Frankreich und seine »Sekten«: Konfliktdynamiken zwischen Katholizismus, Laizismus und Religionsfreiheit 9783839434277

A systematic look at the backgrounds of the sectarian debates in France between the Catholic and the secular tradition,

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Frankreich und seine »Sekten«: Konfliktdynamiken zwischen Katholizismus, Laizismus und Religionsfreiheit
 9783839434277

Table of contents :
Inhalt
Abkürzungen
1. Einleitung
2. Forschungsstand
3. Forschungsdesign
I. Das „Anti-Kult“-Milieu, die parlamentarischen Debatten und die Judikative
4. Die Genese der französischen „Sektenkonflikte“
5. „Les Sectes“ zwischen parlamentarischen Debatten und Gesetzgebung
6. Die rechtlichen Mittel in der Praxis und im Spiegel der Öffentlichkeit
II. Die Hintergründe der französischen „Sektenkonflikte“– Tiefenanalyse
7. Les Sectes und ihre Bedeutungen
8. Darstellung der Einzelergebnisse
9. Diskussion
10. Abschließende Bemerkungen und Ausblick
Abbildungen
Tabellen
Quellenverzeichnis

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Christiane Königstedt Frankreich und seine »Sekten«

Religionswissenschaft | Band 4

Christiane Königstedt (Dr. phil.) forscht derzeit in Leipzig zu Religion und alternativer Spiritualität in säkularen Gesellschaften und Institutionen, Formen religiöser und spiritueller Vergemeinschaftung, Spiritualität sowie zu Konflikten zwischen »religiösen« und nichtreligiösen Weltbildern und Praktiken.

Christiane Königstedt

Frankreich und seine »Sekten« Konfliktdynamiken zwischen Katholizismus, Laizismus und Religionsfreiheit

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Inhalt

1. Einleitung | 11

Religiöse Innovation und gesellschaftliche Konflikte | 11 Säkularisierung und religiöse Innovationen | 14 Fragestellung und Vorgehensweise | 28

2. Forschungsstand | 31

Die Forschung zu den Konflikten um Neue Religiöse Bewegungen | 32 Die Akteure der „Anti-Sekten“-Agenda in der Sekundärliteratur | 35 Kulturbezogene, ideengeschichtliche und andere historische Ansätze | 43 Untersuchungen der Medien und öffentlichen Diskurse | 60 Das Recht betreffende Arbeiten und Argumentationen | 64 Ertrag aus der Sekundärliteratur | 69

3. Forschungsdesign | 73

Theorie | 73 Quellen und Methoden | 85

I. DAS „ANTI-KULT “-MILIEU, DIE PARLAMENTARISCHEN DEBATTEN UND DIE J UDIKATIVE 4. Die Genese der französischen „Sektenkonflikte“ | 9 1

Latour und die „Neufassung des Sozialen“ | 92 Das „Anti-Sekten-Aggregat“ ab 1995 – Personen, Institutionen, Einflüsse | 95 Secte und Anti-Secte | 99 Auswertung: Das „Anti-Kult“-Aggregat als „themenbezogene Interessengemeinschaft“ und als laizistische „Kämpfer für Frankreich“ | 107

5. Les Sectes zwischen parlamentarischen Debatten und Gesetzgebung – Ein Pejorativ und seine rechtliche Kodifizierung | 111

Praktisches Vorgehen | 113 Die Bedeutung der Kategorie sectes von 1995 bis 2001 | 116 Die Innerparlamentarischen Debatten – Der Weg zur Verschärfung der rechtlichen Mittel | 130 Les sectes im Gesetz no° 2001-504 du 12 juin 2001 und den vorhergehenden Entwürfen | 140 Zusammenfassung: Thematische Felder und die Bedeutung des Sektenbegriffs | 149 Auswertung: Les sectes zwischen Parlament und Gesetzgebung | 155

6. Die rechtlichen Mittel in der Praxis und im Spiegel der Öffentlichkeit | 161

Die Kombination sozialer, administrativer und strafrechtlicher Regulierung | 162 Les sectes in der gerichtlichen Praxis | 171 Die „Anti-Sekten“- Gesetzgebung und die nationalen und internationalen öffentlichen Debatten | 185

II. DIE HINTERGRÜNDE DER FRANZÖSISCHEN

„S EKTENKONFLIKTE“ –

TIEFENANALYSE 7. Les Sectes und ihre Bedeutungen | 197

Untersuchungsaufbau | 197 Frames und Bedeutungen | 199 Schema | 203 8. Darstellung der Einzelergebnisse | 207

