fate” of autonomy can be understood as a provocative but appropriate reaction at that time to the unfortunate subjectivistic misunderstandings of Kantian autonomy – by “friend” and foe alike – that had come to dominate so many analytic Anglophone as well as Hegel-tinged European discussions. Since then, the work of Onora O’Neill, Allen Wood, Terence Irwin, Robert Stern, Robert Audi, Patrick Kain, and others has made this corrective seem less urgent even within Anglophone Kantian circles – but its influence in more popular philosophical literature should still not be underestimated, given the quotations cited earlier. On an “objectivist” view, the heart of Kant’s doctrine of autonomy comes down basically to an insistence on the significance of absolutely necessary standards for the action of agents with a faculty of reason. Even though Kant did not use the term “autonomy” in his early writings, and remarkably published practically nothing significant in ethics until the Groundwork, despite lecturing on the topic for decades, a core, constant, and strongly objective notion of value was already in place in the early 1760s lectures that were recorded by Herder.20 It is a striking development, though, when in the Critical period Kant finally makes his strict law position explicit in a published form and uses the term “autonomy” in the Groundwork to signal his basic stance. When the term is introduced there it primarily has to do with a characterization of normative principle: an autonomous principle is one whose value has an absolutely necessary character, whereas heteronomous principles, whether generated by mere desires arising empirically from inside or outside, or from merely given secular or non-secular sources, are marked by contingency in value (“autonomy” thus 18  See Ameriks (2006). 19  See KFA, ch. 7, part D; IKC, ch. 7; and KEP, ch. 12. 20  See KEP, ch. 2. That the early Kant regards morality as “objective” and “internally” constraining is clear from his ethics lectures. See e.g., 27: 16, 27: 254; 27: 264 (and cf. 29: 630), and the discussions by Bacin (2015), 27; Frierson (2015), 41; Kuehn (2015), 61; and Timmermann (2015), 75. Here it is also important to keep in mind the conclusion of Stark, Kuehn, and others that the content of the Collins lecture notes goes back to the mid-1770s.

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also signifies for Kant a claim about our faculties, that practical reason is not normatively determined by another faculty).21 This is basically what their “heteronomous” character consists in; they involve demands that are not essential as such to agents with reason, and in that sense lie outside one’s own “genuine” self.22 It is no accident therefore that the discussion of autonomy comes only after the initial formulations of the categorical imperative. The idea of autonomy does not by itself add content to those formulations; it just expresses the fact that they are indeed expressions of necessary value, having to do with the conditions of respect for beings with reason as ends in themselves. This implies that later quasi-Kantian movements that make a fetish of the idea of autonomy by itself, and then infect that notion with features of contingent arbitrariness, go directly against Kant’s intentions in introducing the term. Matters become complicated, of course, when in Section III of the Groundwork Kant moves beyond the issue of the standard of morality and tries to show that this standard is more than a Hirngespinst (Gr 4: 445) and in fact has a categorical claim upon us. This leads him to speak not just of principles but of persons being autonomous when they appreciate the necessary overriding value of the autonomous moral law and causally act on their own in response to it. Practically each paragraph of Section III is then loaded with tricky ambiguities because Kant repeatedly speaks simply of the “self-determination” involved in autonomy in ways that need to be understood in terms of very different meanings of the German notion of Bestimmung (which correspond to 21  Note Kant’s subsection heading, “The Autonomy of the Will is the Supreme Principle [my emphasis] of Morality” (Gr 4: 440), discussed in my Ameriks (2018). The general pursuit of happiness is also taken to be a legitimate necessary goal for human beings, but one that is so vague and conditional that the crucial question is how that pursuit is to be carried out when regulated by an underlying respect for the unconditional value of the dignity of rational agents – a dignity now given explicit legal protection in the German constitution. Some perfectionist theories may be more of a problem for an ethics of autonomy, but Kant had good grounds for challenging the versions of his era. 22  “Eigentlicher Selbst,” Gr 4: 457. Sometime this phrase is translated as one’s “real” (rather than merely “authentic”) self; cf. Guyer’s rendering of Gr 4: 452 as “ourselves as we really are,” in Guyer (2009), 186. This common kind of language is unfortunate because it can suggest that Kant’s ethics denies the reality of the phenomenal side of the self, whereas at Gr 4: 452 Kant states that one “actually is as well” a “phenomenon in the world of sense.” Noller notes a similar point (JN 108); and Sensen’s discussion, Sensen (2015), 146, of what Kant means by focusing on what is “one’s own,” is helpful because it is connected with the suggestion that for Kant what most “genuinely” belongs to us concerns each of us in our essential and distinctive property of partaking in reason and its necessary demands. This point can help answer Noller’s worry that Kant’s phrase “eigentliches Selbst” refers to reason in general and not its instantiation in an individual person (JN 133). See below, note 27, and section 4.

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many of the ambiguities of the English term “determination”), and especially its quite distinct normative (or “formal”) and causal (or “efficient”) senses.23 One can make a contrast between “negative” and “positive” freedom in both of these contexts. Negative normative freedom can be said to occur when there is no contingent and in that sense “alien” (fremd, Gr 4: 446) standard, i.e., one external to rational agency, that is given evaluative primacy, whereas positive normative freedom can be said to occur when, in addition, the necessary value of the moral law is accorded primacy in principle (these are the key notions at the end of Groundwork II). Negative causal freedom in the most relevant Kantian sense is present when something is not actually and entirely externally caused to be as it is, and positive causal freedom occurs when a rational agent is negatively free and, in addition, is actually intending an action, as absolutely “self-moved.”24 When the intention of that action is also governed by a maxim in line with positive freedom in the normative sense (cf. JN 151), the agent can then be said to be autonomous in the complex full personal sense of actually using its positive causal freedom by acting out of respect for the autonomous principles of morality (these are the key notions at the beginning of Groundwork III).25 Kant had these points in view for a long time but at first spelled them out in a somewhat rambling way. The first Critique’s Third Antinomy is ostensibly devoted just to a purely theoretical topic, the cosmological issue of whether there can be non-externally caused causings, that is, freedom in a general causal sense, negative and positive. The Groundwork and after, however, explicitly concerns freedom primarily in the full personal sense just noted, which involves not just causality but a pure kind of value-oriented agent causality. A natural but all too rarely asked question is why Kant’s publications did not focus earlier on moral causality as such, and why it is that he suddenly initiated in 1785 the previously quite unanticipated project of writing a Groundwork of the Metaphysics of Morals. Noller and others have noted that external responses had an impact on Kant’s writing in the mid-1780s, and it is no doubt true that writings then by figures such as Pistorius, Garve, and Schmid have some relevance. The hypothesis that my interpretations have developed focuses on the striking explicit concern with non-libertarian views that emerges at this time in Kant’s “Review 23  See my Ameriks (2018). 24  Cf. Sensen (2015), 152. 25  Despite differences between my interpretation and Ware’s, we appear to be very close on the nature and significance of the distinction between negative and positive freedom. See KTM, 205, and Ware (2017a), 139, n. 25.

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of Schulz” (1783) – which fiercely challenges a book by a relatively unknown liberal Leibnizian compatibilist – and his multiple reviews in one year (1785) of work by his early student Herder, who had developed a broadly naturalist and determinist account of human beings, packaged in a mystically optimistic teleology.26 The common thread of these reviews, whose timing also coincides with the emergence then of a widespread new interest, on account of Jacobi, in the non-libertarian philosophy of Spinoza, is an obvious intense desire to meet head-on the growing appeal of deterministic worldviews, which Kant already knew well from his study of (and early partial attachment to) major figures such as Leibniz, Wolff, Newton, and Hume. Kant’s special concern with the issue of freedom then fits in naturally with the likely explanation for the fact that he had resisted publishing on ethics for decades even after he had, in the early 1760s, already shifted to an ethical and strict law-oriented appropriation of Rousseau’s revolutionary egalitarian account of human nature. What blocked Kant for so long from publishing in ethics at all was the obvious tension between his new libertarian Rousseauian sympathies and his earlier longtime involvement with the seemingly all-inclusive mechanics of the Newtonian system. Kant’s 1770s conversion to a metaphysics of transcendental idealism suddenly gave him a way to begin to try to overcome this tension by exploiting its assertion of a non-spatiotemporal and deeper than phenomenal aspect of entities, which leaves room for the absolute free causality called for by his normative notion of strict moral demands.27 Hence the peculiar form of Kant’s Third Antinomy, which already surprisingly supplements its cosmological discussion of the general theoretical issue, of whether there can be uncaused causings at all, with remarks specifically about the possibility of making sense of attributions of absolute responsibility and blame in the context of ordinary human moral action (A 554/ B 582ff.; cf. A 273/ B 329). This development coincided in an intricate way with a significant change generated by reactions to theoretical features of Kant’s account of the self in the first edition of the first Critique. His first reviewers forced Kant to realize that there was a misleading encouragement of subjective idealism in the wording of several key sections of his text – the discussion of the ideality of time in the Transcendental Aesthetic, the discussion of the synthesis of imagination 26  See KEP, ch. 10. 27  I take Kant’s Critical in itself/phenomenal contrast in general not to deflate the sensible realm to non-reality but to stress that this realm is not grounded unconditionally. See A 491/B 519, which speaks of appearances as having no “an sich gegründete Existenz.” What is being denied of phenomena by transcendental idealism is not their existence as such but the claim that this existence is grounded “in itself.” See IKC, Introduction, and KEP, chs. 3 and 4.

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in the Transcendental Deduction of the categories, and the account of selfknowledge in the Paralogisms. All these sections were extensively revised in the B edition in order to provide a new account that clearly insists that all our determinate self-knowledge requires more than a mere psychological and subjective process with an unclear merging of features of inner sense and apperception. The B edition suddenly stresses a sharp distinction between inner sense and apperception, and then, especially in its new “Refutation of Idealism,” argues that, for beings like us, theoretically determining (in an epistemic sense) one’s self is not a matter of magical inner intuition but always requires judgmental apperception applied to a given spatial manifold.28 These developments enhanced the epistemological sophistication of Kant’s work, but they came at the cost of leaving unclear the status of Kant’s earlier frequent reference to acts of intellectual spontaneity and their exact relation to his underlying concern with leaving room for absolute personal responsibility. The result – prior to the final revisions of the B edition – was the perplexing terminology of Kant’s Schulz and Herder reviews, which also infects his well-known 1784 essays on enlightenment and on history. These writings are obviously motivated by a passionate concern suddenly to defend absolute human freedom, but they confusingly juxtapose claims about a “freedom to think” and a “freedom to act,” as if the second could be easily inferred from the first, and as if the first notion is unproblematic. The controversial complexities of Groundwork III then express this situation in an unusually tortuous manner – until finally, after the B edition, and in the writing of the second Critique, Kant reverses himself by making clearly explicit for the first time his view that it is “only” through an appreciation of strict morality, the “fact of [pure practical] reason,” that we can legitimately assert our absolute freedom (KpV 5: 29–30, 47, 104).29 2. In contrast to this general kind of interpretation, which is held by most interpreters including Noller as well as myself and which is marked by a stress on the notion of a mid-1780s “reversal,” Ware has proposed a challenging alternative reading, one that argues for much more continuity between the Groundwork and the second Critique. The carefulness and clarity of his work merits a close examination of this proposal, especially since, in many other respects, such as a basically objectivist reading of Kantian autonomy, there is 28  See KTM, chs. 3, 6, and 7. 29  Note Kant’s emphasis in KpV 5: 5 n., “had not the moral law already been distinctly thought in our reason, we should never consider ourselves justified in assuming such a thing as freedom.” For further documentation of Kant’s position, see the essay in this volume by Klaus Düsing.

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considerable overlap between his views and my own.30 Even if it turns out not to be necessary, after all, to back off of the main claim about some kind of notable reversal in Kant’s view, as defined strictly by the references just given to the second Critique’s passages, there is much to be learned from Ware’s quite perceptive treatment (which can only be briefly reviewed here) of Kant’s texts. Ware points out, for example, that the philosophical understanding of the term “fact” underwent noteworthy changes in the modern period leading up to Kant.31 While the classical tradition referred to a “fact” basically as something that contrasts with what is a matter of law, in Francis Bacon’s work “fact” came to be understood more generally as an “alleged deed” and matter of opinion in contrast to knowledge. Locke and Boyle, however, began to link the notion of fact with what is observable by many, and thus can even be said to be immediately certain rather than “in need of proof” and extensive investigation. Butler then used the notion of multiple witnessing to claim a practical factual status for traditional religious truths, and even put them on a par with our immediate consciousness of geometric truths. The German pastor Johann Joachim Spalding, who had a Scottish ancestry and whose writings on our Bestimmung were very well-known in Kant’s day, translated Butler and went on to claim that there is a practical proof for the fact of immortality, one rooted in our common sense of the injustice of conditions in this life. There is an obvious protoKantian tone to these points, as well as in Spalding’s notion that his kind of “practical proof” is invulnerable to merely abstract considerations (cf. KpV 5: 3, “subtle reasoning … is futile”), and that any lack of a morally committed attitude toward it amounts to a form of “self-condemnation.” Unfortunately, Ware does not stress that when Kant turned to these issues he was unlike these writers in insisting on a sharp distinction between the immediate certainty of the “fact” of the moral law for us, and the more complex attitude appropriate to claims about “postulated” matters such as immortality, which require several more steps than just an appeal to elementary moral consciousness. As Ware notes, by the time of the Critical era, fundamentalist allies of Jacobi such as Lavater were claiming this kind of status as a certain fact even for controversial theological doctrines such as the Resurrection. Such developments were, I believe, precisely the reason why Kant went on, in his “Orientation” essay (1786), to attack the position of Jacobi and Lavater, and to stress that the “fact” he was appealing to was a matter of “reason,” that is, of the fundamentals of

30  See Ware (2014b), 10, n. 26. 31  Ware (2014b), 3–7. At p. 13, Ware also makes an important point about how Kant’s “experimental” method can be understood as playing an effective role in moral education.

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universal morality rather than a response to postulated complexities, let alone highly contingent needs or particular sects. Ware is surely correct, in any case, in turning our attention to some unappreciated details of Kant’s procedure in his unusual invocation of a fact of reason. Ware’s research reveals an illuminating similarity between the new British scientific notion of fact and the “experimental” and “chemical” (cf. JN 92) procedure that Kant explicitly and repeatedly adopts when, for example, he extracts pure notions of space (B 6) as well as of will (KpV 5: 30 and 5: 92) by a process of separating a core necessary feature from incidental empirical accompaniments. Ware is also correct in noting the “regressive” nature of many of Kant’s Critical procedures, and his appeal, for example, to our common actual acceptance of the fact of pure mathematical (B 5; cf. Prol 4: 275) as well as moral truths (KpV 5: 91).32 Here again, however, Ware does not pause to reflect on the significant difference between various levels of Kant’s argumentation. The most fundamental regressive level of Kant’s Critical procedure concerns elementary matters such as the mere fact of experience, that is, our having some common putative empirical knowledge on the basis of presumably similar general faculties. This is an especially uncontroversial starting point because the alternative of not accepting it must appear philosophically bleak or hastily revisionist, to say the least. Matters are complicated by the fact that at various points Kant also speaks of our accepting, as “uncontested” (Gr 4: 275) the a priori truths of basic modern science in general and even the specific claim “that every alteration must have a cause” (B 5).33 When he makes these points, however, Kant is not, I believe, presenting a specific argument but is just signaling some well-known conclusions with which he presumes practically everyone would want any modern philosophy to be consistent. It would be obviously absurd for him to suppose (and thus for us to suppose that he supposes) that a mere reference to a modern and entrenched belief in causality in general, let alone in some specific laws of a broadly Newtonian kind, is any substitute for the original and detailed arguments that he goes on to labor to construct for the general transcendental causal principle (which universally governs the alteration of states) and similar basic claims in his Transcendental Analytic. After all, if in philosophical argument one already asserts that a specific Newtonian principle holds, then, since that is already a particular universal causal law, it trivially follows, in a question-begging way, that there is universal causality at all, and so the Second Analogy seems redundant. Kant’s 32  Ware (2014b), 16, n. 39. 33  Cited in Ware (2014b), 6–7.

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opening appeal to the mere fact that we are committed to various pure scientific claims is best understood as just a matter of reminding us that these are remarkable claims – ones that he will go on to argue to have a mysteriously synthetic a priori character – and so the philosophical status of such specific commitments still needs a philosophical underpinning, some kind of general theory of how pure synthetic knowledge is possible at all, and what its most elementary components must be. This is especially the standpoint of the Prolegomena, which starts not with the basic-level possibility of some empirical knowledge at all, but takes higher-level pure and transcendental knowledge for granted in order to explain (as an account of how such knowledge is even possible) the further, underlying metaphysics of transcendental idealism.34 Here Kant was just urgently trying to defend, above all, his ultimate metaphysical innovation, which happened to be the main source of reviewers’ confusions and complaints about the first edition of the Critique. There is a problem with transferring this regressive procedure to the domain of practical philosophy, a problem that Ware, like Kant, does not seem to fully appreciate. Ware takes note of critics, including myself, who worry that Kant’s recourse to an initial Faktum in the practical domain amounts, as I have said, to a kind of “dogmatism,” or even, as some others say, mere “foot stomping” or “moral bluster.”35 When I first raised the charge of dogmatism,36 however, what I had in mind was not the problem of some kind of moral authoritarianism but the general methodological problem that arises when one appreciates that Kant’s notion of practical reason brings with it the unconditioned positive causal component of autonomy and boldly presumes this is part of common sense (what Kant calls “common human reason”). This component may well involve a truth, and a truth that is unimpeachably accepted by many agents, 34  A similar second-level regression occurs within the first Critique itself when Kant adds, in the Transcendental Aesthetic and after, arguments specifically for transcendental idealism to explain the intelligible possibility of the transcendental truths that he had previously argued, at a lower level (with deductive details lacking in the Prolegomena), are the precondition of our simplest empirical claims. 35  Ware (2017a), 119. 36  KTM (1st ed. 1982), 226. In later work (KEP, ch. 7), which Ware seems to agree with (Ware [2014b], 9, n. 25), I have gone on to argue that not only did Kant himself say that he was following a “practico-dogmatic” method, but also that “dogmatism” need not have an entirely negative meaning, and it may be that alternative, non-dogmatic approaches are not without severe problems as well. This point does not take back the historical claim that overly quick reactions to Kant by the first post-Kantians (against what they took to be his dogmatism) led to extreme positions that helped to generate an unfortunate fate for the doctrine of autonomy, that is, the confused current notions of it reviewed above in section 1.

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but it is a controversial metaphysical doctrine, one that seems to have arisen only relatively late in our history37 and that was often denied in early modern philosophy, from Hobbes and Leibniz and Hume through Kant’s own extensive early work. Hence, unlike geometry, let alone our most basic belief in some common spatiotemporal orientation and elementary empirical knowledge, which can understandably be invoked as appropriate controlling conditions for any appealing philosophy, there are dozens of widely shared modern as well as ancient metaphysical and moral standpoints that do without the unconditional causal features of Kantian autonomy and any presumption of their being commonly accepted. 3. In addition to defending, as not especially problematic, the second Critique’s appeal to a Faktum, Ware supplements his ‘anti-reversal’ interpretation by arguing that Kant’s overall procedure in Groundwork III is very similar to that of the second Critique. One point that Ware emphasizes, but that is not sufficient to support an anti-reversal view, is that both texts share an inference to absolute freedom from the acceptance of a strictly demanding morality. Kant takes this inference to be relatively elementary, and in neither text does he linger over the question of whether his absolute moral standard of autonomy entails, if it is granted applicability, an absolute self-moving causal power within us. His most basic concern, and the ultimate point of the first Critique, is that, given the discovery of universal laws of nature, we first need a theoretical metaphysics – such as his transcendental idealism – that can at least block any strong metaphysical defeater that would exclude the possibility of such freedom. He even concedes that he does not have a way of defeating what can be called a “weak metaphysical defeater,” such as the doctrine of theological determinism. This doctrine, if true, would rule out for us his kind of moral autonomy, but it has, he believes, the evidently weak status of lacking any good grounds for acceptance, and so it presents a merely abstract worry that can be ignored. All the same, the difficulty of finding positive theoretical evidence for our absolute causal freedom should be a considerable worry for a reflective Kantian, given the huge range of compatibilist approaches to the issue that continue to be broadly popular as well as subtly defended by skilled philosophers. It is precisely this kind of concern, after all, that would seem to lie behind Kant’s own remark, at the very end of Groundwork II, that it is natural to worry whether the demanding autonomous principle of morality that he has just formulated may turn out to need to be regarded as very possibly a mere Hirngespinst, a dream without actual reference, because so far we appear not 37  See Frede (2011).

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to have independent grounds for asserting our real absolutely free power to act on it rather than merely “in accord with” it. The answer to the crucial interpretive question regarding the claim of a deep continuity between the Groundwork and the second Critique hinges on whether Groundwork III, and it alone, initially calls for and offers some kind of theoretical, that is, not already morally-practical, grounds to support the claim of our absolute freedom. Many interpreters, including myself, have contended that such grounds are invited and offered, although I have also noted that they are not meant to amount to a proof that meets the full requirements of what Kant himself considers paradigmatic theoretical knowledge (Wissen).38 This is primarily because, given that according to the Critical philosophy such absolute free causality operates across a noumenal/phenomenal divide, Kant repeatedly (e.g., Gr 4: 459, MdS 6: 439 n.) maintains that we can have no explainable understanding of how in general such causality proceeds, let alone an intuitive insight into its actuality in a particular instance.39 Nonetheless, in the Groundwork Kant states that he is concerned with responding to our desire to “prove freedom as something actual even in ourselves” (Gr 4: 447), and this would seem to correspond most naturally to an interest in some kind of grounds other than an appeal to morality, for the latter, on Ware’s own account, is supposed to amount, in both texts, to a mere reliance on a “fact” in contrast to a proof. At KpV 5: 31, Kant explains, quite significantly, that he calls consciousness of a Faktum precisely “because one cannot reason it out from antecedent data of reason.” The most perplexing steps in Groundwork III arise when Kant suddenly asserts that “the legitimate claim of even common human reason to freedom of the will” can arise simply from considering the contrast between the passivity of sensory representations and the fact that “a human being who considers himself as an intelligence thereby puts himself in a different order of things” (Gr 4: 457). This point echoes a passage at Gr 452, which at first speaks simply of how “reason under the name of the ideas shows a spontaneity so pure.” At Gr 457, Kant adds that when we move on to thinking of “an intelligence endowed with a will, and consequently with causality,” this reveals “an independence of reason from merely subjective determining causes.”40 These passages certainly 38  See KTM, 194, and KEP, 24–5. 39  See KTM, 196, at n. 20. Kant concedes near the beginning of Groundwork III (4: 453) that it seems that he has not yet grounded morality with a “demonstrable proposition.” 40  Because the main issue here is an interpretive one about Kant’s intentions, I leave aside, in the text proper, familiar worries about the strength of his argument here for freedom. For example, the phrase, “an independence of reason from merely subjectively determining causes,” could be understood as simply something like the psychological process

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appear to be meant finally to directly address the worry about morality being a Hirngespinst, and to do so by arguing for our freedom by means of grounds that do not themselves directly mention specifically moral considerations.41 This is the main reason why interpreters who see a reversal in Kant’s thought argue that here the Groundwork is unlike the second Critique, because that later text clearly insists from the beginning (5: 5 n.) that absolute freedom is only revealed to us from consciousness of moral law. If Kant had nowhere else made claims about freedom without a direct invocation of morality, one might try to argue that this paragraph in the Groundwork is a mere accident, or that he must have meant for us immediately to think of this “intelligence” not as something that is merely other than entirely sensibly caused – such as even an intellectually motivated but still determined Leibnizian agent (as in the Schulzian position that Kant critically reviewed) – but specifically as something that can generate pure moral intentions in a way that is absolutely causally free. The fact is, however, that elsewhere in this period and earlier42 Kant makes similar vague claims about Kant himself describes in the first Critique, concerning the generation of the unconditional ideas of pure theoretical reason – a process that, for all that the rest of the Critique says, could have nothing other than caused causes engendering it. Mere talk of excluding “subjectively determining causes” is still compatible with there being other kinds of determining causes, perhaps of an innate and/or intellectual nature, that operate without any absolute freedom on our part, although they might well involve the relative ‘objective’ freedom of the compatibilist position that Kant mocks elsewhere. Ware (Ware [2017a], 129) manifests a keen awareness of this problem in his trenchant critique of some analytic ‘Kantians’ who suggest that engaging “in a game of deliberation” would be enough to show that we are independent of “all external influences.” But it would be a mistake (cf. Ware [2014b], 16) to say that from mere reference to an intelligible world or pure law it follows that practical reason is more than an “empirically conditioned” faculty. 41  Ware appears to concede this issue at one point (Ware [2017a], 126) when he allows that, unlike the Groundwork, “in the second Critique Kant does not move directly” to the notion of a merely intelligible world but “instead appeals to the Fact of Reason.” Cf. Guyer’s argument that both texts argue to our freedom through an appeal to the power of our faculty of reason (although he calls it our “rationality”) but that the Groundwork discloses this power through the notion of an “intelligible world,” whereas the second Critique resorts immediately to consideration of the moral law (Guyer [2009], 191). For a similar view, see also Schönecker (2006), 315. 42  Ware (Ware [2017a], 131–3) notes the evidence along this line, esp. 28: 269 (“When I say ‘I think’ … I am free”), which is often cited from Kant’s pre-Critique lectures, and he discusses some passages from early lectures that invoke grounds that are not specifically moral but make references to imperatives in general. This latter point is important but it does not undercut the significance of 28: 269, which seems typical of Kant’s preParalogisms position and its occasional sympathy with some kinds of strictly theoretical grounds for freedom. Nor does the fact, which Ware stresses (Ware [2017], 25), that the

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how our purely theoretical capacities involve a “freedom to think,” and the way that he characterizes the consciousness he is discussing at that point does not require immediately reading into it specifically moral considerations.43 Ware’s alternative reading builds on the point that Kant does appear to take a moral turn by the time he goes on to say that our reason can think of an “intelligible world” in which pure reason, “independent of sensibility, gives the law” (Gr 4: 457, cf. 462).44 Now, even if it is conceded that at this later point in the text Kant intends the mention of “law” to be understood as a reference specifically to the moral law – although the mere notion of an “intelligible” law hardly entails needing to be understood in moral terms – a problem with the passage is that here the reference to reason’s being “independent of sensibility” can be taken simply as a matter of how we think in normative terms. That is, by itself it seems like just a reminder of our ability to think in terms of a necessary rather than contingent standard, and this alone does nothing to begin to show that we actually have an absolutely free causal power with respect to this standard. Ware moves too quickly here when he says that when we find ourselves not just thinking intelligently, but “thinking of ourselves in [sic] conformity45 with the law of an intelligible world,” then, insofar as this law is to be understood as the practical law of morality, this alone gives us a “grounds [my emphasis] to ascribe freedom to ourselves.”46 The problem is that, by itself, the first statement is still in the realm of mere thought, and so the second statement requires additional backing for it to provide grounds for making an existential claim, indeed an audaciously strong claim. The natural non-question-begging grounds that we should expect at this point for such a claim about actuality would be precisely something like the reference, with which Kant begins his Schulz essay invokes considerations of duty at one point, count against the fact that it at first urges us to draw a conclusion about freedom from mere considerations of thinking. 43  This is not to say that after 1781 the claims are set out systematically by Kant, for this would be in obvious tension with the severe restrictions on theoretical self-knowledge that are argued for in the Paralogisms. It is often not noticed that, while the Paralogisms section criticizes theoretical arguments for claims such as our substantiality and simplicity, the section leaves a gap where Kant’s architectonic would seem to call for a critique of traditional arguments for our absolute spontaneity. 44  Ware (2017a), 122–3. 45  Presumably this is supposed to mean thinking of acting for duty and not just in accord with it. I say “for duty” rather than “from duty” because the latter (familiar) phrase, by itself, can mask the key fact that Kant’s concern is a normative rather than merely causal notion of determination. 46  Ware (2017a), 123; cf. 139, n. 25, where Ware says that “when we consider ourselves as members of an intelligible world we have grounds [NB] to ascribe a negative sense of freedom to ourselves.”

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earlier discussion, to the existence within us of absolutely uncaused powers residing in our general faculty of intelligence. It is not even suggested that this kind of reference is either demanded or supplied in the second Critique, and for that reason it still appears proper to say there has been a “reversal” in Kant’s procedure. 4. As a final word on Ware’s approach, I must confess to agreeing that if the procedures of the Groundwork and the second Critique really are as similar as Ware contends, then this would in one obvious sense make it easier to read Kant charitably, as at least having more continuity than has been appreciated in his writing. From a systematic philosophical perspective, however, it does seem only appropriate for a staunch libertarian such as the Critical Kant to be very concerned with – and thus, given the text, for us to believe that he actually was concerned with – entertaining and proposing theoretical grounds for our absolute spontaneity; even though, as can happen, the grounds that, for a while, he appears to have offered, can seem weak to us now and in tension with some of his other doctrines. There is an alternative popular approach here that one might take, and that seems to be to be encouraged by Noller, and I will conclude by very briefly reacting to it. This alternative approach involves revising the Kantian conception of our freedom, in the direction of most of the post-Kantians, by arguing that we need to weaken the fixation on pure reason by allowing various significant “grades” (JN 101) of integration within a good person’s life, so that our inclinations can be regarded as not just “hindrances” (JN 181). Such an approach is also supposed to make the phenomenon of evil (JN 182–3) more tractable by conceding that sometimes there are at least understandable reasons for going in directions other than pure morality. The direction of Noller’s proposals no doubt can appear attractive to many readers put off by some of Kant’s more austere remarks. Such reactions, however, rest on a false assumption if they presume that Kant regards inclinations as “essentially alien” (JN 179) to a proper human agent. Here I would counter that Kant is perfectly willing to see value in all sorts of not initially morally defined rational intentions that concern proper individual projects such as appreciating aesthetic value, developing talents, satisfying particular inclinations, and in general aiming at one’s own happiness. I take Kant’s position to be that there are many good reasons to be in this way positively concerned with our inclinations – for he does take human happiness to be crucial to even our highest good – and so his moralism consists simply in insisting that our reason regulate this concern in those cases where it would directly go against the basic duties of respect for rational agency. Inclinations do not necessarily, or even for the most part, hinder morality; but neither do they necessarily conform to it.

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On this account, even evil need not be totally mysterious, for as Kant explains, it occurs not from sheer devilishness but from a reversal of priorities, from letting our understandably constant and necessary concern for happiness, which is always already with us, improperly override the unconditional concern that we can and should have for morality. (Recent work by Ware offers some of the best treatment of this topic.47) It is true that in calling “pure reason” the “genuine” (eigentlich) aspect of the self, Kant might seem to be encouraging us, in contrast, to call our inclinations, and sensibility in general, inauthentic in a derogatory sense. But he can instead be read as just making an innocent metaphysical point, namely that (especially in view of traditional philosophical and theological conceptions with which we are well familiar) it does seem metaphysically possible that a self with rational agency could exist without sensibility at all, and so its non-rational features are not clearly essential to it as such. But this does not mean that he holds that the reason that we have, given our actual even though contingent state, is not, and should not, be deeply oriented toward happy satisfaction. Only recently has the full depth of Kant’s integrated optimistic orientation in this regard impressed itself upon me, when I reread what may be the most important sentence of all in the first Critique. The basic question of a “critique of pure reason” is, of course, whether our reason as such can be satisfied. And the truly Critical parts of the book go on to explain, for hundreds of pages, how our pure understanding can be satisfied by providing theoretical conditions for the possibility of experience, while reason as such, given its commitment to the unconditioned, cannot be theoretically satisfied. But then, at A 807, Kant finally makes this dramatic assertion – with a view, of course, to the second Critique, which he over-optimistically believed he would write very soon: I assume that there really are pure moral laws … and that these command absolutely … [and are found in] the moral judgment of every human being, if he will distinctly [NB!] think such a law. Pure reason thus contains [in its moral use] principles of the possibility of experience, namely of those actions in conformity with moral precepts, which could be encountered in the history of humankind. (A 807/ B 835)48

47  See Ware (2014c). 48  “… in der Geschichte des Menschen anzutreffen sein könnten” (A 807/ B835). Cited in Guyer (2009), 202.

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This is a history, we might add, that for Kant is definitely oriented toward the proper fulfillment of human inclination and happiness – although his statement is also properly hedged with another short word, namely, “could.” Abbreviations and Bibliography Gr KpV MdS Prol

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Groundwork for the Metaphysics of Morals) Kritik der praktischen Vernunft (Critique of Practical Reason) Metaphysik der Sitten (Metaphysics of Morals) Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (Prolegomena to Any Future Metaphysics That Will Be Able to Present Itself as a Science)

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Kant über die Natur der Freiheit Dieter Sturma 1

Einleitung

Überlegungen zur Freiheit enthalten Feststellungen über das, was es gibt. Wer über Freiheit redet, hat bestimmte Vorstellungen darüber, wie unsere Welt verfasst ist. Insofern fällt die philosophische Auseinandersetzung mit dem Begriff und dem Phänomen der Freiheit, anders als oft angenommen wird, nicht nur in die praktische Philosophie, die gemeinhin als der einschlägige metatheoretische Ort angesehen wird, sondern vor allem auch in die theoretische Philosophie. Diesem Sachverhalt hat in den Hauptströmungen der Philosophie neben Baruch de Spinoza vor allem Immanuel Kant auf einflussreiche Weise Rechnung getragen. Im Unterschied zu Spinoza, der sein System aus einem naturalistischen Immanenzgedanken entwickelt, wird Kant in der Regel mit einer dualistischen Position in Verbindung gebracht. Diese Einordnung bezieht sich in erster Linie auf die sogenannte Auflösung der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft sowie korrespondierende Passagen der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft, welche die philosophische Rekonstruktion menschlicher Freiheit von der Ausdifferenzierung zwischen noumenalen und empirischen Bestimmungen abhängig machen. Der Grund menschlicher Freiheit scheint danach in der empirischen Unabhängigkeit des intelligiblen Charakters einer Person angesiedelt zu sein. Diese Auffassung wird im Folgenden als die orthodoxe Auslegung bezeichnet. Sie findet sich vor allem in einschlägigen philosophiegeschichtlichen und philologisch ausgerichteten Beschäftigungen mit Kants kritischer Philosophie. Die nach-kantischen Systeme des Deutschen Idealismus lehnen die orthodoxe Auslegung entschieden ab und geben – oft mit ausdrücklichem Verweis – Spinozas Ansatz eindeutig den Vorzug.1 Die orthodoxe Auslegung stellt in der systematischen Philosophie sowie in den daran anschließenden interdisziplinären Diskursen eine große Hürde für die Wiedererwägung von Kants Überlegungen zur Freiheitsproblematik dar. Kant begegnet in diesem Zusammenhang ähnlichen Vorbehalten wie 1  Exemplarisch für diese Haltung ist das sogenannte älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, in: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, hg. v. Friedrich Beiser, Vierter Band, Stuttgart 1961, 297–299.

© koninklijke brill nv, leiden, 2019 | doi:10.1163/9789004383586_007

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Descartes, der gemeinhin für die dualistischen Übel in der Philosophie der Neuzeit verantwortlich gemacht wird. Bei den Bemühungen um die Erfassung des Verhältnisses von modernen Naturalisierungsverfahren und Normativität sowie in den philosophischen Reaktionen auf die normativen Herausforderungen der Naturwissenschaften im Allgemeinen und der Neurowissenschaften im Besonderen sind nur selten Bezugnahmen auf Kant anzutreffen. Diese Vernachlässigung ist sachlich nicht gut begründet. Es finden sich bei Kant jenseits der orthodoxen dualistischen Doktrin keineswegs versteckte, aber bislang systematisch kaum ausgewertete Analysen zum Verhältnis von Natur, Selbstbewusstsein und Autonomie, in denen die notorischen dualistischen Härten fehlen und die mit Gewinn in die gegenwärtigen Diskurse eingebracht werden könnten beziehungsweise eingebracht werden können. Der naturalistische Ansatz Spinozas – Kants freiheitstheoretischer Gegenspieler – ist zu einem nicht unbeträchtlichen Teil von den sich damals schon deutlich abzeichnenden Fortschritten der modernen Naturwissenschaften und den damit einhergehenden Umwälzungen des Weltbildes beeinflusst. Diese Entwicklungen haben auch Kant nicht unbeeindruckt gelassen. Sein Blick auf die Naturwissenschaften ist konstitutiv für die Entfaltung seiner epistemologischen Innovationen. Diesen Umstand gilt es bei der Rekonstruktion der Textpassagen zu berücksichtigen, die im Zuge erkenntniskritischer Ausdeutungen des Phänomens des Selbstbewusstseins dualistische Trennungen zumindest in den Hintergrund treten lassen. Kant gilt zu Recht als Mitbegründer der klassischen Theorie des Selbstbewusstseins. Sie ist – mehr noch als die Ansätze von Descartes und Leibniz – der unmittelbare Anknüpfungspunkt für die Systeme der klassischen deutschen Philosophie, in denen selbstreferenzielle Reflexions- und Argumentationsfiguren eine konstitutive Rolle spielen. Es ist allerdings schon dem frühen Deutschen Idealismus auffällig geworden, dass Kant keine wirklich ausgeführte Theorie des Selbstbewusstseins vorgelegt hat. In seinen erkenntniskritischen Schriften finden sich gleichwohl verschiedene und zum Teil durchaus hervorgehobene Passagen, die sich auf systematisch überaus anspruchsvolle Weise phänomenologisch und semantisch mit dem Selbstbewusstsein beschäftigen. Das trifft insbesondere für die beiden Versionen der Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe und des Paralogismenkapitels sowie für den Beschluss der Kritik der praktischen Vernunft zu. Auf dieser vergleichsweise schmalen Textbasis lässt sich ein konzeptioneller Rahmen für die Theorie des Selbstbewusstseins rekonstruieren, der unmittelbar mit der Freiheitsproblematik in Zusammenhang gebracht werden kann – eine Verbindung, die Kant allenfalls angedeutet hat. Die

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Rekonstruktion wird durch den Umstand erleichtert, dass uns einschlägige und geradezu prominente Passagen zur Verfügung stehen, mit denen eher beiläufige Reflexionen und Anmerkungen systematisch organisiert werden können. Die Rekonstruktion der epistemischen, epistemologischen und normativen Bestimmungen des Selbstbewusstseins lassen das Verhältnis von Natur und Freiheit im Hinblick auf die orthodoxe Auslegung in einem anderen Licht erscheinen. Jenseits der Dichotomie von Empirischem und Noumenalem findet sich bei Kant ein ontologisch gemäßigter Weg, der in das Zentrum seiner Ethik – das moralische Gesetz – führt.2 2

Natur und Freiheit

Die dualistisch konturierten Theoriestücke der Erkenntniskritik Kants dürften zu einem Großteil darin begründet sein, dass er den Fortschritten der Naturwissenschaften seiner Zeit philosophisch gerecht werden will, aber auch nicht bereit gewesen ist, eliminativen ontologischen Szenarien – wie sie sich etwa bei Thomas Hobbes oder beim Französischen Materialismus zeigen – Ausgriffe auf die Ethik zu gestatten.3 Unter Natur versteht Kant die Ordnung der Dinge als Erscheinungen, die allgemeinen Gesetzen unterliegen.4 Ihm zufolge schließt der Ausdruck „Natur“ immer schon den „Begriff von Gesetzen“5 mit ein. Im Zuge seines erkenntniskritischen Programms weist er die Ordnung der Erscheinungen nicht als Gegebenes aus, sondern macht sie von den Konstitutionsleistungen des Verstandes abhängig. Demnach nennen wir Natur das, was wir den Erscheinungen als Ordnung und Regelmäßigkeit zugrunde legen.6 Diese erkenntniskritische Überlegung verbirgt sich hinter seiner berühmten kopernikanischen Wende, dass die Vernunft nur das einsehen könne, was sie selbst hervorbringe.7 Die Natur müsse dazu genötigt werden, auf die Fragen der nach 2  Methodisch operiert Kant in diesen Passagen mit einer Kombination von Internalismus und Externalismus, die in dieser Form philosophiegeschichtlich ohne Beispiel geblieben ist. 3  In dieser Hinsicht bewegt sich Kant eindeutig innerhalb der von Rousseau vorgegebenen Theorieperspektiven; siehe Rousseau, Émile, Buch IV, 1969; vgl. Sturma (2001); Sturma (2004), 160–177. 4  Siehe Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, AA IV, S. 294 ff. 5  Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften, AA IV, S. 468. 6  Siehe Kant, Kritik der reinen Vernunft, 229 (A 125). 7  Siehe Kant, Kritik der reinen Vernunft, 18 (B XII f.).

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beständigen Gesetzen vorangehenden Vernunft zu antworten. Der naturwissenschaftliche Zugang zur Natur vollzieht sich vermittels von Gesetzen und Experimenten: Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.8 Die Konstitutionsleistungen des Verstandes sind in einem strikt formalen Sinne zu verstehen.9 Kants Erkenntniskritik hält den Naturbegriff in engen Grenzen. Traditionelle Bestimmungen wie „Wesen“, „Naturzweck“ oder „intrinsische Qualität“ liegen außerhalb dieser Grenzen. Das bedeutet aber keineswegs, dass der Erkenntniskritik ein Zugang zur Natur fehlt. Ein zumindest mittelbarer Zugang ergibt sich für Kant aus der Praxis der modernen Naturwissenschaften. In ihr lasse sich ein Leitfaden ausmachen, der unsere epistemischen Beschränkungen durch die Auffindung von Naturgesetzen zumindest teilweise ausgleiche. Wir seien nach wie vor nicht in der Lage, „das Innere des Mechanismus“ zu entschlüsseln, aber der Umstand, dass wir immer wieder neue Naturgesetze auffinden, zeige deutlich die Fähigkeit unserer Urteilskraft an, Vorgängen in der Natur mit Gesetzen und Experimenten auf die Spur zu kommen. Diese Praxis des Naturstudiums habe sich über die Zeit hinweg bewährt, und es bestehe kein Anlass, davon abzuweichen. Vielmehr könnten wir davon ausgehen, auch zukünftig durch Gesetze und Experimente etwas in und an der Natur zu entdecken.10 Kants naturphilosophische Position ist durchgängig erkenntniskritisch verfasst. Diese Ausrichtung ändert sich auch nicht in der Kritik der Urteilskraft, in der er allerdings eine andere begründungstheoretische Stellung zum Naturbegriff einnimmt. Unter den Bedingungen des erkenntniskritischen Naturbegriffs sind zunächst keine Anhaltspunkte für menschliche Freiheit auszumachen. Die Konstitutionsleistungen des Verstandes bringen eine Ordnung der Natur hervor, von der in der Regel angenommen wird, dass in 8  Kant, Kritik der reinen Vernunft, 19 (B XIII). 9  Siehe Kant, Kritik der reinen Vernunft, 231 (A 127). 10  Siehe Kant, Kritik der Urteilskraft, 310 (B 334). Die Praxis der Naturwissenschaften zeigt ein konstruktives Verhältnis zu ihrem Gegenstandsbereich an, das schon als faktischer Beleg für Freiheit in der Natur aufgefasst werden kann.

Kant über die Natur der Freiheit

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ihr lediglich die Gesetze herrschen, die in den Naturwissenschaften entdeckt werden. Handlungen von Personen können in einer solchen Ordnung nur als Ereignisse auftreten. Auffassungen von Natur, die sich an naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten orientieren, sehen sich vom Ansatz her mit eliminativen Szenarien konfrontiert. Kant unternimmt in der von ihm so genannten dritten Antinomie und ihrer Auflösung den Versuch, ein derartiges Szenario erkenntniskritisch zu kontrollieren.11 Die dritte Antinomie besteht in dem Widerstreit, der zwischen der Kausalität der Naturgesetze und der Annahme einer Kausalität durch Freiheit herrscht. Die Plausibilität der These zur Kausalität durch Freiheit wird ex negativo aus der These abgeleitet, dass die Welt der Erscheinungen nicht allein aus der Kausalität nach Gesetzen der Natur abgeleitet werden könne.12 Das Problem besteht im Weiteren nun darin, dass mit ähnlichen negativen Ausschlussverfahren auch die These der Naturkausalität als einleuchtend erscheint. Wenn es in der „Ordnung der Weltbegebenheiten“13 nichts als Natur gebe, müsse unverständlich bleiben, wie in sie mit einer Kausalität durch Freiheit eingegriffen werden könne. Kant spitzt den Widerstreit sogar so weit zu, dass sich Natur und Freiheit offenbar wie „Gesetzmäßigkeit und Gesetzlosigkeit“14 zueinander verhielten. Diese Zuspitzung kommt ihm begründungstheoretisch teuer zu stehen, denn sie verleitet ihn zu der notorischen Unterscheidung zwischen empirischem und intelligiblem Charakter. Die von Kant angebotene Auflösung der Antinomie zwischen Natur und Freiheit besteht darin, von der Koexistenz eines empirisch bestimmten beziehungsweise bestimmbaren Charakters auf der einen Seite und eines bestimmenden intelligiblen Charakters auf der anderen Seite auszugehen. Während die Verhaltensweisen des empirischen Charakters fest in die Ordnung aller anderen Erscheinungen eingebunden seien, stehe der intelligible Charakter „nicht in der Reihe empirischer Bedingungen“15 und müsse „von allem Einflusse der Sinnlichkeit und Bestimmung durch Erscheinungen freigesprochen werden“.16 Die Argumentationsstrategie der Auflösung der dritten Antinomie zielt darauf, hinter dem Widerstreit Vereinbarkeit sichtbar werden zu lassen. Kant zufolge sind Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit deshalb miteinander vereinbar, weil sie unterschiedlichen Auffassungsweisen zuzuordnen seien, welche, so die These, koexistieren können. Solange Naturkausalität auf 11  Siehe Kant, Kritik der reinen Vernunft, 548 ff. (B 472 ff.); 625 ff. (B 566 ff.). 12  Siehe Kant, Kritik der reinen Vernunft, 548 (B 472). 13  Kant, Kritik der reinen Vernunft, 549 (B 475). 14  Kant, Kritik der reinen Vernunft, 551 (B 476). 15  Kant, Kritik der reinen Vernunft, 626 (B 568). 16  Kant, Kritik der reinen Vernunft, 627 (B 569).

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Erscheinungen beschränkt bleibe, könne transzendentale Freiheit im Sinne des intelligiblen Charakters einer Person angenommen werden. Allerdings kommt Kant nicht umhin einzuräumen, dass er eine aus dem Intelligiblen entspringende Kausalität explikativ nicht gut verständlich machen könne. Er begnügt sich damit, dass „Natur der Kausalität aus Freiheit wenigstens nicht widerstreite“.17 Es ist jedoch fraglich, ob Kant das minimale Beweisziel der Auflösung erreicht. Der Annahme eines intelligiblen Charakters außerhalb der Ordnung der Erscheinungen, in der er sich – wie auch immer – auswirken solle, fehlt eine angemessene ontologische Einbettung. Der Bestimmung nach kann Kausalität durch Freiheit in der Welt der Erscheinungen und Handlungsabläufe einfach nicht vorkommen. Der vermeintlichen Auflösung der dritten Antinomie fehlt eine rechtfertigungsfähige Konzeption für die Wirksamkeit der Kausalität durch Freiheit in der Welt der Erscheinungen. Insofern wiederholt sie nur das Problem, dessen Lösung sie eigentlich sein sollte. Auf die These der Koexistenz von Naturkausalität und Kausalität durch Freiheit greift Kant auch in den für seine praktische Philosophie systematisch entscheidenden Passagen zurück. Personen werden darin als Akteure charakterisiert, die gleichermaßen zur intelligenten Welt wie zur Sinnenwelt gehören.18 In der intelligenten Welt sei die Person – „das eigentliche Selbst“19 – „nur als Intelligenz“ präsent, die von den Neigungen und Antrieben der Sinnenwelt nicht gestört werde. Danach handeln Personen als eigentliches Selbst ausschließlich durch ihren vernünftig bestimmten Willen, der sich in der Sinnenwelt als Pflicht manifestiert, etwas zu tun oder zu unterlassen. Kants Ansatz beruht darauf, eliminativen Strategien einen Begriff transzendentaler Freiheit entgegenzustellen. Dabei greift er auf die metatheoretische Ausgrenzung zwischen intelligibler Welt und Welt der Erscheinungen zurück. Unabhängig von den ontologischen Zumutungen, die mit dualistischen Ansätzen insgesamt einhergehen, besteht die praktische Schwierigkeit des Begriffs transzendentaler Freiheit darin, dass er nicht auf tatsächliche Handlungen von Personen angewandt werden kann. Das bedeutet nicht, dass in diesem Zusammenhang prinzipiell auf Argumentationen verzichtet werden muss, die mit Konzeptionen diverser Aspekte operieren. Das Problem besteht nicht in der Ausdifferenzierung, sondern in der Ausgrenzung und ihren ontologischen Folgen.

17  Kant, Kritik der reinen Vernunft, 641 (B 586). 18  Siehe Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 80 ff. (AA IV 450 ff.). 19  Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 89 (AA IV 457).

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Kant gelingt es in der Auflösung der dritten Antinomie und den daran anschließenden Ausführungen seiner praktischen Philosophie nicht, tatsächlich überlegenden und handelnden Personen einen systematisch konturierten Ort in der Welt der Erscheinungen zuzuweisen. Gleichwohl leisten seine Ausdifferenzierungen einen bedeutsamen Beitrag zur Freiheitsproblematik. Es wird mit Nachdruck herausgearbeitet, dass Freiheit nicht den Gesetzmäßigkeiten der Welt der Erscheinungen umstandslos angeglichen werden darf. Vielmehr müsse sie im Vergleich zu anderen Vorgängen der Natur „in einem anderen Sinne und Verhältnisse“20 aufgefasst werden. Er hebt zu Recht hervor, dass bei allen semantischen Schwierigkeiten im Umgang mit dem Begriff der Freiheit Versuche, ihn einfach wegzukürzen oder „wegzuvernünfteln“, abwegig seien. Wir haben es hier mit theoretischen beziehungsweise metatheoretischen Schwierigkeiten zu tun, die das Phänomen und die Erfahrung der Freiheit intern nicht berühren. Kants Ausdifferenzierungen sind denn auch durchaus geeignet, einen systematischen Rahmen zur Verfügung zu stellen, mit dem weder auf den naturwissenschaftlichen Begriff der Natur noch auf den praktischen Begriff der Freiheit verzichtet werden muss. Obwohl Kant in der Auflösung der dritten Antinomie seinen wesentlichen metatheoretischen Beitrag zur Freiheitsproblematik gesehen hat, finden sich begründungstheoretisch belastbare Überlegungen zur epistemologischen Ausdifferenzierung zwischen Natur und Freiheit an anderer Stelle der Erkenntniskritik – insbesondere in der Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe und dem Paralogismenkapitel der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Sie enthalten eine Skizze der Praxis des Selbstbewusstseins, die unter Umgehung der ausgrenzenden ontologischen Härten der Auflösung sich auf den Autonomiegedanken der praktischen Philosophie beziehen und mithilfe des Beschlusses der Kritik der praktischen Vernunft in eine vereinheitlichende Konzeption von Natur und Freiheit bringen lassen. 3

Ich existiere denkend

In Kants Erkenntniskritik gibt das Phänomen des Selbstbewusstseins Aufschluss über die synthetischen Leistungen und die kognitiven Fähigkeiten menschlichen Bewusstseins. In dieser Hinsicht schließt er an Descartes’ Beobachtung an, dass sich Selbstbewusstsein in der Gestalt der Selbstgewissheit von allen anderen mentalen Akten und Zuständen durch die Eigenschaften der Unmittelbarkeit, Selbstvertrautheit, Nicht-Korrigierbarkeit sowie des 20  Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 87 (AA IV 456).

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privilegierten Zugangs unterscheidet.21 Die Tatsache des Selbstbewusstseins ist für Kant unbestreitbar. Sie interpretiert er dahingehend, dass es reflektierenden Personen unter normalen Bedingungen prinzipiell möglich sei, sich in Bezug auf ihre jeweiligen Vorstellungen ihrer selbst bewusst zu werden – auch wenn das nicht durchgängig geschieht. Hierin sieht er den deutlichen Hinweis auf die konstitutive Rolle von Selbstreferenz im menschlichen Bewusstsein. Die Offenlegung des Sachverhalts erzwingt eine konzeptionelle Unterscheidung zwischen ausdrücklichem Selbstbewusstsein und den Konstitutionsleistungen formaler Selbstreferenz, die sich für die einzelne Person gleichsam im Verborgenen vollzieht. Das bedeutet aber auch, dass Bewusstsein durchgängig mögliches Selbstbewusstsein ist: Jeder Fall von Bewusstsein muss der Möglichkeit nach in ausdrückliches Selbstbewusstsein übergehen können. Allein unter dieser Voraussetzung ist die Zugehörigkeit von Vorstellungen zum personalen Bewusstsein gewährleistet. Wir verfügen nur dann über Bewusstseinszustände, wenn sie in einer zumindest mittelbaren Beziehung zu unserem Selbstbewusstsein stehen, „denn sonst würde ich ein so vielfarbiges verschiedenes Selbst haben, als ich Vorstellungen habe, deren ich mir bewußt bin.“22 Mögliches Selbstbewusstsein beziehungsweise die formale Selbstreferenz des Denkens regelt die Possessivität mentaler Akte und Zustände einer Person. Die mannigfaltigen Akte und Zustände „würden nicht insgesamt meine Vorstellungen sein, wenn sie nicht insgesamt zu einem Selbstbewußtsein“23 gehörten. Seine Überlegungen zur formalen Selbstreferenz des Denkens im Unterschied zu ausdrücklichem Selbstbewusstsein fasst Kant in dem Ausdruck des „Ich denke,“ das „alle meine Vorstellungen begleiten können“24 muss, zusammen. Bewusstsein ist demnach nicht eine bloße Abfolge von mentalen Daten. Sein Gehalt und possessiver Sinn sind vielmehr das Resultat selbstreferenzieller Aktivitäten, die das in der Anschauung Gegebene gleichsam durchlaufen und zusammennehmen.25 Auf diese Weise lassen sich Kant zufolge Komplexität und Kohärenz menschlicher Erfahrungen verstehen. Personen erleben oder erfahren etwas, indem sie einer Mannigfaltigkeit von Vorstellungen in der Form von Identifikationen, Reidentifikationen und Klassifikationen eine kohärente Struktur geben.26 21  Vgl. Sturma (2008), 103. 22  Kant, Kritik der reinen Vernunft, 180 (B 134). 23  Kant, Kritik der reinen Vernunft, 178 (B 132). 24  Kant, Kritik der reinen Vernunft, 178 (B 131). 25  Siehe Kant, Kritik der reinen Vernunft, 209 (A 99). 26  Vgl. Strawson (1959), 31 ff.; Strawson (1966) 142 ff., 163 ff.

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Die Aktivität formaler Selbstreferenz ist als solche kein mentales Datum oder Gegenstand von ausdrücklichen Selbstthematisierungen.27 Mit der Ausdifferenzierung zwischen Selbstreferenz im Allgemeinen und Selbstbewusstsein im Besonderen vermeidet Kant auch die ihm oftmals unterstellten reflexionstheoretischen Zirkel.28 Der Ausdruck „ich“ ist für ihn kein Begriff, „sondern ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet,“ von dem wir „abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können“. Daher drehen wir uns in einem beständigen Zirkel um es herum, „indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen“29 zu können. Die formale Selbstreferenz führt keine Eigenschaften oder Prädikate mit sich und ist insofern sowohl von ausdrücklichem Selbstbewusstsein als auch von Selbsterkenntnis zu unterscheiden. Wegen seiner konstitutiven Funktion weist Kant das Ich denke, das alle meine Vorstellungen begleiten können muss als einen analytischen Satz aus.30 Wenn immer ich etwas in Gedanken fasse oder ausspreche, liegt ein Fall möglichen Selbstbewusstseins vor. Der Unterschied zwischen Selbstbewusstsein und formaler Selbstreferenz des Denkens auf der einen Seite sowie Selbsterkenntnis und prädikativen Selbstzuschreibungen auf der anderen Seite liefert Kant den Anlass, das ich denke als analytischen Satz auszuweisen. Er kann aber nicht umhin, im Weiteren einzugestehen, dass im Selbstbewusstsein irgendetwas im Sinne von empirischen Anwendungsbedingungen gedacht werden müsse: „Allein ohne eine irgend empirische Vorstellung, die den Stoff zum Denken abgibt, würde der Actus, Ich denke, doch nicht stattfinden, und das Empirische ist nur die Bedingung der Anwendung“.31 Kant spricht in diesem Zusammenhang auch von einer unbestimmten Wahrnehmung, die zum Denken überhaupt gegeben sei. Demnach enthält Selbstreferenz durchgängig eine Form von Referenz, die sich nicht auf sich selbst richtet. Selbstbewusstsein ist entsprechend ein Zustand von Selbstvertrautheit und Selbstgewissheit, der sich unter empirischen Anwendungsbedingungen entfaltet. Die Unmittelbarkeit des Erlebens verdeckt gemeinhin diesen Sachverhalt. Im Selbstbewusstsein zeigt sich die reflektierende Person als bestimmend und als bestimmbar.32 Wenn sie sich ihrer selbst bewusst wird, konvergieren die bestimmenden, bestimmbaren 27  Siehe Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 132. Kant vertritt wie Leibniz und im Unterschied zu Descartes und Locke nicht die These der Selbsttransparenz des Bewusstseins; vgl. Sturma (2008), 158 ff. 28  Vgl. Henrich (1966); Frank (1991). 29  Kant, Kritik der reinen Vernunft, 447 (B 404); vgl. Sturma (2008), 97ff. 30  Siehe Kant, Kritik der reinen Vernunft, 450 (B 408). 31  Kant, Kritik der reinen Vernunft, 461 (B 423 Anm.). 32  Siehe Kant, Kritik der reinen Vernunft, 449 (B 407).

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und bestimmten Funktionen und Gehalte ihres Bewusstseins: „Also erkenne ich mich nicht selbst dadurch, daß ich mich meiner als denkend bewußt bin, sondern wenn ich mir die Anschauung meiner selbst, als in Ansehung der Funktion des Denkens bestimmt, bewußt bin.“33 Der ontologische Ort einer Person ist ihre sich ständig verändernde raumzeitliche Position. In ihren Selbstverhältnissen manifestieren sich entsprechend Ursprung und Gehalt ihres Denkens. Im Unterschied zu Descartes’ cogito zeigt sich Kants Begriff des Selbstbewusstseins nicht in existenzieller Isolation, sondern als in Erlebnis- und Erfahrungsprozesse fest eingebettet. Selbstverhältnisse sind insgesamt Erlebnisse in einer vorgefundenen Welt, die Personen miteinander teilen. Die raumzeitliche Einbettung des Selbstbewusstseins hat unmittelbare praktische Folgen. Eine Person, die sich ihrer selbst bewusst wird, bewegt sich nicht in einem abstrakten Reflexionsraum. Vielmehr ist sie sich bewusst, dass sie es ist, die sich jetzt im Zustand existenzieller Aufmerksamkeit in einer spezifischen Situation befindet, zu der sie sich verhalten muss. Wie immer sie sich nun verhalten wird, ihr steht nicht mehr die Möglichkeit offen, keine Stellung zu dieser Situation einzunehmen. Das kontextualisierte Selbstbewusstsein lässt das ich denke in einem neuen Licht erscheinen. Es enthält nicht nur, wie schon Descartes gezeigt hat, das existo, sondern vor allem auch die jeweilige ontologische Position der reflektierenden Person. Ich denke bedeutet für Kant letztlich ich existiere denkend, und diesen Satz behandelt er als einen empirischen Satz, weil ihm eine empirische Anschauung zugrunde liege.34 In der einfachen Formel fasst Kant die Verflechtungen von Selbstreferenz und Referenz beziehungsweise von bestimmenden Funktionen sowie bestimmbaren und bestimmten Zuständen des Bewusstseins zusammen. Selbstbewusste Personen führen ihr Leben in einer Welt, die von der Naturkausalität des Raums der Ursachen wie von der Kausalität durch Freiheit im Raum der Gründe beherrscht wird. Die Einheit von Existenz, Denken und Praxis im Leben von Personen macht offenkundig, dass selbstreferenzielle Aktivität keine Tat eines vom empirischen Charakter getrennten intelligiblen Wesens ist. Selbstreferenzielle Aktivitäten stehen für Kant im Zentrum seiner erkenntniskritischen Analysen der Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung. Selbstbewusstsein ist 33  Kant, Kritik der reinen Vernunft, 449 (B 406). 34  Siehe Kant, Kritik der reinen Vernunft, 465 (B 428): „Der Satz, Ich denke, oder, Ich existiere denkend, ist ein empirischer Satz. Einem solchen aber liegt empirische Anschauung, folglich auch das gedachte Objekt als Erscheinung, zum Grunde“.

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entsprechend ein Faktum in der Welt wirklicher und möglicher Erfahrungen, in der Personen sich ihrer spezifischen Situationen und Verhaltensweisen vergewissern. Sie schweben nicht über der Welt, in der sie handeln und sich ihrer selbst bewusst sind. Kants Kontextualisierung des ich denke im Paralogismenkapitel der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft liefert im Unterschied zur Auflösung der dritten Antinomie wichtige Bestimmungen für einen erweiterten Naturalismus, der gleichermaßen den Gesetzen des Raums der Ursachen wie den Regeln des Raums der Gründe Rechnung trägt. Damit hat Kant außer den Passagen, auf die sich orthodoxe Auslegungen berufen, Überlegungen hinterlassen, aus denen sich ein systematisch gewichtiger Beitrag zu einer modernen – nicht-dualistischen – Freiheitskonzeption gewinnen lässt. Personen sind psychophysische Subjekte und nicht Wesen, die, zumindest in orthodoxen Auslegungen, buchstäblich in zwei Teile zerfallen – in einen empirischen und einen intelligiblen Charakter. Sie erleben sich auf selbstgewisse Weise in einer objektiven Welt, die ihnen als in Teilen veränderbar und in Teilen als unveränderbar begegnet. Dieser Sachverhalt ist ihren Selbstverhältnissen in einer Weise eingeschrieben, die praktische Einstellungen und situationsabhängige Reaktionen erzwingt. Selbstbewusstsein steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den Umständen, in denen sich Personen befinden, und zu denen sie sich nicht nicht verhalten können. Aus der Praxis des Selbstbewusstseins gehen Handlungen hervor, die als Kausalität durch Freiheit gelten können. Sie verändern den Lauf der Dinge, und das geschieht – bei aller Unsicherheit und Fallibilität in der Ausführung – häufig aus guten Gründen. Kausalität durch Freiheit ist kein blinder ontologischer Fleck, sondern findet im Selbstbewusstsein einen Anhalt in der Welt der Ereignisse, in der naturwissenschaftliche Gesetze entdeckt werden. Die Praxis des Selbstbewusstseins ist eine determinierende Veränderungsinstanz und nicht indeterminiert, wie in der dritten Antinomie der Kausalität durch Freiheit unterstellt wird. 4

Das Faktum der Vernunft

Das Phänomen des Selbstbewusstseins nimmt in Kants praktischer Philosophie bis auf eine Ausnahme keine prominente Stellung ein.35 In ihr finden sich gleichwohl Überlegungen, die der Praxis des Selbstbewusstseins sachlich 35  Dieser Sachverhalt ist bekanntlich für den frühen Deutschen Idealismus gleichermaßen Anlass für Verwunderung und programmatische Korrekturen gewesen.

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nahestehen und ihr zumindest mittelbar moralphilosophisches Profil verleihen. Im Zuge der Analyse moralischen Bewusstseins stößt Kant auf das von ihm so genannte Faktum der Vernunft, das eigentlich ein Faktum praktischer Vernunft ist. Es manifestiert sich als Quelle von Normativität, die Personen unabhängig von ihren jeweiligen Neigungen als „ursprünglich gesetzgebend“36 erleben. Diese Gesetzgebung ist von prinzipiell anderer Art als diejenige, welcher die Naturwissenschaften nachgehen. Gleichwohl sucht Kant, wie vor ihm Spinoza und Rousseau, nach einer normativen Ordnung, die über Standards für Objektivität und Verallgemeinerbarkeit verfügt, die denjenigen der Naturwissenschaften zumindest formal ähneln. Unter dem Faktum der Vernunft ist die Manifestation des moralischen Gesetzes im Bewusstsein zu verstehen. Kant zufolge bedarf es keiner weiteren Ableitungen oder Vermittlungen, um sich seiner Geltung in der Alltagserfahrung zu versichern. Auch derjenige, der sich moralischen Verpflichtungen entziehe, sei im Regelfall fähig, schlechte Handlungen und eigene Verantwortlichkeit zu erkennen. Dieses moralische Wissen komme dadurch zustande, dass das moralische Gesetz der sinnlichen Natur von Personen „die Form einer Verstandeswelt“37 verschaffe. Kant spricht in diesem Zusammenhang deshalb von einer Tatsache, weil wir es mit einer Gesetzmäßigkeit zu tun haben, die dem moralischen Bewusstsein der Form nach gegeben sei. Es dränge sich uns „als synthetischer Satz a priori“ formaliter auf, und man müsse es „nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft […] herausvernünfteln“.38 Das Faktum der Vernunft sei Bedingung der Möglichkeit praktischer Vernunft und bringe „aus diesem merkwürdigen Grunde“39 eine moralische Wirklichkeit hervor, auf die sie sich selbst beziehe. Das Faktum der Vernunft verflüchtigt sich keineswegs in moralphilosophischer Abstraktion. Es ist vielmehr der phänomenal greifbare Ausdruck der

36  Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 42 (AA V, 31). 37  Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 59 (AA V, 43). 38  Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 42 (AA V, 31); vgl. ebd., 142 (AA V, 105): „Andere Dinge, außer den Sinnenwesen, sind uns aber zur Wahrnehmung und Beobachtung nicht gegeben. Also blieb nichts übrig, als daß etwa ein unwidersprechlicher und zwar objektiver Grundsatz der Kausalität, welcher alle sinnliche Bedingung von ihrer Bestimmung ausschließt, d. i. ein Grundsatz, in welchem Vernunft sich nicht weiter auf etwas anderes als Bestimmungsgrund in Ansehung der Kausalität beruft, sondern den sie durch jenen Grundsatz schon selbst enthält, und wo sie also, als reine Vernunft, selbst praktisch ist, gefunden werde. Dieser Grundsatz aber bedarf keines Suchens und keiner Erfindung; er ist längst in aller Menschen Vernunft gewesen und ihrem Wesen einverleibt, und ist der Grundsatz der Sittlichkeit.“ 39  Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 90 (AA V, 66).

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Autonomie praktischer Vernunft im Bewusstsein von Personen.40 Mit dem Faktum gehen Kant zufolge konkretes moralisches Wissen und eine normative Ordnung mit eigenen Formen der Verbindlichkeit einher. Personen können diese Ordnung missachten, es ist ihnen aber nicht möglich, etwas als moralisch geboten umzudeuten, was dem moralischen Gesetz widerspricht. Das moralische Wissen baut auf einer „Ordnung der Begriffe in uns“41 auf. Unabhängig von den faktischen Verläufen der jeweiligen Handlungsvollzüge zeichnet sich im Gewahrwerden von moralischen Anforderungen und Ansprüchen der Raum moralischer Gründe ab. Kant spricht diesen Sachverhalt mit dem Begriff der Freiheit an. Für ihn ist „Freiheit (…) die ratio essendi des moralischen Gesetzes“. Allerdings sei es das moralische Gesetz als „ratio cognoscendi der Freiheit“,42 das uns das Verständnis unserer Freiheit überhaupt erst zugänglich mache. Diesem Verständnis könne sich auch derjenige nicht entziehen, der das moralisch Gebotene unterlässt: „Er urteilet also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre.“43 Praktische Vernunft ist die normative Quelle von Handlungsgründen, die für alle Personen – unabhängig von ihren spezifischen Neigungen – moralisch maßgebend ist. Während jedes Ding der Natur nach Gesetzen wirke, auf die sich die naturwissenschaftliche Forschung richtet, habe eine Person – und eben nur eine solche – „das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien zu handeln“.44 Das moralische Gesetz erweist sich insofern als Bestimmungsgrund praktischer Selbstverhältnisse. Anders als es in missverständlichen Formulierungen der dritten Antinomie und ihrer Auflösung zuweilen den Anschein hat, ist für Kant Kausalität durch Freiheit als Autonomie konkret bestimmt – nicht etwa indeterminiert. Sein Autonomiegedanke wird von Notwendigkeiten getragen, welche uns die praktische Vernunft vorschreibt.45 Die Ordnung der Begriffe im Raum moralischer Gründe bildet den Rahmen für die wechselseitigen Bezüge der Bewertungsperspektiven von erster, zweiter und dritter Person. Moralische Handlungen werden in der Perspektive der ersten Person in einer Weise vollzogen, die diskursiv beziehungsweise dialogisch mit einer zweiten Person rechtfertigungsfähige Mitteilbarkeit auch für nicht anwesende dritte Personen ermöglicht. Diese inferenzielle Struktur hat Kant 40  Siehe Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 57 (AA V, 42). 41  Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 40 (AA V, 30). 42  Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 4 (AA V, 5). 43  Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 40 (AA V, 30). 44  Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 34 f. (AA IV, 412). 45  Siehe Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 39 (AA V, 29 f.).

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im kategorischen Imperativ formelhaft verdichtet. Moralische Einstellungen und Verhaltensweisen beruhen demnach nicht auf einsamen Entscheidungen. Sie sind Resultat von Überlegungen, in denen der eigene Standpunkt, der des Anderen und der aller Anderen gleichermaßen Berücksichtigung finden sollen. Der kategorische Imperativ fordert diese Rücksichtnahme bei der Umsetzung eigener Lebensregeln ein. Denn eine Person sehe sich zu Recht als Zweck an sich selbst und sei sich auch zugleich darüber im Klaren, dass alle anderen Personen genauso ein Verständnis von sich als Zweck an sich selbst hätten.46 Der kategorische Imperativ erzeugt ethische Objektivität nicht durch die Bereitstellung eines Kanons von Geboten, sondern durch normative Einschränkungen von Handlungsoptionen, durch die ein Zug zur Objektivität entsteht.47 Die Einschränkungen folgen formalen Gesetzmäßigkeiten – wie etwa im Fall der Verletzung von Gegenseitigkeitsverhältnissen. Kant hebt ausdrücklich hervor, dass bereits die Form des moralischen Gesetzes die Quelle von normativen Festlegungen ist. Die konstitutive Rolle formaler Bestimmungen ist im neokantianischen Konstruktivismus herausgearbeitet worden. John Rawls vergleicht die formalen Anforderungen des kategorischen Imperativs mit arithmetischen Regeln,48 und für Christine Korsgaard ist die intrinsische Struktur einer guten Lebensregel die Quelle ihrer Normativität.49 Weil moralische Aussagen über nomologische Formen verfügen oder solche annehmen können, sind sie geeignet, auf normative Problemstellungen zu reagieren. Faktum der Vernunft und moralisches Gesetz erweisen sich insofern als grundlegende Bestimmungen einer Konzeption ethischer Objektivität, die als nomologischer Realismus bezeichnet werden kann. Es kennzeichnet den nomologischen Realismus, dass er strukturelle Elemente sowohl einer internalistischen Position als auch einer externalistischen Position aufweist. Sein Internalismus besteht zum einen darin, dass er der Willensbestimmung moralischen Bewusstseins eine entscheidende Rolle bei der Konstitution des moralischen Standpunkts einräumt. Zum anderen verzichtet er auf Reifizierungen moralischer Tatsachen – etwa in der Gestalt von ideellen Objekten oder Werten. Das Festhalten an ethischer Objektivität und moralischem Wissen macht den nomologischen Realismus zu einer 46  Siehe Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 54 f. (AA IV, 428 f.). 47  Der Ausdruck „Zug zur Objektivität“ geht auf Quines Formulierung „pull toward objectivity“ zurück; siehe Quine (1960), 5 ff. In sachlicher Hinsicht gibt es keine unmittelbaren Berührungspunkte zwischen Kants Konzeption ethischer Objektivität und Quines naturalistischen Revisionen. 48  Siehe Rawls (1993), 102 f. 49  Siehe Korsgaard (1996), 108 f.

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Version des Externalismus. Der Unterschied zu nicht-externalistischen beziehungsweise anti-realistischen Ansätzen fällt gering aus, zumal auch diese moralisches Wissen nicht grundsätzlich ausschließen und richtige Antworten auf moralische Fragestellungen zulassen.50 5

Bestirnter Himmel und moralisches Gesetz

Eine Person hat dem nomologischen Realismus zufolge ihr Leben in einer Welt zu führen, in der die Gesetzmäßigkeiten des Raums der Ursachen und des Raums der Gründe herrschen. Von dieser Welt spricht Kant im Beschluss der Kritik der praktischen Vernunft. In der prominentesten Passage seiner praktischen Philosophie heißt es, dass zwei Dinge „das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht“ erfüllten, „je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Wird die Formulierung vom bestirnten Himmel über mir und dem moralischen Gesetz in mir nur für sich betrachtet – was innerhalb und außerhalb der Philosophie noch immer die Regel ist – scheint Kant hier nur wieder auf das Resultat der Auflösung der dritten Antinomie zurückzukommen. Die orthodoxe Verkürzung blendet den Nachsatz aus, mit dem Kant die dichotomischen Strukturen der Auflösung aufhebt und so den entscheidenden Bezugspunkt für die Konzeption des nomologischen Realismus bereitstellt. Nach der berühmten Formulierung vom bestirnten Himmel über mir und dem moralischen Gesetz in mir heißt es: „Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwänglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz.“51 Zum Abschluss seiner Ethik stellt Kant endlich einen nachvollziehbaren Zusammenhang des Raums der Ursachen und des Raums der Gründe – damit auch der Naturkausalität und Kausalität durch Freiheit – mit der Praxis des Selbstbewusstseins her. Die Person existiert denkend: Sie denkt über das nach, was ihr als Person gegeben ist – der bestirnte Himmel über ihr und das moralische Gesetz in ihr. Diese Gegebenheiten erlebt sie im Fortgang ihrer Reflexionen als Erhabenes, das ihr Hinweise auf ihre Stellung in der Welt gibt.52 Kant verweist dieses Erlebnis nicht in eine noumenale Welt. Die selbstbewusste Person hat die Entdeckungen der Naturwissenschaften und der Ethik förmlich vor 50  Zur schwachen Lesart realistischer Positionen siehe Korsgaard (1996), 34 ff. 51  Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 215 (AA V, 161 f.). 52  Siehe Kant, Kritik der Urteilskraft, 136–143 (AA V, 266–271).

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Augen und verbindet Naturkausalität und Kausalität durch Freiheit in ihrem Selbstbewusstsein. Kant hebt hervor, dass wir es mit Sachverhalten zu tun haben, die nicht unsichtbar oder verdunkelt, sondern im Phänomenbereich der Alltagserfahrung zugänglich seien. Zumindest in den Eingangspassagen des Beschlusses begegnet uns kein Nebeneinander von empirischem und noumenalem Charakter, sondern eine aktive und selbstbewusste Person, die sich gleichzeitig und gleichermaßen zu naturwissenschaftlicher und ethischer Objektivität verhält. Moralische Gründe und Handlungen sind genauso Bestandteile ihrer Welt wie Dinge und Ereignisse. Sie unterliegen unterschiedlichen Formen von Gesetzmäßigkeit, zu denen sich eine Person entsprechend verhält. Im Raum moralischer Gründe nehmen normative Einschränkungen die Gestalt einer Art „grammar of conduct“53 an, mit der die vielfältigen natürlichen und sozialen Variablen menschlicher Verhaltensweisen auf prinzipiell nachvollziehbare, gegebenenfalls begründbare und in Teilen vorhersagbare Handlungen eingegrenzt werden können. Solche Handlungen können mit dem Prädikat „frei“ belegt werden. Sie erfüllen die Erwartungen, die endliche, fallible und selbstbewusste Personen in dieser Welt mit Kausalität durch Freiheit verbinden dürfen. Literaturverzeichnis Ameriks, Karl (2000), Kant and the Fate of Autonomy: Problems in the Appropriation of the Critical Philosophy, Cambridge. Ameriks, Karl und Sturma, Dieter (Hg.) (2004), Kants Ethik, Paderborn. Frank, Manfred (1991), Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis: Essays zur analytischen Philosophie der Subjektivität, Stuttgart. Hampshire, Stuart (1959), Thought and Action, London. Hampshire, Stuart (1983), Morality and Conflict, Cambridge, Mass. Henrich, Dieter (1966), „Fichtes ursprüngliche Einsicht“, in: Dieter Henrich/Hans Wagner (Hg.), Subjektivität und Metaphysik, Frankfurt/M., 188–232. Kant, Immanuel (1999; 11785), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [GMS], Hamburg. Kant, Immanuel (2003; 11788), Kritik der praktischen Vernunft [KpV], Hamburg. Kant, Immanuel (1998; 11781), Kritik der reinen Vernunft [KrV], Hamburg. Kant, Immanuel (2001; 11790): Kritik der Urteilskraft [KU], Hamburg. Kant, Immanuel (1968), Werke (Akademieausgabe), 9 Bände [AA], Berlin. Korsgaard, Christine M. (1996), The Sources of Normativity, Cambridge. 53  Hampshire (1983), 92.

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Ethische Freiheit, Autonomie und Selbstbewusstsein bei Kant mit einem Ausblick auf Fichte Klaus Düsing Freiheit wird dem Menschen in vielfältigen Bedeutungen zugeschrieben. Freiheit wird ihm gerade heute aber ebenso in vielfältiger Weise abgesprochen; dabei ist mehrfach nicht klar, in welcher Bedeutung denn Freiheit für den Menschen geleugnet wird. Hier soll nun diejenige hoch differenzierte, systematische Freiheitstheorie erörtert werden, die die folgenden Theorien des „Idealismus der Freiheit“, aber auch die Freiheitsdebatten bis weit ins 20. Jahrhundert und z.T. bis heute bestimmt, die Freiheitstheorie Kants; und aus ihr sei die für den Menschen als Person und handelndes Subjekt zentrale Freiheitsbedeutung und -explikation hervorgehoben, die ethische Freiheit, von der in Kantischer Sicht die rechtliche Freiheit durch wesentliches Absehen von der inneren Motivation ein Abstraktionsprodukt darstellt und zu der die ästhetische Freiheit eine bildende Vorbereitung bedeutet. Die Wahlfreiheit bleibt im Unterschied zu diesen grundlegenden Freiheitsbedeutungen ein eigenes Problem; von Kant wird sie als echte Form von Freiheit geleugnet. – Kant befasst sich, was damals selten geschieht und sich gerade heute als besonders bedeutsam erweist, auch mit Theorien der Freiheitsbestreitung. Nur in der Zurückweisung solcher Freiheitsbestreitungen, die durchaus mehrfältig sein können, lässt sich – damals wie heute – eine grundlegende Theorie zentraler menschlicher Freiheit aufstellen und aufrechterhalten; und spezifische Argumente dieser Freiheitstheorie sind ex negativo durch die Abweisung jener Freiheitsbestreitungen geprägt. Kant hat im Laufe seiner langjährigen Überlegungen unterschiedliche Freiheitskonzeptionen entwickelt. So sei erstens aus Kants Reflexionen der siebziger Jahre und seinen Metaphysik-Vorlesungen aus ebendieser Zeit eine erste Freiheitstheorie in ihrer prinzipiellen Bedeutung charakterisiert, die frappierend auf Fichtes Lehre vorausweist. Dann sei zweitens nur kurz die bekannte Freiheitsantinomie der Kritik der reinen Vernunft skizziert und ausführlicher Kants Auflösung durch seine Phaenomena-NoumenaLehre dargelegt. Hierbei seien auch seine Überlegungen zu Varianten der Freiheitsbestreitung, zu deren Zurückweisung und zu deren Folgen für seine Freiheitstheorie berücksichtigt. Drittens seien Kants verschiedene Versionen des für die Person geltenden Verhältnisses von Sittengesetz und Freiheit in der

© koninklijke brill nv, leiden, 2019 | doi:10.1163/9789004383586_008

Ethische Freiheit, Autonomie und Selbstbewusstsein

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Grundlegung einerseits und in der Kritik der praktischen Vernunft andererseits mit der Zuspitzung auf die Frage der Endlichkeit sittlichen Selbstbewusstseins erörtert. Es bleiben Probleme offen, die nicht marginal sind und die, wie viertens skizziert sei, Fichte benennt und in einer eigenen Theorie von Freiheit, speziell von ethischer Freiheit und Selbstbewusstsein einer Lösung näherzubringen sucht. 1

Freiheit und reines Ich in Kants Konzeption der siebziger Jahre

Kant entwarf in den Jahren der Ausbildung der kritischen Wende, die nicht mit einem Mal erfolgte, eine Konzeption des Verhältnisses von Freiheit und reinem Ich, die eine erstaunliche Nähe zur Freiheitsauffassung des frühen Fichte aufweist, ohne dass dieser offenbar davon wissen konnte. Grundlegend ist hier für Kant, dass schon die reine Spontaneität oder Selbsttätigkeit des Ichs als solche Freiheit ist: „Freiheit ist eigentlich nur die Selbsttätigkeit, deren man sich bewusst ist“ (AA Bd. XVII, 462; Refl. 4220).1 Mit deutlicher Bezugnahme auf das reine Ich erklärt Kant: „Dadurch, dass das Subjekt libertatem absolutam hat, weil es sich bewusst ist, beweiset es, dass es nicht subjectum patiens, sondern agens sei […]. Wenn ich sage: ich denke, ich handele etc., dann ist entweder das Wort Ich falsch angebracht, oder ich bin frei.“2 Danach also bedeutet Freiheit in „absolutem“, grundlegendem Sinn reine Spontaneität oder Selbsttätigkeit des Ichs aus sich selbst heraus, und zwar des denkenden ebenso wie des handelnden Ichs oder Selbstbewusstseins. Eine für das Ich oder das Selbst wesentliche Spezifikation davon ist, was später noch wesentlich differenziert wird, die menschliche Willensfreiheit als Grundlage für eine selbstbestimmte Praxis. Kant erklärt: „Freiheit“ ist „eine vollständige Selbsttätigkeit des Willens […], ohne durch stimulos oder durch irgendetwas anderes, was das Subjekt affiziert, bestimmt zu sein“ (AA Bd. XVII, 464; Refl. 4225). Sie wird also in gänzlicher Unabhängigkeit von sinnlichen Begehrungen und Anreizen vom Ich, nämlich von dessen praktischem Vermögen, von dessen Willen realisiert. In dieser praktischen Hinsicht charakterisiert Kant den menschlichen Willen als weder in passiv-sinnlicher noch 1  Orthographie und Interpunktion werden jeweils normalisiert. 2  Kant (1821), 206 (s. AA Bd. XXVIII/1, 268 f.). Zuerst hat H. Heimsoeth umfassend und grundlegend diese und die folgenden Äußerungen und Reflexionen Kants aus den 70er Jahren und ihren metaphysischen Gehalt interpretiert; vgl. Heimsoeth (1956). – Vgl. auch Henrich (1960). Vgl. ferner Klemme (1996), 82–126. Vgl. ebenso Josifovic (2014), bes. 162–166, vgl. auch 138 ff. Vgl. auch unten Anm. 7.

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als in aktiv-intellektueller Weise determiniert;3 er ist vielmehr in beiderlei Hinsicht zu seinen Handlungen frei. Ganz anders als später erklärt Kant damals mehrfach, dass das Ich sich in dieser seiner Freiheit, sie sei nun ganz allgemein als Spontaneität oder spezifischer als Willensfreiheit bestimmt, intellektuell selbst anschaut. Vom reinen Ich in seiner Selbsttätigkeit sagt Kant: „Das Ich ist eine unerklärliche Vorstellung. Sie ist eine Anschauung, die unwandelbar ist“ (AA Bd. XVII, 465; Refl. 4225). Sie ist „unerklärlich“, weil sie selbst erstes Prinzip und Vorstellung von reiner Spontaneität ist, was vom denkenden und wollenden Ich gilt. Dessen Vorstellung ist eine unveränderliche „Anschauung“ seiner selbst. Diese kann nur intellektuell sein, wie Kant auch sonst in diesen Reflexionen und in der Metaphysik-Vorlesung hervorhebt: „Wir sehen uns durch das Bewusstsein unserer Persönlichkeit in der intellektualen Welt und finden uns frei. […] Unsere intellektualen Anschauungen vom freien Willen stimmen nicht mit den Gesetzen der Phaenomenorum“ (AA Bd. XVII, 467; Refl. 4228). Das Selbstbewusstsein der Person oder des Ich als zugehörig zur intelligiblen Welt und nicht zum Naturdeterminismus enthält wesentlich das Bewusstsein eigener Freiheit; und diese unmittelbare Selbstevidenz ist „intellektuale Anschauung“.4 Die Freiheit des Selbst in der noumenalen Welt gegenüber der naturdeterminierten phänomenalen Welt ist darin vorausgesetzt. Diese allgemeine Freiheit des Ich als Spontaneität konkretisiert sich in der Freiheit des Willens und Handelns, von der Kant hervorhebt: „Wir können eine Handlung von uns entweder betrachten als etwas, das geschieht, d.i. als Erscheinung, oder als etwas, das geschehen soll, d.i. als eine Anschauung der Selbsttätigkeit zu möglichen Wirkungen“ (AA Bd. XVII, 508 f.; Refl. 4334); und diese Anschauung des Ich von seinem spontanen intelligiblen Ursachesein, das von sich aus kausale Wirkungen hervorbringt, kann nur intellektuell sein. Dies geht aus der weiteren Äußerung Kants hervor: „Die Wirklichkeit der Freiheit können wir nicht aus der Erfahrung schließen. Aber wir haben doch nur einen Begriff von ihr durch unser intellektuelles inneres Anschauen (nicht 3  Vgl. AA Bd. XVII, 465 (Refl. 4226). Die rein intellektuelle Determination des Willens wird später zum sog. „intelligiblen Fatalismus“ (Carl Christian Erhard Schmidt) führen, den Kant für den Menschen ablehnt (vgl. AA Bd. VI, 226); vgl. auch Kants generelle Kritik am Fatalismus und Determinismus in der Schulz-Rezension, AA Bd. VIII, 10–14. 4  Eine Anschauung des Intellektuellen gibt es nach Kant dagegen in der Dissertation von 1770 für uns nicht, sondern nur – wie bei Crusius – eine symbolische Erkenntnis von Inhalten der intelligiblen Welt (vgl. § 10, AA Bd. II, 396). Auch in Baumgartens Metaphysica findet sich in den Darlegungen zu „Libertas“ nichts Vergleichbares zur intellektuellen Anschauung. Für die Selbstevidenz des rein spontanen und freien Ich dagegen, das so in der Dissertation von 1770 nicht erörtert wird, nimmt Kant in diesen Reflexionen und in der Metaphysik-Vorlesung eine intellektuelle Anschauung an.

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den inneren Sinn) unserer Tätigkeit, welche durch motiva intellectualia bewegt werden kann“ (AA Bd. XVII, 509; Refl. 4336). Wirkliche Freiheit lässt sich also, wie Kant schon in den siebziger Jahren betont, nicht aus der Erfahrung gewinnen. Die Selbstevidenz des spontanen, speziell des wollenden Ich erhält das Bewusstsein seiner eigenen Tätigkeit nur durch intellektuelle Anschauung. Diese ist offensichtlich nicht die mystische, jenseitige Anschauung, die Kant damals und später ebenso wie der Philosophiehistoriker Brucker an Platon – ohne Absetzung von dessen Lehre gegen den Neuplatonismus – kritisiert; für das spontane und spezifischer für das wollende und handelnde Ich ist das unmittelbare Seiner-selbst-inne-Sein in dieser Selbstvorstellung klare, evidente Anschauung, aber weil das Ich hierin als freies nicht-sinnlich ist, eben eine derartige intellektuelle Anschauung. Kant konzipiert dieses Selbstverhältnis nicht – wie später und wie dann grundsätzlich Reinhold und differenzierend die deutschen Idealisten – nach dem Modell der expliziten, thematischen Subjekt-Objekt-Beziehung, sondern als unmittelbare selbstgegenwärtige Einheit. Es ist erstaunlich, wie viel Kant hier vom Ansatz des frühen Fichte über das selbsttätige und spezifischer das wollende Ich, über dessen Freiheit und dessen intellektuelle Selbstanschauung vorwegnimmt, ein Ansatz, der hier am Schluss noch näher skizziert sei. Anders als der frühe Fichte, der diese Äußerungen Kants offenbar nicht kannte, gibt Kant dieser intellektuellen Selbstanschauung des freien Ich eine metaphysische Deutung: „Ich ist die Anschauung einer Substanz“ (AA Bd. XVII, 572; Refl. 4493); oder das Ich „ist der einzige Fall, wo wir die Substanz unmittelbar anschauen können.“5 Daraus folgt für Kant, da diese Substanz nicht räumlichzeitlich, sondern immateriell und einfach ist, die Unsterblichkeit,6 traditionell: die Unsterblichkeit der Seele, in moderner Subjektivitätstheorie: des reinen Ich oder des reinen Selbstbewusstseins. Die intellektuelle Selbstanschauung des Ich, das sich in seiner Freiheit als Mitglied der intelligiblen Welt weiß, ermöglicht also nach Kants Auffassung – bis in die Mitte der siebziger Jahre – solche metaphysische Erkenntnis. Erst in der folgenden Zeit wird auch sie von Kant wie zuvor schon Kosmologie und Theologie in die kritische Erkenntnisrestriktion einbezogen. Die dargelegten früheren Reflexionen und Aussagen Kants enthalten aber bedeutungsvolle Bausteine zu einer nicht

5  Kant (1821), 133 (AA Bd. XXVIII/1, 226). 6  Diese erneute Bemühung um Unsterblichkeit der Seele, ein Problem, das zuvor in der Swedenborg-Abhandlung Kants Zurückhaltung hervorrief, dürfte durch das viel beachtete und auch von Kant rezipierte Werk von Moses Mendelssohn: Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele (1767) zumindest mit veranlasst sein.