Sachbezogene Eigeninteressen von Akteuren | 207 „Sektenopfer“, verletzliche Individuen und neue kulturelle Themen in Frankreich | 210

La République versus les sectes: Konkurrenz um den Bürger, die Möglichkeit einer Infiltrierung und „la Question Sociale“ | 221 Globalisierung, die USA und der internationale Kampf gegen „Sekten“ | 225 Laïcité und les sectes als „falsche“ Religion | 228 Die Rolle der französischen Linken und der UMP | 232 Ergebnisse des zweiten Hauptteils | 236

9. Diskussion | 241

Die „Rationalisierungen“ des Sektenproblems | 241 Gesamtauswertung | 252

10. Abschließende Bemerkungen und Ausblick | 259 Abbildungen | 263 Tabellen | 263 Quellenverzeichnis | 265

ABKÜRZUNGEN AKB L‫ތ‬ASES-CC AN ANT APG

CAP LC CESNUR CCMM CNOP ECoHR FIREPHIM GBR GGR INFORM MIVILUDES MILS NRB ONM PACS PS SARL SEL TS UMP UN UNADFI UNESCO

„Anti-Kult“-Bewegungen Association Spirituelle-Celebrity Centre Assemblée Nationale Actor-Network-Theorie „About-Picard-Gesetz“ (loi contre les „dérives sectaires“ ou „mouvements sectaires“, no 2001-504 du 12 juin 2001) Coordination des Associations & Particuliers pour la Liberté de Conscience Centro studi sulle nouve religioni CENTRE ROGER IKOR – Centre Contre les Manipulations Mentales Conseil National de l‫ތ‬Ordre des Pharmaciens. European Court of Human Rights Fédération Internationale des Religions et Philosophie Minoritaires Guyard-Brard-Report Gest-Guyard-Report The Information Network on Religious Mouvements Mission interministérielle de vigilance et de lutte contre les dérives sectaires Mission interministérielle de lutte contre les sectes Neue Religiöse Bewegungen Orde National des Medecins Pacte civil de solidarité Parti Socialiste Scientologie Espace Librairie Temple Solaire Union Pour un Mouvement Populaire United Nations Union nationale des associations de défense des familles et de l‫ތ‬individu victimes de sectes United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization

1. Einleitung Religiöse Innovation und gesellschaftliche Konflikte

Etwa in den 1960er Jahren traten so genannte „Neue Religiöse Bewegungen“ (folgend: „NRB“) wie Hare Krishna, Transzendentale Meditation (TM), The Family („Die Kinder Gottes“), Scientology, die Unification Church oder auch Heaven‫ތ‬s Gate weltweit, jenseits der etablierten Kirchen auf. Ihre Gemeinsamkeiten liegen, neben dem Entstehungszeitraum und dem – in der westlichen Welt – nicht-christlichen Ursprung oder dessen sehr freier Interpretation, in der relativen Neuartigkeit ihrer religiösen Ideen und der häufigen Einbeziehung fernöstlicher Elemente. Besonders dann, wenn in den überwiegend kleinen und oft stark kohäsiven Gemeinschaften exklusive Ansprüche an die Adepten geltend gemacht wurden und sie damit zu einer Konkurrenz für Familien und Ehepartnern avancierten, gerieten sie mit ihren „Gastgesellschaften“1 in Konflikt. Vorwürfe der Manipulation und des Missbrauchs lösten zeitweilig panikartige Besorgnis in der Bevölkerung und in deren Folge, die so genannten „Sektendebatten“ mit einem Höhepunkt in den 1990er Jahren aus. Diese Panik ist in fast allen westeuropäischen Ländern gegenwärtig kaum oder nur noch punktuell zu spüren, zu gering sind die tatsächliche

1

Der Terminus „Gastgesellschaften“ ist ein unter Forschern gebräuchlicher terminus technicus und soll hier im Speziellen auch darauf verweisen, dass NRB in ihrer Abkehr von, vor allem religiösen, Traditionen, ihrer kulturellen „Neuheit“ vom ihrer Umgebung of als fremd wahrgenommen werden. Im Begriff inhärent ist dieses bezeichnende „Nicht-dazu-Gehören“, aber auch ihre Instabilität, ihre geringe lokale Gebundenheit und ihre globale Mobilität (die gerade eine Reaktion auf ihre Ablehnung darstellt oder missionarische Gründe hat).

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Zahl der Anhänger und oft zu instabil die Gruppen selbst.2 In Frankreich war jedoch Scientology noch im Jahr 2009 als „betrügerische Organisation“ von der formalen Auflösung bedroht,3 was nur unbeabsichtigt durch eine einen Monat vorher vorgenommene Änderung in der Gesetzgebung verhindert wurde. Dabei handelte es sich um das versehentliche Entfernen einer Referenz zum ersten Kapitel des „Gesetzes no. 2001-504 du 12 juin 2001, zur Verstärkung der Vorsorge und Unterdrückung sektiererischer Bewegungen, welche die Menschenrechte und Grundfreiheiten bedrohen.“ Die entfernte Referenz hätte die festgestellte Straftat mit dem Gesetz verknüpft und so die hierin vorgesehene Auslösung „sektiererischer Gruppierungen“ anwendbar gemacht. Das „Anti-Sekten“-Gesetz sieht vor, dass »[…] jede juristische Person [...] die Aktivitäten verfolgt, welche als Ziel oder Ergebnis die Schaffung, Aufrechterhaltung oder Ausnützung eines physischen oder psychischen Zustands der Schwäche und die Unterdrückung von Personen haben, die an diesen Aktivitäten teilnehmen, aufgelöst werden [kann].«4

ࡓDies bezieht sich allgemein auf Organisationen oder einzelne Personen, ,welche Aktivitäten organisieren, in denen Menschen psychisch destabilisiert oder deren Labilität zum eigenen Vorteil unter Zuhilfenahme psychologischer oder physischer Druckmittel ausgenützt werden‘. Scientology ist also hier nur eine von mehreren Gruppen, denen psychische Manipulation unterstellt wird. Dem Gesetz n° 2001-504, umgangssprachlich auch la Loi About-Picard, ging, wie in Deutschland, Mitte der 1990er Jahre eine Enquête-Kommission zur Untersuchung der potenziellen Gefährlichkeit von so genannten „Neuen Religionen“, „Jugendreligionen“ oder „Sekten“ voraus. Die deutschen Debatteure sahen zwar eine gewisse 2

Eileen Barker: Ageing in New Religions: The Varieties of Later Experiences, in: DISKUS 12 (2011): 1-23, S. 4 und S. 6. URL: http://www.inform.ac/node/1571; zuletzt eingesehen am 14.05.2013.

3

Davies, Lizzy: Church of Scientology goes on trial in France, in: The Guardian, 25/05/2009, URL: http://www.guardian.co.uk/world/2009/may/25/scientology-francefraud; zuletzt eingesehen am 14.12.2013; Négroni, Angélique: Procès: la Scientologie risque la dissolution, in: Le Figaro, 23.05.2009 (online), URL: http://www.lefigaro. fr/actualite-france/2009/05/23/0101620090523AR-TFIG00622; zuletzt eingesehen am 14.12.2013.

4

„Loi n° 2001-504 du 12 juin 2001 tendant à renforcer la prévention et la répression des mouvements sectaires portant atteinte aux droits de l'homme et aux libertés fondamentales.“ („About-Picard“-Gesetz), URL: http://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.doci dTexte=JORFTEXT000000589924&dateTex-te=&categorieLien=id; zuletzt eingesehen am 20.04.2013.