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näher ausgeführten Theorie des spontanen und des wollenden, freien Ich und seiner Selbstanschauung. 2

Die Freiheitsantinomie und ihre kritische Auflösung

In der „Kritik der reinen Vernunft“ trennt Kant das reine „Ich denke“ oder die reine Apperzeption als Prinzip theoretischer Erkenntnis vom praktischreinen Subjekt und dessen Freiheit; einen Zusammenhang deutet Kant an (vgl. KdrV B 431 f.), entwickelt ihn aber nicht. Ferner weist er nun eine intellektuelle Anschauung als eine Vorstellungsmöglichkeit für uns zurück; sie gilt ihm nun – ohne Erörterung seiner früheren Auffassung – nur als göttliche oder als mystische Anschauung.7 Freiheit wird überdies in der „Kritik der reinen Vernunft“ systematisch zuerst in den Antinomien der Kosmologie erörtert, d.h. sie wird innerhalb einer metaphysischen Theorie dargelegt, die allerdings nur sehr schemenhaft an seine eigene frühere Freiheitsauffassung erinnert und der eine ebenfalls metaphysische Gegenposition, diejenige eines universalen Naturdeterminismus und –mechanismus entgegengesetzt wird. Unter den damaligen Philosophen der klassischen deutschen Philosophie oder des Idealismus der Freiheit setzt sich nur Kant ausführlicher mit unterschiedlichen Freiheitsbestreitungen auseinander, was ihm wohl heutige Aufmerksamkeit sichern dürfte und wodurch, wie sich noch zeigen soll, seine Freiheitsauffassung ex negativo mitgeprägt wird. Die Freiheitsantinomie und deren indirekte Beweise seien hier nur kurz aufgeführt. Die Thesis erklärt: Einiges geschieht nicht durch Naturkausalität (nach dem traditionellen Urteilsquadrat ein o-Satz, ein partikulär negatives Urteil), sondern: Einiges ist verursacht durch Freiheit (ein i-Satz, ein partikulär affirmatives Urteil). Die Antithesis erklärt in kontradiktorischem Gegenteil dazu: Es gibt keine Freiheit, alle Ereignisse als Naturereignisse sind nicht durch Freiheit erwirkt, d.h. kein Ereignis, nämlich Naturereignis geschieht aus Freiheit (ein e-Satz, ein universell negatives Urteil); denn alle Ereignisse als Naturereignisse sind streng determiniert (ein a-Satz, ein universell affirmatives

7  Kant hat sich nicht dazu geäußert, warum er diese frühere Auffassung der intellektuellen Anschauung des Ich verließ, welcher Fichte nahe steht. Ein Grund könnte sein, dass das Sittengesetz in der Formulierung des kategorischen Imperativs und damit die Autonomie und die Gesetzmäßigkeit der Freiheit nicht intuitiv-unmittelbar, sondern nur rational und in der Explikation diskursiv vorgestellt werden können. Zum Verhältnis von Kants früherer Freiheitstheorie zu seinen späteren Lehren sei noch der Hinweis erlaubt auf die Darlegung in Düsing (²2013), 211–235. – Zum Folgenden vgl. auch Düsing (2014).

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Urteil). So sind als Thesis und Antithesis jeweils ein o- gegen einen a-Satz oder ein i- gegen einen e-Satz kontradiktorisch entgegengesetzt.8 Der kosmologische Sinn wird deutlich in der Alternative, dass die zeitliche Kausalkette von Wirkungen und Ursachen im Kosmos entweder als endlich gedacht wird und als abgeschlossen durch eine erste Ursache, deren Wirksamkeit nicht wieder durch ein anderes zeitliches Ereignis verursacht wird (Thesis) – oder dass die zeitliche Kausalkette ins Unendliche geht (Antithesis). Gemäß der Thesis muss also zwar eine kausale und zeitliche Reihe von Ursachen und Wirkungen konzipiert werden, nach der jeweils die Wirksamkeit einer Ursache zeitlich beginnt und kausal durch eine zeitlich vorangehende Ursache erwirkt wird. Aber nach dem Satz vom zureichenden Grund kann diese Reihe einander subordinierter Ursachen nicht ins Unendliche gehen, da dann kein zureichender Grund für die Wirksamkeit einer zeitlichen Ursache, an welcher Position in der Reihe auch immer, vorhanden wäre. Also muss es einen ersten zureichenden Grund geben, der als Selbstanfang und zeitlos die zeitliche Reihe von Ursachen und Wirkungen spontan hervorbringt. Diese erste Ursache der Thesis muss dann eine göttliche sein, die aus Freiheit Wirkungen hervorbringt, ohne durch zeitlich vorhergehende Ereignisse dazu bestimmt, ja nezessitiert zu sein. Menschliche Freiheit wird erst in einem zweiten Argument erörtert. Wenn eine erste, frei handelnde, göttliche Ursache zeitliche Wirkungen hervorbringen kann, ohne durch vorherige Ursachen dazu bestimmt zu sein, so ist dies auch innerhalb des zeitlich-natürlichen Ablaufs möglich. So kann prinzipiell auch ein Mensch im zeitlichen Naturablauf aus Freiheit Wirkungen hervorbringen; die Verknüpfung zu vorherigen Ereignissen ist dann lediglich quantitativ-serielle Sukzession, nicht Kausalität. Nur dies soll Kants Beispiel zeigen, dass ich mich jetzt „frei“ und nicht naturkausal gezwungen vom Stuhl erheben kann, obwohl diese Handlung in der Sukzession der Zeitreihe erfolgt (vgl. KdrV B 478). Die Antithesis argumentiert, dass gerade alles zeitliche Geschehen jeweils erwirkt wird durch eine vorangehende Ursache, deren Erwirken ebenfalls in der Zeit geschieht, die also nicht immer war, für welches Ursacheereignis eine weitere Ursache wirksam sein muss, die ebenfalls in der Zeit eintritt usf. ins Unendliche; nirgends ergibt sich eine erste, freie Ursache. Diese Argumentation folgt der physikalischen Erfahrung. Sie erkennt zwar keinen ersten zureichenden Grund, durchbricht aber nicht die erfahrbare Reihe der zeitlichen Kausalkette durch Selbstanfangsursachen wie nach dieser 8  Vgl. KdrV B 472 f. und in der Preisschrift von 1793 zusammen mit der Auflösung: AA Bd. XX, 291. – Die Beweise erfolgen bei Kant im Einzelnen jeweils „apagogisch“, d.h. indirekt durch Widerlegung des Gegenteils.

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Auffassung die Thesis. Die Annahme einer welttranszendenten göttlichen, freien Ursache wäre zwar denkbar, aber – nach dieser Position – eine sinnlose „Anmaßung“ (KdrV B 479). Hierin liegt zugleich der metaphysische Charakter auch der Antithesis. Sie statuiert, dass die vollständig bestimmende und nezessitierende Wirksamkeit von zeitlich eintretenden, insofern auch physikalisch erfahrbaren Ursachen in ihrer unendlichen Zeitreihe die einzige Kausalart ist, die es im Kosmos gibt; es gibt keine andere, also auch keine Freiheit. Doch sind die Freiheitsbegriffe, die in Thesis und Antithesis angesetzt werden, je nach Systemkontext, der auch auf historischen Voraussetzungen beruht,9 jeweils verschieden. Für die Antithesis bedeutet die von ihr abgelehnte Freiheit, die den gesetzmäßig, nämlich deterministisch bestimmten Naturablauf einfach unterbricht, im Wesentlichen Gesetzlosigkeit. Für die Thesis dagegen bedeutet Freiheit: Erste-Ursache-Sein, Kausalität als Selbstanfang, die als solche zwar durchaus im Verhältnis von Ursache und Wirkung gesetzmäßig erfolgt, aber nicht den zeitlichen, wohl jedoch den naturkausalen Zusammenhang unterbricht. Auf der Ebene der von Thesis und Antithesis zugrunde gelegten metaphysischen Realität des Räumlichen und Zeitlichen als der Realität des Kosmos lässt sich dieser Widerstreit nicht auflösen – sowenig wie der heutige zwischen Indeterminismus als Freiheitstheorie und Determinismus als Naturkausalitätstheorie; sie bleiben inkompatibel. Eine Lösung wird nur möglich durch die traditionsreiche, für Kant aber spezifisch transzendentalidealistische, nämlich in unseren Erkenntnisvermögen fundierte Unterscheidung von Phänomena und Noumena.10 Dann zeigt sich generell, 9   Vgl. hierzu Heimsoeth (1966). – Es dürften für Kant hinsichtlich der göttlichen Ersten Ursache der Thesis die Lehren von Anaxagoras, auch von Aristoteles und die Schöpfungstheorie im Hintergrund stehen, für die Antithesis die Lehren von Epikur, Lukrez, ebenso von Spinoza nach damaliger Auffassung und aus Kants Gegenwart von Holbach und Lamettrie oder von Fatalisten. 10  Kant nimmt diese Unterscheidung schon in der Dissertation von 1770 und in Reflexionen etwa aus dieser Zeit von Platon auf. Dieser sah die sinnliche Welt als bloßen Schein an und konzipierte die noumenale oder intelligible Welt der Ideen ontologisch als Welt des eigentlichen an sich Seienden. So setzte sich diese Unterscheidung durch die Jahrhunderte des Platonismus fort. Auch Leibniz nahm sie auf und bestimmte die Sinnenwelt, wiewohl Bereich der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse des Räumlichen und Zeitlichen, als wohlfundierten Sinnenschein, die Welt der Noumena, der einfachen Monadensubstanzen, dagegen ontologisch als die wahre Welt, die durch Vernunft erkannt wird. So gelangte diese Unterscheidung zu Kant, der sie zuerst – in der Dissertation von 1770 – wenn auch mit gewissen Abweichungen von Leibniz ontologisch verstand. In der Kritik der reinen Vernunft wird diese Unterscheidung erkenntniskritischsubjektiv zur Theorie zweier „Aspekte“ desselben Gegenstandes, des anschaubaren und erkennbaren Sinnendings, aber nur als Erscheinung, und des ihr zugrunde liegenden,

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dass Freiheit als unzeitlich anfangende, intelligible Kausalität zu den Noumena als reinen Gedankendingen gehört, die für uns unerkennbar bleiben, und dass raumzeitliche Naturkausalität ihr genuines Gebiet in den Phänomena, in den bloß erscheinungshaften, aber für uns sinnlich-anschaulich fundierten, empirisch-realen Bewusstseinsgegebenheiten hat. Durch diese Ebenenunterscheidung lässt sich ganz allgemein darlegen, dass Freiheit als intelligible Kausalität in der Sphäre der Noumena gedanklich widerspruchsfrei mit der raumzeitlichen Naturkausalität in der Sphäre der Phänomena verbindbar ist. So wandelt sich in dieser Auflösung der Antinomie die logischkontradiktorische Entgegensetzung in ein subkonträres Verhältnis, da Freiheit und Naturkausalität nicht von bedeutungsgleichen Subjekten, sondern zum einen von Noumena-Subjekten, zum anderen von Phänomena-Subjekten gelten.11 Diese generelle Auflösung der dritten Antinomie scheint nun aber speziell beim Menschen auf Schwierigkeiten zu stoßen. Für seine Entscheidungen und Handlungen können doch nicht zwei konfligierende Ursachen, eine intelligible, freie und eine natürlich-determinierende angenommen werden. Kant unterscheidet nun beim Begriff des „Charakters“ als der konstanten Weise eines Subjekts zu handeln einen „empirischen Charakter“ von einem „intelligiblen Charakter“ (vgl. KdrV B 567 ff.), freilich ohne nähere Untersuchung zur Einheit des Subjekts oder der Person. Der empirische Charakter, den wir jeweils von uns selbst und voneinander durch Erfahrung kennen, ist eine nach Kant zeitlich und naturkausal konstant bleibende Weise zu entscheiden und zu handeln. Er wird durch Veranlagung oder nach heutiger Auffassung: genetische Ausstattung, durch Erziehung, soziale Einflüsse und Umstände sowie durch eigene psychische Besonderheiten gebildet. Alle diese Bestimmungen des empirischen Charakters aber unterliegen nach Kant – dem Modell nach – der strengen Naturkausalität oder dem Naturdeterminismus. Er gilt als Erfahrungsparadigma für genetisch-biologische, soziologische, pädagogische aber uns unerkennbaren Dinges an sich als ens rationis. Dieser Unterschied wird somit von Kant nicht ontologisch oder metaphysisch, sondern erkenntniskritisch begründet. Andeutungsweise schon in der Auflösung der dritten Antinomie, deutlicher dann in Grundlegung und Kritik der praktischen Vernunft spricht Kant – unter Aufrechterhaltung der kritischen Restriktion – wieder von Sinnenwelt und Verstandeswelt; in diese letztere und nicht in ein leeres Ding an sich versetzt sich das sittliche Selbst und stellt damit ein „Postulat“, d.i. einen theoretischen, aber unerweislichen Satz über eine als existent gedachte intelligible Welt und deren Kausalität, die Freiheit auf, somit theoretisch restriktiv und nur aus sittlich-praktischen Gründen entworfen. – Ich danke Jörg Noller für seinen Hinweis in privaten Diskussionen im Anschluss an meinen Vortrag zu der geradezu universalgeschichtlichen Bedeutung von Phänomena und Noumena. 11  Vgl. dazu in der Preisschrift von 1793: AA Bd. XX, 291 (s.o. Anm.8).

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oder psychologische Einwände gegen Freiheit. So kann etwa die boshafte Lüge eines wenig moralischen Charakters, die Kant als Beispiel bringt, prinzipiell durch solche natürlich-determinierenden Ursachen erklärt werden; nach Kant könnten wir, wenn wir alle offenen und verdeckten Motive und Einflüsse kennen würden, das Verhalten eines Menschen hinsichtlich seines empirischen Charakters „wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis“ vorausberechnen.12 Der Naturdeterminismus ist in Bezug auf menschliche Entscheidungen und Handlungen nach Kant jedoch lediglich ein regulatives Erklärungsmodell, das nur sehr selten vollständig erfüllbar ist; zumeist bleiben Erklärungslücken hinsichtlich der biologischen, pädagogischen oder sozialen Einflüsse sowie dunkler psychisch treibender Kräfte. Die Erklärung der Handlungen des empirischen Charakters folgt nach Kant dennoch prinzipiell dem Modell der deterministischen newtonschen Physik. Zwar kennt Kant auch statistische Berechnungen von Verhaltensweisen (vgl. AA Bd. II, 111); aber sie liefern davon keine definitiven natürlichen Erklärungen und Erkenntnisse. Für Kant kann nun aber der so in seinem empirischen Charakter bestimmte Mensch gleichwohl als frei angesehen werden. Es ist kein richtiger „disjunktiver Satz“, dass etwas „entweder aus Natur oder aus Freiheit“ (KdrV B 564) geschehe. Diese Disjunktion gilt nur in objektivistischer Metaphysik; und wenn Erscheinungen in Raum und Zeit für „absolute Realität“ (ebd.) gehalten werden wie z.B. auch im Spinozismus, dann hat ausschließlich der Naturdeterminismus Gültigkeit, und „die Freiheit“ ist „nicht zu retten“ (ebd.). Werden aber wie im transzendentalen Idealismus Dinge an sich von Erscheinungen erkenntnistheoretisch grundsätzlich unterschieden, dann lässt sich für Geschehnisse in der Sinnenwelt, die als solche naturkausal zu erklären sind wie z.B. die boshafte Lüge, durchaus eine den Erscheinungen zugrunde liegende und die zeitliche Kausalverknüpfung nicht aufhebende intelligible, nämlich freie Kausalität als Selbstanfang annehmen. Sie ist dann auch im Bewusstsein des Handelnden vorhanden als apodiktische Forderung eines sittlichen Sollens, gegen das jene Lüge verstieß, die demgemäß intellektuell verurteilt und ggf. bereut wird; sie hätte nicht geschehen sollen. Theoretische Basis für eine solche Vereinbarung von Natur- und Freiheitskausalität ist außer der Unterscheidung der Ebenen von Phänomena und Noumena die Kantische Lehre, dass Ursache und Wirkung durchaus auch ungleichartig sein können (vgl. KdrV B 201 Anm.), so dass eine sinnlich erfahrbare, naturkausale Wirkung konsistent auf einer andersartigen, nämlich intelligiblen, freien Ursache beruhen kann; und so muss es bei auf freier Entscheidung beruhenden Handlungen 12  KdpV, 177, vgl.173 f. (ähnlich KdrV B 578). Zum Beispiel der „boshaften Lüge“ vgl. KdrV B 582 f.

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sein, die bestimmte zeitliche Wirkungen in der Sinnenwelt hervorbringen. – Es ist damit aber nur die Denkbarkeit der Freiheit auch angesichts lückenloser Naturkausalität und die mögliche Vereinbarkeit von Kausalität aus Freiheit und Naturkausalität auch beim Menschen erreicht; ob Freiheit für den Menschen wirklich ist, bleibt zunächst noch offen.13 Dies zeigt Kant dann in seiner praktischen Philosophie. 3

Verhältnisse von Sittlichkeit und Freiheit

In der Grundlegung und in anderer, zugespitzter Weise später in der Kritik der praktischen Vernunft weist Kant auf, dass Freiheit nicht nur – wie für ihn früher – allgemeine Spontaneität ist, die dann spezifiziert werden kann, sondern grundlegend spontane, intelligible Kausalität; und in dieser Bedeutung ist sie für den Menschen nur als sittliche Freiheit wirklich. Diese beruht schon nach der „Kritik der reinen Vernunft“ auf der „transzendentalen“ Freiheit (vgl. B 561) als intelligibler Kausalität, welche nun dem reinen Willen zugesprochen wird; und die transzendentale, apriorische Freiheit ist auch Grund der großenteils empirischen „psychologischen“ Freiheit (B 476), wie sie im alltäglichen, lebensweltlichen Sprachgebrauch vorkommt, die aber nur wahre Freiheit ist, sofern jene transzendentale in ihr als konstitutiver Bedeutungsbestandteil enthalten ist. Die praktische Freiheit ist nach Kant einerseits „negative“ Freiheit als Unabhängigkeit von fremden, insbesondere sinnlichen Ursachen, andererseits „positive“ Freiheit als intelligible Kausalität durch Selbstgesetzgebung oder „Autonomie“.14 Diese Freiheitsbegriffe werden von Kant klar unterschieden, aber nicht aus der Einheit des Selbst, speziell des sittlichen Selbst entwickelt. Die Grundlegung sucht nun definitiv zu zeigen, dass dem menschlichen spontanen Willen solche sittliche, negative und positive Freiheit wirklich zukommt. Dies steht im Kontext des Erweises, dass der kategorische Imperativ als synthetischer praktischer Satz a priori gerechtfertigt oder „deduziert“ wird 13   Ebenso lässt sich kein spezifisches Verhältnis des empirischen zum intelligiblen Charakter erkennen, da der intelligible Charakter und seine Freiheit unerkennbar bleiben; der empirische Charakter kann nur allgemein als das „sinnliche Zeichen“ oder als das „sinnliche Schema“ (KdrV B 574, 581, 584 f.) des intelligiblen Charakters aufgefasst werden. Hierüber geht Kant andeutungsweise schon in der Religionsschrift (1793) hinaus durch Kennzeichnung der Depravationsstufen des menschlichen Charakters; und deutlich expliziter geschieht dies mit eigenen Theorien später bei Fichte und insbesondere bei Schelling. – Zu Kants Reflexionen über empirischen und intelligiblen Charakter sowie über bewusste und unbewusste Motivationen vgl. Heimsoeth (1973). Zum Problem der Begreifbarkeit des Bösen insbesondere bei Kant vgl. jetzt Noller (2015). 14  Vgl. AA Bd. IV, 446 f., KdpV 58 f., auch KdrV B 581 f.

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(AA Bd. IV, 444 f., 447, 454), d.h. dass und warum das Sittengesetz als Prinzip der kantischen Ethik für den menschlichen Willen absolut gültig ist, so dass eine Frage wie: „Warum soll ich moralisch sein?“ schon als Frage erledigt ist. Zu den vielfältig in der Literatur erörterten Varianten, wie Kant dies zu leisten versucht,15 sei hier nur Folgendes skizziert: Kant setzt an beim Bewusstsein reiner Tätigkeit und Spontaneität, die jeder in sich finde und die in der Vernunft und ihrem Denken von Ideen eindeutig bewährt werde. Damit versetzt das rein und vernünftig denkende Selbst oder „Ich“ (AA Bd. IV, 451) sein Dasein in die intelligible Welt und wird in ihr als einer Welt individueller Intelligenzen, wie offenbar zu denken ist, ein Mitglied. In dieser intelligiblen Welt aber herrscht intelligible Kausalität, also Freiheit, die nicht gesetzlos ist, sondern wesentlich Gesetzmäßigkeit im Verhältnis von Ursache und Wirkung impliziert. Diese Gesetzmäßigkeit der Freiheit ist für den Willen des reinen, in der intelligiblen Welt existierenden Selbst als autonomes Wesen das Sittengesetz; und dieses ist für den vernünftigen, aber endlichen, zugleich sinnlich affizierten Willen ein apodiktisches Gebot. So entwickelt Kant im Ausgang von der reinen Spontaneität der Vernunft und ihres vernünftigen Denkens überhaupt, also noch unabhängig vom Sittengesetzbewusstsein, Freiheit und Sittengesetz sowie dessen Gültigkeit für uns. Das rechtfertigende Dritte in der synthetischen Verbindung von endlichem Willen und Sittengesetz ist hierbei die intelligible Kausalität als Freiheit. Doch liegen darin Probleme, die Kant offenbar motivieren, diesen Ansatz nicht beizubehalten.16 Zum einen ist zu endlichem Willen und Sittengesetz das verbindende und rechtfertigende Dritte die intelligible Kausalität, die Freiheit; diese aber, die erst die Gültigkeit des kategorischen Imperativs gewährleisten soll, ist in ihrer inneren Möglichkeit selbst unerkennbar. Zum anderen 15  Vgl. hierzu – mit Verweis auf viele frühere Forschungen u.a. zu dem teilweise ambivalent formulierten III. Abschnitt der „Grundlegung“, z.B. schon von Henrich (1960), Düsing (²2013), bes. 213–223. K. Ameriks’ Beitrag in diesem Band: „Kant on Freedom as Autonomy“ ist der hier im Folgenden vertretenen Auffassung durchaus ähnlich. Vgl. ebenso Ameriks (2000), bes. 69–77. Vgl. zu diesem Problem auch Allison (1990), bes. 214, 221–229. – Vgl. ferner die detaillierte Interpretation zu Kants Beweisversuch in der „Grundlegung“ von Bojanowski (2006), bes. 218–228. – Die von Kant einleitend in Grundlegung III erwähnte „Deduktion des Begriffs der Freiheit“ (AA Bd. IV, 447) ist kein Konkurrenzunternehmen zur Deduktion des Sittengesetzes, sondern ein Bestandteil darin. Durch den dann folgenden Gedanken, dass das Selbst sich in der intelligiblen Welt intelligible Kausalität zuschreibt, ist dort nach Kant auch erwiesen, dass es seinem vernunftgeleiteten Willen gerechtfertigt Freiheit zuschreiben kann; hier ist demnach der „Ort“ wirklicher Freiheit. Dieser Gedanke ist eingebaut in die „Deduktion“ des Sittengesetzes. 16  Schon in der Grundlegung gibt es Formulierungen kritischer Zurückhaltung; vgl. AA Bd. IV, 463 über die Unbegreiflichkeit der absoluten Notwendigkeit des Sittengesetzes.

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ist das Sich-Versetzen schon des rein und vernünftig denkenden Selbst überhaupt in seiner bloßen Spontaneität als daseiend in der intelligiblen Welt ein Schritt zu weit über die kritische Grenzlinie – gemessen an der ParalogismenArgumentation.17 Dies Sich-Setzen als Existenz in der intelligiblen Welt ist als grundsätzlich moralische Annahme nur dem sittlichen Selbst erlaubt. In beidem aber kann man Restbestände seiner früheren Konzeption von Spontaneität und Freiheit sowie von sittlichem Selbst und absoluter sowie praktischer Freiheit erkennen; in jener früheren Konzeption galt reine Spontaneität schon als absolute Freiheit; und das intellektuelle, spontane Selbst versetzt sich nach diesem Ansatz schon als solches in die intelligible Welt. Offenbar aufgrund dieser Probleme verlässt Kant den skizzierten Ansatz der Grundlegung wieder und erklärt in der Kritik der praktischen Vernunft, dass „an die Stelle dieser vergeblich gesuchten Deduktion des moralischen Prinzips“ auf der Grundlage der Freiheit, wie es in der Grundlegung versucht wurde, umgekehrt das Sittengesetz „zum Prinzip der Deduktion eines unerforschlichen Vermögens dient“ (KdpV 82), nämlich der Freiheit; die Annahme der Wirklichkeit der Freiheit für den endlichen Willen kann nur durch das Sittengesetz, nämlich durch das Bewusstsein des Subjekts vom Sittengesetz gerechtfertigt werden, nicht etwa aufgrund allgemeiner intellektueller Spontaneität und intelligibler Kausalität. Dann aber bleibt nur, von der ursprünglichen Überzeugung und Evidenz vom verpflichtenden, gültigen Sittengesetz auszugehen. Daher konzipiert Kant in der zweiten Kritik die Lehre vom „Faktum“ oder „gleichsam“ von einem „Faktum der Vernunft“ (KdpV 55 f., 72, 74, 81). Kant beruft sich auf dieses ursprüngliche Faktum der Vernunft als Einleuchten des verpflichtenden Sittengesetzes, weil man „das Bewusstsein dieses Grundgesetzes“ der Autonomie nicht aus „z.B. dem Bewusstsein der Freiheit […] herausvernünfteln kann“ (KdpV 56), was wohl ebenfalls – wie die vorige Stelle – als versteckte Selbstkritik anzusehen ist. So wird das Verhältnis von Sittengesetzbewusstsein und Freiheit neu bestimmt: Das Bewusstsein des Sittengesetzes geht nicht zeitlich, sondern als Bedingung voraus und ist die „ratio cognoscendi der Freiheit“ (KdpV 5 Anm.). Durch das Sittengesetzbewusstsein können wir uns allererst Freiheit des Willens zuschreiben; daraufhin aber 17  Das „Ego existo“ des Cartesischen „Cogito“ ist nach Kant nur ein inhaltlich unbestimmter empirischer Satz (vgl. KdrV B 422 f. Anm.). Für die reine Apperzeption, das reine „Ich denke“ aber als Prinzip der Urteilsfunktionen und der Kategorien ist die Hinzufügung der Existenz (‚ich existiere’) nicht erforderlich und bleibt, wenn sie geschieht, in theoretischer Hinsicht ein bloßer, leerer Gedanke. Nur durch das Bewusstsein des Sittengesetzes sowie der sittlichen Autonomie und Freiheit ist das reine moralische Selbst berechtigt, sich in dieser praktischen Hinsicht reine, insofern intelligible Existenz zuzuschreiben. Vgl. dazu auch Düsing (2013b).

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erweist sich die Freiheit als „die ratio essendi des Sittengesetzes“ (ebd.); das Sittengesetz wird im Bewusstsein des Selbst nur dadurch als absolut verpflichtend, aber prinzipiell auch als erfüllbar und nicht etwa als absurd verstanden, wenn das Selbst konzipiert, wirklich frei zu sein. In diesen unterschiedlichen Begründungsbedeutungen von Sittengesetzbewusstsein und Freiheit liegt die Vermeidung eines in der Grundlegung erwähnten Zirkels. Diese Lösung ist – verglichen mit derjenigen der Grundlegung – argumentativ bescheidener, hält aber die kritischen Grenzen ein. Doch nun kann man die Gültigkeit des verpflichtenden Sittengesetzes nicht mehr ostensiv beweisen, sondern muss vom „Faktum der Vernunft“ ausgehen. Demjenigen, der dies Faktum leugnet, kann man auch die Gültigkeit des Sittengesetzes nicht mehr demonstrierend aufweisen. Damit hängt ein weiteres Problem zusammen, nämlich dass Kant seine oben dargelegten früheren Überlegungen zu internen Grundbestimmungen des sittlichen Subjekts oder Selbstbewusstseins nicht in kritischer Weise weiterführt. Er bleibt bei der Autonomie des Willens mit dessen Sittengesetzbewusstsein stehen. Schließlich stellt – eher heute als damals – die Bestimmung der Freiheit als intelligible Kausalität ein Problem dar. Sie hängt mit der systematischen Grundlage der Kantischen Ethik zusammen, der transzendentalidealistischen Unterscheidung von Phänomena und Noumena.18 Für die Phänomena in Raum und Zeit gilt nach Kant als universales Modell von freilich nur regulativer Bedeutung der newtonsche Naturdeterminismus und Naturmechanismus; dieser gilt auch für Organismen oder für psychische oder sogar soziale Gegebenheiten; auch wenn von der reflektierenden Urteilskraft hier Zweckmäßigkeitsaspekte vorausgesetzt werden müssen, so sind solche Gegebenheiten doch nur erkannt, wenn für sie kausalmechanische Gesetze entdeckt werden. Diese gelten als so sicher wie z.B. diejenigen des Eintretens einer „Mond- oder Sonnenfinsternis“ (s.o., KdpV 177); damit werden die Phänomene nach Kant zwar nicht vollständig erfasst, doch so weit wie uns möglich nach dieser Gesetzlichkeit erkannt. Deshalb aber muss die Kausalität aus Freiheit als nichtmechanischer Erstanfang, somit als unzeitliche, als noumenale oder intelligible Ursache-Wirkung-Relation konzipiert werden. Diese Charakterisierung der Freiheit ist notwendig zur Absetzung von, ja zu diametraler Entgegensetzung gegen den Naturmechanismus in Raum und Zeit. Wird dagegen raumzeitliche Naturgesetzlichkeit nicht mehr nur streng mechanistisch verstanden, kann auch Freiheit, freilich in bleibender Unterscheidung von Natur, in einem reichhaltigeren psychisch-geistigen Stufenreich entfaltet werden. Wenn nämlich Freiheit und Naturkausalität keinen diametralen, polaren Gegensatz bilden, lassen sich solche stufenartigen Freiheits18  Vgl. hierzu auch oben Anm. 10.

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bedeutungen aufstellen. Schon in der instinktiven, einfachen Lebendigkeit beseelter Wesen gibt es Variationsbreiten des Nichtfestgelegtseins; darüber hinaus führt beim Menschen die reflexive Wahlfreiheit; höhere Stufen stellen die ästhetische Freiheit sowie die wesentlich die Person bestimmende ethische Freiheit und die von der inneren Gesinnung abstrahierende, aber idealiter in der ethischen Freiheit fundierte rechtliche Freiheit dar. Auch die höherstufigen Bestimmungen der Freiheit sind nur realisierbar durch die von Kant geforderte Zähmung bloß sinnlicher Bestrebungen und Antriebe; doch herrscht hier keine polare Entgegensetzung von Ursachearten oder gar von „Welten“.19 4

Ausblick auf die Freiheitslehre des frühen Fichte

Fichte konzipiert zuerst – im Zuge der damaligen an Kant anknüpfenden Freiheitsdebatte – die These, dass Freiheit zu sittlichen oder zu unsittlichen Handlungen nicht in sich widersprüchlich ist, da Freiheit in ihrer ganz allgemeinen Bedeutung über den Satz vom Grund – und vom ausgeschlossenen Dritten – hinausgeht. Sie ist dann allgemeine Selbsttätigkeit oder reine Spontaneität; und diese spricht Fichte dem „absoluten Ich“ zu. In dieser reinen Spontaneität des „absoluten Ich“ begründet er dann sittliche Freiheit, deren aktives Subjekt der Wille, genauer: das praktisch wollende Selbst ist.20 Das Ich weiß von sich, ist seiner unmittelbar gegenwärtig sowohl als allgemeinspontantes wie als sittliches Selbst in intellektueller Anschauung von sich selbst, die ein unmittelbares Bewusstsein des Selbst von sich und keine göttliche oder mystische Selbstanschauung ist. – Diese Auffassung steht derjenigen des frühen Kant, die Fichte offenbar nicht kannte, durchaus nahe. Auch für Fichte ist Spontaneität im allgemeinen Sinne schon Freiheit des Ich und praktisch-sittliche Freiheit eine Spezifikation davon; auch Fichte lehrt, dass die unmittelbare Selbstvorstellung des reinen und des praktischen Ich intellektuelle Anschauung ist.21 Fichte vertritt freilich nicht die metaphysische Auslegung, dieses Ich sei selbständige, einfache Substanz, da für ihn Substanz ein Gegenstandsterminus ist, der der reinen Aktivität, dem Tun oder der Tathandlung des Ich nicht gerecht wird. 19  Zur weiteren Ausführung sei der Hinweis erlaubt auf die Darlegung in Düsing (2005), bes. 169–185. 20  Vgl. hierzu und zum Folgenden die kurze zusammenfassende Darstellung (mit weiteren Literaturangaben) in Düsing (2006), bes. 117–121. 21  Vgl. zur intellektuellen Anschauung die große Übersicht in Tilliette (2015), zu Fichte bes. 55–73, 200–219. Vgl. überdies die präzisen Bestimmungen in Stolzenberg (1986).

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Fichte wendet sich auch gegen Kants Lehre vom Sittengesetzbewusstsein als „Faktum der Vernunft“, wie Kant es in der Kritik der praktischen Vernunft lehrt, nämlich sofern man dies als erstes und höchstes Prinzip versteht, an dem weitere Untersuchungen abzubrechen sind.22 Hier fordert Fichte eine weitere Erklärung der Gültigkeit dieses Prinzips durch eine „Deduktion“, die sowohl Ableitung als auch Rechtfertigung bedeutet. Das „Faktum der Vernunft“, sofern wir das Sittengesetzbewusstsein in unserem Erleben finden, leugnet Fichte nicht. Aber darin ist unser Sittengesetzbewusstsein als zeitliches Bewusstseins­ erlebnis nur „Erscheinung“, wie Fichte sagt. Es kommt darauf an, das diesem Erlebnis zugrunde liegende Prinzip a priori zu „deduzieren“, d.h. vor allem: in seiner Gültigkeit zu rechtfertigen; und dies geschieht bei Fichte – über Kant hinaus – in der Begründung des reinen Sittengesetzbewusstseins und Freiheitsbewusstseins in der prinzipiellen Struktur des endlichen praktischen Selbstbewusstseins. Die Durchführung dieser Argumentation fällt bei Fichte in der Sittenlehre von 1798 ziemlich formal aus. Er geht von dem durch Reinholds Satz des Bewusstseins23 in die idealistische Prinzipientheorie gelangten formalen Modell des Selbstbewusstseins als Subjekt-Objekt-Verhältnis aus, das ein Unterscheidungs- und Beziehungsverhältnis innerhalb der Identität des Ich ist; und er sucht daraus zunächst die Gesetzmäßigkeit von dessen Spontaneität und Freiheit zu eruieren, nämlich als Sittengesetz, das zuerst für das Individuum und dann für die Intersubjektivität gilt.24 Das bei Kant in der Kritik der praktischen Vernunft als unlösbar verbleibende Problem einer argumenterfüllten Rechtfertigung der Gültigkeit des Sittengesetzes für uns ist damit erhellend herausgestellt. Fichtes eigene Deduktion aber bleibt abstrakt, u.a. weil sie von einer zu einfachen, außerdem wenig entwicklungsfähigen Struktur von Selbstbewusstsein als monolithischer Subjekt-Objekt-Beziehung ausgeht. – Anders verhält es sich, worauf thesenartig am Schluss zur Weiterführung des Problems hingewiesen sei, wenn das Bewusstsein von allgemeinem Sittengesetz und von Autonomie nicht in einer starren, formalen Selbstbewusstseinsstruktur, sondern in inhaltlich sehr viel reichhaltiger bestimmten, stufenartig angeordneten „Selbstbewusstseinsmodellen“25 begründet wird, denen dann auch verschiedene Ebenen von Freiheitsbedeutungen zugeordnet werden können. 22  Vgl. Fichte (1962), 447 f. (auch im Folgenden), ferner 444, 417, 419 Anm. 23   Vgl. Reinhold (1963), 200, bes. 321: „Das Bewusstsein überhaupt besteht aus dem Bezogenwerden der bloßen Vorstellung auf das Objekt und Subjekt, und ist von jeder Vorstellung überhaupt unzertrennlich.“ 24  Zur ausführlichen Darlegung darf verwiesen werden auf Düsing, E. (1986), 179–289, bes. 260–272. 25  Hierzu sei der Hinweis erlaubt auf die Darlegungen in Düsing (1997), bes. 123–268 und Düsing (2005), bes. 129–185.

Ethische Freiheit, Autonomie und Selbstbewusstsein

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Teil 3 Debatten nach Kant



„Es giebt schlechterdings keinen Mittelweg zwischen Nothwendigkeit und Zufall, zwischen Determinismus und Indeterminismus“: Die unmittelbare Rezeption des Kantischen Freiheitsbegriffs in der Aetas kantiana Faustino Fabbianelli 1 Einleitung Die Aetas kantiana kann als die Denkschmiede betrachtet werden, in der das edle Metall von Kants Philosophieren verarbeitet bzw. weggeworfen wird. Hat der Schmied die Absicht, das ursprüngliche Metall umzugestalten, damit es besser und stärker wird, stehen ihm zwei Wege offen. Entweder er sucht es vor der Verunreinigung durch jedes andersartige Material zu schützen oder er vermischt das Metall mit anderen Materialien. In den Produkten, die dabei entstehen, verliert der Grundstoff manchmal an Gehalt, manchmal wird er angereichert. Nicht immer aber ist der Schmied von dieser positiven Absicht beseelt: Es kann auch geschehen, dass er das Metall des neuen Denkens als eine misslungene und deshalb unbrauchbare Legierung ansieht. Er wirft es demzufolge weg und versucht, neuartige Metalle zu produzieren. Zu verfolgen, wie die Arbeit des Schmieds jeweils vorangeht, mit welchen Werkzeugen er sein Vorhaben umsetzt und anhand welcher Verfahren er zum endgültigen Produkt gelangt, ist nicht immer einfach. Dabei sind mannigfaltige Variablen von Bedeutung. Die folgenden Überlegungen sind der Rekonstruktion einiger Momente der Werkstatt-Arbeiten der Aetas kantiana gewidmet. Es geht insbesondere darum, die Grundlinien der Debatten unter die Lupe zu nehmen, die der Herstellung des edlen Metalls der Freiheit zugrunde liegen. Man wird sehen, wie die Fertigung des Denkprodukts nur durch die Hinzunahme mannigfaltiger Elemente möglich wird.1

1  Zur Freiheitsdebatte innerhalb der Aetas kantiana vgl. auch die bahnbrechende Studie von Landucci (1994), bes. Kapitel 6 und 7.

© koninklijke brill nv, leiden, 2019 | doi:10.1163/9789004383586_009

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2 Aut-aut Eine aufmerksame Analyse der Diskussion über den Freiheitsbegriff innerhalb der Aetas kantiana lässt den Schluss zu, dass sowohl die Verfechter als auch die Gegner der neuen Transzendentalphilosophie sich aus verschiedenen Gründen in einem Punkt einig sind: Notwendigkeit und Zufall bilden eine Opposition, die kein Mittelglied hat. Man kann anders gesagt mit einer gewissen Plausibilität die These vertreten, dass den nachkantischen Auseinandersetzungen über die Freiheit eine Auffassung der Disjunktion zwischen Determinismus und Indeterminismus zugrunde liegt, die als ausschließend beurteilt werden muss. Es handelt sich dabei um ein exklusives Oder, das in der Logik durch die lateinische Formel aut-aut bezeichnet wird. Die Opposition zwischen Notwendigkeit und Zufall ist demzufolge nie falsch, weil die Aussagen, die die opponierenden Momente betreffen, entweder nie beide falsch oder nie beide wahr sind. Determinismus und Indeterminismus schließen sich demgemäß auf eine absolute Weise aus: Jede dieser Lehren kann nur wahr oder falsch sein, wenn die andere falsch oder wahr ist. Mit Bezug auf die Frage nach der Freiheit kann man demgemäß behaupten, dass praktisch alle Diskutanten der Meinung sind, Notwendigkeit und Zufall befänden sich in einer aut-aut-Opposition, die nur überwunden werden kann, wenn man anerkennt, dass der Zufall undenkbar ist. Diese These der aut-aut-Relation von Notwendigkeit und Zufall bzw. Determinismus und Indeterminismus hat zweifelsohne das Verdienst, einen zentralen Punkt hervorzuheben, der die Kontinuität zwischen gegensätzlichen Positionen markiert. In dieser Hinsicht kann man auf den Leibnizianer Johann August Heinrich Ulrich verweisen, der sich vornimmt, die Unleugbarkeit des genannten Gegensatzes zu zeigen: Entweder ist etwas vorhanden, das einmal den Grund der Anwendung des Freiheitsvermögens, ein andermal den Grund dessen Unterlassung enthält, oder nicht. „Im ersten Fall Nothwendigkeit, im andern Fall Zufall“.2 Beide sind kontradiktorisch entgegengesetzte Begriffe und tolerieren als solche kein drittes Glied neben sich.3 Ulrich dekretiert andererseits aber auch die Unmöglichkeit, den Zufall theoretisch zu denken, weil er als „ein Entstehen, ein Werden“ verstanden werden müsste, „welches keine entscheidenden Gründe hat“.4 Würde man die Existenz des Zufalls anerkennen, müsste man behaupten, dass „unter vollkommen denselben Umständen,

2  Ulrich (1788), § 12. 3  Vgl. Ulrich (1788), § 9, S. 21. 4  Ulrich (1788), § 12, S. 19.

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da etwas geschah, eben so gut das Gegentheil geschehen konnte“.5 Da dies undenkbar ist, muss man für den Determinismus und gegen den Zufall plädieren. Sieben Jahre später argumentiert der Kantianer Friedrich Carl Forberg auf eine ähnliche Weise, dass der Begriff des Zufalls „einen Widerspruch in sich schließt“: Er wäre eine Kraft, die kein Gesetz hat. In der Tat stellt der Zufall die Abwesenheit aller Kraft dar; er ist kein Etwas, sondern ein Nichts.6 Das Freisein kann nicht vom Begriff einer Kraft getrennt werden, die ein Gesetz hat, welches ihr die Gleichförmigkeit ihrer Handlungen vorschreibt. Gibt es also freie Kräfte, sind sie Gesetzen unterworfen, deren wesentliches Merkmal die Notwendigkeit ist.7 Die eben geschilderte aut-aut-These erläutert nicht nur die Einigkeit unter Leibnizianern und Kantianern deutlich. Sie bietet auch die Möglichkeit, die damit einhergehenden Begründungen voneinander zu trennen und somit den Determinismus der einen vom Determinismus der anderen zu differenzieren. Das Trennungsmoment besteht in dem, was Ulrich das Proton pseudos von Kants Transzendentalphilosophie nennt, d.h. die These, dass die Zeit bloß eine subjektive Form der Erscheinungen darstellt.8 Nimmt man in Widerspruch zu Kant an, dass der Determinismus diejenige Theorie ist, nach der alles, was geschieht, seine Gründe hat, muss man schließen, dass alle Erscheinungen notwendig sind. Das, was zu einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Umständen geschieht, konnte nicht ausbleiben oder anders sein. Seine objektiven Gründe erklären seine Ordnung und Notwendigkeit.9 Folgt man hingegen Kants Argumentation, der Begriff der Veränderung und die Rede von Anfangen und Aufhören eines Zustandes seien nur mit Bezug auf die Welt der Erscheinungen gültig, bietet sich die Möglichkeit, den Determinismus der sinnlichen Welt und den Determinismus der noumenalen Welt durch unterschiedliche Arten der Notwendigkeit zu definieren, je nachdem ob das regulierende Gesetz des jeweiligen Gebiets ein Natur- oder ein Sittengesetz ist. Auf diese Weise kommt man aber zu einem Determinismus der Notwendigkeit und einem Determinismus der Freiheit. Leonhard Creuzer kann aufgrund derartiger Überlegungen auf Kant verweisen, der in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten gezeigt habe, dass ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei ist, und dass deshalb die moralische 5  Ulrich (1788), § 12, S. 19. 6  Vgl. Forberg (1795), 51. 7  Vgl. Forberg (1795), 53. Eine Antwort auf Forberg stellt Bardili (1796) dar. 8  Vgl. Ulrich (1788), 33. 9  Ulrich (1788), 20–21.

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Freiheit wohl mit dem Determinismus einhergeht.10 Johann Heinrich Abicht bewegt sich im selben Fahrwasser; die Freiheit ist für ihn das Vermögen, „der alleinige Selbstgrund“ des menschlichen Wollens zu sein. Jede Art des Zufalls muss demgemäß widerlegt werden, somit auch die Auffassung, nach der die Freiheit im Vermögen der Wahl besteht, „die man, selbst unter gleich interessanten Sachen, welche das Zünglein der Willenswage senkrecht erhalten, anstellen könne“.11 Determinismus und Freiheit können nach Abicht wohl zusammengehen, wenn man bemerkt, dass die Freiheit in der Selbstbestimmung besteht, durch welche das Ich notwendig will, weil es innere Gründe besitzt.12 Kant selbst behauptet in der Religion mit Bezug auf die Opposition NotwendigkeitZufall, dass jede menschliche Handlung determiniert, jedoch nicht prädeterminiert ist. Die Schwierigkeit besteht anders formuliert nicht darin, den Determinismus mit der Freiheit zu vereinigen – „woran doch niemand denkt“; das Problem ist vielmehr, „wie der Prädeterminismus, nach welchem willkürliche Handlungen als Begebenheiten ihre bestimmende Gründe in der vorhergehenden Zeit haben (die mit dem, was sie in sich hält, nicht mehr in unserer Gewalt ist), mit der Freiheit, nach welcher die Handlung sowohl als ihr Gegentheil in dem Augenblicke des Geschehens in der Gewalt des Subjects sein muß, zusammen bestehen könne“.13 Dadurch anerkennt Kant gegen Ulrich, dass Naturnotwendigkeit und Freiheit zusammen bestehen, weil sie bezüglich zweier unterschiedlicher Gebiete prädiziert werden können; er gibt aber auch zu, dass der Begriff der Freiheit nicht im Indeterminismus bzw. im Zufall, sondern vielmehr in der absoluten Spontaneität besteht, die zwar ihre Bestimmungsgründe hat, welche sich aber jeder Erkenntnis entziehen. 3

Freiheit und Grund

Die Debatte über Determinismus und Indeterminismus hält fest, dass die freie Handlung nie grundlos ist. Sie erklärt aber nicht eindeutig, wie der Grundbegriff aufgefasst und welches Vermögen als frei betrachtet werden muss. Zu behaupten, dass die Freiheit nicht mit dem Zufall übereinstimmt, weil sie wesentlich mit einem Grund einhergeht, bedeutet noch nicht, eine Definition des Grundes sowie des menschlichen freien Vermögens zu liefern.

10  Vgl. Creuzer (1793), 143–144. 11  Vgl. Abicht (1789), 64–85, bes. 67. 12  Vgl. Abicht (1789), 68. 13   A A VI, 49–50.

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In dieser Hinsicht ist die Auseinandersetzung zwischen Kant und Reinhold sinnbildlich. Kant definiert in einem Brief an Reinhold vom 12. Mai 1789 den Grund als dasjenige, „wodurch etwas Anderes (Verschiedenes) bestimmt gesetzt wird (quo posito determinate ponitur aliud)“;14 Reinhold erklärt im ersten Band der Beiträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen ebenso den Grund als dasjenige, „wodurch ein anderes bestimmt gesetzt wird“.15 Im Gegensatz zu Kant, der den Begriff des Grundes mit der Frage nach den synthetischen Urteilen a priori verbindet, richtet sich nun aber Reinholds Interesse prinzipiell darauf, die Definierbarkeit dieses sowie aller anderen Begriffe anhand der Merkmale hervorzuheben, die ihm wesentlich angehören. Dieser spekulative Schritt ist Teil einer theoretischen Strategie, die die Frage nach dem Grund mit der Errichtung einer Grundsatzphilosophie verbindet. Für diese erlangt das philosophische Wissen die Evidenz nur dann, wenn es imstande ist, Merkmale ausfindig zu machen, „die sich nicht weiter zergliedern lassen, aber ebendarum durch sich selbst einleuchten, von jedem Selbstdenker auf eben dieselbe Weise vorgestellt, allgemeingeltend sein müssen“.16 Reinhold übernimmt hier ganz klar die Lehre der Notio bzw. der omnimoda determinatio, die innerhalb der Leibniz-Wolffischen Philosophie eine große Rolle hinsichtlich der Definition sowie der Erkennbarkeit eines Dinges spielt.17 In unserem Zusammenhang ist es wichtig festzuhalten, wie gerade diese Lehre hinsichtlich der Distanz mitwirkt, die zwischen Reinholds und Kants Theorie der Freiheit besteht. Wird bei Kant der Begriff der Freiheit durch das innere Verhältnis begründet, das sie mit dem Sittengesetz verbindet – das Sittengesetz ist die ratio cognoscendi der Freiheit, und umgekehrt ist die Freiheit die ratio essendi des Sittengesetzes –, wird bei Reinhold die Freiheit mit Bezug auf den Willen als dasjenige Grundvermögen der Person erklärt, das den Grund seiner Handlungen in sich hat und sich selbst zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung einer Forderung des Begehrens bestimmen kann. Auch in diesem Fall geht es um die richtige Bestimmung des Willensbegriffs, die Kant nur vorbereitet, aber 14  RKA, Bd. 2, 97. 15  Reinhold (2003), 79 (Or. 110). 16  Reinhold (2003), 91–92 (Or. 131). 17  Nach Wolff ist eine notio completa diejenige, die genügend Merkmale einer Sache aufweist, um diese in jedem ihrer Zustände zu erkennen und von anderen Sachen zu unterscheiden (Wolff [1983], § 92, S. 160). Auch Baumgarten hebt in seiner Metaphysik die durchgängige Bestimmung (omnimoda determinatio) eines Dinges hervor, um dessen Merkmal der Einzelheit zu betonen (Baumgarten [1783], § 114, S. 46 f.). Besonders klar definiert Reimarus, wann es sich um einen ausführlichen Begriff handelt: „[W]enn man alle Merkmaale anzugeben weiß, welche zusammengenommen zureichen, ein Ding allezeit zu kennen und von allen andern zu unterscheiden.“ (Reimarus [1766], § 71, S. 63)

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Fabbianelli

keineswegs schon geliefert habe. Kant hat nämlich „den Willen bald durch dieses bald durch jenes Merkmal“ beschrieben, „das zwar denselben jedesmal nach der Rücksicht, in der von ihm die Rede ist, bestimmt genug bezeichnet, aber welches, in andern Rücksichten gebraucht, ihn mit anderen Dingen vermengen würde“.18 Nur indem man das richtige Merkmal des Willens hervorhebt, wird es möglich, eine wahre Definition seiner Freiheit zu geben, die auch erklärt, in welchem Sinn der Wille seine eigenen Gründe hat. Kants Freiheitslehre ist insofern zu widerlegen, als sie die wesentliche Bestimmung, d.h. das letzte Merkmal, das den Willen kennzeichnet, mit anderen Merkmalen vermengt. Dies geschieht z.B., wenn die Willensfreiheit als Unterworfensein des Willens unter die praktische Vernunft oder das Sittengesetz erklärt wird.19 Wesen, d.h. letztes Merkmal der Freiheit, ist für Reinhold Willkür, „Selbstthätigkeit der Person beim Wollen“,20 die gegenüber der Selbsttätigkeit der Vernunft ein ganz unterschiedliches Merkmal darstellt. Während die Selbsttätigkeit der Vernunft darin besteht, dem Willen das Sittengesetz und nur dieses zu geben, lässt sich die Selbsttätigkeit des Willens durch die willkürliche Entscheidung der Person für oder gegen das Gesetz denken. Die Gründe der Vernunft stimmen nicht mit den Gründen des Willens überein. „Durch die praktische Vernunft bestimmt die Person selbst, aber unwillkürlich, dem Willen sein Gesetz, durch die Selbstthätigkeit der Willkür hingegen handelt sie dem Gesetze gemäß oder zuwider“.21 Der Wille kann somit als das Vermögen angesehen werden, das den Grund seiner Handlungen in sich selbst enthält; nur ihm kann demzufolge das Merkmal der Freiheit zugesprochen werden. Die Freiheit ist nämlich „die absolute, erste Ursache ihrer Handlung, über welche sich nicht weiter hinausgehen läßt, weil sie wirklich von keiner anderen abhängt“.22 Die freie Handlung „ist darum nichts weniger als grundlos“.23 Dies erklärt uns das philosophische Wissen durch eine präzise Bestimmung des vom Willen dargestellten Vermögens der Person, d.h. durch die Entdeckung der ihn kennzeichnenden letzten Merkmale.

18  RGS 2/2, 186. 19  Vgl. RGS 2/2, 189. 20  RGS 2/2, 192. 21  RGS 2/2, 193. 22   R GS 2/2, 193. 23  RGS 2/2, 193.

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Freiheit und Endlichkeit

Trägt die Frage nach der richtigen Definition des Grundes anhand seiner letzten Merkmale bei Reinhold dazu bei, einen Freiheitsbegriff zu rechtfertigen, der nur mit dem Willen und nicht mit der Vernunft einhergehen kann, erklärt das Thema der Endlichkeit des Menschen, warum die Freiheit durch den Begriff der Wahl bzw. der Willkür bestimmt wird. Dieser letzte Punkt kreuzt sich mit einem anderen Diskussionsmoment, das die Differenz zwischen dem principium disjudicationis und dem principium executionis der Handlungen betrifft, ob nämlich die Vernunft fähig ist, nicht nur ein Kriterium für die sittliche Beurteilung des menschlichen willkürlichen Verhaltens, sondern auch den Beweggrund der willkürlichen Entscheidungen anzubieten. Gegen Kants Lehre, der kategorische Imperativ bestimme nicht bloß die moralische Gesetzmäßigkeit der Maxime, sondern sei auch das einzige Motiv, das der Ausübung der sittlichen Handlung zugrunde liege, hatte sich bereits August Wilhelm Rehberg ausgesprochen. In seiner Rezension der Kritik der praktischen Vernunft erklärt er, dass der Kantische Gedanke, nach dem nur das Sittengesetz „die Triebfeder der Sittlichkeit seyn müsse, selbst Schwärmerey“24 ist. Im Gegensatz zu Kant, nach dem die reine Vernunft mit dem freien Willen übereinstimmt und die Vernunft „ihre Realität durch die That beweiset“,25 bemerkt Rehberg, dass „das Bewußtsein des freyen Willens“ nur dann mit dem Bewusstsein der Wirksamkeit der reinen Vernunft identisch sein kann, wenn die praktische Vernunft sich ihrer Realität in der Sinnenwelt bewusst ist. Rehberg negiert aber, dass die Vernunft sich ihrer Praktizität bewusst ist: „[D]as Selbstbewußtseyn als reine Vernunft, existirt nirgends“,26 die Vernunft kann sich ihrer Grundsätze nur als Ideen und nicht als Wirklichkeiten bewusst sein.27 Die Vernunft stellt für Rehberg nur eine Idee, d.h. ein principium disjudicationis, nicht aber eine Ursache, d.h. ein principium executionis, dar. Sein Ziel ist dabei, eine depotenzierte Auffassung der Freiheit und des damit zusammenhängenden Begriffs der Zurechnung zu vertreten. Nicht das transzendentale Ich, sondern bloß das empirische Bewusstsein ist für Rehberg von Bedeutung. „Ich, in meiner Erscheinung in der Sinnenwelt, bin es, der von sich selbst seiner Ungerechtigkeit wegen, angeklagt und verachtet wird“. Und dies ist „für die Moralität vollkommen hinreichend“.28 24  ALZ, Nr. 188b, Mittwochs, den 6ten August 1788, Col. 355. 25  ALZ, Nr. 188a, Mittwochs, den 6ten August 1788, Col. 352. 26  ALZ, Nr. 188a, Mittwochs, den 6ten August 1788, Col. 352. 27  Vgl. dazu Schulz (1971), 13. 28  ALZ, Nr. 188b, Mittwochs, den 6ten August 1788, Col. 356.

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Für unsere Überlegung ist es nun nicht von erster Bedeutung, ob Rehbergs Einwände gegen Kant zutreffend sind oder nicht. Festzuhalten ist vielmehr das Einverständnis, mit dem Reinhold in der Vorrede zum zweiten Band der Briefe über die Kantische Philosophie Rehberg gegenüber Stellung nimmt. Er könne nämlich so wenig wie der Rezensent der Kritik der praktischen Vernunft die eigentliche Freiheit in der Wirksamkeit der Vernunft finden sowie die Vernunft praktisch nennen, „als ob sie den vollständigen, durch sich selbst bestimmenden Grund einer Handlung des Willens enthielte“.29 Man kann in dieser Hinsicht mit einer gewissen Plausibilität die These vorschlagen, dass Reinhold bei Rehberg, wenn nicht gerade die wichtigste Veranlassung, zumindest einen unübersehbaren Ansporn zu seiner Lehre der Willensfreiheit findet.30 Die Trennung zwischen praktischer Vernunft und Wille sowie zwischen principium disjudicationis und principium executionis der freien Handlungen stellt bei Reinhold so wie bereits bei Rehberg die Antwort auf die Forderung dar, eine Theorie der Willensfreiheit zu vertreten, die sich sozusagen als der Endlichkeit des Menschen angemessener und den Tatsachen des Bewusstseins entsprechender erweist als die von Kant. Dies ist auch die Interpretation der zeitgenössischen Debatte, die der Theologe August Ludwig Christian Heydenreich liefert. In seiner 1793 erschienenen Schrift Ueber Freyheit und Determinismus und ihre Vereinigung unterscheidet er zwei Begriffe der Freiheit: als Eigentum der bloßen Vernunft und des reinen Willens, der sich nach seinem eigenen Sittengesetz bestimmt, und als Vermögen des vernünftig-sinnlichen Wesens. Carl Christian Erhard Schmid sowie die meisten Anhänger der Kantischen Schule seien Vertreter der ersten Auffassung, Karl Heinrich Heydenreich sowie Reinhold seien hingegen Verfechter einer Freiheit, die mit der unlösbaren Einheit von Vernunft und Sinnlichkeit im Menschen zusammenhängt.31 Der Theologe Heydenreich spricht sich für einen Begriff der Freiheit aus, der die Endlichkeit des Menschen berücksichtigt. Unser „Loos“ kann demzufolge nicht in einer vollendeten, sondern nur in einer sukzessiv zu erwerbenden persönlichen Freiheit bestehen.32 Dies zwingt ihn dazu, anzuerkennen, dass für die Frage nach der Freiheit insbesondere die Wahl, durch welche der Mensch frei wird, zentral ist. Die Wahlfreiheit ist die Freiheit par excellence, weil sie der Angehörigkeit des Menschen zum Gebiet der Natur sowie der übersinnlichen Welt entspricht.

29  RGS 2/2, 5. 30  Vgl. Schulz (1971), 177–179; Fabbianelli (2000), 430–432; Noller (2015), 212. 31  Vgl. Heydenreich (1793), 59–60. 32  Vgl. Heydenreich (1793), 101.

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Das Vermögen der Wahl liegt zwischen beiden Reichen und macht gleichsam „den Transitus“ aus, „der beyde mit einander verbindet“.33 In dieser Hinsicht muss nicht zuletzt die Einführung des Begriffs der moralischen Freiheit durch Karl Heinrich Heydenreich interpretiert werden. Sie wird als das Vermögen definiert, „den vollständigen Grund von Handlungen zu enthalten und wirksam zu machen, welche dem Sittengesetz der Vernunft angemessen oder zuwider sind, ohne zu einem von beyden weder durch Einflüsse fremder Kräfte, noch durch seine eignen Vorstellungen nothwendig bestimmt werden zu können“.34 Heydenreich erhebt durch diese Definition ausdrücklich den Anspruch, einen Freiheitsbegriff zu bestimmen, der den Fall der kontradiktorisch entgegengesetzten, d.h. sittlich guten oder sittlich bösen Handlungen erklären kann. Er unterstreicht gleichzeitig das innere Verhältnis, das die moralische Freiheit mit der Natur des Menschen verbindet. Soll der Mensch ein Mensch sein, muss er moralisch frei sein, d.h. das Vermögen haben, gemäß dem oder gegen das Sittengesetz zu handeln. Diese Freiheit darf nun nicht als empirisch verstanden werden – dies war hingegen die Position Rehbergs –, weil sich die Gründe für die kontradiktorisch sittlichen Handlungen in der intelligiblen Welt befinden.35 Der Depotenzierung der von Kant unterstrichenen Verschränkung zwischen Freiheit und Pflicht entspricht bei Heydenreich die Rechtfertigung der moralischen Freiheit durch die Tatsächlichkeit des Bewusstseins. Es handelt sich um eine „Naturgabe“ bzw. ein „Naturgeheimniß“, die wie alle anderen Fakten des Bewusstseins unbegreiflich sind.36 Heydenreich übernimmt hier eine These, die von vielen Kantianern vertreten und vom skeptischen Standpunkt aus kritisiert wird: Ludwig Heinrich Jakob z.B. ist der Meinung, dass die Freiheit ein übersinnliches Faktum ist, das sich nicht erklären lässt. Als Faktum ist sie keine Erscheinung und hat insofern einen Grund, der in einer Sphäre liegt, in die das Erkenntnisvermögen nicht eindringt.37 Dieser Faktualismus der Vernunft wird nun aber zum Objekt der skeptischen Kritik Salomon Maimons, für den die Kategorie des Faktums innerhalb der Transzendentalphilosophie nicht geduldet werden kann, weil es letztendlich das Scheitern der Vernunft dekretiert und wohl als eine Täuschung erklärt werden kann.38

33  Heydenreich (1793), 94. 34  Heydenreich (1791), 63. 35  Vgl. Heydenreich (1791), 66. 36  Heydenreich (1791), 64. 37  Vgl. Jakob (1790), 10, 19–20. 38  Vgl. Maimon (2000), 263. Zu Maimons Begriff der Täuschung vgl. insbesondere Kuntze (1912), 91 ff. und 313 f.

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Freiheit und Immoralität

Wir haben gesehen, in welchem Sinn die These als unannehmbar betrachtet wird, laut der die Freiheit mit der Autonomie des reinen Willens bzw. der Selbsttätigkeit der Vernunft im kantischen Sinne übereinstimmt. Sie spricht von einer Art des Freiseins, die der Endlichkeit des Menschen nicht ausreichend Rechnung trägt und demzufolge den Tatsachen des Bewusstseins nicht entspricht. Diese Fakten zeigen nämlich, dass der eigentliche Freiheitsbegriff sich durch die willkürliche Entscheidung für oder gegen das Sittengesetz definiert. Die Auffassung der Freiheit als Autonomie der Vernunft wird nun innerhalb der Aetas kantiana auch aus einem anderen Grund abgelehnt: Sie ist ungeeignet, die unsittlichen Handlungen zu erklären. Das Problem führt Kant ein, wenn er behauptet, dass „ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei [ist]“.39 Zu dieser Konklusion leitet eine Überlegung hin, nach der der Mensch als eine „durch Vernunft thätige, d.i. frei wirkende, Ursache“ angesehen werden kann,40 deren Gesetz das Sittengesetz ist. Stellt nun die Autonomie den positiven Begriff der Freiheit insofern dar,41 als sie das Freisein durch das Unterworfensein unter ein Gesetz bestimmt, das der Wille sich selbst gibt,42 kann man daraus schließen, dass der Wille nur dann positiv frei ist, wenn er autonom ist. Ist nun aber der Wille positiv frei, weil er autonom ist, stellt sich die Frage, ob ein heteronomer Wille – ein Wille also, der nicht unter dem Sittengesetz steht – gerade deshalb unfrei ist, und wovon diese Unfreiheit des sittlich bösen Willens abhängt. Genauer betrachtet, handelt es sich um zwei Aspekte derselben Sachlage, die aber innerhalb der Aetas kantiana unterschiedliche Aufmerksamkeit erhalten. Benedikt Stattler z.B., in seinem Anhang zum Anti-Kant von 1788, beschränkt sich auf die Stellungnahme, dass bei Kant die Idee der Freiheit „bloß auf Seite des praktischen Gesetzes der Vernunft“ bestimmt wird; man müsse deshalb zur Konklusion kommen, „daß nur der gute, und dem Moralgesetze gemäße Wille frey wäre, jener aber, der sich dem praktischen Gesetze der Natur und Sinnlichkeit unterwärfe, keineswegs“.43 Erst durch die Stellungnahmen zuerst von Ulrich und dann von Carl Christian Erhard Schmid nimmt die Auseinandersetzung über die Denkbarkeit der unsittlichen Handlung eine neue Dimension an. 39   Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: AA IV, 447. 40   A A IV, 458. 41  Vgl. Kritik der praktischen Vernunft: AA V, 33. 42  Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: AA IV, 431. 43  Stattler (1788), 269.

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Von Bedeutung ist, dass der Kantische Text seinen Kritikern nicht nur das Problem stellt, sondern sozusagen die Lösung anbietet. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten kann man diesbezüglich lesen, dass die Notwendigkeit der moralischen Handlung für Wesen wie die Menschen, „bei denen es nicht immer geschieht, was die Vernunft für sich allein thun würde“, nur ein Sollen darstellt. Der Mensch wird nämlich durch die Sinnlichkeit affiziert, er kann deshalb unmöglich etwas wollen, das als solches bereits das Sittengesetz erfüllt. Um diese wesentliche Eigenschaft der menschlichen Endlichkeit zu erläutern, benutzt Kant den Begriff Hindernis, der innerhalb der zeitgenössischen Diskussion über den eigentlichen Erklärungsgrund der sittlich bösen Handlungen immer wieder angeführt wird. Für den Menschen kann das Sollen eigentlich nur dann ein Wollen sein, „wenn die Vernunft bei ihm ohne Hindernisse praktisch wäre“.44 Kant scheint hier eine Mechanik des Handelns zu beschreiben, für welche die Tätigkeit der Vernunft eine Kraft darstellt, die nur von einer Gegenkraft gestoppt bzw. gehemmt werden kann. Das zweifache Problem, das sich hier stellt, besteht einerseits in der Kohärenz, andererseits in der Bestimmung der Modalität, wie eine derartige Mechanik des Handelns bewerkstelligt werden kann. Was den ersten Punkt anbelangt, kann gefragt werden, ob Kant mit dem Begriff des Hindernisses nicht eine These vertritt, die letztendlich seiner eigenen Lehre der transzendentalen Freiheit widerspricht. Zu behaupten, dass der reine Wille gehemmt ist, scheint nämlich zu bedeuten, dass der Mensch wohl ein Wollen hat, welchem aber manchmal die Fähigkeit fehlt, sich umzusetzen. Dies interpretiert Ulrich als eine zumindest partielle Übereinstimmung Kants mit der Lehre, die er selbst auch vertritt und anhand der Klageworte Paulus’ zum Ausdruck bringt: „Ich habe Lust am Gesez nach den [sic!] inwendigen Menschen: Ich sehe ein Gesez in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesez des Geistes“.45 Ulrich verweist hier nicht darauf, dass ein solcher Widerstreit aufgrund von Kants Denken unerklärbar ist. Der menschliche Wille hat nach Kant immer die Möglichkeit, aufgrund seiner transzendentalen Freiheit schon jetzt anders handeln zu können. Ulrich scheint vielmehr die Inkohärenz einer Lehre hervorheben zu wollen, nach der die intelligible Welt, die außerhalb der Zeit und des Raums ist, doch mit Hindernissen zusammengehen muss, die Kant zufolge hingegen von der Sinnlichkeit herkommen. Denn nur eines kann gelten – darin besteht letztendlich Ulrichs Einwand gegen Kant: Entweder man vertritt die absolute Freiheit des Menschen, sich anders entscheiden zu können, auch wenn die sinnlichen Umstände unverändert bleiben – und dann ist die Rede der Hindernisse 44   Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: AA IV, 449. 45  Ulrich (1788), 39.

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völlig unangebracht. Oder man gesteht ein, dass eine derartige Mechanik des Handelns theoretisch unstatthaft ist. Während Ulrich der Meinung ist, dass ein Hindernis nur mit einer empirischen Freiheit einhergehen kann, versucht Kant, zwei Momente in Verbindung zu bringen, die ihrer Ungleichheit wegen nicht aufeinander bezogen werden können: das zeitlich-räumliche Hindernis der sinnlichen Affizierungen auf der einen Seite und die transzendentale Freiheit andererseits. Ulrich hebt somit das Thema der Folgerichtigkeit vom Kantischen Denken und der damit zusammenhängenden Ungültigkeit des Satzes vom Grund hervor, der bei Kant Sinnliches und Übersinnliches verbinden soll. Ulrichs Antwort auf die Frage, warum die Vernunft bei manchen Handlungen zur Anwendung kommt, bei manchen hingegen nicht, macht innerhalb der zeitgenössischen Diskussion Schule. Lehnt man den Zufall ab, geht man vom Determinismus als einzig vertretbarer Theorie aller menschlichen Handlungen aus, ist man theoretisch zur Hypothese gezwungen, dass die Unterlassung der Vernunft in den unsittlichen Handlungen als „ein ursprünglicher und unveränderlicher Mangel der Thätigkeit der Vernunft“, als „eine Schwäche im intelligibeln Charakter“ zu betrachten ist.46 Auf diese Weise wird implizit darauf hingewiesen, dass der letzte Grund des sittlich Bösen in der Natur der Vernunfttätigkeit selbst zu finden ist, dass deshalb der Begriff vom Hindernis zur Erklärung der Sachlage nicht taugt. Dies scheint auch die Rezension von Ulrichs Eleutheriologie einzugestehen, die Kraus zusammen mit bzw. unter der Leitung von Kant selbst 1788 publiziert. Der darin vorgeschlagene Unterschied zwischen Wissen der Wirklichkeit und Unwissen der Beschaffenheit der Freiheit zielt nämlich darauf ab, den Begriff des Hindernisses nicht als den eigentlichen Grund dessen anzugeben, was in der intelligiblen Welt geschieht, sondern vielmehr als dasjenige anzuerkennen, was sich in der Erscheinung darbietet: „[D]enn diese Hemmungen und Hindernisse, welche uns durch sinnliche Wahrnehmung gegenwärtig werden, gelten wieder nur von dem, was sich überhaupt an uns sinnlich wahrnehmen, nicht aber von dem, was, einer solchen Wahrnehmung entnommen, sich bloß gedenken läßt.“47 Schmids intelligibler Fatalismus kann in diesem Zusammenhang als der Versuch betrachtet werden, die von Ulrich in Frage gestellte Folgerichtigkeit des Kantischen Denkens wiederherzustellen. Eine Mechanik des Handelns, nach der die Tätigkeit der Vernunft bei unsittlichen Handlungen behindert wird, kann wohl mit dem von Kant eingeführten Begriff des Hindernisses erklärt werden. Zu diesem Zweck muss man aber – so Schmids 46  Ulrich (1788), 34. 47   A A VIII, 460.

Die unmittelbare Rezeption des Kantischen Freiheitsbegriffs

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Argumentationsgang – dazu bereit sein, gegen Kant die Hemmung von der sinnlichen auf die übersinnliche Welt zu versetzen. Die Kohärenz von Kants Denken kann anders formuliert nur insofern wiederhergestellt werden, als man mit Ulrich den Determinismus aller Handlungen akzeptiert und gegen Ulrich die Schwäche im intelligiblen Charakter durch noumenale Hindernisse erklärt. Der „intelligible Naturfatalismus“ ist nämlich die „Behauptung der Naturnothwendigkeit aller Handlungen eines vernünftigen Wesens nach Gesetzen der Caussalität der Dinge an sich selbst“.48 Schmids Grundoperation besteht somit aus zwei Momenten: Erstens, die besonders von Ulrich hervorgehobene Lehre zu übernehmen, der zufolge, wenn man keinen vernunftlosen Zufall einräumen will, nichts anderes als Notwendigkeit übrig bleibt: „[D]enn es gibt schlechterdings keinen Mittelweg zwischen beiden“.49 Zu erklären, warum ich video meliora proboque, deteriora sequor, impliziert zweitens, den Fatalismus auf Kants übersinnliche Welt auszuweiten. „Die Vernunft ist also frey in Absicht auf alles, was in der Zeit geschieht; aber eingeschränkt durch dasjenige, was die Begebenheiten in der Zeit bestimmt. Sie ist frey, und hat keinen Einfluß empfangen in Absicht auf alles, was sie würklich thut, so wie auf alle ihre Urtheile, der Form nach; aber abhängig und eingeschränkt in Absicht auf das, was sie nicht thut. Sie konnte, für diesen Fall nicht wirken.“50 6

Freiheit und Bewusstsein

Schmids intelligibler Fatalismus stellt den Versuch dar, Kohärenz innerhalb von Kants moralischem Denken durch das Zugeständnis zu finden, dass die Anwendung der Tätigkeit der Vernunft bzw. des reinen Willens nicht gesetzlos, sondern von der Anwesenheit oder Abwesenheit übersinnlicher Hindernisse reguliert ist. Dieser theoretische Vorschlag beinhaltet zweierlei: Nicht nur bestätigt und bekräftigt er das kantische Bild des moralischen Lebens als einer Mechanik des Handelns, er hebt auch das Moment des Grads und somit der Verbesserung der Freiheit hervor, das innerhalb der zeitgenössischen Diskussion zu unterschiedlichen Auffassungen des Freiseins des Menschen führt. Schmid anerkennt mit Kant die Unveränderlichkeit sowie die Ewigkeit des übersinnlichen, reinvernünftigen Ichs, dem allein die metaphysische, d.h. 48  Schmid (1790), 211. 49  Schmid (1790), 209. 50  Schmid (1790), 209–210. Zu Schmids intelligiblem Fatalismus vgl. Wallwitz (1998), bes. Kap. 2.

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nicht unmittelbar in der Erfahrung gegebene Freiheit zugesprochen werden kann.51 Er spricht aber auch von der moralischen Freiheit als dem Vermögen, das Begehren durch die reine Vernunft zu bestimmen.52 Ist die metaphysische Freiheit unabhängig von der Zeit und insofern gradlos, bestimmt sich die moralische Freiheit hingegen durch die Relation zwischen dem Sinnlichen und dem Übersinnlichen und hat demgemäß ihre Grade: „[W]ir können weiser und sittlich besser d.h. freyer werden“.53 Schmid betrachtet die höheren Grade der moralischen Freiheit als „grössere Erscheinungen“54 der absoluten Freiheit. Die unterschiedlichen Grade sind nun aber nicht zufällig, sie stellen vielmehr die in der Sinnenwelt erscheinenden Resultate der Wirksamkeit bzw. Unwirksamkeit der Vernunft dar und hängen als solche von der Wechselwirkung der Vernunft selbst mit den Hindernissen, d.h. den Dingen an sich in der intelligiblen Welt ab, die die Wirkungen der Vernunft in den Erscheinungen einzuschränken vermögen.55 Somit wird der unfreie Charakter der sittlichen Verbesserung, die mit dem Begriff der graduellen Freiheit einhergeht, zweifach unterstrichen. Die Verbesserung betrifft erstens nur die moralische Freiheit als das bloße Phänomen der metaphysischen Freiheit und kann als solche in der Zeit und unter dem damit verbundenen Naturgesetz gedacht werden. Moralisch besser werden kann man außerdem nur, wenn die Konstellation, die der wechselseitigen Beziehung zwischen Tätigkeit der Vernunft und übersinnlichen Hemmungen zugrunde liegt, günstig ist. Gegen eine derartige Folgerung – die, wie Leonhard Creuzer behauptet, theoretisch befriedigend, aber praktisch unannehmbar ist56 – kann man unterschiedliche Strategien anwenden, die entweder negieren, dass die Rede des Fatalismus für ein übersinnliches Ich sinnvoll ist, oder darauf abzielen, die absolute Freiheit des Menschen zu rechtfertigen. Den ersten Weg schlagen die Verfechter der leibniz-wolffischen Schule ein: Johann Christoph Schwab z.B. stellt die Zulässigkeit der Opposition von zwei unterschiedlichen Ichs, vom sinnlichen und vom übersinnlichen, infrage, die dem Determinismus Schmids zugrunde liegt. Eine solche Gegenüberstellung impliziert letztendlich „die gänzliche Isolirung des Übersinnlichen von dem Sinnlichen durch die gewaltsamste Abstraction, die je ein Philosoph gemacht hat“.57 Die Sinnlichkeit ist 51  Vgl. Schmid (1790), 201. 52  Vgl. Schmid (1790), 190. 53  Schmid (1790), 190. 54  Schmid (1790), 203. 55  Vgl. Schmid (1790), 209. 56  Zu Creuzers Diskussion von Schmids Fatalismus vgl. Creuzer (1793), 171–203. Zu Creuzers skeptischer Lehre vgl. Tafani (1999). 57  Schwab (1792), 76.

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wohl nicht die Vernunft; Leibniz hat auf den Unterschied dieser doppelten Seite des Menschen bereits hingewiesen, ohne jedoch „das vernünftige Ich ganz von dem empirischen Ich und der Sinnenwelt zu trennen, und demselben Prädicate beyzulegen, wodurch es in den Rang der Gottheit erhoben wird“.58 Den zweiten Weg gegen Schmids intelligiblen Fatalismus schlagen hingegen Kant, Reinhold und Fichte ein. Der Mensch ist absolut frei; dies kann nun unterschiedliche Bedeutungen haben. Je nachdem, wie man diesen Sinn versteht, hat man mit ebenso verschiedenen Positionen zu tun. Man kann z.B. auf die innere Verschränkung verweisen, die zwischen dem Freiheitsbegriff und der moralischen Zurechnung besteht. „Was der Mensch im moralischen Sinne ist oder werden soll, gut oder böse, dazu muß er sich selbst machen oder gemacht haben. Beides muß eine Wirkung seiner freien Willkür sein; denn sonst könnte es ihm nicht zugerechnet werden, folglich er weder moralisch gut noch böse sein.“59 Nur wenn der Mensch als Urheber seiner Handlungen betrachtet wird, kann er für deren Folgen beschuldigt werden. Diesen antifatalistischen Weg schlägt Kant in der Religionsschrift ein. Für ihn kann eine menschliche Tat erst dann moralisch zugerechnet werden, wenn die ihr zugrunde liegende Maxime durch die freie Willkür angenommen wird, die den Forderungen der sinnlichen Triebfedern und des Sittengesetzes eine bestimmte Ordnung erteilt.60 Gegen Schmids intelligiblen Fatalismus kann man aber strategisch auch so vorgehen, dass man das Freisein des Menschen als eine Frage des klaren Bewusstseins ansieht, das man vom Sittengesetz besitzt. Steht diese Relation bei Kant im Hintergrund, erweist sie sich bei Fichte hingegen als die einzig korrekte Auffassung, um das Problem der Freiheit endgültig zu lösen. Fichte aktualisiert in der Sittenlehre eine Begrifflichkeit, die innerhalb der zeitgenössischen Diskussion zum Teil bereits angewendet wurde. Auf die innere Verschränkung von Freiheit und Bewusstsein hatte z.B. Schmid in einem Brief von 1793 an Reinhold hingewiesen. „Je kräftiger und lauter, je fester und sicherer, je klärer und unzweideutiger die praktische Vernunft im Bewußtsein spricht, desto sicherer folgt der Wille.“61 Dadurch verbindet Schmid das Thema 58  Schwab (1792), 76. 59   Religionsschrift: AA VI, 44. 60  Den Begriff der menschlichen Willkür nennt Kant 1792 „nicht empirisch“ (AA VI, 35); Reinhold, der im zweiten Band seiner Briefe über die Kantische Philosophie (1792) die Freiheit der Wahl als ebenso ursprünglich ansieht, wird 1797 Kant der Widersprüchlichkeit beschuldigen, weil dieser in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten die These vertritt, die freie Willkür sei als Vermögen der Wahl bloß eine Erscheinung (AA VI, 226; Reinhold [1797], 364–400). Zur Auseinandersetzung zwischen Kant und Reinhold vgl. Allison (1990), 129–136; Baum (2012), Bondeli (2012). 61  Reinhold (2004), 149 (Or. 237).

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der Freiheit mit der graduellen Stärke der Stimme der Vernunft. Indem sich die Tätigkeit der Vernunft hemmungsloser zeigt und fähig ist, die ihr entgegenstehenden Hindernisse zu überwinden, findet sie auch ein größeres Echo im Bewusstsein, dessen Folge notwendigerweise die Erfüllung des Sittengesetzes ist. „Ich wähle zwischen Recht und Nutzen; aber ich folge der mächtigsten Stimme, und wenn mir das Gesetz vor Augen schwebt als mein Gesetz, und wenn ich seine Anwendung auf den vorliegenden Fall klar vor Augen sehe, bestimmt und unzweideutig: so handle ich immer wie das Gesetz fordert.“62 Schmid erläutert auf diese Weise, wie die These des intelligiblen Fatalismus letztendlich verstanden werden muss. Die Notwendigkeit der Unterlassung oder Nicht-Unterlassung der Vernunft in den menschlichen Handlungen hängt von der An- oder Abwesenheit intelligibler Hindernisse ab, was aber auch Konsequenz des Maßes an Besonnenheit ist, mit der man auf die Stimme der praktischen Vernunft hört. „Ich bin mir bewußt, daß ich nie geradezu wider mein Gewissen handle, nie der Forderung der praktischen Vernunft wissentlich widerspreche, daß ich nur im Fall der Unwissenheit, der Dunkelheit meiner Vorstellungen, des Zweifelns was recht und gut sei, oder wenn das Gesetz meinem Bewußtsein entrückt war, pflichtwidrig handle.“63 Fichte erklärt sich mit der These einverstanden, dass die Freiheit nicht von der Reflexion getrennt ist, durch welche der Mensch in der Zeit das deutliche Bewusstsein des Sittengesetzes erreicht. Soll der Mensch wirklich ein Vernunftwesen sein, muss er sich als solches setzen. Dies kann keine Folge der Weltnotwendigkeit sein, es muss vielmehr von der Freiheit abhängen, durch welche er über sich reflektiert. Fichte übernimmt und aktualisiert somit die Antwort, die Reinhold 1793 auf Schmid gegeben hatte: Die praktische Vernunft hat keine Grade und spricht durch ihr Sittengesetz auf dieselbe Art. Vernommen wird sie „freilich nur im Zustande der Besonnenheit“, welcher aber „eine Folge der Freiheit“ ist.64 Im Gegensatz zu Reinhold ist Fichte aber dazu bereit, das von Schmid angesprochene Thema der graduellen Freiheit aufgrund des Bewusstseins in Geltung zu setzen, das man vom Sittengesetz an einem bestimmten Reflexionspunkt haben kann. Fichte spricht diesbezüglich von der „Geschichte des empirischen Vernunftwesens“,65 die sich durch die unterschiedlichen Reflexionspunkte kennzeichnet, die der Mensch annehmen kann. Hatte nun Reinhold die von Schmid hervorgehobene Dunkelheit des Bewusstseins vom Sittengesetz als den eigentlichen Grund der pflichtwidrigen 62  Reinhold (2004), 149 (Or. 237). 63  Reinhold (2004), 150 (Or. 239). 64  Reinhold (2004), 149 (Or. 238). 65   G A I/5, 165.

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Handlungen abgelehnt,66 gesteht Fichte hingegen ein, dass die ausgewählte Maxime des Handelns mit dem unterschiedlichen Reflexionsgrad einhergeht, den der Mensch von seiner eigenen vernünftigen Natur erreicht hat. Der Dunkelheit des Sittengesetzes entspricht ein bestimmter Reflexionspunkt, aus dem sich eine bestimmte Maxime ableiten lässt. Dies impliziert nun aber nicht, dass der Mensch an diesem Reflexionspunkt stehen bleiben muss, er soll und kann sich hingegen durch seine Freiheit an einen höheren setzen. „Daß er es nicht thut, ist seine Schuld.“67 Fichte beschränkt somit das Recht des Fatalismus auf den Grad der Reflexion, den man freiwillig erreicht. Ist es einerseits richtig, dass der Mensch bei einer bestimmten Denkart nicht anders handeln kann, bleibt weiterhin wahr, dass er sich einen anderen Charakter geben kann. Sofern man sich seiner eigenen Pflicht bewusst ist, ist es unmöglich und widersprüchlich, sich zu entschließen, „seine Pflicht nicht zu thun“.68 Dass aber die Stimme des Sittengesetzes immer klar im Bewusstsein bleibt und nicht dunkler wird, dies ist keine Notwendigkeit. Der intelligible Fatalismus hat somit Unrecht, weil er übersieht, dass das Fortdauern oder das Verdunkeln des Bewusstseins der Pflicht von der absoluten Freiheit abhängt. „[N]ur durch einen Akt der absoluten Spontaneität entsteht jenes Bewußtseyn; und nur durch Fortsetzung jenes Akts der Freyheit bleibt es; hört man auf zu reflectiren, so verschwindet es.“69 Siglen und Literaturverzeichnis Abicht, Johann Heinrich (1789), „Ueber die Freyheit des Willens“, in: Neues philosophisches Magazin, Erläuterungen und Anwendungen des Kantischen Systems bestimmt, hg. v. J. H. Abicht und F. G. Born, 1. Bd., 1. St., 64–85. Allison, Henry E. (1990), Kant’s theory of freedom, Cambridge. Bardilis, Christian Gottfried (1796), Ursprung des Begriffes von der Willensfreiheit, Stuttgart. Baum, Manfred (2012), „Kants Replik auf Reinhold“, in: Violetta Stolz et al. (Hg.), Wille, Willkür, Freiheit. Reinholds Freiheitskonzeption im Kontext der Philosophie des 18. Jahrhunderts, Berlin, 153–163. Baumgarten, Alexander Gottlieb (1783), Metaphysik. Neue vermehrte Auflage, Halle.

66  Vgl. Reinhold (2004), 150 (Or. 239). 67   G A I/5, 168. 68   G A I/5, 176. 69   G A I/5, 177.

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„Freyheit durch oder wider das Gesetz“: Reinhold und Schiller über symmetrische Selbstbestimmung Jörg Noller 1 Einleitung Thema meines Beitrags ist die Frage, wie Karl Leonhard Reinhold und Friedrich Schiller im Ausgang von und in Auseinandersetzung mit Kant menschliche Freiheit bestimmt haben.1 Ich werde dafür argumentieren, dass beide Denker nicht als „Kantianer“ im strengen Sinne verstanden werden können, sondern jeweils eigenständige Theorien entwickelt haben, die zwar in manchen Begrifflichkeiten von der kantischen Terminologie dem Buchstaben nach abhängen, dem Geiste nach jedoch an entscheidenden Punkten abweichen und neue Wege beschreiten. Ziel meines Beitrags ist es zum einen, diese entscheidenden aber oft verborgenen Abweichungen von Kants theoretischen Vorgaben aufzuzeigen, zum andern aber auch auf ihre systematische Überzeugungskraft hin zu befragen. Dabei will ich versuchen, Reinholds und Schillers Freiheitsbegriff im Kontext eines Gedankengangs zu rekonstruieren, der seinen Ausgangspunkt in Kants Theorie einer Autonomie der Vernunft nimmt. Meine These lautet, dass sich bei Reinhold und Schiller eine Transformation des Autonomiegedankens findet, die zu einer Theorie von Heautonomie führt: Es geht damit nicht mehr so sehr um das allgemeine Sittengesetz, die reine praktische Vernunft, und ihre Begründungsleistung für Freiheit als moralische Autonomie, sondern um das konkrete Individuum, welches sich in seiner Freiheit gerade auch gegen die Forderung der Allgemeinheit bestimmen kann. Ein solches Freiheitsverständnis werde ich im Folgenden als symmetrische Selbstbestimmung bezeichnen und von asymmetrischen Konzeptionen, nach denen Freiheit allein in der Befolgung des Sittengesetzes besteht, abgrenzen. Die Vorteile einer solchen symmetrischen Konzeption bestehen darin, dass beide Denker einen Begriff von Person entwickeln können, die frei ist, das Gute und Böse gleichermaßen aus individueller Freiheit zu tun. Ein Defizit ihrer Theorie kann darin erblickt werden, dass beide Denker durch die Individualisierung der Freiheit die Frage nach der Objektivität und Verbindlichkeit der Moral aus dem Blick verlieren. Trotz dieses normativen und begründungstheoretischen Defizits ihrer Freiheitstheorie lassen sich 1  Dieser Frage bin ich ausführlicher in Noller (22016), 206–260, nachgegangen.

© koninklijke brill nv, leiden, 2019 | doi:10.1163/9789004383586_010

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jedoch Reinhold und Schiller vor dem Vorwurf grundloser Willkürfreiheit oder einer Indifferenzfreiheit in Schutz nehmen. In einem ersten Teil werde ich kurz Kants Gedanken einer Autonomie der Vernunft skizzieren, vor deren Hintergrund dann Reinholds und Schillers spezifischer Freiheitsbegriff auftritt. Ich werde in einem zweiten Teil Reinholds Freiheitstheorie rekonstruieren, wie er sie im zweiten Band seiner Briefe über die Kantische Philosphie (1792) entwickelt hat. Im dritten Teil meines Beitrags wende ich mich schließlich der Freiheitstheorie Friedrich Schillers zu, wie er sie in seiner Schrift über Anmut und Würde (1793) und in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1794) in Auseinandersetzung mit Kant und Reinhold entwickelt hat. 2

Kant über Autonomie

Kants Begriff von Freiheit als Autonomie ist überaus komplex.2 Er besitzt eine Dimension negativer und positiver Freiheit sowie eine metaphysische und normative Seite. Nur in der Einheit dieser Dimensionen wird Kants freiheitstheoretisches Anliegen verständlich – ein Anliegen, welches sich durch alle seine kritischen Schriften zieht. Die negative Freiheit als Unabhängigkeit vom Naturgesetz allein genügt nicht für eine vollständige Autonomie des Willens: Ein ganz und gar gesetzloser Wille wäre zwar unabhängig vom Naturgesetz, doch enthielte so die Freiheitsentscheidung keine Bestimmtheit und wäre im schlechten Sinne des Wortes willkürlich: „[S]o ist die Freiheit, ob sie zwar nicht eine Eigenschaft des Willens nach Naturgesetzen ist, darum doch nicht gar gesetzlos, sondern muß vielmehr eine Kausalität nach unwandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art sein; denn sonst wäre ein freier Wille ein Unding [Hervorh. J.N.].“3 Kant vertritt also die Ansicht, dass positive Freiheit selbst gesetzmäßig verfasst sein muss, jedoch von gänzlich anderer Art als Naturgesetzlichkeit. Diese besondere Art von Gesetzlichkeit bringt Kant mit einem spezifischen Begriff von Kausalität in Verbindung, die er in Abhebung von der Naturkausalität als „Kausalität durch Freiheit“4 oder „Kausalität der Vernunft“5 bezeichnet. Am metaphysischen Leitfaden 2  Vgl. dazu ausführlicher Noller (22016), 18 ff. 3  Kant, GMS, AA IV, 446. 4  Vgl. etwa Kant, KrV, B 566 u. 472; KpV, AA V, 47 u. 105; KdU, AA V, 195 u. 448 Fn.; Kant verwendet darüber hinaus die Wendung „Kausalität aus Freiheit“ an folgenden Stellen: KrV, B 586; KpV, AA V, 16 u. 70. 5  Vgl. etwa Kant, KrV, B 579, B 831; Prol., AA IV, 354; GMS, AA IV, 458; KpV, AA V, 80; KdU, AA V, 475.

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einer solchen Freiheitskausalität gewinnt der positive Begriff der kantischen Autonomielehre an Profil. Worin besteht nun der Unterschied beider Arten von Kausalitäten und Gesetzlichkeiten – der Natur und der Vernunft? Handelt es sich nicht beide Male um eine Determination des Willens, die gerade dessen von Kant angestrebte absolute Entscheidungsfreiheit zu unterminieren droht? Nach Kant besteht eine grundlegende Asymmetrie zwischen beiden Arten der Determination. Im Gegensatz zur Naturkausalität wirkt nach Kant die Kausalität der vernünftigen Gesetzmäßigkeit nicht auf den Willen von außen ein, bestimmt den Willen also nicht heteronom, sondern entfaltet ihre Determinationskraft aus dem allgemein-vernünftigen Wesen des reinen Willens selbst,6 der insofern – im Gegensatz zu einem durch materiale Bestimmungsgründe determinierten „unteren Begehrungsvermögen“7 als ein „oberes Begehrungsvermögen“ ausgezeichnet ist.8 Wie aber ist diese Art vernünftiger Gesetzmäßigkeit zu verstehen? Der Bestimmungsgrund des freien Willens kann nicht in der Heteronomie materialer und insofern bloß subjektiver und individueller Zwecke bestehen, sondern nur in der Objektivität, Universalität und Formalität des Vernunftgesetzes selbst. Das Vernunftgesetz erhebt den menschlichen Willen aus dem Bereich der Naturgesetzlichkeit und ihrer Kausalität, wie Kant sagt, „in eine ganz andere Sphäre als die empirische, und die Notwendigkeit, die es ausdrückt, da sie keine Naturnotwendigkeit sein soll, kann also bloß in formalen Bedingungen der Möglichkeit eines Gesetzes überhaupt bestehen“.9 Durch die Bestimmung des Willens durch reine Vernunft wird dieser, wie Kant es nennt, zu einer „Kausalität aus Freiheit“, die sich in der Welt konkret als Handlung verwirklicht: „Der Wille ist eine Art von Kausalität lebender Wesen, sofern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann“.10 6  Vgl. zum allgemeinen Status des intelligiblen Selbst auch Ameriks (2013), 69: „[T]he authorial self surely must be not a particular individual as such, but the faculty of reason in general […], and in a general sense that is not limited to the human species.“ 7  Kant, KpV, AA V, 24. 8  Vgl. Kant, KpV, AA V, 25: „Alsdenn allein ist Vernunft nur, so fern sie für sich selbst den Willen bestimmt (nicht im Dienste der Neigungen ist), ein wahres oberes Begehrungsvermögen, dem das pathologisch bestimmbare untergeordnet ist, und wirklich, ja spezifisch von diesem unterschieden, so daß sogar die mindeste Beimischung von den Antrieben der letzteren ihrer Stärke und [ihrem] Vorzuge Abbruch tut“. Vgl. zum vernünftigen Wesen des freien Willens auch Schmidt (2012), 26. 9  Kant, KpV, AA V, 34. 10  Kant, GMS, AA IV, 446.

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Worin besteht diese Formalität der Vernunftgesetzlichkeit, die den positiven Begriff von Freiheit des Willens definieren soll, nun genau? Kant hat seine metaphysische Theorie des autonomen Willens als Freiheitskausalität aufs Engste mit seiner normativen Theorie menschlicher Moralität verknüpft, so dass man mit Blick auf Kants absoluten Freiheitsbegriff von einer „Ethik der Autonomie“11 sprechen kann, wie dies Dieter Henrich getan hat:12 Substantielle, absolute Willensfreiheit ist für Kant Freiheit angesichts der Normativität der Moralität. Die spezifische Gesetzlichkeit, unter der erst der Wille frei zu sein vermag, ist das Sittengesetz als absoluter Maßstab und Kriterium für Moralität. Dabei eignet dem Willen eine spezifische Reflexivität: Der Wille gibt sich selbst ein Gesetz, jedoch nicht irgendeines, welches ihm als ein Fremdes immer noch entgegenstände, sondern dieses Sittengesetz ist wesentlich sein eigenes Gesetz: „Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen angesehen werden muß.“13 Freiheit im Sinne von Autonomie bedeutet demnach die „Unabhängigkeit des Willens von jedem anderen, außer allein dem moralischen Gesetze“.14 Die Autonomie der Vernunft lässt sich insofern als eine selbstidentifizierende Selbst-Gesetzgebung, also als Heautonomie, charakterisieren – nicht nur der Akt der Selbstgesetzgebung, sondern zugleich die Reflexion und Identifikation des Gesetzes, die dieses als ein wesentlich eigenes Gesetz erkennen lässt, wird zum konstitutiven Moment der vernünftigen Freiheit: „Man sah den Menschen durch seine Pflicht an Gesetze gebunden, man ließ es sich aber nicht einfallen, daß er nur seiner eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzgebung unterworfen sei“,15 so Kant.16 Das moralische Gesetz kann somit als „Wesensgesetz“17 des autonomen Willens als oberem 11  So der Titel von Dieter Henrichs 1982 erschienenem Aufsatz, der bereits 1963 im Wesentlichen inhaltsgleich unter dem Titel „Das Problem der Grundlegung der Ethik bei Kant und im spekulativen Idealismus“ erschienen war. 12  Vgl. zum zugleich normativen und metaphysischen Aspekt der kantischen AutonomieLehre auch Sensen (2013), 262 f. 13  Kant, GMS, AA IV, 431. 14  Kant, KpV, AA V, 94. 15  Kant, GMS, AA IV, 432. Vgl. zur Reflexivität des Willens, welche statt „Autonomie“ besser als „Heautonomie“ charakterisiert ist auch Stolzenberg (2001), 44. 16  Vgl. auch Kant, GMS, AA IV, 448: „Sie [die Vernunft; J.N.] muß sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen, unabhängig von fremden Einflüssen, folglich muß sie als praktische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen Wesens, von ihr selbst als frei angesehen werden“. 17  Schmidt (2012), 26.

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Begehrungsvermögen angesehen werden, wie dies Kant folgendermaßen ausdrückt: „[A]lso ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei.“18 Allerdings ist diese Heautonomie der reinen praktischen Vernunft keine individuelle Selbstbestimmung im starken Sinne. Denn es ist immer noch das intelligible, und damit allgemeine Vernunftsubjekt – die reine praktische Vernunft –, welche sich ihr eigenes – universelles – Gesetz gibt, welches wesentlich an der Normativität der Sittlichkeit orientiert ist und darin seine Identität erhält. 3

Reinhold über individuelle Freiheit

Im zweiten Band seiner Briefe über die Kantische Philosophie – seinem „praktisch-philosophische[n] Hauptwerk“19 – hat Karl Leonhard Reinhold in kritischer Auseinandersetzung mit Kants Autonomie-Lehre eine Theorie individueller personaler Freiheit entwickelt. Reinholds Kant-Bezug ist dabei vielschichtig, so dass die historischen Umstände der Entstehung des zweiten Briefbands sowie seine Begriffs- und Formaspekte zunächst berücksichtigt werden müssen, um möglichen Missverständnissen und Fehlinterpretationen seiner Freiheitstheorie von vornherein vorzubeugen, bevor dann zu einer eigentlich systematischen Rekonstruktion und Bewertung seiner Theorie übergegangen werden kann. Eine erste interpretatorische Schwierigkeit zeigt sich bereits auf sprachlichbegrifflicher Ebene. Reinhold verwendet überwiegend kantische Terminologie, womit auf den ersten Blick suggeriert wird, es handle sich – wie der Titel „Briefe über die Kantische Philosophie“ nahelegt – um eine bloße Exegese bzw. um erläuternde Anmerkungen zum Zwecke der Popularisierung und Allgemeinverständlichkeit. Entgegen dieser in der Vergangenheit immer wieder vertretenen Lesart vertrete ich die These, dass Reinhold im zweiten Briefband eine scharfsinnige immanente Kritik und Transformation der kantischen Freiheitslehre vollzieht. Dabei rückt besonders der von Kant unterbestimmte Begriff des Willens ins Zentrum.20 Einer Kritik der praktischen Vernunft muss deshalb, will man die Wirklichkeit und Individualität menschlicher Freiheit verstehen, eine Kritik des Willens folgen. In einem Brief an Jens Immanuel Baggesen vom 28. März 1792 – also unmittelbar vor Erscheinen des ersten Hauptstücks der Religionsschrift im

18  Kant, GMS, AA IV, 447. 19  Lazzari (2004), 17. 20  Ameriks (2012) spricht in diesem Zusammenhang treffend von „Ambiguities in the Will“.

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April desselben Jahres – gibt Reinhold auf geradezu programmatische Weise Auskunft über seine Kant-Kritik, in der bereits alle entscheidenden Momente seines eigenen Freiheitsbegriffs in nuce enthalten sind: „Gänzlich entferne ich mich von Kant und den Kantianern im Begriffe vom Willen, den ich weder für Causalität der Vernunft, noch Vermögen, nach vorgestellten Gesetzen u. s. f. zu handeln, sondern als ein von der Vernunft und Sinnlichkeit gleich verschiedenes Vermögen der Person halte, sich selbst zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines Begehrens (Foderung des eigennützigen Triebes) zu bestimmen.“ Nach dieser überwiegend negativen Bestimmung fährt Reinhold fort, indem er seinen Begriff positiver Freiheit näher charakterisiert: Diese Selbstbestimmung geschieht freilich durch Vorschriften, folglich in sofern durch die Vernunft; aber die Vernunft verhält sich dabei als bloßes Vermögen, welches dazu vom Subjekte beim Wollen auf zweierlei Art gebraucht werden kann, indem es auf das Subjekt ankömmt, die Vorschrift entweder zum bloßen Mittel der Befriedigung des eigennützigen Triebes, oder zum Zweck, und die Befriedigung zum bloßen Mittel, die Vorschrift zu realisieren, zu machen [Hervorh. J.N.].21 Reinholds Bestimmung des Willens gegenüber der Vernunft besteht darin, beide Begriffe zum einen voneinander scharf abzugrenzen, sie in einem zweiten Schritt jedoch wieder aufeinander zu beziehen. Sein zweiter Briefband enthält also, versteckt unter dem Gestus der bloßen Auslegung, eine eigenständige Theorie menschlicher Freiheit. Allerdings bedient sich Reinhold dabei immer noch überwiegend der kantischen Terminologie, so dass die einzelnen Begriffe seiner Theorie ihre Bedeutung nur aus ihrer Neupositionierung, d.h. der spezifischen Relation und Differenz zu benachbarten Begriffen erhalten. Man kann Reinholds freiheitstheoretisches Programm im zweiten Briefband deshalb als eine immanente Kritik der reinen praktischen Vernunft beschreiben, infolge derer sich ‚unter der Hand‘ eine Verschiebung der gesamten kantischen Konstellation freiheitstheoretischer Begriffe ereignet. Innerhalb dieser Neukonfiguration der freiheitstheoretischen Begriffe nimmt, wie noch zu zeigen sein wird, Reinholds Begriff der Person als begriffliches Zentrum eine ausgezeichnete Stellung ein. Reinhold entwickelt zu diesem Zweck eine kritische Handlungstheorie, im Zuge derer er Vernunft und Wille in ein reflexives Verhältnis des Gebrauchs bringt: „Die Wirkung der Vernunft kann nie der Vernunft widersprechen; wohl aber die Handlung der Person durch Vernunft, weil diese letztere nicht in der bestimmten Handlungsweise der Vernunft, sondern in dem Vermögen, sich 21   Baggesen-Briefe, 1, 168 f.

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seine Handlungsweise selbst zu bestimmen, und die Vernunft willkührlich zu gebrauchen, gegründet ist [Hervorh. J.N.].“22 Man hat im Gefolge Kants, so Reinholds Diagnose, „die Handlungen des Willens mit den Aeußerungen der Vernunft beym Wollen verwechselt“ und „durch eine sehr natürliche Erschleichung die Vernunft bey den sittlichen Handlungen personificier[t], oder, welches eben so viel heißt, die praktische Vernunft unabhängig von der Willkühr der Person handeln lassen“.23 Die Folge einer solchen Identifizierung besteht darin, dass „der handelnden Vernunft keine andere Maxime möglich [bleibt], als das praktische Gesetz selbst. Es giebt dann keinen willkührlichen Gebrauch der Vernunft beym Wollen, und die unsittlichen Handlungen hören auf frey zu seyn [Hervorh. J.N.]“.24 Reinholds personalitätstheoretische Kritik am kantischen Handlungsbegriff tritt sehr prägnant in folgender Feststellung zu Tage: „[D]ie praktische Vernunft ist kein Wille, ob sie gleich wesentlich zum Willen gehört, und sich bey jedem eigentlichen Wollen äußert [nämlich insofern sie individuell gebraucht wird; J.N.]. Die Handlung der praktischen Vernunft ist bloß unwillkührlich.“25 Der kantische Begriff einer praktisch werdenden reinen Vernunft wird also deswegen für Reinhold problematisch, weil hierbei das Urteils- bzw. Erkenntnis- und das Ausführungsprinzip der Moralität aufs Engste miteinander verwoben und nicht voneinander unabhängig sind. Aus dieser Koppelung und Gleichschaltung beider Prinzipien lässt sich, wie dies bei Schmids „intelligiblem Fatalismus“ manifest geworden war, die Notwendigkeit moralisch guter Handlungen sowie die Unmöglichkeit der Zurechenbarkeit moralisch böser Handlungen folgern: „Sobald einmal angenommen ist, daß die Freyheit des reinen Wollens lediglich in der Selbstthätigkeit der praktischen Vernunft besteht, so muß man auch zugeben, daß das unreine Wollen, welches nicht durch praktische Vernunft bewirkt wird, keineswegs frey sey.“26 Freie Selbstbestimmung fällt gemäß Reinholds Theorie personalen Selbstbewusstseins also nicht mehr mit dem reinen Wollen zusammen, sondern ist auch im Modus unreinen Wollens möglich. Entscheidend für die Freiheit des Willens ist demnach nicht die Frage, ob Vernunft den Willen bestimmt, sondern wie sie dies tut: „Die unsittliche Handlung läßt sich so wenig als die sittliche ohne den zum Wesen der Handlung gehörigen Gebrauch der Vernunft denken [Hervorh. J.N.].“27 Reinhold übernimmt zwar Kants Begriff des 22  Reinhold, Briefe II, 180. 23  Reinhold, Briefe II, 180. 24  Reinhold, Briefe II, 179 f. 25  Reinhold, Briefe II, 198. 26  Reinhold, Briefe II, 185 f. 27  Reinhold, Briefe II, 175.

„Freyheit durch oder wider das Gesetz “

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principium diiudicationis: Die Person gibt sich das Sittengesetz „durch bloße Vernunft, und dieses ist daher unwillkürlich und unvermeidlich, und immer eben dasselbe.“28 Allerdings ist damit nicht automatisch auch die Realisierung des von der Vernunft Vorgeschriebenen in einer Handlung verbunden. Vielmehr besitzt die Person alternative Möglichkeiten der Entscheidung und bringt die konkrete Handlung „durch Willkür hervor“, d.h. „immer so, daß sie auch das Gegenteil davon hervorbringen kann, und oft wirklich hervorbringt [Hervorh. J.N.].“29 Selbstbestimmung bedeutet nach Reinhold insofern „Freyheit durch oder wider das Gesetz [Hervorh. J.N.]“.30 Durch seine Unterscheidung zwischen objektiver Vernunfterkenntnis und individuellem Gebrauch der Vernunft, der nicht mit dem principium executionis der Vernunft zusammenfällt, entwirft Reinhold eine Doppelaspekttheorie des Willens. Wie Reinhold betont, sind „[d]er reine Wille sowohl als der unreine […] nichts andres als die beyden gleich möglichen Handlungsweisen des freyen Willens; beyde zusammen genommen gehören zur Natur der Freyheit, die ohne die Eine von beyden denkbar zu seyn aufhört [Hervorh. J.N.]“.31 Reinhold bezieht sich dabei auf Kants Begriff der Maxime, deren Willensstruktur er als eine individuelle Form des Vernunftgebrauchs interpretiert: In der Maxime ist Vernunft mit Willkühr; im Naturgesetz des Begehrens Vernunft mit dem Triebe nach Vergnügen vereinigt; im praktischen Gesetze ist Vernunft für sich allein geschäftig. DREYERLEY Vorschriften, die als Vorschriften Aeußerungen der Vernunft sind, unter denen aber die erste ihren determinierenden Grund [Hervorh. J.N.] in der Freyheit der Person, die zweyte in Lust und Unlust, die dritte in der bloßen Vernunft hat. (Reinhold, Briefe II, 178) Reinhold scheint in diesem Zitat nahezulegen, dass Handlungen auch dann frei oder selbstbestimmt genannt werden können, wenn ihre Maximen sich einem individuellen Vernunftgebrauch verdanken, der nicht mit dem reinen praktischen Gesetz und seiner Forderung zusammenfällt – ohne damit zur bloßen, heteronom bestimmten instrumentellen Vernunft zu verkommen.

28  Reinhold, Briefe II, 199. 29  Reinhold, Briefe II, 294. 30  Reinhold, Briefe II, 198 f. 31  Reinhold, Briefe II, 188.

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Schiller über individuelle Freiheit

Für Schillers Freiheitstheorie spielen sowohl Kants Theorie selbst, als auch die Freiheitstheorie Karl Leonhard Reinholds, eine zentrale Rolle. Ein Indiz dafür, dass Reinholds Theorie individueller Freiheit für die Philosophie Schillers von großem Einfluss war, zeigt sich in einer – leicht zu übersehenden – Fußnote in seiner Schrift Über Anmut und Würde.32 Schiller nimmt darin auf „die aller Aufmerksamkeit würdige Theorie des Willens im zweyten Theil der Reinholdischen Briefe“33 Bezug. Allerdings übernimmt Schiller nicht einfach den reinholdschen Willensbegriff, sondern versucht diesen durch weitere Bestimmungen systematisch zu ergänzen. Neben Reinholds Willensbegriff ist es Kants Begriff der ästhetischen Urteilskraft, die Schiller aufgrund ihrer vermögenstheoretischen Zwischenstellung zwischen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen, Verstand und Vernunft, für seinen Begriff personaler Freiheit fruchtbar zu machen sucht. Worin besteht die systematische Bedeutung von Schillers Freiheitsbegriff? Sein eigenständiger philosophischer Beitrag zur Freiheitsdebatte im Ausgang von Kant darf nicht nur als ein ästhetisches Ausbalancieren und Abmildern der kantischen Moralphilosophie verstanden werden. Tatsächlich weist Schillers Freiheitstheorie gegenüber dem kantischen Ansatz gravierende Transformationen auf, so dass sie als ein systematisch gewichtiger Beitrag zur nachkantischen Freiheitsdebatte gelten kann. Erschwerend für eine Würdigung des schillerschen Freiheitsbegriffs ist allerdings die Tatsache, dass Schillers Verhältnis zu Kant nicht immer eindeutig ist. Schillers Freiheitsbegriff vermag sich nicht gänzlich vom kantischen zu emanzipieren, so dass Schiller an einigen Stellen geradezu zwei Freiheitsbegriffe – die kantische Theorie einer Autonomie der Vernunft und seinen eigenen, im Ausgang von Reinhold entwickelten – zu vertreten scheint.34 Die Gründe für diese scheinbare Koexistenz zweier Freiheitsbegriffe liegen auf der Hand: Wie zuvor Reinhold, so tat sich auch Schiller schwer damit, sich von der überwältigenden Wirkmächtigkeit der kantischen Begriffsprägungen zu emanzipieren, so dass er seine Gedanken nur im Gewand kantischer Terminologie zu präsentieren vermochte. Diese begriffliche Orientierung an Kant wiederum führt dazu, dass eigene kritische Abweichungen nur schwer zu entdecken sind.

32  Zum freiheitstheoretischen Verhältnis von Reinhold und Schiller vgl. Roehr (2003a). Zu Schillers Freiheitsbegriff im Ausgang von Kant vgl. ferner Roehr (2003b). 33  Schiller, AW, 290. 34  Vgl. Roehr (2003b), 134.

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Es geht Schiller bei seiner Auseinandersetzung mit Kants Freiheitstheorie also nicht so sehr um ästhetische Ausbalancierungen, sondern durchaus um gewichtige, von Kant geerbte und durch Reinhold vermittelte Sachprobleme, deren Auflösung er im Medium der Ästhetik – einem Medium, mit dem Schiller meisterhaft vertraut war – nur veranschaulicht. Schillers Theorie des Schönen kann deshalb als eine Phänomenologie individueller Freiheit verstanden werden; sie beschreibt die Wirklichkeit der Freiheit, d.h. die Struktur des individuellen Willens als Wahl- und Vermittlungsinstanz zwischen Vernunft und Natur: „Schönheit“, so Schiller, „ist nichts anders, als Freiheit in der Erscheinung“.35 Worin genau besteht die Transformationsleistung von Schillers Freiheitsbegriff gegenüber Kants Autonomie-Lehre? Schillers Freiheitsprojekt im Ausgang von Kant ist ganz allgemein dadurch motiviert, einen unverkürzten Freiheitsbegriff zu entwickeln, der auf Basis der vollständigen Natur des Menschen eine individuelle Freiheit zum Guten und Bösen einschließt. Die immense philosophische Bedeutung eines derartigen Freiheitsbegriffs wird vor dem Hintergrund von Schillers poetischem Werk ersichtlich.36 In der Vorrede zu den Räubern schreibt Schiller geradezu rechtfertigend, dass es die Gattung des Dramas erfordere, „daß mancher Karakter auftreten mußte, der das feinere Gefühl der Tugend beleidigt, und die Zärtlichkeit unserer Sitten empört“. Schiller fährt – für sein Freiheitsprojekt geradezu programmatisch – fort: „Jeder Menschenmaler ist in diese Notwendigkeit gesezt, wenn er anders eine Kopie der wirklichen Welt, und keine idealische Affektationen, keine Kompendienmenschen will geliefert haben [Hvh. J.N.].“37 Dem poetischen Gegenstück zu einem solchen „Kompendienmenschen“, der nur Ausdruck eines allgemeinen, jedoch nicht individuellen Charakters ist – der Person des Karl Moor –, legt Schiller deshalb folgende Worte in den Mund, die geradezu eine Programmatik einer ‚dramatischen‘ Freiheit zum Bösen als gewollte Verletzung von Gesetzen darstellen: Ich soll meinen Leib pressen in eine Schnürbrust, und meinen Willen schnüren in Geseze. Das Gesez hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre. Das Gesez hat noch keinen grossen Mann gebildet, aber die Freyheit brütet Kolosse und Extremitäten aus.38 35  Schiller, Kallias, 285. 36  Es wäre Aufgabe einer eigenen Untersuchung, Schillers Freiheitsbegriff(e) in seinem gesamten dramatischen Werk zu rekonstruieren. 37  Schiller, Die Räuber, 5. 38  Schiller, Die Räuber, 21.

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Und auch die Person des Christian Wolf, des Verbrechers aus verlorener Ehre, bekennt rückblickend auf ihr bisheriges Leben: Ich wollte Böses tun, soviel erinnere ich mich noch dunkel. Ich wollte mein Schicksal verdienen. Die Gesetze, meinte ich, wären Wohltaten für die Welt, also faßte ich den Vorsatz, sie zu verletzen; ehemals hatte ich aus Notwendigkeit und Leichtsinn gesündigt, jetzt tat ich’s aus freier Wahl zu meinem Vergnügen [Hvh. J.N.].39 Es geht Schiller also ausdrücklich um die konkrete, ‚dramatische‘ Wirklichkeit des Menschen und seiner individuellen Freiheit, oder, wie Schiller selbst in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen – in kritischer Abhebung von der kantischen Freiheitslehre – betont: Um aller Mißdeutung vorzubeugen, bemerke ich, daß, so oft hier von Freyheit die Rede ist, nicht diejenige gemeynt ist, die dem Menschen, als Intelligenz betrachtet, nothwendig zukommt […], sondern diejenige, welche sich auf seine gemischte Natur gründet [Hvh. J.N.].40 Die Freiheit des Menschen verdankt sich nach Schiller demnach nicht allein der exklusiven Beziehung auf das allgemeine Sittengesetz der Vernunft und einen intelligiblen Charakter, sondern einer freien Reflexion darauf, unter Einschluss seiner ganzen Natur: Dadurch daß der Mensch überhaupt nur vernünftig handelt, beweist er eine Freyheit der ersteren Art [nämlich als Intelligenz; J.N.], dadurch, daß er in den Schranken des Stoffes vernünftig, und unter Gesetzen der Vernunft materiell handelt, beweist er eine Freyheit der zweyten Art [nämlich als natürlich-vernünftige Person; J.N.].41 Schillers Methode zur Entwicklung eines derartigen Freiheitsbegriffs besteht darin, zunächst einen formalen Begriff ‚harmonischer Freiheit‘ zu entwickeln, der die Leitlinien für sein Freiheitsprojekt angibt und sich phänomenal mit dem Bereich des Ästhetischen – zumal der Stellung des Vermögens der ästhetisch-reflektierenden Urteilskraft – parallelisieren lässt. Dies versucht Schiller dadurch zu erreichen, dass er verschiedene voluntative Selbstverhältnisse 39  Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre, 14 f. 40  Schiller, ÄE, 373 Fn. 41  Schiller, ÄE, 373 Fn.

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des Menschen ihrer Form nach analysiert und schließlich dasjenige identifiziert, welches einem realen Freiheitsbegriff angemessen ist. In einem zweiten Schritt wird dieser zunächst rein formale Begriff harmonischer Freiheit weiter substanziiert, indem er auf die menschlichen Grundtendenzen von Form- und Stofftrieb bezogen und damit materialisiert wird. Diese interne Struktur des Willens führt Schiller zu einem abgeschwächten Dualismus, der Vernunft und Natur nicht mehr ‚rigoristisch‘ entgegensetzt, sondern beide durch Freiheit ‚kompatibilistisch‘ verbindet, ja, die Vernunft aus der Natur im Verlauf der „Geschichte der menschlichen Freiheit“42 gar hervorgehen lässt. Schließlich spielt auch Schillers Begriff des Geistes eine zentrale Rolle für seine Theorie individueller Freiheit. Die spezifische Aktivität des Geistes besteht in der Reflexion auf die dem Menschen von Natur aus eingepflanzten widerstrebenden Grundtendenzen von Sinnlichkeit und Vernunft und in dem Synthetisieren und Integrieren beider zu einer Willenseinheit. Freiheit wird dadurch nicht mehr im Sinne einer absoluten Ursache – als Kausalität der Vernunft – verstanden, sondern als eine ästhetische Qualität von Willensgefügen, die verschiedene Ausprägungen innerhalb eines Willensbildungsprozesses kennt. Worin besteht dieser harmonische und ästhetische Zustand personaler Freiheit genau? Die Zwischenstellung des Willens als Geist, der weder mit Sinnlichkeit noch mit Vernunft identisch ist,43 erlaubt es, diesen in eine Strukturanalogie zum ästhetischen Vermögen der reflektierenden Urteilskraft zu bringen, durch welches Kant den Status des Geschmacksurteils als ‚subjektive Allgemeinheit‘44 bestimmt hatte. Gerade das Ästhetische wird bei Kant als Effekt eines harmonisch gefügten, freien Verhältnisses der menschlichen Natur gedacht: Die Spontaneität im Spiele der Erkenntnisvermögen, deren Zusammenstimmung den Grund dieser Lust enthält, macht den gedachten Begriff zur Vermittlung der Verknüpfung der Gebiete des Naturbegriffs mit dem Freiheitsbegriffe in ihren Folgen tauglich.45 Wie das Vermögen der Urteilskraft, die nach Kant „ihr eigenes Prinzip nach Gesetzen“ als „ein bloß subjektives, a priori in sich enthalten dürfte“46 und 42  Schiller, ÄE, 374. 43  Vgl. Schiller, ÄE, 371. 44  Vgl. KU, AA V, 198 f. 45  KpV, AA V, 197. 46  KpV, AA V, 177.

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zwischen Natur- und Vernunftgesetz steht, so bezieht nach Schiller auch der individuelle Wille, d.h. die Willkür, seinen spezifischen Platz im Gefüge der menschlichen Vermögen. Subjektiv ist sein Freiheitszustand insofern, als er sich weder auf die Gesetzlichkeit reiner praktische Vernunft, noch auf die Gesetzlichkeit der Natur reduzieren lässt. Allgemein ist er insofern, als er darin nicht unbestimmt ist, sondern eine objektive Struktur aufweist, die sich im Anspruch einer Zweckmäßigkeit bzw. in der holistischen Fügung der Willenstendenzen zeigt, die sich als eine Art volitionaler Notwendigkeit manifestiert: „Das innre Prinzip der Existenz an einem Dinge, zugleich als der Grund seiner Form betrachtet; die innre Notwendigkeit der Form. Die Form muß im eigentlichsten Sinn zugleich selbstbestimmend und selbstbestimmt sein, nicht bloße Autonomie sondern Heautonomie muß da sein.“47 5 Schlussbetrachtung Es ist auffällig, dass sich im Zuge der Individualisierung menschlicher Freiheit bei Reinhold und Schiller die Tendenz findet, von Fragen der Begründung und Objektivität von Moral Abstand zu nehmen. Trotz dieses normativitätstheoretischen Defizits kann man – gerade bei Schiller – Ansätze sehen, diese über einen Begriff intersubjektiver Freiheit wieder einzubeziehen. Auch sind nach Schiller Handlungen keine grundlosen Produkte einer Indifferenzfreiheit, sondern wesentlich determiniert. Denn jede Entscheidung schließt immer schon eine freie Reflexion der allgemeinen Vernunft ein: „Gebunden ist er [scil. der Wille] an keine [Gesetzgebung], aber verbunden ist er mit dem Gesetz der Vernunft [Hvh. J.N.].“48 „Der Wille steht“, wie Schiller betont, „zwischen beyden Gerichtsbarkeiten [der Natur und der Vernunft; J.N.], und es kommt ganz auf ihn selbst an, von welcher er das Gesetz empfangen will“. Diese Freiheit des individuellen Willens, der „vollkommen frey zwischen Pflicht und Neigung steht“, bezeichnet Schiller als das „Majestätsrecht der Person“.49 Schiller löst also, ebenso wie Reinhold, den Willen von seiner exklusiven Bindung an die Vernunft und verortet ihn reflexiv dazu. Freiheit, wie Schiller sie am Leitfaden der Schönheit versteht, erlangt ihre Bestimmtheit „nicht in der Ausschließung gewisser Realitäten, sondern in der absoluten Einschließung aller“,50 also nicht durch Exklusion, sondern durch Inklusion und Integration. Geistige Freiheit ist umso größer, je größer die Mannigfaltigkeit primärer Willenstendenzen 47  Schiller, Kallias, 306. 48  Schiller, AW, 290. 49  Schiller, ÄE, 316. 50  Schiller, ÄE, 367.

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harmonisch in eine Willenseinheit integriert werden kann. Diese Integration ist ausdrücklich auch im Sinne einer intersubjektiven Praxis zu verstehen: „Ein edler Geist begnügt sich nicht damit, selbst frey zu seyn, er muß alles andere um sich her, auch das Leblose, in Freyheit setzen.“51 Eine freie Person überträgt also nach Schiller ihre Willensharmonie gleichermaßen auf Kunstprodukte wie auf eine interpersonale Gemeinschaft, die sie in eine gemeinsame ‚Resonanzfrequenz‘ der Freiheit versetzt. Siglen und Literaturverzeichnis Kants Schriften werden mit Ausnahme der Kritik der reinen Vernunft, welche nach der B-Auflage zitiert wird, unter Angabe der Sigle und der Band- und Seitenzahl nachgewiesen gemäß der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Akademie-Ausgabe [AA], Berlin 1900 ff. GMS KpV KrV RGV

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, (AA IV, 385–463). Kritik der praktischen Vernunft, hg. von Horst D. Brandt u. Heiner F. Klemme, Hamburg 2003 (AA V, 1–164). Kritik der reinen Vernunft, hg. von Jens Timmermann, Hamburg 1998. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (AA VI, 1– 202).

Schillers Schriften werden zitiert nach der Nationalausgabe [NA], hg. von Julius Petersen, Lieselotte Blumenthal, Benno von Wiese u. Siegfried Seidel, Weimar 1940 ff., unter Angabe von Band- und Seitenzahl.

Kallias Kallias, oder Über die Schönheit. Briefe an Gottfried Körner (1792 f.), in: Ders.: Theoretische Schriften, hg. von Rolf Peter Janz, Frankfurt/M. 2008, 276–329. AW Über Anmut und Würde (1793), in: NA XX, 252–308, hg. v. Benno von Wiese, Weimar 1962. ÄE Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795), in: NA XX, 309–412, hg. v. Benno von Wiese, Weimar 1962. Ameriks, Karl (2012), „Ambiguities in the Will: Reinhold and Kant, Briefe II“, in: Violetta Stolz/Marion Heinz/Martin Bondeli (Hg.), Wille, Willkür, Freiheit. Reinholds Freiheitskonzeption im Kontext der Philosophie des 18. Jahrhunderts, Berlin/Boston, 71–89.

51  Schiller, ÄE, 386 Fn.

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Von der Unmöglichkeit der Kant’schen Freiheitslehre nach Salomon Maimon Amit Kravitz Eine herzhebende und zugleich demüthigende Stimme ruft ihm [dem Skeptiker] zu: Du sollst das gelobte Land von ferne sehen, aber dahin nicht kommen! Doch hier ist zum Glück das Sehen und das Dahinkommen einerlei […]. Salomon Maimon, Der moralische Skeptiker

∵ 1 Einleitung Eine der wenigen Studien, welche dem Philosoph Salomon Maimon gewidmet ist, trägt den zutreffenden Titel Hiob der Aufklärung.1 Diese Bezeichnung lässt sich mindestens auf dreierlei Art interpretieren. Die erste bezieht sich auf die besondere Geschichte des Lebens Maimons,2 oder spezifischer gesagt: auf sein Leben als Jude. Zwar beinhaltet das Leben Maimons ohnehin bereits genug Momente, welche uns auch unabhängig von seinem jüdischen Hintergrund ausreichend Anlässe geben, ihn als eine Art ‚Hiob‘ anzusehen. Jedoch ist eventuell ausgerechnet das, was uns am Klarsten die tragische Dimension seines Lebens vergegenwärtigen könnte, was sich kurz nach seinem Ableben ereignete und sich explizit auf seine jüdische Herkunft bezieht. Denn der Legende nach wurde Maimon nicht nur außerhalb des Friedhofs der jüdischen Gemeinde begraben – das Übliche, um jemanden als Ketzer zu stigmatisieren – sondern zusätzlich warfen die Kinder der jüdischen Gemeinde in Głogów während seiner Beerdigung Steine auf seinen Sarg, was die Demütigung und die Verachtung auf die Spitze trieb. Ungeachtet der Tatsache, dass in Maimons Leben – sowie in seinem Denken – eine deutliche Entfremdung von der praktischen Dimension des

1  Pfaff (1995). 2  Maimon, Salomon Maimons Lebensgeschichte.

© koninklijke brill nv, leiden, 2019 | doi:10.1163/9789004383586_011

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jüdischen Lebens zu bemerken ist,3 wäre es jedoch irreführend, ihn bspw. mit seinem berühmten Vorgänger Spinoza diesbezüglich gleichzusetzten. Denn diese Entfernung vom Judentum, welche in manchen Aspekten sicherlich auch eine starke Ablehnung dessen bedeutete, diente zwar Denkern wie Maimon oder Spinoza als eine Art notwendige Vorbedingung, ohne die sie ihren philosophischen Weg höchstwahrscheinlich niemals gefunden hätten. Allein war dieser Schritt im Falle Maimons freilich nicht so eindeutig und ohne Hemmungen ausgeführt wie bei Spinoza. Die Ambivalenz der Einstellung Maimons gegenüber dem Judentum4 – eine, die bei Spinoza schwer zu finden ist – zeigt sich u.a. in der seltsamen Geschichte, die Maimon selbst in seiner Autobiographie erzählt. Der lutherische Geistliche, an den sich Maimon wandte, um zum Christentum überzutreten, habe seine Bitte mit der Begründung, Maimon sei „zu sehr Philosoph, um ein Christ werden zu können“,5 letztendlich zurückgewiesen. Wer denkt, derselbe lutherische Geistliche hätte auch einen Spinoza mit ähnlicher Begründung zurückweisen können, täuscht sich. Denn erstens war Spinoza von dem Gedanken, zum Christentum zu konvertieren, aus prinzipiellen Gründen ziemlich entfernt; bei ihm kam der ‚Religion‘ überhaupt und in welcher Form auch immer in seinem Hauptwerk Ethica ordine geometrico demonstrata keine echte philosophische Bedeutung zu; sie diente nur, wie wir von anderen Schriften Spinozas lernen können, dazu, den Pöbel zu zähmen. Und zweitens war Maimon nicht nur zu philosophisch und deshalb untauglich, das Christentum anzunehmen, sondern gleichzeitig auch zu jüdisch; denn beim Gespräch mit dem lutherischen Geistlichen sagte er ausdrücklich, dass die jüdische Religion immerhin „in Ansehung ihrer Glaubensartikel der Vernunft näher als die christliche [kommt]“;6 seiner scharfen Kritik an dem „Mißbrauch des Rabbinismus“7 ungeachtet war Maimon der Meinung, dass die jüdische Theologie „sich noch immer [und im Gegensatz bspw. zum Christentum] rein erhalten hat“.8 Maimon musste also bleiben, was er – seiner eignen Definition nach – schon immer war: „ein verstockter 3  Vgl. bspw. Maimons Kurze Darstellung der jüdischen Religion von ihrem Ursprung bis auf die neusten Zeiten, in Salomon Maimons Lebensgeschichte, 223: „Die Feder entfällt meiner Hand bei der Erinnerung, daß ich und mehere meinesgleichen die besten Jahren, wo die Kräfte in ihrer vollen Stärke sind, mit diesem diesem geisttötenden Geschäft zubringen und Nächte durchwachen mußte, um, wo kein Sinn ist, einen Sinn hereinzubringen, Widersprüche, wo keine zu finden waren, durch Witz zu entdecken, und da, wo sie offenbar anzutreffen sind, durch Scharfsinn zu heben […]“. 4  Vgl. Buzaglo (2002). 5  Maimon, Salomon Maimons Lebensgeschichte, 184. 6  Maimon, Salomon Maimons Lebensgeschichte, 183. 7  Maimon, Kurze Darstellung der jüdischen Religion, 223. 8  Maimon, Kurze Darstellung der jüdischen Religion, 224.

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Jude“.9 Dass Maimon – im Gegensatz zu Spinoza – nie aufgehört hat, sich als Jude zu sehen, färbt sein Schicksal deshalb in ein tragisches Licht; ohne die Dialektik der Ablehnung des Judentums als verstockter Jude (und nicht als Christ oder als Ketzer im Geiste Spinozas) lässt sich Maimons Leben, wie auch gewisse Teile seines Denkens – bspw. seine praktische Philosophie –, nicht vollkommen nachvollziehen. Zweitens war Maimon nicht nur ‚Hiob der Aufklärung‘ sondern auch ‚Hiob der Aufklärung‘; er war nicht nur ein Aufklärer bzw. ein Ketzer unter den Juden, sondern auch ein Jude unter den (christlich geprägten) Aufklärern. Und die besonderen anti-jüdischen Tendenzen der Aufklärung, welche zum größten Teil an der Theologie Luthers, in welcher Form auch immer, anknüpfen,10 müssen diesbezüglich auch in Betracht gezogen werden. Selbst bei Kant – freilich Maimons größtem Vorbild unter den modernen Philosophen, der für ihn sowohl als Quelle der Inspiration im Allgemeinen wie auch als Quelle des Einflusses diente – ist eine eindeutige Ablehnung des Judentums11 (wie auch der Juden12) festzustellen, die nicht nur als Kants Privaturteil zu verstehen ist, sondern auch in der Art und Weise, wie Kant das Verhältnis zwischen ‚Vernunft‘ und ‚Geschichte‘ auffasst, tief verwurzelt ist.13 Dass Maimon sich trotz allem immer noch als Jude – wenn auch als ein verstockter – sah, und dass er gegenüber der (christlich geprägten) Aufklärung seine Philosophie formulierte, erwähne ich nicht umsonst; denn es ist durchaus eine möglich Leseart – eine, die ich hier zwar nicht explizit verfolge, aber die sich immer hinter meiner philosophischen Auslegung auf eine Art verbirgt – seine Kritik an Kants praktischer Philosophie bzw. an Kants Begriff der Freiheit auch im Lichte dieser Perspektive zu verstehen. Denn Kant selbst identifiziert immer wieder – und damit beruft er sich auf eine lange christliche Tradition, die in den Paulinischen Schriften verwurzelt ist – ‚Legalität‘ mit ‚Judentum‘ und ‚Moralität‘ mit ‚Christentum‘.14 Dass Maimon zeigen will, dass es keine kategoriale Unterscheidung zwischen ‚Legalität‘ und ‚Moralität‘ gibt 9  Maimon, Salomon Maimons Lebensgeschichte, 185. 10  Kaufmann (2015), 151. 11   Siehe z.B. Kants Aufruf zur „Euthanasie des Judenthums“ (SF, AA VII: 53), oder seine Bestimmung, dass das Judentum „in seiner Reinigkeit genommen, gar keinen Religionsglauben [enthält]“ (RGV, AA VI: 126). 12  Die Juden waren laut Kant eine „Nation von Betrügern“ bzw. eine „Nation von lauter Kaufleuten […] [die] keine bürgerliche Ehre sucht, sondern dieser ihren Verlust durch die Vorteile der Überlistung des Volks, unter dem sie Schutz finden, und selbst ihrer untereinander ersetzen wollen“ (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII: 205). 13  Siehe Kravitz (2018). 14  Vgl. bspw. RGV, AA VI: 99.

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bzw. dass Moralität (eventuell) absolute Legalität15 sein könnte und dass „der Mensch erst gehorchen lernen [muss], ehe er durch seine Gesetzgebung regieren will“16 bzw. dass die Mitgliedschaft einer Republik der Moralität vorhergehen soll, könnte auch als Maimons Versuch angesehen werden, das ‚Judentum‘ innerhalb des Diskurses der Aufklärung stillschweigend zu rehabilitieren. Damit komme ich auf den Punkt, der mich in diesem Aufsatz beschäftigen wird, nämlich auf den philosophischen. Denn auch in Bezug auf diesen Bereich könnte Maimon als eine Art ‚Hiob‘ bzw. als eine tragische Figur angesehen werden. Damit behaupte ich nicht, dass Maimons Philosophie in seiner Zeit unbekannt oder unterschätzt war. Maimons größtes Talent ist selbst Kant nicht entgangen; in einem Brief vom 26.5.1789 schrieb er, „daß nicht allein niemand von meinen Gegnern mich und die Hauptfrage so wohl verstanden, sondern daß auch nur wenige zu dergleichen tiefen Untersuchungen soviel Scharfsinn besitzen möchten, als Hr. Maymon“.17 Aber im Laufe der Zeit geriet Maimons Werk freilich in Vergessenheit, und manche seiner wichtigen Aspekte – zu denen sicherlich Maimons praktische Philosophie zählt – wurden m.E. bisher nicht zufriedenstellend systematisch dargestellt (ob Kant selbst sie detailliert studiert hat auf dieselbe Art und Weise, wie er die theoretische Philosophie Maimons zur Kenntniss nahm, weiß ich nicht). Anliegen dieses Aufsatzes ist es in erster Linie, Maimons skeptische Einstellung gegenüber Kants Grundlegung der Moralität herauszustellen; ich werde zwar vorübergehend auch auf Maimons positive Alternative zu Kants Freiheitslehre zu sprechen kommen, allein eine eingehende Darstellung derselben liegt jenseits des Rahmens dieses Aufsatzes. Zwei berühmte Thesen von Kant, welche in vielerlei Hinsicht den Kern seines Verständnisses von ‚Freiheit‘ bilden, sind der Kritik Maimons unterzogen. Die erste bezieht sich auf das, was Kant in diesem Zusammenhang „die wahre Ordnung unserer Begriffe“18 nennt bzw. dass die „Sittlichkeit uns zuerst den Begriff der Freiheit entdecke“.19 Etwas spezifischer: Kant behauptet, dass der Begriff der Freiheit der Willkür nicht vor dem Bewußtsein des moralischen Gesetzes in uns vorhergehe, sondern nur aus der Bestimmbarkeit 15  Siehe bspw. Der moralische Skeptiker, 551. 16   Versuche einer neuen Darstellung des Moralprinzips und Deduktion seiner Realität, 317. Dies erinnert unweigerlich an den berühmten Satz aus der jüdischen Bibel (2. Mose, Kapitel 24, 7): „Und da sie sprachen: Alles, was der HERR gesagt hat, das wollen wir tun und gehorchen“. 17   A A XI: 49. 18   KpV, AA V: 30. 19   KpV, AA V: 30.

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unserer Willkür durch dieses, als ein unbedingtes Gebot, geschlossen werde.20 Aus der Tatsache, dass Kant bekannterweise das Bewusstsein des moralischen Gesetzes als a priorisches ‚Faktum‘ der reinen Vernunft bezeichnet, ergibt sich, dass es das Auftreten der Freiheit der Wahl (‚Willkür‘) erst möglich macht. Ein aufschlussreiches Beispiel veranschaulicht Kants Absicht diesbezüglich: Setzet, daß jemand von seiner wollüstigen Neigung vorgiebt, sie sei, wenn ihm der beliebte Gegenstand und die Gelegenheit dazu vorkämen, für ihn ganz unwiderstehlich: ob, wenn ein Galgen vor dem Hause, da er diese Gelegenheit trifft, aufgerichtet wäre, um ihn sogleich nach genossener Wollust daran zu knüpfen, er alsdann nicht seine Neigung bezwingen würde. Man darf nicht lange rathen, was er antworten würde. Fragt ihn aber, ob, wenn sein Fürst ihm unter Androhung derselben unverzögerten Todesstrafe zumuthete, ein falsches Zeugniß wider einen ehrlichen Mann, den er gerne unter scheinbaren Vorwänden verderben möchte, abzulegen, ob er da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte. Ob er es thun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen. Er urtheilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre.21 Das heißt wiederum nicht, dass sich die Person im Beispiel wirklich für eine Handlung aus Moralität entscheidet, sondern nur: Erst nachdem das Bewusstsein des moralischen Gesetzes (als ‚Faktum‘) auftrat, ist eine freie Handlung möglich; denn in dem Fall ist der Wille zwar durch Neigungen bereits affiziert (aber noch nicht bestimmt22), allein das Gesollte als eine wirkliche Alternative der Handlung wurde schon ins Spiel gebracht. Und das, wofür sich die Person in der Tat entscheiden wird, bleibt dahingestellt. Die zweite These bezieht sich auf Kants Behauptung, dass dieses ‚Faktum‘ bzw. dieses Bewusstsein des moralischen Gesetzes ursprünglich ist; denn dass wir uns des moralischen Gesetzes bewusst sind, heißt nicht zwangsläufig, dass wir auch erklären können, woher es sich ‚in uns‘ einsetzt. Anders gesagt: 20  RGV, AA VI: 49. 21   KpV, AA V: 30. 22   M S, AA VI: 213.

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Von seiner Entstehungsart werden wir laut Kant nie etwas erfahren können (nie, denn es handelt sich nicht um einen bestimmten zufälligen Mangel an Erkenntnis, den wir überwinden können, sondern um eine prinzipielle Schranke unseres Erkenntnisvermögens): „Wie nun dieses Bewußtsein der moralischen Gesetze, oder, welches einerlei ist, das der Freiheit möglich ist, lässt sich nicht weiter erklären“.23 Wie wir gleich sehen werden, ist Maimon gegenüber diesen zwei Bestimmungen ein Skeptiker besonderer Art; er leugnet nicht, dass „dieses Faktum ursprünglich sein könne“; allerdings besteht er darauf, dass es „unberechtigt [sei], dasselbe als ein solches vorauszusetzen“,24 vor allem, wenn gezeigt werden könnte, dass eine alternative Erklärung bezüglich dessen Ursprünglichkeit nicht nur bloß möglich, sondern besser ist, weil sie einige grundlegende Schwierigkeiten, die in der Kant’schen Theorie der Freiheit zu finden sind, und welche laut Maimon letztendlich zu ihrer Unmöglichkeit führen, beheben könnte. Wie dem auch sei: Auch der Skeptizismus bedarf einer Begründung und Ausdifferenzierung und bewegt sich nicht im leeren Raum; und kaum ein anderer Nachkantianer hat m.E. eine so zutreffende und elegante Kritik bezüglich Kants Freiheitslehre formuliert wie Maimon. Wir wollen nun dem Skeptizismus Maimons näherkommen. 2

Zwei Arten von Skeptizismus

Auf den ersten Blick erscheint es, dass der moralische Skeptiker und der moralische Dogmatiker (in diesem Zusammenhang fungiert Kant als der Dogmatiker, denn ein moralischer Dogmatiker legt der Moralität ein ursprüngliches ‚Faktum‘ zugrunde) über eine Tatsache geteilter Meinung sind. Denn nach diesem vereinfachten Bild des Skeptizismus – eben die Version dessen, die Maimon nicht vertreten möchte – legt der Dogmatiker der Moral den „Begriff von Pflicht als unbezweifeltes Faktum der gemeinen Menschenvernunft“25 zugrunde, während der Skeptiker ableugnet, dass ein derartiges ‚Faktum‘ überhaupt existiert. Mit Maimon gesprochen: „Der Skeptiker [dieser Art] bezweifelt das Faktum, das der Dogmatiker unbezweifelt26 [als ursprünglich] aufstellt“.27 Und aus der Tatsache, dass für den Dogmatiker das Bewusstsein dieses Faktums als 23   KpV, AA V: 46. 24   Der moralische Skeptiker, 549; eigene Hervorhebung. 25   Der moralische Skeptiker, 534. Siehe diesbezüglich Kants bekanntes Beispiel in KpV, AA V: 30. 26  „Das vorher genannte Factum ist unleugbar“; KpV, AA V: 32. 27   Der moralische Skeptiker, 534.

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Vorbedingung der ‚Freiheit‘ fungiert, ergibt sich notwendig, dass der Skeptiker die Freiheit selbst für unmöglich erklärt. Kant bedient sich gelegentlich der Metapher einer „Stimme der Vernunft“,28 um das Auftreten dieses ‚Faktums‘ im endlichen Bewusstsein darzustellen; anhand dessen kann man den Skeptiker auch folgendermaßen beschreiben: Ein Skeptiker dieser Art ist schlichtweg nicht bereit, der Stimme der Vernunft bzw. dem ursprünglichen Bewusstsein des moralischen Gesetzes Gehör zu schenken. Es sei allerdings beachtet, dass damit nicht gemeint ist, dass das, worauf ein Skeptiker dieser Art hinaus will, das bloße Stillen der Stimme der Vernunft sei, wie es bspw. der Fall ist, wenn Kant das Thema ‚Gewissen‘ in einem bestimmten Zusammenhang aufgreift.29 Maimon schreibt zwar, dass ein derartiger Skeptiker die (Stimme der) Vernunft nicht „hören will“,30 aber dies darf nicht so verstanden werden, als ob der Skeptiker auf irgendeine Art gegen das, was innerhalb dieser Stimme zu hören ist, kämpft. Denn dieser Schilderung gemäß gäbe der Skeptiker eigentlich zu, dass das besagte ‚Faktum‘ existiert, und der Unterschied zwischen ihm und dem Dogmatiker wird in dieser Beschreibung verwischt. Der Unterscheid lässt sich vielmehr auf folgende Weise beschreiben: Der Dogmatiker gibt sowohl die Existenz des ‚Faktums‘ wie auch dessen Ursprünglichkeit zu, während der Skeptiker dessen Existenz ab ovo leugnet (und damit fällt die Frage nach dessen Ursprünglichkeit ohnehin weg). Es sei mir deshalb erlaubt, Skeptiker dieser Art bzw. einen Skeptiker, der das ursprüngliche ‚Faktum‘ der Vernunft als solches leugnet, als ‚nihilistisch‘ zu bezeichnen. Denn zugegeben, dass „alle Philosophie zuletzt auf eine Thatsache beruhen muß,31 so beraubt sich dieser [scil. der nihilistische Skeptiker] alles 28  Siehe bspw. eine typische Formulierung in KpV, AA V: 35: „Die Stimme der Vernunft in Beziehung auf den Willen“. 29  In MpVT, AA VIII: 261 greift Kant – im Zusammenhang der Frage der Theodizee – das Problem des Gewissens des bösen Subjekts auf; dort vermerkt Kant, dass es den bösen Subjekten gelungen ist, „durch das Sinnenvergnügen“ „die kleinen Vorwürfe“ des Gewissens zu stillen – nur zu stillen, denn falls sie die Stimme der Vernunft nicht gehört hätten, hätten sie von Grund auf nicht als frei gedacht werden können. 30   Der moralische Skeptiker, 535. 31  Vgl. KU, AA V, 648: „Was aber sehr merkwürdig ist, so findet sich sogar eine Vernunftidee (die an sich keiner Darstellung in der Anschauung, mithin auch keines theoretischen Beweises ihrer Möglichkeit fähig ist) unter den Thatsachen; und das ist die Idee der Freiheit, deren Realität als einer besondern Art von Causalität (von welcher der Begriff in theoretischem Betracht überschwenglich sein würde) sich durch praktische Gesetze der reinen Vernunft und diesen gemäß in wirklichen Handlungen, mithin in der Erfahrung darthun läßt. – Die einzige unter allen Ideen der reinen Vernunft, deren Gegenstand Thatsache ist und unter die scibilia mit gerechnet werden muß“.

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Rechts, zu philosophieren“.32 Ein ‚Faktum‘ in diesem Zusammenhang nicht anzuerkennen und die Möglichkeit dessen Existenz schlichtweg abzulehnen, heißt in Wahrheit, der Möglichkeit der Moralität den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Aber nicht jeder Skeptiker muss zwangsläufig als nihilistisch bzw. als „Feind der Moralität“33 angesehen werden; der Skeptiker darf für seine Person – gleich dem Dogmatiker – auch eine Tatsache, die auf der Basis der Moralität steht, fordern; mehr noch: Er darf sogar dieselbe Tatsache, die der Dogmatiker als Ausgangspunkt seiner Moralität sieht, zugeben und fordern. In dem Fall befindet sich auch der Skeptiker innerhalb des Spiels der Moralität, und keiner darf ihm z.B. vorwerfen, er verachte die Würde des Menschen durch das Verleugnen der Möglichkeit einer freien Handlung. Allein dieser Skeptiker muss die Tatsache des gemeinen Verstandes – dieselbe, welche der Dogmatiker zugibt, und die für ihn als Ausgangspunkt der Moralität fungiert – anders verstehen, indem er behauptet, dass dieses ‚Faktum‘ eventuell nicht zwangsläufig das ist, wofür es im Dogmatismus gehalten wird bzw. dass es vielleicht doch nicht ursprünglich ist. Und wenn das Faktum nicht als ursprünglich gedacht wird, wird seine Entstehungsart zu einer brennenden Frage. Um nun verstehen zu können, warum und auf Grund welcher Schwierigkeiten in Kants Freiheitslehre die Frage nach dem Ursprung des ‚Faktums‘ überhaupt entsteht, muss man sich der Frage zuwenden, was ein kategorischer Imperativ – die absolute Forderung, welche sich in diesem Faktum kündigt – genau bedeutet. 3

Von der petitio principii des Dogmatikers

Ein kategorischer Imperativ muss nach Kant bekannterweise als unbedingt gedacht werden, d.i. er darf sich nicht auf einen gegebenen, bedingten Zweck, welcher dem Willen vorhergeht,34 beziehen. Im Falle von hypothetischen

32   Der moralische Skeptiker, 535. 33   Der moralische Skeptiker, 535. 34  Wichtig ist an dieser Stelle zu betonen, dass Kant im Falle des kategorischen Imperativs den Begriff ‚Zweck‘ als solchen nicht ausschließt, sondern nur eine gewisse Art von Zwecken; „denn ohne alle Zweckbeziehung kann gar keine Willensbestimmung im Menschen statt finden“ (RGV, AA VI: 5).

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Imperativen35 hingegen, um mich der Sprache Maimons bedienen zu dürfen, darf das ‚Sollen‘ mit einem ‚Werden‘ bzw. ‚Sein‘36 vertauscht werden; z.B: A will einen gegebenen Zweck, weiß aber die Mittel nicht, durch welche er zu demselben gelangen kann. B weiß diese Mittel, ohne den dadurch zu erlangenden Zweck zu wollen (weil er nicht Zweck für ihn ist, oder ihm dazu noch andere Mittel, in denen Besitze A ist, fehlen.). B theilt daher seine Erkenntniß dem A mit, d.h. er rathet ihm. Der den Zweck bestimmende Wille von A, und die die Mittel bestimmende Erkenntniß von B machen also den Inhalt des Rathes aus […] Der Rathende könnte, statt zu sagen; du sollst dieses und jenes thun, sagen; du wirst, kraft meiner dir jetzt mitzutheilenden Erkenntniß, dieses und jenes thun.37 Falls es sich herausstellt, dass auch der kategorische Imperativ durch ein ‚Werden‘ bzw. durch ein ‚Sein‘ vertauscht werden könnte, gäbe es in der Tat kein Sollen im echten Sinne des Wortes. Kant behauptet, dass es – um der Möglichkeit der Moralität willen – ein derartiges Sollen geben muss. So formuliert Maimon die Position Kants diesbezüglich: „Ich soll die Maxime des Willens durch das Vernunftgesetz bestimmen, ist ganz was anders, als: ich werde jene durch dieses bestimmen“.38 Aber was ist von Kant damit eigentlich gemeint? Dem ‚Sollen‘ kommen hier zwei Bedeutungen zu; die eine ist bereits eine wirkliche Bestimmung des Willens durch eine Forderung an die Willkür, während die andere, die sich auf die Willkür bezieht, wirklich werden soll (d.i. es ist noch nicht wirklich, im Gegensatz zu der ersten). Denn den Willen zu bestimmen heißt natürlich noch nicht, dass dadurch auch die Willkür bestimmt wird; es kann gut sein, dass – ungeachtet der (bereits wirklichen) Bestimmung des Willens – die Willkür das Sollen doch nicht zu seiner obersten Maxime macht, auch wenn sie es – zumindest nach der Kant’schen Beschreibung – tun soll. Nun drängt sich die folgende Frage auf: Lassen sich diese zwei Bedeutungen des Sollens – Bestimmung des Willens und Bestimmung der Willkür – im Werden vertauschen? Wenn es sich 35  Anders als Kant teilt Maimon die hypothetischen Imperative in ratende und befehlende ein (Der moralische Skeptiker, 538 ff.). Allerdings werde ich darauf nicht eingehen, denn uns interessiert in der jetzigen Diskussion einzig und allein die Frage nach dem kategorischen Imperativ. 36  Maimon verwendet gelegentlich Werden und Sein in diesem Zusammenhang synonym; vgl. bspw. Der moralische Skeptiker, 541. 37   Der moralische Skeptiker, 538 f. 38   Der moralische Skeptiker, 541.

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erweist, dass es in beiden Fällen möglich ist, dann gibt es keinen kategorischen Imperativ, was zur Unmöglichkeit der Moralität im Kant’schen Sinne führt. Was nun die erste Bedeutung angeht, löst Maimons Position keine besondere Schwierigkeiten aus: Anstatt „ich soll“ darf ich sicherlich „mein Wille ist“ sagen; denn es handelt sich hier um eine Bestimmung – Kant selber wird es zugeben – die bereits stattgefunden hat. Ein kategorischer Imperativ bzw. ein reines Sollen bezieht sich deshalb lediglich auf die Willkür – auf das Vermögen, welches noch nicht wirklich bestimmt wurde – was wiederum mit der Position Kants in Übereinstimmung zu stehen scheint. Allein Maimon schreibt: [W]enn meine Willkühr, jener Forderung gemäß (aber nicht bloß durch diese Forderung, weil sonst die Willkühr schon bestimmt seyn, und keiner Forderung bedürfen würde), wirklich bestimmt seyn wird, so wird die Maxime der Willkühr so und so seyn.39 Es hilft nicht, bemerkt Maimon scharfsinnig, dass der Kantianer sagt „kein Wenn, sondern die Willkühr soll! Was gewinnt aber der Moralist damit, daß er jene Forderung, die ihm selbst der Böse zugesteht, auf eine unnütze Art wiederholt!“40 Ist das, was der Dogmatiker diesbezüglich behauptet, nicht deshalb einfach eine Art Inanspruchnahme des Beweisgrundes? Die Behauptung Maimons mag an dieser Stelle verwundern; denn es ist nicht auf Anhieb klar, was damit genau gemeint ist, und warum ausgerechnet der Skeptiker die Oberhand hat. Wenn die Forderung des Sollens an die Willkür und nicht an den Willen gerichtet wird – und dies will Maimon nicht leugnen – dann ist das ‚Wenn‘ genau der Ort, wo die Freiheit bzw. das absolute Sollen in Form des kategorischen Imperativs erst auftritt. Und wie kann Freiheit als das, was schon bestimmt wurde, verstanden werden? Aber Maimon hat es uns noch nicht gezeigt, sondern nur gesagt. An dieser Stelle beginnt also Maimon, seine wahre Position gegenüber der Freiheitstheorie Kants und deren angeblicher Unmöglichkeit zu entfalten. Dies wird von Maimon mithilfe dessen, was er vier „unbezweifelte Wahrheiten“41 nennt, unternommen; im Lichte deren soll nach Maimon die Möglichkeit der Kant’schen Auffassung von Freiheit geprüft werden. Ich werde im nächsten Abschnitt erst die zwei ersten „unbezweifelten Wahrheiten“ aufgreifen, und in den zwei folgenden Abschnitten werde ich die zwei letzten behandeln. 39   Der moralische Skeptiker, 541. 40   Der moralische Skeptiker, 541 f. 41   Der moralische Skeptiker, 542.

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Modus tollens und Bestimmungsgrund

Die erste „unbezweifelte Wahrheit“, die Maimon anführt, ist der modus tollens: Es ist aus der allgemeinen Logik bekannt, daß ein hypothetischer Satz: wenn A ist, so auch B, sich so allgemein umkehren läßt: wenn B nicht ist, so ist auch A nicht.42 Die zweite bezieht sich auf den Begriff Bestimmungsgrund: Ein bestimmtes Vermögen (nicht der Begriff von Vermögen überhaupt) kann nicht anders, als durch eine bestimmte Wirkungsart oder Gesetze als Vermögen, d.h. als Grund der Möglichkeit seiner Wirkung, gedacht werden […] ohne Bestimmungsgrund ist kein wirkliches Bestimmen denkbar.43 Ich werde allerdings die Ordnung der Diskussion Maimons umkehren, und erst das Thema „Bestimmungsgrund“ behandeln. Das Verhältnis der „zweiten Wahrheit“ zur Freiheitsproblematik ist das Folgende: nach welchen Gesetzen befolgt das Subjekt das eine Mal das Sittengesetz, das andere Mal aber nicht? Das Subjekt hat zwei gleich mögliche, einander entgegengesetzte Bestimmungsgründe, aber keinen Bestimmungsgrund, nach welchen einer von beiden, mit Ausschließung des andern, dasselbe wirklich bestimmt. Naturgesetze können hier nichts bestimmen, weil dadurch die Freiheit gänzlich aufgehoben wird. Vernunft eben so wenig. Eine Mischung von beiden ist hier gar nicht denkbar. Die wirkliche Bestimmung der Willkühr müßte also dem Zufall überlassen werden. Aber Zufall, als Bestimmungsgrund im Praktischen, ist ein doppeltes non ens, weil Zufall an sich nichts anders als den Mangel eines Bestimmungsgrundes bedeutet, und im Praktischen alle Zurechnung

42   Der moralische Skeptiker, 542. 43   Der moralische Skeptiker, 542. Siehe auch das Beispiel, das Maimon diesbezüglich auf derselben Seite gibt: „Wenn ich z.B. einem Körper überhaupt ein gleiches Vermögen zur Bewegung und Ruhe beilege, so lege ich ihm ein unbestimmtes Vermögen bei, das eben darum, weil es unbestimmt ist, so wenig Bewegung als Ruhe, d.h. gar keine Wirkung, hervorbringen kann. Attraktion hingegen ist ein durch Gesetze, nach welchen es seine Wirkung nothwendig hervorbringt, bestimmtes Vermögen“.

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aufhebt, d.h. das Praktische, das durch ihn möglich seyn soll, unmöglich macht!44 Laut Kant soll das moralische Gesetz, dessen ich mir ursprünglich bewusst bin, zur „für sich hinreichende[n] Triebfeder der Willkür“45 gemacht werden, und das, was Kant gelegentlich ‚Selbstliebe‘46 nennt, sich unterwerfen. Allein zwei Handlungsalternativen zu besitzen reicht nicht aus – auch wenn der Besitz deren, zumindest was die Willkür angeht, immerhin eine notwendige Vorbedingung der Freiheit ist –, um der Gefahr des Zufalls bzw. der Grundlosigkeit zu entgehen. Die Frage nach dem jeweiligen Bestimmungsgrund der Willkür gefährdet demnach Kants Freiheitstheorie. Es sei allerdings beachtet, dass die Kritik Maimons nicht mit der Frage nach dem Grund, moralisch zu handeln, zu verwechseln ist. Maimon behauptet hier nicht (oder besser: noch nicht), dass Kant uns keinen Grund, moralisch zu handeln, an die Hand gibt, und auch nicht, dass der Grund, den Kant uns anbietet (bspw. „das höchste Gut in der Welt zu fordern“ als ein Zweck, der dem Wille vorhergeht), nicht stark genug ist, um wirklich die oberste Tribfeder unserer Handlung zu werden. Denn auch wenn die letzten zwei Fragen zufriedenstellend von Kant beantwortet werden, bleibt die Willkür laut Maimon „Ausdruck ohne Begriff“,47 „weil dieses Vermögen [bzw. die Willkür] durch keine Gesetze“48 bestimmt werden kann (angedeutet ist hier eigentlich das Problem der individuellen Freiheit bei Kant, dessen ‚Ort‘ die Willkür ist, und das viele Philosophen beschäftigt hat, die sich mit der Freiheitstheorie Kants befassen).49 Was hat dies nun mit der ersten „unbezweifelten Wahrheit“ bzw. mit dem modus tollens zu tun? Nach Kant geht wie gesagt das ‚Faktum‘ bzw. das Bewusstsein des moralischen Gesetzes der Freiheit voran; das heißt: [W]enn der Satz wahr ist: wenn das Sittengesetz ein Faktum der praktischen Vernunft a priori ist, so ist auch Freiheit ein Postulat der praktischen 44   Der moralische Skeptiker, 544. Vgl. Auch Ueber die ersten Grunden der Moral, 457 f.: „soll es der bloßen Willkür überlassen werden, zu bestimmen, in welchen Falle die Tugend, und in welchem Falle die ihr entgegensetzte Neigung ausgeübt werden, so würde es kein Kriterium geben, wodurch man erkennen könnte, daß die Tugend überhaupt ausgeübt wird; so muß es hier notwendig eine VernunftRegel oder ein VernunftGesetz geben, wodurch dieses bestimmt werden kann“. 45  RGV, AA VI: 27. 46  Siehe bspw. RGV, AA VI: 26–7; KpV, AA V: 22. 47   Der moralische Skeptiker, 544. 48   Der moralische Skeptiker, 543. 49  Für eine eingehende Auseinandersetzung mit dieser Problematik bei Reinhold, Fichte und Schelling siehe Noller (2015).

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Vernunft a priori, oder kurz: wenn es ein Sittengesetz gibt, so giebt es auch Freiheit, muß auch dieser Satz wahr seyn: wenn es keine Freiheit giebt, so giebt es auch kein Sittengesetz, und der Schein, als gebe es ein solches, auf eine[r] Täuschung beruhen muß.50 Allein Maimon hat gerade die Willkür – zumindest in der Form, wie Kant sie präsentiert – für unmöglich erklärt; daraus ergibt sich (nach dem modus tollens), dass das Bewusstsein des Sittengesetzes kein ursprüngliches Faktum sein kann. Das bedeutet aber wiederum nicht zwangsläufig, dass dieses ‚Faktum‘ nicht existiert bzw. dass es sich als ein Unding erweist – ein derartiger Skeptiker würde diese Tatsache bzw. die oben erwähnte Stimme der Vernunft vollkommen leugnen – sondern nur: Es könnte sein, dass dieses Faktum nicht das ist, wofür es gehalten wird bzw. dass es eventuell nicht ursprünglich ist. Wenn wir die Freiheit, welche die menschliche Würde ausmacht, retten wollen – und es darf nicht vergessen werden, dass Maimon kein nihilistischer Skeptiker war – dann drängt sich die Frage nach der Entstehungsart dieses Faktums auf. Und damit wird der Weg zu der dritten und vierten „unbezweifelten Wahrheit“ geebnet. 5

Eine alternative Erklärung bzw. die beste Erklärung

Bisher lässt sich die Unstimmigkeit zwischen dem Dogmatiker und dem Skeptiker kurz und bündig so formulieren: [D]er Dogmatiker hält Freiheit zwar für unbegreiflich, aber nicht für unmöglich. Der Skeptiker aber erklärt Freiheit geradezu für unmöglich. Diese Verschiedenheit rührt aber vor der Verschiedenheit her, wie sie ihre Untersuchung über die Moral anstellen. Der Dogmatiker legt, seiner beliebigen Methode gemäß, seiner Untersuchung ein Faktum der gemeinen Menschenvernunft (das Sittengesetz, wodurch die Vernunft a priori sich praktisch zeigt) zum Grunde, ohne erst die Entstehungsart dieses Faktums (Im Bewusstseyn) zu untersuchen. Durch dieses Faktum nun wird Freiheit auf eine notwendige Art a priori postuliert. Sie kann nicht unmöglich sein.51 Nach Maimon ist also die ‚Freiheit‘ im Kant’schen Sinne unmöglich; aber wie Maimon wiederholt behauptet, will der Skeptiker dennoch das besagte 50   Der moralische Skeptiker, 543. 51   Der moralische Skeptiker, 545.

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‚Faktum‘ nicht vollkommen von sich zurückweisen; wie verfährt er also weiter? An dieser Stelle taucht die dritte „unbezweifelte Wahrheit“ auf: Es ist wider alle wissenschaftliche Methode, zur Erläuterung einer Erscheinung ein eignes Prinzip anzunehmen, wenn sich dieselbe aus schon bekannten, ihr mit anderen Erscheinungen gemeinschaftlichen Prinzipien erklären läßt.52 Man sieht leicht, dass diese „unbezweifelte Wahrheit“ nicht über denselben Status verfügt wie bspw. die erste. Denn hier handelt es sich nicht um eine logische Wahrheit, sondern um ein praktisches Prinzip der Erklärung; denn es kann gut sein, dass eine gewisse Erscheinung, die wir durch ein eigenes Prinzip erklären, sich auch durch ein bekanntes Prinzip erklären lässt und dennoch, von der metaphysischen Wahrheit her sozusagen, das eigene Prinzip letztendlich – sub specie aeternitatis – die wahre Erklärung deren ist. Deshalb, und nicht von ungefähr, erwähnt Maimon in diesem Kontext die wissenschaftliche Methode und nicht die Logik per se; denn es ist keineswegs ein Verstoß gegen die Logik, ein eigenes Prinzip zur Erklärung einer Erscheinung einem bekannten Prinzip vorzuziehen, auch wenn beide dazu geeignet sind; aber Wissenschaften verfahren praktisch nicht so (warum präferieren die Wissenschaften bspw. oft ‚Occam’s razor‘ als ein regulatives Prinzip der Erklärung; ob und inwiefern diese Präferenz begründet werden könnte – vorausgesetzt, dass es immer der Fall ist – ist eine andere Frage, auf die Maimon an dieser Stelle nicht eingeht). Doch laut Maimon darf das, was der Dogmatiker stillschweigend voraussetzt, „nach einer wissenschaftlichen Methode nicht vorausgesetzt werden“.53 Gegeben, dass er in der Lage ist, die besagte Erscheinung vermittelst eines bereits bekannten Prinzips zu erklären, hat der Skeptiker keinen überzeugenden Grund, eine Erklärung, welche von einem eignen Prinzip Gebrauch macht, zu präferieren. Diesbezüglich darf nicht aus dem Blick geraten, dass das, was von dem Skeptiker verlangt wird, nicht mit dem, was von dem Dogmatiker erwartet wird, vollkommen gleichzusetzten ist; denn der Skeptiker verpflichtet sich keinesfalls auf die metaphysische Wahrheit seiner Alternative, sondern nur auf deren Möglichkeit; ihm obliegt es nur, das Vertrauen des Dogmatikers in seine These durch eine mögliche Erklärung, die aus praktischen Gründen eventuell zu präferieren ist, zu untergraben, und dabei „[…] bleibt […] [der

52   Der moralische Skeptiker, 542 f. 53   Der moralische Skeptiker, 549.

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Skeptiker] gleichfalls seiner Methode treu, ein Faktum nicht eher anzunehmen, bis er seine Entstehungsart (im Bewußtseyn) untersucht hat“.54 Der Skeptiker behauptet demnach etwa das Folgende: Lieber Dogmatiker, das Phänomen, um dessen Erklärung sich der Streit zwischen uns in der Tat dreht, könnte auch durch meine Erklärung, die kein eignes Prinzip für die Erklärung verwendet, sondern das besagte Faktum „aus [bereits bekannten] psychologischen Gründen“,55 welche letztendlich in dem schon vertrauten „Streben nach Erkenntniß nach Wahrheit“56 verwurzelt sind, herleitet, zufriedenstellend verdeutlicht werden. Der Skeptiker versucht also, einen schweren Verdacht gegenüber der angeblichen Ursprünglichkeit des ‚Faktums‘ zu verbreiten – gegenüber der Ursprünglichkeit, die nach dem Dogmatiker die Eigenartigkeit des Faktums ausmacht. In jenem Aufsatz von Maimon, in dem er sich mit dem Begriff ‚Freiheit‘ befasst, drückt er diesbezüglich denselben Zweifel aus. Dies sind einige typische Beispiele: Da der gemeine Menschenverstand sich hierin täuscht, und das, was von ihm ursprünglich als Mittel zu einem Zweck gefordert wird (Gerechtigkeit im Handeln, als Mittel zur Erhaltung der Vortheile der Gesellschaft) für etwas das an und für sich, ohne Rücksicht auf irgend einen Zweck, gefordert wird, halten kann […] so ist es mit dieser Berufung auf den gemeinen Menschenverstand eine sehr missliche Sache.57 Ich hingegen, nach meiner skeptischen Methode, halte die Begriffe des gemeinen Menschenverstands, insofern ihre Enstehungsart sich durch eine psychologische Täuschung erklären läßt, für verdächtigt.58 Er [der Skeptiker] leugnet deswegen keineswegs, daß dieses Faktum ursprünglich sein könne, sondern er hält sich bloß für nicht berechtigt, dasselbe als ein solches vorauszusetzen.59 54   Der moralische Skeptiker, 545 f. 55   Der moralische Skeptiker, 548. 56   Versuch einer Darstellung des Moralprinzips und Deduktion seiner Realität, 280. 57   Ueber die ersten Gründe der Moral, 453. 58   Versuch einer Darstellung des Moralprinzips und Deduktion seiner Realität, 276. Unmittelbar danach, auf der gleichen Seite, setzt Maimon hinzu: „Ich mußte daher zur Begründung des Moralprinzips einen neuen Weg einschlagen, und ein Faktum zum Grunde legen, worin keine psychologische Täuschung Statt finden kann“. Das bezieht sich allerdings auf Maimons positive Alternative und nicht auf seinen Zweifel gegenüber der Kant’schen Methode, und dies werde ich – wie schon vorher erwähnt – in diesem Aufsatz nur andeuten. 59   Der moralische Skeptiker, 549.

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Nun ist aber das Moralgesetz als Faktum des Bewußtseins apriori gegeben. Um also seine Möglichkeit nach unumstößlichen Prinzipien zu deduzieren [denn es ist nicht ursprünglich] […].60 Die alternative Erklärung des besagten ‚Faktums‘ bzw. Maimons positive Theorie der Freiheit liegt – wie ich schon angeführt habe – jenseits des Rahmens dieses Aufsatzes. Ich möchte diesbezüglich nur das Folgende anmerken: Ungeachtet der Tatsache, dass es im Prinzip für den Skeptiker reicht, bloß auf eine alternative Erklärung zu verweisen, ist seine Behauptung in der Tat stärker als bloß möglich zu verstehen. Denn Maimon behauptet auch, dass in seiner alternativen Erklärung des ‚Faktums‘ „keine psychologische Täuschung Statt finden kann“.61 Daraus ergibt sich, dass das Dogmatische an dem Dogmatismus nicht nur darin liegt, dass er ein eignes Prinzip der Erklärung verwendet an der Stelle, wo das Verwenden eines schon bekannten Prinzips schon ausreicht (das heißt, dass, weil der Dogmatiker nicht bereit ist, in die Tiefe der Entstehungsart des Faktums einzudringen, er letztendlich Gefahr läuft, bei einer Mystifizierung dieses Faktums zu landen), sondern es liegt auch darin, dass der Dogmatiker höchstwahrscheinlich einer psychologischen Täuschung zum Opfer fiel. 6

Das Problem des unendlichen Erkenntnisvermögens

Maimon schreibt: Aber gesetzt auch, der Skeptiker gäbe dem Dogmatiker alle seine Suppositionen zu (wozu er doch nicht den mindesten Grund hat) die Forderung des Sittengesetzes sei ein ursprüngliches Faktum, und Freiheit durch dasselbe postuliert; was wir dadurch in Ansehung der Ausübung der Moralität gewonnen?62 Zur Erinnerung, Maimon hat uns bezüglich der „unbezweifelten Wahrheit“, die sich auf die Frage nach dem Bestimmungsgrund bezieht, schon gezeigt: Wenn kein Gesetz gegeben werden kann, warum ich mich einmal für die Moralität entscheide bzw. für eine Handlung aus Achtung für das moralische Gesetz und einmal nicht, dann löst sich Freiheit letztendlich in Zufall auf. 60   Ueber die erste Gründe des Naturrechts, 328. 61   Versuch einer Darstellung des Moralprinzips und Deduktion seiner Realität, 276; eigene Hervorhebung. 62   Der moralische Skeptiker, 548.

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Aber nun greift Maimon ein anderes Problem heraus, welches auch als Grund dienen kann, die Kant’sche Freiheitslehre abzulehnen: Gesetzt, dass Kant uns einen Grund gibt, moralisch zu handeln; reicht dieser Grund, bzw. kann ich demnach wirklich handeln? Denn „warum soll ich, in den Fällen, wo dieses Motiv mit andern in Kollision geräth, vielmehr diesem als den andern folgen“?63 Denn „warum soll dieses erkünstelte Gefühl [das Kant’sche] mich vielmehr als alle andere natürliche Gefühle zum Handeln bestimmen?“64 Man darf dies als die Frage nach der Ohnmacht der Vernunft bezeichnen. Kant selbst war sich dieser Herausforderung, welche die Möglichkeit seiner Moralität in Gefahr bringen könnte, ganz bewusst. Denn auch er hat das endliche Subjekt – es darf nicht vergessen werden, dass Willkür das Geschäft endlicher Subjekte ist – nicht als eines, welches angeblich in einer idealen Mitte zwischen zwei möglichen Triebfedern steht, geschildert: da die sinnlichen Neigungen zu Zwecken […] verleiten, die der Pflicht zuwider sein können, so kann die gesetzgebende Vernunft ihrem Einfluß nicht anders wehren, als wiederum durch einen entgegengesetzten moralischen Zweck, der also von der Neigung unabhängig a priori gegeben sein muß.65 Die sinnlichen Neigungen sind gewissermaßen schon ‚da‘, affizieren uns (auch wenn sie uns nicht vollkommen bestimmen), während die Achtung für das moralische Gesetzt uns bestimmen soll; angesichts dieser Herausforderung drängt sich die Frage auf, ob dieses Sollen nicht zu schwach ist; kann es wirklich einen endlichen Willen, der bereits durch Neigungen inkliniert wird, bestimmen? Da „ohne alle Zweckbeziehung […] gar keine Willensbestimmung im Menschen statt finden“66 kann, muss Kant – um der wirklichen Möglichkeit der Moralität willen – dem endlichen Subjekt eine apriorische Zweckvorstellung anbieten – eine, welche dem Willen nicht vorhergeht –, um die reale Möglichkeit einer moralischen Handlung zu sichern; Kant nennt bekannterweise diese gesuchte apriorische Zweckvorstellung ‚das höchste Gut‘. Schön und gut; aber er darf gleichwohl nicht behaupten – weil seine Moralität rein bleiben muss –, dass die Vorstellung der eigenen Glückseligkeit sich darin einmischt:

63   Versuch einer Darstellung des Moralprinzips und Deduktion seiner Realität, 277. 64   Versuch einer Darstellung des Moralprinzips und Deduktion seiner Realität, 277. 65   M S, AA VI: 380 f. 66  RGV, AA VI: 4.16 f.

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[O]bgleich in dem Begriffe des höchsten Guts als dem eines Ganzen, worin die größte Glückseligkeit mit dem größten Maße sittlicher (in Geschöpfen möglicher) Vollkommenheit als in der genausten Proportion verbunden vorgestellt wird, meine eigene Glückseligkeit mit enthalten ist: so ist doch nicht sie, sondern das moralische Gesetz […]der Bestimmungsgrund des Willens, der zur Beförderung des höchsten Guts angewiesen wird.67 Warum wird sich ein Subjekt diese apriorische Zweckvorstellung zu eigen machen, wenn seine eigene Glückseligkeit durchaus auszuschließen ist? Ob Kant eine derartige Position verteidigen kann, bleibt dahingestellt; Maimon war allerdings überzeugt, dass „durch die bloße Forderung […] die moralische Gesinnung nicht gegeben [wird]“.68 Denn es muss zusätzlich gezeigt werden, dass die moralische Gesinnung bzw. die Möglichkeit, moralisch zu handeln, nicht nur denkbar ist, sondern auch, „als wirklich69 gegeben, erkennbar“70 sei. Maimon verweist an dieser Stelle natürlich auf die berühmte Kant’sche Unterscheidung zwischen Denken und Erkennen: Sich einen Gegenstand denken, und einen Gegenstand erkennen, ist also nicht einerlei; denn „Zum Erkenntnisse gehören nämlich zwei Stücke: erstlich der Begriff, dadurch überhaupt ein Gegenstand gedacht wird (die Kategorie), und zweitens die Anschauung, dadurch er gegeben wird; denn, könnte dem Begriffe eine korrespondierende Anschauung gar nicht gegeben werden, so wäre er ein Gedanke der Form nach, aber ohne allen Gegenstand, und durch ihn gar keine Erkenntnis von irgend einem Dinge möglich […].71 Allein erkennbar und nicht nur denkbar zu sein heißt in erster Linie, gewisse Merkmale in der Anschauung aufzudecken; „aber eine moralische Gesinnung kann nicht unmittelbar angeschaut werden“.72 Das heißt wiederum nicht, dass der Dogmatiker überall falsch liegt, sondern nur, dass es dem Skeptiker eventuell gelungen ist, annehmbaren Zweifel diesbezüglich zu erwecken. 67   KpV, AA V: 129 f. 68   Der moralische Skeptiker, 548. 69  Es handelt sich um „die reale (nicht bloß logische negative, in dem Mangel des Widerspruchs gegründete, sondern auch durch den Begriff von Pflicht positive bestimmte) Möglichkeit der Moralität […]“; Der moralische Skeptiker, 551. 70   Der moralische Skeptiker, 548; eigene Hervorhebung. 71   KrV, B 146. 72   Der moralische Skeptiker, 548.

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Hierzu gehört die vierte „unbezweifelte Wahrheit“: Was zu einer Erkennbarkeit ein unendliches Erkenntnißvermögen voraussetzt, ist für ein endliches Wesen Erkenntnißvermögen nicht erkennbar. So sind z.B. Wunderwerke, d.h. Erscheinungen in der Natur, deren Möglichkeit nicht nach Naturgesetzen erklärbar ist; zwar denkbar, aber für ein endliches Erkenntnißvermögen nicht erkennbar, weil sie die Erkenntniß alles dessen, was nach Naturgesetzen möglich ist, voraussetzen.73 Was hat dies mit der Frage nach der Ausübung der Moralität zu tun? Maimon behauptet, dass die Forderung, moralisch (im Kant’schen Sinne) zu handeln, uns noch nicht wirklich die moralische Gesinnung gibt, denn damit sie nicht nur denkbar, sondern auch erkennbar sein wird, müssen Merkmale in der Anschauung unmittelbar gegeben sein, was per definitionem natürlich auszuschließen ist. Aber damit hat der Skeptiker noch nicht gezeigt, dass der Dogmatismus irreführend sei, sondern nur, dass er (der Dogmatiker) sich gegen einen derartigen Zweifel nicht verteidigen kann. Damit hört allerdings die Unstimmigkeit nicht auf, denn der Dogmatiker mag immer noch behaupten, dass er seine These immerhin indirekterweise begründen kann: Es giebt also kein Mittel, sie [die moralische Gesinnung] als solche zu erkennen, als nach der Ausschließungsmethode; wenn nämlich alle mögliche[n] Motive des Subjekts in ihrem ganzen Umfange und Zusammenhange untersucht, und als untauglich zur Erklärung der vorgegebenen moralischen Handlung erkannt werden; woraus folgen würde, daß diese Handlung wirklich moralisch, d.h. aus moralische Gesinnungen entsprungen seyn müßte.74 Allein dies – „alle mögliche Motive des Subjekts in ihrem ganzen Umfange und Zusammenhange“ – setzt ein unendliches Erkenntnisvermögen voraus, was zu dem Schluss führt, dass der Dogmatiker den Weg aus seinem Dogmatismus heraus nicht bahnen kann. Folgt daraus, dass der Dogmatismus falsch ist? Keineswegs; aber der Zweifel ist ernst zu nehmen.

73   Der moralische Skeptiker, 543. 74   Der moralische Skeptiker, 548 f.

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7 Schlussbemerkung Maimon als Skeptiker leugnet weder, dass die „Empfänglichkeit für Moralität“ das Erhabenste ist, was den Menschen „als Sachen, unendlich erhaben“75 macht, noch, dass diese Empfänglichkeit existiert. Denn auf die Spur der Entstehungsart der Forderung der Moralität zu kommen hindert keinesfalls, sie als philosophisches Faktum zu betrachten. In der Tat ist der Skeptiker der Meinung, dass ausgerechnet ihm – und nicht dem Dogmatiker – „die innere Ueberzeugung von der Würde der Moralität und die äußere Darstellung derselben leicht fallen muss“.76 Die treffliche Formulierung Schellings, gemäß derer Kant die Resultate zwar gegeben hat, aber die Prämissen noch fehlen,77 die m.E. in vielerlei Hinsicht das ganze Projekt des deutschen Idealismus – zumal in seinen Anfängen – zutreffend beschreibt, gilt sicherlich auch für das praktische Denken Maimons. Dass der Skeptiker die Ursprünglickeit der Forderung der gemeinen Menschenvernunft bezweifelt, mag für ihn – als einer, der genauso wie der Dogmatiker einen „Zweck an sich“ sucht, der sich letztendlich nicht „nach genauer Erkenntniß bloß als Mittel zu einem andern Zweck“78 erweist – als herabsetzend empfunden werden, als Ursache für Verzweiflung. Aber das muss nicht unbedingt der Fall sein: Es scheint, dass er, genau wie der biblische Moses, das gelobte Land – die einzige Chance, etwas wirklich ‚Reines‘ in der Moralität zu finden, gesichert von psychologischen Täuschungen – von Ferne sieht, aber sein Zweifel ermöglicht ihm gleichzeitig nicht, dahin zu kommen bzw. ein großes dogmatisches Gebäude der Moralität zu errichten. Aber es scheint nur so, denn „hier ist zum Glück das Sehen und das Dahinkommen einerlei: denn die sich dahinzukommen rühmen, können doch nichts mehr, als das von ferne sehen zu ihrer Legitimation aufweisen“.79 Während der nihilistische Skeptiker nichts von Ferne sieht – für ihn ist das gelobte Land ein Unding – bildet sich der Dogmatiker ein, dass er schon da ist, ohne die reale Möglichkeit, dass es doch nicht der Fall sein könnte, ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Maimon hingegen ist, was das Zugeben des Faktums angeht, auch Dogmatiker, aber gleichzeitig ist er einer, der sich seines Dogmatismus vollkommen bewusst ist; die Möglichkeit – keineswegs das Vertrauen – dass er sich in dem gelobten Land trotz aller Zweifel befindet, ist das Maximum, was erreicht werden kann. Und es ist schwer – wenn ich auf das Thema, mit dem ich den Aufsatz begonnen 75   Der moralische Skeptiker, 551. 76   Der moralische Skeptiker, 551. 77  Frank/Kurz (1975), 119. 78   Der moralische Skeptiker, 552. 79   Der moralische Skeptiker, 554.

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habe, zurückkehren darf – das Tragische in Maimons Position diesbezüglich, welches sich darin findet, zu ignorieren. Siglen und Literaturverzeichnis Kants Schriften werden mit Ausnahme der Kritik der reinen Vernunft, welche nach der B-Auflage zitiert wird, unter Angabe der Sigle und der Band- und Seitenzahl nachgewiesen gemäß der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Akademie-Ausgabe [AA], Berlin 1900 ff. GMS KpV KU MpVT RGV SF

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Kritik der praktischen Vernunft Kritik der Urteilskraft Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Der Streit der Fakultäten

Buzaglo, Meir (2002), „Solomon Maimon: Christianity, Judaism and non-Euclidean Geometry“, in: Christoph Schmidt/Bernhard Greiner (Hg.), Arche Noah: die Idee der „Kultur“ im deutsch-jüdischen Diskurs, Freiburg, 49–59. Frank, Manfred/Kurz, Gerhard (1975), Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen, Frankfurt/M. Kaufmann, Thomas (2015), Luthers Juden, Stuttgart. Kravitz, Amit (2018), „Innerhalb der Zeit, außerhalb der Geschichte. Zu Kants Auseinandersetzung mit dem Judentum in seiner Religionsschrift“, in: Ders./Jörg Noller (Hg.), Der Begriff des Judentums in der klassischen deutschen Philosophie, Tübingen, 25–42. Maimon, Salomon (1794), Versuch einer neuen Darstellung des Moralprinzips und Deduktion seiner Realität, in: Gesammelte Werke [GW], Bd. VI, hg. v. Valerio Verra, Hildesheim 1965 ff. Maimon, Salomon (1795), Ueber die erste Gründe des Naturrechts, in: GW, Bd. VI. Maimon, Salomon (1798), Ueber die ersten Gründe der Moral, in: GW, Bd. VII. Maimon, Salomon (1800), Der moralische Skeptiker, in: GW, Bd. VII. Maimon, Salomon (1984; 11792/3), Salomon Maimons Lebensgeschichte. Von ihm selbst geschrieben und herausgegeben von Karl Philip Moritz, Frankfurt/M. Noller, (2015), Die Bestimmung des Willens. Zum Problem individueller Freiheit im Ausgang von Kant, Freiburg/München. Pfaff, Konrad (1995), Salomon Maimon: Hiob der Aufklärung. Mosaiksteine zu seinem Bildnis, Hildesheim.