E INLEITUNG | 13

von ihnen ausgehende Gefahr, welcher jedoch mit der Herausgabe von „Handlungsempfehlungen“ genügend Rechnung getragen sein würde.5 Nach diesem Beschluss beruhigten sich die Debatten in Deutschland weitestgehend und das Thema wurde nur vereinzelt und mit moderater Wirkung auf die Öffentlichkeit in Talkshows oder Dokumentationen aktualisiert.6 In Frankreich verliefen die Debatten fast diametral entgegengesetzt. Im entsprechenden französischen Enquête-Bericht aus dem Jahr 1995 wurden auf der Basis ungenauer und viel bemängelter Kriterien7 schließlich 173 religiöse und therapeutische Gruppen bestimmt, die als gefährlich einzustufen seien und weitere staatliche Handlungsinitiativen erforderten. Diesem Entschluss ging bereits seit den späten 1970er Jahren das private Engagement von Bürgern voraus, die eines ihrer Kinder mutmaßlich an oder durch eine NRB verloren hatten. Sie gründeten „Anti-Kult“-Bewegungen, informierten die Medien vehement über die ihnen wahrgenommenen Gefahren und gewannen so das Interesse auch der nicht betroffenen Teile der Bevölkerung. So oder ähnlich begannen damals nicht nur in Frankreich die öffentlichen Cult Controversies.8 Deren Dauerhaftigkeit mit dem strafrechtlich kodifizierten Resultat sind als französische Sonderentwicklung innerhalb Westeuropa anzusehen und ihre Genese mit Betonung ihrer Ursachen und Hintergründe stellen den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie dar. Darüber hinaus sind die Konflikte in Frankreich auch symptomatisch für einen generellen religiösen Wandel seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. In diesem Zusammenhang sind sie unter anderem Ausdruck weiterreichender aktueller Spannungen zwischen säkularen Gesellschaften und alternativen Formen von Religion, zwischen nicht-religiösen und religiösen Überzeugungen sowie Indikatoren neuer Grenzziehungen, was der hiesigen Fragestellung Relevanz über den regionalen Kontext hinaus verleiht.

5

Vgl. Hubert Seiwert: The German Enquete Commission on Sects: Political Conflicts

6

Eine Beruhigung der Debatten ist auch in anderen westlichen Ländern zu verzeichnen,

and Compromises, in: Social Justice Research, Vol.12, Issue 4, 1999, S. 323-340. allerdings gibt es in einigen Bundesstaaten der USA immer wieder Razzien der Gelände und Wohnungen religiöser Gemeinschaften (siehe Stuart A. Wright/James T. Richardson: Saints Under Siege. The Texas State Raid on the Fundamentalist Latter Day Saints. NYU Press, 2011). 7

Die Autoren des Enquête-Berichts selbst gestehen Ersteres ein und stellen nach eigener Aussage eben deshalb die Liste von mutmaßlich gefährlichen Gruppierungen selbst auf Basis dieser Kriterien zusammen (Alain Gest/Jaques Guyard, 22.12.1995: Rapport fait au nom de la commission d'enquete (1) sur les sectes (N° 2468).

8

Begriff aus: James A. Beckford: Cult Controversies. The Sociological Response to New Religious Movements. New York. Tavisstock Publications, 1985, hier S. 249-275.

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S ÄKULARISIERUNG

UND RELIGIÖSE I NNOVATIONEN

»Religion has become adrift from its former points of anchorage but is no less potentially powerful as a result. It remains a potent cultural resource or form which may act as vehicle for change, challenge or conservation. Consequently, religion has become less predictable [...] The deregulation of religion is one of the hidden ironies of secularisiation«9

Religiöse Neuerungen oder Sonderformen wie NRB waren in der Religionswissenschaft seit jeher auch als solche von Interesse, welches sie gegenwärtig vor allem in Bereichen der Konfrontation mit anderen Religionen sowie säkularen Gesellschaften mit den sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen teilt. Die soziologische Gründungsdiagnose „Säkularisierung“ wird zunehmend nicht als linear fortschreitender, sondern als vielschichtiger Prozess gesehen, innerhalb dessen dem Bedeutungsverlust religiöser Monopole und dem verstärkten Sich-Entbinden vieler Menschen aus den traditionellen religiösen Organisationen10 verschiedene (wenn auch nicht quantitativ kompensierende) Prozesse religiösen

9

James A. Beckford: The Politics of defining religion in secular society: From a takenfor-granted institution to a contested resource, in: Jan G. Platvoet/Ariel L. Molendijk (Hg.): The Pragmatics of Defining Religion - Contexts, Concepts and Contests. Leiden, Boston, Köln: BRILL, 1999, S. 23-40, hier S. 26.