Zwischen Spinoza und Kant: Jacobi über die Freiheit der Person Birgit Sandkaulen 1 Über das Thema „Freiheit nach Kant“ zu sprechen, heißt im unmittelbaren Kontext der nachkantischen Philosophie, auch über Spinoza sprechen zu müssen. Inwieweit Kant selbst seine Philosophie in der Auseinandersetzung mit Spinoza entwickelt hat, ist bis heute umstritten – die jüngste hochinteressante Einlassung dazu stammt von Omri Boehm.1 Zumindest für die Nachfolger Kants ist aber klar, dass der Anschluss an Kants Philosophie der Freiheit immer auch über den Rückgriff auf Spinoza vermittelt ist. Auf den ersten Blick sieht das wie der Entwurf einer eindeutigen Alternative zu Spinoza aus. Wenn etwa Schelling proklamiert „Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit“,2 dann ist dieses Projekt direkt auf den Anspruch bezogen, „ein Gegenstük zu Spinoza’s Ethik aufzustellen“.3 Schaut man sich jedoch das vermeintliche „Gegenstück“ genauer an, stößt man wörtlich auf die These, dass Kants Theorie der Moralität allenfalls das endliche, empirische Ich betrifft, keinesfalls aber das Ich als Prinzip der Philosophie, das als „absolute Selbstmacht“4 sukzessive alle Charakteristika der spinozanischen Substanz auf sich vereinigt. Mit anderen Worten, und dafür ist der Hinweis auf den frühen Schelling nur ein Beispiel: Die Sachlage der Freiheit nach Kant ist ziemlich kompliziert. Das gilt auch für den, der Spinozas Ethik als paradigmatischen Referenztext im offiziellen Diskurs der Philosophie zuerst überhaupt verankert hat – für Jacobi also. Angesichts seiner dezidierten Thesen zum sogenannten Fatalismus Spinozas sollte man gerade in Jacobis Fall erwarten, dass er in Kants Philosophie das willkommene Kontrastprogramm sieht, dem man sich im Interesse der Freiheit rückhaltlos anschließen kann. So einfach ist es aber nicht, wie Jacobi selbst 1788 in einem Brief an Kleuker schreibt: „Ich bin gegenwärtig daran, Kants Kritik der practischen Vernunft zu studieren […]. Sie können sich vorstellen, wie merkwürdig das für mich seyn muß, daß Kant 1  Boehm (2014). 2  Schelling (1795), 101. 3  Schelling (1795), 80. 4  Schelling (1795), 122. Vgl. dazu § XIV der Ichschrift im Ganzen.

© koninklijke brill nv, leiden, 2019 | doi:10.1163/9789004383586_012

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mit mir den Glauben an Gott auf das factum der Causalität menschlicher Vernunft gründet, und kein Mittel gegen den Spinozismus weiß, wenn man nicht Freyheit geradezu annimmt und voraussetzt. Und dennoch gehen wir in der Vorstellungsart und in den Principien so ganz voneinander ab.“5 Wie soll man das verstehen? Welche Auffassung von Freiheit wird hier vertreten, die einerseits gewisse Überzeugungen mit Kant teilt und sich andererseits „ganz“ von Kant entfernt? Um diese Fragen zu klären, werde ich mich im Folgenden in der Hauptsache auf einen Text stützen, den Jacobi unter dem Titel „Ueber die Freiheit des Menschen“ 1789 in die Vorrede zur zweiten Auflage seines Buches Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn eingerückt hat. Namentlich wird Kant in diesem Text nicht genannt, aber dass es (auch) um eine kritische Auseinandersetzung mit Kants praktischer Philosophie geht, hat Jacobi zehn Jahre später, 1799, im Brief an Fichte ausdrücklich vermerkt und diesem Brief unter anderen Beilagen auch die „Aphorismen über Nichtfreyheit und Freyheit“ nochmals eigens beigegeben (JWA 2,1, 213).6 Dabei trifft die Kennzeichnung „Aphorismen“ das Textformat insofern gut, als es sich nicht um eine übliche Abhandlung handelt. Jedoch hat man es keineswegs mit einer losen Serie von Gedankensplittern zu tun, sondern mit einer streng komponierten Abfolge von insgesamt 52 dichten Paragraphen, die ihrerseits in zwei Abteilungen geteilt ist: „Der Mensch hat keine Freyheit“ lautet die erste Sequenz, „Der Mensch hat Freyheit“ die zweite (JWA 1,1, 158–169). Dass man sich hüten muss, diese Überschriften im Sinne einer einfachen Antithese zwischen Spinoza und Kant zu lesen, zeichnet sich inzwischen schon ab. In der Tat werden in Jacobis höchst komplexer Argumentation beide, Spinoza und Kant, gemeinsam sowohl in der ersten als auch in der zweiten Abteilung verortet. Dass der Mensch keine Freiheit hat, ist demnach auch ein Resultat der Kantischen Philosophie. Und umgekehrt: Dass der Mensch Freiheit hat, ist eine These, die Spinoza genauso wie Kant vertritt. Dass es nicht ganz verwunderlich ist, wenn sich auch in der folgenden Generation der Postkantianer, die alle Jacobis Spinozabriefe lesen, die scheinbar eindeutigen Zuordnungen zugunsten neuer Konstellationen auflösen, kann man an dieser Stelle festhalten. Was Jacobi selbst betrifft, und das möchte ich 5  Brief vom 13.10.1788, in: JBW I,8, 72 f. 6  Auf der folgenden Seite stellt Jacobi ausdrücklich den Bezug dieser Aphorismen zum „Kantische[n] Sittengesetz“ her und beansprucht zugleich, in seinem früheren Text eine Deduktion des kategorischen Imperativs unternommen zu haben: „Ich habe nie begriffen, wie man in dem categorischen Imperativ, der so leicht zu deduciren ist (Br. ü. Sp. Vorr. S. XXXIII und XXXIV.), etwas Geheimnißvolles und Unbegreifliches finden“ konnte (JWA 2,1, 214).

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im Folgenden zeigen, liegt mit seiner Darstellung eine höchst interessante Problemanalyse vor, der eine in meinen Augen überzeugende Auffassung von Freiheit entspricht.7 2 Ich beginne mit drei knappen Vororientierungen und springe dann in medias res, um Jacobis „Freiheitsabhandlung“ von ihrem Zentrum her zu rekonstruieren. In formaler Hinsicht, das ist der erste Punkt, ähnelt der antithetische Aufbau in gewisser Weise Kants dritter Antinomie bis hin dazu, dass im Resultat nicht einfach die eine oder andere Position gewinnt. Wir sind nicht entweder unfreie oder freie Wesen, sondern konstitutiv beides, wir haben eine „doppelte Richtung“, wie es am Ende heißt (JWA 1,1, 168). Insofern tut man gut daran, mit dem, was in der ersten Sequenz über die menschliche Unfreiheit gesagt wird, auf Dauer zu rechnen, wenngleich in einem dann nur mehr eingeschränkten Sinne. In sachlicher Hinsicht jedoch sprengt Jacobi zweitens die Konstellation der dritten Antinomie grundsätzlich auf. Kants Opposition zwischen Determinismus und Freiheit einschließlich ihrer kompatibilistischen Auflösung greift hier nicht – dafür ist das, was bei Jacobi in der ersten Abteilung in die Diagnose des „Mechanismus“ mündet (JWA 1,1, 162), bei weitem zu komplex, und das wiederum hat nicht nur, aber auch damit zu tun, dass der kosmologische Aspekt der Freiheitsdiskussion instantan, und zwar in beiden Sequenzen, mit der moralischen Dimension des Problems zusammengeführt wird. In diesem Sinne bezieht Jacobi den Übergang Kants zur Kritik der praktischen Vernunft von vornherein in die Argumentation mit ein. Was Freiheit ist und was es bedeutet, ob sie uns zukommt oder nicht, entscheidet sich nicht theoretisch, sondern praktisch. Unter diesem praktischen Aspekt, das ist der dritte Punkt, steht mit den Vollzügen unseres Handelns die konkrete Frage im Raum, wie wir handeln, wer es ist, der handelt, und woran derjenige, der handelt, sein Handeln orientiert. Aus kantischer Perspektive ist damit zugleich auch schon das Sittengesetz der praktischen Vernunft aufgerufen, das Kant als die „ratio cognoscendi“ der Freiheit bestimmt.8 Was Freiheit als unabdingbares Ingrediens sittlichen Handelns ist, ergibt sich aus dem Anspruch des Gesetzes, die Maximen des Handelns dem Test auf Universalisierbarkeit zu unterziehen, was dazu führt, das freie Handeln 7  Vgl. hierzu auch Stolzenberg (2004) und Koch (2013), 80 ff. 8  Kant (1788), 4 Anm.

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als ein gesetzliches Handeln aus Pflicht mit einem unfreien Handeln zu kontrastieren, das nicht dem Sollen der Vernunft, sondern der Heteronomie der Neigung folgt. An diesem Punkt angelangt, ist der Einspruch Jacobis nunmehr radikal, und damit gehe ich in medias res. 3 Jacobi zufolge ist die Dichotomie von Vernunft und Sinnlichkeit, von Pflicht und Neigung für eine hinreichende Verständigung über Freiheit grundsätzlich ungeeignet, und zwar in doppeltem Sinne. Auf der einen Seite geht der Befund der Unfreiheit, dasjenige also, was Jacobi als „Mechanismus“ bezeichnet, über die unbestimmte Rede von der Neigung weit hinaus, wie gleich zu sehen sein wird. Dem entspricht auf der anderen Seite, dass unserem moralischen Bewusstsein, insofern es Freiheit involviert, eine gegenüber dem Pflichtbewusstsein viel basalere Unterscheidung zugrunde liegt, deren Realisierung im Handeln von einer eigentümlichen Freude begleitet wird.9 Das heißt, dass man die Frage nach der Freiheit mit Jacobi durchaus so formulieren darf: Wann fühlen wir uns wirklich frei? Fühlen wir uns frei, wenn wir uns als dem Sollensanspruch des kategorischen Imperativs unterworfen betrachten? Oder fühlen wir uns dann wirklich frei, wenn wir den in Freude sich manifestierenden Eindruck haben, ganz bei uns selbst zu sein? Aus kantischer Perspektive drängt sich die Gegenfrage natürlich sofort auf – was nämlich ein solches freudiges Gefühl des Bei-mir-selber-Seins mit einem qualifizierten moralischen Bewusstsein zu tun haben soll. Und selbst Schiller, der wenig später ebenfalls an einer emotionalen Reform der Pflichtmoral gearbeitet hat, ist mit dem Entwurf der schönen Seele, die den Gegensatz von Pflicht und Neigung in sich überwindet, den Prämissen Kants zugleich verhaftet geblieben. Seine Pflicht gerne zu tun, bis man sie in habitualisierter Praxis als den strengen Aufruf unbedingten Sollens gar nicht mehr verspürt, ist aber nicht das, was Jacobi meint. Darum bleibt Schillers schöne Seele als Ideal sittlicher Vollkommenheit hier am besten ganz aus dem Spiel, zumal Jacobi selbst mit der Romanfigur Woldemar eine ganz anders geartete schöne Seele im Rahmen seiner Konzeption als eminenten Problemfall des moralischen Bewusstseins behandelt. Darauf komme ich am Ende kurz zurück. Für jetzt 9  Es handelt sich um eine Freude, so Jacobi, „die mit keiner anderen Freude verglichen werden kann: es ist die Freude, die Gott selbst an seinem Daseyn hat“ (JWA 1,1, 168). Das ist natürlich in deutlicher Anlehnung an Spinoza gesagt. Auf Jacobis Nähe und Ferne zu Spinoza komme ich im Folgenden zurück.

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steht die Frage im Raum: Was hat das Gefühl, ganz bei mir selber zu sein, mit dem moralischen Gehalt der Freiheit zu tun? Jacobis Antwort zielt auf den Kern derjenigen Unterscheidung, die der von ihm geführten Freiheitsdiskussion auf denkbar basale Weise zugrundeliegt: Unser moralisches Bewusstsein im eigentlichen Sinne basiert danach auf der Intuition, dass es eine qualitative Differenz zwischen den Handlungsorientierungen des Angenehmen und Nützlichen auf der einen Seite und der des Guten auf der anderen Seite gibt. Ganz bei mir selber zu sein, heißt in dieser Perspektive, in der freien Orientierung am Guten eo ipso auch beim Andern zu sein.10 Jacobi nennt diese sittliche Haltung Religion, was hier von sämtlichen Assoziationen einer positiven Religion und wohlgemerkt auch vom Gedanken einer exklusiven Beziehung auf ein das menschliche Leben transzendierendes Göttliches vollständig freizuhalten ist. Gemeint ist vielmehr eine sittliche Praxis unter Menschen, die sich in Gestalt der Liebe, einer „reinen“ Liebe, äußert (JWA 1,1, 167). Vorläufig erwähne ich hier nur, worauf ich am Ende auch kurz zurückkommen möchte, dass nämlich Hegel, wie mir scheint, unter allen Nachfolgern Kants und Jacobis von Beginn an, also seit seinen Frankfurter Skizzen, am besten verstanden hat, dass mit diesem Entwurf Jacobis ein ganz neuer Freiheitsbegriff gefunden ist, den Hegel in die Figur des Im-Andern-bei-sich-selbst-Seins überführt. An dieser Stelle ist jedoch zunächst die von Jacobi geführte Diskussion zu vertiefen, deren Zentrum die genannte Grundunterscheidung bildet: die qualitative Differenz zwischen dem Nützlichen und dem Guten, in der der Unterschied der Freiheit besteht. Sofern wir uns keine Freiheit zuschreiben, können wir diese Unterscheidung nicht treffen und noch nicht einmal im Ansatz verstehen – dann ist das Gute mit dem Nützlichen identisch. „Unter gut werde ich das verstehen“, so Spinoza, „wovon wir mit Sicherheit wissen, daß es uns nützlich ist“.11 Dass Jacobi in der ersten Sequenz seiner Abhandlung genau diese utilitaristische Verfassung von Spinozas Ethik vor Augen hat, ist klar.

10  Die klassische Distinktion zwischen dem Angenehmen, dem Nützlichen und dem Guten durchzieht der Sache nach die ganze zweite Sequenz. Dabei sind platonische, aristotelische und stoische Einflüsse gut zu erkennen, sie werden von Jacobi auch namentlich benannt (JWA 1,1, 164 f.; 167). Der Rekurs auf Aristoteles wird im Roman Woldemar explizit verhandelt. Das sich so formierende tugendethische Konzept kommt besonders schön etwa in folgendem Passus zum Ausdruck: „Alle [Menschen] wollen Liebhaber der Tugend selbst, nicht der mit ihr verknüpften Vortheile seyn; alle wollen von einem Schönen wissen, welches nicht blos das Angenehme; von einer Freude, die nicht bloßer Kitzel sey.“ (JWA 1,1, 168) 11  Spinoza (1999), Teil IV, Def. 1.

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Aber, so könnte Kant höchstselbst nun einwenden: Habe ich denn nicht etwa mit dem Sittengesetz und der mit ihm vorausgesetzten Freiheit genau darauf insistiert, dass moralisches Handeln von allem instrumentellen Handeln prinzipiell zu unterscheiden ist, dass das Gute Zweck in sich selbst und nicht Mittel zu etwas anderem ist? Jacobis Pointe liegt darin, Kant in diesem Punkt nicht nur nicht zu widersprechen, sondern zu bekräftigen, dass es Kant im Kern genau darum geht, womit sich der Einwand Jacobis schärft: Anstatt unser genuines Interesse am Guten zum Ausdruck zu bringen, wird es im kategorischen Imperativ verstellt.12 Interessanterweise gilt nach Jacobis Argumentation dasselbe für Spinoza, nur unter umgekehrten Vorzeichen: Je weiter Spinoza in seiner Ethik voranschreitet, desto mehr tritt die instrumentelle Perspektive zurück bis hin zu der These, dass Glückseligkeit nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst ist13 – eine These, die Jacobi wie eben anlässlich der „Freude“ gesehen wörtlich in sein eigenes Freiheitskonzept übernimmt, damit jedoch zugleich den Einwand verknüpft, dass Spinoza selbst einen solchen Entwurf sittlichen Lebens auf der Basis seiner Prämissen gar nicht verständlich machen kann.14

12  Um so weit wie möglich zu vermeiden, dass diese subtile Analyse oberflächlich betrachtet wie ein Missverständnis Kants erscheint, fügt Jacobi den Beilagen seines Briefes an Fichte auch noch einen „Auszug aus einem Briefe an einen Freund über Kants Sittengesetz“ bei (JWA 2,1, 257 f.), aus dem in der Tat hervorgeht, dass er Kants Intention ganz richtig verstanden hat. Im Mittelpunkt steht der Gedanke des Selbstzwecks, den Jacobi mit Kant teilt, von dem er aber bestreitet, dass er sich auf Kantische Weise begründen lässt. Der Begründungsgang Kants verweist vielmehr, so Jacobis Analyse, auf eine instrumentelle Perspektive. Der Sache nach findet sich ein ähnlicher Gedanke bei Tugendhat: Um sicher zu sein, dass der kategorische Imperativ etwas anderes als der instrumentelle Kontraktualismus aussagt, muss man die 2. Formel, also die des Selbstzwecks, in die 1. Formel hineinlesen [Tugendhat (1993), 80 ff.]. Das heißt: Ohne eine solche inverse Deutung gibt es gute Gründe für Jacobis kritische Lektüre, vgl. das Folgende. 13  Spinoza (1999), Buch V, prop. 42. 14  Diesen Einwand formuliert Jacobi bereits im Gespräch im Lessing: „Auch hat Spinoza sich nicht wenig krümmen müssen, um seinen Fatalismus bey der Anwendung auf menschliches Betragen zu verstecken, besonders in seinem vierten und fünften Theile, wo ich sagen möchte, daß er dann und wann bis zum Sophisten sich erniedrigt. – Und das war es ja was ich behauptete: daß auch der größte Kopf, wenn er alles schlechterdings erklären, nach deutlichen Begriffen mit einander reimen, und sonst nichts gelten lassen will, auf ungereimte Dinge kommen muß.“ (JWA 1,1, 28 f.) Diese Diagnose – die Inkonsistenz stringenter Theorien – überführt Jacobi in der „Freiheitsabhandlung“ in das splitting der beiden Sequenzen.

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4 Wendet man sich vor diesem Hintergrund nunmehr dem Gang der ersten Sequenz zu, dann tritt deren ebenso scharfsinnige wie provozierende Anlage hervor. Unter der Überschrift „Der Mensch hat keine Freiheit“ wird hier eine konsequent instrumentelle Sicht auf unser Handeln entworfen, die die scheinbar völlig konträren Positionen Spinozas und Kants im Konzept einer naturalistischen Ethik zusammenführt. Der kategorische Imperativ wird als höchst sublimierte Form des Selbsterhaltungsstrebens dechiffriert, das Spinozas Ansatz zugrunde liegt, womit das Problem in Kants Entwurf entfällt, wie das Sollen der Vernunft zum Wollen, also zum tatsächlich handlungsleitenden Motiv werden kann. Umgekehrt entfällt der Verdacht, die Fixierung auf Selbsterhaltung entbehre aller moralischen Qualität und rede einem blinden Egoismus das Wort. Wie sehr Jacobi daran liegt, den Nachweis für genau diese Konvergenz von Selbsterhaltung und (instrumenteller) Moralität zu führen, geht bereits aus dem Aufriss der Argumentation hervor. Erstens setzt die Sequenz mit dem dritten Teil von Spinozas Ethik ein, woraus folgt, dass man den häufig geäußerten und durchaus berechtigten Vorwurf, die Spinoza-Renaissance um 1800 habe in ihrer Fokussierung auf die Metaphysik der Substanz die für Spinozas Konzept zentrale Affektenlehre vollständig ignoriert, an Jacobi – den Inaugurator der Spinoza-Renaissance – jedenfalls nicht richten kann. Dass ihm die Ethik als integraler Wurf vor Augen steht, belegen alle Dokumente der Spinozabriefe einschließlich des initiativen Gesprächs mit Lessing. Um so auffälliger ist zweitens, dass das Theorem der Selbsterhaltung in der „Freiheitsabhandlung“ von seiner Begründung in der göttlichen Potenz gleichsam entlastet wird. Damit wird Spinozas Konzept in einen empirisch verfahrenden Naturalismus transformiert, dessen Gegenstandsbereich über das menschliche Leben hinaus ausgeweitet wird. Am Beginn steht die Beobachtung, dass sich im Falle aller endlichen Dinge Existenz jederzeit auf Koexistenz bezieht. Im Falle der „lebendigen Natur“ artikuliert sich diese Beziehung in der Empfindung von Begierde und Abscheu, die ihrerseits auf den basalen Trieb, eine „Begierde a priori“, nämlich das Streben nach Selbsterhaltung verweist (JWA 1,1, 158). Was Jacobi auf diese Weise empirisch reformuliert, ist das von Spinoza entworfene Bild einer unendlichen Verflechtung der Modi untereinander. Entscheidend ist, dass dieses Geflecht als rein extrinsisch determinierter Kausalzusammenhang gerade nicht begriffen werden kann, sondern vielmehr an jeder einzelnen Stelle des Netzwerks die innerliche Bestimmung einer aktiven Beziehung auf sich involviert. Aus diesem Grund hat die auf der Seite der Unfreiheit verhandelte Sachlage, die Jacobi trennscharf erfasst, mit

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schlichten deterministischen Szenarien gar nichts zu tun. Vollends werden solche Szenarien im nächsten Schritt überboten, in dem Jacobi, gerade weil er Spinozas Vorlage zunächst zu einer naturalistischen Theorie des Lebendigen überhaupt ausgeweitet hat, eine Differenz um so mehr unterstreichen kann, die innerhalb der Natur die spezifische Eigenart der menschlichen Natur betrifft. Anders als Tiere ist der Mensch ein „vernünftige[s] Wesen“. Damit fallen Menschen aus dem universalen Geflecht von Existenz und Koexistenz nicht heraus, wohl aber sublimiert sich das basale Selbsterhaltungstreben hier in die „vernünftige Begierde“ des Willens, dessen Vermögen darin besteht, das Handeln rational zu begründen und so im Interesse vernünftiger Selbsterhaltung zu verstetigen (JWA 1,1, 159).15 In der Konsequenz orientiert sich menschliches Handeln normativ an „practische[n] Prinzipien“ (JWA 1,1, 160), indem es Handlungsalternativen am Maßstab erfolgreicher Selbsterhaltung bewertet und sich dabei auch solche Handlungen zurechnet, in denen unvernünftige Impulse die Oberhand gewonnen haben. Angesichts der spürbar unerfreulichen Folgen drängt sich die Einsicht auf: Ich hätte es besser machen können und sollen (JWA 1,1, 160). Dass im Zuge dieser Argumentation die innerliche Ausbildung des moralischen Bewusstseins in der Kultivierung der Neigung16 zur Voraussetzung intersubjektiver Kooperation gemacht wird (JWA 1,1, 161), entspricht Spinozas Ansatz und ist auch unabhängig davon ein starker Punkt. Noch einmal wird damit ein schlichter Determinismus abgewehrt, der auf dieser Ebene so etwas wie die zwangsweise Internalisierung vorgegebener moralischer Normen behaupten müsste, dabei aber nicht erklären könnte, wieso wir den normativen Appell, unser Handeln in bestimmter Weise auszurichten, überhaupt verstehen und uns – sei es besser oder schlechter – zu eigen machen. Insofern 15   Es ist deutlich, dass Jacobi das „vernünftige Wesen“ hier ganz wörtlich als „animal rationale“ versteht. Die kritische Pointe sieht man noch besser, wenn man die Unterscheidung zwischen zwei Typen der Vernunft, die Jacobi erstmals in der Beilage VII der Spinozabriefe entwickelt, an dieser Stelle einbezieht: die Unterscheidung zwischen einer (später sogenannten adjektiven) Vernunft, die der Mensch hat, und einer (später sogenannten substantiven) Vernunft, die den Menschen hat (JWA 1,1, 259 f.; vgl. den als Beilage II zum Brief an Fichte verfassten Text JWA 2,1, 232). Hier handelt es sich offenkundig um die adjektive Vernunft, die der Mensch wie ein „Werkzeug“ gebraucht – um den Inbegriff instrumenteller Rationalität. An anderer Stelle habe ich gezeigt, dass Jacobi in die vorliegende Beschreibung einer naturalistischen Ethik auf der Basis instrumenteller Rationalität auch Elemente des Locke‘schen Empirismus integriert [Sandkaulen (2004a)]. Zu Jacobis Ansatz im Ganzen vgl. Sandkaulen (2000). 16  Angesichts der ‚offiziellen’ Antithese von Pflicht und Neigung bei Kant gebrauche ich die Formulierung „Kultivierung der Neigung“ mit einer gewissen Spitze.

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hat es schließlich auch seinen ganz eigenen Reiz, dass und wie Jacobi den Gedankengang in der Adresse an „jene moralischen Gesetze, welche apodictische Gesetze der practischen Vernunft genannt werden“, gipfeln lässt und dabei, wie eingangs gezeigt, in der Tat auf Kants kategorischen Imperativ zielt (JWA 1,1, 162).17 In der Rückbindung an das basale Selbsterhaltungsinteresse wird der Autonomiegedanke Kants inklusive der Differenz von hypothetischem und kategorischem Imperativ einerseits unterlaufen und – aus kantischer Sicht – heteronom verfremdet. Andererseits aber bleibt er auf subtile Weise zugleich erhalten, weil das Moralgesetz als Ausdruck unserer inneren normativen Disposition und nicht etwa als externalistischer Zwangsmechanismus gedeutet wird. Zuletzt kann daher die im Dienst der Selbsterhaltung instrumentell begründete Moral von rein strategischen Überlegungen noch ganz befreit werden. Nicht weil es aufs Ganze gesehen zu unserem Vorteil ist, wie es durch Kants Beispiele für die Universalisierungsregel in der Tat etwas aufdringlich hindurchzuschimmern scheint, verhalten wir uns zu anderen Menschen kooperativ. Vielmehr fließt aus dem Trieb vernünftiger Selbsterhaltung „eine natürliche Liebe und Verbindlichkeit zur Gerechtigkeit gegen andre. Das vernünftige Wesen kann sich als vernünftiges Wesen (in der Abstraction) von einem andern vernünftigen Wesen nicht unterscheiden. Ich und Mensch ist Eins; Er und Mensch ist Eins: also sind er und ich Eins. Die Liebe der Person schränkt also die Liebe des Individui ein, und nöthigt seiner nicht zu achten“ (JWA 1,1, 161 f.).18 In die höchste Spitze ihrer rationalen Sublimierung getrieben, verflüchtigt sich zuletzt auch noch das mit der Selbsterhaltung verbundene Selbst. Mit dem perfekt umgesetzten Sollen verschwindet sein Adressat, das Sollen verwandelt sich in das reinste Wollen, der zweckrationale Naturalismus kippt konsequent in den Nihilismus um – das wird das in seiner Dramatik noch einmal gesteigerte Fazit sein, das Jacobi auf der Basis seiner „Freiheitsabhandlung“ im Brief an Fichte zieht und mit der Wissenschaftslehre assoziiert. Jedoch muss man der nihilistischen Logik eines Ansatzes, der „nur über Einem Grundtriebe erbaut ist“ (JWA 1,1, 160), nicht bis in die letzte Windung folgen, um auch im Blick auf aktuelle Diskussionen zu sehen, wie komplex Jacobis Diagnose menschlicher Unfreiheit und wie anspruchsvoll

17  Im Brief an Fichte, in dem Jacobi den Kant-Bezug in kritischer Absicht explizit macht, wird das Streben nach Selbsterhaltung als der „nothwendige Trieb der Uebereinstimmung mit uns selbst, das Gesez der Identität“ mit Kants „Sittengesez“ identifiziert (JWA 2,1 214). 18  Vgl. zu Jacobis Gebrauch des Begriffs „Person“ noch einmal Sandkaulen (2004a).

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folglich das Desiderat der Freiheit ist. Nachdem es hier nicht um einen einfachen Kausaldeterminismus und auch nicht um ein rein affektgesteuertes Begehren, sondern um die rationale Bewältigung unseres natürlichen Selbsterhaltungsinteresses geht, greift die beliebte Unterscheidung zwischen Ursachen und Gründen nicht, um ein qualitativ freies Handeln zu begründen. Ebenso wenig wie an guten Gründen fehlt es in Jacobis Beschreibung des „Mechanismus“ dementsprechend auch an Handlungsalternativen, die sich hier vielmehr eröffnen und normativ bewertet werden. Dass wir ohne Wahl nur vollstrecken, was in einem lückenlosen Kausalzusammenhang vorherbestimmt ist, wird hier eben nicht behauptet. Und indem wir somit hier die Autoren unserer Handlungen sind und uns auch Verstöße gegen unsere Prinzipien als von uns verantwortete Taten zuschreiben, wäre es vollends unplausibel, dahinter zurückfallend mit der Disjunktion zwischen Determinismus und Willkür zu operieren. Keinesfalls, so Jacobi, besteht Freiheit „in einem ungereimten Vermögen, sich ohne Gründe zu entscheiden“ (JWA 1,1, 164). Über die Opposition von Zufall und Notwendigkeit ist ein wohlbegründeter moralischer Naturalismus längst hinaus – ihm gegenüber einzuklagen, dass ich dann frei bin, wenn ich völlig beliebig tun und lassen kann, was ich will, erscheint als geradezu abgeschmackt. Worin besteht ein qualifizierter Begriff von Freiheit aber dann? 5 Die Antwort habe ich vorhin antizipiert. Freiheit, dies ist die zentrale Botschaft der zweiten Sequenz, manifestiert sich in der von allen instrumentellen Rücksichten befreiten Hinsicht auf das Gute, und insofern Jacobi zu Recht unterstellt, diese Kernüberzeugung mit Kant zu teilen, kann er auch in größter Nähe zu Kant formulieren, dass „Freyheit, dem Wesen nach, in der Unabhängigkeit des Willens von der Begierde“ besteht (JWA 2,1, 164). Das heißt: Anders als Tiere, mit denen wir das natürliche Interesse an Selbsterhaltung teilen, sind Menschen in der Lage, sich von diesem Interesse – auch in der sublimierten Gestalt der „vernünftigen Begierde“ – grundsätzlich zu distanzieren und sich damit eine genuine moralische Welt zu erschließen, in der das Gute, anstatt mit dem Nützlichen identisch zu sein, als irreduzibel eigene Hinsicht des Handelns gilt. Im Unterschied zu Kant kann jedoch nach allem bisher Gesagten das moralische Gesetz nicht die ratio cognoscendi solcher Freiheit sein. Einerseits lässt sich Kants Imperativ zweckrational dechiffrieren, während andererseits der von Kant mit dem Sittengesetz allerdings intendierte moralische Überschuss voraussetzt, dass die genuine Dimension des

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Guten bereits verstanden worden ist. Das heißt, und genau darauf läuft Jacobis Argumentation hinaus, dass Freiheit je schon wirklich, nämlich wirksam ist. Dabei wird eine kosmologische Überlegung mit einer praktischen Adresse direkt zusammengeführt. In kosmologischer Hinsicht greift Jacobi das Prämissengefüge des Naturalismus mit dem Einwand an, dass sich das lebendige Beziehungsgeflecht von Existenz und Koexistenz, von Tun und Leiden, als durch und durch relatives Geflecht nicht verständlich machen lässt. Vielmehr ist mit der zutreffenden Behauptung, dass Lebewesen aktiv auf ihre Umwelt reagieren, das Vermögen zu agieren überhaupt, eine „reine Selbstthätigkeit“ (JWA 1,1, 163) immer schon vorausgesetzt, die sich ihrerseits nicht aus dem vermittelten Reaktionszusammenhang ergibt und deren „Möglichkeit“ von uns in dem Maße, wie wir nur vermittelte Zusammenhänge erkennen können, auch nicht begriffen werden kann (JWA 1,1, 163). Noch bevor im nächsten Schritt von Freiheit die Rede ist, macht Jacobi offensichtlich hier bereits eine Erklärungslücke geltend, die eine wie immer avancierte naturalistische Weltsicht an eine innere Grenze führt. Der in der ersten Sequenz behauptete Status des Selbsterhaltungsstrebens als einer „Begierde a priori“ lässt sich in dieser Form nicht halten, aber auch nicht theoretisch hintergreifen. Jedoch hängt die Annahme einer „absoluten Spontaneität“ auch nicht in der Luft. Nicht ihre Möglichkeit, wohl aber ihre „Wirklichkeit“ ist uns längst bekannt, indem sie sich „unmittelbar im Bewußtseyn darstellt und durch die That beweist“ (JWA 1,1, 163 f.). Selbsttätigkeit ist nicht dasselbe wie Freiheit. Freiheit ist ein spezifisch menschliches Privileg, insofern wir „unter den lebendigen Wesen“ nur im Fall des Menschen auf denjenigen „Grad[] des Bewußtseyns seiner Selbstthätigkeit“ stoßen, der sich in freiem Handeln manifestiert, nämlich darin, sich tatsächlich vom Interesse der Selbsterhaltung distanzieren zu können und zu wollen (JWA 1,1, 164). Dass wir dies können und wollen – und nicht nur sollen –, dass mit anderen Worten unser personales Selbstverständnis intrinsisch daran hängt, jemand sein zu wollen, der im Blick auf sein eigenes Handeln und im Blick auf das Handeln anderer zwischen den Interessen des Nützlichen und des Guten unterscheiden kann, macht Jacobi im „Gefühl der Ehre“ (JWA 1,1, 165) evident, das weder Achtung vor dem Gesetz noch sinnliche Neigung ist. Wer seine Ehre in etwas setzt, ist mit seinem ganzen Selbstsein engagiert, er steht aus freien Stücken für eine Lebensführung ein, der er selbst jenseits zweckrationalen Kalküls vertrauen kann und der auch andere Vertrauen schenken können. Dass dies immer und durchweg gelingt, behauptet Jacobi nicht, so wie ich auch nirgends so etwas wie die These erkennen kann, dass wir uns gleichsam nur dann selbst in die Augen sehen können, wenn wir unseren Charakter in einen perfekten Ausbund von Tugend verwandelt hätten. Der Wirklichkeit

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der Freiheit tut es keinen Eintrag, wenn wir, da wir auch bedingte Naturwesen sind, die Orientierung am Guten nicht jederzeit realisieren. Entscheidend ist, dass wir dann nicht hinter dem Anspruch eines Imperativs der Vernunft, sondern hinter unserem eigenen Anspruch zurückbleiben, der sich nicht nur im Gefühl der Ehre, sondern in einer ganzen Palette moralischer Gefühle (Achtung, Liebe, Dankbarkeit, Bewunderung) bezeugt.19 Im Umkehrschluss wird aus der Irreduzibilität solcher Gefühle auf instrumentelle Einstellungen ein in sich gestuftes Argument gegen Spinoza, das hier wesentlich noch beachtet werden muss. Dass Spinoza behauptet, ein freier Mensch werde sich selbst aus Todesgefahr niemals mit Lügen retten,20 zeigt Jacobi zufolge zum einen, dass eine von utilitaristischen Begründungen befreite Dimension der Freiheit hier tatsächlich erschlossen ist. Und es zeigt sich zugleich zum andern, dass Spinoza, nachdem das Motiv des Selbsterhaltungstriebs entfällt, das freie Leben nunmehr als ein so vollständig durch Vernunft beherrschtes Leben beschreiben muss, dass es mit unserem konkreten Leben kaum mehr etwas zu tun haben kann. In abstracto, so Jacobi in Erwiderung auf diesen Befund, hat Spinoza recht. Es ist eben so unmöglich, daß der Mensch der reinen Vernunft lüge oder betrüge, als daß die drey Winkel eines Dreyecks nicht zwey rechten gleich seyn. Aber wird das wirkliche mit Vernunft begabte 19  Vgl. hierzu in dem von Jacobi dem Brief an Fichte beigefügten Text: „Es ist unmöglich, daß alles Natur und keine Freyheit sey, weil es unmöglich ist, daß, was allein den Menschen adelt und erhebt – das Wahre, das Gute und Schöne, nur Täuschung, Betrug und Lüge sey. Das ist es, wenn Freyheit nicht ist. Unmöglich ist wahre Achtung, unmöglich wahre Bewundrung, wahre Dankbarkeit und Liebe, wenn es unmöglich ist, daß in Einem Wesen Freyheit und Natur zusammen wohnen, und jene walte wo diese webt.“ (JWA 2,1, 236) Mit der Trias des Wahren, Guten und Schönen wird hier auch das Gute explizit benannt, während es in der „Freiheitsabhandlung“ als das, was nicht das Nützliche und nicht das Angenehme ist, gleichsam umkreist und mit dem „Prinzip der Ehre“ positiv markiert wird. 20  Spinoza (1999), Teil IV, prop. 72, scholium. Dass Jacobi mit zielsicherem Blick gerade diese Proposition Spinozas ins Visier nimmt, gewinnt an Brisanz angesichts der völlig überzeugenden These von Manfred Walther (2012, 113), der ebenfalls diese Proposition heranziehend dafür argumentiert, dass hier Kants „Universalisierungstheorem in Reinheit“ vorweggenommen sei. Jacobis Sicht auf strukturelle Entsprechungen zwischen Spinoza und Kant wird so bestätigt, wobei Jacobi im splitting der beiden Sequenzen zeigt, dass solche Entsprechungen doppelt lesbar sind: einerseits im Sinne einer instrumentellen Ethik der Unfreiheit, andererseits im Sinne einer nicht-instrumentellen Ethik der Freiheit. Jacobis Einwand gegen Spinoza in der zweiten Sequenz, der gegenüber der Abstraktheit reiner Vernunft darauf zielt, dass der rationalen Universalisierung im Voraus das Gute bereits konkret verstanden und gewollt sein muss, wenn es tatsächlich in konkreten Personen handlungsmotivierend wirkt, gilt deshalb analog gegenüber Kant.

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Wesen sich von dem abstracto seiner Vernunft wohl so in die Enge treiben, von einem Gedankendinge durch ein Wortspiel so ganz sich gefangen nehmen lassen? – Nimmermehr! – Wenn auf Ehre Verlaß ist, und der Mensch Wort halten kann, so muß noch ein andrer Geist, als der bloße Geist des Syllogismus in ihm wohnen. XL. Ich halte diesen Geist für den Othem Gottes in dem Gebilde von Erde.21 Mit dieser Wendung kommt Jacobis grundsätzlicher Einwand gegen Spinozas Metaphysik ins Spiel. Ausgehend von der Frage nach der Motivation unseres Handelns, die Spinoza jenseits instrumenteller Begründungen noch weniger als Kant beantworten kann, macht Jacobi ein genuines Streben nach dem Guten geltend. Neben dem natürlichen Trieb zur Selbsterhaltung ist in uns ein zweiter „intellectuelle[r] Trieb“ (JWA 1,1, 168) aktiv, ein Begehren der Freiheit, dessen Befriedigung, wann immer sie gelingt, mit Freude erfüllt. Ein solches Begehren lässt sich indes in Spinozas zwischen der Potenz der Substanz und deren Ausdruck im endlichen conatus aufgespannter Metaphysik nicht denken. Deshalb muss das Ausdrucksverhältnis strukturell analog umformuliert werden: Der Antrieb freien Handelns, der in uns wirksam ist, verweist in sich, anstatt auf die Macht der Substanz, auf „einen Gott, der ein Geist ist“ (JWA 1,1, 167). 6 Damit komme ich zum Schluss. Ohne diesen Fluchtpunkt einer Handlungsmetaphysik ist Jacobis Auffassung von Freiheit nicht zu haben, jedoch hat dies, wie vorhin schon gesagt, mit einer religiösen Restauration theonomer Moral gar nichts zu tun. Das Sittengesetz Kants durch einen göttlichen Kodex zu ersetzen, wäre tatsächlich das Letzte, was hier gewollt werden könnte. Anders als bei Kant kommt die metaphysische Dimension aber auch nicht als Postulat des höchsten Guts ins Spiel, in dem Pflicht und Glück – nicht ohne den gewissen Beigeschmack himmlischen Lohns – ins Verhältnis gesetzt werden sollen. Der Wirklichkeit der Freiheit fehlt es hier ja nicht am Glück, an der Erfahrung unvergleichlicher Freude, auch wenn wir uns noch mehr davon wünschen wollen. Worauf Jacobi verweist, dies liegt nicht vor uns in einem anderen Leben, sofern wir uns gesetzeskonform und damit glückswürdig verhalten, sondern es liegt diesem Leben gleichsam im Rücken: Wie zur Selbsterhaltung sind wir auch zur Selbstbestimmung bestimmt. Jacobi spricht hier wörtlich von einem 21  JWA 1,1, 166.

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„Gesetz“, das im Kontrast zum universalen Sittengesetz Kants als je individueller „Ausdruck“ eines göttlichen Willens in uns wirksam ist (JWA 1,1, 167). Diesen Gedanken halte ich für alles andere als anstößig, im Gegenteil: Er entlastet uns vollständig von der Vorstellung, dass Selbstbestimmung verlangt, uns auch die Bestimmung zur Selbstbestimmung noch selbst verschaffen zu müssen – was schon in Kants Religionsschrift dazu führt, hinter der Freiheit noch eine unbestimmte freie Willkür anzunehmen, die sich aus unerfindlichen Gründen und in unvordenklicher Zeit in einer intelligiblen Tat darauf festlegt, das Gute oder Böse je nach Rangordnung der Hinsichten des Moralgesetzes und der Neigung zu wählen. Noch bevor Kant auf diesen Gedanken verfällt, hält Jacobi bereits in der „Freiheitsabhandlung“ fest, dass wir das Verhältnis der von ihm – gegen Vorstellungen von nur „Einem Grundtrieb“ – behaupteten „doppelten“ Triebstruktur weder im Ganzen noch im Detail unserer einzelnen Handlungen durchschauen können, weil das die „Möglichkeit und Theorie der Schöpfung, Bedingungen des Unbedingten zum Gegenstand“ hätte (JWA 1,1, 168).22 Wir kommen nicht hinter uns selbst zurück – von unserer Verantwortung für das, was wir den beiden Trieben zufolge tun, entbindet uns dies keineswegs. Problematischer könnte erscheinen, dass Jacobi die Hinsicht auf das Gute, indem er es nicht kodifiziert, ganz in das Begehren und den Vollzug freien Handelns stellt. Das ist der Einwand Hegels, der seine bis zuletzt formulierte Bewunderung für Jacobis Darlegung wirklicher Freiheit mit dem Vorbehalt verknüpft, ihr fehle die stabile Objektivität, die Hegel in den sittlichen Institutionen gewährleistet sieht. Beachtet man jedoch, dass Hegel in dieser Kritik die schöne Seele Woldemars als Beleg für die Unzulänglichkeit der Berufung auf moralische Gefühle anführt, dann kann man zweierlei festhalten. In dieser schönen Seele analysiert Jacobi erstens selbst die gefährliche Perversion des Strebens nach dem Guten. Die Tücke dieser Perversion besteht darin, im Anschein des Guten instrumentelle Zwecke zu verfolgen, ohne dass der Handelnde dies mit Absicht will und durchschaut. Die Möglichkeit solcher Verfehlung ändert jedoch zweitens nichts daran, dass sich nirgends sonst als in guten Handlungen das Gute zeigt. Hier schließt sich Jacobi der aristotelischen Tugendethik an. Frei zu sein, bedarf der Übung auf der Basis moralischer Intuitionen (den von Jacobi genannten moralischen Gefühlen der Ehre, Dankbarkeit und Bewunderung) als Orientierung und Appellationsinstanz. Und 22  Man tut Schelling kein Unrecht, wenn man feststellt, dass die Freiheitsschrift, im Ausgang von Kant und von Jacobis „Freiheitsabhandlung“, gegen Jacobis Warnung „Möglichkeit und Theorie der Schöpfung“ anzugeben sucht, um einem Konzept personaler Freiheit näher zu kommen. Vgl. zur Kritik dieses Unternehmens Sandkaulen (2004b).

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wie schon Aristoteles hält auch Jacobi Freundschaft für die beste Übungsform.23 Keine sittliche Institution kann Freundschaft erzeugen. Umgekehrt, dies ist mein Einwand gegen Hegel, kann ein politisches Gemeinwesen von Glück sagen, wenn seine Mitglieder über basale, in der freien Praxis der Freundschaft kultivierte moralische Intuitionen bereits verfügen.24 Siglen und Literaturverzeichnis Boehm, Omri (2014), Kant’s Critique of Spinoza, Oxford. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1807/1968), Phänomenologie des Geistes, in: Gesammelte Werke, Band 9, hg. v. Bonsiepen, Wolfgang und Heede, Reinhard, Hamburg. Jacobi, Friedrich Heinrich (1981 ff.), Briefwechsel. Gesamtausgabe, begründet v. Brüggen, Michael und Sudhof, Siegfried, hg. v. Jaeschke, Walter und Sandkaulen, Birgit, Stuttgart-Bad Cannstatt. [zitiert als: JBW] Jacobi, Friedrich Heinrich (1998 ff.), Werke. Gesamtausgabe, hg. v. Hammacher, Klaus und Jaeschke, Walter, Hamburg. [zitiert als: JWA] Kant, Immanuel (1788/1968), Kritik der praktischen Vernunft, in: Kants Werke, Akademie Textausgabe, Band V. Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften, Berlin. Koch, Oliver (2013), Individualität als Fundamentalgefühl. Zur Metaphysik der Person bei Jacobi und Jean Paul, Hamburg. Sandkaulen, Birgit (2000), Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis, München. Sandkaulen, Birgit (2001), „Bruder Henriette? Derrida und Jacobi: Dekonstruktionen der Freundschaft“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49, 653–664. Sandkaulen, Birgit (2004a), „Daß, was oder wer. Jacobi im Diskurs über Personen“, in: Jaeschke, Walter und Sandkaulen, Birgit (Hg.), Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit, Hamburg, 217–237. Sandkaulen, Birgit (2004b), „Dieser und kein anderer? Zur Individualität der Person in Schellings ‚Freiheitsschrift’. In: Buchheim, Thomas und Hermanni, Friedrich (Hg.). „Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde“. Schellings Philosophie der Personalität, Berlin, 35–53. 23  Vgl. Sandkaulen (2001). 24  In Wahrheit weiß Hegel dies natürlich sehr gut. Während er explizit gegenüber Jacobi die potenziell anarchistische Gefahr von dessen Freiheitskonzept herausstreicht und sich nirgends auf die basale Relevanz der Freundschaft bezieht, hat er sich im Geistkapitel der Phänomenologie längst auf Jacobis Woldemar gestützt, um in der (von Hegel anonymisierten) Freundschaft zwischen Woldemar und Henriette nichts Geringeres freizulegen als „ein gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist“ [Hegel (1807), 361].

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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1795/1982), Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen, in: Werke 2, Historisch-Kritische Ausgabe, hg. v. Buchner, Hartmut und Jantzen Jörg, Stuttgart-Bad Canstatt. Spinoza, Baruch de (1999), Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, LateinischDeutsch, hg. v. Bartuschat, Wolfgang. Hamburg. Stolzenberg, Jürgen (2004), „Was ist Freiheit? Jacobis Kritik der Moralphilosophie Kants“, in: Jaeschke, Walter und Sandkaulen, Birgit (Hg.), Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit, Hamburg, 19–36. Tugendhat, Ernst (1993), Vorlesungen über Ethik. Frankfurt/M. Walther, Manfred (2012), „Konsistenz der Maximen. Universalisierbarkeit und Moralität nach Spinoza und Kant“, in: Tilkorn, Anne (Hg.), Motivationen für das Selbst. Kant und Spinoza im Vergleich, Wiesbaden, 109–132.

Die Theorie des Willens in Fichtes Wissenschaftslehre nova methodo Andreas Schmidt 1

Einleitung: Das Problem der dritten Antinomie

In der sog. „dritten Antinomie“ der Kritik der reinen Vernunft steht Kant vor einem Problem. Es gibt überzeugende Gründe, anzunehmen, dass es Freiheit gibt, wobei Freiheit darin besteht, eine Handlung hervorzubringen, ohne dass dies durch eine vorhergehende Ursache determiniert ist. Und es gibt ebenso überzeugende Gründe, einen starken Determinismus anzunehmen, dem zufolge jedes Ereignis aus einer vorhergehenden Ursache mit Notwendigkeit folgt. Beides widerspricht sich. Was also tun? Kants Lösung ist bekannt: Er verteilt Freiheit und Determinismus auf verschiedene Bereiche. Das Kausalitätsgesetz gilt notwendigerweise für die Welt der Erscheinungen – aber auch nur dort. In der Welt der Erscheinungen hat jedes Ereignis eine vorhergehende Ursache, aus der es notwendig folgt. Nichts hindert uns aber, daneben eine nicht erscheinende („intelligible“) Welt der Dinge an sich anzunehmen, in der das Kausalgesetz nicht gilt und in der daher so etwas wie Freiheit, das Hervorbringen einer Handlung ohne vorhergehende determinierende Ursache, möglich ist. Und die Gewissheit des Sittengesetzes in uns nötigt uns schließlich, diese Freiheit als real anzunehmen, da es ohne Freiheit keine Moralität geben kann. Dieses Lösungsangebot ist allerdings, zumindest prima facie, mit einer Reihe von Problemen behaftet, die die Interaktion der beiden Welten betrifft: Das Problem der Kausalität, der Überdetermination, der Nichterfahrbarkeit und der Unzeitlichkeit. 1. Wie ist überhaupt Einwirkung der intelligiblen Welt auf die Welt der Erscheinungen möglich? Einwirken ist eine Kausalrelation, und Kant betont in der Kritik der reinen Vernunft, dass die Kausalrelation nur innerhalb der Welt der Erscheinungen legitimerweise anwendbar ist. 2. Selbst wenn die Anwendung der Kausalrelation auf das Verhältnis von intelligibler Welt und Welt der Erscheinung möglich wäre, ergibt sich das Problem der Überdetermination. Wie ist eine lokale Einwirkung auf ein bestimmtes Ereignis in der Erscheinungswelt möglich, wenn dieses Ereignis doch zugleich innerhalb der Erscheinung vollständig determiniert ist?

© koninklijke brill nv, leiden, 2019 | doi:10.1163/9789004383586_013

Die Theorie des Willens in Wissenschaftslehre nova methodo

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Die Freiheit, die Kant hier einführt, ist eine Freiheit jenseits des Erfahrbaren. Und zwar notwendigerweise: Würde die Freiheit Teil der Erfahrung, dann würde sie zugleich eliminiert, da hier, im Bereich der Erscheinung, das Kausalgesetz ja durchgängig gilt. Aber ist ein solcher Freiheitsbegriff überhaupt brauchbar? Mit dem, was wir normalerweise unter Freiheit verstehen – sich nach reiflicher Überlegung für eine Handlung entscheiden, wobei man sich auch anders hätte entscheiden können – hat dieser Freiheitsbegriff anscheinend wenig zu tun. 4. Die intelligible Welt ist jenseits von Raum und Zeit. Die dort lokalisierte freie Handlung wird in den Schriften zur Moralphilosophie mit der Selbstgesetzgebung der reinen praktischen Vernunft identifiziert. Aber wie soll eine unzeitliche freie Handlung aufkommen für die vielen in Raum und Zeit verteilten Handlungen in der Welt der Erscheinungen? Und wenn sie es nicht kann, was haben wir dann eigentlich gewonnen durch diesen Begriff der Freiheit, der mit unserem alltäglichen Begriff der Freiheit offenbar gar nichts zu tun hat? Ich will nun nicht diskutieren, ob Kant Ressourcen hat, um dieser Probleme Herr zu werden.1 Ich möchte mir stattdessen im Folgenden genauer ansehen, wie Fichte auf diese Problematik reagiert. Fichte versteht sich als Kantianer, und in der Tat operiert er innerhalb einer begrifflichen Topographie, die derjenigen Kants sehr ähnlich ist; insbesondere nimmt er seinen Ausgang gerade an dem Punkt, der Kant so viel Schwierigkeiten bereitet, am Begriff der Freiheit. Allerdings nimmt Fichte, soweit ich sehe, an keiner Stelle expressis verbis zu den eben genannten Problemen Stellung. Man kann aber, so glaube ich, eine Antwort rekonstruieren. 2

Die Creuzer-Rezension

Einen ersten Versuch unternimmt Fichte bereits 1793 in seiner Rezension von Leonhard Creuzers Skeptische Betrachtungen über die Freiheit des Willens, doch ist dieser erste Lösungsversuch noch alles andere als überzeugend. Fichte negiert dort die Möglichkeit einer Kausalbeziehung zwischen dem intelligiblen Willen und dem erscheinenden Willen – er meint, Reinhold habe fälschlicherweise eine solche Kausalbeziehung angenommen. Aber um welchen Preis? Es scheint, dass Fichte damit beide Bereiche einfach trennt und 1  Zu einer Kant-Interpretation, die diese Schwierigkeiten zumindest teilweise vermeidet und der hier Fichte zugeschriebenen Position nahe kommt, siehe Stekeler-Weithofer (2003).

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jede verständliche Beziehung zwischen ihnen kappt, und es bleibt Fichte nur mehr, eine unbegreifliche „prästabilierte Harmonie“ zwischen intelligiblem und erscheinendem Willen anzunehmen. Fichte schreibt: Für das Bestimmtseyn [des Willens] als Erscheinung muß nach dem Gesetze der Natur-Causalität ein wirklicher Real-Grund in einer vorhergegangenen Erscheinung angenommen werden. Daß aber das Bestimmtseyn durch die Causalität der Natur, und das Bestimmen durch Freiheit übereinstimme, […] davon läßt sich der Grund weder in der Natur, welche keine Causalität auf die Freyheit, noch in der Freyheit, welche keine Causalität in der Natur hat, sondern nur in einem höheren Gesetze, welches beide unter sich fasse und vereinige annehmen: – gleichsam in einer vorherbestimmten Harmonie der Bestimmungen durch Freiheit mit denen durch’s Naturgesetz. (GA I,2, 11) Aber damit hat Fichte vor dem Problem eigentlich kapituliert, was er selbst andeutet: „[D]arinn, wie beyde gegenseitig von einander völlig unabhängige Gegenstände zusammenstimmen können, liegt das Unbegreifliche: das aber lässt sich begreifen, warum wir’s nicht begreifen können, weil wir nämlich keine Einsicht in das Gesetz haben, das beydes verbindet“ (GA I,2, 11). Glücklicherweise ist das noch nicht Fichtes letztes Wort in dieser Sache. 3

Der Wille in Fichtes Wissenschaftslehre nova methodo

Ich möchte mir nun genauer ansehen, was Fichte in der sog. Wissenschaftslehre nova methodo zu dieser Problematik zu sagen hat. Es handelt sich dabei um einen Text, den Fichte zwischen 1796 und 1799 mehrmals – vermutlich dreimal – in Jena vorgetragen hat, der aber zu Lebzeiten nicht veröffentlicht wurde. Das Originalmanuskript ist verloren gegangen, aber es existieren drei Mitschriften, von denen die erste erst 1937 von Hans Jacob veröffentlicht wurde. Fichte nimmt zwar auch in diesem Text nicht direkt auf die dritte Antinomie Bezug; man kann aber aus ihm doch einen Antwortversuch auf die genannten Probleme rekonstruieren. Ich werde zunächst einen Blick auf die Passagen werfen, in denen Fichte etwas zum gewöhnlichen, „empirischen“ Willen sagt (in den §§ 12 und 13), dann übergehen zu Fichtes Thesen zum sogenanntem „reinen Willen“ (in § 13) und abschließend Überlegungen darüber anstellen, inwiefern man daraus eine Lösung des Antinomienproblems ziehen kann.

Die Theorie des Willens in Wissenschaftslehre nova methodo

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3.1 Der empirische Wille Nehmen wir unseren Ausgangspunkt bei Fichtes Beschreibung des „empirischen“ Willens. Ich möchte drei Punkte hervorheben. Erstens: Fichte gibt zunächst eine Beschreibung des Wollens, die das Wollen mit dem Fällen einer Entscheidung identifiziert: Man denke sich deliberirend. Soll ich dieses oder jenes tun, oder ein 3tes? In der Deliberatione erscheinen diese gedachten Handlungen als in der Vorstellung ganz bestimmt. Ich denke mir diese Handlungen als möglich, vom Entschluße abhängig, aber nur als möglich. […]. Man deliberire nun nicht mehr, sondern faße einen Entschluß; so erscheint das Gewollte als etwas, das sich allein zutragen soll; das Wollen erscheint als eine kategorische Foderung, als ein absolutes Postulat an die Wirklichkeit; im deliberiren ist nur von der Möglichkeit die Rede; durch das Wollen soll etwas neues, erstes, vorher noch nicht vorhandenes entstehen. (§ 12, GA IV,3, 423) Beim Wollen geht es also darum, wie Kant sich ausdrückt, „eine Reihe von Folgen […] schlechthin anzufangen“ (KrV A445, B 473, Hv. v. AS). Zweitens: Im nächsten Schritt behauptet Fichte, es gebe eine „intellectuelle Anschauung des Wollens“ (§ 13, 136). Es gibt also so etwas wie ein unmittelbar zugängliches Phänomen des Wollens. Diese beiden Punkte sind noch weitgehend unproblematisch. Aber nun – drittens – behauptet Fichte etwas Ungewöhnliches. Er behauptet, das in dieser intellektuellen Anschauung gegebene Wollen sei nicht in der Zeit. Er schreibt: [I]ch sehe mich selbst in die Zeit hinein, ich bin nicht in der Zeit, in wiefern ich mich intellectualiter anschaue, als mich selbst bestimmend. Eigentlich ist die intellectuelle Anschauung nur Eine und in keiner Zeit […]. Ich schaue mich an als wollend, da ist keine Zeit, kein vor und nach (§ 13, GA IV,3, 434). Das ist nun allerdings eine bizarre Behauptung. Wieso sollte mein Willensentschluss, etwas zu tun, nicht in der Zeit sein? Wenn ich mich jetzt entschließe, nach dem Schreiben dieses Aufsatzes einen Kaffee zu trinken, kann ich diesen Entschluss sehr wohl datieren. Es mag vielleicht Schwierigkeiten geben, ihn auf die Sekunde genau anzugeben – dazu mögen gelegentlich die Grenzen zwischen Überlegen und Entschließen zu vage sein; aber eine ungefähre

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Datierung ist auf alle Fälle möglich. Wie kommt es, dass Fichte etwas scheinbar so manifest Unsinniges behauptet? Aber sehr wir näher zu. Wenn wir im Text weiterlesen, dann sehen wir, dass Fichte noch zwei weitere Thesen akzeptiert, die, zusammengenommen, helfen, die Zeitlosigkeitsthese verständlich zu machen. Diese beiden Thesen sind: (1) Es gibt keinen Willen ohne Handlung. (2) Ohne Handlung gibt es kein Zeitbewusstsein und ohne Zeitbewusstsein keine Zeit. Sehen wir uns diese Thesen im Einzelnen an. Zur ersten These: Fichte vertritt nicht nur die These, dass es keine Handlung ohne Willen gibt – das ist eine unproblematische These, wenn man nämlich sagt, dass eine unwillentliche Handlung eben keine Handlung im eigentlichen Sinn ist, sondern nur ein Vorgang, eine Bewegung, ein Ereignis –, sondern auch die umgekehrte These, dass es keinen Willen ohne Handlung gibt. Er sagt es explizit: Wollen und Thun ist einerlei. Wollen ist es, wenn es bloß gedacht wird, thun ists wenn es nur [sinnlich] angeschaut wird. (§ 14, GA IV,3, 457) Bei dieser These müssen wir uns noch etwas aufhalten, denn sie leuchtet nicht auf Anhieb ein. Geht denn das Wollen dem Handeln zeitlich nicht voraus? Kann ich nicht jetzt den Willensentschluss fassen, nachher eine Tasse Kaffee zu trinken? Und ist es nicht typischerweise so? Hier möchte ich mir Hilfe holen bei einem Philosophen des 20. Jahrhunderts, bei Abraham I. Melden, der 1961 in einem Buch mit dem Titel Free Action im Anschluss an Elizabeth Anscombe behauptet hat, Willensentscheidung und Handlung seien logisch, nicht kausal verknüpft. Logisch verknüpft: das heißt, es kann das eine nicht ohne das andere geben. Im Fall des Willens heißt das: Aus dem Wollen folgt das Handeln mit logischer Notwendigkeit. Man stelle sich vor, ich würde sagen „Ich will jetzt aufstehen“, mache aber dann keinerlei Anstalten, tatsächlich aufzustehen, ich versuche es nicht einmal. Man würde vermutlich sagen: Nun, dann wollte er eben nicht. Melden interpretiert das so, dass etwas erst dann als Wille zählt, wenn die Handlung (oder zumindest der Versuch einer Handlung) in Gang gesetzt wird. Es geht Melden also nicht um die epistemische Frage, dass die anderen (anders als ich) erst durch die Handlung wissen können, ob ich tatsächlich einen Willensentschluss vollzogen oder gelogen habe, als ich sagte, ich wolle jetzt aufstehen. Es geht darum, dass es überhaupt keinen Willensentschluss gibt, solange die Handlung nicht in Gang kommt. Wenn die Handlung nicht in Gang kommt, dann kann ich die Handlung vielleicht

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für wünschenswert gehalten haben – aber nicht gewollt haben.2 Diese These ist natürlich alles andere als unumstritten – aber genau das, was wir zur Erläuterung der Fichte’schen Identitätsthese benötigen. Halten wir also fest: Kein Wille ohne Handlung. Gehen wir weiter zur zweiten These: Es gibt keine Zeit ohne Zeitbewusstsein und kein Zeitbewusstsein ohne Handlung. Fichte will also auf eine These hinaus, die sich in Ansätzen bereits bei Kant findet und die später von Heidegger weiter ausgearbeitet wird: Zeit ist Handlungszeit. Wir können das so verstehen: Wenn ich handle, antizipiere ich den Handlungsverlauf bis zu seinem Endpunkt. (Wenn ich über die Straße gehe, antizipiere ich meinen Weg bis zur anderen Straßenseite.) Im Vollzug der Handlung selbst realisiere ich dann sukzessive den antizipierten Handlungsverlauf. Um das erfolgreich tun zu können, muss ich mich innerhalb des zu Beginn antizipierten Handlungsverlaufes jederzeit lokalisieren können: Ich muss wissen, welchen Teil ich schon realisiert habe und welchen Teil ich noch vor mir habe. Ich muss also die vergangene Phase von der zukünftigen Phase unterscheiden und mich auf der Grenze von beiden, in der Gegenwart, lokalisieren können. Durch diese Trias von Vergangenheit der Handlung, Gegenwart der Handlung und Zukunft der Handlung entsteht – das ist nun die entscheidende These – allererst Zeitbewusstsein, und (Idealismus verpflichtet) Zeit überhaupt. Fichte formuliert das so: Die […] Selbstbestimmung, welche in keiner Zeit ist[,] wird hier ausgedehnt zu einer Zeitlinie. […]. Jedes Glied in der Reihe wird bet[ra]chtet als bedingt durch die Causalitaet meines Willens. Ich dehne meinen Willen über die Zeit aus, daher wird auch meine Kraft ausgedehnt […]; sie thut [!] eins nach dem andern[,/] sie geht durch Mittelzustände hindurch, und wird dadurch etwas beschränktes in der Anschauung […]. (GA IV,3, 429) Erst durch das Tun und die damit verbundene Kraftaufwendung entsteht also die „Zeitlinie“. Es gibt keinen Willen ohne Handlung (erste These); und es gibt 2  „[W]here there is wanting there is an agent who does“ [Melden (1961), 141]. Siehe die Darstellung in Pothast (1987), 220 f. Vgl. auch: „The wanting that interests us, however, is neither wishing nor hoping nor the feeling of desire, and cannot be said to exist in a man who does nothing towards getting what he wants. The primitive sign of wanting is trying to get.” [Anscombe (1963), § 36, 67 f.]

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keine Zeit ohne Handlung (zweite These). Nun kann man folgenderweise argumentieren: Obwohl es keinen Willen ohne Handlung gibt, können wir beide Aspekte – den Willensaspekt und den Handlungsaspekt – dennoch begrifflich unterscheiden (durch das, was man in der Tradition eine distinctio rationis nennt). Wir können also vom Handlungsaspekt abstrahieren und nur den Willensaspekt zurückbehalten.3 Abstrahieren wir aber vom Handeln, dann abstrahieren wir zugleich von der Zeit. Das Abstraktionsprodukt, der Wille, ist daher unzeitlich. Fichte schreibt: Wir sehen jetzt klarer ein, was durch die Behauptung der intellectuellen Anschauung eigentlich behauptet wird; es wird nicht behauptet[,] es könne ein Mensch bloß in der intellectuellen Anschauung sein. Der Mensch und jedes endliche Vernunftwesen ist sinnlich und in der Zeit. Die intellectuelle Anschauung ist das in allem Denken bestimmbare; und muß gedacht werden, als Grundlage alles Denkens; sie läßt sich nur durch den Philosophen absondern, nicht aber im gem[einen] Bewußtsein. (GA IV,3, 434). Das heißt erstens, dass die intellektuelle Anschauung als solche (durch die der Wille zugänglich ist) nur ein Abstraktionsprodukt ist, und zweitens, dass Zeitlichkeit und Sinnlichkeit zusammengehören, so dass die Abstraktion von der sinnlichen Anschauung eine Abstraktion von der Zeit zur Folge hat. Ich lese also die These von der Unzeitlichkeit des Willens nicht als eine anspruchsvolle ontologische These, sondern als harmlose These über das begriffliche Verhältnis von Wille, Handlung und Zeit. 3.2 Der reine Wille Ich gehe nun über vom empirischen Wille zum reinen Willen, den Fichte im § 13 einführt und der der höchste Punkt des Systems ist, das in der Wissenschaftslehre nova methodo entfaltet wird. Der Begriff „reiner Wille“ ist von Kant her bekannt: Nach Kant ist der reine Wille ein Wille, der, wie er in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten schreibt, „ohne alle empirische Beweggründe völlig aus Prinzipien a priori bestimmt“ wird (Ak IV 390) – genauer: ein Vernunftwille, 3  Entscheidend ist, ob wir auf den Freiheitsaspekt oder den Bewegungsaspekt der Handlung reflektieren: „Das Ich sieht an in einer doppelten Ansicht. 1.) Als seine Hand wirklich bewegend, hier entsteht die Vorstellung der wirklichen Bewegung der Hand […]. 2.) Seine Hand als mit Freyheit bewegend, hier entsteht die Vorstellung des Wollens des Bewegens der Hand, nach der s[ich] die wirkliche Bewegung richtet. […]. Ich will und es geschieht, aber nicht nach dem Verhältniß der Caussalität. Woher es komme, daß etwas gleich geschieht, wenn ich will, weiß der Philosoph, weil er einsieht, daß beydes eins ist.“ (GA IV, 2, 184)

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der sich selbst sein Gesetz gibt. Fichte knüpft daran an, indem er den reinen Willen als einen Willen beschreibt, bei dem der Zweck nicht von außen zum Willen hinzukommt, sondern bei dem Wille und Zweck zusammenfallen. Da Fichte Wille mit Freiheit identifiziert, heißt das, dass der reine Wille ein Wille ist, der sich selbst als freien Willen will.4 Nun ist der reine Wille auf alle Fälle ein Wille; es müsste für ihn also das gelten, was wir schon aufgrund ganz allgemeiner Überlegungen vom empirischen Willen sagten: Kein Wille ohne Handlung, keine Zeit ohne Handlung. Abstrahieren wir begrifflich von der Handlung, um den reinen Willen zu isolieren, so abstrahieren wir auch von der Zeit. Und so ist es in der Tat. Fichte schreibt: Was ist denn nun die intellectuelle Anschauung selbst, und wie entsteht sie? Entstehen ist ein Zeitbegriff, ein sinnliches, aber die intellectuelle Anschauung ist nicht sinnlich, sie entsteht also nicht, sie ist; und es kann nur von ihr gesprochen werden im Gegensatz der sinnlichen. Zuvörderst [aber, AS] kommt die intellectuelle Anschauung nicht unmittelbar vor, sondern sie wird in jedem Denkakte nur gedacht, sie ist das höchste im endlichen Wesen. Auch der Philosoph kann sie nur durch Abstraction und Reflexion zu Stande bringen. Negativ angesehen ist sie keine sinnliche, die Form der sinnlichen Anschauung ist Uibergehen von Bestimmbarkeit zur Bestimmtheit; dieß muß in jenem [= reinen] Wollen, insofern es intellectuell angeschaut wird, ganz und gar wegfallen, und es 4  Wie kommt Fichte zur Annahme eines reinen Willens? Er entwickelt ein Zirkelargument: Kein Wollen ohne vorherige Erkenntnis eines Objekts, keine Erkenntnis eines Objekts ohne Wollen. Fichte löst ihn folgendermaßen auf: „Die Schwierigkeit war eigentlich, ein Wollen zu erklären ohne Erkenntniß des Objects. Der Grund der Schwierigkeit lag darin, daß das Wollen nur betrachtet wurde als ein empirisches, als ein Uibergehen vom Bestimmbaren zum bestimmten. Diese Behauptung ist nun geleugnet worden; es ist ein Wollen postuliert worden, das die Erkenntniß des Objects nicht voraussetzt, sondern schon bei sich führet, das nicht auf Berathschlagung gründet; und dadurch ist nun die Schwierigkeit gehoben“ (§ 13, GA IV,3, 439). Entscheidend zum Verständnis des Arguments ist m.E., (1) dass es um die Frage nach den Bedingungen des freien Willens geht und (2) die Erkenntnis des Objekts, von der hier die Rede ist, die Erkenntnis des zu erstrebenden Objektes ist. Das Argument lässt sich dann so rekonstruieren: Kein freier Wille ohne Übergehen von Unbestimmtem zu Bestimmtem; kein Übergehen ohne Grund, kein Grund des Übergehens ohne vorhergehende Erkenntnis dessen, was wünschenswert ist. Nun hängt die Frage, was wünschenswert ist, prima facie entweder von meinen Naturtrieben ab – aber dann ist das Übergehen nicht mehr frei –, oder sie hängt von meinem freien Willen ab – dann ergibt sich der genannte Zirkel. Wenn es einen freien Willen geben soll, dann muss es einen Willen geben, dem sein zu erstrebendes Objekt intrinsisch ist, was Fichte so ausbuchstabiert, dass Wille und Objekt (Zweck) hier zusammenfallen.

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bleibt nur übrig ein bloßes Anschauen unserer Bestimmtheit, die da ist, aber nicht wird.5 (GA IV,3, 438 f.) Es gibt diese Bestimmtheit, die da ist, aber nicht wird, die zeitlose Bestimmtheit, nur in Verbindung mit der sinnlichen Anschauung meiner Handlungen; wir – zumindest wir Philosophen – können dennoch von dieser sinnlichen Anschauung abstrahieren, abstrahieren dann aber auch von der Zeit. Hier wird übrigens auch klar, warum Fichte um diese Abstraktion so viel Aufhebens macht. Wenn meine deflationäre Interpretation korrekt ist, versteht man ja zunächst nicht recht, warum Fichte auf der Möglichkeit der Abstraktion und der Betrachtung des Wollens als Unzeitliches so insistiert. Hier haben wir die Erklärung. Zwar existiert die intellektuelle Anschauung des reinen Willens nicht ohne die sinnliche Anschauung des Handelns, d.h. sie ist hinsichtlich ihrer Existenz vom Handlungsvollzug abhängig. In anderer Hinsicht ist sie aber davon in der Tat unabhängig: Der reine Wille gibt sich selbst sein Gesetz a priori, das heißt, die Rechtfertigung dieser Willensbestimmung ist tatsächlich unabhängig vom allem Empirischen. Um das zu verstehen, muss man von der sinnlichen Anschauung abstrahieren. Es gibt also eine wirkliche Pointe in dieser Abstraktionsleistung.6 Wie verhält sich nun der empirische Wille zum reinen Willen? Offenbar ähnlich wie die Modi zur Substanz bei Spinoza. Obwohl der reine Wille in einem Sinn immer schon bestimmt ist – er ist der Wille zur Freiheit –, ist er in Bezug auf den empirischen Willen etwas Bestimmbares, das weiter zu bestimmen ist, damit er sich in konkreten Handlungen (mehr oder weniger adäquat) manifestieren kann. Fichte schreibt: „Alles mein geistiges Handeln, als solches sezt etwas voraus, worauf es gehe, es ist ein Modificiren, aber dazu gehört ein Modificables“, nämlich die „Bestimmtheit des reinen Willens“ als „Erklärungsgrund alles Bewußtseins“.7 (§ 13, GA IV,3, 447) Die empirischen Willensakte sind also gleichsam Modifikationen des reinen Willens, insofern partizipieren sie an seiner Freiheit; andererseits sind sie 5  Diese „Bestimmtheit, die da ist, aber nicht wird“ ist, wie gesagt, nichts anderes als die Freiheit, die sowohl „meinen Hauptcharakter“ (GA IV,3, 444) ausmacht als auch als „kategorische Forderung“ (GA IV,3, 439) bewusst wird. 6  In der Anweisung zum seligen Leben wird Fichte den reinen Willen mit Gott identifizieren; auch hier gilt weiterhin die Identitätsthese: „[D]ie, aus dem leeren Schattenbegriffe von Gott unbeantwortliche Frage: was ist Gott, wird hier so beantwortet: er ist dasjenige, was der ihm ergebene, und von ihm Begeisterte thut.“ (GA I, 9, 111 f.) 7  An anderer Stelle heißt es, das empirische Wollen sei „Theil meines reinen Wollens“ (§ 14, GA IV,3, 452, vgl. auch GA IV,3, 452 f.). Vergessen wir aber nicht, dass es das reine Wollen nicht ohne Handlung und keine Handlung ohne empirisches Wollen gibt.

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aber nur mehr oder weniger adäquate Manifestation unter den restringierenden Bedingungen der Sinnlichkeit, insofern realisiert sich die Freiheit in ihnen nur partiell und die Freiheit tritt immer auch als Forderung an den empirischen Willen heran. 4

Fichtes Lösungsvorschläge zum Problem der dritten Antinomie

Wir haben uns also damit zumindest einen vorläufigen Überblick über Fichtes Theorie des Willens verschafft. Ergibt sich daraus eine Lösung der DualismusProbleme, die die dritte kantische Antinomie mit sich brachte? Ich denke, das ist der Fall. Gehen wir die einzelnen Probleme durch. 1. Das Problem der kausalen Einwirkung des Intelligiblen auf den Bereich des Phänomenalen. Eine solche Einwirkung erübrigt sich für Fichte, da er eigentlich eine Identitätsthese vertritt. Ich habe den Beginn der entscheidenden Passage bereits zitiert: Wollen und Thun ist einerlei. Wollen ist es, wenn es bloß gedacht wird, thun ists wenn es nur [sinnlich] angeschaut wird. Hier erhalten wir die Auflösung der Frage: wie ist unsere Causalität[,] unsere Wirksamkeit in der Sinnenwelt möglich? […]. Die Wahrnehmung unserer Würksamkeit ist nichts als die Wahrnehmung unseres gedachten reinen Willens.8 (§ 14, GA IV,3, 457) 2. Das Problem der Unerfahrbarkeit der Freiheit, die jenseits des Bereichs der Phänomene zu lokalisieren ist. Das ist kein Problem für Fichte, da er intellektuelle und sinnliche Anschauung unterscheidet und die These vertritt, dass der Wille in der Handlung kraft intellektueller Anschauung unmittelbar präsent ist, ohne deswegen ein Objekt im eigentlichen Sinn zu sein. 3. Das Problem der Unzeitlichkeit des Willens. Was dieses Problem betrifft, so habe ich eine deflationäre Interpretation vorgeschlagen. Unzeitlich ist der Wille nur, wenn wir durch eine distinctio rationis vom Handlungsvollzug abstrahieren und ihn damit isoliert betrachten. Wenn wir das tun, dann abstrahieren wir auch von dem, was das Zeitbewusstsein generiert, wir abstrahieren 8  Es ist allerdings wahr, dass Fichte auch von einer „mit dem Wollen vereinigten Causalität“ (§ 12, GA IV,3, 423) spricht. Es handelt sich hier m.E. um eine vorphilosophisch übliche, aber strenggenommen unkorrekte Redeweise. Es scheint, dass Fichte in der Anwendung der Identitätsthese nicht immer konsequent ist. Zu Fichtes Schwanken in dieser Hinsicht siehe Rohs (1994).

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also von der Zeit. Damit ist keine ontologisch schwergewichtige Zwei-WeltenLehre verbunden. 4. Das Problem der reinen intelligiblen Willensbestimmungen außerhalb der Zeit und der vielen Willensakte in der Zeit. Für Fichte handelt es sich um das Verhältnis eines Bestimmbaren – des reinen Willens – zu seinen Weiterbestimmungen, die das Bestimmbare mehr oder weniger adäquat manifestieren, wobei aber das Bestimmbare ohne Weiterbestimmungen auch gar nicht existieren würde. Keine Handlung ohne empirisches Wollen, kein empirisches Wollen ohne immer schon mit-gewolltes reines Wollen; und umgekehrt: kein reines Wollen ohne empirisches Wollen und kein empirisches Wollen ohne Handlung. 5. Bleibt noch das fünfte und letzte Problem, das Problem der Überdeterminiertheit: Wenn in der Welt der Phänomene ein strikter Kausaldeterminismus herrscht, wie kann dann ein intelligibler Wille darin noch Veränderungen bewirken? Über diese Problematik habe ich bislang noch nichts gesagt, und ich muss mich ihr nun abschließend zuwenden. 5

Fichte und der Satz vom zureichenden Grund

Die Frage ist: Wie hält es Fichte mit dem Satz von zureichenden Grund? Einerseits scheint Fichte die Geltung des Satzes vom zureichenden Grund (auch) im Bereich der Erscheinungswelt abzulehnen. Das geht recht klar aus einigen Äußerungen aus der Sittenlehre von 1798 hervor. Dort schreibt er: „[U]nsre Freiheit [ist] selbst ein theoretisches Bestimmungsprinzip unsrer Welt“ (Sittenlehre 1798, GA I, 5, 77); d.h. die Repräsentation der Welt wird vom Bewusstsein so konstruiert, dass Freiheit in ihr möglich ist, und das heißt, dass sie nicht vollständig determiniert sein kann.9 In der Wissenschaftslehre von 1801/02 findet sich dazu die bemerkenswerte Formulierung: „Solange ich mich frei nannte (deliberirte) […] hielt [ich] die Kette des Seyns für mich, und das ganze Universum des Wissens an; war unentschlossen, und ließ alle Welt unentschlossen“ (GA II, 6, 301 f.). Und tatsächlich schreibt Fichte 1806 in Bezug auf Schellings Darstellung meines Systems der Philosophie (1801): „Hier schiebt sich [bei Schelling] die […] an sich selbst absurde Voraussetzung ein, daß jedes Seyn einen Grund haben müsse.“ (GA II, 10, 48) Andererseits gibt es Stellen, in denen sich Fichte zum Satz des zureichenden Grundes zu bekennen scheint. In der Aenesidemus-Rezension schreibt 9  In den Platner-Vorlesungen schreibt Fichte, dass „das freye Wesen in den Naturmechanismus eingreift, u. den Gang der Natur unterbricht“ (Platner-Vorl., GA IV,1, 301).

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Fichte, wir seien aufgrund des „Satz[es] des Grundes“ (GA I, 2, 53) „genöthigt, einen Grund […] aufzusuchen, und denselben in unserem Gemüth zu setzen“ (ebd.); und noch in der Einleitung der Wissenschaftslehre nova methodo schreibt Fichte: „Die Frage nach dem Grunde gehört selbst mit zu den notwendigen Vorstellungen“ (GA IV,3, 331). Wie hält es Fichte also mit dem Satz des zureichenden Grundes? Die wahrscheinlichste Hypothese ist, dass der Satz vom zureichenden Grund erstens bereichsrelativ ist und zweitens nur eine regulative, keine konstitutive Rolle spielt. Wir sollen ihm zufolge zu jedem Ereignis einen zureichenden Grund suchen – soweit das möglich ist. Gäbe es keine Freiheit, ließe sich ein zureichender Grund in der Natur immer finden; da es Freiheit gibt, lässt sich ein zureichender Grund manchmal nicht finden. Fichte schreibt: „Hier ist etwas unbegreifliches; und es kann nicht anders seyn, weil wir an der Gränze aller Begreiflichkeit, bei der Lehre von der Freiheit in Anwendung auf das empirische Subject, stehen. […]. Begreifen heißt ein Denken an ein anderes anknüpfen, das erstere vermittelst des letzteren denken. Wo eine solche Vermittlung möglich ist, da ist nicht Freiheit, sondern Mechanismus. Einen Akt der Freiheit begreifen wollen, ist also absolut widersprechend. Eben wenn sie es begreifen könnten, wäre es nicht Freiheit“ (Sittenlehre 1798, GA I, 5, 168). Siglen und Literaturverzeichnis Anscombe, Gertrude Elizabeth Margrete (1963), Intention, Cambridge etc. Fichte, Johann Gottlieb (1962 ff.), Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. R. Lauth, H. Jacob, Stuttgart - Bad Cannstatt. (= GA) Kant, Immanuel (1900 ff.): Gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin. (=AA) Kant, Immanuel (1998), Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Jens Timmermann, Hamburg. Melden, Abraham I. (1961), Free Action, London/New York. Pothast, Ulrich (1987), Die Unzulänglichkeit der Freiheitsbeweise. Zu einigen Lehrstücken aus der neueren Geschichte von Philosophie und Recht, Frankfurt/M. Rohs, Peter (1994), „Über die Zeit als das Mittelglied zwischen dem Intelligiblen und dem Sinnlichen“, in: Fichte-Studien 6, 95–116. Stekeler-Weithofer, Pirmin (2003), „Noumenal Will in Kant’s Theory of Action: Reasons and Causes as Intelligible Forms of Understanding“, in: Graduate Faculty Philosophy Journal 24/1, 45–73.

Schellings Theorie des Guten Markus Gabriel Die Rezeption von Schellings Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände leidet unter einer insbesondere von Heideggers Interpretationen ausgehenden doppelten Einseitigkeit.1 Diese Einseitigkeit besteht einerseits in der thematischen Fokussierung auf die Metaphysik des Bösen, die wir in der sogenannten Freiheitsschrift finden. Andererseits ergibt sie sich auch aus einer systematischen Verengung, die letztlich das philosophische Anliegen der Freiheitsschrift und die dort skizzierte Handlungstheorie und Ontologie von vornherein falsch versteht. Dass es in der Freiheitsschrift nicht nur, wie Heidegger suggeriert, um das Böse, sondern auch oder sogar primär um das Gute geht, ist leicht durch Lektüre der einschlägigen Passagen zu zeigen. Was dies in der Sache bedeutet, erfordert eine philosophische Rekonstruktion der Handlungstheorie der Freiheitsschrift, bei der es sich wohl der Intention nach um eine Korrektur an Kants Handlungs- und Freiheitstheorie handelt. Zwar ließe sich auch dies bestreiten, was davon abhängt, wie genau man Kant und Schellings Kantdeutung interpretiert. Im Folgenden werde ich aber davon ausgehen, dass Schelling mit der Freiheitsschrift in der Tat eine Korrektur an Kants Handlungstheorie intendiert. Diese Korrektur schlägt insbesondere im Rahmen der Ontologie zu Buche, die Schelling entwickelt, um a limine Kants Variante eines Kompatibilismusproblems von Natur und Freiheit zu umschiffen. Damit ich nicht vorab eine vollständige Kantdeutung liefern muss, was den Rahmen meines Beitrags sprengen würde, möchte ich zunächst kurz eine Verständigung darüber anstreben, wie man die prominent von Reinhold geltend gemachte Schwierigkeit zu verstehen hat, dass Kant bzw. der Kantianer eine Handlung nur dann als frei einstufen kann, wenn sie selbstbestimmt und damit gut ist.2 Die Schwierigkeit, die Reinhold und mit ihm u.a. Schelling in diesem Modell ausmachen, besteht grosso modo darin, dass die böse Handlung bzw. der böse Wille dann nicht als frei gelten kann. Wenn die böse

1  Vgl. hierzu Heidegger (1988); Heidegger (2006); Hühn/Jantzen (2010). Vgl. dagegen meine Korrekturen in Gabriel (2006a); Gabriel (2012); Gabriel (2014a). Zur Rezeptionsgeschichte der Freiheitsschrift vgl. Wenz (2010). 2  Vgl. den locus classicus Reinhold: GS II/2, 8.–10. Brief.

© koninklijke brill nv, leiden, 2019 | doi:10.1163/9789004383586_014

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Handlung bzw. der böse Wille aber prinzipiell nicht frei ist, ist das Böse auch nicht zurechenbar und damit mindestens indirekt entschuldigt. Dieses Problem hängt im Allgemeinen mit paradoxieanfälligen Annahmen über Freiheit zusammen, die man folgendermaßen darstellen kann: (i.) Wir können tun, was wir wollen. Wir verfügen über Handlungsfreiheit. (ii.) Sich einen Willen zu bilden, ist eine (moralisch zurechenbare) Handlung. Wir verfügen über Willensfreiheit.3 (iii.) Man kann sich nur einen Willen bilden, wenn man bereits etwas will, ohne sich einen diesbezüglichen Willen gebildet zu haben.4 (iv.) Immer wenn wir tun, was wir wollen, wollen wir ipso facto etwas tun, das wir nicht aus freien Stücken tun wollen. Aus diesen Annahmen folgt eine Paradoxie, wenn man zusätzlich voraussetzt, dass etwas überhaupt nur dann eine Handlung ist, wenn es frei ist, wenn es keine unfreien Handlungen gibt, und wenn man die Freiheit darin sieht, dass man gleichsam ein Mitspracherecht in der Maximenbildung hatte. Denn an irgendeinem Punkt muss man anerkennen, dass man etwas grundlos will. Dieses grundlose Wollen kann dann nicht seinerseits eine Handlung sein. Wenn aber alle Handlungen eine Konsequenz eines letztlich ihnen jeweils zugeordneten grundlosen Wollens wären, wäre keine Handlung frei. Um den Aufbau einer verheerenden Paradoxie zu vermeiden, bestreitet Schelling meiner Deutung zufolge, dass Willensbildung eine Handlung ist, die nach dem in (i.) angenommenen Sinn von Handlungsfreiheit zu verstehen ist. An dessen Stelle setzt er ein alternatives Handlungsmodell, das mit der Annahme bricht, Willensbildung sei eine Wahl zwischen zwei (oder mehreren) Alternativen.

3  In Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft scheint Kant eine Variante dieser Prämisse anzuerkennen, was ihn unmittelbar auf die Schwierigkeit eines vitiösen infiniten Regresses zurückwirft. Vgl. AA VI, 21. Er hebt damit an, dem Menschen einen „subjective[n] Grund des Gebrauchs seiner Freiheit überhaupt“ zu attestieren, „der vor aller in die Sinne fallenden That vorhergeht“. Diesen Grund hält er dann für einen „Actus der Freiheit […] (denn sonst könnte der Gebrauch oder Mißbrauch der Willkür des Menschen in Ansehung des sittlichen Gesetzes ihm nicht zugerechnet werden und das Gute oder Böse in ihm nicht moralisch heißen)“. Indem er sich damit in eine Paradoxie verstrickt, überrascht es nicht, dass er sich bemerkenswerterweise widerspricht, indem er im Haupttext „einen (uns unerforschlichen) ersten Grund der Annehmung guter, oder der Annehmung böser (gesetzwidriger) Maximen“ postuliert, während er in einer entsprechenden Fußnote vielmehr einen infiniten Regress anerkennt, „ohne auf den ersten Grund kommen zu können“. 4   Diese Prämisse entwickelt Schopenhauer besonders ausführlich in seiner Preisschrift über den freien Willen. Gegenwärtig wird sie verkürzt dargestellt und verteidigt von Galen Strawson, vgl. etwa Strawson (1994).