10 Vgl. Detlef Pollack/Olaf Müller: Religionsmonitor: Verstehen was verbindet – Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland. Bertelmann Stiftung, 2013, S. 33 ff. Vgl. Beckford, Defining Religion, S. 26. Vgl. Peter Nynäs/Mikka Lassander/Terhi Utriainen: Post-Secular Society. New Brunswick: Transaction Publishers, 2012. Von französischen Forschern wird der „soziale Bedeutungsverlust“ in Abgrenzung zum Verlust institutioneller Macht der Kirche explizit für die 1960er Jahre festgestellt: Danielle Hervieux-Légèr: Frances Obsession with the „Sectarian Threat“, in: Phillip Charles Lucas/Thomas Robbins (Hg.): New Religious Movements in the Twenty-First Century. Legal, Political, and Social Challenges in Global Perspective. New York: Routledge, 2004. Aus Perspektive der Psychoanalyse: Alain Ehrenberg: Das Unbehagen an der Gesellschaft. Suhrkamp, 2012, S. 247; siehe für ganz Europa: McCleod, Hugh: The Religious Crisis of the 1960s, in: Journal of Modern European History. Volume 3, Number 2/September 2005, S. 205-230. Dieser Aspekt fand in der deutschen Forschung bis jetzt weniger Beachtung: HerrmannJoseph Große-Kracht lenkte in seiner Rezension des Münsteraner Sammelbandes „Umstrittene Säkularisierung“ sein Augenmerk auf eben diesen Aspekt (Herrmann Josef

E INLEITUNG | 15

Wandels und religiöser Pluralisierung entgegen stehen.11 Dies ist jedoch mitnichten ein gänzlich einvernehmliches Urteil, vielmehr variieren die Teildiagnosen innerhalb der komplexen Debatte nicht zuletzt mit dem Forschungsparadigma, der Große-Kracht: Rezension zu Gabriel, Karl/Gärtner, Christel/Pollack, Detlef: Umstrittene Säkularisierung. Berlin: University Press, 2012, in: Ökumenische Zeitschrift für Sozialethik (online), URL: http://www.ethik-und-gesellschaft.de/dynasite.cfm?dsmi d=). 11 Vgl. in Bezug auf „Spiritualität“, esoterische Praktiken und alternative Medizin: Detlef Pollack: Rückkehr des Religiösen? Tübingen: Mohr-Siebeck 2009, S. 171-179; für Großbritannien Steve Bruce: Post-Secularity and Religion in Britain: An Empirical Assessment, in: Journal of Contemporary Religion, Vol. 28, No. 3, 369-384, 2013, S. 377380, hier S. 382 f. Die nicht erfolgende quantitative Kompensation der kirchlichen Verluste durch alternative Formen von Religion machen vor allem Pollack und Steve Bruce stark, wobei Bruce, im Bewusstsein, dass die Wahl eines engen oder weiten Religionsbegriffs große Unterschiede in den Messergebnissen bewirken kann (mit einem ähnlichen, aber anders gerichteten verzerrenden Effekt wie die unten benannte Neigung, aus ethnographischer Perspektive die Bedeutung des eigenen Feldes tendenziell größer einzuschätzen als andere), leider den Anhängern dieser Form von Religion generell die Ernsthaftigkeit ihres spirituellen Interesses abspricht und Praktiken alternativer Medizin aus nicht nachvollziehbaren Gründen ausschließt. (S. 378, 382 f.). Hierfür sehe ich keinen Grund, zumal es nicht in der Profession des Soziologen liegt, die religiöse Qualität eines Glaubens zu evaluieren und Vorstellungen von Körper und Heilung problemlos durch religiöse Weltbilder begründet werden können und in vielen Fällen hier verankert sind. (Siehe hierzu weiterführend und vertiefend z. B: Karl Hoheisel/HansJoachim Klimkeit: Heil und Heilung in den Religionen. Wiesbaden: Harrassowitz, 1995 oder Veronica Futterknecht/Michaela Noseck-Licul/Manfred Kremser (Hg.): Heilung in den Religionen: religiöse, spirituelle und leibliche Dimensionen. Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft für Religionswissenschaft (ÖGRW), 5. Wien u. a: LitVerl, 2013). Aber auch Detlef Pollack, der eine sehr differenzierte Erhebung unternahm und Glaubensvor-stellungen und Praktiken weitestgehend wertungsfrei behandelte, kommt jedoch nur zu etwas höheren Werten als Bruce. Insofern ist das Argument der nicht erfolgenden Kompensation gegenwärtig als valide anzusehen. Die Diagnose einer stärkeren empirischen Zunahme von vor allem Neuer Religiosität stammt häufig von Forschern, die direkt in und mit den alternativ-religiösen Feldern arbeiten (und ist in gewissem Grad durch die große Nähe zum Forschungsgegenstand beeinflusst; vgl. z. B. Nynäs et. al., Post-Secular, 2012). In der Regel basieren solche Diagnosen in dieser Richtung implizit mehr oder weniger auf einem substanziellen Religionsbegriff, insofern häufig das Selbstverständnis der Befragten Personen als „religiös“ oder spirituell übernommen wird.