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Unterscheiden wir vor diesem Hintergrund zwei Handlungsmodelle, die beide sowohl Handlungs- als auch Willensfreiheit in Rechnung stellen. Das erste, voluntaristische Handlungsmodell versteht eine Handlung als die Ausführung einer Wahl zwischen zwei (oder mehreren) Alternativen. Die Willensbildung besteht diesem Modell zufolge darin, die Isosthenie zu brechen, die droht, wenn man die Handlungsoptionen als gleichgewichtig auffasst. Schelling diskutiert dies wie viele andere anhand von Buridans Esel. Dabei formuliert er insbesondere einen in der heutigen Diskussion geläufigen Zufallseinwand: Denn der gewöhnliche Begriff der Freiheit, nach welchem sie in ein völlig unbestimmtes Vermögen gesetzt wird, von zwei kontradiktorisch Entgegengesetzten, ohne bestimmende Gründe, das eine oder das andere zu wollen, schlechthin bloß, weil es gewollt wird, hat zwar die ursprüngliche Unentschiedenheit des menschlichen Wesens in der Idee für sich, führt aber, angewendet auf die einzelne Handlung, zu den größten Ungereimtheiten. Sich ohne alle bewegende Gründe für A oder – A entscheiden zu können, wäre, die Wahrheit zu sagen, nur ein Vorrecht, ganz unvernünftig zu handeln, und würde den Menschen von dem bekannten Tier des Buridan, das nach der Meinung der Verteidiger dieses Begriffes der Willkür zwischen zwei Haufen Heu von gleicher Entfernung, Größe und Beschaffenheit verhungern müßte (weil es nämlich jenes Vorrecht der Willkür nicht hat), eben nicht auf die vorzüglichste Weise unterscheiden. Der einzige Beweis für diesen Begriff besteht in dem Berufen auf die Tatsache, indem es z.B. jeder in seiner Gewalt habe, seinen Arm jetzt anzuziehen oder auszustrecken, ohne weitem Grund; denn wenn man sage, er strecke ihn, eben um seine Willkür zu beweisen, so könnte er ja dies ebensogut, indem er ihn anzöge; das Interesse, den Satz zu beweisen, könne ihn nur bestimmen, eins von beiden zu tun; hier sei also das Gleichgewicht handgreiflich usw.; eine überall schlechte Beweisart, indem sie von dem Nichtwissen des bestimmenden Grundes auf das Nichtdasein schließt, die aber hier gerade umgekehrt anwendbar wäre; denn eben, wo das Nichtwissen eintritt, findet um so gewisser das Bestimmtwerden statt. Die Hauptsache ist, daß dieser Begriff eine gänzliche Zufälligkeit der einzelnen Handlungen einführt und in diesem Betracht sehr richtig mit der zufälligen Abweichung der Atomen verglichen worden ist, die Epikurus in der Physik in gleicher Absicht ersann, nämlich dem Fatum zu entgehen. Zufall aber ist unmöglich, widerstreitet der Vernunft wie der notwendigen Einheit des Ganzen; und wenn Freiheit nicht anders als mit der gänzlichen Zufälligkeit der

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Handlungen zu retten ist, so ist sie überhaupt nicht zu retten. Es setzt sich diesem System des Gleichgewichts der Willkür, und zwar mit vollem Fug, der Determinismus (oder nach Kant Prädeterminismus) entgegen, indem er die empirische Notwendigkeit aller Handlungen aus dem Grunde behauptet, weil jede derselben durch Vorstellungen oder andere Ursachen bestimmt sei, die in einer vergangenen Zeit liegen, und die bei der Handlung selbst nicht mehr in unserer Gewalt stehen. Beide Systeme gehören dem nämlichen Standpunkt an; nur daß, wenn es einmal keinen höheren gäbe, das letzte unleugbar den Vorzug verdiente. Beiden gleich unbekannt ist jene höhere Notwendigkeit, die gleichweit entfernt ist von Zufall als Zwang oder äußerem Bestimmtwerden, die vielmehr eine innere, aus dem Wesen des Handelnden selbst quellende Notwendigkeit ist. Alle Verbesserungen aber, die man bei dem Determinismus anzubringen suchte, z.B. die Leibnizische, daß die bewegenden Ursachen den Willen doch nur inklinieren, aber nicht bestimmen, helfen in der Hauptsache gar nichts. (SW, VII, 383 f.) Diesem voluntaristischen Modell zufolge spielt der Willensbegriff bzw. der Begriff der Willensbildung die theoretische Rolle, zu erklären, wie es angesichts einer tatsächlich bestehenden Isosthenie von Handlungsoptionen überhaupt zu Handlungen kommt. In Anlehnung an Kant spricht Schelling hier von „Willkür“. Das zweite, von Schelling präferierte, ethische Handlungsmodell versteht eine Handlung als die Ausführung einer Handlungsoption aus mehreren möglichen, die von sich her – unabhängig von den Gründen, die ein Akteur in Betracht ziehen oder gar als Handlungsgrund anführen mag – unter moralischen Normen steht. Schelling verwendet dabei die Ausdrücke „das Gute“ bzw. „das Böse“ als Termini für das moralisch Gebotene bzw. das moralisch Verbotene. Π zu tun ist demnach von sich her oder, wie man sagen kann, metaphysisch gut oder böse und zwar unabhängig davon, welche Gründe ein Akteur für Π anführen mag. Wir sind demnach als Akteure in der Frage epistemisch fallibel, ob eine gegebene Handlung in einer gegebenen Situation gut oder böse ist. Damit vertritt Schelling m.E. eine kognitivistische und realistische metaethische Position. Besonders nachdrücklich formuliert er diese in der folgenden für unsere Diskussion einschlägigen Passage: Wir haben gesehen, wie durch falsche Einbildung und nach dem Nichtseienden sich richtende Erkenntnis der Geist des Menschen dem Geist der Lüge und Falschheit sich öffnet, und bald von ihm fasziniert der anfänglichen Freiheit verlustig wird. Hieraus folgt, daß im Gegenteil das wahre

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Gute nur durch eine göttliche Magie bewirkt werden könne, nämlich durch die unmittelbare Gegenwart des Seienden im Bewußtsein und der Erkenntnis. Ein willkürliches Gutes ist so unmöglich als ein willkürliches Böses. Die wahre Freiheit ist im Einklang mit einer heiligen Notwendigkeit, dergleichen wir in der wesentlichen Erkenntnis empfinden, da Geist und Herz, nur durch ihr eignes Gesetz gebunden, freiwillig bejahen, was notwendig ist. Wenn das Böse in einer Zwietracht der beiden Prinzipien besteht, so kann das Gute nur in der vollkommenen Eintracht derselben bestehen, und das Band, das beide vereinigt, muß ein göttliches sein, indem sie nicht auf bedingte, sondern auf vollkommene und unbedingte Weise eins sind. Das Verhältnis beider läßt sich daher nicht als selbstbeliebige, oder aus Selbstbestimmung hervorgegangene Sittlichkeit vorstellen. Der letzte Begriff setzte voraus, daß sie nicht an sich eins seien; wie sollen sie aber eins werden, wenn sie es nicht sind? außerdem führt er zu dem ungereimten System des Gleichgewichts der Willkür zurück. Das Verhältnis beider Prinzipien ist das einer Gebundenheit des finstern Prinzips (der Selbstheit) an das Licht. Es sei uns erlaubt, dies, der ursprünglichen Wortbedeutung nach, durch Religiosität auszudrücken. Wir verstehen darunter nicht, was ein krankhaftes Zeitalter so nennt, müßiges Brüten, andächtelndes Ahnden, oder Fühlen-wollen des Göttlichen. Denn Gott ist in uns die klare Erkenntnis oder das geistige Licht selber, in welchem erst alles andere klar wird, weit entfernt, daß es selbst unklar sein sollte; und in wem diese Erkenntnis ist, den läßt sie wahrlich nicht müßig sein oder feiern. Sie ist, wo sie ist, etwas viel Substantielleres, als unsere Empfindungsphilosophen meinen. Wir verstellen Religiosität in der ursprünglichen, praktischen Bedeutung des Worts. Sie ist Gewissenhaftigkeit, oder daß man handle, wie man weiß, und nicht dem Licht der Erkenntnis in seinem Tun widerspreche. Einen Menschen, dem dies nicht auf eine menschliche, physische oder psychologische, sondern auf eine göttliche Weise unmöglich ist, nennt man religiös, gewissenhaft im höchsten Sinne des Worts. Derjenige ist nicht gewissenhaft, der sich im vorkommenden Fall noch erst das Pflichtgebot vorhalten muß, um sich durch Achtung für dasselbe zum Rechttun zu entscheiden. Schon der Wortbedeutung nach läßt Religiosität keine Wahl zwischen Entgegengesetzten zu, kein aequilibrium arbitrii (die Pest aller Moral), sondern nur die höchste Entschiedenheit für das Rechte, ohne alle Wahl. (SW, VII, 391f., meine Hervorhebungen, M.G.)5 5  Vgl. so bereits das Würzburger System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere von 1804, SW, VI, 558: „Religion ist höher als Ahndung und Gefühl. Die erste

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Eine Handlung ist demnach gut, wenn man dasjenige tut, was man weiß, indem man die normative Struktur einer Handlungssituation erkannt hat. Wenn Wissen und Handeln sich nicht widersprechen, liegt ein Fall des Guten vor. Wählen wir ein einfaches Beispiel, um die Struktur dieser Theorie des Guten zu explizieren. Angenommen, jemand wüsste, dass es moralisch verboten ist, Lebewesen grundlos Leid zuzufügen. Außerdem weiß die betreffende Person, dass Friedrich ein Lebewesen ist. Daraus schließt sie, dass es moralisch verboten ist, Friedrich grundlos Leid zuzufügen. Schellings Theorie des Guten zufolge steht dieser Person, wenn sie gut handelt, keine weitere Wahl zur Verfügung. Sie weiß, was zu tun ist, und sie tut es aus genau diesem Grund. Zu wissen, dass es gut ist, zu Π, ist ein hinreichender Grund, um zu Π. Man sollte deswegen nicht zusätzlich postulieren, dass es überdies nur dann gut ist, zu Π, wenn man auch nicht-Π tun könnte. Wenn man in einer gegebenen Situation sowohl Π als auch nicht-Π tun kann, bedarf es irgendeines Grunds, um die Isosthenie zu brechen, die sich modallogisch aus dieser Kontingenz ergibt. Wenn mir Π und nicht-Π gleichermaßen möglich sind, kann es keinen für mich ausschlaggebenden Grund für Π geben. Wenn Π aber dasjenige ist, was man tun soll, ist dies der alles entscheidende, ausschlaggebende Grund für Π. Ich kann mich demnach nicht in der Situation befinden, Π und nicht-Π in ihren relevanten Hinsichten zu erkennen, um mir dann noch die Frage zu stellen, wie ich zwischen diesen Alternativen wählen soll. Die Alternativen sind nur dann angemessen erkannt, wenn ich ipso facto weiß, dass ich Π soll. Damit entfällt aber die Annahme, dass ich außerdem noch zwischen Π und nicht-Π grundlos wählen kann. Im Hintergrund von Schellings Überlegungen zur Metaphysik des Guten und des Bösen steht Schellings Ontologie in der Freiheitsschrift, die es ihm erlaubt, ihm angeführten Zitat das Böse als „Zwietracht“ und das Gute als eine „Einheit“ zu beschreiben. Die ontologische Überlegung, die er dabei anstellt, lässt sich folgendermaßen auf unsere Zwecke zugeschnitten rekonstruieren.6 Bedeutung dieses oft mißbrauchten Worts ist Gewissenhaftigkeit, es ist Ausdruck der höchsten Einheit des Wissens und des Handelns, welche unmöglich macht, seinem Wissen im Handeln zu widersprechen. Einen Menschen, dem dieß – nicht auf eine menschliche, psychische, oder psychologische, sondern – auf eine göttliche Weise unmöglich ist, nennt man religiös, gewissenhaft im höchsten Sinn des Worts. Derjenige ist nicht gewissenhaft z.B., der sich noch erst das Pflichtgebot vorhalten muß und sich erst durch die Achtung für das Gesetz zum Rechtthun bestimmen. Der Gewissenhafte bedarf dieß nicht; es ist ihm nicht möglich anders zu handeln als es recht ist. Religiosität bedeutet schon dem Ursprung nach ein Gebundenseyn des Handelns, keineswegs aber eine Wahl zwischen Entgegengesetztem, wie man bei der Freiheit des Willens annimmt, nicht ein aequilibrium arbitrii, wie man es nennt, sondern die höchste Entschiedenheit für das Rechte, ohne Wahl.“ 6  Vgl. dazu insbesondere wiederum Gabriel (2014a).

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Alles, was es überhaupt gibt, tritt vor einem Hintergrund von anderem hervor, was es ebenfalls gibt. Beim „Sein“ handelt es sich demnach um eine funktionale Struktur, die darin besteht, dass etwas wortwörtlich existiert, d.h. hervortritt, und sich damit von anderem unterscheidet. Was existiert, ist individuiert, und über seine Individuation allererst mit sich selbst identisch. Nichts ist demnach einfach so selbst-identisch, sondern immer nur über Individuationsbedingungen hinweg. Nur etwas, das so-und-so ist, kann auch mit sich selbst identisch und von anderem unterschieden sein. Schelling führt in diesem Zusammenhang seine ebenso vieldiskutierte, wie wiederum von Heidegger missverstandene Distinktion „zwischen dem Wesen, sofern es existiert, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist“ (SW, VII, 357) ein. Diese „nämliche Unterscheidung“ sei es, „auf welche die gegenwärtige Untersuchung sich gründet“ (ebd.). Sie ist also sicherlich auch für den Freiheitsbegriff relevant. Die von Heidegger angestoßene Rezeption verkürzt die Distinktion, indem sie von Grund und Existenz redet, als ob es sich dabei um die beiden Prinzipien handelt, für die Zwietracht oder Einheit infrage kommen. Schelling unterscheidet hier aber zwei Hinsichten, in denen das nämliche Wesen in Betracht kommen kann. Es handelt sich hierbei um dasselbe Wesen, auf das im Titel der Freiheitsschrift Bezug genommen wird, die ja genau besehen keine Abhandlung über menschliche Freiheit, sondern Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit anbietet. Später im Text erfahren wir dann, das Wesen falle mit dem „höchste[n] Punkt der ganzen Untersuchung“ (SW, VII, 406) zusammen, dem dort sogenannten Ungrund. Der Ungrund ist das Wesen, das in der einen Hinsicht existiert und in der anderen Hinsicht „bloß Grund von Existenz“ ist. Den anvisierten Gedanken kann man in etwa folgendermaßen unter Rekurs auf eine Ontologie der Prädikation rekonstruieren.7 Schellings Analyse des informativen Urteils besagt, dass ein Urteil der kategorischen Standardform „S ist P“ bzw. Fa eine ontologische Verpflichtung eingeht. Die ontologische Verpflichtung besteht darin, dass ein solches Urteil nur wahr sein kann, wenn es ein x gibt, das sowohl S als auch P ist. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Der Ball ist rund. In Schellings Analyse drückt dieses Beispiel den Gedanken aus, dass es etwas gibt, das ein Ball und das rund ist. Beiläufig gesagt entspricht dies der prominenten deskriptivistischen Stoßrichtung in Russells, Freges und Quines Ontologie, da Schelling ebenfalls davon ausgeht, dass im Standardurteil die logischen Eigennamen, die an der Subjektstelle des 7  Vgl. dazu auch Gabriel (2014b). Vgl. natürlich insbesondere das Standardwerk zum Thema Hogrebe (1989).

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Gedankens (bzw. an der Frege’schen Gegenstandsstelle) stehen, grammatisch versteckte Beschreibungen sind.8 Diese Überlegung mündete allerdings in einen problematischen infiniten Regress, wenn das Urteil Fa als die Konjunktion zu analysieren wäre, dass es ein x gibt dergestalt, dass es sowohl wahr ist, dass x a ist, als auch, dass x F ist. Denn dann stellte sich unter Umständen die Frage, wie das Konjunkt zu analysieren sei, dass x a, etwa dass Dieses-Da ein Ball sei. An dieser Stelle schlägt Schelling vor, dass der indexikalisch anvisierte, anschaulich gegebene Gegenstand zwar zu Unrecht für ein a gehalten werden mag, dass daraus aber nicht folgt, dass es überhaupt keinen Gegenstand gibt, der für ein a gehalten wird, aber in Wahrheit ein b ist. Deswegen nimmt er über seine gesamte Karriere hinweg an, dass es notwendigerweise eine Art Wissen durch Bekanntschaft (Anschauung) geben muss, wenn wir der Fallibilität und Objektivität unserer paradigmatischen Urteilsfälle Rechnung tragen wollen. Wenn es also prinzipiell unvermeidbar ist, irgendein Wissen durch Bekanntschaft, d.h. Anschauung, anzunehmen, sind wir ex hypothesi berechtigt, die Anwendbarkeit des Anschauungsbegriffs auf das ethische Handlungsmodell zu überprüfen. Vor diesem Hintergrund vertritt Schelling eine kognitivistische und realistische metaethische Position. Moralische Urteile sind demnach erstens wahrheitsfähig und zweitens gibt es moralische Tatsachen, die in einem relevanten Sinn unabhängig von der expliziten moralischen Einschätzung von Akteuren sind, die ihre Handlungsoptionen als gut bzw. böse beurteilen. Ein moralisches Urteil wie: „Terrorverdächtige zu foltern, ist böse“ hat die Wahrheitsbedingung, dass es genau dann wahr ist, wenn Terrorverdächtige zu foltern böse ist. In dieser Frage können wir uns täuschen und der falschen Meinung sein, Terrorverdächtige zu foltern, sei gut bzw. sei manchmal gut. Es gibt nun mindestens zwei Quellen, aus denen sich Skrupel gegen eine realistische kognitivistische Position dieses Typs speisen, eine allgemeine erkenntnistheoretische und eine spezifischere metaethische. Hier wie in ähnlichen Fällen könnte man aus erkenntnistheoretischen Skrupeln nachhaken und wissen wollen, was denn der Grund eines moralischen Urteils wie „Terrorverdächtige zu foltern, ist böse“ sei. Und an dieser Stelle antwortet Schelling, dass der Grund dieses moralischen Urteils nichts anderes als die Wahrheit dieses Urteils sein soll. So verstehe ich die Wendung: „[D]as wahre Gute [könne] nur durch eine göttliche Magie bewirkt werden […], nämlich durch die unmittelbare Gegenwart des Seienden im Bewußtsein und der Erkenntnis.“ (SW, VII, 391) „Das Seiende“ hier meint das Der-FallSeiende. Es ist der Fall, dass Terrorverdächtige zu foltern, böse ist. Der Grund 8  Vgl. dazu Gabriel (2014c).

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dafür liegt an keiner anderen Stelle als darin, dass dies der Fall ist, und dass wir so urteilen sollen, wenn wir denn die Sachlage angemessen beurteilen wollen. Das wahre Gute erfasst man demnach im Modus einer Einsicht. An dieser Stelle könnte uns eine Variante des ersten Handlungsmodells in die Quere kommen und die angesprochenen metaethischen Schwierigkeiten auf den Plan rufen. Wie nämlich, so lautet eine an dieser Stelle häufig auftretende Humeanische Rückfrage, soll denn die Einsicht, dass dies-und-das geboten bzw. verboten ist, uns motivieren? Diese Rückfrage setzt voraus, dass eine Einsicht als Grund angeführt wird, eine Isostheniesituation zugunsten einer Entscheidung zu überwinden. Damit wird unterstellt, dass Gründe die Funktion haben, in einer Handlungserklärung angeführt zu werden, die eine Antwort auf die Frage gibt, warum S Π getan hat. Hierbei kontrastiert Π mit irgendeiner Alternative nicht-Π, da man in der Regel annimmt, zurechenbare Handlungen seien nur dann frei, wenn es alternative Handlungsoptionen gab. Doch genau dieses Modell lehnt Schelling ab mit dem Hinweis, dass es unterstellt, dass das Gute und das Böse zu tun aus der Perspektive des Akteurs prima vista dasselbe ist, nämlich, eine Entscheidung zu treffen. Doch eine Entscheidung für das Gute und eine Entscheidung für das Böse unterscheiden sich wesentlich, da eine Entscheidung für das Gute gut und eine Entscheidung für das Böse böse ist. Es gibt demnach keinen neutralen Boden der Entscheidungsfindung, der Willensbildung, die post festum als gut oder böse zu beurteilen ist. In der Anwendung des voluntaristischen Handlungsmodells auf die Motivationsfrage macht Schelling eine Instanz des Bösen aus. Denn eine solche Anwendung erweckt den Eindruck, als hätten Akteure in moralischen Fragen ein Mitspracherecht, das darin besteht, aus zwei objektiv oder ontologisch gleichberechtigten Optionen eine auszuwählen und durch diese Wahl als das Gute auszuzeichnen. Genau dagegen wendet sich das ethische Handlungsmodell, das darauf besteht, dass die Handlungsoptionen metaphysisch bereits gut oder böse sind, wie auch immer wir sie einschätzen mögen. Wir haben also durch unsere Wahl zwischen Optionen keinerlei Einfluss auf die moralische Wertigkeit der Optionen ebenso wenig wie wir durch einen Urteilsakt des Fürwahrhaltens dasjenige wahr machen, was wir gerade für wahr halten. Die evaluativen Prädikate _ ist gut bzw. _ ist böse treffen demnach keineswegs über den Umweg über unsere Handlungsoptionen auf Handlungen zu, die wir tatsächlich ausführen. An dieser Stelle schließt sich Schelling cum grano salis einer kantischen Überlegung an, die es ihm erlaubt, philosophische Theorien der Semantik von Gut und Böse oder kurzum metaethische Positionen ihrerseits als gut oder böse aufzufassen, womit er einer zentralen Motivation konstruktivistischer Metaethiken unter realistischen Vorzeichen

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Rechnung trägt. Diese Motivation kann man unter Rekurs auf einen Hinweis Crispin Wrights verständlich machen. Wright weist in Truth and Objectivity darauf hin, dass moralische Urteile jedenfalls nicht in derselben Weise realistisch aufgefasst werden sollten wie Urteile über die Anzahl von Sonnensystemen in der Milchstraße. Er führt dabei ein Realismuskriterium an, das er als „width of cosmological role“9 bezeichnet und das ich etwas anders als Kontinuum modaler Robustheit auffasse.10 Damit meine ich das Folgende. Moralische Tatsachen können nicht so beschaffen sein, dass es keinem Akteur jemals gelingt, sie zu erfassen. Im Unterschied zu moralischen Tatsachen sind einige physikalische Tatsachen so beschaffen, dass sie auch bestehen, wenn niemand sie jemals erfassen kann. Moralische Tatsachen sind zwar auch modal robust, sie hätten auch dann bestanden, wenn wir sie nicht erfasst hätten. Aber sie sind nicht in der Weise modal robust, dass wir annehmen können, dass kein Akteur sie jemals erfasst hat. Es fällt uns seit Platons berechtigtem Hinweis, dass die Götter nicht neidisch sind, schwer, uns auszumalen, wie es wäre, von den moralischen Tatsachen so abgeschirmt zu sein wie die Protagonisten der griechischen Tragödie, die keine Ahnung haben, welche Normen die orakelhaften Götter ihnen auferlegt haben. Auf dieser Basis drängt sich die Idee der Autonomie auf, die besagt, dass wir als Akteure nur dann überhaupt handeln, wenn wir über ein praktisches Selbstbewusstsein verfügen, das eine irgendwie näher zu bestimmende rationale Verbindung zwischen Intentionen und Handlungen herstellt. An einer vielzitierten Stelle der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten behauptet Kant bekanntlich, vernünftige Wesen verfügten über einen Willen, d.h. über „das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Principien, zu handeln“ (AA IV, 412). Bekanntermaßen hält Kant dafür, dass Prinzipien letztlich im kategorischen Imperativ gründen. Schelling versteht dies so, dass ein Wille dann als gut gilt, wenn er einen bestimmten Ausgleich zwischen dem kategorischen Imperativ und einem gegebenen Anwendungsfall herstellt, böse hingegen, wenn dies nicht der Fall ist. Dabei entsteht der gute bzw. böse Wille dadurch, dass sich Akteure ein Bild davon machen, was die Bedingungen ihres Handelns in einer gegebenen Situation sind. Der gute Wille besteht dabei in Schellings Auffassung in einem Ausgleich zwischen dem „Universal-“ und dem „Partikularwillen“.11 Das Kriterium eines gelungenen Ausgleichs macht er daran fest, ob die ontologischen Bedingungen

9  Wright (1992), 196 f. 10  Vgl. dazu wiederum Gabriel (2014c). 11  Vgl. insbesondere SW, VII, 362 ff.

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der Existenz der Situation durch den Ausgleich fortgeschrieben oder vernichtet werden. Illustrieren wir dies anhand eines jahreszeitlich passend modifizierten Beispiels von Wolfram Hogrebe.12 Um einen Weihnachtsmarkt zu überleben, ist eine Handlungskoordination verschiedener Partikularwillen nötig: Sie möchte zum Glühwein, er sucht nach Kerzen, die Gruppe, die sich durch die Menge schiebt, will schnellstens den Weihnachtsmarkt durchqueren. Die Situation des Weihnachtsmarkts ist dabei so beschaffen, dass sie nicht bestehen, nicht existieren könnte, wenn alle Beteiligten darauf aus wären, sie zu unterminieren. Sofern es überhaupt einen Weihnachtsmarkt gibt, ist ein Ausgleich seiner Fortexistenz erzielt worden. Das Gute bezüglich dieser Situation besteht darin, so zu handeln, dass die Bedingungen der Fortexistenz der Situation nicht unterminiert werden. Man vermeidet es demnach als Gute oder Guter, eine Schlägerei anzufangen, die Buden zu zerstören, oder so laut zu grölen, dass die für den kapitalistische Weihnachtskonsum eigens kultivierte feierliche Stimmung aufgehoben wird. Die Böse hingegen wird die Situation dominieren und damit zerstören wollen, indem ein Partikularwille sich den Universalwillen unterordnet. Ein Terroranschlag auf einen Weihnachtsmarkt hätte etwa genau die Form, einerseits die Existenz des Weihnachtsmarkts als Situation einer Handlungskoordination anzuerkennen und auf dieser Basis die Situation durch die Privilegierung eines Partikularwillens, etwa einer politischen Agenda, zu unterminieren. Unsere Einstellung zu einer gegebenen Situation der Handlungskoordination bestimmt also, ob dasjenige, was wir tun, in die Kategorie des Guten oder die Kategorie des Bösen fällt, die die Spezifikationen unterhalb des Begriffs einer freien Handlung überhaupt sind. In diesem Sinn ist der Begriff der menschlichen Freiheit überhaupt der Begriff eines „Vermögens des Guten und des Bösen“ (SW, VII, 352), wie Schelling schreibt. Der Begriff einer guten Handlung ist der Begriff eines präservierenden Ausgleichs im Rahmen einer Handlungskoordination, der Begriff einer bösen Handlung hingegen der Begriff einer Zerstörung der Bedingungen der Handlungskoordination, die zugleich voraussetzt, dass die Bedingungen als Anschlagsziel bestehen. An dieser Stelle drängt sich ein Formalismuseinwand gegen diese Variante einer ontologischen Grundierung der Ethik auf. Er besagt, dass nicht jede Fortsetzung einer bestehenden Struktur der Handlungskoordination gut genannt werden kann, selbst wenn sie die Strukturmerkmale einer Einheit im Unterschied zur Zwietracht erfüllt. Die Fortsetzung etwa eines 12  Diese Überlegung habe ich zum ersten Mal in seinem Hauptseminar zur Freiheitsschrift gehört, das er im Sommersemester 1999 an der Universität Bonn abgehalten hat.

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nordkoreanischen Straflagers, des kapitalistischen Weihnachtskonsums, der die Bürgerinnen und Bürger von echtem Protest ablenkt, der Massentierhaltung oder des syrischen Bürgerkriegs gelten uns zu Recht nicht als Beispiele für das Gute. Um diesem Formalismuseinwand zu begegnen, führt Schelling den Begriff der Erkenntnis an. Das kognitivistische Element seiner Metaethik erfüllt die Funktion, unabhängig von unserem strukturellen bzw. formalen Merkmalskatalog der Strukturpräservation eine moralische Haftung einzuführen. Wir sind im Handeln nicht nur im Licht struktureller Bedingungen der Handlungskoordination verantwortlich, sondern überdies auch dadurch, dass die Existenz eines gegebenen Handlungsrahmens ihrerseits als gut oder böse einzustufen ist. Die Gesinnung des Guten bezeichnet Schelling als Gewissenhaftigkeit. Diese besteht darin, „daß man handle, wie man weiß“ (SW, VII, 392). Die Gewissenhaftigkeit haftet über den Wissensbegriff an moralischen Tatsachen. Sie ist eine Verbindlichkeit diesseits von Handlungsoptionen, da sie das Gute will, ohne das Böse als gleichwertige Option anzusehen. Sie unterscheidet sich genau dadurch von einer leeren Heidegger’schen Entschlossenheit, die sich für dieses oder jenes entschließen kann, ohne in dieser Hinsicht moralischen Kategorien zu unterstehen. Deswegen versucht Heidegger zwanghaft, Schelling eine Willensmetaphysik anzudichten, der zufolge Schelling das erste Handlungsmodell vertritt und gleichzeitig alles dasjenige gut nennt, was dafür sorgt, dass die Partei, die man ergriffen hat, auch fortbesteht. Wer handelt, wie er oder sie weiß, steht ex hypothesi bereits in epistemischem Kontakt mit den moralischen Tatsachen. Wie Kant bestreitet auch Schelling nicht, dass wir einen von jeder metaethischen Überlegung unabhängigen Zugriff auf moralische Tatsachen haben. Das „Factum der Vernunft“ (AA V, 31) ist allerdings, so beginnt die Freiheitsschrift, nicht leicht als solches zu fassen, wenn es uns auch immer gegenwärtig ist, sofern wir einen Willen haben, d.h. nach der Vorstellung von Gesetzen handeln. Die erste im Text als solche benannte Aufgabe der Freiheitsschrift besteht darin, der „Tatsache der Freiheit“ (SW, VII, 336) Rechnung zu tragen. So „unmittelbar das Gefühl derselben einem jeden eingeprägt ist“, liege sie „doch keineswegs so sehr an der Oberfläche“, „daß nicht, um sie auch nur in Worten auszudrücken, eine mehr als gewöhnliche Reinheit und Tiefe des Sinns erfordert würde“ (SW, VII, 336). Schelling bestreitet mit guten Gründen, dass wir zunächst gegen einen metaethischen Skeptiker beweisen müssten, dass es überhaupt moralisches Wissen gibt. Die Frage ist nicht, ob wir frei sind und ob es ein dieser Freiheit entsprechendes Sittengesetz gibt, sondern vielmehr, wie es möglich ist, dass wir frei sind und es ein dieser Freiheit entsprechendes Sittengesetz gibt.

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Die Freiheitsschrift beantwortet diese Frage auf den verschiedenen, ihrem Rahmen entsprechenden Ebenen. Dabei übernimmt die Ontologie und die mit dieser verbundene Prädikationstheorie die Aufgabe, „den Zusammenhang dieses Begriffs [der Freiheit, M.G.] mit dem Ganzen einer wissenschaftlichen Weltansicht“ (SW, VII, 336) zu erfassen. Die Handlungstheorie bettet Handlungen als Ereignisse in die Ontologie ein, indem sie zeigt, dass es keinen Grund gibt zu meinen, die Natur sei ein allumfassendes Ganzes, das Gesetzen, aber keinen Freiheitsgesetzen unterstehe. Die Ontologie der Freiheitsschrift erfüllt damit zugleich die wünschenswerte Funktion, den moralischen Realismus dadurch zu plausibilisieren, dass sie dem metaphysischen Reduktionismus frühzeitig Einhalt gebietet. Eine bis heute keineswegs versiegte Quelle von Einsprüchen gegen den moralischen Realismus rührt aus dem „Verortungsproblem (placement problem)“ her, wie Huw Price dies genannt hat.13 Das Verortungsproblem – in der Metaethik nicht zuletzt von Mackie her vertraut – wundert sich, wie moralische oder im Allgemeinen geistige Tatsachen in das natürliche Universum passen können. Wie soll ein und dieselbe Welt einerseits Naturgesetzen und andererseits Freiheitsgesetzen unterstehen, ist eine andere beliebte Fragerichtung. Schelling nimmt dem Verortungsproblem den Wind aus den Segeln, indem er darauf hinweist, dass jedes Ganze, für das sich die Frage der Verortung moralischer oder allgemeiner geistiger Tatsachen stellen lässt, bereits vom Standpunkt eines Wesens aus thematisiert wird, das sich zutraut, Einsicht in ein solches Ganzes zu erhalten – eine Struktur, die Thomas Nagel in Geist und Kosmos unter Rekurs auf Schelling in Anspruch nimmt.14 Die Plausibilität einer sowohl kognitivistischen als auch realistischen Metaethik und folglich das passende Design für einen moralischen Realismus variiert relativ zu ontologischen Rahmenbedingungen. Deswegen arbeitet Schelling in der Freiheitsschrift auf zwei Ebenen, wie er im ersten Satz ankündigt. Einerseits argumentiert er für das in diesem Beitrag skizzierte ethische Handlungsmodell, indem er zeigt, dass das Gute bzw. das Böse nicht deswegen gut bzw. böse ist, weil jemand in der Meinung so handelt, dass Π gut bzw. böse ist. Andererseits entwickelt er eine Ontologie, die es erlaubt, diese realistisch-kognitivistische Position zu grundieren, indem der metaphysische Reduktionismus zurückgewiesen wird. Die Freiheit, so zu handeln, wie man 13  Price (2011), 187–189. 14  Vgl. Nagel (2016), 32. Während Nagel Geist und Kosmos schrieb, war ich als Postdoc an der NYU und habe in regelmäßigen Treffen mit ihm über diejenige Struktur gesprochen, die Wolfram Hogrebe in Prädikation und Genesis als „autoepistemisch“ beschrieben und in die Nähe des anthropischen Prinzips gerückt hat. Daher die Bezugnahme auf Schelling und Hegel. Vgl. zu diesem Format des objektiven Idealismus auch Gabriel (2006b).

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weiß, findet demnach Platz in der Wirklichkeit, weil von dieser aus moralische Ansprüche an uns ergehen, die wir erfassen oder verfehlen können. Das Gute ist dabei dem Wahren verwandt, weshalb Schelling auch vom „wahre[n] Gute[n]“ (SW, VII, 391) spricht. Das Wahre charakterisiert dabei Urteile, die von etwas handeln, was ohne Berücksichtigung von Akteuren und damit spezifisch ohne mentalistisches Vokabular erfasst werden kann, während das Gute Urteile charakterisiert, in denen die spezifische Normativität von Handlungen in Frage steht. Dass Π zu tun, gut ist, bedeutet demnach nicht, dass es eine in jeder Hinsicht von uns unabhängige Tatsache, das Gut-Sein von Π, gibt, weil Π eine Handlung ist und Handlungen nicht ohne Verwendung eines angemessenen mentalistischen Vokabulars erfasst werden können. Daraus folgt aber nicht, dass das Gute bzw. das Böse durch die Handlung festgelegt wird, sondern nur, dass jede Handlung in einem Kontext stattfindet, für den die Frage des Gut- oder Böse-Seins infrage kommt. Moralisch relevante Handlungen machen sich nicht selber gut oder böse, sondern fallen auf eine der beiden Seiten unabhängig von der Einschätzung der Akteure in dem Sinne, dass sie sich in der Frage täuschen können, ob ihre Handlung gut oder böse war. Doch daraus folgt nicht, dass man nicht wissen kann, dass eine gegebene Handlung gut ist, sondern nur, dass man sich dort, wo realistische Objektivitätsstandards in Anschlag zu bringen sind, auch täuschen kann. Siglen und Literaturverzeichnis Gabriel, Markus (2006a), Das Absolute und die Welt in Schellings Freiheitsschrift, Bonn. Gabriel, Markus (2006b), Der Mensch im Mythos. Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte in Schellings Philosophie der Mythologie, Berlin/New York. Gabriel, Markus (2012), „Der Ungrund als das uneinholbar Andere der Reflexion. Schellings Ausweg aus dem Idealismus“, in: Ferrer, Diogo/Pedro, Teresa (Hg.): Schellings Philosophie der Freiheit. Studien zu den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, Würzburg. Gabriel, Markus (2014a), „Aarhus Lectures. Schelling and Contemporary Philosophy. Second Lecture: Schelling’s Ontology in the Freedom Essay“, in: SATS. Northern European Journal of Philosophy, Jg. 15, Nr. 1, 75–98. Gabriel, Markus (2014b), „Die Ontologie der Prädikation in Schellings Die Weltalter“, in: Schelling-Studien. Internationale Zeitschrift zur klassischen deutschen Philosophie, Jg. 2., 3–20. Gabriel, Markus (2014c), „Existenz, realistisch gedacht“, in: Ders. (Hg.): Der Neue Realismus, Berlin.

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Heidegger, Martin (1975 ff.), Gesamtausgabe, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann et al., Bde. 1–102, Frankfurt/M. (= GA). Heidegger, Martin (1988), Schelling: Vom Wesen der Menschlichen Freiheit (= GA 42). Heidegger, Martin (2006), Die Metaphysik des Deutschen Idealismus. Zur erneuten Auslegung von Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809), 2., durchges. Aufl. (= GA 49). Hogrebe, Wolfram (1989), Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings ‚Die Weltalter‘, Frankfurt/M. Hühn, Lore/Jantzen, Jörg (2010) (Hg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28). Die Protokolle von Martin Heideggers Seminar zu Schellings ‚Freiheitsschrift‘ (1927/28) und die Akten des Internationalen Schelling-Tags 2006, Stuttgart. Kant, Immanuel (1900 ff.): Gesammelte Schriften, Bde. I–XXII hg. v. der Preussischen Akademie der Wissenschaften, Bd. XXIII von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. XXIV von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin (Kants Werke werden mit der Abkürzung AA zitiert). Nagel, Thomas (²2016), Geist und Kosmos: Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, Berlin. Price, Huw (2011), „Naturalism without Representationalism“, in: Ders.: Naturalism without Mirrors, Oxford. Reinhold, Karl Leonhard (2007 ff.), Gesammelte Schriften, hg. v. Martin Bondeli, Basel: Schwabe (Reinholds Werke werden mit der Abkürzung GS zitiert). Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1856–1861), Sämmtliche Werke, hg. v. Karl Friedrich August Schelling, Bde. I–XIV (urspr. in zwei Abteilungen erschienen: I. Abt., Bde. 1–10 und II. Abt., Bd. 1–4), Stuttgart (Schellings Werke mit der Abkürzung SW zitiert). Strawson, Galen (1994), „The Impossibility of Moral Responsibility“, in: Philosophical Studies. An International Journal for Philosophy in the Analytic Tradition, Jg. 75, Nr. 1/2, 5–24. Wenz, Günther (2010) (Hg.), Das Böse und sein Grund. Zur Rezeptionsgeschichte von Schellings Freiheitsschrift 1809, München. Wright, Crispin (1992), Truth and Objectivity, Cambridge, Mass.

Das Primat der Freiheit nach Leibniz, Hume und Kant: Zu Hegels Aufhebung des Kompatibilismus Pirmin Stekeler-Weithofer 1

Einleitung: Theorie, Spekulation, Welthaltung und Ideologie

Kants manchmal so genannte ‚Theorie‘ der Freiheit ist bis heute das Muster für jeden Kompatibilismus. Dabei vertieft Kant eigentlich nur den Parallelismus bei Leibniz. Dessen Monadologie kann trotz aller metaphysischer Unklarheit als eine frühe Variante der Unterscheidung zwischen einer Vollzugs-Welt und einer Welt der Erscheinungen begriffen werden. Die Idealvorstellung eines szientistischen Verständnisses der Naturwissenschaften besagt, dass diese Welt der Erscheinungen in allem und jedem kausaleffizient erklärbar sein soll. Kant ahnt immerhin, dass es sich dabei nur um eine strategische Forschungsmaxime handelt, die verhindern soll, dass wir in der Suche nach kausalen Gesetzen zu früh aufgeben. Dennoch soll es eine unbestimmte Wahrheit an sich etwa auch in Bezug auf den freien Willen und damit die Verantwortung eines handelnden Akteurs (actor) geben, die aber jenseits dessen liege, was durch die anschauungs- und begriffsvermittelten Methoden eines theoretischen Beobachters (eines spectators im Sinne von Lewis White Beck1) erkennbar sein soll. Es sollte von vornherein klar sein, dass es in der Philosophie weder um Behauptungen noch um Beweise geht, sondern um ein Verstehen von großen Tatsachen, ihre Explikation und Anerkennung. Dabei mag man immer wieder über Formulierungen stolpern. Man mag sie nicht (genau genug) verstehen oder sich deutlichere Differenzierungen mit klareren Inferenzen wünschen. Dennoch geht es nie darum, sich ein System von Thesen beweisen zu lassen – um sich dann wie ein Skeptiker zurückzulehnen und zu erklären, die vorgetragenen Beweise überzeugten einen am Ende doch nicht. Was als wahr oder richtig anzuerkennen ist oder was als zureichende Begründung oder auch nur notwendige Bedingung einer solchen Richtigkeit zählt, muss beim Argumentieren immer schon vorausgesetzt werden. Trotz aller Verwirrungen ist das die tiefste aller Grundeinsichten von Kant Transzendentalphilosophie. Diese ist daher als Explikation von Stufungen in begrifflichen Präsuppositionen zu lesen, so wie z.B. die Technik der Produktion und des Gebrauchs von (allen möglichen) Zahltermen zum Zählen 1  Vgl. Beck (1998).

© koninklijke brill nv, leiden, 2019 | doi:10.1163/9789004383586_015

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eine transzendentale Bedingung der Möglichkeit der Rede über (alle möglichen, daher unendlich vielen) reinen Zahlen ist. Dabei sind die elementaren arithmetischen Aussagen als gleich gültige (äquivalente) Aussagen über beliebige Zahltermsysteme a priori und doch nicht rein analytisch wahr, und zwar weil sich analytische Wahrheiten aus rein konventionellen Verbaldefinitionen, bloßen stenographischen Abkürzungen oder Ersetzungen der Form A:=BCD ergeben sollen, die arithmetischen Wahrheiten aber die Praxisform des Zählens und operative Zurüstungen voraussetzen, die wir für sie betreiben. In der Anschauung des Hörens von selbstproduzierten Zahlwörtern oder von selbst gestalteten komplexen Ziffernfolgen, etwa in einem p-adischen TermenSystem, nicht in bloß empirischer Rezeption, überprüfen wir die von uns gesetzten arithmetischen Wahrheiten. Das Beispiel zeigt nicht nur, warum Kant gegen alle Kritiker Recht behält, hier sogar gegen Hegel, der wie später Frege die arithmetischen Wahrheiten als „analytisch“ zu bezeichnen beliebt, weil ihre Festlegung konventionelle Momente enthält, sondern dass in jedem Fall vorab schon ausgehandelt sein muss, was in welchem Sinn als richtig behauptbar oder anerkennungswürdig sein oder so gelten soll. Außerhalb der Mathematik sind die Bedingungen der Bewertung nach „wahr“ bzw. „falsch“ nur in ganz seltenen Fällen so, dass der Hörer nicht selbst mitüberlegen müsste, was angemessene, wesentliche Bedingungen der Richtigkeit oder auch nur Richtungsrichtigkeit, Begründetheit oder einer möglichen zureichenden Begründung sind.2 Wie dem aber auch sei, die wichtigste methodische Einsicht Hegels, die über Kant und damit jeden rationalen oder logischen Empirismus hinaus geht, ist diese: Es gibt es keine aufgeklärte Philosophie und Wissenschaft ohne Verständnis des Unterschieds zwischen einer normalen sachbezogenen, objektstufigen, Theorie als Ergebnis einer einzelwisssenschaftlichen Arbeit am Begriff im Sinne eines Systems generischer Aussagen über ein prozessuales Relationssystem, eine sogenannte Struktur. Auf der anderen Seite steht dann eine spekulative Überlegung zu einer logisch-philosophischen Kartographie oder Topologie lokaler Begriffsnetze und globaler Reflexionen, sozusagen über Gott und die Welt, 2  Der Aberglaube des Axiomatizismus zeigt, dass noch nicht einmal in der Mathematik geklärt ist, was alles als zureichender Beweis eines mathematischen Satzes gelten sollte. Die Bedeutung von Wittgensteins Philosophie der Mathematik besteht trotz mancher Verwirrungen und Formulierungsmängel in eben dieser Einsicht. Die Bedeutung der Philosophie der Mathematik Paul Lorenzens besteht entsprechend in der Einsicht, dass praktisch alle Mathematiker immer auch mit den halbformalen Wahrheiten der Standardarithmetik und einem ‚naiven‘ Verständnis ‚aller‘ reellen Zahlen, damit aber auch schon mit dem Standardmodell der Naiven Mengenlehre operieren, sogar alle Vertreter einer ‚konstruktivistischen‘ und ‚intuitionistischen‘ Mathematik, wie Lorenzen selbst.

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Geist und Natur, Freiheit und Determinismus. Auf einer dritten Seite findet sich eine Artikulation einer (religiösen oder religionsanalogen) Welthaltung, auf einer vierten Seite ein weltanschauliches Vorstellungsbild. Materialismus, Naturalismus und Physikalismus sind vermeintliche Gegner einer Theologie oder einer transzendent-metaphysischen Rede über ‚den Geist‘. Aber solche Ismen sind durchgängig keine Wissenschaft, keine Theorien. Echte Philosophie hat keinen Platz für sie, sagt schon Gilbert Ryle.3 Kants transzendentaler Idealismus (mit seiner Reflexion nur auf das generische Subjekt) und Hegels objektiver und absoluter Idealismus sind keine dogmatischen Weltbilder, gerade weil sie nur die Thematisierung der Form (griechisch: eidos) und Idee (idea) personaler und damit immer schon subjektiver, performativer, Welthaltungen neben den Artikulationsformen spekulativen, d.h. meta-meta-stufigen logisch-begrifflichen Wissens benennen. Im Kontrast dazu präsentieren die Empirismen Lockes und Humes erkenntnistheoretische oder epistemologische eidola, ideologische Bilder. In diesen ‚empirischen Modellen‘ stecken unerkannte metaphysische Vorentscheidungen, gerade indem man personale Subjekte bloß von der Seite betrachtet. Hegel entwickelt dabei die Einsicht Kants, dass jedes derartige Vorgehen längst schon theorieund eben damit vorurteilsgeladen ist. In selbstvergessener Weise erscheint der empirischen Beobachtung das menschliche Wissen und Erkennen als bloß hochentwickelte animalische Kognition und das Handeln als bloßes Verhalten. Jemand, der die Welt partout unter der Brille eines kausalistischen Prädeterminismus betrachten möchte, ist von seiner spekulativen Krankheit bewusstlosen Überschwangs, seiner Liebe zu einem transzendenten Objektivismus und seiner verirrten Kritik an einem scheinbaren Subjektivismus nicht wirklich durch Argumente zu heilen. Noch nicht einmal der Aufweis, dass sein eigenes Reden inkohärent zu seinem Handeln ist, hilft immer. Der Fall ist ganz analog zu einem empiristischen Skeptiker, der beschließt, sich zum Tier (oder gar, wie schon Aristoteles ironisch sagt, zur Pflanze) zu machen und sich jedem sinnvollen Argument entzieht. Das heißt je nur, dass man sich von keinem vernünftigen Wissen überzeugen lässt außer seinen eigenen zufälligen Gefühlen oder Intuitionen – so dass der Skeptiker zu einem metaphysischen Solipsisten wird, mit dem sich weiter über Wissen zu unterhalten nicht lohnt, da er gar nicht weiß und auch nur wissen will, was Wissen im Unterschied zu bloß animalischer Kognition einerseits, einer dogmatischen Glaubenshaltung andererseits eigentlich ist. Dem gegenüber ist für Hegel Geist und Wissenschaft einfach dasselbe.4 Und der Kern der Einsicht in das Primat des Geistes 3  “There is no place for ‘isms’ in philosophy”, Ryle (1971), 161. 4  Roi Bar entwickelt diesen Gedanken in Bar (2017).

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liegt darin, dass alles Wissen und Erkennen ein Handelnkönnen voraussetzt, das als solches längst schon begrifflich und eben damit sozial- und instutionengeschichtlich vermittelt ist. In der Debatte über Freiheit und Kausalität, Widerfahrnisse, bloße Verhaltungen, freies Denken und freies Handeln ist das Phänomen des Quartalsskeptikers besonders zu beachten, der an beliebigen Stellen für sich entscheidet, einen Gedanken nicht verstehen zu können, ihn damit kurzerhand für metaphysisch erklärt und dem Autodafé Humes, dem Scheiterhaufen aller spekulativen oder logisch hochstufigen Reflexionen überantwortet. Im Folgenden geht es mir nun um eine kurze Skizze der im guten Sinne ‚metaphysischen‘ bzw. ‚spekulativen‘ Reflexionen auf das Thema Freiheit, die ich nach den wichtigsten Protagonisten ordne, nämlich nach Leibniz, Kant, Fichte und Hegel. 2

Parallelistischer Kompatibilismus bei Leibniz

Wenn wir Kants ‚Kritik‘ an dem von ihm selbst als ‚Rationalismus‘ einem ‚Empirismus‘ gegenübergestellten spekulativen Ansatz voll begreifen wollen, dürfen wir ihm keineswegs alles unbesehen glauben, was er über Leibniz behauptet und wie er sich von diesem Autor abzusetzen bemüht ist. Dabei steht außer Frage, dass ein nicht bloß schülerhaftes Verständnis von Leibniz‘ Monadologie keineswegs einfach ist. Denn der erzählende Zugang spricht von einer ‚Metaphysik‘ oder ‚Ontologie‘ von Monaden als unausgedehnten einfachen Substanzen ohne Fenster und Türen, die nach Art von Seelen, also scheinbar rein mystisch, zu lesen seien, zugleich aber immer ausgedehnte Körper als eine Art Wirtstiere verlangen. Es liegt die Frage auf der Hand, wie sich die Ausdehnung der Körper – sagen wir, der Bank vor mir – zur Punktförmigkeit der Bankmonade verhält. Es kann ja sein, dass ich die Bank auseinandersägen kann und dabei zwei Bänke entstehen – etwa weil die Ursprungsbank nicht bloß vier, sondern schon acht Beine hatte. Gibt es dann nach dem Zersägen zwei Monaden? Und wie steht es mit der Ausbreitung von Pilzen? Wie viele Monaden entstehen da? Wir sollten die Idee der Monaden – partiell gegen den Wortlaut – lokal lesen. Der Grundgedanke des Strukturmodells lässt sich so skizzieren: Um etwas in der Welt ‚kausal zu erklären‘, müssen wir Kräfte lokalisieren, welche für das relative Bewegungsverhalten und die relationalen Veränderungen der Dinge (und Sachen: Prozesse, Ereignisse) verantwortlich sind. Eine Monade ist daher das (gedachte) Kraftzentrum eines Dings, eines Wesens, eines Tieres oder einer Person. Im Blick auf die ballistischen Gravitationsbewegungen von

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Planeten und Geschossen, auch im freien Fall, liefert ein ideeller Massenpunkt das Ursprungsmodell oder den Prototypen dieser Darstellungsform. Dabei können wir hier schön unterscheiden zwischen dem Entwurf eines Darstellungsmodells mit Zuschreibungen von lokalen Kräften, so dass eine Gesamtbeschreibung der realen Phänomene entsteht, und der Annahme oder Unterstellung, dass es in der wirklichen Welt selbst diese Kräfte wirklich gibt. Im ersten, dem ‚epistemischen‘, Fall ginge es nur um unseren Wunsch, die Wirkkräfte so auf die Dinge zu verteilen, dass wir aufgrund unserer immer bloß lokalen Prüfmethoden einigermaßen gut die ‚Größe‘ bzw. ‚Wirkform‘ der Kräfte bestimmen bzw. zuschreiben können. Im zweiten, dem ‚ontologischen‘, Fall sprechen wir von wirklich vorhandenen und wirklich wirksamen Kräften und Ursachen, nicht bloß von praktisch erfolgreichen erklärenden Darstellungen und Prognosen erfahrener bzw. erfahrbarer Bewegungen und Veränderungen. Leibniz‘ Monadologie ist ein ontologisches Modell der wirkenden Kräfte in den Dingen und Wesen, wie sie lokal-perspektivisch auf ihre Umwelt reagieren, je nachdem, wie diese auf sie einwirkt, z. B. ‚perzipiert‘ wird. Dabei wird darstellungstechnisch auf eine weitere Differenzierung ‚im Innern‘ der Monade verzichtet: Das gerade bedeutet, dass sie ‚punktförmig‘ ist und keine ‚Fenster‘ bzw. ‚Türen‘ besitzt, dass man aber weder im Innern einer Monade spazieren gehen kann, noch diese wie ein Haus verlassen kann: Niemand kann aus seiner Haut. Kein Ding kann seinen Ort verlassen, sondern bestimmt eben diesen Ort gegen andere Orte (usf.). Es geht dann aber gerade um verschiedene Arten von Kräften, nämlich, erstens, die bloß physikalischen (auch chemischen, etc.) im Blick auf tote Dinge oder reine Körperprozesse (etwa die physiologischen im Innern eines Lebewesens), zweitens der organischen Lebenskräfte nach Art subanimalischer Organismen, die Leibniz Entelechien nennt, in bewusster Hommage an Aristoteles. Damit anerkennt er dessen Einsicht, dass alles Lebendige, schon das Leben der Pflanze, zielgerichtet auf die Umwelt reagiert und sich als organische Form einige Zeit selbst erhält bzw. diese Formen selbst reproduziert. Lebendiges ist sich selbst reproduzierende Form. Leibniz schreibt (wie Aristoteles) die enaktive Perzeption von Tieren bzw. deren empfindungsgesteuerte Reaktionen auf Besonderheiten in Umwelt und Situation der (Tier-)Seele als (formalem, sprachlichem) Träger der je besonderen Fähigkeiten der Tierarten zu und spricht vom Geist des Menschen, der sozusagen das monadologische Subjekt des Denkens und Handelns als Ausübung rationaler (verstandesmäßiger, regelbefolgender) und intelligenter (vernünftiger, regelreflektierender, auch spekulativer) Kompetenzen ist. Freies Handeln ist, wie schon Descartes klar sieht, praktisches Denken, also die Umsetzung der Erwägung von Möglichkeiten durch Wahl zwischen

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Handlungsformen (Tätigkeitsschemata, Maximen) in der Aktualisierung eben der gewählten generischen Handlungen (Schemata, Maximen, artikuliert durch Grundsätze bzw. Vorsätze). Mit der Unterscheidung zwischen der ‚ontologischen‘ Betrachtung des Vollzugsseins der Monade mit ihren ‚inneren‘ Kräften und deren ‚Außenwelt‘ als Welt der ‚Phänomene‘ nimmt Leibniz Kants Differenzierung zwischen mundus intelligibilis und mundus sensibilis, auch zwischen ‚freiem‘ Vollzugssein und ‚rezeptiver‘ Bezugnahme auf Erscheinungen vorweg. Hegel wird dementsprechend erklären, dass aus je meiner Sicht all das zu meiner „Freiheit“ gehört, was „mein“ ist, was ich also als das Meinige an meinem Tun und Sein anerkenne. Die Monade steht daher je für meine Welt als ein unteilbares Ganzes, nicht für ein teilbares Ding in der Welt. Die Erklärung der phänomenalen Welt ist nach Leibniz ‚kausal‘, ‚physikalisch‘. Das Prinzip der ‚zureichenden Ursache‘ (des ‚zureichenden Grundes‘) besagt, dass jedes (phänomenale) Geschehen sich in der Vollzugswelt der ontologischen Ebene der wirkenden Kräfte eben als Wirkung der Kräfte aufgrund der Instanziierung der Folgen ergibt, welche sich ‚im Prinzip‘ als bedingte Inferenzen der dispositionalen Dynamik, eben der Kraftwirkungen, darstellen lassen. Die Schwierigkeit ist, ‚von außen‘ die wirklichen Kräfte zu bestimmen. Denn in den Phänomenen liegen uns nur die Bewegungen und Veränderungen vor. Daher sind die epistemischen Zugänge zu den Kräften und Monaden selbst immer nur theoretisch, sozusagen hypothetisch. Wie verhält sich unser Wissen über die Phänomene zum ‚wahren‘, d.h. wirklichen, ‚ontologischen‘, Sein der Monaden? Leibniz rekonstruiert dieses Verhältnis in seiner unnachahmlich großartigen und grobflächigen Analyse als Verhältnis zwischen dem je lokalen Wissen aus je endlicher Perspektive zum genannten Sein, das je nur lokal zum ‚Bewusstsein‘ gelangen kann, sowohl im Sinn des bloß erst animalischen Gewahrseins (awareness) als auch des individuellen Mitwissens (conscientia) eines allgemeinen Wissens. Das ‚allgemeinste‘ allgemeine Wissen, das sowohl alle Realität als auch alle Möglichkeiten umfasst, wäre (bzw. ist) das Wissen eines Gottes.5 Der ominöse Parallelismus in der großen spekulativen Theorie von Welt und Wissen, Gott und Monaden, dem gesamten Sein und dem lokalen Seienden 5  Sowohl als überzeugter Lutheraner als auch als philosophischer Metaphysiker hat Leibniz – im Unterschied zu der vom Empirismus verführten Moderne – kein Problem damit, hier nicht bloß „wäre“, sondern „ist“ zu sagen. Es ist kein Wunder, dass die Erzählungen über diesen letzten großen Metaphysiker und Ontologen heutige Schüler irritiert, auch wenn diese am Ende bloß erst mit den Fingern rechnen können, aber darauf schon ganz besonders stolz sind.

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besteht am Ende in der Einsicht, dass sich das Sein, das Universum oder All des Wirklichen im je lokalen ‚Bewusstsein‘ der Monaden ‚widerspiegelt‘ und dass die ‚Irrtümer‘ bloßer Vorstellung selbst je nur lokal sind, dass der sogenannte Schein nur eine partiale Verneinung des wahren Seins sein kann. Weil je ich mit meinem je faktischen ‚Bewusstsein‘ nie mit Gewissheit zwischen meiner Welt der Vor- und Darstellungen (Repräsentationen) und der Welt unterscheiden kann, geht alles unser Wissen über die Welt zunächst auf Erscheinungen, Phänomene. Das gilt gerade auch für unser Wissen über die Kräfte der Dinge, die Entelechie der Pflanzen, die Seelen der Tiere (die heute als das Mentale des ‚mind‘ untersucht werden) und den Intellekt bzw. den Geist der Menschen (der heute aus der Psychologie und Neurophysiologie ganz herausfällt und den privaten Spekulationen in Sonntagsreden von Feuilletonwissenschaftlern wie Gerhard Roth und Wolf Singer bzw. E. O. Wilson überlassen wird, die regelmäßig den Bereich des von ihnen geprüften Wissens weit überschreiten und eben daher unter den platonischen Begriff des Pseudowissenschaftlers (Sophisten) fallen. Parallelismus heißt nun, dass die denkerische ‚Freiheit‘ der ‚Innenwelt‘, wie sie Leibniz von Descartes übernimmt und verteidigt, durch unser Wissen über die Phänomene nicht widerlegt werden kann. Leider ist Leibniz an dieser Stelle in der Tat nicht so klar, wie er sein sollte und vom Ansatz her vielleicht auch sein könnte. Denn dazu müsste er deutlich die Grenzen der Erklärung bzw. Erklärbarkeit der Relativbewegungen von Körperdingen in der physischen Welt durch mechanikartige Kräfte wie die der Gravitation oder von Druck und Stoß anerkennen, was er aber nicht tut. Die Folge ist, dass die Rede von einem Parallelismus zu einer metaphysischen These wird, dass die ‚Freiheit‘ des denkenden, wollenden und handelnden personalen Subjekts, des Menschen, mit der ‚Notwendigkeit‘ des Satzes vom zureichenden Grund kohärent zusammen bestehen könne. Das Prinzip der zureichenden Ursache wird zum Prinzip der ‚kausalen Geschlossenheit‘ aller Prozesse der Welt und damit der prinzipiellen kausalen Erklärbarkeit der Prozesse in der Welt der Phänomene auf der Grundlage des Prinzips von zureichendem Grund und des Prinzips der lokalen Kraftwirkungszentren mit lokalen Kraftfeldern. Obendrein ist Leibniz klug genug, in das Gesamtsystem der wirkenden Kräfte die besonderen Kräfte der Entelechie des Lebendigen, der Perzeptivität und Re-Aktionsfähigkeit der Tiere und der geistigen Seele der Menschen aufzunehmen, sodass eine Physik bloß toter Materie keineswegs das Ganze der Phänomene der Körperbewegung und Gestaltveränderung von Lebewesen erklären kann. Leibniz hält vielmehr den Platz frei für die besonderen Wissenschaften etwa der Pflanzen- und Tierbiologie und dann auch für die Geisteswissenschaften. Die logisch-empiristische Bewegung der 20er Jahre des

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letzten Jahrhunderts reduziert dagegen alle ‚wahre‘ Erklärung auf physikalische Erklärung. Wie stellt sich Leibniz aber die Parallelität vor? Eine wohlwollende Lesart, welche die Überlegungen von Leibniz möglichst stark macht, anerkennt dabei, dass die geistigen Fähigkeiten von Personen und die seelischen Kräfte von Tieren tatsächlich von anderem Typ sind als die physikalischen Kräfte von toten Dingen. Dennoch lehnt Leibniz die Vorstellung des Descartes ab, es gäbe auch nur eine Ablenkung der Richtung der Bewegungen von Körperteilen im Leib des Menschen durch eine ‚Intervention‘ eines außerweltlichen ‚Gegenstandes‘, die Geistseele. Denn es ist ganz egal, ob die (positive oder negative) Beschleunigung bloß die Richtung oder auch die Gesamtbewegung betrifft, sodass Descartes‘ Lösung in der Tat nicht überzeugt. Das aber heißt, dass Leibniz die Monaden nicht als außerweltliche Wirkkräfte, sondern als innerweltliche Wirkzentren mit je besonderen Arten und Formen der Wirkung aufgrund von perzeptivischen Bezugnahmen auf die Umwelt konzipiert – und dabei das Vorurteil aufhebt, dass es nur effizienzkausale Wirkungen gäbe. Stattdessen anerkennt Leibniz, dass es im Verhalten der Tiere wirklich teleologische Vorwegnahmen von präsentischen Zielen gibt, welche im Tierverhalten zu Motiven werden. Das ist deswegen möglich, weil sich die Zeit nicht pointilistisch in Zeitmomente zerlegen lässt, sondern jede Gegenwart zeitlich ausgedehnt ist, nämlich so weit, wie die ‚erfahrbaren‘ laufenden Prozesse präsentisch dauern. Es werden gerade auch schon von Tieren nicht bloß räumliche DingRelationen wahrgenommen, schon gar nicht bloß momentane Pixels oder rein phänomenale Sinnesdaten, sondern laufende Normalfallprozesse, auf die das Tier zwar quasi schematisch reagiert, aber nicht rein mechanisch oder automatisch wie im Fall einer Maschine. Zwar werden alle Bewegungen des Leibes wie schon in Descartes‘ Analyse durch neurophysiologische Impulse gesteuert. Aber die holistische Gesamtbewegungsform eines Tieres ist gerade wegen der Perzeption (der animalischen Monade) von ganz anderem Typ als die Reaktionen eines toten Körpers z. B. auf die Gravitation oder ein Magnetfeld, verursacht durch andere Körper und physikalischen Prozesse. Mit anderen Worten, Leibniz weitet mit Aristoteles die Formen der Kausalität über die bloß mechanischen Ursachen so aus, dass Wahrnehmungen, Empfindungen und Motive zu einem holistischen Gesamtcluster einer besonderen, mit Recht als ‚teleologisch‘ zu bezeichnenden, Form der Verursachung werden, ohne dass deswegen die Monaden als bloß theoretisch stilisierte Zentren aus der Welt der Körperlichkeit fielen. Anders gesagt, Leibniz öffnet den Weg zu einer holistischen Analyse der ‚Mischungen‘ von effizienzkausalen

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und zielbezogenen Momenten in den Motiven von Lebewesen, die als Ganze das Bewegungsverhalten steuern, aber eben nicht rein mechanisch (kausaleffizient). Hegel wird am Ende zum treuesten Interpreten von Leibniz. 3

Noumenaler Kompatibilismus bei Kant

Die Welt der Phänomene ist die Welt der post hoc erfahrbaren empirischen Sachverhalte, der Inhalt wahrer Gegenwartsaussagen und Berichte, zunächst ohne jedes ‚Vorherwissen‘, da es unsinnig wäre zu sagen, dass es heute schon die ‚Erscheinungen‘ gibt, die es erst in der Zukunft geben wird. Nach Kant zielen aber alle Kausalerklärungen auf Erscheinungen ab. Das heißt, in ihnen wollen wir diese praeter hoc ‚vorhersagen‘. Dabei hat Kant sogar Recht, dass schon die Bestimmung eines Dinges in seinen Fähigkeiten und Dispositionen nicht ohne Vorgriff auf seine Rolle in möglichen Vorhersagen seiner bedingten Wirkungen möglich ist. Das ist der verzwickte Grund dafür, dass wir eine rein empirische Rede-Ebene purer Konstatierungen a posteriori gar nicht fein säuberlich unterscheiden können von einer generisch-kausalen Ebene der Rede über dispositionelle Kräfte und damit über ein Normalfallverhalten der entsprechend begrifflich gefassten Dinge. Diese sind damit differentiell nach Gattung und Art klassifiziert. Zugleich gibt es ein ‚ethologisches‘ Vorherwissen darüber, wie sich die Dinge generisch verhalten. Aufgrund dieser Lage kommt Kant zu dem Urteil, dass die Bestimmung eines Dinges in seinem Arttyp schon ein Gesamt seiner Kräfte und Dispositionen, damit aber auch, scheinbar, das ‚Kausalprinzip‘ der zureichenden Ursache voraussetze. D. h. Kant lässt es so erscheinen, als wäre es eine transzendentale Präsupposition der Bestimmung eines physischen Dinges, dass dieses aufgrund von seinen Kräften und Energien einen ganz bestimmten Beitrag zum Gesamtsystem der Bewegungen und Veränderungen aller Dinge im Reiche der Erscheinungen leistet. Der Gedanke ist strukturell kaum von dem der Beiträge der Monaden für die Prozesse in der Welt der Erscheinungen zu unterscheiden. Er wird nur etwas deutlicher ausgemalt oder, wie manche dazu sagen, ‚begründet‘. Die Folge ist, dass Kant, nicht anders als Leibniz, zu einer Betrachtung der Welt auf zwei Ebenen gelangt, der Welt als Gesamt von Erscheinungen, die kausal erklärt werden sollen durch lokal wirkende Kräfte in den raumzeitlichen Konstellationen der ausgedehnten Dinge, und der Welt der ‚Dinge an sich‘, die bei Kant aber für ‚unerkennbar‘ erklärt wird. Dabei sind bei Leibniz, wie bei Kant, die Monaden Kraftzentren und als solche rein intelligible, von uns vorgestellte, Wirk-Punkte nach Art der ‚Massenpunkte‘ des mathematischen

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Strukturmodells der Gravitation bzw. Dynamik und Ballistik, aber auch nach Art der uralten Rede über Seelen und ihre dynamischen bzw. teleologischen Kräfte. Die Monade ist Kants Ding an sich. Leibniz passt das Modell der kausalen Erklärung auf der epistemischen Ebene an eine ‚ontologisch‘ als gegeben unterstellte Welt an. Diese wird dargestellt im Modell der Monaden. Die Folge ist, dass die ‚Ontologie‘ der Monadenlehre eine Art Ziel-Utopie vollständigen Wissens über alle vier Arten von ‚Gründen‘ (‚Ursachen‘) von Geschehnissen enthält. Es handelt sich um die effizienzkausalen Ursachen der physischen Kräfte, die teleologischen Ursachen, die von der Entelechie der Seinsform der subanimalischen Lebewesen bis zur enaktiven Perzeption von Tieren reichen und in der Zweckorientierung des intentionalen Denkens und Handelns von Menschen ihren Höhepunkt finden. Hier werden Ursachen zu Gründen. Dann aber sind auch die materialen Ursachen der Stoffe, der dinglichen ‚Trägerkörper‘ in ihren Ausdehnungen zu beachten, ferner die formalen der nur begrifflich, also denkend, erfassbaren Kräfte (Dispositionen, Charaktere als inferentielle Typen). Kurz, Leibniz schafft in seinem Modell Platz dafür, die vier Ursachen des Aristoteles zu verorten, wobei über Aristoteles hinaus der Perspektivenwechsel der Betrachtungsart relevant wird: Aus der Binnenperspektive bin ich – ontologisch – eine Monade mit Kräften und Fähigkeiten und in deren Ausübung – per definitionem – frei. Denn es ist von mir her all das Tun als ‚frei‘ zu bezeichnen, das ‚mein‘ Tun ist, und nicht einfach als Wirkung des ‚Verhaltens‘ meiner Umwelt als dem (formal) Anderen auf meinen Körper (oder in meinem Körper) zu verstehen ist. Die Schwierigkeit, das Freie an meinem Tun vom Unfreien in Widerfahrnissen und automatisierten Verhaltensschemata meines Körpers (Leibes) zu unterscheiden, besteht nun in derselben Schwierigkeit, wie die der Unterscheidung zwischen dem genuin Meinen, dem Ich als Titelwort für alles Meinige, aus der Perspektive von mir als Monade, sozusagen, und dem, was mir äußerlich ist, was das Andere meiner selbst ist: die Umwelt, das Weltgeschehen, die körperlichen Prozesse usf. Es ist die Unterscheidung zwischen der Welt und meiner Welt. Es bestätigt sich noch einmal: Die Monade ist die einem punktartigen Subjektzentrum zugeschriebene Eigenperspektive des Meinigen ‚meiner Welt‘, im Kontrast zu den äußeren Geschehnissen, die aus je meiner Sicht Erscheinungen, Phänomene sind, auf die ich perzeptiv, enaktiv reagiere oder in Bezug auf die ich (frei) handelnd agiere. Allerdings sind auch Pflanzen und Tiere, ja die bloßen Dinge selbst, immer auch schon als entsprechende Reaktions- und Aktionszentren aufzufassen. Tiere sind ja (auch für Hegel) prototypische Subjekte. Nur Menschen sind geistige oder personale Subjekte.

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Kants Kritik schneidet nun gewissermaßen das ‚ontologische‘ Modell der Monaden als spekulative, rationalistische Metaphysik weg und lässt nur noch, wie David Hume, die Welt ‚der‘ Erscheinungen stehen, ohne die Frage ausreichend zu behandeln, ob es sich um ‚die Erscheinungen‘ je von mir – also um Phänomene bloß meiner Welt – oder um ‚Erscheinungen‘ in ‚der‘ Welt – mit je unterschiedlichem Zugang durch verschiedene Subjekte! – handelt. Mit anderen Worten, Kant lässt sich von Hume überreden, ‚die Welt‘ nur aus generisch-subjektiver Perspektive zu ‚rekonstruieren‘ und den Unterschied zwischen ‚bloß subjektivem‘ Schein und ‚objektiver‘ Erscheinung ‚internalistisch‘ als einen inneren Unterschied darzustellen und aufzufassen. Einen Zugang zu ‚der Welt‘ gibt es nicht; die Welt der Dinge an sich ist per definitionem für uns epistemisch unzugänglich. Damit allerdings fällt der Kontrast zwischen meiner Welt und der Welt, zwischen Schein und Erscheinung, Glauben und Wissen ins Bodenlose. Genauer gesagt, Kant meint, den Begriff der Objektivität rein kohärenztheoretisch, internalistisch, aufgrund des bloßen Zusammenstimmens zwischen ‚logischem‘ Gegenstand der Rede (des Denkens, stillen Sprechens) und ‚perzeptivem‘ Gegenstand in der ‚transzendentalen Apperzeption‘ der gedachten Erscheinung (Anschauung) rekonstruieren zu können: ‚Objektiv‘ gibt es demnach eine Sache, wenn der ihr zugeschriebene Begriff als System inferentieller Eigenschaften mit perzeptivisch kontrollierbaren Folgen sich in je meiner Anschauung bewährt. Das wird zwar immer erst ‚ex post‘, ‚a posteriori‘, also im Nachhinein bewertet. Aber die Geltungsbedingungen sind, wie Kant meint, a priori, durch die Formen unserer Anschauung und unseres Verstandes, gegeben und fixiert. Kant erweist sich damit als rationalistischer Empirist oder logischer Solipsist – auch wenn seine Analyse der transzendentalen Apperzeption, also der logischen Verbindung von Anschauung (Perzeption) mit (ad) dem Begriff ‚generisch‘ daherkommt, also über ein menschlich-personales Subjekt ‚an sich‘ (im Sinne Hegels), als Typus und Seinsweise spricht – und ebenso über die räumliche und zeitliche Ordnung von Phänomenen als Formen der Anschauung bzw. über die transzendentallogischen Kategorien als Formen des Verstandes, verständig-rationalen Denkens. Irrtümer und Fehlurteile erscheinen bei Kant als ‚innere‘ Fehler der Koordination von Denken (Reden) und Wahr-Nehmen (Anschauen), bzw. im Bereich des Handelns als Inkohärenzen zwischen Reden (Denken) und Tun. Eben damit aber ist seine Philosophie das Paradigma des subjektiven Idealismus schlechthin. Sie ist dabei weit radikaler ausgearbeitet als bei Berkeley oder Hume. Kants Kritik an Berkeley – dessen Beeinflussung durch Descartes, Malebranche und Leibniz bis heute abgeschattet bleibt – besteht

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bloß im verbalen Vorwurf des ‚Überschwangs‘, genauer also, in der Feststellung eines Mangels an zureichender Argumentation, keineswegs in einer Ablehnung des Inhalts. Dasselbe gilt für den heimlichen Berkeleyaner Hume. In Kants Darstellung ist ‚das Ding an sich‘ kein Gegenstand des Wissens. Das heißt, die ‚Ontologie‘ des ‚Wirklichen‘ wird von der ‚Epistemologie‘ des Erfahrbaren ebenso radikal abgetrennt wie bei Hume, dessen ‚Theorie‘ der Erkenntnis ein Bild animalischer Kognition bloß anreichert durch eine Signalsprache und eine ideentheoretische Vorstellung von Erinnerung und Gedächtnis. Im Grunde aber ist der Mensch schon bei Hume nur ein etwas klügeres soziales Tier als der Affe oder der Hund. Kant meint, ‚beweisen‘ zu können, dass dem Menschen eine besondere Form einer transzendentalen zeitlich-räumlichen Ordnung von Gegenständen der ‚Anschauung‘ vorgegeben sei, welche zur allgemeinen logischen Form der Rede über sortale Gegenstände (mit diskreten Gleichheiten, Ungleichheiten, kontrastiven Prädikaten und Relationen) sozusagen hinzukommt. Eine formale Gegenstandsbenennung wird damit erst dann zu einer Benennung eines physischen Dinges, wenn bestimmt ist, in welchen Anschauungen sich das Ding (Hegel würde sagen: für sich) uns konkret zeigt, und welche (wahrnehmbaren) Eigenschaften es haben kann und konkret hat. Das ‚uns‘ ist dabei rein generisch, ein transzendentales Ich bzw. Wir, ohne dass die Vielfalt der Perspektiven wie bei Leibniz und Hegel bei Kant wirklich thematisch würde. Das Stetigkeitsprinzip der Dingkonstanz wird dabei zentral für die Wiedererkennbarkeit desselben Dings und seine Unterscheidung von anderen Dingen. Dieses wird von Kant verschärft zum Prinzip der durchgängigen effizienzkausalen Bestimmtheit aller (physischen, extensionalen) Gegenstände der (phänomenalen) Welt (‚der Erfahrung‘). Das Prinzip ist völlig identisch mit dem Prinzip des zureichenden Grundes bei Leibniz, eingeschränkt auf eine physische Kausalität als dem ontologischen Pendant zu physikalischen ‚Naturgesetzen‘, mit denen wir manche Bewegungen und Veränderungen in der Welt ‚kausal‘ erklären bzw. vorhersagen (können). Der riesige Sprung von einer moderat erfolgreichen Praxis damaliger und heutiger Physik bzw. Naturwissenschaften in die Utopie, das Nirgendwo und Nirgendwann, einer ‚vollständigen‘ Determiniertheit allen Geschehens durch kausale Gesetze wird leider auch von Kant völlig übersehen. Es ist der Sprung von ‚es gibt ein paar kausale Erklärungen‘ zu ‚es ist alles kausal erklärbar‘. Es ist zugleich ein Sprung von einer erfolgreichen, wissenschafts- und theoriegestützten Technik in eine überschwängliche szientistische Weltanschauung, die Metaphysik des Physikalismus. Diese Metaphysik wiederum präsentiert sich in zwei Versionen. Die erste ist die bei Bildungsbürgern mit ihrem Stolz auf wissenschaftlich-technische

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Aufklärung verbreiteteste. Es handelt sich um den naiven, dogmatischen Materialismus. Dieser ist ein als ‚wissenschaftlich‘ ausgegebener Glaube daran, dass, weil alles in der Welt physische Träger hat, alles aus physischen Teilen oder Teilchen ‚besteht‘, alle Geschehnisse in der Welt als Teilchenbewegungen darstellbar sein sollen und alle Teilchenbewegungen durch vorlaufende Weltzustände und lokale Kräfte bzw. deren lokale Wirkbeschleunigungen determiniert seien. Das Weltbild korrespondiert durchaus dem MonadenModell von Leibniz, nur dass es jetzt nicht als Strukturmodell gefasst ist, wie es bei Leibniz noch eine Vielfalt von Wirkkräften erlaubt, gerade auch solche des Lebens (zu erforschen in der Biologie) und des Geistes (zu erforschen in den Geisteswissenschaften), sondern als wahres Bild der Welt behauptet wird. Im Materialismus meint man, die paar physikalischen Gesetze zunächst der klassischen Mechanik und dann die der Elektrodynamik und Atomtheorie reichten ‚im Prinzip‘ aus, um alles Geschehen in der Welt ‚kausal zu erklären‘. Man schließt von Einigem auf Alles, von einem Erfolg einer Erklärungs- oder Wissensform auf ihre angebliche universale Erklärungskraft. Dass es sich um einen ungültigen Schluss handelt, wird vertuscht durch die Sprachform ontisierender Nominalisierung: Man spricht von Ursachen statt von kausalen Erklärungen, von Wirkungen statt von prognostizierbaren Folgen, als ob die Welt schon so wäre, wie sie sich ein Physiker (oder Physikalist) wünscht, nämlich dergestalt, dass die physikalischen Darstellungs- und Erklärungsformen ausreichen. Eine zweite Form des Physikalismus ist die seit Hume und Kant von Philosophen mehrheitlich vertretene. Sie scheint subtiler und kritischer zu sein als der ‚mechanische‘ Materialismus des Ingenieurdenkens des 18. Jahrhunderts, wie er – mit Recht – sogar noch von Karl Marx und Friedrich Engel als veraltet kritisiert wurde, obwohl er im Biologismus und Positivismus des 19. Jahrhunderts von Charles Darwin bis Wilhelm Ostwald und dann erst recht nach der Entdeckung der Doppel-Helix eine Wiederauferstehung erlebt hat. Kants Titel ‚Kritische Philosophie‘ steht dabei nicht anders als die Titel ‚Logischer Positivismus‘ (Carnap) und ‚Logischer Empirismus‘ (Reichenbach) bzw. ‚Logischer Atomismus‘ (Russell) für folgende teils ‚agnostizistische‘, teils ‚physikalistische‘ Grundhaltung oder Weltsicht: Wie die Welt an sich ist, welche wahren Kräfte in ihr wirken, wissen wir nicht. Wir klammern daher alle ‚metaphysischen‘ und ‚ontologischen‘ Aussagen über die wahre Wirklichkeit hinter unserem wissenschaftlichen Erkennen ein und erklären, dass jede Behauptung über sie ein Anspruch sei, etwas über das Unwissbare zu wissen, oder aber ein willkürlicher Glaube, der als rein subjektive Überzeugung zu gelten habe, ohne sinnvollen Allgemeinheitsanspruch. Anders gesagt, wir

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müssen das, was in den Wissenschaften kanonisiert wird und als Wissen in den Schulen und Hochschulen gelehrt wird, je nur auf die Welt der Phänomene, auf bloße Erscheinungen oder Erfahrungen einschränken. Hierbei allerdings geht Kant sowohl über Leibniz als auch Hume hinaus insofern, als er erkennt, dass die Form menschlichen bzw. wissenschaftlichen Wissens sich kategorial von der bloß enaktiven Kognition animalischer Perzeption und Reaktion auf die gegenwärtige Umwelt unterscheidet. Denn menschliches Erkennen ist begrifflich bestimmt und reicht vermöge der tätigen Repräsentation oder praktischen Vergegenwärtigung von bloßen Möglichkeiten durch laute oder leise Sprechhandlungen als Tätigkeit der Einbildungskraft (im sogenannten Denken) weit über das je bloß präsentische animalische Können und Kennen hinaus. Kurz, Kant erkennt die Enge des Blicks auf die Kognition bei Hume, dessen Scheuklappen nicht anders als in der modernen Kognitionstheorie die wirkliche Form personalen Wissens bei Menschen nicht zu erkennen erlaubt. Erst bei Hegel aber wird klar, dass die Vermittlung des Begriffs eine sprachtechnische und kooperationspraktische Form hat. Kant stellt hier immerhin die zentralen Weichen, indem er in der (im Detail höchst obskuren) Transzendentalen Ästhetik die Raum-Zeit-Ordnung der Phänomene, als von uns, aus je unserer Perspektive, ‚gemacht‘ behauptet, wobei diese Formen der Anschauung sozusagen zu unserer kognitiven Ausstattung gehören, also in jedem innerweltlichen Dingbezug ‚transzendental‘ vorausgesetzt, präsupponiert sind. Wenn man sich von Kant distanziert, wird man sagen, dass sie von ihm als ‚gegeben‘ hypostasiert werden. Scheinbar weniger dunkel ist die Transzendentale Logik, in welcher der klassischen Satzform „N ist P“ mit einer ‚Quantitätsbestimmung‘ „N“ und einer ‚Qualitätsbestimmung‘ „P“ je ein innerweltlicher Gegenstand bzw. eine Eigenschaft zugeordnet wird. Die Nominalphrase N kann dabei aber formal sowohl ein einzelnes Element („der Löwe Jonathan“), eine Teilmenge einer Art („Manche Tiere“) oder eine Allmenge („Alle Löwen“) vertreten, wie man an einer entsprechenden dreifachen Disambiguierung des Satzes „Der Löwe mag Gazellenfleisch“ klar sehen kann. Die Verbalphrase aber kann bejaht, verneint oder unendlich verneint bzw. ‚kategorial schief‘ sein, wie die Sätze „Der Löwe ist ein Säugetier“, „Der Löwe ist kein Wiederkäuer“ und „Der Löwe ist kein Tisch“ zeigen. Das zentrale Problem liegt in Kants Deutung der ‚Relationen‘ des ‚Folgerns‘ oder ‚wahren Schließens‘, die zu ‚Beziehungen‘ zwischen ‚Ursachen‘ und ‚Wirkungen‘ werden. Das liegt an einer Verwechslung bzw. Engführung von ‚normativer‘ und ‚ontologischer‘ Notwendigkeit im Falle von (‚kausalen‘) Bedingungssätzen. Denn es ist ganz richtig zu sagen, dass ein als wahr gesetzter und entsprechend gelehrter wie gelernter Satz der Art „Wasser gefriert bei

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0°C und verdampft bei 100°C“ als allgemeine Regel gilt und notwendigerweise von jedem, der ein entsprechendes Wissen beansprucht, theoretisch und praktisch anzuerkennen bzw. in Erklärungen und Vorhersagen zu gebrauchen ist. Es ist aber schon mehrdeutig, wenn wir sagen, dass Wasser ‚notwendigerweise‘ bei 0°C gefriert und bei 100°C verdampft, und nicht etwa nur deswegen, weil es implizite ‚Parameter‘ wie einen ‚normalen‘ Luftdruck (bei Normalnull) für die Geltung des Satzes gibt. Das Wort „notwendig“ ist vielmehr selbst immer relativ auf vielfältige Aspekte hin zu deuten: auf notwendige Bedingungen dafür, eine kompetente Person im Urteilen über Wasser und seine Aggregatzustände zu sein oder auf notwendige Voraussetzungen auf der Erde, Wasser ohne weitere Techniken ‚von selbst‘ gefrieren oder (relativ schnell) verdampfen zu lassen. Wasser ‚verdampft‘ ja auch bei viel niedrigeren Temperaturen, so wie die Diffusion der Dinge überhaupt sozusagen immer und dauernd geschieht, nur eben manchmal hinreichend langsam, so dass wir einige Zeit lang die Stoffe und Dinge wie bleibende Substanzen behandeln können. Eine Regel der Form ‚wenn A, dann B‘ ist daher, wenn sie ein ‚Naturgesetz‘ artikuliert, nicht nur dann ‚mit Notwendigkeit‘ von uns im Tun und Erwarten, Handeln und Prognostizieren zu berücksichtigen, wenn sie ‚universal‘ gilt, also in der Form: ‚immer und ausnahmslos, wenn A gilt, wird auch B geschehen‘, sondern auch schon dann, wenn sie eine generische, typische Normalfallregel artikuliert: ‚Was eine wahre Katze ist, hat vier Beine‘. Kant liest kausale Erklärungsregeln oder Bedingungssätze leider generell als universale Allsätze – nicht anders als später Carnap oder Popper. Dabei möchte der eine den Allsatz induktiv verifizieren – und gelangt dabei bestenfalls zu generischen Wahrscheinlichkeitsaussagen – während der andere meint, einzelne Gegenbeispiele würden ausreichen, um eine Theorie als System von regelartigen Gesetzen zu widerlegen. Gemeinsam ist allen (Neo-)Humeanern und (Neo)Kantianern die Grundüberzeugung, dass die effizienzkausalen Ursachen und Wirkungen der ‚Zement des Universums‘ (John Mackie) seien, und zwar insofern, als es ohne sie kein stabiles Wissen über Arten von Dingen und Formen ihres Seins und ihrer Wirkungen im Vollzug, in physischen Prozessen, geben könne. Damit wird das Kausalprinzip, Leibniz‘ Satz vom zureichenden Grund (bzw. den hinreichenden Ursachen) zu einem ‚transzendentalen‘ Grundprinzip. Die Folge dieser Denkbewegung (die sich selbst undurchsichtig bleibt) ist die Annahme oder Vorstellung, dass im Reich der objektiven, gegenstandsartig zugänglichen Phänomene jede Bewegung und jede Veränderung eine zureichende Erklärung erlaubte. Denn nur aufgrund kausalen Vorherwissens, meint Kant, könne ein nicht dauernd beobachtetes Ding im Verlauf der Zeit wiedererkannt werden, sodass zur ‚epistemischen‘

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Identitätsbestimmung des Dings selbst, als Gegenstand der Erscheinung, ein Vorherwissen über sein (normales) Verhalten im kausal determinierten Verlauf der Dinge zu gehören scheint. Gerade indem Kant nicht anders als Hume, Carnap oder Popper bzw. Dummett, Lorenzen oder Brandom die Unterscheidung zwischen einer ontologischen Ebene der Bestimmung von Identitäten und Wahrheiten bzw. der entsprechenden Erfüllungsbedingungen und einer epistemischen Ebene des Nachweises der Erfüllung der Bedingungen vernachlässigt und sich mit einer ‚begründungstheoretischen‘ Deutung der Wahrheit zufrieden gibt, verwirrt er die Dinge. Denn für die Dingidentität reicht die bloße Stetigkeit der Dingbewegung und Dingveränderung. Es ist die Forderung, dass man die Bewegungen und Veränderungen kausal vorhersagen könnte oder, ex post, kausal erklären können müsste, ein entscheidender Schritt zu weit, der zu einer Art logischem Absturz in einen phänomenalen Prädeterminismus führt, auch wenn das Kant selbst nicht gemerkt hat. Das Problem ist dieses: Wenn es in der Erscheinungswelt richtig wäre, sich am Prinzip der kausalen Geschlossenheit, der prinzipiellen effizienzkausalen Erklärbarkeit allen Geschehens zu orientieren, gäbe es weder wirklichen Zufall noch wirkliche Freiheit, sondern nur eine epistemische Kontingenz des faktisch nicht Vorhersehbaren und eine bloß praktische Vorstellung von Freiheit als Selbstzuschreibung je meiner Handlungsentscheidungen und Handlungsvollzügen. Hegels Formel, dass das Freie das je Meinige ist, würde diesen Fall zwar schon mit abdecken, erweist sich aber eben damit als bloß erst vorläufig, sogar als zu weit: Nicht alles, was ich für das Meinige halte, ist das Meinige. Nicht all mein Tun, das ich als ‚freies Handeln‘ anerkenne, war frei. Das gilt schon gar nicht für Zuschreibungen an zweite und dritte Personen. Aber es ist auch keineswegs alles, was ich tue, als ‚nicht in meiner Verantwortung liegend‘, als bloßes Widerfahrnis zu ‚entschuldigen‘. Mit anderen Worten, die Schwierigkeit ist, zwischen den verschiedenen Urteilen über das Meinige und Freie zu unterscheiden, also die Unterscheidung zwischen meiner Welt und der Welt bzw. zwischen einem wirklichen und bloß scheinbaren freien Handeln angemessen zu praktizieren und reflexionslogisch zu begreifen. Die Rede vom Unterschied wiederum und damit die ‚wesenslogische‘ Rede von einem ‚wirklich freien‘ Handeln, einer ‚wirklichen Schuld‘ im Kontrast zu einer bloßen ‚Ursache‘ in den Umständen muss dazu in ihrer abstraktionslogischen Konstitution im Kontext hochstufiger (spekulativer) Reflexion allererst voll begriffen werden.6 6  Dass dies im logischen Empirismus Carnaps (und sogar Wittgensteins) noch nicht geschieht, zeigt sich am bedingten Reflex, Ausdrucksformen wie „das Sein“, „das Nichts“, „Gott“ oder

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Immerhin versucht Kant, die für die praktische Philosophie und ethischmoralische Verantwortlichkeit notwendige Rede von der ‚Freiheit‘ des Willens (in der bewussten Handlungsentscheidung, also im Denken) und des Handelns (in der tätigen Durchführung der generischen Handlung, der Aktualisierung der Handlungsform) zu verteidigen. Dazu braucht er nun doch die Differenzierung zwischen der Welt der Phänomene (mundus sensibilis) und der Welt des wirklichen Seins (mundus intelligibilis), samt einer Begrenzung des Kausalprinzips auf die bloße Erklärung von Phänomenen aus der Perspektive eines Beobachters im Kontrast zur Perspektive des Akteurs. Es ist dies genau der Kontrast zwischen ontologischer Ebene der Monaden und epistemischer Ebene der Phänomene, die schon Leibniz skizziert hatte. Nur begründet Kant die Notwendigkeit der Unterscheidung ‚transzendentallogisch‘, in einer Reflexion auf die Ich-Perspektive des Handelnden. Die zentrale Frage aber bleibt offen, ob die Selbstzuschreibung von Freiheit im Handeln ein So-Tun-Als-Ob ist oder die Annahme des Kausalprinzips als allgemeine Orientierung für die ‚Erlaubnis‘, nach einer kausalen Ursache für jedes beliebige Ereignis, auch für jedes beliebige Tun einer Person, zu suchen. 4

Das Primat des Handelns bei Fichte

Fichte sieht deutlicher als Kant und Leibniz, dass sich der Kontrast zwischen freiem Handeln und kausaler Erklärung eines leiblichen Verhaltens nicht kompatibilistisch, in einer prästabilierten Harmonie der perspektivischen Vorstellungen des Subjekts und der erklärbaren Phänomene erklären lässt, wie sie bei Kant zur Aspektdualität von Akteur und Beobachter, dem verantwortlichen Handeln des personalen Subjekts und der Erklärung des Verhaltens in den Wissenschaften wird. Fichtes ursprüngliche Einsicht besteht daher in dem, was man kurz das Primat der Praxis, des Handelns, vor allem theoretischen Wissen, aller Beobachtungen, bezeichnen könnte oder sollte. Kant hat diesen Ausweg aus seinem Dilemma nicht aufgegriffen – wohl weil er das Dilemma selbst gar nicht gesehen oder weil er es unterschätzt hat. Denn es kann die Orientierung, dass alles in der Erscheinungswelt kausal erklärbar ist,

„Wesen“, auch „Wirklichkeit“, unmittelbar für ‚metaphysisch‘ und ‚sinnlos‘ zu erklären, statt die logische Form von Nominalisierungen zu reflexionstheoretischen Zwecken wirklich zu bedenken. Der Mangel der Analytischen Philosophie ist, dass sie im Blick auf diese Redeformen dogmatisch und nicht analytisch ist und mit einer viel zu einfachen Logik der Satzjunktoren und Quantoren bloß rechnet und deren Status so wenig bedenkt, wie eine bloß rechnende Axiomatik in der Mathematik die ‚Wahrheit‘ der Axiome in echten, wohl konstituierten Modellstrukturen.

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nicht zusammen bestehen mit der Orientierung, dass es dennoch ein freies Handeln gibt, das Wirkungen in der beobachtbaren Welt zeitigt.7 Fichte schlägt den Gordischen Knoten wie Alexander einfach durch und erklärt, dass jeder Glaube an einen ontischen Kausalnexus die allgemeine Form des Aberglaubens (an Gott und eine Prädestination oder an die Naturgesetze und einen Prädeterminismus) sei. Allerdings bleibt Fichtes dogmatische These ebenso unbefriedigend wie Humes Abschwächung aller Gesetze und Regeln zu bloßen Regelmäßigkeiten in der Erscheinungswelt oder ‚Erfahrung‘ subjektiver Perzeptionen. Das Problem des behavioralen Empirismus Humes besteht darin, dass die scheinbare Bescheidenheit der skeptischen These, wir könnten ohnehin die wahren Kräfte in der Welt an sich nicht erkennen, sondern nur die Regelmäßigkeiten der Erscheinungen, in den Glauben kippt, dass alles Geschehen, auch das ‚freie Handeln‘ der Menschen, von Natur her so ist, wie es ist. Der scheinbare erkenntniskritische Skeptizismus wird unter der Hand zu einer wissenszickigen Re-Animalisierung des Menschen auf hohem Niveau. Hume weigert sich, den Kontrast zwischen animalischer Kognition und personalem Wissen, auch zwischen einem bloß an unmittelbaren Zielen orientiertem Verhalten und einem planenden Handeln, angemessen zu analysieren und zu berücksichtigen. Als Entschuldigung dient die allgemeine Tatsache, dass alle Unterscheidungen in der Welt stetige Übergänge haben. Begriffliche Kontraste, mit denen wir die Welt in unserem Verstand zum Zwecke von Unterscheidungen auseinanderreißen, wie z. B. in Orientierungen an den reinen Farben Rot, Gelb und Blau, etwa in Kinderbüchern, müssen gemacht werden. Der Humeanische Naturalismus kollabiert daher am Ende. Er wird zur Physiologie des Verstandes wie bei Locke, was man schön bei Quine sehen kann, der trotz hochtechnisierter formaler Logik über Lockes Theorie der Impressionen, seiner stimulus meaning, nicht hinauskommen. Aber auch Kants weit scharfsinnigere kritische Philosophie kollabiert in einem methodischen Physikalismus, der nicht sieht, dass die prinzipielle Erklärbarkeit der Welt in einer mathematischen Physik nur geglaubt ist. Die Wiedererkennbarkeit von Dingen ist je begrenzt. Aus der begrifflichen 7  Die Verwirrungen, die sich bei Schopenhauer zeigen, sind durchaus als Beweis für diese Unvollkommenheit (Widersprüchlichkeit) der spekulativen Reflexionsphilosophie Kants anzusehen. Über Schopenhauers kompatibilistische Vorstellung von der Welt als Wille und als Erscheinung (Vorstellung) kommen dann auch Wittgenstein und die gesamte ihm folgende Analytische Philosophie kaum hinaus. Doch das zu zeigen ist hier nicht der Ort, es geht nur um die Nennung der gravierenden Folgen des Problems, nicht nur bei Nietzsche, der ebenfalls in der Ambivalenz zwischen Wissen und Handeln, Theorie und Praxis, Vorstellung und Wille herumirrt.

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Tatsache, dass wir für die Wiedererkennung ein gewisses Kausalwissen voraussetzen, folgt das Kausalprinzip keineswegs, auch wenn es mehr oder weniger stabile Dinge in der Zeit gibt. Fichtes Einsicht in das unaufhebbare Primat der Handlung wird dann bei Hegel nicht als dogmatische These gedeutet, sondern zur Einsicht in das Performative jeder Behauptung, jeder Glaubenshaltung, auch jeden Wissensanspruches. Eben darin besteht Hegels Transformation von Fichtes Freiheitsphilosophie. 5

Praktische Voraussetzungen von Wissen und Wahrheit bei Hegel

Hegel ersetzt Fichtes transzendentalen Appell an das Primat der Praxis, wie wir ihm später wieder bei Karl-Otto Apel (und Jürgen Habermas) begegnen, durch die Einsicht in die Grundtatsache, dass alles allgemeine Wissen auf typischen (kontrastiven) Unterscheidungen (an sich) und generischen (kanonisierten) begrifflichen Inferenzformen (an sich) basiert. Jede besondere Erkenntnis ‚appelliert‘ immer schon an die entsprechende generische Praxis, setzt also die Ergebnisse personaler Kooperation wissenschaftlicher Arbeit am Begriff voraus, samt der dialogisch-dialektischen Form der Kooperation beim Verstehen und Bewerten des Einzelurteils im konkreten Kontext. Daher können Wissensansprüche von vornherein nicht im Allgemeinen die Freiheit des Urteilens, Denkens und Handelns ‚widerlegen‘. Denn das würde ja bedeuten, dass eine freie Entscheidung (im Urteilen) für eine Haltung als ein ‚Beweis‘ dafür anerkannt wäre, dass es keine freie Entscheidung im Urteilen und Handeln geben solle. Die Form des Arguments geht auf Fichte zurück. Ausgearbeitet ist es erst in Hegels Phänomenologie des Geistes und der Wissenschaft der Logik. Für die Frage nach der Freiheit ergibt sich dabei dieses: Wie bei allen Begriffen müssen wir die innerweltlichen Kontraste zwischen freiem Handeln und ‚unfreien‘, ‚nicht zu verantwortenden‘ Widerfahrnissen angemessen einrichten, in ihren inferentiellen Bedingungen beherrschen und reflektierend kommentieren. Zugleich ist jede Vorstellung von einem ‚absoluten‘ Wissen eines jenseitigen Gottes oder vollkommenen Physikers bestenfalls ein Moment eines reflexionslogischen Kommentars zu unserer innerweltlichen Entwicklungsform realen Wissens und Könnens. Eine ‚transzendente‘ Wahrheit gibt es so wenig wie eine ‚transzendente‘ Wirklichkeit, jenseits unserer Kontrastierungen von wahren und falschen Urteilen bzw. von epiphänomenalen Erscheinungen und wirklichen Ursachen. Wenn wir aber die Rede von Ursachen innerweltlich rekonstruieren, dann ist klar, dass die Ergebnisse freien Handelns nicht gänzlich durch naturkausale

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Ursachen bewirkt sein können. Das ist so, weil (bzw. wenn) das Wort „Natur“ für all das steht, was ohne Intervention durch unser freies Handeln geschieht. Es ist also eine bloße Verwirrung unserer Begrifflichkeit, wenn man meint, ein Geschehen könne sowohl durch ein freies Handeln entstanden sein als auch vollständig durch ‚natürliche‘ Ereignisse jenseits unseres Handelns vollständig effizienzkausal, vielleicht sogar ‚rein physikalisch‘ ‚erklärt‘ werden. Freilich gibt es wenige Wörter, die so unbedacht und überschwänglich gebraucht werden wie „Natur“ und „Ursache“. Ein Hauptgrund für Verwirrungen entsteht hier durch den Gebrauch des Ausdrucks „kausale Bedingung“. Denn es gibt nichts in der Welt, kein Ereignis und auch kein Handeln, das nicht in dem Sinn ‚kausal‘ und ‚natürlich‘ bedingt wäre. Viele faktische Weltverhältnisse sind notwendige Bedingungen dafür, dass ein Ereignis oder ein Handeln möglich und wirklich wird. Doch auch aus vielen solcher notwendigen Bedingungen entstehen noch lange keine hinreichenden Ursachen. Wo es hinreichende kausale Ursachen für ein Geschehen oder ‚Tun‘ gibt, z. B. meinen Herzschlag oder ein unwillkürliches, nicht unterdrückbares Husten (das soll es wirklich geben, obwohl man als Orchesterbesucher daran zweifelt), gibt es kein (freies) Handeln. Insgesamt ist dann allerdings genau zu unterscheiden, wann wir freie Verantwortung für Handlungen uns und anderen bloß zuschreiben und wann wir sie wirklich haben bzw. wann wir kausale Ursachen einem Ereignis bloß zusprechen und wann wir sagen, dass es diese und jene Ursachen wirklich waren, die ‚unausweichlich‘ und ‚mit Notwendigkeit‘ zu diesem oder jenem Ereignis geführt haben – etwa weil das im typischen Fall ‚immer‘ so ist. Kurz, Hegel zeigt, dass Materialismus und Physikalismus Varianten des Aberglaubens der Prädestinationslehre sind und aus der Vorstellung eines zeitallgemeinen Gottes, eines allmächtigen und allwissenden Physikers, stammen, also aus einer Fehldeutung der reflexionslogischen Modelle Platons mit seinem Architekten- und Technikergott (dem ‚Demiurgen‘). Zugleich wird erst jetzt die Monadologie von Leibniz in ihrem reflexionslogischen Status ebenso einsichtig wie Fichtes Primat der Praxis – freilich nur für den, der die Argumente sich selbst nachvollziehbar macht, da es ‚Beweise‘ der Art, dass man vorab gegebene Wahrheitsbedingungen als erfüllt einzusehen hätte, hier grundsätzlich nicht gibt. 6

Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit

Die Möglichkeit echter Freiheit setzt in der Tat eine Beschränkung der Prädestination eines Gottes oder, was dasselbe ist, der Prädetermination einer

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bloß physikalisch-chemischen Natur voraus. Doch mit dieser Anerkennung offener Kontingenz, wie sie auch sonst für ein wahres Begreifen unserer endlichen Lage in der Welt nötig ist, ist natürlich die positive Konstitution freien Wollens und Handelns im Kontrast zu einem ‚unfreien‘, wenn auch oft kontingenten, Geschehen in der physikalischen Welt einerseits, der Welt des Lebendigen auf der Erde andererseits noch nicht (voll) begriffen. Daher entwickelt Hegel auch den begrifflichen Kontrast der Seinsweise von Tieren zu Dingen und von personalen Menschen zu Tieren. Tiere bestimmen ihre eigenen Bewegungen selbst in einer schon auf eine gewisse Weise zeitlich und modal ausgedehnten Gegenwart. Sie reagieren auf präsentische Prozesse in der Umwelt und agieren selbsttätig, schon weit mehr als eine Pflanze. Dass dabei in ihnen (im räumlichen Sinn) allerlei physikalische und chemische Prozesse ablaufen, und das mit Notwendigkeit, als notwendige Bedingung, ‚erklärt‘ ihr Verhalten noch keineswegs vollständig im Sinne einer effizienzkausalen Erklärung. Hegel stimmt daher mit Leibniz insofern überein, als auch er teleologische, d. h. lokal zielorientierte, Prozesse und Verhaltensweisen in der Lebenswelt anerkennt und Kants Teleologiekritik als verfehlt ablehnt, da sie Ziele mit Zwecken verwechselt und zielgerichtetes Verhalten mit vorsätzlichem absichtlichem Handeln. Dass ein bloßes Tier keine echte Sprache hat, nicht veraloquens ist, darin stimmen Descartes, Leibniz, Kant und Hegel überein – durchaus im Kontrast zum Anthropomorphismus der Darstellung der Tiere und zum Krypto-Animalismus der Darstellung der Menschen bei Locke und in gegenwärtigen biologistischen Kognitionstheorien. Diese sind als solche gar keine wissenschaftlichen Theorien. Sie sind keine kanonisierten Systeme generischen Wissens und damit der entsprechenden materialbegrifflichen Normalfalltypiken. Sie sind rein ideologische Weltbilder. Allerdings ist der Unterschied zwischen Theorie und Weltanschauung kaum bekannt. Man übersieht den riesigen Sprung aus einer je lokalen Wissenschaft in ein totales Weltbild. Descartes, Leibniz, Kant und Hegel stimmen dagegen darin überein, dass für echte Vorsätze als Handlungsplanungen und echte Absichten, welche über präsentische Begierden und Motive hinausgehen, eine repräsentative echte Sprache notwendig ist, ein Denken oder leises Reden, in welchem die modalen Möglichkeiten sowohl der nicht präsentischen Ziele (Zwecke) als auch der möglichen Handlungsformen vorab, in der Absicht respektive im Vorsatz, tätig vergegenwärtigt, repräsentiert werden können. Es steht außer Frage, dass Tiere derartige Vergegenwärtigungen außer in Comics und abergläubischen Anthropomorphismen nicht zur Verfügung haben. Das nette Argument, wir könnten das nicht wissen, operiert mit dem Wort „Wissen“ so naiv wie die

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Frage, woher wir denn wüssten, dass niemand je in die Vergangenheit reisen und schon gar nicht in die Zukunft reisen kann, auch kein Engel mit superschnellen Flügeln oder ein Gott. Die Grundlagen unserer basalen Unterscheidungen in der Welt skeptisch infrage zu stellen, ist kein kritisches Denken, sondern bloße Weigerung, allgemeinste Tatsachen jeder Art anzuerkennen. Hegel erkennt die geschichtliche Leistung der Entwicklung allgemeinen Wissens, artikuliert durch sprachlich lehrbare Regeln. Wissenschaft ist kooperative Arbeit am Begriff und Voraussetzung je unserer gegenwärtigen Freiheit. Jeder von uns verdankt dem allgemeinen Wissen den Horizont seines offenen Blicks für Möglichkeiten und modale Zwecke. Dieser Horizont geht weit über das Sehbare hinaus. Es ist der Begriff, also das System sprachlich gefassten Allgemein- und Vorherwissens, wie wir es in der Kindheit und Adoleszenz lernen und selbständig gebrauchen lernen, welcher uns frei macht. In die Form der Gründe für unser Handeln reicht eine effizienzkausale Erklärung mit rein lokalen Ursachen eben deswegen nie hinein. Wer anderes sagt und meint, versteht weder Wort noch Sache und erkennt nicht den Unterschied zwischen einer Erklärung eines rein natürlichen Geschehens durch lokal wirkende Kräfte wie z. B. in den Modellen einer Druck-Stoß-und-Gravitations-Mechanik einerseits, einer geschichtlichen Erinnerung an kulturelle Entwicklungen des Geistes andererseits, und schließlich einer handlungs- und bisher praxisbezogenen ‚Erklärung‘ einer individuellen oder kollektiven Entwicklung. Die größte Gefahr beruht hier auf einem unstrengen Umgang mit höchst allgemeinen, spekulativen Reflexionswörtern, zu denen die Wörter „frei“ und „Handlung“ ebenso gehören wie die Wörter „natürlich“ und „kausal“, auch „Grund“ und „Ursache“, „Kraft“ und „Motiv“ oder „Ziel“ und „Zweck“. Hegel ist der erste und einzige Logiker, der sich bisher einer solchen echten analytischen Philosophie höchststufiger Reflexionssprache zugewendet hat. 7 Zusammenfassung Wie berechtigt ist Kants Polemik, es handele sich bei der ‚inneren‘ Freiheit, die Leibniz der Perspektive der Monade zugesteht, um die ‚Freiheit eines Bratenwenders‘, also um einen bloßen flatus vocis, reines Gerede? Und löst Kant das Problem wirklich? Die Differenz zwischen animalischer und menschlicher Lebensführung liegt schon bei Leibniz in den erweiterten Möglichkeiten des Wissens, Erkennens und Handelns der Apperzeption, d. h. der begrifflich kommentierten

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Wahrnehmung. Diese erweiterten Möglichkeiten definieren den zentralen Unterschied zwischen zielorientiertem Verhalten von Tieren und zweckgerichtetem Handeln von menschlichen Personen. Sie beruhen, wie Hegel klarer als Leibniz sieht, auf dem kulturgeschichtlich entwickelten System der Begriffe, kurz und generisch: dem Begriff, d. h. einem verbal lehr- und lernbaren und dann frei abrufbaren Allgemeinwissen über das typische Verhalten von Dingen und Prozessen, je nach Arten und Gattungen. Hegels Analyse lässt sich so als Ausarbeitung des Ansatzes von Leibniz deuten. Kant liest wie empiristische und materialistische Kritiker das Modell von Leibniz nicht auf diese wohlwollende Weise, was sich erstens in seiner These zeigt, teleologische Erklärungen des Verhaltens von Lebewesen seien bloß anthropomorphe Metaphern im Modus des Als-ob, eigentlich aber würde eine physikalische Kausalität ausreichen, nur sei leider angesichts der hohen Komplexität der wirkenden Kräfte nicht zu erwarten, dass es je einen ‚Newton des Grashalms‘ geben könne. Wenn man die enormen Fortschritte der Biologie und Genetik der letzten zwei Jahrhunderte betrachtet, so könnte man versucht sein, spätestens die Arbeiten von Crick und Watson als Widerlegungen von Kants These zu deuten, da seither die Funktions- und Wirkweise von Genen, dem Pendant zur Gravitation, im Prinzip verstanden ist. Damit scheint Kant in seiner Annahme der prinzipiellen Reduzierbarkeit der Biologie auf eine physikalische Chemie Recht zu behalten und sich nur in der Prognose getäuscht zu haben, dass auch wirklich in der Wissenschaftsentwicklung auf zureichende Weise entsprechend reduktive Erklärungen gefunden werden. Damals hätte sich ja auch niemand träumen lassen, das Phänomen der Wärme ‚mechanisch‘ erklären zu können. Kant schränkt zwar das physikalische Erklärungsmodell auf den Bereich der Phänomene, das Bewegungsverhalten der wahrnehmbaren Körperdinge ein. Und er erklärt, dass wir über deren Sein und Wesen an sich, ihre Kräfte und Fähigkeiten per se, angeblich nichts wissen können, da all unser reales Wissen erstens durch unsere besondere kognitive Verfassung und zweitens durch die lokalen, perspektivischen Wahrnehmungen beschränkt sei. Alles reale Wissen und Erkennen gehe nur auf Erscheinungen, nicht auf eine Welt an sich. Dem widerspricht Hegel vehement und zeigt, dass Kants Ding oder Welt an sich ein Unbegriff ist. Wissen an sich ist in Wahrheit prinzipielles, allgemeines, generisches Wissen – etwa darüber, wie sich im Prinzip oder im Allgemeinen ein Löwe, der Löwe an sich, verhält. Das ist uns weit bekannter als jedes empirische Einzelwissen. Außerdem zeigt Hegel, dass es besonderer Zurüstungen bedarf, um etwas über das zu wissen, was Löwen für sich als gut und wichtig ansehen, also wie die Welt aus der Perspektive von Löwen aussieht oder aussehen mag. Die

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Erklärung, das könne man nie wissen, weil man ja trivialerweise nie das Leben eines Löwen (oder auch nur eines anderen Menschen) führt, ist teils trivial wahr, teils ganz irreführend. Dass wir nicht aus unserer Haut können, drückte schon Leibniz im Orakel aus, dass Monaden keine Türen (‚Fenster‘) haben. Dennoch gibt es eine komplexe Tätigkeit perzeptivischen und apperzeptivischen, animalischen und menschlich-personalem ‚Perspektivenwechsels‘. Eben diese Tätigkeiten sind es, welche die Kognition von Tieren und das Wissen und wissensgestützte Handeln von Menschen allererst ermöglichen. Dabei sprechen wir bei Menschen von einer (generischen) Praxis als System von Praktiken, bei Tieren von einer Verhaltens- und Lebensform. Während bei Leibniz und Hegel die Subjektivität des Einzelwesens als allgemeine Tatsache vorausgesetzt ist und die Performativität von Leben, Reden und Handeln, auch Erkennen und Wissen als absolut, weil in allem Weltbezug vorhanden, anerkannt ist, gibt es bei Kant eine Ambivalenz zwischen empirischem und transzendentalem Subjekt, zwischen einer empirischen Psychologie oder Seelenlehre und einer rationalen Fähigkeitslehre, welche die besonderen Kompetenzen ‚des transzendentalen Ichs‘, also einem generischen personalen Subjekt auf der Grundlage einer präsuppositionalen Reflexion darstellen möchte. Darstellungstechnisch mystifiziert Kant aber unsere ‚rationalen‘ Fähigkeiten. Das gilt für die transzendentale Apperzeption des ‚Ich denke‘ ebenso wie für die Formen der Anschauung und des Denkens. Kant möchte mit der Unterscheidung zwischen seiner Welt an sich und der phänomenalen Welt der Erscheinungen für uns Platz schaffen für die Möglichkeit, dass ein freies Wollen und Handeln denkbar ist, ohne dass man am einzelnen Tun unmittelbar ablesen könnte, ob es effizienzkausal als bloßes Verhalten verursacht ist, oder ob das personale Subjekt eine Reihe von Tätigkeiten in seinem Entschluss, einer gewissen vorbedachten Maxime vorsätzlich und absichtlich zu folgen, so neu angefangen hat, wie das gegenwärtige Weltall mit dem Urknall angefangen hat – wenn wir Kants Quisquilien der Antinomien der Kosmologie überspringen und gleich die heutigen Überzeugungen zum Paradigma erheben dürfen. Das Problem ist, dass Kant noch weniger als Leibniz klar machen kann, wie der Gedanke, die eigentlichen wissenschaftlichen Kausalerklärungen der Erscheinungen seien rein mathematisch-physikalisch, zusammenbestehen können soll mit der Anerkennung, dass es auch andere Wirkkräfte gibt, nämlich teleologische im Leben und intentionale im geistigen Leben, also auch in den Wissenschaften. Die Frage, wie das Denken als freies Tun zu verstehen und wie es das Handeln steuern kann, wird durch Kants bloßen Appell an eine mystische ‚Spontaneität‘ ebenso wenig beantwortet wie die Frage nach der Kompatibilität der beiden

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Prinzipien: 1.) Es gibt den freien Willen und freie Handlungen 2.) Im Prinzip sind alle Phänomene physikalisch erklärbar. Das zweite Prinzip ist offenkundig falsch. Eben das erkennt Hegel, und indem er es betont, wird er von Freunden des Physikalismus als Gegner der Wissenschaft denunziert. Ein letzter Punkt betrifft Hegels Analyse der Verwandlung von Begierden in Absichten. Hier nämlich erkennt er, dass nicht die Intervention eines außer­ weltlichen Geistes oder die Fähigkeit einer mystischen transzendentalen Apperzeption unser so und so motiviertes Verhalten zu einem zweckgerichteten Handeln macht, sondern die Tätigkeit der leisen Rede, der Handlungsplanung und des Zweck-Entwurfs, und zwar in einer Art Kampf zwischen animalischer Begierde und personaler Absicht, dem nominal angesprochenen Willen, der sich an einem Vorsatz orientiert und nicht bloß durch ein empfundenes Motiv ‚geschoben‘ wird. Natürlich gibt es keine Entität, die ‚Wille‘ heißt oder ‚Geist‘ – wer das glaubt, bewegt sich bloß erst in einer vor­platonischen, ja vorheraklitischen Sprache, denkt also schlicht archaisch, ohne jede Ahnung von Logik und Dialektik. Literaturverzeichnis Bar, Roi (2017), Hegel’s Philosophy of Science, Dissertation Leipzig. Beck, Lewis White (1998), Actor and Spectator, Bristol. Ryle, Gilbert (1971/²2009), “Taking Sides in Philosophy”, in: Gilbert Ryle, Collected Papers, Vol. II (1929–1968), chpt. 11, London. [i.O.: Philosophy XII, 1937]

Schopenhauer’s System of Freedom Günter Zöller This essay presents Schopenhauer’s sustained thinking about freedom in the twofold context of his own comprehensive philosophical system and of the related efforts of his chief predecessors, Kant and Fichte.1 The essay attributes to Schopenhauer a philosophy of freedom informed by the overall project of classical German philosophy of finding a place for freedom in the face of the causal order of the natural world. Section 1 explores the contrast and conjunction of freedom and system in Schopenhauer against the background of antecedent work in Kant and Fichte. Section 2 examines the role of the will in relation to freedom in Schopenhauer, again in the contrasting context of Kant and Fichte. Section 3 investigates the freedom peculiar to the will in Schopenhauer in contradistinction to the Kantian and Fichtean view on the matter. Section 4 elucidates the final emancipation from the will addressed by Schopenhauer with an eye to its precedents in the Kantian and post-Kantian accounts of freedom. 1

Freedom and System

Classical German philosophy – chiefly comprised of Kant and his successors, the German idealists (Fichte, Schelling, Hegel) – is famous for its ambition at a comprehensive system of philosophy. Under its systematic form, as envisioned by Kant and his followers, philosophy was to be present at once the system of knowledge about the self and the world and the system that the self and the world themselves could be known to form. Moreover, the philosophical system in its twofold aspect as a cognitive system and an object system was to compromise a radical foundation through absolutely first principles as well as an elaborate architecture to be built thereupon that was to furnish the main fields of philosophical knowledge so grounded, along with the self and world so known. Extremely ambitious – and ambitiously extreme – as the project was generally conceived and specifically articulated by Kant, Fichte, Schelling and Hegel, the system of classical German philosophy never achieved completion in any 1  This essay previously appeared in The Palgrave Schopenhauer Handbook, ed. Sandra L. Shapshay (London: Palgrave, 2017), 65–84.

© koninklijke brill nv, leiden, 2019 | doi:10.1163/9789004383586_016

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of the four philosophers. Kant was reproached already by his own successors for only having provided the formal foundation of the system – under the guise of a “critique of reason,” eventually presented in a subsystem of three Critiques (Critique of Pure Reason, 1781, second, revised edition 1787; Critique of Practical Reason, 1788; Critique of the Power of Judgment, 1790). In the eyes of Fichte, Schelling and Hegel, Kant’s own efforts at a subsequent systematic treatment of natural philosophy (Metaphysical First Principles of Natural Science, 1783) and of moral philosophy (The Metaphysics of Morals, 1797) did not satisfy Kant’s and their own criteria for a proper system in which foundation and execution were to be radically integrated and closely mediated. Yet Fichte, Schelling and Hegel themselves, while advancing beyond Kant in the presentation and publication of the outlines and installments of a comprehensive philosophical system, never achieved its formal completion either. Fichte, after radical beginnings with the programmatic presentation and partial execution of a post-Kantian first philosophy (Science of Knowledge or Doctrine Science, Wissenschaftslehre) that also included a published philosophy of law and ethics (Foundation of Natural Right, 1796–97; The System of Ethics, 1798), abandoned the print publication of his core project soon thereafter, traumatized by the misunderstanding and misrepresentation of his thinking to emerge in the so-called atheism dispute that cost him his professorship in Jena. The many further versions of the Wissenschaftslehre became historically effective, in a limited way, only through their eventual posthumous publication.2 As far as Schelling is concerned, his philosophy underwent significant change and development over half a century and did not result in a comprehensive and complete presentation at any of those stages. Schelling’s early alternative project to Kantian and Fichtean idealism, the philosophy of nature (Naturphilosophie), was put forth in a series of programmatic and foundational publications. Schelling’s comprehensive restatement of transcendental idealism, while employing the term in its very title (System of Transcendental Idealism, 1800), provided a summary presentation rather than an entire system of philosophy. The same holds for Schelling’s later, unpublished lecture presentations on his philosophical system at the time (Würzburg 1805, Stuttgart 1810, Erlangen 1821) and for his late Munich and Berlin lectures on the philosophy of mythology and the philosophy of revelation that were to supplement his own earlier, “purely rational philosophy” by recourse to extrarational resources of philosophy (“positive philosophy”). 2  For a comprehensive overview of Fichte’s philosophical achievements, see Zöller (1998) and James/Zöller (2016).

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In the case of Hegel, the philosophical system was intended early on, even approached by way of a colossal systematic introduction (The Phenomenology of Spirit, 1807) and published in a monumental opening installment (The Science of Logic, 1812–16, second, partly revised edition 1832). The sequent parts of the system, though, were presented only in lecture form during Hegel’s tenure at the University of Berlin (1820–32) and included the Philosophy of Nature, the Philosophy of Fine Arts, the Philosophy of Religion, the Philosophy of History and the History of Philosophy – all published, in heavily edited form, only after Hegel’s death (1832–45). The sole other substantial part of the system of philosophy published by Hegel himself was the Philosophy of Right (1820). The Encyclopedia of the Philosophical Sciences (1817, second, substantially engaged edition 1827, third, further enlarged edition 1830), while rendering the entire system in three main parts (Logic, Philosophy of Nature, Philosophy of Spirit), presented it, as indicated in the work’s full title, only “in basic outline.” It is an irony of the history of classical German philosophy that the sought after comprehensive and complete system of philosophy, which none of its canonical representatives ever provided in print or in any other form, was published by Arthur Schopenhauer. To be sure, Schopenhauer always styled himself as an outsider and even an antagonist to his immediate philosophical predecessors and close contemporaries. But his far reaching and deep going historical and systematic ties with Kant and German idealism justify and even require including him among classical German philosophy.3 Moreover, Schopenhauer’s secret association with Kant and his successor-critics is not marginal and sporadic, but radical and systematic. Outward appearances to the contrary, Schopenhauer shares the main aims and chief concerns of classical German philosophy, including the conviction that philosophy ought to take the inner and outer form of a system that is to be at once the system of the philosophical knowledge of the self and the world and the system of the self and the world so conceived. Schopenhauer’s comprehensive and complete system of philosophy first appeared in print in 1818 under the telling title The World as Will and Representation (with 1819 indicated on the work’s title page). Its publication thus is roughly contemporary with Hegel’s Encyclopedia, which, though, provides only the outlines of the system. By contrast, Schopenhauer’s system, which was organized in four parts, included essentially complete accounts of the theory of knowledge (“gnoseology” in Schopenhauer’s antiquated terminology, “epistemology” with the currently familiar term), the philosophy of nature, aesthetics and ethics. Moreover, Schopenhauer’s system was not simply 3  On Schopenhauer’s membership in German idealism, see Zöller (2000) and (2012).

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a sequential arrangement of the main parts of philosophy but an ingeniously crafted epistemic architecture built on the sort of primary cognitions (“principles”) aimed at in the competing pursuits of Schopenhauer’s philosophical predecessors, contemporaries and successors. The principles underlying Schopenhauer’s early magnum opus – born in 1788, Schopenhauer had just turned thirty when the work appeared – are already indicated in the title, The World as Will and Representation. Formally following the Kantian distinction between things in themselves and appearances, Schopenhauer’s systematic philosophy of knowledge, of nature, of the beautiful in art and nature and of morals results from the interferential play of cognition and volition as the two principal capacities of human mentation, taken together with the pervasive principle of (sufficient) reason, according to which nothing is what it is without a sufficient reason (or ground) for being what it is. The consideration of the world as an object of cognition (“representation”) under the rule of the principle of sufficient reason generates the world of the discursive intellect, treated in the epistemology of Book 1 of The World as Will and Representation. The view of the world as a manifestation of the will cosmically conceived but still under the terms of the principle of sufficient reason yields the world of the human will transposed into all of nature, the “will in nature,” featured in the philosophy of nature of Book 2. Regarding the world in terms of its universal essences (“ideas”) disengaged from the principle of sufficient reason brings about the world of intuited ideas in nature and art, presented in the aesthetics of Book 3. And the look at the world as an objectification of the cosmic will disengaged from the principle of sufficient reason results in the world of the boundless and aimless “will to live,” dealt with in the ethics in Book 4. But the affinities between the system of philosophy contained in The World as Will and Representation and the related earlier or more or less contemporaneous efforts of Kant, Fichte, Schelling and Hegel reach beyond formal and functional continuities and correspondences. Schopenhauer also shares with his close intellectual relatives the strategic focus of systematic philosophy on freedom – more precisely on the nature, the forms, the limits and, most importantly, the very possibility (or impossibility) of freedom. Kant had presented his entire theoretical philosophy, as developed in the Critique of Pure Reason, as an extended argument for the logical possibility of freedom in the face of a completely determined natural order of things, thus preparing the systematic supplementation of nature comprehensively considered (“system of nature”) through an analogous world order based on freedom (“system of freedom”). Fichte had subsumed his entire philosophical project

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under the programmatic formula of the “first system of freedom,” maintaining that Kant had failed at integrating the system of nature into a comprehensive and complete system based on the universal principle of freedom. With Schelling freedom had moved to the systematic foreground as the broadly conceived basic capacity for good and evil, disclosing a dark dimension of impulse and drive but also of longing and striving permeating all being, including divine being (“nature in God”). Hegel, finally, had made freedom the primary trait of spirit as the principle of it all, outright defining the latter as the universal reintegrative ability of being with oneself while being in something else. In Schopenhauer the systematic concern with freedom that is characteristic and even definitional of classical German philosophy also is prominent throughout, from the discussion of motivational causality in his doctoral dissertation On the Fourfold Root of the Principle of Sufficient Reason (1813) through substantial parts of The World as Will and Representation (1818, second, substantially enlarged edition 1844), especially in the work’s final part on ethics, to the late Prize Essay on the Freedom of the Will (1841). Moreover, in Schopenhauer the systematic integration of freedom into the founding and unfolding of his philosophical system often is cast in terms of comparison with and contrast to structurally similar features and functions in his historical predecessors and systematic competitors in classical German philosophy, chiefly Kant and Fichte. The remainder of this chapter will be devoted to assessing the systematic status and function of freedom in Schopenhauer in a threefold perspective and against the background of Kant’s and Fichte’s related efforts at ascertaining, first, the possibility (or impossibility) of freedom under the rule of the will, second the kind of freedom (if any) to be ascribed to the will and, third, the freedom to be obtained (or not to be obtained) from the rule of the will. Throughout the focus will be on conceptual shift and the doctrinal change involved in the radical move from the systematic treatment of freedom in Kant and Fichte to that to be found in Schopenhauer, who, while forming part of classical German philosophy broadly conceived also emerges as a transitional link from Kant and Fichte – and also from Schelling and Hegel – to post-idealist thinking about the will and about freedom in later nineteenth and twentieth century thinking, from Wagner and Nietzsche to Freud and Wittgenstein. 2

Freedom Under the Will

Schopenhauer took great pride in claiming Kant (next to Plato) as the most significant influence on his own thinking and charged the self-proclaimed

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post-Kantians among his predecessors with distorting the true intent and the precise meaning of the Kantian concepts and doctrines they had subjected to creative appropriations. In Schopenhauer’s own philosophy, as systematically presented in the first edition of The World as Will and Representation and strategically supplemented in the work’s second edition, the Kantian influence is most palpable in the epistemology of Book 1, which restates, in a streamlined and simplified form, Kant’s transcendental idealism, according to which the objects of possible theoretical cognition or knowledge are but appearances, essentially shaped by the forms of intuition (space and time), as opposed to the unknown and indeed unknowable things in themselves underlying them, to which the spatio-temporal forms do not apply. To be sure, Schopenhauer goes on to supplement the idealist reduction of the world and all objects in it to the status of an appearance (“representation”) with the alternative conception of the world as it is – or rather, as it has to be considered to be – independent of representational forms and principles, chiefly among them the principle of sufficient reason, to the systematic exploration of which Schopenhauer had dedicated his doctoral dissertation. The world so considered, as independent of space and time and any relation of ground and consequent, on Schopenhauer’s view, is by no means unknowable, as Kant had held. On the contrary, for Schopenhauer, human beings are always already quite familiar with the world, including their own self, even apart from the forms of space and time and of principled rationality: in their own selfexperience as affective, emotive beings immersed in feelings, passions and volitions of all kind that are not merely objects of theoretical cognition but states of subjective being – states of a subject that is not a “subject of knowing” only but also a “subject of willing” (SvG 2nd ed. Hübscher, 140).4 On Schopenhauer’s rereading of the Kantian distinction between things in themselves and appearances, the thing in itself, far from being a remote and unreachable object beyond space and time, is nothing other than the very core of human embodied existence as it is experienced individually and from within by everyone. Schopenhauer’s covering term for this dimension of inward reality is “will,” a psychological title under which all kinds of non-representational (non-cognitive) states and their corresponding capacities – including feelings, passions and volitions in the more narrow sense – are subsumed. In a further philosophical move that alienates him from Kant’s essentially cognitivist, albeit agnostic take on the thing in itself, Schopenhauer extends the identification of the thing in itself with the will from the self to the world. In the process, the will, originally a property or capacity of the self (psychic will), 4  On the relation between the subject of knowing and the subject of willing in Schopenhauer, see Zöller (2017).

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is regarded as the very core of the world at large (cosmic will). Schopenhauer concedes the merely analogical reasoning behind the transposition of the will from mind to matter. But he also argues that the anthropomorphic view of the world as will is the best account available for the phenomena of life and, by extension, for all existence, considering the pervasive presence of drive, but also of destruction, throughout the human and the natural world. In a dramatic reversal of the traditional treatment of the human being as a microcosm that repeats and replicates the world at large on a smaller scale, Schopenhauer considers the world a “macranthropos” (WW 2 Hübscher, 636) – a human being writ large.5 While the earlier formula served to emphasize the epistemic advantage of the human being in accessing the world from a privileged perspective, Schopenhauer’s radically reversed conception aligns his account of the Kantian thing in itself with his idealist take on the phenomenal world (“world as representation”). Like the apparential world, the world as it is in itself – independent of the shaping influence of cognitive forms and principles – is intimately tied to the self. In a cognitive perspective, the self can be considered constitutive of the world qua representation; in a non-cognitive, conative perspective, the self’s own inner nature as will permits the disclosure of the driven, willful nature of the world “in itself.” The two-stage interpretation of the will to be found in Schopenhauer’s summary characterization, first, of the non-cognitive self as (psychic) will and, second, of the world at large as (cosmic) will, also affects the relation of the newly defined and dramatically extended conception of the will to that of freedom. In particular, the freedom traditionally associated with willing – the freedom of choice or free choice – no longer suitably applies to a will that is either, as psychic will, marked by emotions and affects rather than by deliberation and reasoning, and, moreover, as cosmic will, removed from the sphere of conscious or self-conscious mental life altogether. To be sure, the close connection between willing and choosing, and between free willing and freely choosing, already had received a radicalized revision in Kant, who came to distinguish between the freedom involved in arbitrary choice or the elective will (Willkür) and the freedom involved in non-arbitrary, strictly rational willing understood as a lawgiving or legislative will (Wille).6 But while Kant’s account of legislative will – more precisely, self-legislative or autonomous will – had intimately linked the will to action-geared, practical reason, in effect outright identifying the two, Schopenhauer, quite to the

5  On the analogy of self and world in Schopenhauer, see Zöller (1999). 6  See AA 6:226 f.

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contrary, sharply severs the will (the psychic as well as the cosmic will) from reason and its reign under the principle of sufficient reason altogether. Given the profoundly different, even opposed conceptions of the will in Kant and Schopenhauer, it comes as no surprise that Schopenhauer does not follow Kant in matters of ethics. In particular, for Schopenhauer, all reason is theoretical or cognitive, at the exclusion of a genuinely practical function of reason as such, and hence is unsuited for providing either the rule or the motivating force for ethical willing and acting, as had been claimed by Kant in his conception of a purely practical reason or of a reason that, all by itself, could be practical. Still Schopenhauer’s major move beyond the Kantian reduction of the will to practical reason – and of the pure, moral will to pure practical reason – is not without precedent in the post-Kantian debate. K. L. Reinhold and, building on him, Fichte already had tied the will, rather than to reason, to choice and had delegated the orientation and motivation in practical matters to a force and factor different from, although not yet entirely opposed to, reason, termed “drive” (Trieb). Reinhold – in his influential Letters on the Kantian Philosophy (vol. 2, 1792) had made moral conduct a matter of free choice between two competing drives, the “selfish” and the “unselfish” drive, neither of which he had considered to coincide with reason as such and the latter of which he had treated as the naturalized functional substitute for Kantian pure, legislative will.7 Fichte – in his equally influential System of Ethics (1798)8 – had been similarly suspicious of the practical efficacy of Kantian pure reason and had introduced a drive specifically responsible for the orientation and motivation of ethical action (“ethical drive”). According to Fichte, the ethical drive is a “mixed drive,” composed of a “natural drive” that provides the actual aim of a given ethical action in the specific context of the actor’s past, present and future situation, and the “pure drive,” which has the sole goal of freedom qua complete independence from anyone and anything else as an end pursued for its own sake (“material freedom”). Fichte concedes that the absolute freedom so sought on the basis of the pure drive in its combination with the natural drive is an infinitely distant end, ever to be approached and yet never to be reached. On Fichte’s conception, the self so driven by the pursuit of freedom (“independence”) for its own sake is an essentially and perpetually striving self (“I”).9 7  On Reinhold’s controversial revision of Kant’s moral philosophy, see Zöller (2006). 8  Fichte (2005). 9  For a more detailed account of Fichte’s account of action in relation to Schopenhauer, see Zöller (forthcoming).

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In many ways, Schopenhauer’s radical conception of the psycho-cosmic will and the notion of freedom associated with it builds on the precedent of Reinhold’s and Fichte’s functional replacement of practical reason with a drive and on their reconception of the will from a self-legislative authority (“autonomy of the will”) to a capacity of choice (“formal freedom”). To be sure, Schopenhauer goes farther than either of his predecessors by disengaging the will entirely from the rule of reason and from the principle of sufficient reason. Moreover, unlike Reinhold and Fichte, who maintain the Kantian account of morality as involving unconditional obligation (“duty”), Schopenhauer develops an ethics based on cognition – more precisely, on the recognition of the pervasive presence of the will throughout nature as well as human life. There are further significant differences that separate Schopenhauer’s account of arbitrary choice or elective will from the accounts of free choice in Reinhold and Fichte, who each maintains a genuine freedom on the part of the human being in the choice between alternative courses of action. For Reinhold and Fichte, as for Kant before, the presence and even efficacy of causally effective mental forces such as inclinations and drives does not sufficiently determine or factually necessitate the will but only serves as co-determination in connection with the consent (or dissent) to be contributed by the faculty of “free choice.” By contrast, Schopenhauer maintains a thoroughgoing psychological determinism, based on an action-specific form of the principle of sufficient reason. In particular, for Schopenhauer every action, whether specifically moral, immoral or morally irrelevant (amoral), issues with necessity under the “law of motivation” that has actions as consequents follow from their sufficient moving grounds (“motives”) (SvG 2nd ed. Hübscher, 144 f.). According to Schopenhauer, the law of motivation, which constitutes the fourth and final root form of the principle of sufficient reason, is but a special case of the principle’s other root form as law of causality (“ground of becoming”) (SvG 2nd ed. Hübscher, 34). In the case of motivational causation, the causality – in addition to being effective as in other, physical forms of causation – also is experienced from within, as the mental push toward the action. Accordingly, motives, on Schopenhauer’s account, are nothing other than cognitions insofar as they are, or can be, practically relevant as mental causes governed by inner, psychological causal laws. According to Schopenhauer, then, under the law of motivation, the sufficiently motivated and hence efficiently caused action ensues unfailingly and without further intervention of a supportive or preventive kind on the part of a faculty of choice. To be sure, it depends on the circumstances of the agent and the situation which cognitions function as motives and which motive among

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plural and potentially competing ones prevails. Moreover, a further essential factor that enters into the causal sequence from a sufficient motive to ensuing action is the basic practical disposition of the agent – a set of traits that Schopenhauer terms “character,” drawing on the general term for the dynamic dispositional relation of cause and effect in Kant. Kant resorts to the conception of character in general and that of nonempirical, “transcendental” character particular to mark the conceptual space for (transcendentally) free action occurring absolutely spontaneously, as far as the phenomenal order of things is concerned. By contrast, for Schopenhauer, the character of a human agent underlying the action that ensues under sufficient motivating conditions is to be considered as always already fixed (“inborn”) and unchanging (“constant”) (FW Hübscher 48–53). Under those circumstances, there seems no possibility at all for freedom under a conception of the will such as Schopenhauer’s that removes the will both from reason and from choice. 3

Freedom of the Will

Schopenhauer’s radical denial of freedom in an agent’s choice of action is not without precedent and even is prepared by positions in Kant and the postKantians. In reaction to Reinhold’s definition of freedom as consisting in the choice between following the selfish or the unselfish drive, Kant himself argues that the factually proven deviance from the moral law is evidence not of a genuine capacity – of choosing between equally possible opposed actions – but of an “inability” (Unvermögen)10 – the inability to follow the moral law. For Kant, freedom of choice as a capacity, to the extent that it is morally relevant and involves ethical action, is not a matter of libertarian arbitrary willing (“choice”) but of the deliberate exercise of a will obedient and subservient to the moral law, the latter conceived as a non-natural law or a “law of freedom.”11 The conception of freedom underlying non-arbitrary but independent willing and acting in Kant is not freedom qua liberty; it is neither the negative liberty from fetters nor the positive liberty to do as one pleases. Rather Kantian moral freedom is construed along the lines of an originally political conception of freedom, suitably adapted from the case of politics to the case of ethics. It consists, negatively, in independence from foreign or domestic rule by someone or something else – politically speaking, a foreign power or a domestic 10   A A 6: 227. 11   A A 6: 23 and 230.

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despot, ethically speaking, divine commands or inclinations. And it consists, positively, in self-rule – specifically, in the giving of laws to oneself and in standing under laws that one has given to oneself (autonomy). The republican political inspiration behind Kant’s moral philosophy in general and his ethics in particular is especially apparent in his late account of ethical virtuousness, designed to supplement the earlier principled account of ethical action from respect for the moral law, provided in the Foundation for the Metaphysics of Morals and the Critique of Practical Reason, with the introduction of a carefully inculcated moral mind-set that is to facilitate ethical conduct in human beings who are, as a matter of fact, more inclined not to follow the moral law than they are predisposed to following it.12 Drawing on the classical republican conception of freedom as self-discipline in the service of the common good, Kant has ethical agents undergo training in the exercise of moral self-control by becoming masters of their affects and rulers of their passions.13 While Schopenhauer does not follow Kant in adopting an originally political conception of freedom as moral self-rule, he shares with Kant and other contemporary critics and skeptics of libertarian arbitrary choice in moral philosophy, including Fichte and Hegel, the insight that freedom does not primarily and essentially reside in choice but in obligation, provided it is entered into in self-determination rather than as a result of force or manipulation. For Schopenhauer, a special difficulty arises, though, in introducing and maintaining a form of freedom specifically different from that of arbitrary choice. Given his principal rejection of the Kantian twin conceptions of pure practical reason and purely moral will, Schopenhauer cannot, like Kant and other post-Kantians, avail himself of specifically practical rational resources for establishing morally relevant freedom. In the absence of a practical conception of reason as the rational form of universal lawfulness (“moral law”), Schopenhauer has to draw on other, theoretical rather than practical resources for a non-arbitrary conception of freedom. While foregoing the Kantian conception of (pure) practical reason, Schopenhauer’s attempt at vindicating freedom to a (human) will subject to outer and inner causation and hence integrated into the lawfully determined order of the phenomenal word (“world as representation”) continues to operate with the difference between theoretical cognition and practical awareness. To begin with, Schopenhauer contrasts the irrefutable intellectual knowledge of 12  See AA 6: 379–413. 13  See AA 6: 407. For a sustained reading of Kant as well as Fichte and Hegel in light of the political tradition of republicanism, see Zöller (2005).

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the will’s complete determination by the cooperative constellation of motive and character with the inner awareness of freedom in the exercise of the will. Put in the Kantian terms in which Schopenhauer himself frames his account, the denial of freedom (of the will) based on objective cognition (“consciousness of objects”) is confronted with a countervailing immediate awareness of freedom (“self-consciousness”) in the exercise of the will. Schopenhauer casts the latter conviction by means of the assertion “I can do what I will” (FW Hübscher, 41), maintaining the status of absolute certainty regarding the claim in question. As Schopenhauer concedes, in the exercise of one’s will to engage in an action, one feels entirely free – provided no external obstacles prevent the transition from the willing to the doing. Freedom, on the evidence of mere selfconsciousness, then consists in the ability to do what one wills to do. This move, though, on Schopenhauer’s account, relocates and even redefines the question of freedom unduly – by shifting the investigation from the fundamental issue of the freedom of willing to the subordinate issue of the freedom of doing or acting under a given willing. But such a displacement leaves the original issue, of the will’s own freedom (“freedom of the will”), unaddressed – or rather leaves its denial, based on the principle of sufficient reason, unrefuted. As Schopenhauer argues, the immediate certainty of one’s freedom in doing what one wills, while amounting to a freedom of sorts (the freedom of action from obstacles to acting), by no means establishes that the agent in question also and additionally is free in the very willing. The conditional freedom involved in freely acting upon one’s willing is neither identical with nor sufficient evidence for the further freedom involved in willing in the first place what one might subsequently be free (or not free) to do. While Schopenhauer is not altogether dismissive of the subsequent freedom of acting, which for him falls under a wider conception of freedom as freedom from external hindrances (“physical freedom”; FW Hübscher, 32), he insists that the real issue is the antecedent freedom of willing. Only if the very formation of the will and the latter’s articulation in particular (acts of) willing can be proven to be free, freedom of the will in the truly interesting but also eminently controversial sense of the term can be considered established. In a further move that is to serve the end of salvaging freedom from thoroughgoing determination – an ambition that he shares with Kant and the post-Kantians –, Schopenhauer shifts the grounds of argumentation explicitly from theoretical evidence to practical data. In particular, Schopenhauer contrasts the indirect, conceptually mediated cognition of the complete determination and hence of the manifest non-freedom of the will with a countervailing moral phenomenon, accessible to and acknowledged by common sense or the ordinary understanding. The phenomenon in question, not to be

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disputed or argued away, is an agent’s feeling of responsibility for his (or her) actions (FW Hübscher, 105). Rather than regarding this moral feeling as an illusion, Schopenhauer is prepared to use it as a fundamental datum for salvaging freedom – freedom of the will, to be precise. Schopenhauer argues that the factual feeling of moral responsibility cannot pertain to individual actions, all of which ensue necessarily given an agent’s character in combination with the agent’s practical situation, as reflected by cognitions congealing into action-inducing cognitions or motives. On Schopenhauer’s closer consideration of the feeling of responsibility, the praise and blame involved in the adjudication of action must refer, rather than to particular actions, to the very disposition to actions of one kind or another, which – given sufficient motivation – will engender the action unfailingly. The proper object of praise and blame in moral matters and hence also the site of freedom in the morally relevant sense therefore is the agent’s character. The freedom of the will that cannot properly belong to the willing of the action, which is always caused by sufficient motivation, much less to the doing of the action, which is always conditional upon a prior willing, must adhere to the underlying basic character of the agent. To be sure, Schopenhauer himself considers the character of an agent to be “inborn” and “unchanging,” in addition to being “empirical,” in the sense that only manifest actions will, over the course of time, reveal to the agent and to the spectator of the agent’s actions the latter’s fundamental and fixed character (FW Hübscher, 107). But on Schopenhauer’s essentially Kantian take on the matter, the character so supposed at the root of an agent’s actions admits of a twofold consideration. As “empirical character,” an agent’s basic practical disposition forms part of the causally determined natural world order, in which agents, along with their individual character, are not any different from other objects and their causative dispositional set-up. But in terms of an agent’s non-empirical, “transcendental” character, to be supposed in accordance with the Kantian distinction between things in themselves and appearances (FW Hübscher, 107), an agent’s will can be considered not subject to natural causality and hence free in a substantial sense. Schopenhauer terms the freedom in question – the only kind of freedom qualified to constitute “freedom of the will” – “transcendental” (FW Hübscher, 107), thereby indicating at once its epistemic elusiveness and its essential founding function for moral responsibility. Moreover, in view of its transcendentally free character, the basic will of the agent is regarded by Schopenhauer as a Kantian thing in itself (FW Hübscher, 107). Schopenhauer also summarizes his essentially Kantian position in pre-Kantian, scholastic terms by

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distinguishing, with regard to the freedom of will, between the acting (operari) and the being (esse, in the sense of both existentia and essentia): with regard to the former, there can be no freedom, with regard to the latter, freedom is at least possible (FW Hübscher, 108; WW I Hübscher, 458 note). 4

Freedom From the Will

In drawing on Kant’s distinction between things in themselves and appearances in general and that between the intelligible and the empirical character of an action in particular, Schopenhauer is explicitly following Kant’s establishment of a conceptual space for freedom outside the natural order and independent of the latter’s causal laws. Yet unlike Kant, Schopenhauer does not populate the conceptual space so created with practically warranted principles and laws (“moral law”) and normatively characterized concepts (“duty,” “imperative”). Given Schopenhauer’s radical rejection of a genuinely practical reason, freedom for Schopenhauer cannot involve prescriptive principles. Instead the freedom attributed by Schopenhauer to the intelligible character of an agent is a freedom due to the latter’s essential identity with the will, both psychologically and cosmologically considered. Accordingly, the freedom of the will countenanced by Schopenhauer is neither the freedom of arbitrary choice nor the freedom of autonomous willing but the freedom of the will qua thing itself from phenomenal principles – in fact, from principles altogether and from any type of rationality or groundedness in reasons of all kinds. In essence, then, the freedom of the will in Schopenhauer is negative: it is freedom from the principle of (sufficient) reason. To be sure, the will so considered to be free, and, moreover, the sole thing that could be considered free, is not a particular individual’s will, much less a particular act of willing, but the will as the essence or core of all being – as the thing in itself behind, but also underneath, the many things as which it appears under the various forms of the principle of sufficient reason. In particular, the will considered in its freedom from the principle of sufficient reason is the will independent (“free”) of the sundering (“individuation”) that the will undergoes in its appearance as world, along with the objects in it, situated and separated from each other by space and time and connected to each other by the law of causality. While Kant assigns practical freedom to its own world, the moral world (“realm of ends in themselves”), Schopenhauer dissociates the world in either perspective – as will and as representation – from the will and its freedom. As the world of representation, to be cognized by the intellect in accordance

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with the latter’s forms and principles, the empirical world is completely subject to the principle of sufficient reason, including the principle’s root forms as law of physically moving and as law of mentally motivating causality. Moreover, the world of the will, for Schopenhauer, is not some supranatural world to be entertained by non-empirical cognition, but the one and only world recognized by Schopenhauer, viz., empirical world, yet considered not as an object of cognitive contemplation but as the arena for volitional activity of all kinds, from blind striving through cognitively mediated desire to ethical volition. Despite their divergent views of the distinction between appearance and thing in itself, Schopenhauer further follows Kant – the Kant of the first Critique and its Third Antinomy, to be precise – by maintaining that the freedom of the human will concerns the latter in its capacity as the thing in itself. On Schopenhauer’s account, in the exceptional case of the human being and specifically with regard to the latter’s non-empirical, noumenal character, the (world) will undergoes manifestation, appearing in the one and only world there is, yet without succumbing to the principle of sufficient reason and the complete causal determination it entails (WW I Hübscher, 324 f.). But on Schopenhauer’s assessment, the true nature of the will’s radical freedom from any law and all reason emerges not in the actions of the individual (though not individuated) will but in the will comprehensively, cosmically considered. According to Schopenhauer, the freedom peculiar to the world will – to the will as such, independent of its individuation – amounts to nothing other than blind striving, without any end or aim and lacking any purpose or meaning. In particular, in its independence of individuated existence (“freedom”), the will involves just as much perpetual destruction as it brings about incessant creation. Moreover, the will as such is to be regarded as indifferent to the very distinction between the destructive and the constructive drive it can be considered to engender. As a force originating outside of all individuation, yet operating by way of individuation, the will as such surpasses and overreaches individual coming into existence and passing away. What seems destruction, or creation, from the viewpoint of individuated existence, is but the will manifesting itself throughout all its appearances. In essence, then, the will, for Schopenhauer, is the “will to live” (Wille zum Leben) (WW I Hübscher, 310). The terminology of life drawn upon by Schopenhauer is meant to convey the dynamic, creative as well as recreative and procreative character of the will that is essentially engaged in self-affirmation through self-manifestation. The freedom of the world will as such from all rationality and individuality that brings endless and aimless striving into the world so willed leads Schopenhauer to identify all individuated existence with pain and suffering. On Schopenhauer’s bleak outlook, the originally free world will, once it

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appears in individuated form, distributed over spatio-temporally coexisting and causally interacting individual beings (human and non-human), results in a world of unrelenting frustration. Every wish and desire reflects a lack and hence involves pain, while any satisfaction results in equally painful boredom, soon to be followed by new painful wishes and their short-lived satisfaction (WW I Hübscher, 60–65). In particular, for Schopenhauer happiness is not a positive and genuine feeling but negatively defined, by the (temporary) absence of pain and suffering. While all individuated existence thus amounts to incessant suffering, the will so manifesting itself under the guise of the world as endless strife and struggle is only affirming itself throughout its multiple and antagonistic appearances. In language informed by the anthropomorphism underlying his identification of the Kantian thing in itself with the will, Schopenhauer regards the world as the self-affirmation of the will. Moreover, Schopenhauer offers his psycho-cosmic portrayal of the world as will, and of the world will as free, in a strictly descriptive vein, with no evaluative statement or prescriptive judgment attached. In approach and method, The World as Will and Representation is a dispassionate, entirely theoretical account of the world as it is to be found and taken as an object of philosophical reflection on its nature and functioning. Even when Schopenhauer, toward the end of Book 4, and hence at the conclusion of the entire work (in its first-edition version), turns to ethical matters, he is not engaged in moral evaluation and recommendation. In line with his overall approach and attitude in The World as Will and Representation, what often is loosely called Schopenhauer’s “ethics” is a conceptually elucidated record of the ethical stance taken on the world resulting from the latter’s recognition as will, historically documented in the lives of exceptional human beings and systematically reconstructed by Schopenhauer’s philosophical analysis of the phenomenon. The ethics – or rather the ethical stance – of resignation, “compassion” (Mitleid) and self-sacrifice that emerges from the final set of reflections of Schopenhauer’s magnum opus is more the sympathetic presentation of a rare ethos than the communication of an attitude to be adopted generally. The systematic significance of the culminating and concluding ethical stance on the world as will taken in Schopenhauer’s main work lies in its expansion of the foundational role of freedom beyond the sphere of the will altogether. Previously featured as an attribute of the will and of nothing else besides the will, given that everything else stands under the will’s manifestational form of necessary individuation and sufficient grounding, freedom finally emerges as freedom from the will – as liberation from the primacy, even the tyranny of the all-powerful world will and its will world.

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To be sure, if the will is truly primary, the eventual emancipation from the will, countenanced by Schopenhauer, has to take place by means of the will itself, even if by way of sidelining the will. To the extent that the final form of freedom sought in Schopenhauer’s system involves an overcoming of the will – logically speaking, the negation of the will, to match and undo the will’s earlier affirmation or rather self-affirmation – it has to be a self-overcoming or a self-negation on the part of the will itself. Schopenhauer’s experiential point of departure for introducing the ethical stance are saintly figures from religious history and mythology that exhibit resignation and engage in practices of mortification and asceticism. In his philosophical reflection on these cases and examples, Schopenhauer attributes to the ethically exceptional person a superior cognition that is not necessarily conceptually explicit, but at least intuitively grasped by the ethico-religious saintly hero: the complete insight into the nature of the world as will – that the world is, at bottom, nothing but will and that the worldly way of the will is individuation, bringing with it nothing but suffering and pain. On Schopenhauer’s account, this comprehensive cognition becomes ethical when the individuals in question, in response to the insight achieved, aim at destroying and denying the will’s hold on them, on their minds and on their bodies. In particular, the ethically significant cognition functions not, like other kinds of cognition, as a motivating ground (“motive”) for some action, but as a demotivating ground (“quietive”) for inaction (WW I Hübscher, 321 and 347). In the grandiose manner of expression cultivated by Schopenhauer for the ethics of resignation and its denial of the self and the world alike, it is not so much the ethically excelling individuals that negate their own will and body, as that the will comprehensively considered – the world will – is engaging in self-negation upon self-cognition. Considered that way, the freedom from the will finally achieved is also the self-liberation of the will – its self-overcoming in and through rare ethical beings able to bring an end to the world as will, at least to the world as it affects them through pain and suffering. Schopenhauer seeks to remove the threat of inconsistency between the previously maintained primacy und ultimacy of the will in relation to the world, along with everything and everyone in it, and the concluding claim to ethical (psychic and cosmic) self-liberation from the will. To that effect, he takes recourse to the will’s systematic supplement and correlate, the “subject of cognition,” which he regards as equally removed from the principle of sufficient reason that applies only to objects of cognition but not to the formal, universal subject of cognition underlying, as a necessary condition, all cognitions and their objects (WW I Hübscher, 315). Based on the tripartite ontological scheme of absolute will, absolute subject and the world, together with the ensuing “duplicity” (WW I Hübscher,

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313 note) involved in human existence (“subject of cognition,” “subject of volition”), Schopenhauer depicts a psychodrama that is at once a cosmic drama: the intellect, upon achieving complete insight into the world (and the self) “as will,” frees itself from being a mere function of the body (brain) and, by extension, a mere manifestation of the will, in order to retrieve its co-original status as absolute subject of cognition, free from both the will and the principle of sufficient reason. Or so the story goes, as told by Schopenhauer in an effort to make sense of the ethical stance of resignation with the means provided by the post-Kant master narrative of the absolute and its appearance, shared by Fichte, Schelling and Hegel and recycled with a different, less divine protagonist (the irrational will) by Schopenhauer. In particular, Schopenhauer’s paradoxical pairing of the will’s affirmation as the world (including the self) with the will’s negation and denial of the self and the world altogether takes up key conceptions of post-Kantian philosophy: the “pragmatic history of the mind” in Fichte, the “history of selfconsciousness” in Schelling and the “phenomenology of spirit” in Hegel. To be sure, Schopenhauer avails himself of the German-idealist discourse for a distinctly different purpose and project, viz., a critique of reason intent on exhibiting the narrow range and reach of reason in a world marked more by the absence of reason than by its ever increasing presence, as alternatively assumed by Kant and the post-Kantians. Still Schopenhauer draws on the German-idealist narrative of development, ascent and progress to convey the unity and identity of his own systematic account of self and world. As conveyed in Schopenhauer’s succinct self-interpretation, The World as Will and Representation is but the carefully arranged and executed unfolding of “the one thought” (der Eine Gedanke; WW I Hübscher, 306, 322) that the world is the process of self-cognition of the will – by manifesting itself as the world, by achieving affirmative selfcognition through the will’s most advanced function as intellect and by undergoing negative self-cognition to the point of self-negation as a result of complete self-cognition.14 The itinerary of the will and the world so rendered also agrees with a further formal feature of Kantian and post-Kantian thinking, viz., the systematic centrality of freedom. As a system of freedom, Schopenhauer’s philosophy is about freedom throughout: from the freedom of the will to the freedom from the will, even if the former form of freedom is severed from reason and if the latter form of freedom reaches beyond being to non-being – to what the famous final

14  On the unity and identity of Schopenhauer’s philosophy as the systematic unfolding of the “one thought,” see Malter (1988) and Atwell (1995).

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word of the last book of The World as Will and Representation vertiginously refers to as “nothingness” (Nichts; WW I Hübscher, 464). Bibliography Atwell, John E. (1995), The Character of the World. The Metaphysics of Will, Berkeley, CA. Fichte, Johann Gottlieb (2005), The System of Ethics, ed. and transl. Daniel Breazeale and Günter Zöller, Cambridge. James, David/Zöller, Günter (ed.) (2016), The Cambridge Companion to Fichte, Cambridge: Cambridge. Kant, Immanuel (1900 ff.), Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin. [cited in text by reference to volume and page] Malter, Rudolf (1988), Der Eine Gedanke. Hinführung zur Philosophie Arthur Schopenhauers, Darmstadt, reissued 2010. Zöller, Günter (1998), Fichte’s Transcendental Philosophy. The Original Duplicity of Intelligence and Will, Cambridge. Zöller, Günter (1999), “Schopenhauer on the Self,” in: The Cambridge Companion to Schopenhauer, ed. Christopher Janaway, Cambridge, 18–43. Zöller, Günter (2000), “German Realism. The Self-Limitation of Idealist Thinking in Fichte, Schelling and Schopenhauer,” in: The Cambridge Companion to German Idealism, ed. Karl Ameriks, Cambridge, 200–218. Zöller, Günter (2006), “Von Reinhold zu Kant. Zur Grundlegung der Moralphilosophie zwischen Vernunft und Willkür,” in: K. L. Reinhold. Am Vorhof des Idealimus, ed. Pierluigi Valenza, Pisa/Rome, 73–91; simultaneous publication as special issue K. L. Reinhold. Alle Soglie dell’idealismo in Archivio di Filosofia 73 (2005), 73–91. Zöller, Günter (2012), “Schopenhauer’s Fairy Tale About Fichte. The Origin of The World As Will and Representation in German Idealist Thought,” in: Blackwell Companion to Schopenhauer, ed. Bart Vandenabeele, Oxford, 385–401. Zöller, Günter (2015), Res Publica. Plato’s “Republic” in Classical German Philosophy, Hong Kong and Albany, NY. Zöller, Günter (2017), “‘The World Knot.’ Schopenhauer’s Early Account of the Subject of Knowing and Willing in the Historic and Systematic Context of German Idealism,” in: Schopenhauer’s Fourfold Root, ed. Jonathan Head and Dennis Vanden Auweele, London, 62–79. Zöller, Günter (forthcoming), “Action, Interaction and Inaction. Post-Kantian Accounts of Thinking, Willing and Doing in Fichte and Schopenhauer,” in: Philosophical Accounts of Action from Suarez to Davidson, ed. Constantine Sandis, Oxford.

Teil 4 Kants systematische Relevanz



Autonomie der Vernunft und praktische Erkenntnis Thomas Buchheim Die Philosophie Kants ist wahrscheinlich der entschiedenste und kräftigste philosophische Versuch, den es je gegeben hat, die Freiheit als den Wesenskern des Menschen, der ihn zudem exklusiv auszeichnet, zur Geltung zu bringen. Kein anderes Wesen, dessen Existenz wir objektiv sicher sein können, besitzt nach dieser kantischen Auffassung auch nur annähernd der Freiheit vergleichbare Züge, und dank ihrer bestimmt der Mensch alles, was über bloße Natur hinausgeht. Erkauft wird diese exklusiv bestimmende Kraft der menschlichen Freiheit bei Kant freilich damit, dass sie auch nicht in einem gemeinsamen Kontext mit Natur stehen, sondern nur praktisch – im menschlichen Tun – real sein kann, und folglich auch nicht theoretisch als objektive Realität oder gegebene Eigenschaft des Menschen erkannt werden kann. Zudem, dass sie von allem Praktischen nur das moralisch-Praktische angeht, während z.B. künstlerische oder kreative Freiheit, aber auch die klassische Handlungsfreiheit, die das politisch-liberalistische Konzept menschlicher Freiheit begründet, außer Betracht bleiben. Sie sind, wenn man Kant da Glauben schenken würde, nichts anderes als Geflechte von Naturprozessen, die sich unter heteronomen Gesetzen abspielen, die höchstens indirekt mit Freiheit zu tun haben. Ich persönlich glaube das nicht und kann mich deshalb freiheitstheoretisch nicht auf der Folie Kants ansiedeln, auch wenn ich die fast unangreifbar sichere Burg, die Kant für die praktische Wirkmacht der Freiheit in seinem Sinne gebaut hat, zutiefst bewundere. 1

Zwei Argumente gegen Kants Freiheitsverständnis

Die fast unangreifbar sichere Burg der Kantischen Freiheit ist durch einen ihrer unentbehrlichen Verteidigungsringe, wo sie zugleich am empfindlichsten angreifbar scheint, allerdings nicht nur schon von Seiten der Zeitgenossen Kants, sondern auch in allerjüngster Zeit wieder schweren Angriffen ausgesetzt, nämlich an der Problemstelle, wie sich eine moralisch definierte Freiheit zur Freiheit des unmoralischen Tuns der Menschen verhalte, wobei ‚unmoralisch’ notwendiger Weise als wider- oder anti-moralisch zu verstehen ist, d.h. als verwerflich oder böse, nicht aber als bloß nichtmoralisch oder moralisch neutral. Wer die Freiheit moralisch definiert, hat prima facie auf Anhieb das

© koninklijke brill nv, leiden, 2019 | doi:10.1163/9789004383586_017

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Problem, alles Unmoralische zugleich für unfrei oder nichtfrei erklären zu müssen. Dieses Problem ist auch bekannt und viel diskutiert unter dem Problem des „positiven Bösen“, d.h. eines Bösen, das nicht privativ als bloß unterlaufener oder relativer Mangel eines Guten aufgefasst werden kann, sondern ein frei getanes, frei gewolltes und nur darum auch zurechenbares Böses ist. Kant schreibt zu dieser Angelegenheit in einer berühmten Anmerkung zum Ersten Stück seiner Religionsschrift: Wenn das Gute = a ist, so ist sein contradictorisch Entgegengesetztes das Nichtgute. Dieses ist nun die Folge entweder eines bloßen Mangels eines Grundes des Guten = 0, oder eines positiven Grundes des Widerspiels desselben = – a; im letztern Falle kann das Nichtgute auch das positive Böse heißen. […] Wäre nun das moralische Gesetz in uns keine Triebfeder der Willkür, so würde Moralisch-gut (Zusammenstimmung der Willkür mit dem Gesetze) = a, Nicht-gut = 0, dieses aber die bloße Folge vom Mangel einer moralischen Triebfeder = a x 0 sein. Nun ist es aber in uns Triebfeder = a; folglich ist der Mangel der Übereinstimmung der Willkür mit demselben (= 0) nur als Folge von einer realiter entgegengesetzten Bestimmung der Willkür, d.i. einer Widerstrebung derselben = – a, d.i. nur durch eine böse Willkür, möglich; und zwischen einer bösen und einer guten Gesinnung (innerem Princip der Maximen), nach welcher auch die Moralität der Handlung beurtheilt werden muß, giebt es also nichts Mittleres. (RGV AA 6, 22 f. Fn.) Kants Freiheitsverständnis ist demnach darauf festgelegt, dies – ein solches positiv Böses als frei betriebenes Widerspiel des moralisch Guten – konsistent denken zu können. Denn würde das unmoralische Tun aus der Freiheit herausfallen, also ein Tun unter heteronomen Gesetzen der Natur sein, dann würde, wie schon Reinhold argumentiert hat, auch der Gegenfall, also das moralische, moralisch-gute Tun nicht der individuellen Freiheitsausübung des Täters, sondern der in ihm bloß ungehinderten Autonomie der allgemeinen praktischen Vernunft zuzuschreiben sein. Ein Zustand, den Reinhold und frühe Kritiker Kants als eine Art „Fatalismus“ der Vernunft gekennzeichnet haben, der so gesehen auch nicht gerechtfertigter Weise als ‚frei’ angesehen werden könne. Denn wo die allgemeine Vernunftautonomie auf wenig heteronome Hindernisse stößt, da setzt sich das moralisch-Gute wie eine Art Schicksal durch, während überall sonst die heteronomen Verhältnisse herrschend bleiben, die wir im Menschen als ‚unmoralisch’ oder ‚böse’ bezeichnen, obwohl sie dies streng genommen gar nicht sind, weil heteronome Verhältnisse nicht der Freiheit der Betroffenen zurechenbar sind.

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Dieses Kant in große Schwierigkeit bringende Argument Reinholds und anderer hat in jüngster Zeit Jörg Noller wieder ins Spiel der aktuellen Diskussion gebracht und die Wege erkundet, wie die nachkantische Philosophie (und Kant selbst) ihr mit mehr oder weniger Erfolg zu entgehen meinten.1 Schon Fichte in seiner Sittenlehre von 1798 hat bekanntlich versucht, aus dieser Zwickmühle dadurch einen Weg zu bahnen, dass er der sittlich reflektierenden Denktätigkeit des einzelnen eine „Trägheit“ (inertia), dies in ausreichendem Maße zu tun, entgegenstellt. Wer diese Trägheit in genügendem und das Gewissen zufriedenstellenden Maß überwindet, der tut aus individueller Freiheit das moralisch Gute; wer dagegen der Trägheit zu rasch und ohne bis zur moralischen Gewissheit zu gelangen nachgibt, der tut ebenso frei das Böse. Hier allerdings wäre, wie in jüngster Zeit Michelle Kosch klar gemacht hat,2 das Böse nicht mehr ein individuell positives Widerspiel des moralisch Guten (obwohl Fichte die Trägheit ausdrücklich „positiv“ nennt (System IV, 199) und mit Kants radikalem Bösen gleichsetzt), sondern in einer Weise privativ verstanden, die nach Kosch (und da stimme ich ihr zu) nicht länger den Ausdruck eines „positiven Bösen“ verdienen würde: „[…] the intellectual element which it was so important to preserve (to distinguish human evil from mere animality) really does have to be present in limited quantity (or with limited effectiveness) in order for evil to be possible.” Und so wäre das Böse in dieser Form nicht mehr “an alternative to the picture on which evil is a deficiency, and particularly a deficiency in the exercise of the intellect”. Michelle Kosch hat dies pointiert als Einwand gegen Schellings Versuch, ein positives Böses zu etablieren, vorgebracht, doch ist Kant, wie schon gesagt, genauso darauf verpflichtet, die moralische Alternative zum Guten, als positiv oder aus Freiheit und praktischer Vernunft stammend zu betrachten, wenn anders die Freiheit selbst moralisch definiert wird.3 Welche Rettung also gibt es für Kant dazwischen, entweder mit Fichte das individuell-positive Böse preiszugeben und stattdessen ein nicht ausreichend reflektiertes Tun als privativ-Nichtgutes zu akzeptieren, oder dem moralischen Fatalismus zu verfallen, 1  Noller, Jörg: Die Bestimmung des Willens. Zum Problem individueller Freiheit im Ausgang von Kant, Freiburg/München 2015. Für das generelle Problem der Zurechenbarkeit des Bösen im Rahmen von Kants Auffassung der Freiheit als Autonomie vgl. ebd. S. 23–28; 290 f..; zum speziellen Begriff des “intelligiblen Fatalismus” siehe S. 183–188. 2  Kosch, Michelle [unpublizierter Tagungsbeitrag]: „The moral psychology of evil in Schelling’s Freiheitsschrift“, contributed paper to Schellings Philosophie der Freiheit (erster Workshop 20.– 21.7. 2016), hg. v. Thomas Buchheim (in Vorbereitung). Zitiert mit freundlicher Genehmigung der Verfasserin. 3  Vgl. zu diesem Problem bereits Michelle Kosch früheres Buch Freedom and Reason in Kant, Schelling, and Kierkegaard, Oxford 2006, S. 61–64 (zu Kant) und 91–98 (zu Scheling).

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nach dem allein das Gute in der vollen Autonomie der Vernunft gründet, während das positive Böse völlig erratisch und unbegreiflich bleibt? In dem bereits erwähnten Vortrag hat Kosch diese Alternativen sehr klar in Form einer Zwickmühle aus zwei „claims“ gefasst, von denen offenbar eines bestritten werden müsste, obwohl aus Kantischer und auch sonst moralischrationalistischer Sicht eigentlich beide gehalten werden sollten: (a) the rationality of an action is a necessary condition of the freedom of that action. (Sofern eine böse Handlung frei ist, muss sie notwendigerweise vernünftig sein.) und (b) the rationality of an action is a sufficient condition of the moral goodness of that action. (Vernünftig zu sein ist für sich hinreichend, um eine Handlung als moralisch gut zu qualifizieren.) Wir scheinen nicht umhin zu kommen, entweder den Zusammenhang zwischen Vernünftigkeit und Freiheit einer Handlung preiszugeben, oder aber den zwischen Vernünftigkeit und moralischem Gutsein zu leugnen. Oder, als dritte Möglichkeit, können wir sagen, dass ein geringerer Grad an Vernünftigkeit das Böse vom Guten unterscheidet. Damit käme jedoch die moralische Freiheitsdefinition in Gefahr. Ich möchte im folgenden untersuchen, ob und wie Kant dieser Zwickmühle und den beiden Einwänden des intelligiblen Fatalismus einerseits und der Unmöglichkeit eines positiven Bösen andererseits entgehen kann. Der Lösungskern, den Kant nach meiner These für sich in Anspruch nimmt, besteht darin, dass praktische Vernünftigkeit ebenso wie theoretisches Verstehen, insofern beide nicht nur Grundsätze, Begriffe (Kategorien) und Regularien zur Stiftung und Erhaltung von interner Transparenz, durchgehend klarer Artikulation und reflexiver Konsistenz in Betracht gezogener Verhältnisse wie eine rationale Ausstattung zur Verfügung haben, sondern diese für konkrete Erkenntnisgewinnung auch einsetzen, nicht mehr nur graduell (mehr oder weniger trennscharf, klar und differenziert) gestuft sind, sondern vektoriell (richtungsmäßig) unterschiedliche Bedeutung annehmen, je nachdem, ob mit dem Einsatz solcher rationaler Erkenntnismittel etwas objektiv richtig erkannt wird oder nicht. Wo es erklärtermaßen um eine Erkenntnis geht, da kann das Falsche und Verfehlte nicht als Privation oder Minderung rationaler Verfahren, sondern muss bei möglich gleichem Einsatz von Rationalität als Irrtum oder Verfehlung ein umgekehrt gerichtetes Gegenteil davon sein. Auch das Verfehlte

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logisch zu fassen ist deshalb im vollen Sinne ein Modus von Verstehen und Vernunfthaben, selbst wenn jemand nicht bemerkt, dass es verfehlt oder falsch ist. Und die Vernunft, bevor sie entweder definitiv das Richtige oder definitiv das Verfehlte vernünftig gefasst oder erkannt zu haben vermeint, ist auch schon vernünftig in einem anderen, Erkenntnis aber erst vorbereitenden oder ermöglichenden Sinn. Folglich ist auch im aktuellen Engagement für die Gewinnung von Erkenntnis das logische oder rationale Fassen des verfehlten Gegenteils notwendigerweise ein Modus dieser Vernünftigkeit. Vernünftigkeit wäre gar nicht was sie auszeichnet, wäre sie nicht im Verfehlten dieselbe, die sie auch im Wahren ist. Es ist also, im Ganzen gesehen, etwas anderes (ein anderer Sinn von Rationalität), gewisse Grundsätze zu haben, unter Beachtung derer man vernünftig operiert, und wirklich Gegenstände zu erkennen, auf die man sich mit Vernunft und im Einklang mit jenen Grundsätzen richtet. Das zweite ist in der bloßen Autonomie oder Selbstgesetzgebung der Vernunft per se noch gar nicht enthalten. Nicht insofern ich mir oder die praktische Vernunft sich einen rein formalen Grundsatz autonom gibt, ist auch schon ein erfasstes Objekt, das den Inhalt meines Wollens abgibt, bereits gut und umgekehrt: Nicht insofern das Objekt, das den Inhalt meines Wollens abgibt, tatsächlich gut ist, ist die praktische Vernunft autonome Herrin ihrer Grundsätze. Die Überlegungen Kants zielen von Anfang an vielmehr genau in die Gegenrichtung: Die Willensbestimmung nach dem Vernunftgesetz darf gerade nicht dem entnommen werden, was einen vorausgesetzten Gegenstand meines Wollens auszeichnet. Der Gegenstand, kein möglicher Gegenstand darf den Grund für die Bestimmung meines Willens abgeben, sondern vielmehr die allgemeine Form des Gesetzes soll hinreichender Grund dafür sein. Dann aber, wenn es sich so verhält, und beides unabhängig ist (das Gutsein des Gegenstandes und die Autonomie des Grundsatzes der praktischen Vernunft), gerade dann kommt es darauf an zu erkennen, ob und wie etwas, das ich wollen kann, d.h. eine Handlung, eben im Einklang mit diesem autonomen Vernunftgesetz ist oder nicht. 2

Gutes und Böses als Gegenstände praktischer Erkenntnis

Das Lehrstück Kants, in dem er diesen inneren Unterschied der praktischen Vernunft (zwischen Haben von rationalen Grundsätzen und Begriffen einerseits und Gewinnung einer Erkenntnis über gewisse Gegenstände andererseits) erörtert und auf ihm seine Folgerungen aufbaut, findet sich im zweiten Hauptstück der Kritik der praktischen Vernunft, einem Herzstück

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von Kants Moralphilosophie, das, so erstaunlich dies auch klingen mag, bis heute einer der hermeneutisch am wenigsten verstandenen Teile von Kants Freiheitsdenken ist.4 Während das Erste Hauptstück von den „Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft“ handelt und die „Autonomie“ der reinen praktischen Vernunft begründet (= Lehrsatz IV AA 5, 33–39), behandelt das Zweite Hauptstück den Begriff eines „Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“. Denn ohne einen Gegenstand hätte die reine praktische Vernunft, obwohl Hort eines praktischen Gesetzes und eines reinen moralischen Willens, sich stets diesem Gesetz gemäß zu bestimmen, noch keine bestimmte Richtung, in der sie a priori nur aus sich heraus und ohne empirische Anleihen wollen und handeln würde. Erst durch einen Gegenstand, den sie in seiner Art mithilfe dieser rationalen Ausstattung zu erkennen und zu beurteilen vermag, ist vielmehr klar zu machen, was die reine praktische Vernunft anstreben und was sie vermeiden muss, um ihrem Gesetz im Handeln auch wirklich zu entsprechen. Aber der betreffende Gegenstand, auf den die praktische Vernunft sich fokussiert, darf nicht, so erklärt Kant, aus der Empirie und sinnlichen Erfahrung geschöpft werden (wie z.B. das Nützliche oder Wünschenswerte oder Angenehme), sondern muss etwas sein, das die praktische Vernunft allein mit Blick auf ihr Gesetz und dessen allgemeine Form zu verwirklichen bzw. zu vermeiden bestrebt wäre, und das ist nach Kant in erster Hinsicht „das Gute“ und in zweiter „das Böse“. Die alleinigen Objecte einer praktischen Vernunft sind also die vom Guten und Bösen. Denn durch das erstere versteht man einen notwendigen Gegenstand des Begehrungs-, durch das zweite des Verabscheuungsvermögens, beides aber nach einem Princip der Vernunft. (KpV AA 5: 58) Es scheint von daher klar zu sein, dass die praktische Vernunft außer einer Ausstattung mit Regeln und Begriffen praktischer Rationalität auch eine Erkenntnisleistung erbringen muss, die ihr bestimmt, was das Gute, das man unbedingt tun, und was das Böse, das man lassen soll, sei. Wie stellt sich Kant

4  In jüngerer Zeit haben zwei relativ neue Dissertationen (Stephan Zimmermann: Kants ‚Kategorien der Freiheit’, Berlin/Boston 2011 und Heiko Puls: Funktionen der Freiheit. Die Kategorien der Freiheit in Kants ‚Kritik der praktischen Vernunft’, Berlin/Boston 2013) sowie ein Sammelband zu den Kategorien der Freiheit (Stephan Zimmermann Hg.: Die ‚Kategorien der Freiheit’ in Kants praktischer Philosophie. Historisch-systematische Beiträge, Berlin/ Boston 2016), zu diesem Lehrstück Kants bedeutend mehr Klarheit geschaffen als früher.

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diese Erkenntnisleistung genauer vor und wie ist sie nach seiner Auffassung zu erbringen?5 Wo immer eine Erkenntnisleistung in Bezug auf Gegenstände (auch wenn diese nur praktisch als ‚zu wollen’ oder ‚zu verabscheuen’ gedacht werden) erbracht wird, da ist klar, dass mit vier möglichen Ausgängen eines Erkenntnisunternehmens zu rechnen ist: Entweder wird das Wahre (bzw. hier: das Gute) als wahr (bzw. gut) erkannt oder das Falsche (bzw. Böse) als falsch oder verwerflich; oder es wird das Wahre (Gute) vermeintlich als falsch oder verwerflich und das Falsche (Böse) vermeintlich als wahr (bzw. gut oder zulässig) verkannt. Entscheidend ist, wie schon eingangs hervorgehoben, dass in Absicht auf Erkenntnis eines Gegenstands nicht ein gradueller Unterschied an Rationalität oder Reflektiertheit zwischen dem Wahren und Falschen besteht, sondern ein vektorieller oder richtungsmäßiger Unterschied des Treffens oder Verfehlens, der in Bezug auf denselben Erkenntnisgegenstand Anwendung findet. So schreibt auch Kant auffälliger Weise: Unter dem Begriffe eines Gegenstandes der praktischen Vernunft verstehe ich die Vorstellung eines Objects als einer möglichen Wirkung durch Freiheit. Ein Gegenstand der praktischen Erkenntniß als einer solchen zu sein, bedeutet also nur die Beziehung des Willens auf die Handlung, dadurch er oder sein Gegentheil wirklich gemacht würde, und die Beurtheilung, ob etwas ein Gegenstand der reinen praktischen Vernunft sei, oder nicht, ist nur die Unterscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, diejenige Handlung zu wollen, wodurch, wenn wir das Vermögen dazu hätten (worüber die Erfahrung urtheilen muß), ein gewisses Object wirklich werden würde. (KpV 5: 57) Die praktische Erkenntnis ist Beziehung der praktischen Vernunft (des Willens) auf eine durch Freiheit mögliche Handlung derart, dass durch sie entweder der Gegenstand (das Gute) oder sein Gegenteil (das Böse) wirklich 5  Dass es sich um praktische Erkenntnis handelt, bekundet Kant an folgender Stelle: „dadurch es denn geschieht, daß, da es in allen Vorschriften der reinen praktischen Vernunft nur um die Willensbestimmung, nicht um die Naturbedingungen (des praktischen Vermögens) der Ausführung seiner Absicht zu thun ist, die praktischen Begriffe a priori in Beziehung auf das oberste Princip der Freiheit sogleich Erkenntnisse werden und nicht auf Anschauungen warten dürfen, um Bedeutung zu bekommen, und zwar aus diesem merkwürdigen Grunde, weil sie die Wirklichkeit dessen, worauf sie sich beziehen, (die Willensgesinnung) selbst hervorbringen, welches gar nicht die Sache theoretischer Begriffe ist.“ Sie bringen in Gestalt der Erkenntnis des Guten und Bösen diese Gegenstände (oder den Gegenstand in richtiger oder verkehrter Fassung) hervor.

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gemacht würde. Das Böse ist also nicht ein anderer oder zweiter Gegenstand der reinen praktischen Vernunft oder praktischen Ratio, sondern eine umgekehrt gerichtete Bezugnahme des rationalen Wollens auf ihn, den Gegenstand in der Einzahl, d.h. „das Gegenteil“ von ‚gut’ oder von „zu wollen“ für die reine praktische Vernunft. Nun wäre zwar gewiss die reine praktische Vernunft nach Kants Auffassung dagegen gefeit, in einer Erkenntnis und Beurteilung ihres Gegenstands einem Irrtum oder der Verkehrung ins Böse zu verfallen. Aber die reine praktische Vernunft hat eben auch noch keinen bestimmten Inhalt, in Bezug auf den ihre Erkenntnisleistung zu erbringen wäre. Diesen vielmehr bekommt sie nach Kant durch die Vorstellung von gewissen durch ihre Freiheitskausalität möglichen Handlungen, die daraufhin zu beurteilen sind, ob sie gut oder böse, d.h. für reine Vernunft zu wollen oder nicht zu wollen sind. […] die Frage ist nur, ob wir eine Handlung, die auf die Existenz eines Objects gerichtet ist, wollen dürfen, wenn dieses in unserer Gewalt wäre, mithin muß die moralische Möglichkeit der Handlung [der physischen] vorangehen; denn da ist nicht der Gegenstand, sondern das Gesetz des Willens der Bestimmungsgrund derselben. (KpV 5: 58) Noch deutlicher im selben Sinn spricht die Charakterisierung von Funktion und Inhalt der Kategorientafel der Freiheit durch Kant: Man wird hier bald gewahr, daß in dieser Tafel die Freiheit als eine Art von Causalität, die aber empirischen Bestimmungsgründen nicht unterworfen ist, in Ansehung der durch sie möglichen Handlungen als Erscheinungen in der Sinnenwelt betrachtet werde, folglich sich auf die Kategorien ihrer Naturmöglichkeit beziehe, indessen daß doch jede Kategorie so allgemein genommen wird, daß der Bestimmungsgrund jener Causalität auch außer der Sinnenwelt in der Freiheit als Eigenschaft eines intelligibelen Wesens angenommen werden kann, […]. (Vgl. KpV AA 5: 67) Es ist also klar, dass die Willensbestimmung in Bezug auf das Gute und Böse irgendwelche durch Freiheit mögliche Handlungen oder wenigstens Handlungstypen heranziehen muss, um mit Blick auf sie diese Begriffe (gut oder böse? zu wollen oder zu verabscheuen?) und damit ihre Gesinnung diesbezüglich zu bestimmen. Das Missliche und zugleich nach Kant Unvermeidliche ist nun aber, dass eben jene vorgestellten Handlungen, die mir durch Freiheit möglich wären, „als Erscheinungen in der Sinnenwelt“ in Betracht zu ziehen sind. Sie haben

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also ein sinnliches oder Erscheinungsprofil in der natürlichen Welt, in der sie gegebenenfalls getan werden würden. Die zu leistende Erkenntnis oder Beurteilung solcher Handlungen muss also, um zu ihrem Ziel kommen zu können, immer die zumindest grob typisierten sinnlichen Eigenschaften und Umstände von Handlungen so zu gewissen Kategorien oder Bestimmungen der praktischen Vernunft in Beziehung setzen, dass ihre moralische Relevanz und Möglichkeit (oder Unmöglichkeit) überhaupt kenntlich und dann auch beurteilbar wird. Wir müssen, mit einem Wort gesagt, die aus Freiheit möglichen Handlungen mithilfe von „Kategorien der Freiheit“ moralisch formatieren, um dann erst erkennen zu können, ob sie moralisch möglich („erlaubt“) oder sogar notwendig („Pflicht“) oder unmöglich („pflichtwidrig“) und, wenn Pflicht, ob sie „vollkommene“ oder „unvollkommene“ Pflicht sind.6 Das Erkenntnisziel ist also die moralische „Modalität“ der vorgestellten Handlungen und damit ihre moralische Wertigkeit als „gut“ oder „böse“, während der entscheidende Vorbereitungsschritt dazu ihre Formatierung durch die übrigen Kategorien der Freiheit darstellt, die wir, d.h. ein jedes moralische Subjekt, auf dem Weg zur moralischen Willensbestimmung zu leisten haben. Wir müssen nämlich, mit Kant näher betrachtet, eine solche durch Freiheit als möglich vorgestellte Handlung (als Erscheinung in der Sinnenwelt) zunächst der „Quantität“ nach formatieren, ob sich in ihr nur „Willensmeinungen des einzelnen Individuums“ ausdrücken oder eine bestehende „Vorschrift“ nach gewissen Prinzipien für alle gleichartig interessierten Handlungssubjekte, oder sogar ein „Gesetz“ der Freiheit von praktisch vernünftigen Subjekten überhaupt. Weiterhin müssen wir nach Kategorien der „Qualität“ beurteilen, ob die betreffende Handlung nach einer „Regel des Begehens“ oder nach „Regeln des Unterlassens“ oder solchen der „Ausnahme“ fällig ist, ob sie ferner (nach Kategorien der „Relation“) Beziehung „auf die Persönlichkeit“ (wie z.B. eine Lüge) oder nur „den Zustand der Person“ (wie etwa eine private Zurechtweisung) oder „wechselseitig einer Person auf den Zustand der andern“ (z.B. eine öffentliche Danksagung) haben würde.7 Nur dann, wenn man diese moralische Vorformatierung korrekt und nicht durch irgendwelche Umstände oder Verfassungen korrumpiert durchführt, wird man am Ende mit den „Kategorien der Modalität den Übergang von praktischen Principien überhaupt zu denen der Sittlichkeit“ (KpV AA 5: 67) 6  Ich folge hier der Auffassung des Verhältnisse zwischen Modalitätskategorie und den übrigen Kategorien der Freiheit, wie es von Jochen Bojanowski 2015 (“Categories of Freedom as Categories of Practical Cognition”, in: Kantian Review 20, 2015, 211–234) m.E. schlüssig dargestellt wurde. 7  In Anführungszeichen setze ich hier alle von Kant aufgeführten „Kategorien der Freiheit in Ansehung der Begriffe des Guten und Bösen“ KpV AA 5: 66.