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Forschungsperspektive und speziellen Gegenständen.12 Überwiegend aus den Reihen qualitativ arbeitender Forscher häufen sich Befunde, die die These über den „Ortswechsel“ von Religion und ihre Etablierung jenseits der traditionellen Institutionen, ihre Verlagerung in den Privatbereich und ihre partielle Individualisierung13 stützen, und deshalb das Argument ihres gänzlichen Rückgangs aufgrund der Unvereinbarkeit von „Religion“ und „Moderne“ verwerfen. In Bezug auf eine quantitative Zunahme von Religion weltweit wird von wissenschaftlicher Seite hingegen hauptsächlich mit der anwachsenden muslimischen Gemeinschaft14 und den steigenden Anhängerzahlen charismatischer und evangelikaler christlicher Bewegungen argumentiert. Eine spürbare religiöse Diversifizierung in Europa wird hauptsächlich mit Blick auf globale Migrationsbewegungen konstatiert, aber auch neue Formen von Religiosität jenseits der Kirchen werden in diesem Zusammenhang zunehmend mit einbezogen. In erster Linie dort, wo durch Diversifizierungsprozesse Konflikte entstehen oder Religionsgemeinschaften öffentlich agieren, wird die Präsenz von „Religion(en)“ und ihrer Pluralität sichtbar. In Frankreich war dies, neben der großen muslimischen Minderheit, auch bei den meist angefeindeten Neuen Religiösen Bewegungen der Fall. Unter ihnen werden hier, der Einfachheit halber, wenn nicht weitergehend spezifiziert, neben Scientology, die Raëlianer, Mandarom auch individualisierte Formen von Religion, Spiritualität und religiöser Praxis (gemeint sind moderne Formen von Esoterik, Schriften und Praktiken des „New Age“ sowie alternative Therapien) subsumiert, zumal beide Varianten neuer Religiosität die Aufmerksamkeit der „Sekten“-Gegner auf sich zogen.15 Die letztgenannten, individualisierten Formen von Religion, wurden in Deutschland mit dem „New Age“

12 Vgl. James A. Beckford: Social Theory and Religion. Cambridge University Press, 2006, S. 30-72. 13 Vgl. Thomas Luckmann: Die Unsichtbare Religion. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991; Phillip S. Gorski, The Return of the Repressed: Religion and the Political Unconscious of Historical Sociology, in: Julia Adams/Elisabeth S. Clemens/Shola Orloff (Hg.): Remaking Modernity – Politics, History, and Sociology. Duke University Press, 2005; siehe auch Hervieux-Légèr, Obsession, 2004. 14 Ronald Inglehart/Pippa Norris: Sacred and Secular: Religion and Politics Worldwide. Cambridge University Press, 2004. 15 Sie werden, wenn der gesamte Komplex religiöser Formen gemeint ist, hier möglichst allgemein als „Alternative Religion(en)“ bezeichnet, da sie derzeit nicht mehr „neu“, sind aber dennoch signifikante Unterschiede in der Organisationsform zu traditionellen Kirchen aufweisen.

E INLEITUNG | 17

Anfang der 1980er Jahre vermehrt sichtbar16 und wurden soziologisch vor allem innerhalb der genannten Teildiskussion der Säkularisierungsdebatte über den „Formwandel und den Ortswechsel von Religion“17 thematisiert. Bei den NRB der 1969er/1970er Jahre handelte es sich anfangs vorwiegend um charismatisch geführte Gruppen mit starker interner Kohäsion, die soziologisch an sich und bezüglich ihres Verhältnisses zur ihren Gastgesellschaften vielfach wissenschaftlich untersucht wurden.18 Etwa seit dem Jahr 2000 nimmt die allgemeine Aufmerksamkeit für die Gruppen, mit wenigen Ausnahmen, in Westeuropa ab. Stattdessen sind die schwach institutionalisierten und individualisierten Formen von „Religion“ und „Spiritualität“ werden z.B. durch den Eingang des Begriffs „Spiritualität“ in die Mediendiskurse öffentlich stärker präsent.19 20 Jahre nach der deutschen Erstveröffentlichung von Thomas Luckmanns Arbeit „Die Unsichtbare Religion“,20 welche diese Formen erstmalig theoretisch erfasste und den kirchensoziologischen Befunden gegenüber stellte, werden geraten diese wieder in den Fokus der