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richtig vollziehen und die Erkenntnis des Guten oder Bösen wahrheitsentsprechend zum Abschluss führen. Es ist aber klar, dass jenes Geschäft der moralischen Formatierung der Handlungen in ihrem sinnenweltlichen Profil die Einbruchsstelle für Unlauterkeiten, Korruption und Selbstbetrug aller Art sein kann, die zu einem falschen und verwerflichen Beurteilungsergebnis führen können. Zum Beispiel könnte man argumentieren, dass strenge Sicherheitsbestimmungen für das Anbohren von Ölquellen auf hoher See im Interesse aller Firmen sind, die Lizenz und Potential zum Abbau solcher Ressourcen haben (denn ohne sie gäbe es nur den Raubbau des risikofreudigsten Wettbewerbers unter Verdrängung aller anderen, bis dieser einem zu hohen Risiko erliegen würde). Da jedoch das Primärinteresse solcher Firmen der rentablen Ölgewinnung gilt, müssen im Ausnahmefall bei Entstehung allzu hoher Kosten, gewisse Lockerungen der Sicherheitsregeln erlaubt sein, um insgesamt den allgemein hohen Standard solcher Regeln nicht generell absenken zu müssen. In solchen Fällen hätten wir, wie oben erklärt, zwar den Einsatz praktischer Rationalität im Modus des Erkennens vorliegen, aber damit in umgekehrtem Sinn „das Gegenteil“ ihres eigentlichen Gegenstands ausgerichtet. Es ist deshalb von großer, ja entscheidender Bedeutung, dass zwar die Kategorien der Freiheit oder praktischen Begriffe a priori für sich genommen, leicht in ihrer moralischen Modalität zu erkennen sind, aber nicht ebenso, ob sie auch auf die sinnlichen Eigenschaften und Umstände der vorgestellten Handlungen korrekt und ohne Tadel bezogen wurden. Es ist deshalb möglich, gerade durch eine (korrupte oder unlautere) Absolvierung des fälligen Erkenntnisschritts der praktischen Vernunft und trotz der nach wie vor in der reinen praktischen Vernunft bestehenden „Form eines reinen Willens“ (KpV AA 5: 66) einer Verkehrung des eigenen Wollens ins Böse durchaus schuldhaft aufzusitzen. Denn gerade weil nach Kant mit der „Form des reinen Willens“ in der reinen Vernunft auch der Maßstab des Wahren oder Richtigen in unserer Vernunft vorfindlich ist (anders als bei der theoretischen Erkenntnis), ist ein gewisses „positives Widerspiel“ in unseren rationalen Operationen (der zu erbringenden Formatierungsleistung) auf dem Weg zur Erkenntnisgewinnung verlangt, damit wir zu einem Fehlresultat gelangen, und d.h. im praktischen Fall: eine böse Willensgesinnung hervorbringen.8 Dies unterscheidet also den Fall 8  Dies Widerspiel, das uns zu einem Fehlresultat bei der praktischen Erkenntnis gelangen lässt, bezeichnet Kant in der Metaphysik der Sitten als „Unvermögen“ (MdS AA 6, 227). Es ist aber keineswegs der Fall, dass wir das Wort ‚Unvermögen’ immer als Mangel oder Minderung eines Vermögens und damit bloß privativ verstehen müssen; wir sprechen z.B.

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der praktischen Erkenntnis von der theoretischen Erkenntnis unabhängiger Objekte. Bei letzterer sind Fehlresultate nicht schuldhaft und sie verlangen kein positives Widerspiel bei der Absolvierung all ihrer rationalen Vorbereitungsschritte. Vergleichbar bleiben sie aber dennoch darin, dass der Irrtum eine umgekehrt gerichtete Fassung desselben ist, was zur Erkenntnis gebracht werden sollte. Wir müssen den komplizierten und bisher in der Literatur noch nicht völlig eindeutig geklärten Gedankengang Kants noch einmal an den langen und schier unverständlichen Sätzen des Kapitels über die Kategorien der Freiheit nachvollziehen: Da nun die Begriffe des Guten und Bösen als Folgen der Willensbestimmung a priori auch ein reines praktisches Princip, mithin eine Causalität der reinen Vernunft voraussetzen: so beziehen sie sich ursprünglich nicht […] auf Objecte, wie die reinen Verstandesbegriffe oder Kategorien der theoretisch gebrauchten Vernunft, sie setzen diese vielmehr als gegeben voraus; (KpV AA 5: 65) Die Begriffe des Guten und Bösen sind Folgen der Willensbestimmung a priori, d.h. sie sind nicht extern vorfindliche Objekte, sondern Figuren der praktischen Vernunft selbst, in denen sie sich zurechtlegt, welche Handlungen, die ihr aus Freiheitskausalität möglich wären, was für moralische Wertigkeit besitzen. Die Objekte der Sinnenwelt, mit denen solche Handlungen umgehen und in deren Konstellationen sie eingebettet sind, werden dafür als gegeben vorausgesetzt, aber sie sind nicht das Ziel einer praktischen Erkenntnis im Sinne Kants. sie [die Begriffe des Guten und Bösen] sind insgesammt modi einer einzigen Kategorie, nämlich der der Causalität, so fern der Bestimmungsgrund derselben in der Vernunftvorstellung eines Gesetzes derselben besteht, welches als Gesetz der Freiheit die Vernunft sich selbst giebt und dadurch sich a priori als praktisch beweiset. (ebd.) Die Begriffe des Guten und Bösen modulieren oder modalisieren moralisch all das, was vorstellbar durch Kausalität der Freiheit, so fern ihr Bestimmungsgrund von dem ‚Unvermögen’, die Verdienste eines anderen zu schätzen, oder dem ‚Unvermögen’, Dankbarkeit zu zeigen, wo das Wort für eine dem entsprechenden Vermögen eingeschriebene innere Weigerung gebraucht wird. In diesem Sinne ist Kant auch an der betreffenden Stelle zu verstehen. Die Positivität des Bösen wird also nicht dadurch schon aufgehoben, dass es nach Kants Meinung nicht zur Wesensdefinition der Freiheit herangezogen werden darf.

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nur in der Form des Gesetzes liegt, zustande kommen kann, was in jedem Fall Handlungen sind. In diese moralische Modalisierung der Kausalitätskategorie unter der Idee der Freiheit werden alle anderen Kategorien der Freiheit, die Kenntlichkeit der Modalität vorbereitend, mit einbezogen, indem sie gleichsam sichtbar machen, welche moralische Qualität und Relevanz eine so bestimmte Kausalität der Freiheit haben würde.9 Die entscheidende Wende und das Erkenntnisproblem kommt damit hinein, dass die vorgestellten Handlungen nach Kant immer zwei Seiten besitzen, eine noumenale und eine sinnliche, welche durch die Kategorien der Freiheit aufeinander beziehbar gemacht werden müssen: Da indessen die Handlungen einerseits zwar unter einem Gesetze, das kein Naturgesetz, sondern ein Gesetz der Freiheit ist, folglich zu dem Verhalten intelligibeler Wesen, andererseits aber doch auch als Begebenheiten in der Sinnenwelt zu den Erscheinungen gehören, so werden die Bestimmungen einer praktischen Vernunft [= Kategorien der praktischen Vernunft a priori] nur in Beziehung auf die letztere [sc. die Sinnenwelt], folglich zwar den Kategorien des Verstandes gemäß, aber nicht in der Absicht eines theoretischen Gebrauchs derselben […] sondern nur um das Mannigfaltige der Begehrungen der Einheit des Bewußseins einer im moralischen Gesetze gebietenden Vernunft oder eines reinen Willens a priori zu unterwerfen, Statt haben können. (KpV AA 5: 65) Die Kategorien der Freiheit als Bestimmungen der praktischen Vernunft a priori können also nur in Beziehung auf die Sinnenwelt und ihre Objekte sinnvoll gebraucht werden, nämlich dafür, um „das Mannigfaltige der Begehrungen“ eines Handlungssubjekts mit der Einheit des Bewusstseins einer im moralischen Gesetze gebietenden praktischen Vernunft in Einklang zu bringen. Hierbei, wie oben erklärt, d.h. bei der immer zu leistenden Herstellung dieser „Beziehung“ auf die sinnlichen Aspekte der möglichen Handlungen, kann es durch den Einfluss von korrupten Neigungen und Unlauterkeit zu verkehrten

9  Vgl. KpV AA 5: 56: „Aber diese einmal eingeleitete objective Realität eines reinen Verstandesbegriffs im Felde des Übersinnlichen giebt nunmehr allen übrigen Kategorien, obgleich immer nur so fern sie mit dem Bestimmungsgrunde des reinen Willens (dem moralischen Gesetze) in nothwendiger Verbindung stehen, auch objective, nur keine andere als bloß praktisch-anwendbare Realität […].“

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Auffassungen in Bezug auf Gut und Böse kommen. Sie induzieren dann zwar eine verkehrte Richtung, aber nicht Minderung praktischer Rationalität. Die besagte prinzipielle Beziehung auf sinnliche Aspekte von Handlungen ist nun auch der Grund, warum Kant vor Aufstellung der Kategorientafel darauf aufmerksam macht, dass diese „nur die praktische Vernunft überhaupt angehen“ und nicht lediglich die reine praktische Vernunft. Denn sie müssen eben auf Sinnlichkeit Anwendung finden und aus deren Konstellationen und Beurteilung im Detail erst den Übergang zu ihrem Wert für die reine Willensbestimmung ermöglichen und vorbereiten: Nur muß man wohl bemerken, daß diese Kategorien nur die praktische Vernunft überhaupt angehen und so in ihrer Ordnung von den moralisch noch unbestimmten und sinnlich bedingten zu denen, die, sinnlich unbedingt, blos durchs moralische Gesetz bestimmt sind, fortgehen. (KpV AA 5: 66) Deswegen, weil hier von der praktischen Vernunft überhaupt im Prinzip Heterogenes durch die Kategorien der Freiheit aufeinander beziehbar gemacht werden muss, deshalb ist das ganze Vorgehen bei der moralischen Modalisierung unserer Kausalität der Freiheit von vielen Klippen und Hindernissen umlagert, die nur ein moralisch gefestigter Charakter sicher durchschiffen wird. Nach Kant ist deshalb der durch die subjektive Erkenntnis erzielte „Übergang von praktischen Principien überhaupt zu denen der Sittlichkeit“ vorerst „nur problematisch“ eingeleitet und bedarf noch der Bestätigung „einer dogmatischen Darstellung“ (KpV AA 5: 67) durch das moralische Gesetz, womit Kant wahrscheinlich auf seine Metaphysik der Sitten (zweiter Teil) hinweisen dürfte. Die praktische Erkenntnis des einzelnen Subjekts kann nicht allgemeingültige Sicherheit darüber verschaffen, welche Handlungen aus Freiheit wirklich moralisch gut oder böse, erlaubt oder verboten, Pflicht oder pflichtwidrig usw. sind. Sondern dies kann nur durch eine dogmatische oder „metaphysische“ Darstellung im Ausgang vom moralischen Gesetz geleistet werden. 3

Rationalität und mögliche Selbstkorrumpierung im Wege der praktischen Erkenntnis

Die moralische Erkenntnis besteht nach Kant, wie gesehen, darin, dass wir unsere verschiedenen Bestrebungen bei Handlungen, die wir tun wollen (wozu auch Unterlassungen zu zählen sind „der Einheit des Bewußtseins einer

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im moralischen Gesetze gebietenden praktischen Vernunft oder eines reinen Willens a priori […] unterwerfen“ (KpV AA 5, 65.25 f.). […] so werden die Bestimmungen einer praktischen Vernunft nur in Beziehung auf die letztere [sc. die Sinnenwelt], folglich zwar den Kategorien des Verstandes gemäß, aber nicht in der Absicht eines theoretischen Gebrauchs desselben, um das Mannigfaltige der (sinnlichen) Anschauung unter ein Bewußtsein a priori zu bringen, sondern nur um das Mannigfaltige der Begehrungen der Einheit des Bewußtseins einer im moralischen Gesetze gebietenden praktischen Vernunft oder eines reinen Willens a priori zu unterwerfen, Statt haben können. (KpV AA 5, 65) Diese Bewusstseinseinheit müssen wir selbst herstellen mithilfe jener Kategorien, in denen wir die in Betracht gezogenen Handlungen formulieren. Und diese Einheit kann sehr unterschiedlich gebaut sein, je nachdem, ob dem moralischen Gesetz dabei die oberste Bedingung in einer Maxime eingeräumt wird, oder nicht die oberste, sondern eine die affiziert ist von einer nicht unbedingt explizit gemachten anderweitigen Bedingung. Nicht alle Bedingungen der Geltung eines Satzes müssen ja explizit gemacht werden, damit der Satz als gültig erachtet wird. Und dies eben ist das Böse nach Kant, die Geltung eines allgemeinen Satzes oder Gesetzes anzuerkennen, ohne die subjektiven Vorbehalte deutlich zu machen, unter denen er trotz der als gültig erachteten Allgemeinheit steht. So dass ich in der Folge eine Handlung durchaus als erlaubt erkenne, die doch in dogmatischer Darstellung als unerlaubt und pflichtwidrig überführt werden könnte. Zum Beispiel liegen strikte Sicherheitsbestimmungen für Ölbohrungen auf hoher See zwar im Prinzip zugleich im Interesse der Ölfirmen, die Lizenz und Potential haben, solches Öl überhaupt abzubauen; denn ohne sie gäbe es keinen geregelten Wettbewerb, sondern Raubbau und Ausbeutung, in dem der Risikofreudigste alle anderen verdrängt, bis er selbst einmal daran zugrunde ginge. Allerdings müssen in Situationen einer empfindlichen Beeinträchtigung des leitenden Interesses, genügend Öl fördern zu können, gewisse Erleichterungen in Bezug auf Sicherheitsbestimmungen erlaubt sein, gerade um deren Legitimität und Anerkennung im Allgemeinen aufrechterhalten zu können. Denn andernfalls müssten die Sicherheitsbestimmungen generell abgesenkt werden, um überhaupt noch Abbaufirmen dafür gewinnen und rentabel halten zu können. – Durch bloße Formulierung in den einschlägigen Kategorien des Erlaubten, Gebotenen und Verbotenen wird hier der vernünftig begründete Anschein geweckt, dass einzelne Ausnahmen

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von den Sicherheitsbestimmungen erlaubt seien.10 Und diese Erlaubnis wird erkannt. Sie liegt nicht einfach auf der Hand, sondern wird durch die Formulierung einsichtig. Es hat sich dabei aber ein positives Widerspiel des moralisch Richtigen niedergeschlagen, das die nötigen Formatierungen von sinnlichen Aspekten und Begleitumständen der fraglichen Handlung so drehte, dass das Gegenteil des moralisch Guten subjektiv einsichtig wurde. Hier ist die allgemeine Regel durch ihre Formulierung mit Blick auf konkrete sinnliche Bedingungen des aus Freiheit möglichen Handelns durch ein Interesse korrumpiert worden, d.h. das allgemeine Gesetz hat in diesem Räsonnement nicht die oberste Bedingung der Maximen des Handelns inne, obwohl es in seiner Gültigkeit anerkannt wird. Ein positives Widerspiel gegen das allgemeine Gesetz als Triebfeder des Handelns macht sich geltend durch die bloße Formulierung der Maximen oder eines Gefüges von Vorschriften und regelentsprechenden Handlungen unter allgemeinen sinnlichen Bedingungen in gewissen Kategorien. Kant hatte dies im Autonomiekapitel (§ 8) des Ersten Hauptstücks bereits vorgreifend folgendermaßen ziemlich genau geschildert: Also drückt das moralische Gesetz nichts anders aus, als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft, d.i. der Freiheit, und diese ist selbst die formale Bedingung aller Maximen, unter der sie allein mit dem obersten praktischen Gesetze zusammenstimmen können. Wenn daher die Materie des Wollens, welche nichts anders als das Object einer Begierde sein kann, die mit dem Gesetz verbunden wird, in das praktische Gesetz als Bedingung der Möglichkeit desselben hineinkommt, so wird daraus Heteronomie der Willkür, nämlich Abhängigkeit vom Naturgesetze, irgend einem Antriebe oder Neigung zu folgen, und der Wille giebt sich nicht selbst das Gesetz, sondern nur die Vorschrift zur vernünftigen Befolgung pathologischer Gesetze; (KpV AA 5, 33)

10  Ein solches Räsonnement, das im Einzelnen eine Vernünftigkeit dessen vorhält, was nicht geradewegs mit den allgemeinen Forderungen sittlicher Vernunft einhellig ist, bezeichnet Kant an verschiedenen Orten (z.B. GMS AA IV: 405) als „vernünfteln“ (vgl. dazu genauer J. Noller, Theorien des Bösen, Hamburg 2017, S. 60–62). Man wird nicht sagen können, dass ein derartiges Vernünfteln der praktischen Vernunft nicht Ausdruck praktischer Rationalität überhaupt sei, wenn es auch freilich nicht ein Ausdruck der reinen praktischen Vernunft im Kantischen Sinne ist.

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Die Formulierungsweise von Handlungen unter Bedingungen der Sinnlichkeit macht es möglich, eine gewisse Materie des Wollens als eine vernünftige Bedingung der Möglichkeit des praktischen Gesetzes selbst hinzustellen.11 Dies führt (aufgrund korrumpierter, aber nicht geringerer Vernunft) zur Heteronomie der Willkür, und zwar aus Freiheit in Ansehung der sinnlichen Verhältnisse, unter denen zu handeln ist, führt es zur Heteronomie der Willkür, d.h. zu einer Gängelung am Leitfaden eines Interesses oder einer Materie des Wollens. Aber eben die Hinführung zur Heteronomie ist darum nicht weniger frei als eine lauter bleibende Formulierung des Gegenstands praktischer Erkenntnis. Damit ist m.E. gezeigt, dass Kant nicht dem Argument des intelligiblen Fatalismus erliegt, d.h. weder die Denkbarkeit einer freien Handlung, die der Ordnung des Vernunftgesetzes zuwiderläuft, aufgeben muss, noch der Meinung sein muss, dass das Böse nur durch eine Art erratischen Sprung in die Heteronomie und somit Nicht-Freiheit erreicht werden kann. Vielmehr erfolgt beides nach Kant im Zuge einer für praktische Erkenntnis allgemein unverzichtbaren Operationsweise der praktischen Vernunft, wobei es unmöglich ist, die praktische Vernunft als autonom gebietende mit ihr als praktisch erkennende zu identifizieren. Denn reine praktische Vernunft und praktische Vernunft überhaupt sind nach Kant nicht das Gleiche. Reine praktische Vernunft kann nicht anders gebieten als das moralische Gesetz; aber „praktische Vernunft überhaupt“ kann (in Ansehung sinnlicher Verhältnisse, unter denen zu handeln ist) anderes als tunlich, d.h. scheinbar ‚gut’, erkennen als das moralisch Richtige. Durch das bloße Gebot hat die praktische Vernunft noch nichts als richtig auch erkannt. Aber die Freiheit nimmt angesichts der Bedingungen der Sinnlichkeit, wie Paulus sagt, Anstoß am Gebot und tut deshalb nur entweder frei das Gute oder frei das Böse. Da also die praktische Vernunft als gebietende nicht in demselben Operationsmodus sein kann wie die praktische Vernunft als erkennende, und sowohl Richtiges als auch Verfehltes subjektiv als vernünftigerweise tunlich erkannt werden kann, sind auch die beiden Propositionen von Michelle Kosch ohne Widerspruch – durch bloße Präzisierung ihrer Bedeutung – aufrechtzuerhalten:

11  Dies hat Fichte in seiner Darstellung des Bösen oder Unsittlichen als letztlich auf Trägheit zur sittlichen „Reflexion“ beruhend, übersehen: die zu leistende Formulierung mithilfe von Kategorien der Freiheit in Ansehung des Guten und Bösen, um zur Erkenntnis der Pflicht oder des Erlaubten und Verbotenen zu gelangen. Alles andere erklärt er m.E. ausgezeichnet, nur das ist ihm einfach entgangen.

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(a) Die Vernünftigkeit einer Handlung ist notwendige Bedingung der Freiheit dieser Handlung. und (b) Die Vernünftigkeit einer Handlung ist hinreichende Bedingung des moralisch Gutseins dieser Handlung. Wir müssen im Sinne Kants nur einräumen, dass praktische Vernunft notwendigerweise zweistufig funktioniert, nämlich erstens als autonom gebietende Vernunft und zweitens als das Tunliche auch erkennende Vernunft. Da letzteres in zwei unterschiedlich gerichteten Versionen rational ist, können wir sagen: (a*) Die Vernünftigkeit einer Handlung (im Sinne ihrer zweistufigen Form als gebietende und das Tunliche angesichts sinnlicher Bedingungen erkennende Vernunft) ist notwendige Bedingung der Freiheit dieser Handlung. und (b*) Die Vernünftigkeit einer Handlung (im Sinne ihrer zweistufigen Form als gebietende und das Tunliche angesichts sinnlicher Bedingungen ohne Selbstkorrumpierung erkennende Vernunft) ist hinreichende Bedingung des moralisch Gutseins dieser Handlung. Der Mensch im Unterschied zu einem moralischen Prinzipien unbedingt gemäßen göttlichen Wesen existiert unter sinnlichen Bedingungen seines Daseins in der Welt. Er kommt deshalb auch nicht umhin, moralische Prinzipien, wenn irgendwo, dann in einer Sinnenwelt und unter sinnlichen Bedingungen einzuhalten. Dazu muss er erkennen, was für sinnliche Handlungen den moralischen Prinzipien am ehesten gerecht werden, unter denen seine Vernunft a priori steht. Und für diese Erkenntnis wiederum muss er in Bezug auf ihm mögliche Handlungen eine ihren moralischen Stellenwert explizierende Formatierung leisten, ob und wie sie im Einklang stehen würden mit den für ihn indisponiblen moralischen Prinzipien. Doch sind solche Formatierungen mithilfe von Kategorien der Freiheit wie gezeigt durchaus disponibel, einer guten ebenso wie einer bösen Gesinnung einen mit dem individuellen Bewusstsein des Sittengesetzes vernünftig vereinbaren Ausdruck zu geben. Eine böse Gesinnung entspringt dabei dem positiven Widerspiel des Anstoßes, den ein

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Sinnenwesen an dem ihm ohne Rücksicht auf seine Sinnlichkeit auferlegten Gesetz nimmt. 4 Schlussbetrachtung Am Schluss möchte ich auf das allgemeine Thema der Freiheit nach Kant zurückkommen. Ich habe, so denke ich, gezeigt, dass Kant selbst nicht meinte, dass menschliche Freiheit allein in der Autonomie statt Heteronomie der reinen praktischen Vernunft bestehe, sondern vielmehr erst in deren Bewahrung bei der von jedem aus praktischer Vernunft überhaupt zu leistenden Erkenntnis dessen, was unter seinen oder ihren Umständen am ehesten zu tun ist, d.h. mit dieser Autonomie seiner reinen praktischen Vernunft im Einklang steht. Eine jede Erkenntnis setzt aber unvermeidlicher Weise eine begriffliche oder propositionale Formulierung desjenigen Kontextes voraus, auf den sich die Erkenntnisabsicht richtet. Erst kraft einer solchen Formulierung kann das, was in Erkenntnis gefasst wird, entweder dem Wahren bzw. Richtigen entsprechen oder dem Falschen bzw. Verfehlten nachhängen, d.h. falsch liegen. Eine solche verfehlte Auffassung der Verhältnisse beruht auf einer irgendwie verzerrenden Darstellung von ihnen durch jene Formulierungsleistung, die umso leichter unentdeckt bleibt, je weniger die fragliche Erkenntnis das Glied einer ausformulierten und gesicherten Theorie oder Dogmatik eben des gesamten Kontextes jener Erkenntnis ist. Wer keine Neigung zu schwierigen oder strittigen Zonen praktischer Erkenntnis hat, der kann durch Anwendung der Kategorien der Freiheit jederzeit das Richtige ohne Verzerrung der Verhältnisse auch erkennen. Er kann es aber auch einer mehr oder weniger offensichtlichen Verzerrung aussetzen, so dass ihm anderes als tunlich erscheint als anderen an seiner Stelle. Wer jedoch partout in schwierigen und strittigen Zonen des Praktischen nach Erkenntnis des Richtigen sucht, der hat hohes Risiko, Irrtümern aufzusitzen, die er selbst nicht bemerkt, obwohl andere sie erkennen können. Wichtig ist in jedem Fall die, wie mir scheint, Kantische These, die in der heutigen Sicht seiner Moralphilosophie meist ausgeblendet wird, dass nämlich trotz der zugegebenen Autonomie unserer reinen praktischen Vernunft, das Richtige und Verfehlte als Unterscheidungs-Aufgabe für unsere praktische Erkenntnis nicht wiederum zur Disposition unserer Freiheit und eines diesbezüglichen Räsonnements der praktischen Vernunft überhaupt stehen kann, sondern unsere Freiheit bindet, unter Umständen auch ohne dass wir das überhaupt bemerken. Dieses Element der Kantischen Moralphilosophie sehe ich nicht genügend beachtet in kantisch geprägten Diskussionen der

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Gegenwart. Es nicht genügend zu beachten, hat zur Folge, dass wir aus Freiheit ziemlich böse sind, obwohl wir uns gerne im völligen Einklang mit der kantischen Autonomie der Freiheit wähnen. Literaturverzeichnis Bojanowski, Jochen (2006), Kants Theorie der Freiheit. Rekonstruktion und Rehabilitierung, Berlin/New York. Kosch, Michelle [unpublished draft]: „The moral psychology of evil in Schelling’s Freiheitsschrift“, contributed paper to Schellings Philosophie der Freiheit (erster Workshop 20.–21.7. 2016), hg. v. Thomas Buchheim. Zitiert mit freundlicher Genehmigung der Verfasserin. Kosch, Michelle (2006), Freedom and Reason in Kant, Schelling, and Kierkegaard, Oxford. Noller, Jörg (2015), Die Bestimmung des Willens. Zum Problem individueller Freiheit im Ausgang von Kant, Freiburg/München. (23–28; 290 f.) Noller, Jörg (2017), Theorien des Bösen, Hamburg 2017. Puls, Heiko (2013), Funktionen der Freiheit. Die Kategorien der Freiheit in Kants ‚Kritik der praktischen Vernunft‘, Berlin/Boston. Zimmermann, Stephan (2011), Kants ‚Kategorien der Freiheit‘, Berlin/Boston. Zimmermann, Stephan (Hg.) (2016), Die ‚Kategorien der Freiheit‘ in Kants praktischer Philosophie. Historisch-systematische Beiträge, Berlin/Boston.

Kants Theorie des freien Handelns Saša Josifović Why so serious? The Joker

∵ Kants Kompromisslosigkeit bei der Zuschreibung moralischer Pflichten hat in der Vergangenheit und Gegenwart immer wieder für Verwunderung gesorgt. Warum so ernst? Warum so streng? Wäre es, gerade für eine Ethik, die im Kontext der Freiheitstheorie entwickelt wird, nicht besser, wenn sie ein wenig toleranter gegenüber der Natur des Menschen wäre und seinem Bedürfnis, auch mal über die Stränge zu schlagen, gewisse Spielräume zugestände? Bestünde nicht ein höheres Maß an Freiheit, wenn es dem Akteur erlaubt wäre, „selbst zu bestimmen“, in welcher Situation er in welchem Maße moralische Pflichten achten und beachten will? Besteht Freiheit nicht letztendlich darin, dass man nach Lust und Laune tun und lassen kann, was man will? Diese Fragen sind verständlich. Sie sind auch nicht falsch oder gar neu. Es mangelt ihnen lediglich an dem nötigen Problembewusstsein. Sie sind naiv. Kants Anliegen besteht darin, eine systematisch belastbare Theorie der praktischen Freiheit zu entwickeln, die erklärt, wie es überhaupt möglich ist, „selbst zu bestimmen“, was man wollen und nicht wollen, was man tun und lassen will. Wenn Handeln nach Lust und Laune als frei bezeichnet werden könnte, wäre daran grundsätzlich nichts auszusetzen. Aber es ist in vielerlei Hinsicht nicht frei, sondern davon abhängig, welche Neigungen sich dem Akteur zu einem beliebigen Zeitpunkt durch Zufall einstellen und wie sehr sie ihn zu einem bestimmten Verhalten nötigen. Er ist also nur in eingeschränkter Hinsicht frei. Bereits die Tatsache, dass sich uns Neigungen auf kontingente Art und Weise, nämlich durch die Rezeptivität der Sinne einstellen, wird von Kant als Ausdruck der Fremdbestimmung angesehen. Sie werden von außen an uns herangetragen und wir haben niemals entscheiden können, ob wir sie überhaupt haben wollen oder nicht. Sie stellen sich uns ein und plötzlich haben wir sie. Erst indem wir die Fähigkeit entwickeln, uns unabhängig von sinnlichen Antrieben selbst zu bestimmen, entwickeln wir auch Freiheit. Solche „Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch

© koninklijke brill nv, leiden, 2019 | doi:10.1163/9789004383586_018

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sinnliche Antriebe“ (KrV, B 562) wird eigentlich als praktische Freiheit aufgefasst. Die entsprechende Theorie entwickelt sich seit dem 13. Jahrhundert als Metaphysik der Freiheit unter dem Begriff „liberum arbitrium“.1 Aber erst Kant schließt eine erhebliche Erklärungslücke hinsichtlich der Frage, wie sich diese Unabhängigkeit vollzieht. Auch in der modernen Handlungstheorie stellen wir fest, dass menschliche Akteure imstande sind, sich in reflexive Distanz zu den gegebenen Handlungsdispositionen zu versetzen und selbst zu entscheiden, ob sie sich mit ihnen identifizieren oder nicht. Das ist ein modernes Vokabular für denselben Sachverhalt. Aber was heißt es eigentlich, dass wir uns mit etwas identifizieren? Wodurch wird gewährleistet, dass wir die aktive Instanz sind und dass dieser Identifikationsprozess einen Ausdruck unserer Selbstbestimmung darstellt? Da Kant an dem speziellen Gegenstandsbereich des freien Handelns interessiert ist, spielt diese Frage für ihn eine besonders wichtige Rolle. Dass sie nicht nur einen beliebigen Ausdruck seines ebenfalls beliebigen Interesses darstellt, sondern von entscheidender Bedeutung für die Theorie des freien Handelns ist, wird sich im Laufe der entsprechenden Gedankenführung herausstellen. Also fragen wir uns ganz nachdrücklich: Wie soll dies eigentlich möglich sein? Wie gewährleistet ein Akteur angesichts einer gegebenen Neigung, dass er „unabhängig“ bzw. „frei“ oder „selbst“ entscheidet, ob er ihr nachgehen will oder nicht? Folgt er etwa seinem „Gefühl“? Oder seiner „Intuition“? Welches Vermögen muss ein Wesen überhaupt besitzen, um imstande zu sein, sich „unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe von selbst zu bestimmen“ (KrV, B 562) und somit als Akteur von Handlungen im Gegensatz zu bloßem Verhalten zu konstituieren? 1

Die Freiheit zur Pflicht

Kants Pointe besteht gerade darin, zu zeigen, dass es uns nur auf eine einzige Art und Weise möglich ist, wirklich frei zu handeln, nämlich indem wir die Prozesse unserer Willensbildung und Willensäußerung aus eigener Spontaneität durch Autonomie bestimmen und kontrollieren. Dafür ist es zuallererst nötig, dass die Willensbildung überhaupt von einem Vermögen getragen wird, das sich durch Spontaneität und Autonomie statt Rezeptivität und Heteronomie auszeichnet. Das menschliche Begehrungsvermögen kann nämlich durchaus fremdbestimmt werden, wenn sich ihm seine Gegenstände durch die Rezeptivität der Sinne einstellen. Wir wünschen uns dann bestimmte 1  Vgl. hierzu: Josifović (2014), 127 ff.; (2015). Vgl. auch Faizzada (2017), 168 ff.

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Dinge, und die Tatsache, dass wir sie uns wünschen, erscheint uns als Ausdruck unserer Freiheit. Die Identifikation mit ihnen fällt uns leicht. Aber bei genauer Betrachtung stellt sich heraus, dass sie sich uns durch äußere Einwirkung eingestellt haben: Es ist Sommer, man ist in der Stadt unterwegs, es ist warm, man entdeckt eine Eisdiele und es stellt sich der Gedanke ein, dass ein Eis jetzt ganz erfrischend wäre. Das ist es wahrscheinlich auch. Es ist nichts Falsches daran, ein Eis zu essen. Es ist nichts Falsches daran, auch mal seiner Neigung nachzugeben und dabei Genuss oder Glück zu erleben. Es muss auch nicht unbedingt frei sein, um genossen zu werden. Indem er seinen Neigungen nachgeht, erlebt der Mensch viele Dinge, die nicht frei sind, ihn aber glücklich machen. Aber wenn wir uns, wie Kant, für eine Theorie der Freiheit interessieren, also begreifen wollen, was freie willentliche Selbstbestimmung und freies Handeln ist, dann ergibt sich die entsprechende Frage ganz natürlich. Wir fragen nicht, ob es lecker ist. Wir fragen nicht, ob es glücklich macht. Wir fragen nicht, ob es moralisch richtig oder falsch ist, ein Eis zu essen. Wir fragen, in welchem Maße unsere Willensbildung und Handlung frei ist. Wir fragen uns, inwiefern wir „selbst“ bestimmen, was wir wollen und tun. Kant vertritt den Standpunkt, dass die Vernunft das einzige Vermögen im Menschen darstellt, das imstande ist, unsere Willensbildung aus eigener Spontaneität, und zwar durch Autonomie, zu bestimmen. Daraus ergibt sich unmittelbar der Gedanke, dass die freie willentliche Selbstbestimmung von der Vernunft getragen werden muss; und auch der Gedanke, dass sie sich an der Rezeptivität der Sinne abarbeiten muss. Zugleich ergibt sich auch die Frage, ob die reine Vernunft überhaupt praktisch sein, also den Willen bestimmen kann und die Aufgabe, dies gegebenenfalls zu zeigen. Dies ist nämlich überhaupt nicht selbstverständlich. Kant hält es zwar für intuitiv nachvollziehbar, dass die empirisch praktische Vernunft aktiv auf die Willensbildung einwirken kann. Wenn jemand beispielsweise einen Vokabeltest erwartet und die Vokabeln, die abgefragt werden, bekannt sind, dann bietet es sich an, diese Vokabeln auswendig zu lernen. Es wäre im natürlichen Sinne des Wortgebrauchs „vernünftig“, sie zu lernen. Diese Art von Rationalität ist pragmatisch, instrumentell bzw. empirisch praktisch. Allerdings müssen die entsprechenden Empfehlungen „für ein Wesen, bei dem Vernunft nicht allein Bestimmungsgrund des Willens ist“ (KpV, A 36)2 – und wir Menschen sind solche Wesen – in Form von Imperativen formuliert werden: „Wenn du vernünftig bist und den Test bestehen willst, solltest du die Vokabeln lernen.“ Solche entsprechenden Imperative sind hypothetisch. Ob aber über die pragmatische bzw. instrumentelle Rationalität hinaus auch die reine Vernunft praktisch 2  Vgl. hierzu Pollok (2007).

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sein kann, ob sie also imstande ist, die empirisch praktische Vernunft von der „Anmaßung“ abzuhalten, „den alleinigen Bestimmungsgrund des Willens zu geben“ (KpV, A 31), wird von Kant in der Kritik der praktischen Vernunft eigens erörtert. Er vertritt den Standpunkt, dass dies der Fall ist. Dass die reine Vernunft praktisch sein kann, also als reine Vernunft den Willen bestimmen kann, stellt eine der Hauptthesen der Kritik der praktischen Vernunft dar. Im § 1 der Kritik der praktischen Vernunft und der entsprechenden Anmerkung führt Kant aus, was unter der Bestimmung des Willens durch die reine praktische Vernunft zu verstehen ist. Dabei spielt neben der Spontaneität der Vernunft auch die spezifische Art und Weise, wie sich diese Spontaneität entfaltet, nämlich durch Normativität bzw. Autonomie, eine wichtige Rolle. Die reine praktische Vernunft ist imstande, Gesetze zu erlassen, die wir unseren Willensbildungsprozessen zugrunde legen können. An der entsprechenden Stelle werden zweierlei Arten praktischer Grundsätze unterschieden, nämlich subjektiv und objektiv verbindliche. Subjektiv verbindliche praktische Grundsätze werden als „Maximen“ bezeichnet. Nur objektiv verbindliche praktische Grundsätze gelten als „praktische Gesetze“ im strengsten Sinne. Aus der Spontaneität der reinen praktischen Vernunft entspringen durch Autonomie unmittelbar praktische Gesetze und „sie bestimmen nur den Willen, er mag zur Wirkung hinreichend sein oder nicht“ (KpV, A 37). Sie liegen also der Willensbildung zugrunde. Ob aber die entsprechenden Willensinhalte in der Welt verwirklicht werden können oder nicht, steht auf einem ganz anderen Blatt. Manche Dinge können vernünftigerweise gewollt werden, obwohl es wahrscheinlich aussichtslos ist, dass sie jemals in der Welt verwirklicht werden, beispielsweise der Weltfrieden, Gewaltfreiheit oder die dauerhafte Gesundheit aller Menschen. Die praktischen Gesetze der Vernunft bestimmen also, wie Kant schreibt, „den Willen als Willen“, ganz ungeachtet der Frage, ob der entsprechende Gegenstand in der Welt verwirklicht werden kann, bzw. „noch ehe ich frage, ob ich gar das zu einer begehrten Wirkung erforderliche Vermögen habe“ (KpV, A 37). Die entsprechenden Gesetze werden wiederum „für ein Wesen, bei dem Vernunft nicht allein Bestimmungsgrund des Willens ist“ (KpV, A 36), als ausnahmslos gültige, nämlich kategorische Imperative vorgetragen. Die Vernunft kann also vermittels praktischer Gesetze den Willen bestimmen, und vermittels empirisch praktischer Grundsätze bzw. hypothetischer Imperative die Ergreifung der geeigneten Mittel zur Verwirklichung der entsprechenden Willensinhalte anraten. Sowohl auf der Ebene der Willensbildung als auch auf der Ebene der Willensäußerung bzw. Verwirklichung besteht ein umso höheres Maß an Selbstbestimmung, je mehr es dem Akteur gelingt, die entsprechenden Prozesse aus eigener Spontaneität durch Autonomie zu gestalten und zu kontrollieren. Die Erfolgskontrolle des gesamten Prozesses

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stellt einen Ausdruck praktischer Freiheit dar. Je höher die Erfolgskontrolle durch den Akteur, umso mehr liegt willentliche Selbstbestimmung, also praktische Freiheit, vor. Neben der Rezeptivität der Sinnlichkeit kann also auch die Spontaneität der reinen Vernunft in die Prozesse der Willensbildung integriert werden. Durch die Rezeptivität der Sinne werden uns Eindrücke gegeben, in deren Folge sich Handlungsdispositionen einstellen. Daraus entspringen die konkreten Inhalte unserer Willensbildung und subjektive praktische Gründe. Vermittelst der Spontaneität und Normativität der Vernunft sind wir zwar nicht imstande, Einfluss darauf zu nehmen, welche Inhalte bzw. Gegenstände sich uns zu einem zufälligen Zeitpunkt einstellen; immerhin sind wir aber imstande, unsere Handlungsweise a priori zu gestalten, also von vornherein zu bestimmen, welche Art von Handlungen wir grundsätzlich bejahen und welche wir grundsätzlich verneinen. Dadurch bestimmen wir die formalen Rahmenbedingungen unserer Willensbildung. Erst dadurch werden wir befähigt, in einzelnen empirischen Situationen, also im Umgang mit einer gegebenen Neigung bzw. Handlungsdisposition aus reflexiver Distanz zu entscheiden, ob sie zu der Art von Handlungen zählt, die wir grundsätzlich bejahen oder nicht, und infolgedessen zu entscheiden, ob wir uns mit ihr identifizieren oder nicht. Kants Antwort auf die oben mehrfach formulierte Frage, wie es möglich ist, dass sich ein Akteur mit Willensinhalten bzw. Ereignissen in der Welt identifiziert, lautet also: Dadurch, dass er aus der Spontaneität der Vernunft vermittels deren Autonomie praktische Gesetze erlässt, die die formalen Rahmenbedingungen seines Wollens bestimmen und im Umgang mit gegebenen Willensinhalten, die sich ihm durch die Rezeptivität der Sinnlichkeit einstellen, beurteilt, ob sie Einzelfälle darstellen, die in den Bereich von Handlungstypen gehören, die er grundsätzlich bejaht oder verneint. Sofern ein empirischer Einzelfall unter das Gesetz der Autonomie fällt, stellt dies einen Handlungsgrund, also einen praktischen Grund, dar. Dies ist ein ziemlich aufwendiges Verfahren. In den meisten empirischen Fällen machen wir uns die entsprechende Mühe überhaupt nicht. Wir müssen es auch gar nicht. Aber es geht um die Möglichkeit. Wenn es darauf ankommt, wenn uns die Entscheidungen und Handlungen wichtig sind und wir gewährleisten wollen, dass wir das, was wir uns gerade wünschen, auch wirklich wollen, können wir im Rückgriff auf die normative und regulative Funktion der Vernunft die Vollständigkeit von Begründungszusammenhängen und Transparenz von Entscheidungsprozessen gewährleisten, so dass wir kompetent und kontrolliert urteilen können. Ein Eis können wir uns auch kaufen, ohne uns die entsprechenden Umstände zu machen. Auch glaube

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ich nicht, dass es sinnvoll wäre, apriorische Grundsätze der Vernunft für solch triviale Entscheidungen zu bemühen. Mehr noch: Ich glaube, dass es überhaupt keine gibt. Die Vernunft regelt das Leben nicht a priori bis ins allerletzte Detail und jeden nur erdenklichen Zufall. Es ergeben sich immer neue, unerwartete Situationen, mit denen wir umgehen, ohne auf präzise Handlungsgrundsätze zurückgreifen zu können oder zu wollen. Oftmals bleiben unsere Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse also intransparent. Daran ist nichts Falsches oder Schlechtes. Es ist eben nicht maximal frei, aber eine gewisse Kontingenz und Unfreiheit gehören zum Leben dazu. Es ist falsch, zu meinen, dass Kant oder ein Kantianer jeden Morgen beim Frühstück zuerst den kategorischen Imperativ bemüht, bevor er sich entscheidet, ob er das Omelette oder die Wurst nimmt. Er nimmt das, was ihm besser schmeckt, das, worauf er mehr Lust hat. Die Vernunft kommt ins Spiel, wenn Krankheiten, Allergien, moralische Werte ober andere wichtige Umstände eine Rolle spielen, oder überhaupt: wenn der Anspruch auf Freiheit erhoben wird und geltend gemacht werden soll. So klärt sich hoffentlich die Überschrift dieses Abschnitts zunehmend auf. „Die Freiheit zur Pflicht“ klingt auf den ersten Blick sehr lehrmeisterlich, beinahe manipulativ. Aber es geht darum, dass wir imstande sind, unsere Handlungsweise frei zu gestalten und damit auch selbst zu bestimmen, als was für ein Akteur wir aus unserer Praxis hervorgehen. Dies kann nur in Form allgemeiner Handlungsgrundsätze und Gesetze vonstattengehen. Sie stellen die formalen Bedingungen unserer Freiheit dar, während sich die Inhalte aus der Kontingenz der Erfahrung ergeben. Die Handlungsgrundsätze, die aus der reinen praktischen Vernunft entspringen, bestimmen den Willen. Sie bestimmen also, welche Art von Willensinhalten, die sich uns durch die Rezeptivität der Sinne einstellen, wir grundsätzlich bejahen und welche wir verneinen. Dadurch befähigen sie uns dazu, in Fällen, in denen sich uns Neigungen einstellen, die wir grundsätzlich ablehnen, diese tatsächlich zu überwinden. Beispielsweise kann sich uns in einer gegebenen Situation die Neigung zur List, Täuschung, Lüge, zum Betrug etc. einstellen. Solche Neigungen, bzw. Triebe gehören, wie auch Freud schreibt, ganz ursprünglich zum Menschsein dazu: Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alledem ist, daß der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern daß er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung

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auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten. Homo homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?3 Ob es durch charakterliche Bildung möglich ist, die Anfälligkeit für solche Neigungen zu reduzieren, wie es beispielsweise Schiller oder Konfuzius anraten, sei dahingestellt: Kant betont, dass wir, selbst wenn wir mit entsprechenden Handlungsdispositionen konfrontiert werden, imstande sind, sie zu überwinden, sobald wir erkennen, dass sie dem Gesetz der Autonomie, also einem Grundsatz widersprechen, den wir für die Gestaltung unserer Willensbildung und Handlung zugrunde legen: „Der Mensch fühlt also ein Vermögen in sich, sich durch nichts in der Welt zu irgendetwas zwingen zu lassen. Es fällt solches zwar öfters schwer aus anderen Gründen; aber es ist doch möglich, er hat doch die Kraft dazu.“ (PM, 182) Wir stellen einfach fest, dass wir solche Art von Willensinhalten nicht zulassen wollen. Wir erkennen den Wunsch nicht als Willensinhalt an. Wir lehnen es ab, uns mit ihm zu identifizieren. Dagegen begrüßen wir jede Gelegenheit, in der wir einen Handlungsgrundsatz, den wir uns aus Freiheit gegeben haben, in die Tat umsetzen können. Wenn sich also eine Gelegenheit ergibt, einen Handlungstyp, den wir grundsätzlich bejahen, in die Tat umzusetzen, sehen wir dies als Ausdruck unserer freien willentlichen Selbstbestimmung, mithin als praktischen Grund an. So vorgetragen, scheint all dies weniger streng zu sein, als ursprünglich angedeutet. Aber dieser Eindruck ist um den Preis der Kontingenz und Unfreiheit erkauft worden. Wir haben zugestanden, dass es zur Realität des Menschen gehört, dass vielerlei Tun und Lassen weder auf transparenten und kontrollierten Entscheidungsprozessen noch überhaupt auf dem Anspruch auf willentliche Selbstbestimmung beruht. In solchen Fällen gehen wir unseren Neigungen nach und handeln nicht wirklich frei. Das ist alles. Das ist nicht unbedingt schlecht oder gar moralisch verwerflich, sondern lediglich kontingent und insofern nicht frei: Es stellt keinen Ausdruck kontrollierter willentlicher Selbstbestimmung im strengsten Sinne dar. Aber wenn wir den Anspruch auf freies Wollen, Entscheiden und Handeln erheben möchten, müssen wir auf die Spontaneität und Autonomie der Vernunft zurückgreifen. Überhaupt konstituieren wir uns, wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird, als Akteur (von Handlungen) erst, indem wir die Kontrolle über die Prozesse 3  Freud, GW XIX, 470 f.

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unserer Willensbildung und Willensäußerung übernehmen. Andernfalls legen wir bloß Verhalten an den Tag. 2

Freie praktische Selbstkonstituierung

Vor diesem Hintergrund ergibt es sich, dass für die Konstituierung von Handlungsträgerschaft und dementsprechend auch für die Zuschreibung von Ereignissen als Handlungen einige spezifische Voraussetzungen erfüllt werden müssen. Dazu zählt an erster Stelle die Identität des Handlungsträgers, die in der Klassischen Deutschen Philosophie als Subjektphilosophie durch das Selbstbewusstsein gewährleistet wird. Gerade auf diesem Gebiet, nämlich der Konstituierung von Identität, stellt die Klassische Deutsche Philosophie eine der leistungsfähigsten Traditionslinien in der Philosophiegeschichte dar. Nur Wesen, die über Selbstbewusstsein verfügen, können Handlungsträger im strengsten Sinne sein. Nur sie sind imstande, die synthetische Einheit von Ereignisaspekten zu bewirken, die für die Konstituierung der Identität einer Handlung nötig ist. Ebenfalls sind nur sie imstande, die synthetische Einheit der Apperzeption zu vollziehen und somit auch die eigene Identität als Akteure zu konstituieren. Letztendlich kann nur Wesen, die über Selbstbewusstsein verfügen, Verantwortung, Verdienst und Schuld zugeschrieben werden. Neben der Identität spielt die Verursachung von Ereignissen eine wichtige Rolle: Um jemandem ein Ereignis oder einen bestimmten Aspekt eines Ereignisses als Handlung zuschreiben zu können, muss vorausgesetzt werden, dass er auf nachvollziehbare Art und Weise an der Verursachung des entsprechenden Ereignisses oder Ereignisaspekts beteiligt ist. Beispielsweise kann sich jemand, der einen Regentanz aufführt und das Glück hat, dass es zu regnen beginnt, mit der Verursachung des Regens identifizieren und an seinen magischen Kräften erfreuen; aber seine Handlung bleibt in Wahrheit nur der Tanz, während er mit dem Regen nichts zu tun hat. Wenn jemand den Anspruch erheben will, dass ihm die Verursachung des Regens als Handlung zugeschrieben wird, muss er auf kausal nachvollziehbare Art und Weise aktiv an der Verursachung des Regens beteiligt gewesen sein.4 Mehr noch: Seine Handlung ist nur derjenige Anteil am Ereignis, den er tatsächlich aktiv verursacht und kontrolliert. Alle Aspekte des entsprechenden Ereignisses, die sich seiner Kontrolle entziehen, sind kontingent. Sie gehören zwar zum Ereignis und somit zur Realität der Welt, aber nicht zur Handlung des 4  Vgl. Korsgaard (2009).

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entsprechenden Akteurs. Wenn jemand einen Lottoschein ausfüllt und eine Million Euro gewinnt, ist es nicht seine Handlung, eine Million Euro gewonnen zu haben, sondern einen Lottoschein ausgefüllt und eingezahlt zu haben. Der Rest ist kontingent. In diesem Fall ist es Glück. In anderen Fällen ist es Pech. Je mehr ein Akteur die Folgen bzw. Wirkungen seines Tuns nach bestehenden, bekannten Gesetzen absehen und kontrollieren kann, umso mehr fallen sie in den Bereich seiner willentlichen Selbstbestimmung und Handlung. Dabei ist es wichtig, zu beachten, dass die Autoren in der Klassischen Deutschen Philosophie, vor allen Dingen Kant und Hegel, begrifflich zwischen Taten und Handlungen unterscheiden. Für Hegel stellt die Handlung den vorsätzlichen Bereich der Tat dar: Er vertritt den Standpunkt, dass sämtliche Veränderung der Zustände in der Welt, die durch ein Subjekt verursacht wird, als Tat desselben gilt, dass aber nur derjenige Bereich der Tat, der von ihm als solcher gewusst und gewollt wird, also vorsätzlich bewirkt wird, seine Handlung darstellt. Der Ausdruck „Handlung“ stellt also die Einheit der Ereignisaspekte unter dem Begriff des Vorsatzes dar. Bei Kant sieht die Sache ganz anders aus: Der Ausdruck „Handlung“ stellt den allgemeinen Begriff dar, unter den die „Tat“ fällt: Tat ist „eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht“, und „folglich auch, sofern das Subjekt in derselben nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird“. (MS, AB 22). Die Tat ist also eine autonome bzw. freie Handlung.5 In der Klassischen Deutschen Philosophie besteht also ein sehr hoher Anspruch an die Spontaneität, Aktivität, Identität und Kontrolle von Ereignissen durch Subjekte, wenn die entsprechenden Ereignisse als deren Handlungen angesehen werden sollen. Um ihn zu erfüllen, ist es nötig, von der Autonomie der Vernunft Gebrauch zu machen, um die Willensbildung und Willensäußerung aus eigener Spontaneität zu kontrollieren. Schleicht sich Kontingenz in die Prozesse der Willensbildung oder Willensäußerung ein, hört das Ereignis nicht bloß auf, frei zu sein, sondern hört auch auf, eine Handlung (in Kants Wortgebrauch: „Tat“) zu sein. Es besteht kein kontingenter, sondern ein notwendiger Zusammenhang zwischen der Handlungsträgerschaft und Freiheit, denn nur Prozesse, die durchgehend von Spontaneität, Autonomie, nämlich Normativität aus der Spontaneität der Vernunft, und Kontrolle getragen werden, können im strengsten Sinne als freie Handlungen angesehen und ihren Akteuren zugeschrieben werden. Dafür gibt es sehr gute systematische Gründe. Der wichtigste folgt. 5  Ich finde es überaus spannend, dass Kant zufolge das Subjekt ‚nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird’, gerade „sofern seine Handlung unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht“. Darum habe ich mich an anderer Stelle detailliert damit auseinandergesetzt und belasse es hier beim Verweis auf: Josifović (2016).

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Das Grundgesetz der Kausalität aus Freiheit

Das, was ich soweit ausgeführt habe, macht hoffentlich deutlich, dass die Fähigkeit eines Akteurs, die Prozesse seiner Willensbildung aus eigener Spontaneität und Autonomie zu bestimmen und vermittels praktischer Rationalität zu kontrollieren, einen entscheidenden Aspekt seiner Freiheit darstellt, zumindest wenn Freiheit als willentliche Selbstbestimmung aufgefasst wird. Aber Kants eigentlicher Beitrag zur Entwicklung der Theorie der Freiheit geht einen entscheidenden Schritt weiter. Kant macht nämlich erst nach der Veröffentlichung der ersten Kritik eine für die Entwicklung der Freiheitstheorie sehr wichtige Entdeckung, die er in der Kritik der praktischen Vernunft zum Ausdruck bringt. Es handelt sich um die Entdeckung des „Grundgesetzes“ der intelligiblen Welt (KpV, A 74 f.), nämlich der Welt der Freiheit und damit zugleich um die Entdeckung des Grundgesetzes der Kausalität aus Freiheit. Während er, wie er an gegebener Stelle ausführt, in der Kritik der reinen Vernunft keinerlei Anspruch auf Erkenntnisse über die Beschaffenheit der intelligiblen Welt erheben konnte, stellt Kant in der Kritik der praktischen Vernunft fest, dass er nun positive Erkenntnisse darüber gewinnen und sogar das „Gesetz“ derselben benennen könne: Über die Erfahrungsgegenstände hinaus, also von Dingen als Noumenen wurde der spekulativen Vernunft alles Positive einer Erkenntnis mit vollem Rechte abgesprochen. […]. Dagegen gibt das moralische Gesetz, wenngleich keine Aussicht, dennoch ein schlechterdings aus allen Datis der Sinnenwelt und dem ganzen Umfange unseres theoretischen Vernunftgebrauchs unerklärliches Faktum an die Hand, das auf eine reine Verstandeswelt Anzeige gibt, und diese sogar positiv bestimmt und uns etwas von ihr, nämlich ein Gesetz erkennen lässt. (KpV, A 74) Ich greife diesen Gedanken auf, um zu zeigen, warum die unnachgiebige Strenge der Pflichtzuschreibung als Ausdruck von Freiheit überhaupt nötig ist und warum jede vermeintlich liberale Einstellung hinsichtlich der Strenge der Pflichtzuschreibung gänzlich inkompatibel mit dem Gedanken der Kausalität aus Freiheit ist. Die entscheidende Idee besteht darin, dass Kausalität voraussetzt, dass zwischen Ursachen und Wirkungen eindeutige, gesetzmäßige Verhältnisse bestehen, dass also auf eine bestimmte Ursache nach bestimmten Gesetzen eine ebenso bestimmte Wirkung folgt. Für Handeln als Ausdruck willentlicher Selbstbestimmung bedeutet dies, dass die Handlung als Ursache der Verwirklichung eines gesetzten Zwecks angesehen werden kann, aber nur sofern vorausgesetzt wird, dass zwischen der Handlung und der angestrebten

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Wirkung ein gesetzmäßiges Verhältnis besteht, also nur insofern angenommen werden kann, dass sich die entsprechende Wirkung aufgrund bestehender Gesetze notwendigerweise einstellen wird. (Vgl.: GMS, BA 97 f.) Bestünde nur ein kontingentes Verhältnis zwischen der Tat und dem Resultat, wäre willentliche Selbstbestimmung unmöglich. Es könnte nichts in der Welt vorsätzlich bewirkt werden, weil niemals absehbar wäre, welche zufälligen Folgen sich auf eine bestimmte Tat einstellen. Man könnte tun, was man will, und trotzdem niemals verursachen, was man will. Man könnte also überhaupt nichts vorsätzlich bewirken. Daran sieht man, wie gravierend die Folgen für die Theorie des freien Handelns wären. Es ist unstrittig, dass der entsprechende kausale Zusammenhang in der empirischen Welt besteht. Er beruht auf der ebenfalls empirischen Kausalität bzw. auf der lückenlosen Verbindlichkeit der empirischen Gesetze, also Gesetze der empirischen Natur. In der intelligiblen Welt, nämlich der Welt der Freiheit, besteht ebenfalls ein gesetzmäßiges Verhältnis zwischen Ursachen und Wirkungen, allerdings als Ausdruck intelligibler Kausalität. Ebenso wie die Gesetze der empirischen Natur konstitutiv für die empirische Kausalität sind, sind also auch die aus der Autonomie der Vernunft entspringenden intelligiblen Gesetze konstitutiv für die Kausalität aus Freiheit. Ohne die entsprechende Gültigkeit und Eindeutigkeit der zugrundeliegenden Gesetze bestünde in der intelligiblen Welt überhaupt kein gesetzmäßiger Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen, also keine Kausalität. Da es sich bei der intelligiblen Kausalität um Kausalität aus Freiheit handelt, bestünde also keine Kausalität aus Freiheit. Damit Kausalität aus Freiheit überhaupt möglich ist, muss ein gesetzmäßiges Verhältnis zwischen Ursachen und Wirkungen in der intelligiblen Welt bestehen. Dies kann nicht nach empirischen Gesetzen gewährleistet werden, da empirische Gesetze in der intelligiblen Welt keine Gültigkeit besitzen. Kant ist also in der Kritik der praktischen Vernunft der Ansicht, dass er das „Grundgesetz einer übersinnlichen Natur und einer reinen Verstandeswelt“ entdeckt habe und stellt fest, dass wir, „soweit wir uns einen Begriff von ihr [der übersinnlichen Natur] machen können, nichts anderes als eine Natur unter der Autonomie der reinen praktischen Vernunft“ darunter verstehen können: „Das Gesetz dieser Autonomie aber ist das moralische Gesetz; welches also das Grundgesetz einer übersinnlichen Natur und einer reinen Verstandeswelt ist“ (KpV, A74 f.). Das aus der Autonomie der reinen praktischen Vernunft entspringende Gesetz bestimmt, Kant zufolge, unser intelligibles Dasein ebenso unausweichlich wie die empirischen Gesetze unser empirisches Dasein. Folglich würden rein intelligible Wesen, wenn es sie denn gäbe, ihr ganzes Dasein ebenso unausweichlich nach diesen Gesetzen führen, wie empirische Wesen, beispielsweise

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Bäume, ihr Dasein nach empirischen Gesetzen führen. Die Engel wären also so etwas wie die Bäume der intelligiblen Welt. Das moralische Gesetz wäre für sie ebenso unüberwindbar wie beispielsweise das Gravitationsgesetz für die Dinge der empirischen Welt. Das Sittengesetz ist also, nach dem Stand der Dinge in der Kritik der praktischen Vernunft, das Grundgesetz der Kausalität aus Freiheit.6 Die Erkenntnis dieses „Grundgesetzes der intelligiblen Welt“ stellt den entscheidenden theoretischen Fortschritt dar, den Kant in der Kritik der praktischen Vernunft zum Ausdruck bringt. Dieser Gedanke ist sehr wichtig für die Kohärenz der Freiheitstheorie, denn erst dadurch wird ein nachvollziehbares Verhältnis zwischen der transzendentalen und praktischen Freiheit möglich; erst jetzt kann deutlich gemacht werden, was es bedeutet, dass sich der Begriff der praktischen Freiheit auf der Idee der transzendentalen gründet, wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft, B 561, behauptet. Freiheit besteht also nicht allein darin, Gesetzen zu folgen, sondern darin, das Grundgesetz, das die Verhältnisse von Ursachen und Wirkungen in der intelligiblen Welt gewährleistet, aus eigener Spontaneität, nämlich durch die Autonomie der Vernunft zu bestimmen. Ob dieses Grundgesetz der Kausalität aus Freiheit als „moralisch“ bezeichnet wird oder anders, ist zweitrangig. 4

„Why so serious?“

Kants gesamte Theorie der praktischen Freiheit ‚gründet sich‘, wie er im Dialektik-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft (KrV, B 561) ausführt, auf die Idee der transzendentalen Freiheit. Diese Idee wird im Kontext der FreiheitsAntinomie entwickelt. Darin erörtert Kant die Frage, ob die Vernunft bei ihrer Suche nach der Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten zusätzlich zur Kausalität nach Naturgesetzen auch Kausalität aus Freiheit annehmen muss. Unter der Voraussetzung, dass der transzendentale Realismus wahr ist, dass also die Welt der Erscheinungen die gesamte Realität ausmacht, wird in der Tradition des Rationalismus, bzw., wie Kant schreibt, „Dogmatismus“, die These formuliert, dass Freiheit als erste Bewegung angenommen werden muss, während in der Antithese, die in empiristischer Tradition formuliert wird, der Standpunkt vertreten wird, dass Freiheit als Unabhängigkeit von Naturgesetzen, mithin als Gesetzlosigkeit, nicht angenommen werden muss und kann. Die Antinomie, die unter der Voraussetzung des transzendentalen 6  Vgl. Josifović (2014), 260.

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Realismus unauflösbar bleibt und einen „Skandal“ der Vernunft darstellt,7 erweist sich als „wohltätigste Verirrung“, in die die Vernunft jemals hat geraten können (KpV, A 193), da sie Anlass gibt, die Wahrheit des transzendentalen Realismus zu hinterfragen. Dadurch wird Kant, wie er Garve schreibt, „aus dem dogmatischen Schlummer“ erweckt und er entwickelt den transzendentalen Idealismus als theoretischen Rahmen für die Auflösung der Antinomie. Vor dem Hintergrund des transzendentalen Idealismus erweist sich das ursprünglich kontradiktorische Verhältnis von Thesis und Antithesis als subkonträr und es wird als denkmöglich angenommen, dass etwas seine Ursache in der intelligiblen und seine Wirkung in der empirischen Welt hat.8 Vermittelnd wird die Theorie vom intelligiblen und empirischen Charakter eingeführt,9 die in der Kritik der praktischen Vernunft nicht wieder aufgegriffen wird. Um aber zu verstehen, was es bedeutet, dass sich die praktische Freiheit auf der transzendentalen gründet, ist es wichtig nachzuvollziehen, wie sich transzendentale Kausalität aus Freiheit im Praktischen vollzieht. Den entscheidenden Gedanken dafür entwickelt Kant erst in der Kritik der praktischen Vernunft durch die Theorie vom Faktum der Vernunft, und zwar als Entdeckung des Grundgesetzes der intelligiblen Kausalität, also Kausalität aus Freiheit. Transzendentale Freiheit bzw. transzendentale Kausalität aus Freiheit wirkt sich im Praktischen also dadurch aus, dass die Vernunft kausale Verhältnisse von Ursachen und Wirkungen nach dem Gesetz des moralischen Sollens herstellt, die von Akteuren aus Achtung vor dem Grundgesetz der transzendentalen Freiheit, also aus freiwilliger Selbstverpflichtung zu freiem Handeln10 in das Gesamtspektrum ihrer handlungsleitenden Überzeugungen integriert werden können. Sofern sie als praktische Gründe wirksam werden, stellt dies eine Ausdrucksform transzendentaler Kausalität aus Freiheit im Praktischen dar. Da die übersinnliche Natur „nichts anderes als eine Natur unter der Autonomie der reinen praktischen Vernunft“ (KpV, A 74) ist, und das Gesetz dieser Autonomie das Grundgesetz der Kausalität aus Freiheit darstellt, stellt der Wille, der durch dieses Gesetz bestimmt wird, also einen Ausdruck transzendental-praktischer Freiheit in der Welt dar. Es ist ebenso unmöglich, (in der übersinnlichen bzw. intelligiblen Welt) unter Missachtung des Sittengesetzes (frei) zu handeln, wie es unmöglich ist, (in der empirischen Welt) unter Missachtung des Gravitationsgesetzes mit anderen Massen zu interagieren.

7  Dies schreibt Kant in einem Brief an Garve vom 21. September 1798. 8  Vgl. hierzu umfassend Josifović (2014), 261 ff. 9  Vgl. hierzu umfassend Josifović (2014), 294 ff. 10  Vgl. hierzu Josifović (2016).

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In dieser Zuspitzung sieht man, was mir in diesem Text wichtig ist: Ich schreibe nicht, dass es unter Missachtung des Sittengesetzes unmöglich ist, moralisch zu handeln, sondern dass es unmöglich ist, frei zu handeln. Das ist darum der Fall, weil es mir in diesem Zusammenhang überhaupt nicht um Moralität geht. Es geht mir nur um Freiheit. Darum vertrete ich mit Kant den Standpunkt, dass die unnachgiebige Strenge der Pflichtzuschreibung nötig ist, damit die gesetzmäßige Verbindung von Ursachen und Wirkungen als Ausdrucksform der Kausalität aus Freiheit im Rahmen der Willensbildung besteht. Diese Art von Kausalität ist konstitutiv für freies Handeln. Andere Arten des Tuns und Lassens mögen zwar oftmals mehr Spaß machen, aber sie sind umso weniger frei, je weniger die Akteure den Anspruch auf Spontaneität, Autonomie und Kontrolle des Ereignisverlaufs geltend machen können. Dies ist auch hinsichtlich der Frage, ob Kant der Ansicht ist, dass Freiheit bewiesen werden kann, aufschlussreich. Es ist bemerkenswert, dass die Kantforschung sehr lange an dem Standpunkt festgehalten hat, dass die Wirklichkeit der Freiheit nicht bewiesen werden könne, obwohl Kant an mehreren Stellen, und zwar sowohl in Bezug auf die praktische als auch transzendentale Freiheit, explizit das Gegenteil behauptet. In Bezug auf praktische Freiheit stellt er in der Kritik der reinen Vernunft, B 830 und erneut auf B 831 fest, dass praktische Freiheit in der Erfahrung bewiesen werden kann. Darauf macht Schönecker11 aufmerksam, der allerdings einen Widerspruch der kantischen Freiheitstheorie darin sieht und zu begründen versucht. Ich habe 2015 versucht zu zeigen, dass dieser Widerspruch nicht besteht.12 Auch Faizzada argumentiert in diesem Zusammenhang ähnlich wie ich.13 Noch wichtiger scheint mir aber ein Impuls zu sein, der von Geismann (2007) ausgeht.14 Geismann setzt sich mit dem Verhältnis zwischen der spekulativen und praktischen Freiheit auseinander und macht darauf aufmerksam, dass Kant in der Kritik der praktischen Vernunft den Standpunkt vertritt, dass nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar die Wirklichkeit der Freiheit bewiesen werden könne. Damit hebt sich Geismann entscheidend vom Mainstream der Kantforschung ab. Ludwig behauptet beispielsweise noch 2015, dass Kant weder die Wirklichkeit noch überhaupt die Möglichkeit bewiesen habe.15 Kant zeigt allerdings in der Kritik der praktischen Vernunft, wie transzendentale Freiheit im Praktischen wirklich ist, nämlich indem sie als Kausalität aus Freiheit die Willensbildung unter dem Gesetz der Autonomie ermöglicht und in der Verwirklichung der Handlung 11  Vgl. Schönecker (2005). 12  Vgl. Josifović (2015). 13  Vgl. Faizzada (2017). 14  Vgl. Geismann (2007). 15  Vgl. hierzu Ludwig (2015).

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ihre eigene Wirklichkeit erhält. Der gesamte Prozess der willentlichen Selbstbestimmung im Handeln – nach Kants Vokabular, eigentlich in der „Tat“ – stellt einen Ausdruck transzendental-praktischer Freiheit in der Welt dar.16 Siglen und Literaturverzeichnis Alle Zitate der Schriften Kants erfolgen nach dem Wortlaut und der Paginierung der Akademieausgabe [Kant, I. (1900 ff.), Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin.]. GMS KpV KrV MS

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Kritik der praktischen Vernunft Kritik der reinen Vernunft Metaphysik der Sitten

Faizzada, Walid (2017), Autonome Praxis und intelligible Welt, Leiden/Boston. Freud, Sigmund (1930), Das Unbehagen in der Kultur. Geismann, Georg (2007), „Kant über Freiheit in spekulativer und praktischer Hinsicht“, in: Kant-Studien 98:3, 283–305. Josifović, Saša (2014), Willensstruktur und Handlungsorganisation in Kants Theorie der praktischen Freiheit, Leiden/Boston. Josifović, Saša (2015), „Das ‚Kanon-Problem‘ in Kants Kritik der reinen Vernunft“, in: Kant-Studien 106:3, 487–506. Josifović, Saša (2016), „Der ‚innere Gerichtshof der Vernunft‘: Kants Theorie des Gewissens als Ausdruck der unbedingten Selbstverpflichtung zur Freiheit“, in: Ders./ Arthur Kok (Hg.), Der „innere Gerichtshof“ der Vernunft. Normativität, Rationalität und Gewissen im Deutschen Idealismus, Leiden/Boston, 47–62. Korsgaard, Christine (2009), Self-Constitution. Agency, Identity, and Integrity, Oxford. Ludwig, Bernd (2015), „‚Die Kritik der reinen Vernunft hat die Wirklichkeit der Freiheit nicht bewiesen, nicht einmal deren Möglichkeit‘“, in: Kant-Studien 106:3, 398–417. Pollok, Konstantin (2007), „‚Wenn Vernunft volle Gewalt über das Begehrungsvermögen hätte‘ – Über die gemeinsame Wurzel der kantischen Imperative“, in: Kant-Studien 98:1, 57–80. Schönecker, Dieter (2005), Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit. Berlin/New York.

16  Vgl. hierzu Faizzada (2017), 3 f.

Kann man nichtzeitliche Verursachung verstehen? Kausalitätstheoretische Anmerkungen zu Kants Freiheitsantinomie Geert Keil 1 Einleitung „Denn, sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten“ (KrV B 564/A 536). Diesem von Kant behaupteten Junktim zwischen Freiheitsrettung und transzendentalem Idealismus möchte ich in diesem Beitrag ein eigenes gegenüberstellen: Wenn Freiheit noumenale Kausalität erfordert, ist Freiheit nicht zu retten. Die von Kant vorgeschlagene Auflösung der Freiheitsantinomie gehört zu denjenigen Theoriestücken, die auch für den transzendentalen Idealismus aufgeschlossene Philosophen schwer zu verteidigen finden. Dies gilt insbesondere für die Lehre von der nichtzeitlichen Verursachung. Nach dieser Doktrin hebt die „Causalität der Vernunft im intelligibelen Charakter […] nicht zu einer gewissen Zeit an, um eine Wirkung hervorzubringen“ (KrV B 579/A 551). In diesem Beitrag wird nicht Kants Auflösung der Freiheitsantinomie im Mittelpunkt stehen, sondern die Frage, wie das Junktim zwischen Freiheitsrettung und transzendentalem Idealismus allererst motiviert ist. Ich werde zunächst (Abschnitt 2) eine Reihe von Gründen dafür anführen, dieses Junktim zu lösen. Kant konstruiert in der dritten Antinomie ein idiosynkratisches Vereinbarkeitsproblem, das auf angreifbaren kausalitätstheoretischen und metaphysischen Vorannahmen beruht. In den Abschnitten 3–5 versuche ich zu zeigen, dass die transzendental-idealistische Auflösung der Freiheitsantinomie nur nötig wird, weil Kant für Freiheit Erstverursachung fordert, die Gesetzesauffassung der Kausalität für einen analytischen Bestandteil des Kausalbegriffs hält, das Kausalprinzip mit dem Determinismusprinzip identifiziert und mit der Auszeichnung des Kausalprinzips als synthetischen Satz a priori zugleich den deterministischen Charakter des ‚Naturmechanismus‘ erwiesen zu haben glaubt. Danach (6–7) werde ich die Frage erörtern, ob die noumenale ‚Kausalität aus Freiheit‘ im Sinne von Akteurskausalität beziehungsweise Substanzkausalität rekonstruiert werden kann.

© koninklijke brill nv, leiden, 2019 | doi:10.1163/9789004383586_019

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Keil

Gründe, das Junktim zwischen Freiheit und transzendentalem Idealismus zu lösen

Ich möchte zunächst fünf Gründe dafür anführen, das von Kant hergestellte Junktim aufzulösen. (i) Kant konstruiert in der dritten Antinomie ein idiosynkratisches Vereinbarkeitsproblem. Die Problemstellung der dritten Antinomie ist nicht in dem Sinn idiosynkratisch, dass sie keinerlei Verankerung in den Vorläuferdebatten der Schulmetaphysik hätte. Sie unterscheidet sich aber stark von dem, was Hume als das „reconciling project with regard to the question of liberty and necessity“1 beschrieb und erst recht von dem, was heute als das Problem der Vereinbarkeit zwischen Willensfreiheit und Determinismus diskutiert wird. Diese Eigenwilligkeit ist am Wortlaut von Thesis und Antithesis noch nicht abzulesen, wohl aber aus den beiden Beweisen und den beiden Anmerkungen. Der Verteidiger der Thesis fordert für die transzendentale Freiheit „einen ersten Anfang“, eine „Vollständigkeit der Reihe auf der Seite der von einander abstammenden Ursachen“, „d. i. eine absolute Spontaneität von Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen, mithin transzendentale Freiheit, ohne welche selbst im Laufe der Natur die Reihenfolge der Erscheinungen auf der Seite der Ursachen niemals vollständig ist“. (KrV B 474/A 446) Mit anderen Worten, er fordert für Freiheit Erstverursachung: etwas, was Ursache ist, seinerseits aber keine Ursache hat. Diese Forderung bezeichnet eine innere Spannung, deren Herkunft Kant schon in der unbeschränkten Geltung des allgemeinen Kausalprinzips verortet. Die dritte Antinomie ist ja als eine der kosmologischen Antinomien von den Eigenheiten der menschlichen Freiheit unabhängig und wird für das Vereinbarkeitsproblem lediglich spezifiziert. Die „Nothwendigkeit eines ersten Anfangs der Reihe von Erscheinungen“ muss nach Kant in jedem Falle „in so fern dargethan“ werden, „als zur Beschaffenheit eines Ursprungs der Welt erforderlich ist“. (KrV B 476/A 448) Die Forderung nach Erstverursachung ist also kosmologisch motiviert. Das allgemeine Kausalprinzip heißt bei Kant in der kürzesten Formulierung: „Alles, was geschieht, hat seine Ursache“ (KrV B 13/A 9). Die innere Spannung dieses Prinzips besteht darin, dass einerseits eine „Vollständigkeit der Reihe auf der Seite der von einander abstammenden Ursachen“ (KrV B 474/A 446) 1  Hume (1748/1975), VIII, Teil 1.

Kann man nichtzeitliche Verursachung verstehen ?

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gefordert wird, andererseits das erste Glied einer vermeintlich vollständigen Ursachenreihe wieder verursacht sein muss, denn dem Kausalprinzip zufolge hat jedes Ereignis eine Ursache. Es werden also zwei miteinander unvereinbare Arten von Unbedingtheit gefordert, und diese Forderung ist antinomisch. In moderner Terminologie: Kein einzelnes Glied einer Kausalkette ist eine kausal hinreichende Bedingung, alle Glieder zugleich wären eine, sind aber wegen der unendlichen Fortsetzbarkeit der Reihe nicht gegeben. Dieses antinomisch konstruierte Kausalprinzip, das unverursachte Verursachung zugleich fordert wie ausschließt, wird in der Tat nicht durch das Freiheitsproblem erzeugt. Kant möchte in der dritten Antinomie grundsätzlich klären, „ob das Konzept einer unverursachten Ursache überhaupt widerspruchsfrei denkbar ist“.2 Mein unorigineller Einwand gegen diese Konstruktion ist, dass Erstverursachung eine von vornherein unvernünftige Bedingung sowohl für Freiheit als auch für Verursachtsein ist. Auch ein Verteidiger einer starken, inkompatibilistischen Freiheitsauffassung wäre deshalb schlecht beraten, sich auch nur die Problemstellung der dritten Antinomie mit ihrem antinomisch konstruierten Kausalprinzip zu eigen zu machen. Ein kantischer Gegeneinwand könnte lauten, dass die Auflösung der Antinomie ja gerade die Einsicht enthält, dass das Erstverursachungsmodell im Bereich der Erscheinungen auf einer illegitimen Totalisierung einer Vernunftidee beruht, so dass es nach Klärung der dialektischen Situation keinen sachlichen Dissens zu meinem Einwand gebe. Doch, es bleiben sogar zwei Dissense: Erstens lässt sich das Erstverursachermodell auch ohne transzendentalen Idealismus kritisieren, nämlich mit Gründen, die auch Nichtidealisten verstehen und akzeptieren können. Zweitens hält Kant für die noumenale Kausalität am Erstverursachermodell fest, während es meines Erachtens auch dort unverständlich ist, und zwar aus kausalitätstheoretischen Gründen. Das eben Gesagte lässt sich separat als zweiten Grund dafür formulieren, das Junktim zwischen transzendentalem Idealismus und Freiheitsrettung zu lösen: (ii) Erstverursachung ist kausalitätstheoretisch unverständlich. Erstverursachung scheint nicht mit dem zu vereinbaren zu sein, was wir sonst über Kausalität denken, und zwar weder mit dem Kausalbegriff, der unserer alltäglichen kausalen Urteilspraxis zugrunde liegt, noch mit dessen Elaborierung in den verschiedenen philosophischen Kausalitätstheorien. Die 2  Bojanowski (2006), 13.

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Philosophie der Gegenwart kennt etwa ein halbes Dutzend von Theorien oder Theorienfamilien der Kausalität: Regularitätstheorien, nomologische Theorien, probabilistische Theorien, Prozess- und Transfertheorien, kontrafaktische Theorien und interventionistische Theorien. Das Erstverursachungsmodell lässt sich, wenn ich recht sehe, in keine dieser Theorien plausibel integrieren. Keine dieser Theorien erfordert, dass man, um die Ursache eines gewöhnlichen Ereignisses anzugeben, geklärt haben muss, was zum Zeitpunkt des Urknalls geschah, oder dass man alternativ das Vermögen annehmen muss, „mitten im Lauf der Welt“ (KrV B 478/A 450) eine neue Kausalreihe „schlechthin anzufangen“ (KrV B 474/A 446). Dem von Kant angenommenen Klärungsbedarf, also der Frage, wie sich der Begriff einer ersten Ursache widerspruchsfrei denken lasse, liegt ein eher krudes Verkettungsmodell der Kausalität zugrunde. Dass nach einer „vollständigen Reihe der von einander abstammenden Ursachen“ (KrV B 474/A 446) gesucht wird, liegt nicht schon im Begriff einer vollständigen Bedingung oder im „Gesetz der Natur: daß ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache nichts geschehe“ (ebd.), sondern in der Art der gesuchten Vollständigkeit. Nach Kant gilt allgemein „der Satz, daß zu allem Bedingten ein schlechthin Unbedingtes müsse gegeben seyn“ (AA XX, 290), wobei er das Unbedingte als „die Totalität aller Bedingungen“ (AA XX, 326) versteht. Im dynamischen Fall ist diese Totalität die der „vollständigen Reihe der voneinander abstammenden Ursachen“. Es ist instruktiv, dieses Verkettungsmodell mit neueren Bedingungsanalysen der Kausalität zu vergleichen, in denen nach „hinreichenden“ Bedingungen für das Eintreten einer Wirkung gesucht wird. In Mackies ingeniöser INUS-Analyse werden Ursachen als Kombinationen von notwendigen und hinreichenden Bedingungen definiert: Eine Ursache ist ein nicht hinreichender, aber notwendiger Teil eines Bedingungskomplexes, der insgesamt hinreichend, aber nicht notwendig ist.3 Kürzer: Eine Ursache ist ein notwendiges Element, das eine Menge von Bedingungen zu einer hinreichenden komplettiert. Wird nun ein Ereignis E als Ursache im Sinne einer INUS-Bedingung ausgezeichnet, so wird damit nicht bestritten, dass zuvor etwas anderes geschehen musste, damit E eintreten konnte. In einem gewöhnlichen singulären Kausalurteil wird überhaupt nichts darüber behauptet, wie E in die Welt gekommen ist. Freilich wird man annehmen, dass es dabei mit rechten Dingen zugegangen ist, aber diese Annahme gehört nicht zu den Wahrheitsbedingungen des Kausalurteils. Wird ein singulärer Kausalsatz wie ‚Die Todesursache war eine Vergiftung‘ für wahr gehalten, so ist die kausale Vorgeschichte der Vergiftung in der Beschreibung des verursachenden 3  Vgl. Mackie (1965), 245.

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Ereignisses allenfalls in dem Sinn ‚aufgehoben‘, dass sie pragmatisch impliziert oder präsupponiert ist. Das Gift musste produziert und dem Opfer verabreicht werden, der Täter musste geboren werden, passend sozialisiert werden, ein Motiv ausbilden etc., aber nichts davon macht es falsch, dass das verursachende Ereignis des Vergiftens als INUS-Bedingung eine Bedingungsmenge zu einer kausal hinreichenden komplettiert hat. Das Hinreichen wird nicht wie im Verkettungsmodell durch eine vollständige Reihe vorausgehender Kettenglieder gewährleistet, sondern durch einen Zusammenhang, den ein allquantifizierter Konditionalsatz ausdrückt: Immer wenn unter bestimmten Randbedingungen eine Verabreichung von Gift stattfindet, ist sie tödlich. Ein INUS-Bedingungskomplex ist in dem Sinn hinreichend, dass für das Eintreten der Wirkung keine weiteren Bedingungen mehr erfüllt werden müssen, er ist aber nicht ‚unbedingt‘ in Kants Sinn einer unverursachten Erstursache, die eine Reihe von Bedingungen zu einer ‚vollständigen‘ abschlösse. Ob sich kausal hinreichende Bedingungskomplexe überhaupt spezifizieren lassen, ist freilich umstritten. Im Extremfall wird das kausale Hinreichen wie bei Laplace allein durch einen Momentanzustand des gesamten Universums und die Synthese aller Bewegungsgesetze gewährleistet. Auch im laplaceschen Determinismus ist aber die Vollständigkeit eines kausal hinreichenden Bedingungskomplexes eine synchrone, keine diachrone. Meine obige Formulierung, dass schon die Idee der Erstverursachung „kausalitätstheoretisch unverständlich“ sei, mag zu stark sein. Das Erstverursachermodell scheint vor allem kausalitätstheoretisch unnötig zu sein, insofern das Hinreichen einer Kausalbedingung auch außerhalb des Verkettungsmodells expliziert werden kann. Kausalitätstheoretisch unverständlich ist erst Kants positive Ausarbeitung des Modells einer außerzeitlichen Erstverursachung. (iii) Erstverursachung ist freiheitstheoretisch unnötig. In der jüngeren Willensfreiheitsdebatte werden zwei Modelle der libertarisch aufgefassten Freiheit4 unterschieden: das Modell des So-oder-Anders-Könnens in gegebenen Umständen und das Ursprungsmodell, dem zufolge Akteure erste Quellen ihrer Handlungen sind. Diejenigen Inkompatibilisten, die ihre Position auf das Ursprungsmodell gründen statt auf das Anderskönnen, nennt man source incompatibilists. Manche Kritiker libertarischer Freiheitsauffassungen

4  ‚Libertarisch‘ oder ‚libertarianisch‘ nennt man diejenige Freiheitsauffassung, nach der (a) die Freiheit mit dem Determinismus unvereinbar ist (Inkompatibilismus) und (b) die Freiheit wirklich und der Determinismus falsch ist.

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definieren den Libertarismus sogar über das Ursprungsmodell und dessen unerfüllbare Ansprüche. Außer Frage steht, dass das Anderskönnen leichter zu verstehen und zu verteidigen ist als das Ursprungsmodell. Das Anderskönnen erfordert, sofern es nicht von vornherein kontrakausal aufgefasst wird, eine indeterministisch konzipierte Ereigniskausalität, aber immerhin keinen ersten Beweger. Außer Frage steht auch, dass Kant das Anderskönnen gern vertreten und zur Freiheitsrettung eingesetzt hätte. Da er aber die „Freiheit, nach welcher die Handlung sowohl als ihr Gegenteil in dem Augenblicke des Geschehens in der Gewalt des Subjekts sein muß“ (AA VI, 49 f.), für mit dem Determinismus unvereinbar und den Determinismus für wahr hielt, musste er sich dies versagen. Im Reich der Erscheinungen behält der Inkompatibilismus das letzte Wort: Wie das Anderskönnen „mit dem Prädeterminism, nach welchem willkürliche Handlungen ihre bestimmenden Gründe in der vorhergehenden Zeit haben […], zusammen bestehen könne: das ist’s, was man einsehen will, und nie einsehen wird“ (ebd.). − Falls gezeigt werden könnte, dass das libertarische So-oder-Anderskönnen durchaus in die empirische Welt passt, entfiele der Hauptgrund dafür, die Freiheitsrettung auf das Ursprungsmodell zu gründen.5 (iv) Unbedingte moralische Pflichten kann es auch ohne transzendentale Freiheit geben. Mit der transzendentalen Freiheit, also der Fähigkeit, eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen, steht und fällt nach Kant auch die praktische Freiheit. Er ist der Auffassung, dass ein Freiheitsbegriff, der auf Erstverursachung von vornherein verzichtet, zu schwach ist, um die Rolle zu erfüllen, die der Freiheit für die Moral zukommt. Diese Abhängigkeit versteht sich nicht von selbst. Stellen wir einmal zusammen, welche Fähigkeiten ein moralisches Wesen nach Kant besitzen muss: Es muss fähig sein, die kategorische Geltung des Sittengesetzes zu erkennen, entsprechende verallgemeinerungsfähige Maximen zu bilden, sie sich anzueignen und danach zu handeln. Dafür ist im Konfliktfall eine „Hintansetzung aller Begierden und sinnlichen Anreizungen“ (AA IV, 457) erforderlich. Ungünstig sozialisierte und disponierte Menschen, die bislang „noch so böse gewesen“ (AA VI, 41) sind und das Sittengesetz fälschlich anderen Triebfedern untergeordnet haben, müssen fähig sein, sich in Sekundenschnelle und aus eigener 5  Für eine libertarische Freiheitskonzeption, die mit den Naturgesetzen verträglich ist und die auf Erstverursachung sowie auf Akteurskausalität verzichtet, habe ich argumentiert in Keil (2007), bes. 81–153.

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Kraft „zu bessern“ (AA VI, 41), indem sie die falsche Unterordnung der guten Maxime unter die böse „durch eine einzige unwandelbare Entschließung“ (AA VI, 47 f.) umkehren. Das ist viel verlangt. Gegen die letztere Forderung wenden Psychotherapeuten und Bewährungshelfer ein, dass sie über Menschenkraft gehe. Gegen die gesamte Konstruktion wenden Vertreter nichtkantischer Moraltheorien ein, dass für eine wohlverstandene Zuschreibung moralischer Verantwortlichkeit weniger anspruchsvolle Vermögen genügen. Diese Einwände mache ich mir nicht zu eigen. Dass kompatibilistische Standardrechtfertigungen der moralischen Verantwortlichkeit und der Handlungszurechnung nicht die von Kant angesetzten Vermögen erfordern, ist unkontrovers und für mein Klärungsziel irrelevant. In der Sache sehen sich schwächere Moral- und Freiheitsbegriffe der Aufgabe gegenüber, das ‚Sollen impliziert Können‘-Argument zu entkräften. Nach Kant ist es selbst für denjenigen, der bisher „noch so böse gewesen“ ist, „nicht allein seine Pflicht gewesen, besser zu sein; sondern es ist jetzt noch seine Pflicht, sich zu bessern: er muß es also auch können“ (AA VI, 41). „Denn wenn das moralische Gesetz gebietet, wir sollen jetzt bessere Menschen sein: so folgt unumgänglich, wir müssen es auch können“ (AA VI, 50). Da die meisten Kompatibilisten in Kontakt mit unserer tatsächlichen moralischen Zurechnungs- und Urteilspraxis bleiben möchten, vermeiden sie es, das Prinzip ‚Sollen impliziert Können‘ rundheraus zu leugnen. Es bleibt ihnen deshalb nur, ihm eine determinismusverträgliche Interpretation zu geben. Dies geschieht mithilfe der sogenannten konditionalen Analyse des Könnens, der zufolge ‚Er hätte anders handeln können‘6 nichts anderes bedeutet als ‚Er hätte anders gehandelt, wenn er sich dazu entschieden hätte‘. ‚Können‘ werde unter anderem im Sinn von ‚fähig sein‘ gebraucht, und dieser Sinn sei der freiheitsrelevante. Es komme allein darauf an, ob anders zu handeln allgemein im Bereich der Fähigkeiten der Person lag. Wenn jemand, dem ein Fehlverhalten vorgeworfen wird, zurückfragt, ob er überhaupt anders hätte handeln können, darf man ihm aus kompatibilistischer Sicht also antworten: Ja, denn anders zu handeln lag im Bereich deiner Fähigkeiten. Anderes hat es leider unmöglich gemacht, dass du anders handelst, nämlich die Naturgesetze gemeinsam mit den gegebenen Bedingungen. Es war naturgesetzlich unmöglich, dass du anders handelst, doch da es in einem anderen Sinn von ‚können‘ möglich war, warst du verantwortlich und wirst bestraft. – Würde nicht ein jeder, der nicht über Kompatibilismus in Büchern gelesen hätte, diese Antwort für einen 6  Vgl. Moore (1912), 102–115. Der Grundgedanke der konditionalen Analyse des Könnens findet sich schon bei Augustinus, später dann bei Hobbes, Leibniz, im britischen Empirismus und bei Schopenhauer.