16 Christoph Bochinger: New Age und moderne Religion. Kaiser, 1995; siehe auch: Wouter Hanegraaff, New Age Religion and Western Culture. SUNY Press, 1996; speziell für Frankreich: Françoise Champion: Les Sociologues de la post-modernité religieuse et la nébuleuse mystique ésotérique, in: Archives des sciences sociales des religions. N. 67/1, 1989, S. 155-169 und Valerie Rocchi: Du Nouvel Âge aux réseaux psychomystiques – From the „New Age“ to psycho-mystical networks, in: Ethnologie française 30, no. 4, 2000, S. 583-590 und Rocchi: Des Nouvelles Formes Du Religieux? Entre Quête De Bien-être Et Logique Protestataire: Le Cas Des Groupes Post-NouvelAge En France, in: Social Compass 50, no. 2 (Juni 1) 2003, S. 175-189. 17 Beckford, Social Theory, 2006. 18 V. a. in den Arbeiten von: Barker, Beckford, Richardson, Seiwert, Wilson, Bromley; siehe z. B. Lorne L. Dawson: Cults and New Religious Movements. A Reader. New York: Blackwell, 2003. 19 Jeremy Carrette and Richard King: Selling Spirituality. The silent takeover of Religion. Routledge, 2005, weiter auch: Hubert Knoblauch: Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft. )UDQNIXUW0&DPSXV9HUODJ&ROOLQ&DPSEHOO7KH Cult, the Cultic Milieu and Secularization, in: Sociological Yearbook of Religion in Britain, 5, 1972, S. 119-136. Speziell zum Wandel des alternativ-religiösen Feldes in Frankreich: Christiane Königstedt,: Self-Dissolving Enemies – Die Dynamiken des alternativ-religiösen Feldes und die säkularistische Regulierungspraxis, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft (ZfR)   'H*UX\WHU6-187. 20 Luckmann, Unsichtbare Religion, 1991.

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Forschung werden als „Spiritualität“,21 „Populäre Religion“,22„Western Esotericism“23 oder „New Esotericism“ divergent konzeptualisiert.24 Ob es sich hierbei um eine dezidiert neue Entwicklung handelt oder diese lediglich dem schwindenden Einfluss der etablierten Kirchen zuzuschreiben ist, wird nicht einheitlich bewertet. In seinem Aufsatz „The Return of the Repressed“25 vergleicht Phillip Gorski das gegenwärtige religiöse Feld mit dem religiösen Pluralismus des antiken Roms. Diesem Argument liegt nicht die These der „Postsäkularität“ zugrunde, sondern es wird vielmehr wie in den Studien zum „Western Esotericism“ von einem durchgehenden Vorhandensein religiöser Pluralität und im Falle Gorskis von deren zeitweiliger Unterdrückung durch dominante religiöse Traditionen wie dem Christentum ausgegangen. Wie er und andere empirisch zeigen können, gab es durchgehend Religionen in subkulturellen sozialen Räumen. Dennoch kann die Frage, als wie „neu“ das Auftreten von Neuen religiösen Bewegungen seit den 1960ern in Bezug auf die historische longue durée zu bewerten ist, hier nicht erschöpfend diskutiert werden, weil dies nicht zuletzt von der definitorischen Enge oder Weite der Fassung des Gegenstandes abhängt. Unter dem Aspekt der „öffentlichen Sichtbarkeit“ und „öffentliche religiöse Akteure“ wird Religion verstärkt vor allem seit dem 11. September 2001 behandelt, als besonders mutmaßlich radikale Formen des Islam in die Aufmerksamkeit von Medien und Öffentlichkeit gerieten. Mit und nach Habermas wurde das Thema der aktuellen politischen Partizipation von Religionsgemeinschaften als Forschungsgegenstand von Religionswissenschaft, Religionssoziologie und der Kulturwissenschaften unter den Stichworten „Postsäkularität“ (Habermas) oder „Entprivatisierung von Religion“ im Sinne ihrer erhöhten Sichtbarkeit (Casanova26) aufgegriffen. Jenseits der Fragen nach der quantitativen Dimension von Religiosität und Religionszugehörigkeit und ob „Religion“ verschwindet und die Säkularisierung zunimmt, gewannen auf wissenschaftlicher Ebene die Fragen, ob sie je verschwunden war27 und zurückkehrt oder in ihrer Diversität ganz neu entsteht und wenn ja,