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schlechten Scherz halten? Sollen impliziert nicht irgendein Können. Wenn jemand hätte anders handeln sollen, als er tatsächlich gehandelt hat, hätte anders zu handeln in der gegebenen Situation nicht naturgesetzlich unmöglich sein dürfen. Insofern enthält unsere Praxis des moralischen Aufforderns und Tadelns ein starkes Prima-facie-Argument für den Inkompatibilismus. Ich akzeptiere im Folgenden den anspruchsvollen kantischen Moralbegriff und die dafür erforderlichen Vermögen, eingeschlossen das libertarische Anderskönnen unter gegebenen Bedingungen, das die konditionale Analyse des Könnens nicht einfängt. Es bleibt die Frage, ob diese Vermögen auch transzendental-idealistisch konzipierte Ersturheberschaft erfordern, also das Ursprungsmodell der libertarischen Freiheit. Wenn man zeigen könnte, dass das Modell des So-oder-Anderskönnens für einen wünschenswert starken Moralbegriff genügt, entfiele neben dem kausalitätstheoretischen auch das freiheitstheoretische Hauptmotiv für Kants Junktim zwischen Freiheitsrettung und transzendentalem Idealismus. Ich fasse den vierten Grund für die Lösung des Junktims zusammen: Moral setzt Freiheit voraus, kantische Moral setzt starke Freiheit voraus, nämlich ein So-oder-Anderskönnen unter gegebenen Bedingungen. Ob sie damit auch eine noumenale „Kausalität durch Freiheit“ im Sinne des transzendentalen Idealismus voraussetzt, ist eine andere Frage. (v) Das Problem der Vereinbarkeit der Freiheit mit dem Determinismus muss nicht aufgelöst werden, weil für die Determinismusannahme eine Rechtfertigung fehlt. Dieser fünfte Grund, das Junktim zwischen Freiheitsrettung und transzendentalem Idealismus zu lösen, zielt ins Herz der Freiheitsantinomie, denn ihrem Wortlaut zufolge ist es ja die deterministisch aufgefasste „Kausalität nach Gesetzen der Natur“, die der Freiheitsannahme entgegen steht und aus Kants Sicht die transzendental-idealistische Auflösung nötig macht. Sollten wir hingegen nicht in einer deterministischen Welt leben, stehen der Freiheit zwar metaphysische Doktrinen entgegen, aber nicht etwas, was in unserer Welt der Fall ist. Unter ‚Determinismus‘ verstehe ich die naturphilosophische oder meta‑ physische Auffassung, dass Naturgesetze gemeinsam mit singulären Bedingungen den Weltlauf alternativlos festlegen, so dass es zu jedem Zeitpunkt genau eine mögliche Zukunft gibt. In der Standardversion des laplaceschen Determinismus spielt die Rolle der singulären Bedingungen ein Gesamtzustand des Universums, die Rolle der Naturgesetze eine Synthese aller

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Bewegungsgesetze.7 Ob sich anstelle dieser Determinanten auch andere einsetzen lassen, zum Beispiel der Inbegriff der aristotelischen Naturen der Dinge und andere Arten von Naturgesetzen, ist umstritten und bedarf der Klärung. Kant spricht gelegentlich vom „Prädeterminismus“ und versteht darunter das Prinzip, dass „willkürliche Handlungen als Begebenheiten ihre bestimmende Gründe in der vorhergehenden Zeit haben“ (AA VI, 49). Da man das, wovon Kant den Prädeterminismus an diesen Stellen absetzt – nämlich die nichtzeitliche Bestimmung eines Willens durch vernünftige Gründe – in der Regel nicht ‚Determinismus‘ nennt, übernehme ich Kants Wortgebrauch nicht. Was Kant „Prädeterminismus“ nennt, firmiert sonst unter ‚Determinismus‘. An anderen Stellen nennt Kant den Determinismus auch den „Mechanismus der Natur“.8 Dass Kant der Sache nach den laplaceschen Determinismus vertreten und ihn auf die Ätiologie menschlicher Handlungen angewandt hat, kommt besonders deutlich in der Bemerkung zum Ausdruck, man könne bei vollständiger Kenntnis der Motive und weiterer Randbedingungen das zukünftige Verhalten eines Menschen „wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis“ ausrechnen.9 Alle Interpreten, die in Abrede stellen, dass Kant den Determinismus für wahr hielt, haben die Gretchenfrage zu beantworten, wie sie es mit der Sonnenfinsternis-Stelle halten. Kant spezifiziert an dieser Stelle den universalen zu einem psychologischen Determinismus. Ob dieser zu seinen anderen handlungs- und freiheitstheoretischen Auffassungen passt, ist mit Recht umstritten.10 An anderen Stellen bleibt der Determinismus unspezifiziert, umfasst aber ausdrücklich 7  Vgl. Laplace (1814/1932), 2. 8  „[Man kann] alle Notwendigkeit der Begebenheiten in der Zeit nach dem Naturgesetze der Kausalität den Mechanismus der Natur nennen […]“ (AA V, 97). 9  „Man kann also einräumen, daß, wenn es für uns möglich wäre, in eines Menschen Denkungsart […] so tiefe Einsicht zu haben, daß jede, auch die mindeste Triebfeder dazu uns bekannt würde, imgleichen alle auf diese wirkende äußere Veranlassungen, man eines Menschen Verhalten auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis, ausrechnen könnte“ (AA V, 99; ähnlich KrV B 577 f./A 549 f.). 10  Nach Allison ist der psychologische Determinismus mit Kants Freiheitslehre unvereinbar, weil er der „Inkorporationsthese“ widerspricht, der zufolge die Triebfedern, die ein Mensch in sich vorfindet, nur wirksam werden, wenn er sie in seine Maxime aufnimmt und sich so selbst zum Handeln bestimmt [vgl. Allison (1990), 39, 40, 52, 55, 65 und 241]. Westphal argumentiert etwas vorsichtiger als Allison, dass wir nach Kant zumindest nicht wissen können, ob der psychologische Determinismus wahr ist [vgl. Westphal (2004), 229–243]. Der klarste Textbeleg für die freiheitstheoretische Relevanz der Inkorporationsthese ist dieser Passus aus der Religionsschrift: „[D]ie Freiheit der Willkür ist von der ganz eigenthümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will); so allein kann eine

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„Handlungen als Erscheinungen“, die „durch und durch mit anderen Erscheinungen nach beständigen Naturgesetzen im Zusammenhange“ stehen und „Glieder einer einzigen Reihe der Naturordnung“ sind. (KrV B 567/A 539) In Anbetracht der zentralen Rolle, die der Determinismusannahme für Kants Kausalitätsauffassung und für die Freiheitsantinomie zukommt, ist es verwunderlich, wie wenig argumentativen Aufwand Kant für deren Begründung betreibt. Offenbar hat er das Determinismusprinzip mit dem allgemeinen Kausalprinzip identifiziert. Dies geschieht nach meiner Interpretation, weil Kant stillschweigend ein zusätzliches kausalitätstheoretisches Prinzip annimmt, das er für einen analytischen Bestandteil des Begriffs einer Ursache hält. Sehen wir uns die Zusammenhänge etwas genauer an.11 3

Kausalität, Determinismus und der nomologische Charakter der Kausalität

Als Gründe, auf die sich die Annahme des universalen Determinismus stützen könnte, kommen in Frage: (i) Der Determinismus ist ein empirisches Faktum. (ii) Kant hat ihn bewiesen. (iii) Er ist ein synthetischer Satz a priori. (iv) Er ist Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung. (v) Er ist eine regulative Idee, die aller Naturforschung zugrunde liegt. Dies sind fünf mögliche Gründe, die einander zum Teil überlappen und die, wenn ich recht sehe, die von Kant überhaupt erwogenen Gesichtspunkte erschöpfen. Der erste Grund kommt nicht ernsthaft in Betracht. Ein synthetischer Satz über die Totalität des Weltgeschehens ist kein Gegenstand der Erfahrung. Eine Analyse der logischen Form der Determinismusthese kommt zum selben Ergebnis: Die Determinismusthese hat die Form einer kombinierten Allund Existenzbehauptung (‚Zu jedem Ereignis gibt es eine deterministische Ursache‘ oder ‚Alles, was geschieht, ist deterministisch verursacht‘). Aussagen dieser Form lassen sich empirisch, also durch Beobachtung und Experiment, weder verifizieren noch falsifizieren.12 Zum einen könnte jede vermeintliche Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen“ (AA VI, 23 f.). 11  In den folgenden Abschnitten 3–6 rekapituliere und präzisiere ich Überlegungen aus Keil (2000), 329–358 und Keil (2001), 562–571. 12  Vgl. Stegmüller (1970), 170.

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Bestätigung noch unentdeckte Falsifikationsinstanzen haben, zum anderen könnte jede vermeintliche Falsifikationsinstanz eine deterministische Ursache haben, die wir noch nicht gefunden haben. Aus Kants Sicht impliziert schon der Notwendigkeitscharakter der Determinismusthese, dass sie nicht aus der Erfahrung stammen kann.13 Ein empirischer Nachweis scheidet also aus. Was die Gründe (ii)–(v) betrifft, so möchte ich zur Abkürzung der Diskussion den blinden Fleck benennen, den sie gemeinsam haben: Sie gelten ausnahmslos für das Kausalprinzip, nicht für das Determinismusprinzip. Auf Besonderheiten der Gründe (iv) und (v) gehe ich unten im Abschnitt 5 ein. Das allgemeine Kausalprinzip lautet in Kants Formulierung: KP „Alles, was geschieht, hat seine Ursache“ (KrV B 13/A 9) Hier ist eine kleine Komplikation zu beachten, weil Kant von dieser allgemeinen Fassung des Kausalprinzips in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft noch eine metaphysische Fassung unterscheidet, die das Prinzip auf „äußere“ Ursachen physischer Ereignisse einschränkt.14 Das letztere Prinzip meint er in den Anfangsgründen bewiesen zu haben. Für beide Prinzipien gilt aber, dass Kant Verursachtsein nicht von deterministischem Verursachtsein unterschieden hat. Für beide gilt auch die logische Eigenart

13  „[Es ist] nothwendig, daß alles, was geschieht, nach Naturgesetzen unausbleiblich bestimmt sei, und diese Naturnothwendigkeit ist auch kein Erfahrungsbegriff, eben darum weil er den Begriff der Nothwendigkeit, mithin einer Erkenntnis a priori bei sich führt“ (AA IV, 455). 14  Das Kausalprinzip in den Anfangsgründen hat den Wortlaut: „Alle Veränderung der Materie hat eine äußere Ursache“ (AA IV, 543). Kants Erläuterung dazu lautet: „Aus der allgemeinen Metaphysik wird der Satz zum Grunde gelegt, daß alle Veränderung eine Ursache habe; hier soll von der Materie nur bewiesen werden, daß ihre Veränderung jederzeit eine äußere Ursache haben müsse“ (ebd.). Westphal nennt das erstere das „transzendentale“, das letztere das „metaphysische“ Kausalprinzip und beklagt die Vernachlässigung dieses Unterschieds sowohl in der Forschungsliteratur als auch in den Analogien der Erfahrung [vgl. Westphal (2004), z. B. 244]. Mehr als eine Begründung des metaphysischen Kausalprinzips, also der durchgängigen Kausalität im Reich der physischen Ereignisse, ist nach Westphal nicht zu haben, allerdings nur im Rahmen eines uneingeschränkten Realismus (vgl. ebd., 267). Eine transzendental-idealistische Begründung habe Kant nicht geliefert, das metaphysische KP „remains unproven within Kant’s Critical corpus“ (ebd., 223). Zusammenfassend: „Kant’s transcendental idealism fails to show that causality is a transcendentally ideal condition for the possibility of selfconscious human experience, because it fails to justify the metaphysical causal thesis“ (ebd., 248).

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kombinierter All- und Existenzaussagen, die eine empirische Überprüfung unmöglich macht. Dem Prinzip KP gibt Kant eine bestimmte kausalitätstheoretische Interpretation, die er als alternativlos ansieht und die es mit dem Determinismusprinzip äquivalent macht. Um diese Interpretation explizit zu machen, müssen wir das fehlende Zwischenstück interpolieren. Es handelt sich um die Annahme, die bei Davidson als das „Prinzip vom nomologischen Charakter der Kausalität“ firmiert: PNK Davidson  Zwei Einzelereignisse sind Ursache und Wirkung voneinander, wenn sie unter irgendeiner Beschreibung ein ausnahmsloses Naturgesetz instanziieren15 Während das allgemeine Kausalprinzip etwas über die Welt sagt, sagt das Prinzip vom nomologischen Charakter der Kausalität etwas über den Begriff der Kausalität. Davidsons Formulierung ist freilich unkantisch. Bei Kant finden sich die Formulierungen, dass in dem „Satz, daß alle Veränderung eine Ursache haben müsse […], der Begriff einer Ursache so offenbar den Begriff einer Notwendigkeit der Verknüpfung mit einer Wirkung und einer strengen Allgemeinheit der Regel“ enthält, dass er ohne diese Annahmen „gänzlich verloren gehen würde“ (B 5). Gleichlautend: „der Begriff der Ursache […] erfordert durchaus, daß etwas A von der Art sei, daß ein anderes B daraus notwendig und nach einer schlechthin allgemeinen Regel folge“ (B 124/A 91, vgl. IV, 315). Und unter Verwendung des Gesetzes- statt des Regelbegriffs: „[D]er Begriff der Causalität [enthält] jederzeit die Beziehung auf ein Gesetz“ (AA V, 89); „[d]a der Begriff einer Causalität den von Gesetzen bei sich führt […]“ (AA IV, 446). Das Prinzip vom nomologischen Charakter der Kausalität ist nach Kant also analytisch im allgemeinen Kausalprinzip enthalten. Es besagt: PNK Kant Kausalität impliziert Gesetzmäßigkeit. A ist Ursache von B, wenn B aus A „notwendig und nach einer schlechthin allgemeinen Regel folgt“ Um nun einzelne Naturphänomene zu erklären oder vorauszusagen, sind noch besondere kausale Gesetze erforderlich, also Gesetze der Form BKGe Immer wenn etwas der Art A geschieht, geschieht danach notwendig etwas der Art B. 15  Vgl. Davidson (1980), 208; sowie (1993), 312.

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Die besonderen Kausalgesetze lassen sich nicht a priori deduzieren, denn hier „muß Erfahrung dazu kommen“.16 Dass gleichwohl „das Dasein der Wirkungen aus gegebenen Ursachen nach Gesetzen der Causalität […] als nothwendig erkannt werden“ kann, und zwar „nach empirischen Gesetzen der Kausalität“ (KrV B 279 f./A 227), lässt sich mit Rang so erläutern, „daß kausale Gesetze bei gegebenen Antecedensdaten einen Vernunftschluß a priori auf zu erwartende Wirkungen gestatten“.17 Man kann sagen, dass Kant mit dieser Auffassung das deduktiv-nomologische Modell der wissenschaftlichen Erklärung vorwegnimmt. Das besondere Kausalgesetz im Explanans ist ein empirischer Satz, dessen Wahrheit nur aufgrund von Erfahrung erwiesen werden kann. Doch wenn er wahr ist, lässt sich das Explanandum logisch aus dem Explanans deduzieren.18 Was nun das allgemeine Kausalprinzip betrifft, so ist der Gesetzesbezug bei Kant manchmal explizit, manchmal implizit. Während der oben zitierte Wortlaut des KP über Naturgesetze nichts sagt, lautet die Antithesis der Freiheitsantinomie: „Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur“ (KrV B 473/A 445). Nennen wir den ersten Satz die gesetzesneutrale und den zweiten die gesetzesimplizierende Fassung des allgemeinen Kausalprinzips: KP gn Alles, was geschieht, hat seine Ursache. KP gi Alles, was geschieht, geschieht nach strengen Naturgesetzen. Eine weitere Formulierung des KP gi aus den Prolegomena lautet, „daß alles, was geschieht, jederzeit durch eine Ursache nach beständigen Gesetzen vorher bestimmt“ (AA IV, 295) ist. Äquivalent sind das KP gn und das KP gi unter einer bestimmten kausalitätstheoretischen Annahme, nämlich der des PNK. Weil Kant, wie gesehen, das PNK als analytisch im Kausalbegriff enthalten ansieht, fusioniert er es mit dem gesetzesneutralen KP und erhält so das gesetzesimplizierende KP. Wenn das PNK wahr ist, lassen sich die rechten Hälften 16  „Besondere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erscheinungen betreffen, können [aus den Gesetzen, auf denen eine Natur überhaupt als Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit beruht] nicht vollständig abgeleitet werden, ob sie gleich alle insgesammt unter jenen stehen. Es muß Erfahrung dazu kommen, um die letztere überhaupt kennen zu lernen“ (KrV B 165). 17  Rang (1990), 27. 18  Die „Möglichkeit, aus irgend einem gegebenen Dasein (einer Ursache) a priori auf ein anderes Dasein (die Wirkung) zu schließen“, ergibt sich nur, wenn es solche „empirischen Gesetze der Kausalität“ gibt. (KrV B 280/A 228)

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der Sätze KP gn und KP gi füreinander substituieren: Dass jedes Ereignis „seine Ursache hat“, impliziert unter Zuhilfenahme des PNK, dass es „nach strengen Naturgesetzen geschieht“. Damit erhält Kant auch das Determinismusprinzip, denn dieses ist mit dem KP gi identisch. Die exegetische Schwierigkeit besteht darin, dass Kant sowohl das allgemeine KP als auch das gesetzesimplizierende KP und zudem die einzelnen empirischen Kausalgesetze als „Gesetz“ oder „Gesetze der Kausalität“ oder als „Gesetze der Natur“ bezeichnet, wobei Singular und Plural frei konvertiert werden. Kants sorgloser Umgang mit dem Numerus ist insofern misslich, als die Pluralform eigentlich ein verlässliches Erkennungszeichen der einzelnen kausalen Gesetze sein müsste, denn das allgemeine Kausalprinzip, ob gesetzes­ implizierend oder nicht, gibt es nur einmal. Aufschlussreiche Formulierungen finden sich in der Freiheitsantinomie. Im Beweis der Thesis kommt der Ausdruck „Gesetz“ oder „Gesetz(e) der Natur“ in enger Folge siebenmal vor, davon fünfmal im Plural und zweimal im Singular. Die vorherrschende Formulierung lautet, dass „alles nach bloßen Gesetzen der Natur geschieht“. Welche Gesetze sind hier gemeint? Wenn man die Pluralform ernst nimmt, müssten es die einzelnen empirischen Kausalgesetze sein. Nun sagt Kant aber in der Auflösung der Antinomie: Die Richtigkeit jenes Grundsatzes von dem durchgängigen Zusammenhange aller Begebenheiten der Sinnenwelt nach unwandelbaren Naturgesetzen steht schon als ein Grundsatz der transzendentalen Analytik fest und leidet keinen Abbruch. (KrV B 564/A 536). Kant bezieht sich offenkundig auf die zweite Analogie der Erfahrung und behauptet, dass dort von „unwandelbaren Naturgesetzen“ die Rede sei. Der Wortlaut der zweiten Analogie ist aber: „Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung von Ursache und Wirkung“ (KrV B 232). Diese Formulierung enthält zwar den Gesetzesbegriff, von Gesetzen im Plural ist aber nicht die Rede. Zudem wird das „Gesetz der Verknüpfung von Ursache und Wirkung“, das er auch „das Gesetz der Kausalität“ nennt, nur erwähnt, während man seinen Wortlaut nicht erfährt. Vermutlich bietet Kant deshalb keinen separaten Wortlaut, weil er mit diesem „Gesetz“ nichts anderes im Sinn hat als das allgemeine Kausalprinzip in seiner gesetzesimplizierenden Fassung. Eine separate Begründung des PNK hat Kant nicht für erforderlich gehalten, weil er es schon als analytisch im Kausalbegriff enthalten ansah. Worin sollte eine kausale Verknüpfung sonst bestehen, wenn nicht in einer strengen, das heißt allgemeinen und notwendigen Regularität? Es spricht wenig dafür, dass Kant eine nicht gesetzesimplizierende und damit nichtdeterministische Lesart

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des allgemeinen Kausalprinzips auch nur erwogen hat. In den Prolegomena bezeichnet er es als „gänzlich einerlei“, ob man das Kausalprinzip gesetzes­ implizierend oder gesetzesneutral ausdrückt, fügt dann aber hinzu, es sei „indessen doch schicklicher, die erstere Formel zu wählen“. (AA IV, 296 f.) Kant ist sich der analytischen Verbindung zwischen Kausalität und Gesetzmäßigkeit sicherer als aller naturphilosophischen oder naturwissenschaftlichen Belege, die man zur Plausibilisierung anführen könnte. Dies zeigt sein desperater Zug, in moralischen Kontexten zur nomologischen Stützung eines Kausalurteils in Abwesenheit passender Naturgesetze das Sittengesetz einzusetzen. Der Grund für diesen Zug ist allein, dass eine nichtnomologische Kausalität „sich widerspricht“.19 Desperat ist der Zug, weil die Analogie zwischen beiden Gesetzesarten schwächer ist, als kausalitätstheoretisch erforderlich wäre. Was Naturgesetze als Modalitätsquelle für den universalen Determinismus so geeignet macht, ist der Umstand, dass man ihnen nicht zuwiderhandeln kann. Dem Sittengesetz hingegen soll man nicht zuwiderhandeln. Kant ist sich dieser entscheidenden Disanalogie beider Gesetzesarten bewusst,20 setzt aber gleichwohl das Sittengesetz in das PNK ein und macht beide derart zu einer Karikatur ihrer selbst. Was die zweite Analogie der Erfahrung betrifft, so haben Lovejoy und Strawson argumentiert, dass Kant ein non sequitur unterlaufen sei. In Lovejoys Fassung besagt der Einwand: Kants Einsicht in den Zusammenhang von subjektiver Ordnung der Wahrnehmungen und objektiver Ordnung der Ereignisse „has no relation to the law of universal and uniform causation“, denn die Nichtumkehrbarkeit einer einzelnen Folge „is not equivalent to a proof of the necessary uniformity of the sequence […] in repeated instances of a given kind of phenomenon“.21 Deshalb nennt Lovejoy die zweite Analogie „one of the most spectacular examples of the non sequitur which are to be found in the history of philosophy“.22 Diesen starken Worten haben Buchdahl, Beck und Allison entgegengehalten, dass der Non-sequitur-Einwand auf die Kritiker zurückfalle, 19  „Sich als ein frei handelndes Wesen, und doch von dem einem solchen angemessenen, Gesetze (dem moralischen) entbunden denken, wäre so viel, als eine ohne alle Gesetze wirkende Ursache denken (denn die Bestimmung nach Naturgesetzen fällt der Freiheit halber weg): welches sich widerspricht“ (AA VI, 35; vgl. AA IV, 446 f.). 20  Die „Vernunft […] giebt […] auch Gesetze, welche Imperativen, d. i. objektive Gesetze der Freiheit, sind, und welche sagen, was geschehen soll, ob es gleich vielleicht nie geschieht, und sich darin von Naturgesetzen, die nur von dem handeln, was geschieht, unterscheiden“ (KrV B 830/A 802). „Eben darum daß unsre freyheit nicht unter einem ihr eigenthümlichen Gesetze steht, ist ihr Einflus unsicher. Die freyheit ist bey uns blos ein Vermögen, keine nach beständigen Gesetzen wirkende Kraft“ (AA XIX, 265 [R 7178]). 21  Lovejoy (1967), 308. 22  Lovejoy (1967), 303.

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die nämlich Kant ein Beweisziel unterstellten, das dieser nicht verfolgt habe. Kants Beweisziel in der zweiten Analogie sei nicht Humes Prinzip same cause – same effect gewesen, sondern nur das Prinzip every event – some cause.23 Nun gibt es aber in der zweiten Analogie eine Reihe von Stellen, an denen Kant sich ausdrücklich auf strenge Regularitäten verpflichtet. Als ein Indiz dafür kann die Verwendung des Wortes „jederzeit“ gelten. Unerheblich für das PNK ist dabei, ob die „allgemeine Regel“, deren Anwendung eine Sukzession von Wahrnehmungen zu einer objektiven Folge von Ereignissen ordnet, selbst schon ein striktes Kausalgesetz sein muss, oder ob sie, wie in der Forschungsliteratur erwogen, die Existenz eines solchen lediglich voraussetzt. In Anbetracht der Analytizitätsthese ist fraglich, wie stark Kants Problembewusstsein hinsichtlich des Unterschieds der beiden Prinzipien every effect – some cause und same cause – same effect ausgeprägt war. Der Textbefund spricht dafür, dass Kant mit seiner Entscheidung für das gesetzesimplizierende Kausalprinzip beide Grundsätze „in einen zusammengefaßt“24 hat. 4

Die gesetzesskeptische Herausforderung

In der Sache spricht gegen das PNK und die Determinismusthese der folgende Umstand: Ob es die erforderlichen einzelnen Kausalgesetze, die singuläre Kausalsätze subsumieren, überhaupt gibt, ist eine offene und in der jüngeren Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften immer häufiger verneinte Frage. Die durch Cartwrights provozierend betiteltes Buch How the Laws of Physics Lie populär gewordene gesetzesskeptische These besagt, dass kein uneingeschränkt wahrer ‚Immer wenn, dann‘-Satz über empirische Ereignisfolgen je präsentiert worden ist, und dass auch wenig dafür spricht, dass es solche Gesetze überhaupt gibt. Alle Kandidaten für solche Gesetze würden nämlich durch Gegenbeispiele falsifiziert: „[T]here are no exceptionless quantitative laws in physics […]. In fact our best candidates are known to fail“.25 Ein Hauptgrund dafür ist das Problem der Kräfteüberlagerung. Newtons Gravitationsgesetz besagt und impliziert nicht, dass jeder Körper, der aus einem Meter Höhe auf den Boden fällt, mit einer bestimmten Geschwindigkeit unten ankommt. Die meisten Körper fallen aufgrund von Kräfteüberlagerungen schneller oder langsamer, und manche werden aufgehalten, bevor sie unten ankommen. Das Gravitationsgesetz wird durch diese Fälle nicht falsifiziert, 23  Vgl. bes. Beck (1978), 126. 24  Rang (1990), 25. 25  Cartwright (1983), 46.

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denn es sagt überhaupt nichts darüber, was tatsächlich geschieht. Es ist kein Sukzessionsgesetz, sondern ein Koexistenzgesetz, das eine Aussage über das synchrone Verhältnis physikalischer Größen trifft. Es sagt etwas darüber, wie die Gravitationskraft, die zwischen zwei Körpern besteht, sich zu ihren Massen und ihrem Abstand verhält. Ein solches Gesetz subsumiert keine singulären Kausalsätze. Es gehört nicht zu den Gesetzen, von denen im PNK und im KP gi die Rede ist oder sein muss. Sukzessionsgesetze hingegen − Kant nennt sie ‚dynamische‘ Gesetze − sind keine wahren Allsätze darüber, was tatsächlich immer geschieht, sondern sagen allenfalls etwas darüber, was geschehen würde, wenn keine anderen als die vom Gesetz postulierten physikalischen Kräfte anwesend wären.26 Um die Darstellung der Gesetzesskepsis abzukürzen, zitiere ich Russells bündige Feststellung: „Alle Kausalgesetze sind Ausnahmen unterworfen, wenn die Ursache nicht den Zustand des ganzen Weltalls umfaßt“.27 Laplace hat in seiner Illustration der Determinismusthese das Überlagerungsproblem vorweggenommen, denn er spricht von einem Supergesetz, das sämtliche Bewegungsgesetze synthetisiert und so „in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper wie des leichtesten Atoms“28 subsumiert. Leider kennt niemand auch nur näherungsweise dieses fingierte Supergesetz. Das ist ein Problem, denn nach Popper soll der physikalische Determinismus, anders als die theologische Prädestinationslehre, „wie ein Ergebnis des Erfolgs der empirischen Naturwissenschaft aussehen, oder wenigstens so, als werde er durch sie gestützt“.29 Davon kann bei Laplace keine Rede sein. Die Figur des laplaceschen Dämons illustriert die Determinismusthese lediglich, trägt aber nicht zu ihrer Begründung bei. Wenn man von der Wahrheit des Determinismus schon überzeugt ist, könnte man die Karikatur des gesuchten Supergesetzes mechanisch erzeugen, indem man die Beschreibungen zweier beliebiger Weltzustände F und G als Vorder- und Nachsatz in das Gesetzesschema ∀x (Fx → Gx) einsetzt 26   Diese Darstellung provoziert viele naheliegende Einwände. Für eine ausführliche Erläuterung und Verteidigung der gesetzesskeptischen These vgl. Keil (2000), 174–240; für eine Präzisierung vgl. Keil (2005). 27  Russell (1926), 302 f. 28  „Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung seines früheren und als die Ursache des folgenden Zustands betrachten. Eine Intelligenz, welche für einen gegebenen Augenblick alle in der Natur wirkenden Kräfte sowie die gegenseitige Lage der sie zusammensetzenden Elemente kennte, und überdies umfassend genug wäre, um diese gegebenen Größen der Analysis zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper wie des leichtesten Atoms umschließen; nichts würde ihr ungewiß sein und Zukunft wie Vergangenheit würden ihr offen vor Augen liegen“ [Laplace (1814/1932), 1 f.]. 29  Popper (2001), 37.

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und damit ex hypothesi etwas Wahres sagt. Dass man damit etwas Wahres sagen würde, wird bei Laplace nicht begründet, sondern postuliert. Indem man die Existenz des Supergesetzes einfach postuliert, genießt man, wie Russell einmal in anderem Zusammenhang sagte, alle Vorteile des Diebstahls gegenüber ehrlicher Arbeit. Nun wird man keinem aufgeklärten Verteidiger der Determinismusthese und am wenigsten Kant die Auffassung unterstellen, der Determinismus ließe sich durch Experimente empirisch belegen. Die Welt ist nur einmal da und besitzt keine Replay-Taste. Solange eine gleiche Distribution von Elementarteilchen nicht ein zweites Mal vorkommt, lässt sich das unterschiedliche Verhalten eines Systems bei der Wiederholung eines Experimentes stets den minimal verschiedenen Anfangs- oder Randbedingungen zuschreiben. Nehmen wir nun um des Argumentes willen an, die Determinismusthese ließe sich auf eine weniger direkte Weise zumindest plausibilisieren. Dann wäre es immer noch eine offene Frage, ob mit einer solchen Plausibilisierung etwas für die Begründung des Prinzips vom nomologischen Charakter der Kausalität gewonnen wäre. Die mit dem PNK verbundene Identifizierung von Kausalprinzip und Determinismusprinzip hat nämlich einen hohen Preis, den die laplacesche Formulierung, man müsse „den gegenwärtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung seines früheren und als die Ursache des folgenden Zustands betrachten“, sichtbar macht: Wenn als Reaktion auf das Überlagerungsproblem allein komplette Weltzustände als Ursachen zählen, kennen Menschen kein einziges wahres singuläres Kausalurteil. Alle gewöhnlichen Kausalurteile wie ‚Ursache der Erwärmung des Steins war die Sonneneinstrahlung‘ oder ‚Der Bruch des Fensters wurde durch einen Steinwurf verursacht‘ wären dann falsch. Für Kants Identifizierung von Kausalprinzip und Determinismusprinzip ergibt sich folgendes Dilemma: Entweder sind Ursachen komplette Weltzustände – dann sind alle gewöhnlichen Kausalurteile falsch. Oder sie sind etwas anderes – dann sind singuläre Kausalurteile keine Instanzen eines deterministischen Gesetzes. Ich fasse meine Diagnose zum in der Auflösung der Freiheitsantinomie hergestellten Junktim zusammen: Die transzendental-idealistische Auflösung der Antinomie wird bei Kant nur nötig, weil die nichtidealistischen Annahmen, die der Antinomie zugrunde liegen, nicht stimmen. Bei diesen Annahmen handelt es sich um begriffliche, metaphysische und kausalitätstheoretische. Kant hielt den Determinismus für wahr und das PNK für einen analytischen Bestandteil des Kausalbegriffs, daher identifiziert er das Kausalprinzip mit dem Determinismusprinzip. Deshalb muss er meinen, dass gewöhnliche Naturkausalität und Freiheit miteinander konfligieren. Um die Freiheit zu retten, muss er die Geltung der gewöhnlichen Naturkausalität auf das Reich der

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Erscheinungen einschränken. Da er aber am Kausalprinzip festhält, muss es für intelligible Zusammenhänge eine eigene Art von noumenaler Kausalität geben, und da Kausalität gesetzesimplizierend ist, muss es sogar entsprechende Gesetze geben. 5

Warum hat Kant die Herausforderung übersehen?

Kommen wir zu der Frage, warum Kant die immensen theoretischen Schwierigkeiten einer deterministischen Interpretation des Kausalprinzips nicht aufgefallen sind oder warum er sie unterschätzt hat. Man sollte vorausschicken, dass er mit dieser Unterschätzung nicht allein war. Keiner seiner Zeitgenossen verfügte über eine Begründung für das PNK. Auch in Humes Regularitätstheorie findet sich nichts dergleichen. Für das Ausbilden der Erwartung, gleiche oder ähnliche Effekte auf ähnliche Ursachen zu erwarten, genügt nach Hume eine begrenzte Gleichförmigkeit, und mehr Regularität biete die Natur auch nicht.30 Humes Regularitäten sind also von ausnahmslosen deterministischen Verlaufsgesetzen weit entfernt. Deshalb ist es auch freiheitstheoretisch erstaunlich, dass Hume stets als klassischer Kompatibilist geführt wird. Um ein Kompatibilist zu sein, muss man zwar nicht notwendig den Determinismus für wahr halten – sogenannte agnostische Kompatibilisten tun es nicht −, aber man muss seine Vereinbarkeitsbehauptung auf den Determinismus beziehen und nicht auf etwas ungleich Schwächeres. Zurück zu der Frage, warum Kant die Begründungsbedürftigkeit des PNK und der deterministischen Interpretation des Kausalprinzips nicht erkannt hat. Ich möchte vier Gründe für diesen dogmatischen Schlummer anführen. (i) Kant hat sich offenbar nicht hinreichend vor Augen geführt, dass die Merkmale der Notwendigkeit und der strengen Allgemeinheit auch für die einzelnen empirischen Kausalgesetze gelten müssen, die nicht a priori erkennbar sind, deren Existenz aber dem PNK zufolge erforderlich ist. Die Behauptung lautet schließlich für jede einzelne kausale Sukzession, dass die Wirkung der Ursache „notwendig und nach einer schlechthin allgemeinen Regel folge“ (KrV B 124/A 91). Ob es solche ausnahmslosen empirischen Kausalgesetze gibt, hängt aber davon ab, wie die Welt beschaffen ist. Keinerlei Deduktion kann hier einen Nachweis im Bereich der empirischen Phänomene ersetzen, oder besser: eine empirische Falsifikation von Gesetzeskandidaten übertrumpfen. Der 30  „Such a uniformity in every particular, is found in no part of nature“ [Hume (1748/1975) VIII, Teil 1].

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Determinismus mag für die Totalität des Weltgeschehens, die kein Gegenstand der Erfahrung ist, unbeweisbar sein, aber dem PNK zufolge implizieren auch einzelne Kausalurteile deterministische Naturgesetze, mithin muss es solche empirisch wahren Allsätze geben. (ii) Ein zweiter Grund könnte sein, dass Kant die Analogien der Erfahrung, in denen er das gesetzesimplizierende Kausalprinzip nachgewiesen zu haben meint, als regulative Prinzipien auffasst. In den Worten von Beck: „[T]he Analogies are regulative principles, not constitutive; they tell us where to look for causes and substances, and do not guarantee that we will discover them in specific cases“.31 Unkontrovers ist, dass die Wahrheit des allgemeinen Kausalprinzips nicht garantiert, dass wir zu jedem singulären Kausalurteil der Form ‚A war die Ursache von B‘ ein empirisches Kausalgesetz finden. Es ist aber zweierlei, ob man kein Gesetz findet oder ob es keines geben muss. Der Hinweis auf den regulativen Charakter der Analogien der Erfahrung ändert nichts daran, dass unter der Annahme des PNK für jedes singuläre Kausalurteil ein empirisches Kausalgesetz existieren muss, welches es auch sei, und ob man es kennt oder nicht. Nur für erfahrungstranszendente Gegenstände sind die Analogien bloß regulativ, für Erfahrungsgegenstände hingegen konstitutiv. Dass man ein empirisches Kausalgesetz nicht oder noch nicht kennt, entfernt solche Gesetze nicht aus dem Bereich möglicher Erfahrung. Deshalb ist der regulative Charakter der Analogien der Erfahrung für unseren Zusammenhang irrelevant. Mit der Annahme des PNK und des gesetzesimplizierenden Kausalprinzips verpflichtet sich Kant auf die Existenz strenger und ausnahmsloser Sukzessionsgesetze. (iii) Ein dritter Grund für seine Unterschätzung der gesetzesskeptischen Herausforderung ist, dass Kant mit einer zu starken Entgegensetzung von naturgesetzlicher Ordnung und völligem Chaos arbeitet. Er ist der Auffassung, dass in einer indeterministischen Welt, die unverursachte Ursachen enthält, der „Leitfaden der Regeln abreißt, an welchem allein eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung möglich ist“ (KrV B 475/A 447). Der strengen Regelmäßigkeit des „Mechanismus“ der Natur ist er sich so sicher, dass er sie sogar in den Begriff der Natur einbaut: „Unter Natur (im empirischen Verstande) verstehen wir den Zusammenhang der Erscheinungen ihrem Dasein nach, nach nothwendigen Regeln, d. i. nach Gesetzen“ (KrV B 263/A 216). Dazu passt, dass Kant den „Widerspruch zwischen Freiheit und Naturnothwendigkeit“ nicht als einen zwischen Doktrinen, sondern zwischen Begriffen auffasst, nämlich zwischen dem „Begriff der Natur“ und dem der Freiheit. (AA IV, 456) 31  Beck (1978), 135.

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In der Sache erscheint die Befürchtung, dass jedes Abgehen vom deterministisch verstandenen Kausalprinzip einheitliche Naturerfahrung unmöglich machen würde, als übertrieben. Freilich darf es in der Welt nicht völlig chaotisch zugehen, aber es steht nicht Ordnung gegen Chaos, wie Kant suggeriert, sondern es stehen ausnahmslose Regularitäten gegen begrenzte, störbare Regularitäten, und die Behauptung muss lauten, dass letztere für die Einheit der Erfahrung – und übrigens auch für die Möglichkeit planvollen und erfolgreichen Handelns – genügen. Offenbar genügen sie, denn es ist ja weniger eine philosophische These als vielmehr ein schwer zu leugnender Befund, dass es keine empirisch wahren Sukzessionsgesetze über tatsächliche Ereignisverläufe gibt und dass gleichwohl leidlich erfolgreich Naturwissenschaft betrieben wird. Auch in der Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts ist wiederholt behauptet worden, dass die Annahme des Determinismus, wiewohl unbeweisbar, eine unerlässliche Voraussetzung der naturwissenschaftlichen Forschung sei. Andernfalls würden wir vor dem Unerklärlichen kapitulieren, und diese Haltung sei mit dem Geist wissenschaftlicher Erkenntnissuche unvereinbar. Ich bestreite, dass diese Argumentationslinie eng mit dem Determinismus zusammenhängt. Sich nicht mit im Prinzip Unerklärlichem abzufinden ist eine vernünftige Haltung, aber dass allein deterministische Kausalerklärungen als Erklärungen zählen, ist eine begründungsbedürftige Zusatzbehauptung. Zum Geist wissenschaftlicher Forschung dürfte die Annahme gehören, dass alles in der Welt mit rechten Dingen zugeht und dass es keine Wunder gibt. Dieses Erfordernis ist indes viel schwächer als der universale Determinismus.32 (iv) Ein vierter Grund könnte sein, dass Kant sich mit seinen Gesetzesmerkmalen der Allgemeinheit und Notwendigkeit an einer völlig anderen als der hier zugrunde gelegten ereigniskausalistischen Auffassung orientiert, nämlich an einer substanzkausalistischen. Auf diesen Grund werde ich im Abschnitt 7 gesondert eingehen.

32  Beiseite bemerkt: Auch nichtdeterministische Interpretationen der Quantenmechanik berufen sich nicht auf Wunder, sondern halten es für eine erforschbare physikalische Tatsache, dass gewisse Phänomene der Quantenwelt keinen deterministischen, sondern nur probabilistischen Gesetzen unterliegen. Der Indeterminist verbietet dem Deterministen auch nicht das Weiterforschen, also die Suche nach sogenannten verborgenen Parametern, aber er hält es für unklug, sein gesamtes wissenschaftliches Weltbild an die Annahme zu binden, dass es solche verborgenen Parameter geben muss, welche die prima facie indeterministische Quantenwelt wieder deterministisch machen.

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Kausalität aus Freiheit, Akteurskausalität und „timeless agency“

Oben habe ich behauptet, dass Erstverursachung kausalitätstheoretisch unverständlich sei. Mein Argument, dass sie in keine der in der Gegenwartsphilosophie vertretenen Kausalitätsauffassungen plausibel integrierbar sei, ist freilich unzureichend, denn die genannten Standardtheorien orientieren sich am Paradigma der Ereigniskausalität und ignorieren damit die Eigenheiten der von Kant in der Auflösung der Antinomie skizzierten ‚Kausalität aus Freiheit‘. Kants Rede vom Vermögen, eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen, legt eher eine akteurskausalistische Interpretation nahe, denn der Träger eines kausalen Vermögens ist kein Ereignis, sondern eine ‚handelnde Substanz‘. Es lassen sich mit Blick auf Kant zwei Interpretationen der Agens- oder Akteurskausalität unterscheiden. Nach der ersten handelt es sich um eine Kausalitätsart sui generis, die zur gewöhnlichen Naturkausalität zwischen Ereignissen noch hinzukommt. Nach der zweiten Interpretation gibt es bei Kant überhaupt keine Ereigniskausalität, weil Kausalität von vornherein nach dem Modell von Substanzen aufgefasst wird, die ihre Vermögen verwirklichen. Der Fall, in dem Personen aus Freiheit handeln, wäre dann nur ein Spezialfall dieser Substanzkausalität. Dass Kant ein Substanzkausalist in diesem zweiten Sinn war, hat in der jüngeren Forschung mit Nachdruck Eric Watkins vertreten. Akteurskausalität im ersten Sinn unterscheidet sich von der Ereigniskausalität zunächst durch die angenommenen Relata der Kausalbeziehung. Im Fall von Ereigniskausalität sind beides Ereignisse, im Fall von Akteurskausalität ist das zweite Relatum ein Ereignis, das erste hingegen eine handelnde Person, also etwas von einem Ereignis ontologisch Verschiedenes. In einer in der analytischen Ontologie verbreiteten Terminologie: Personen sind Kontinuanten, nämlich beharrende Substanzen. Ereignisse, Zustände und Prozesse sind Okkurrenten, die auf andere Weise in der Zeit ausgedehnt sind als Kontinuanten.33 Während Kontinuanten zeitlich persistieren und jederzeit vollständig vorhanden sind, lassen sich Okkurrenten in zeitliche Phasen zerlegen, die einander ablösen. Vertreter von Prozessontologien leugnen diesen Unterschied und fassen auch vermeintliche Kontinuanten als Okkurrenten auf: Alles fließt, es gibt keine beharrenden Substanzen. Für humesche Kompatibilisten ist eine Handlung dann frei, wenn sie auf besondere Weise verursacht wird, nämlich durch vorausgehende mentale Ereignisse. Diese Freiheitsrettung durch eine ereigniskausalistisch 33  Die Terminologie geht zurück auf Johnson (1921), 199.

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konzipierte Theorie der mentalen Verursachung nennt Kant einen „elenden Behelf“.34 Die Attraktivität der Akteurskausalität für die Auflösung der Freiheitsantinomie besteht darin, dass sie sich zwanglos mit einem emphatischen Freiheitsbegriff im Sinne des Erstverursachermodells verbinden lässt. Unter den Akteurskausalisten der Gegenwartsphilosophie hat dies in markanter Form Chisholm getan: „Each of us, when we act, is a prime mover unmoved. In doing what we do, we cause certain events to happen, and nothing – or no one – causes us to cause those events to happen.“35 Auch Kant erläutert transzendentale Freiheit im Sinne des Erstbewegermodells: Sie ist das Vermögen, „mitten im Laufe der Welt verschiedene Reihen der Causalität nach von selbst anfangen zu lassen“ (KrV B 478/A 450). Vom intelligiblen Subjekt kann man „ganz richtig sagen, daß es seine Wirkungen in der Sinnenwelt von selbst anfange, ohne daß die Handlung in ihm selbst anfängt“ (KrV B 569/A 541). Die größte theoretische Schwierigkeit der Akteurskausalität ist das sogenannte Datiertheitsproblem. Es wurde einflussreich von Broad formuliert36 und lässt sich wie folgt zusammenfassen: Handlungen sind wie andere Ereignisse etwas, was zu einer bestimmten Zeit vorkommt. Die Nennung der Ursache für eine Handlung sollte erklären, warum die Wirkung zu diesem bestimmten Zeitpunkt eintritt und nicht zu einem beliebigen anderen. Der bloße Verweis auf die handelnde Person kann dies aber nicht erklären. Die Person war schon zuvor da und wird auch nachher noch da sein. Sie ist eine beharrende Substanz, die den Veränderungen, die an oder in ihr stattfinden, zugrunde liegt und sie überdauert. Die Nennung der Person beantwortet deshalb nicht die Frage, warum zum fraglichen Zeitpunkt eine Wirkung eintritt. Also können Personen nicht im Wortsinne Ursachen von etwas sein. Dies schließt nicht aus, dass sie es im elliptischen oder metonymischen Sinn sein können: Die Ursache von Caesars Tod war nicht Brutus, aber es mag ein von Brutus ausgeführter Dolchstoß gewesen sein, also ein gewöhnliches Ereignis. 34  „[D]ie Handlungen des Menschen, ob sie gleich durch ihre Bestimmungsgründe, die in der Zeit vorhergehen, nothwendig sind, dennoch frei nennen, weil es doch innere, durch unsere eigene Kräfte hervorgebrachte Vorstellungen, dadurch nach veranlassenden Umständen erzeugte Begierden und mithin nach unserem eigenen Belieben bewirkte Handlungen sind), ist ein elender Behelf, womit sich noch immer einige hinhalten lassen“ (AA V, 96). 35  Chisholm (1982), 32. 36  „[I]n so far as an event is determined, an essential factor in its total cause must be other events. How could an event possibly be determined to happen at a certain date if its total cause contained no factor to which the notion of date has any application? And how can the notion of date have any application to anything that is not an event?“ [Broad (1952), 215].

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Für unbelebte Substanzen gilt analog: Die Ursache des Grübchens im Kissen37 war nicht die Kugel, sondern der Aufprall der Kugel. Unter den vielen Einwänden gegen die Annahme einer eigenen Akteurskausalität dürfte der Datiertheitseinwand der stärkste sein.38 Kant war sich des Datiertheitsproblems bewusst. Seine Haltung zu diesem Problem ist ein Schlüssel zum Verständnis seiner Lehre von der intelligiblen Kausalität in der Auflösung der Freiheitsantinomie. Bevor der transzendentale Idealismus ins Spiel kommt, erkennt Kant die kausalitätstheoretische Auflage an, dass sowohl Wirkung als auch Ursache datierte Begebenheiten sein müssen: In der Erscheinung ist jede Wirkung eine Begebenheit, oder etwas, das in der Zeit geschieht; vor ihr muß nach dem allgemeinen Naturgesetze eine Bestimmung der Causalität ihrer Ursache (ein Zustand derselben) vorhergehen, worauf sie nach einem beständigen Gesetze folgt. Aber diese Bestimmung der Ursache zur Causalität muß auch etwas sein, was sich eräugnet oder geschieht; die Ursache muß angefangen haben zu handeln, denn sonst ließe sich zwischen ihr und der Wirkung keine Zeitfolge denken. Die Wirkung wäre immer gewesen, so wie die Kausalität der Ursache. (AA IV, 343 f.) Dass die Ursache datiert sein muss, gilt nach Kant aber nur, solange die Antinomie nicht aufgelöst ist. Für die „Causalität der Vernunft“ gilt das Erfordernis nicht, weil „Gründe der Vernunft allgemein, aus Principien, ohne Einfluß der Umstände der Zeit oder des Orts Handlungen die Regel geben“ (AA IV, 345). Wegen des außerzeitlichen Charakters vernünftiger Gründe kann man sich an vernünftigen Wesen oder überhaupt an Wesen, so fern ihre Causalität in ihnen als Dingen an sich selbst bestimmt wird, ohne in Widerspruch mit Naturgesetzen zu geraten, ein Vermögen denken […], eine Reihe von Zuständen von selbst anzufangen. Denn das Verhältnis der Handlung zu objektiven Vernunftgründen ist kein Zeitverhältnis (AA IV, 346; vgl. KrV B 584/A 556). Kants Bemerkung, in der Sache wohlbegründet, kommt einem Themenwechsel gleich. Die nichtzeitliche Beziehung der objektiven Vernunftgründe zur Handlung ist überhaupt keine Kausalbeziehung, sondern sie ist die Beziehung der Rechtfertigung oder vernünftigen Begründung einer Handlung. 37  Kants Beispiel, vgl. KrV B 248/A 203. 38  Zu den weiteren Einwänden vgl. Keil (2000), 358–373.

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Kausalbeziehung und Begründungsbeziehung bestehen aber von vornherein nicht zwischen denselben Relata. Was eine Handlung als vernünftig, nachvollziehbar, begründet, prudentiell oder moralisch geboten erscheinen lässt, ist der Gehalt eines Grundes, nicht sein Erwogenwerden, also die mentale Episode des praktischen Überlegens. Die Rede, dass Gründe eine Handlung „bestimmen“, hat ja eine kausale und eine nichtkausale Lesart: Einerseits kann eine datierte mentale Episode des Überlegens, vernünftigen Entscheidens oder Inkorporierens in eine Maxime gemeint sein, andererseits eine zeitlose Leistung des propositionalen Gehalts des Grundes. Ontologisch fassen wir Gründe in der Regel so auf, dass sie semantische Identitätsbedingungen haben und keine raumzeitlichen oder kausalen: Wenn zwei Personen ‚aus demselben Grund‘ etwas tun, teilen sie einen Grund mit demselben Gehalt, wiewohl zwei numerisch verschiedene kausale Episoden stattfinden. Propositionale Gehalte sind in der Tat nichts Zeitliches oder Räumliches, und eben deshalb ist die Bestimmung durch Vernunftgründe keine Verursachungsbeziehung.39 Die Unterscheidung zwischen Rationalisierungs- und Kausalbeziehung trifft die Auflösung der Freiheitsantinomie ins Mark. Wenn die nichtzeitliche Art der ‚Determination‘ einer Handlung durch den intelligiblen Charakter, die Kant anführt, gar keine kausale ist, dann ist auch „Kausalität durch Freiheit“ keine Kausalität und konfligiert schon deshalb nicht mit der Naturkausalität. Versucht man das fragliche Verhältnis als kausales zu verstehen, sind die Paradoxien der Lehre von der nichtzeitlichen Verursachung unausweichlich. Kant behauptet ja, dass das ‚Anfangen‘ einer Reihe von Begebenheiten kein zeitliches Anfangen ist, wiewohl das in Gang Gesetzte eine gewöhnliche Begebenheit in der Welt der Erscheinungen ist. Das ist nicht leicht zu verstehen. Bennett hat gegen Woods Verteidigung der „timeless agency“40 eingewandt, dass ein „making to begin“, das kein „happening“ ist, ein Selbstwiderspruch sei.41

39   Wie schmal der Grat ist, auf dem die transzendental-idealistische Auflösung der Antinomie sich bewegt, zeigt Kants Einwand gegen Wolff und Baumgarten, dass die Vernunftbestimmtheit der Handlung allein den Naturmechanismus nicht aufhebe: „Der Mensch wird dadurch nicht vom Natur-Mechanismo befreit, daß er bey seiner Handlung einen actum der Vernunft vornimmt. Jeder Actus des Denkens, Ueberlegens ist selbst eine Begebenheit der Natur“ (AA XXVII, 503). 40  Wood verteidigt Kants Abkehr von der „commonsense conception of free agency“: „It is […] obvious that this theory does not leave intact our commonsense conception of our free agency. As countless critics of Kant have observed, we surely do think of our moral agency as situated in time. We suppose that our free choices are made in the temporal flow, reacting to the course of events as it unfolds. We believe that we are free‚ at the point in time when we act, and not timelessly, as Kant’s theory requires“ [Wood (1984), 97]. 41  Bennett (1984), 102.

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Offenbar wird die Begrifflichkeit des Anfangens, Beginnens und Entspringens in Kants Freiheitslehre mehrdeutig verwendet. Die Rede vom nichtzeitlichen „Vernunftursprung“ einer Handlung42 ist so lange unproblematisch, wie sie nicht in einem theoretisch anspruchsvollen Sinn kausal interpretiert wird. In einem vortheoretischen Sinn fangen wir Handlungen an und sind deren vernünftige Ursprünge, aber diese Redeweisen rechtfertigen es nicht, kausale Verhältnisse zwischen Zeitlichem und Nichtzeitlichem anzunehmen. Kant ist die begriffliche Misslichkeit, nichtzeitliche Verhältnisse als kausale auszugeben, präsent, sonst hätte er das Datiertheitsproblem nicht selbst aufgeworfen. Dass die Ursache etwas Datiertes sein muss, weil es andernfalls „zwischen ihr und der Wirkung keine Zeitfolge“ (AA IV, 343) gäbe, lässt er aber nur für die Kausalität zwischen Erscheinungen gelten. In der Auflösung der Antinomie setzt er als erstes Relatum der Kausalbeziehung und Subjekt der freien Handlung nicht mehr die Person ein, sondern den „intelligiblen Charakter der reinen Vernunft“: „[J]ede Handlung unangesehen des Zeitverhältnisses, darin sie mit anderen Erscheinungen steht, ist die unmittelbare Wirkung des intelligibelen Charakters der reinen Vernunft, welche mithin frei handelt“ (KrV B 581/A 553). Solche Formulierungen überschreiten die Grenzen des Sinns weiter, als selbst um der innovativen Lösung eines schwierigen Problems willen akzeptabel wäre. Kant kann nicht plausibel machen, mit welchem Recht man das nichtzeitliche Verhältnis zwischen Intelligiblem und Erscheinendem noch eine Instanz der Kausalbeziehung nennen kann. Während seine nomologische Auffassung der Kausalität in der Exposition der Antinomie zu eng ist, ist sein Kausalbegriff in der Auflösung der Antinomie zu weit. Rosefeldt verteidigt die Lehre der nichtzeitlichen Verursachung durch den Hinweis auf die von Kant konstatierte kontrafaktische Abhängigkeit des empirischen Charakters vom intelligiblen: „Denn ein anderer intelligibeler Charakter würde einen anderen empirischen gegeben haben“ (KrV B 584/ A 556). Deshalb gilt auch von einer kausal determinierten bösen Handlung, die „unausbleiblich nothwendig“ war, dass der Täter „sie hätte unterlassen können“, denn sie gehört „mit allem Vergangenen, das sie bestimmt, […] zu einem einzigen Phänomen eines Charakters, den er sich selbst verschafft“. (AA V, 98) Die entscheidende Frage ist hier, wie man die Annahme zu verstehen hat, dass man sich seinen Charakter „selbst verschafft“. Handelt es sich um eine zeitlich situierte mentale Episode der willentlichen Bekräftigung von Neigungen oder Aneignung von Maximen, so ist dem Datiertheitseinwand Rechnung getragen 42  „Wir können also nicht nach dem Zeitursprunge, sondern müssen bloß nach dem Vernunftursprunge dieser Tat fragen“ (AA VI, 41).

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und die kausale Interpretierbarkeit gewahrt, allerdings unter Preisgabe der zeitlosen noumenalen Kausalität. Die Unterlassbarkeit, die für die Zurechnung erforderlich ist,43 wird lediglich von der „unausbleiblich notwendigen“ empirischen Handlung auf die Annahme der handlungsleitenden Maxime verschoben. Soll es sich bei dieser Aneignung hingegen nicht um einen zeitlichen Vorgang handeln,44 so hat dies unter anderem die Konsequenz, dass man allen von Kant und seinen Interpreten verwendeten Handlungsverben einen neuen, unüblichen Sinn beilegen muss. Sich etwas anzueignen, zu verschaffen, es anzunehmen, zu inkorporieren, sich zur Maxime zu machen – all diese Aktivitäten (?) bezeichnen dann ein nichtzeitliches Verhältnis des intelligiblen Subjekts zu seinen Zuständen und Eigenschaften. Freilich kann man den Begriff der Handlung mit Baumgarten so definieren, dass er diese Fälle synchroner Aktualisierungen umfasst,45 aber warum sollte man es tun? Ein plausibler Grund wäre, dass man mit der Beibehaltung des Handlungsvokabulars dessen Ambiguität ausbeuten kann, und sei es ungewollt: Die Konnotation eines psychisch realen Vorgangs kommt für die Zurechenbarkeit und für die kausale Interpretierbarkeit der Aneignung auf, die nichtzeitliche Lesart als „intelligibele That“ (AA VI, 31) enthebt die Aneignung der Naturnotwendigkeit und macht sie für Kant mit dem Determinismus kompatibel. 7 Substanzkausalität Kant als Akteurskausalist im Sinn der Gegenwartsphilosophie einzuordnen ist in zweierlei Hinsicht problematisch. Zum einen spielen bei modernen Akteurskausalisten wie Chisholm, Taylor, O’Connor und Clarke gewöhnliche Personen die Rolle des kausalen Urhebers, keine intelligiblen Instanzen. Deshalb vertritt auch keiner dieser Autoren die idiosynkratische Lehre der „timeless agency“. Zum anderen ist umstritten, ob Kant die noumenale Kausalität als zusätzliche Kausalitätsart neben der gewöhnlichen Ereigniskausalität auffasst. Verschiedene Interpreten vertreten die Auffassung, 43  „Die Gesinnung, d. i, der erste subjective Grund der Annehmung von Maximen […] muß auch durch freie Willkür angenommen worden sein, denn sonst könnte sie nicht zugerechnet werden“ (AA VI, 25). 44  „Diese Aneignung des Charakters durch den Menschen darf dabei nicht als zeitliches Abfolgeverhältnis, sondern soll als eines der ontologischen Fundierung verstanden werden“ [Rosefeldt (2012), 90]. 45  „[A]nders als der Begriff der Zustandsveränderungen ist der Begriff der Verwirklichung (actuatio) eines Akzidens in einer Substanz kein wesentlich zeitlicher“, also ist die „intelligible Tat als zeitlose Handlung […] kein begrifflicher Widerspruch“ [Rosefeldt (2012), 89].

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dass schon die gewöhnliche Naturkausalität bei Kant keine Relation zwischen Ereignissen sei. Die „Kausalität nach Gesetzen der Natur“, der in der Antinomie die noumenale ‚Kausalität aus Freiheit‘ gegenübergestellt wird, fasse Kant von vornherein substanzkausalistisch auf. Nach dieser Lesart ist noumenale Kausalität lediglich eine Unterart der Substanzkausalität. Ich referiere diese Interpretation anhand der umfassenden und sorgfältigen Studie von Watkins. Nach Watkins gibt es eine weitgehende Kontinuität zwischen Kants vorkritischer und seiner kritischen Kausalitätsauffassung. Kant übernehme und transformiere die substanzkausalistische Begrifflichkeit der schulmetaphysischen Tradition, insbesondere die Begriffe ‚Substanz‘, ‚Handlung‘, ‚Kraft‘, ‚Natur‘ und ‚Aktivität‘. Kombiniert werden sie wie folgt: „[C]ausality occurs if one substance determines the states of another by actively exercising its causal powers according to their natures and circumstances“.46 Der aktive Pol einer kausalen Dynamik ist also eine Substanz. Substanzen haben Eigenschaften und Vermögen. Wenn eine Substanz handelt, dann verwirklicht sie ihre Vermögen und wirkt dadurch auf sich selbst oder auf andere Substanzen derart ein, dass sich deren Zustände verändern. Für die nomologische Kausalitätsauffassung eröffnet sich die Möglichkeit, dass der Notwendigkeitscharakter der Naturgesetze nicht aus ausnahmslosen Regularitäten stammt, sondern aus den Naturen der beteiligten Substanzen. Auch der Determinismus kann seine nomische Kraft dann aus dieser Quelle beziehen: „[T]he laws of nature, from which the necessity of determinism derives, are contingent upon the nature of things“.47 Die Vereinbarkeit der Freiheit mit der Naturnotwendigkeit wird dadurch möglich, dass Substanzen durch das Ausüben ihrer kausalen Vermögen ihre Naturen in begrenztem Umfang selbst bestimmen können: „[B]y exercis­ ing its causal powers, a substance might be able to choose (some aspect of) its own nature, which influences in turn which laws of nature hold and thus which laws are necessary in accordance with them“.48 Da nun zu den bestimmbaren Naturen auch „the natures that we freely choose for ourselves (which we typically call our character)“49 gehören, wird der Notwendigkeitscharakter des Determinismus im Falle freier Handlungen auf charakteristische Weise transformiert: „[T]he necessity of determinism does not ultimately conflict with, but rather depends on, the contingency of our free will“.50

46  Watkins (2005), 13. 47  Watkins (2005), 15. 48  Watkins (2005), 361. 49  Watkins (2005), 15. 50  Ebd.

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Eine Würdigung der exegetischen Angemessenheit von Watkins’ Rekonstruktion würde weit mehr Raum erfordern als hier zur Verfügung steht, wobei über die philosophische Kohärenz und Vertretbarkeit dieser substanzkausalistischen Metaphysik noch gar nichts gesagt wäre. Insbesondere die Auffassung, dass eine Substanz fähig sei, sich ihre eigene Natur zu wählen und damit die Naturgesetze zu bestimmen, erscheint rätselhaft. Ich beschränke mich auf einige Hinweise, die das Referierte mit meinen eigenen Klärungs- und Kritikzielen verknüpfen. (i) Zum Textbefund: Es wäre ein Leichtes, Watkins’ Textbelegen für die substanzkausalistische Interpretation die zahllosen Stellen zur Seite zu stellen, die sich besser oder überhaupt nur ereigniskausalistisch lesen lassen. So ist das allgemeine Kausalprinzip bei Kant für Ereignisse formuliert („alles, was geschieht“, „was sich ereignet“, „Veränderungen“, „Begebenheiten“); in seiner gesetzesimplizierenden Fassung fixiert es ausdrücklich zeitliche Verläufe;51 die Notwendigkeitsbehauptung wird ausdrücklich nicht auf die Substanzen selbst bezogen, sondern auf dynamische Verhältnisse zwischen ihren Zuständen.52 Ein Kausalprinzip auf substanzkausalistischer Grundlage, das eine dem KP auch nur entfernt äquivalente Aussage machte, hat Kant nicht formuliert. Wie es lauten könnte, ist nicht zu sehen. Viele der Stellen, an denen Zustände einer Substanz als zweites Relatum der Kausalbeziehung ausgegeben werden, lassen sich auch so deuten, dass dort vom Eintreten von Zuständen die Rede ist, also von datierten Veränderungen.53 Es bleiben andere Redeweisen übrig, die ereigniskausalistisch keinen Sinn ergeben, so Kants häufige Rede von „handelnden Ursachen“. Offenbar gibt es bei Kant, wie in der Literatur verschiedentlich bemerkt worden ist, eine 51  „Die Richtigkeit jenes Grundsatzes von dem durchgängigen Zusammenhange aller Begebenheiten der Sinnenwelt nach unwandelbaren Naturgesetzen […]“ (KrV B 564/A 536); „daß eine jede Begebenheit, also auch jede Handlung, die in einem Zeitpunkte vorgeht, unter der Bedingung dessen, was in der vorhergehenden Zeit war, nothwendig sei“ (AA V, 94); „die Nothwendigkeit der Verknüpfung der Begebenheiten in einer Zeitreihe, so wie sie sich nach dem Naturgesetze entwickelt“ (AA V, 97). 52  „Also ist es nicht das Dasein der Dinge (Substanzen), sondern ihres Zustandes, wovon wir allein die Nothwendigkeit erkennen können, und zwar aus anderen Zuständen“; die „Nothwendigkeit betrifft also nur die Verhältnisse der Erscheinungen nach dem dynamischen Gesetze der Causalität“. (KrV B 279 f./A 227 f.) 53  Vgl. zu dieser Diskussion über Zustände versus Zustandsveränderungen als kausale Relata Van Cleve (1973), 73; Allison (1983), 223; Allison (1996), 87; Thöle (1991), 162–164. Textbelege lassen sich für beide Interpretationen finden, so dass es „scheint, daß Kant beides zulassen will, ohne darauf zu reflektieren, daß Kausalität in beiden Fällen etwas anderes bedeuten muß“ [Rang (1990), 33].

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unaufgelöste Spannung zwischen zwei Modellen von Kausalität: einem substanzkausalistischen und einem ereigniskausalistischen.54 Aus dem Umstand, dass Kant den Unterschied beider Modelle nicht thematisiert, wird man schließen dürfen, dass er beide Modelle für unproblematisch miteinander vereinbar hielt. Sein Sprachgebrauch hinsichtlich der Relata der Kausalbeziehung ist allgemein nicht besonders sorgfältig. Allein in der zweiten Analogie der Erfahrung können Geschehnisse, Begebenheiten, Handlungen, Dinge, Zustände, Wahrnehmungen, Vorstellungen und Erscheinungen kausale Relata sein.55 (ii) Systematisch erscheint es fruchtbar, das substanzkausalistische und das ereigniskausalistische Modell zwei grammatischen Formen singulärer Kausalsätze zuzuordnen, die man mit Pardey56 die aristotelische und die humesche Form nennen kann: In Kausalsätzen der aristotelischen Form (‚Brutus tötete Caesar‘, ‚Der Ofen erwärmte das Zimmer‘, ‚Die Kugel drückte eine Grube ins Kissen‘) werden zwei Gegenstandsausdrücke durch ein zweistelliges Prädikat verknüpft, nämlich durch ein Handlungsverb. Es entsteht die Beschreibung eines Veränderungsvorgangs, der auch nicht in Phasen aufgeteilt wird. Sätze der aristotelischen Form eignen sich besonders gut für Handlungsbeschreibungen. In Kausalsätzen der humeschen Form (‚Der Steinwurf hat den Bruch des Fensters verursacht‘, ‚Ursache des Todes war eine Vergiftung‘) bezeichnen die singulären Terme nicht Gegenstände oder Personen, sondern Ereignisse; es werden zwei Ereignisse genannt, die durch ein blasses Kausalverb wie ‚verursacht‘, ‚bewirkt‘ oder ‚ist die Ursache von‘ verknüpft werden, das nur die Kausalrelation selbst bezeichnet. Im humeschen Modell ist Kausalität eine Relation zwischen zwei Veränderungen. Im aristotelischen Modell ist nur von einer Veränderung die Rede, aber was genau Kausalität in diesem Modell sein soll – ob eine Relation oder etwas anderes –, wird selten erklärt. Auch in Watkins’ Rekonstruktion von Kants Auffassung wird nota bene nicht gesagt, was eine Ursache ist, sondern nur, dass „causality occurs if one substance determines the states of another“.57 Plausiblerweise geht jede ‚Handlung‘ einer Substanz mit einem Verursachungsvorgang einher, aber man wüsste gern genauer, was an solchen Vorgängen der aktiven ‚Bestimmung eines Zustands‘ die kausale Komponente 54  So zum Beispiel Willaschek (1992), 39. Watkins räumt ein, dass es in Kants Ausführungen zur Kausalität Inkonsistenzen gibt, sucht sie aber – wenig überzeugend – durch die jeweilige dialektische Situation wegzuerklären [vgl. Watkins (2005), 347–349]. 55  Auch bei Hume, der als entschiedener Ereigniskausalist gilt, ist der Textbefund uneinheitlich. Hume spricht von Kausalbeziehungen zwischen objects, things, matters of fact, impressions und events. 56  Vgl. Pardey (1998). 57  Watkins (2005), 13.

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ist und wie sie sich zu anderen Komponenten oder Aspekten solcher Vorgänge verhält. Sätze der aristotelischen und solche der humeschen Form werden in unterschiedlichen Kontexten und zu verschiedenen Zwecken benutzt. Sie ineinander zu überführen ist keine triviale Aufgabe, denn aristotelische Sätze enthalten Informationen, die humesche Sätze nicht enthalten, und umgekehrt.58 humesche Sätze tragen der Eigenart von Handlungen nicht Rechnung, weil sie den Akteur zur Bühne eines kausalen Geschehens degradieren. Aristotelische Sätze weisen eine komplementäre Unzulänglichkeit auf. Sie tragen dem aktiven Vollzugscharakter des Handelns Rechnung, bestimmen aber den kausalen Aspekt falsch, indem sie das Vollziehen und das Verursachen miteinander kurzschließen. Ein Akteur verursacht aber nicht, was er tut, sondern er tut es eben. Dabei kann der Substanzkausalist an die voranalytische Auffassung, dass die handelnde Person einen nicht mit ihren mentalen Einstellungen zusammenfallenden kausalen Beitrag leistet, nicht einmal anknüpfen, denn wenn Urheber („handelnde Ursachen“) im Wortsinne Ursachen wären, müsste die Person der kausale Beitrag sein, statt ihn zu leisten, und das ist absurd. (iii) Gegen die substanzkausalistische Interpretation der noumenalen Kausalität lässt sich einwenden, dass das bloße Vorhandensein eines Vermögens, „eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen“, auch aus substanzkausalistischer Auffassung nichts in Bewegung setzt und keine Zustandswechsel bewirkt. Dafür ist die Ausübung des Vermögens erforderlich, und diese Ausübung ist etwas Okkurrentes, auch wenn das Vermögen selbst und die Substanz ontologisch von anderer Art sind. Das Datiertheitsproblem verschwindet also nicht, denn worin auch immer das fragliche Vermögen genau besteht: Es auszuüben ist ein Geschehen in Raum und Zeit. Wenn eine Handlung nicht irgendwann und irgendwo ausgeführt wird, wird sie überhaupt nicht ausgeführt. Watkins sieht das Datiertheitsproblem durch den Umstand gelöst, dass bei Kant neben dem empirischen und dem intelligiblen Charakter der handelnden Substanz ja noch Begleitumstände und „veranlassende Gelegenheitsursachen“ (KrV B 582/A 554) im Spiel sind, nämlich „mitwirkende andere Ursachen nach der Ordnung der Natur“ (KrV B 578/A 440). Da Broad nur gefordert habe, dass die Ursache irgendeinen datierten Faktor enthalte,59 sei dem Einwand Rechnung getragen.60 58  Vgl. dazu Keil (2000), 373–383. 59  Vgl. Broad (1952), 215 (siehe oben, Anm. 36). 60  Vgl. Watkins (2005), 41. Rosefeldt argumentiert ähnlich, dass Ursachen für Kant allgemein keine hinreichenden Bedingungen seien und dass die nichtzeitliche intelligible Tat ein notwendiges Element einer nur als ganzer kausal hinreichenden Bedingungsmenge sein

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Dies ist ein Zug von zweifelhaftem Wert; fast möchte man von einem elenden Behelf sprechen. Der Einbezug der „veranlassenden Gelegenheitsursachen“ mag die substanzkausale Ursache – besser nun: den ontologisch hybriden Bedingungskomplex − vor dem Datiertheitseinwand bewahren, aber das Motiv der Freiheitsrettung durch eine noumenale Kausalität wird dadurch konterkariert. Wenn die einzigen datierten Elemente der „handelnden Ursache“ die ereignisförmigen Begleitumstände sind, dann sind diese auch der Sitz des im engeren Sinn kausalen Anteils des Bedingungskomplexes. Gerade diejenigen Elemente, die die ansonsten nichtzeitliche „Ursache“ zu einer machen, die ihren Namen verdient, weil sie dafür verantwortlich sind, dass die Handlung überhaupt ausgeführt wird, sind dann nicht in der Hand des Akteurs. Das kann Kant nicht gelegen kommen. Sobald man die „timeless agency“ nur halbherzig verteidigt und zugesteht, dass Akteurs- oder Substanzkausalität als Kausalitätsart erst dadurch verständlich wird, dass ein Teil der Ursache zeitlich situiert ist, zerfällt die ‚Kausalität aus Freiheit‘ in ihre noumenalen und empirischen Teile. Dieser Zug ergibt auch freiheitstheoretisch keinen Sinn. Ist man unter dem Druck des Datiertheitseinwands mit Ursachen zufrieden, die nicht in der Hand des Akteurs liegen, kann man gleich bei der Ereigniskausalität bleiben. (iv) Es ist unklar, wie im Rahmen einer substanzkausalistischen Metaphysik der Kausalität der universale Determinismus begründet werden soll. Einige der auslegungsfähigen Formulierungen Kants zum analytischen Zusammenhang zwischen Kausalität und Gesetzmäßigkeit, die ich oben im Sinne des Bezugs auf deterministische Sukzessionsgesetze interpretiert habe, lassen bei näherer Betrachtung die Art der erforderlichen Gesetze offen. Nach Kant können Substanzen „auf unendlich mannigfaltige Weise Ursachen sein“, wobei jede dieser Weisen „ihre Regel haben [muß], die Gesetz ist“.61 In der Auflösung der Freiheitsantinomie nennt Kant das zwischen der Substanz und ihrer Wirkung Vermittelnde ihren „Charakter“, der als „Gesetz ihrer Causalität“ fungiert: „Es muß aber eine jede wirkende Ursache einen Charakter haben, d. i. ein Gesetz ihrer Causalität, ohne welches sie gar nicht Ursache sein würde“ (KrV B 567/A 539). könne [Rosefeldt (2012), 103–107, mit Textbelegen, die Kants punktuelle Nähe zur INUSAnalyse dokumentieren]. 61  „[D]er Verstand sagt: Alle Veränderung hat ihre Ursache (allgemeines Naturgesetz) […]. Nun sind aber die Gegenstände der empirischen Erkenntnis […] noch auf mancherlei Art bestimmt […], so daß spezifisch-verschiedene Naturen, außer dem, was sie, als zur Natur überhaupt gehörig gemein haben, noch auf unendlich mannigfaltige Weise Ursachen sein können; und eine jede dieser Arten muß (nach dem Begriffe einer Ursache überhaupt) ihre Regel haben, die Gesetz ist, mithin Notwendigkeit bei sich führt“ (AA V, 183).

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Kant nimmt also substanzspezifische kausale Gesetze an, in denen sich der modus operandi handelnder Substanzen in verschiedenen Arrangements ausdrückt. Die Frage ist nun, wie man von diesen substanzspezifischen Gesetzen zum universalen Determinismus kommt. Kant muss der Auffassung sein, dass die modale Kraft der Konjunktion aller dieser substanzspezifischen Gesetze äquivalent mit dem von Laplace fingierten Supergesetz ist, das gemeinsam mit einem Momentanzustand des Universums den Weltlauf alternativlos festlegt.62 Wie diese Äquivalenz gewährleistet werden soll, ist aber nie gezeigt worden. Die Stoiker haben eine Begründung des Determinismus auf diese Weise versucht, kamen aber immer nur bis zu einer konditionalen Notwendigkeit: „Denn wenn der Stein aus einer gewissen Höhe losgelassen wird und kein Hindernis im Weg ist, kann er sich unmöglich nicht nach unten bewegen“.63 Diese Notwendigkeit, die in der Natur des Steins liege, reicht für einen durchgängigen Determinismus nicht aus, denn dafür müsste auch determiniert sein, ob der Stein losgelassen wird und ob sein Herunterfallen verhindert wird. Doch in der Natur welcher Substanzen sollten diese Determinationen liegen? Legt man einen aristotelischen Substanzbegriff zugrunde, so besteht nicht die gesamte physische Welt aus Substanzen, sondern nur ausgezeichnete Teile derselben. Schon aus diesem Grund werden die artspezifischen modi operandi der Substanzen unterbestimmt lassen, was insgesamt in der Welt geschieht. Damit ist nicht gesagt, dass es für Kants substanzspezifische Gesetze keinen systematischen Ort in der Naturwissenschaft gäbe. Am besten wird man solche Gesetze als Restriktionen auffassen, die den Raum dessen einschränken, was geschehen kann, nicht hingegen alternativlos festlegen, was tatsächlich geschieht. Dass kein Ding um den Preis seiner Zerstörung ein anderes Verhalten zeigen kann, als seinen definierenden Eigenschaften entspricht, erlaubt nicht das tatsächliche Geschehen abzuleiten. In der Sache dürfte eine solche aristotelisch abgeschwächte Auffassung der Naturnotwendigkeit der Wahrheit näher kommen als der mechanistische Determinismus des 17. und 18. Jahrhunderts. Kant war von den hochallgemeinen Gesetzen der newtonschen Mechanik beeindruckt, lässt deren Verhältnis zu den substanzspezifischen Gesetzen aber ungeklärt. Er hat das mit den letzteren verbundene Potenzial, die modale Kraft von Naturgesetzen auf nichtdeterministische Weise zu rekonstruieren, nicht ausgeschöpft, weil er aus welchen Gründen auch immer von der Wahrheit 62  Ähnlich Rosefeldt (2012), 93: „Die speziellen Naturgesetze in einer Welt ergeben sich dann aus der Summe der empirischen Charaktere der die Welt bildenden Substanzen. Insofern gilt die Determinismusthese“. 63  So das Referat der stoischen Lehre bei Alexander v. Aphrodisias, De fato 181–182, zitiert nach: Long/Sedley (2000), 465.

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des „Prädeterminism“ (AA VI, 49) überzeugt war. Die dialektische Situation ist gründlich verfahren, denn ohne Determinismus, den Kant nicht hätte vertreten müssen, gibt es keine Freiheitsantinomie und ohne Antinomie keine Notwendigkeit einer transzendental-idealistischen Auflösung durch die Lehre von der noumenalen Kausalität. Gibt man den Determinismus auf, fällt die antinomische Konstruktion in sich zusammen. Das ist eine gute Nachricht, denn wenn Freiheit noumenale Kausalität erforderte, wäre Freiheit nicht zu retten.64 Literaturverzeichnis Die Werke Kants sind im Text nach der Akademie-Ausgabe [Kant, I. (1900 ff.), Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin.] mit Angabe von Bandnummer und Seitenzahl unter Angabe der Sigle ‚AA‘ zitiert. Die Kritik der reinen Vernunft ist mit der Paginierung der A- und der B-Auflage zitiert. Alexander von Aphrodisias, De fato. Zitiert nach: A. A. Long/D. N. Sedley (Hg.) (2000), Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare [1987], übers. von K. Hülser, Stuttgart/Weimar. Allison, Henry E. (1983), Kant’s Transcendental Idealism. An Interpretation and Defense, New Haven/London. Allison, Henry E. (1990), Kant’s Theory of Freedom, Cambridge/New York. Allison, Henry E. (1996), „Causality and Causal Law in Kant. A Critique of Michael Friedman“ [1994]. Zitiert nach: Ders., Idealism and Freedom. Essays on Kant’s Theoretical and Practical Philosophy, Cambridge/New York, 80–91. Beck, Lewis W. (1978), „Once More unto the Breach: Kant’s Answer to Hume, Again“ [1967]. Zitiert nach: Ders., Essays on Kant and Hume, New Haven, 130–135. Bennett, Jonathan (1984), „Kant’s Theory of Freedom“, in: Allen Wood (Hg.), Self and Nature in Kant’s Philosophy, Ithaca/London, 102–112. Bojanowski, Jochen (2006), Kants Theorie der Freiheit, Berlin/New York. Broad, Charlie D. (1952), Ethics and the History of Philosophy, London. Cartwright, Nancy (1983), How the Laws of Physics Lie, Oxford/New York. Chisholm, Roderick M. (1982), „Human Freedom and the Self“ [1964]. Zitiert nach: G. Watson (Hg.), Free Will, Oxford, 24–35.

64  Dieser Beitrag erschien erstmals als Keil (2012). Die Erstveröffentlichung enthielt einen Epilog, der hier entfallen ist.

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Sachregister Achtung (vor dem Sittengesetz) 50, 52, 61, 202–203, 218–219n1, 240–241n1, 328 Antinomie 117, 121–123, 127, 129, 131, 134, 138, 141, 210, 224, 226, 233, 274, 327–328, 331–333, 338, 340, 343–344, 348, 352–356, 358, 362, 364 arbitrium liberum 96, 317 Autokratie 40n2, 49 Autonomie 1–2, 7, 37–38, 40n2, 41n, 50, 51n, 55, 60–61, 95, 118, 123, 129, 138n, 143, 145, 145n, 146, 148, 162, 172–175n, 176, 180–181, 184, 216, 245, 298–299n, 300–302, 311, 314–315, 317–320, 322, 324–329 Begehren 157, 166, 177, 179, 217, 220–221 Begehrungsvermögen 40, 174, 174n3, 175, 180, 317 Bestimmungsgrund 54, 55n1, 128n3, 129, 156, 174, 197–198, 202, 204, 304, 307, 308n Bewusstsein 10–11, 54, 61, 85, 123–125n1, 126, 128, 136–137, 141–142, 144–146, 159–162, 167–169, 234, 256–257, 308, 310, 313 empirisches/endliches 159, 193 moralisches/des Sittengesetzes 128, 130, 135, 145n, 148, 148n2, 169, 191, 199, 211–212, 215, 245 Selbstbewusstsein 118–119, 123–127, 131–132, 135–137, 146, 148, 178, 245, 323 Zeitbewusstsein 228–229, 233 Bildung 32, 183, 215, 237–239, 244, 262, 317–325, 329 Böse 41, 47, 62–63, 67–69, 73, 75, 80, 143n1, 161–164, 167, 172, 178, 181–182, 193n2, 196, 221, 236–237, 237n1, 239–241, 243–248 Charakter 22, 25, 32–34n, 61, 141–142, 166, 169, 181, 218, 232n1, 260, 309, 356, 357n2, 362 empirischer 57, 121, 126–127, 132, 141–143n, 328, 356, 361, 363n1 intelligibler 117, 121–122, 127, 132, 141, 143n, 164–165, 182, 328, 331, 355–356, 361

Deliberation 8n2, 18n2, 31n2, 110n1, 227, 282 Determinismus 14, 14n, 16, 17n2, 18n3, 21, 23, 28, 34, 136, 136n1, 138, 140–142, 146, 154–156, 160, 164–166, 210, 215, 217, 224, 234, 239, 253, 331–332, 335, 335n, 336–339n4, 340–342, 344–351, 357–358, 362–363n1, 364 Indeterminismus 14, 14n, 19, 28, 31n3, 34, 140, 154, 156, 336, 350, 351n Prädeterminismus 156, 253, 266, 268, 339, 364 Ding an sich 141n1, 260, 262 Entscheidung 7, 11, 11n1, 12–13n, 14–16n, 17, 17n2, 19n2, 21, 29n, 30, 31n3, 33–34n, 44, 78–79, 82, 130, 141–142, 158–159, 162, 173–174, 179, 184, 227–228, 244, 253, 266–267, 269, 320–322, 346 Faktum der Vernunft 127–128, 130, 145–146, 148, 193, 247, 328 Fatalismus 15, 15n2, 136n1, 166, 166n6, 169, 208, 213n3, 298–299 Intelligibler 164–165n3, 167–169, 178, 299n1, 300, 312 Freiheit Handlungsfreiheit 237, 297 Indifferenzfreiheit 11, 31, 33–34, 44, 78, 173, 184 praktische 38, 143, 145, 317, 320, 327–330, 336 transzendentale 38, 79, 122, 143, 163–164, 327–329, 332, 336, 353 Wahlfreiheit 134, 147, 160, 167n3, 191 Willensfreiheit 11n1, 45, 135–136, 158, 160, 175, 237–238, 332, 335 Gefühl 38, 73, 181, 203, 211–212, 218–219, 221, 240n, 247, 253, 317 Gesetz Kausalgesetz 11n1, 17–18, 224–226, 251, 262, 342–343n3, 344, 346–350, 359n2, 362–363 Naturgesetz 17, 28, 42, 43n, 44, 46–49, 64n3, 68, 70, 73, 79, 120–121, 127, 129,

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Sachregister

Gesetz (cont.) 146, 162, 166, 172, 174, 179, 184, 197, 205, 226, 248, 262–263, 265, 268, 298, 308, 311, 326–328, 332, 334, 336n, 337, 338–339n2, 340, 341n1, 342–343n3, 344–345n1n2, 349–350, 354, 358–359n1, 362n2, 363, 363n1 Sittengesetz/moralisches/praktisches  40n2, 41n, 50–52, 55, 55n2, 57, 57n1, 59–61n4, 66–67, 74, 75n1, 79, 79n2, 86, 119, 128–131, 134, 138n, 144, 144n1n2, 145, 145n, 146, 148, 155, 157–163, 167–169, 172, 175–176, 178–179, 182, 190–193n4, 197–199, 202–204, 209n2, 210, 213, 216–217, 220–221, 224, 237n1, 247, 298, 302, 308, 308n, 309–313, 319–320, 325–329, 336–337, 345 Vernunftgesetz 79, 161–162, 174–175, 182, 184, 195, 198n1, 301, 307, 312, 326 Gesinnung 54, 55n1, 147, 204–205, 247, 298, 303n, 304, 306, 313, 357n1 Gut 7, 9, 17n2, 18, 38, 39n1, 42, 44–48, 50–51n, 52, 59–62n, 63, 65, 65n3, 66–76, 78, 80, 83, 130, 161–162, 167–168, 172, 178, 181, 198, 203–204, 212, 212n1, 213, 217–219n1n2, 220–221, 236, 237n1, 239–241, 243–249, 298–303n, 304–305n2, 306–307, 309, 311–312

Idealismus 134, 138, 229, 248n2, 261 deutscher 44, 72n4, 84, 117, 117n, 118, 127n, 206 transzendentaler 142, 253, 328, 331–333, 338, 354 Imperativ 43n, 110n3, 217, 219, 289, 318, 345n2 hypothetischer 195, 195n1, 216, 319 kategorischer 37, 41n, 52, 60, 101, 130, 138n, 143–144, 159, 194, 194n3, 195–196, 209n2, 211, 213, 213n1, 214, 216, 245, 319, 321 Inkompatibilismus 17n2, 333, 335, 335n, 336, 338

Handlung 8, 8n2, 9n1, 10n2, 13, 13n, 14–16, 17n2, 19–20, 20n1, 27n, 30, 31n3, 33–34n, 37, 44–49, 51, 51n, 52, 54, 55n2, 56, 58, 68, 73–74, 83, 121–122, 127–130, 132, 136, 139, 141–142, 147, 155–165, 167–169, 174, 177–179, 184, 191, 193n4, 194, 198, 202–203, 205, 215, 217, 220–221, 224–225, 227–230n, 231–232n3, 233–234, 236–239, 241, 243–249, 256, 264, 266–267, 269–272, 275, 297–298, 300–301, 303–313, 317–318, 320–325, 329, 335–337, 339, 339n4, 340, 352–353n1, 354–355n1, 356–357n3, 358, 359n1, 360–362 Heautonomie 172, 175, 175n5, 176, 184

Libertarismus 17n2, 31n3, 34n, 102–103, 112, 285–286, 335, 335n, 336, 336n, 338

Ich 39, 125–127, 135–138n, 147–148, 156, 208, 230n, 245 empirisches 167, 208 transzendentales 262, 274

Kausalität Freiheitskausalität 142, 174–175, 304, 307 Naturkausalität 42, 45, 121–122, 126, 131–132, 138, 140–141, 143, 146, 173, 174, 348, 352, 355, 358 Kompatibilismus 14n, 17, 17n2, 18n3, 29n, 34n, 183, 210, 236, 251, 254, 259, 267, 268n, 335, 337, 349, 352 Kontingenz 7, 7n2, 8, 14–15, 18n2, 19n2, 20n1, 22, 22n2, 23n3, 24, 24n3, 25, 25n1, 29–30, 65, 73, 80, 241, 266, 271, 316, 321–324, 326

Maxime 49, 51, 59, 159, 167, 169, 178–179, 195–196, 210, 237, 237n1, 251, 256, 274, 298, 310–311, 319, 336–337, 339n4, 355–357, 357n1 Moralität 65, 67–68, 73, 75n1, 159, 175, 178, 189–192, 194–196, 202–206, 208, 214, 224, 298, 329 Neigung 42, 78, 122, 128–129, 174n3, 184, 191, 198n1, 203, 211, 215, 215n2, 218, 221, 308, 311, 316–318, 320–322, 356 Normativität 84, 100–103, 111, 111n4, 118–119, 128–130, 132, 172–173, 175, 175n2, 176, 184, 215–217, 241, 249, 264, 289, 319–320, 324 Notwendigkeit 7–8, 15, 17n2, 18n2, 21n3, 25, 25n, 44–46, 48–49, 51, 51n, 52, 59,

Sachregister 75–80, 129, 144n2, 154–156, 163, 168–169, 174, 178, 181–182, 184, 217, 224, 228, 239–240, 257, 264–265, 267, 270–271, 339n2, 341–342, 349, 351, 357–359, 362n2, 363–364 Person 8, 21–22, 26–27, 27n, 34n, 45, 57, 60–62, 84–85, 96, 98, 101, 101n2, 102, 104, 112, 117, 121–132, 134, 136, 141, 147, 157–158, 160, 172, 176–185, 191, 194, 206, 216, 216n2, 218, 219n2, 221n, 253–254, 257–258, 260–261, 264–269, 271, 273–275, 292, 305, 337, 352–353, 355–357, 360–361 Pflicht 37, 42, 47, 51, 51n, 60, 64n3, 66–69, 73, 81–84, 122, 128, 145–146, 161, 168, 169, 175, 184, 192, 200, 203, 204n3, 211, 215n2, 220, 240, 241n1, 242, 299, 305, 309–310, 312n, 316, 321, 325, 328–329, 336–337 Raum 126–127, 129, 131, 137, 140, 140n2, 141–142, 146, 163, 164, 192, 225, 258–259, 261–262, 264, 271, 343n1, 355, 361 Selbstbewusstsein (s. Bewusstsein) Sinnlichkeit 121, 160–163, 166–177, 183, 211, 230, 233, 309, 312, 314, 320 Spontaneität 7–8, 8n1n2, 9, 9n1, 10, 10n2, 11n1, 18n2, 45, 49, 135–136, 143–145, 147–148, 156, 169, 183, 218, 274, 317–320, 322, 324–325, 327, 329, 332, 340n1 Subjektivität 137, 148, 274 Trieb 34, 59, 70, 122, 147, 159, 167, 174n3, 177, 179, 183, 198, 203, 214, 216, 216n1, 219–221, 231n, 283, 298, 311, 316–317, 321, 336, 339n3n4, 340n1, 351 Unvermögen 285, 306n, 307n Urteilskraft 120, 146, 180, 182–183

369 Vernunft/Rationalität instrumentelle 179, 215n1, 318 praktische 17n2, 37, 38, 45, 54, 128–129, 158–160, 167–168, 172, 175n6, 176–178, 184, 198, 210, 225, 298–303n, 304–311n, 312–314, 318–319, 321, 325–326, 328 theoretische 86, 325 Voluntarismus 47, 62–64n3, 64n5, 65–66, 72–73, 78, 83–84 Wahl 8n2, 10n2, 12, 25n, 31–32, 45, 49, 71, 76, 78–79, 134, 147, 156, 159–161, 167n3, 168–169, 181–182, 192, 217, 221, 237–238, 240–241n1, 244, 255–256, 359 Willkür 12–13, 31n3, 34n, 37, 40, 40n1, 42, 46, 50–51, 67–71n4, 72, 79–80, 96, 156, 158–159, 162, 167, 167n3, 173, 179, 184, 190–191, 195–196, 198, 198n1, 199, 203, 217, 221, 237n1, 238–240, 263, 282, 298, 311–312, 316, 324, 324n, 336, 339, 339n4, 340n1, 357n1 Zeit 13, 15, 19, 19n1n2, 20, 20n1, 23n3, 28, 31n3, 32, 126, 137, 139–140, 140n2, 141–143, 145–146, 148, 155–156, 163–166, 168, 224–225, 227–234, 239, 258–259, 261–262, 264–265, 269–271, 316, 320, 331, 334–336, 338–339n2, 343n1, 346, 352–356n, 357, 357n2n3, 359, 359n1, 316, 361n1, 362 Zufall 14n, 23, 34, 34n, 44, 46, 60, 69, 154–156, 164–166, 192, 197–198, 202, 217, 238–239, 253, 266, 316, 320–321, 326 Zurechenbarkeit 178, 237, 244, 298, 299n1, 357 Zweck 17, 17n2, 39, 41, 41n, 50–51, 59–61n4, 75, 80, 120, 130, 146, 174, 177, 184, 194, 194n3, 195, 198, 201, 203–204, 206, 213, 213n1, 216–218, 221, 231, 231n, 260, 271–273, 275, 325, 361