21 Z. B. Paul Heelas/Linda Woodhead: The Spiritual Revolution. Why Religion is Giving Way to Spirituality. New York, Oxford: Blackwell 2005; Knoblauch, Populäre, 2009. 22 Knoblauch, Populäre, 2009. 23 Hanegraaff, New Age, 1995. 24 Kocku von Stuckrad: Was ist Esoterik? C.H. Beck, 2004. 25 Gorski, Repressed, 2005. 26 José Casanova, Public religions in the modern world. CUP, 1994; Gorski, Repressed, 2005. 27 Luckmann, Unsichtbare Religion, 1991; Gorski, Repressed, 2005.

E INLEITUNG | 19

an welchem Ort,28 in welchen Formen29 und mit welchem gesellschaftlichen Einfluss30 an Zentralität. Thematisch hinzukommen der Umgang mit Religion innerhalb öffentlicher Diskurse, power relations, die Füllung und Verwendung der Kategorie „Religion“ wie mit dem, was unter dieser Kategorie mit welchen Konnotationen wahrgenommen wird, umgegangen wird.31 Ohne sich in den Feinheiten der Debatte an dieser Stelle fest positionieren zu müssen, ist festzuhalten, dass Vertreter postsäkularer Positionen wie Jürgen Habermas sich im Gegensatz zu Positionen wie derjenigen Phillip Gorskis dadurch auszeichnen, dass sie an der Säkularisierungsthese festhalten und lediglich die Annahme der linearen Abnahme von „Religion“ ein Stück weit aufgegeben, in die sie die aktuelle empirische Messbarkeit und erhöhte Sichtbarkeit von „Religion“ zu integrieren versuchen. „Post-Säkularität“ bezeichnet hier eine Zäsur zur „Säkularisierung“ und bestätigt damit indirekt die zeitweise Existenz einer „säkularisierten Zeit“ im Sinne ihrer Verfechter, während die neue Sichtbarkeit von Religion konzeptualisiert werden kann, ohne die „Säkularisierungsthese“ ganz widerrufen zu müssen. Die vorliegende Studie bewegt sich mit der Wahl des Fokus auf NRB an der Schnittstelle von Religion und Spiritualität jenseits der Kirchen, also ihrer empirisch wahrnehmbaren Diversifizierung im Sinne eines Ortswechsels. Sie bezieht sich ebenso auf das Entstehen neuer Formen von Religion, wie auf den Bereich 28 Zum Beispiel Luckmann, Unsichtbare Religion, 1991; Kim Knott: The Location of Religion. Equinox, 2005. 29 Siehe zur These des Formwandel respektive der Innerweltlichkeit von Religion in der Moderne in den letzten Jahren besonders Thomas Luckmann: Schrumpfende Transzendenzen, expandierende Religion, in: ders. (Hg.): Wissen und Gesellschaft ausgewählte Aufsätze 1981-2002. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, 2002, S. 139-154; Gorski, Repressed, 2005. 30 Siehe hier vor allem Nynäs et al, Post-Secular, 2012. 31 Siehe Russel. McCutcheon: ,They Licked the Platter Clean‘: On the co-dependency of the Religious and the Secular, in: Method & Theory in the Study of Religion 19, 2007, S. 173-199; siehe Teemu Taira: Religion as a Discursive Technique: The Politics of Classifying Wicca, in: Journal of Contemporary Religion 25, no. 3, 2010, S. 379 ff. Die analytische Bedeutung des in allen (öffentlichen wie wissenschaftlichen) Diskursen präsenten konzeptionellen und in der Praxis manifestierten Gegensatzpaares „religiös“ –„säkular ist seit dem Gewahrwerden der wissenschaftlichen Nichthaltbarkeit einer radikalen Säkularisierungsthese auf keiner Ebene mehr zu unterschätzen; siehe dazu kritisch: Christoph Kleine: Zur Universalität der Unterscheidung religiös–säkular: Eine systemtheoretische Betrachtung, in: Stausberg, Michael (Hg.): Religionswissenschaft. Berlin [u. a.]: De Gruyter, 2012, S. 65-80.

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ihrer öffentlichen Wahrnehmung und die Debatten über sie. Diese werden in Bezug auf die „Sekten“ in Frankreich besonders als Debatten über „illegitime“ und „gefährliche“ Religion geführt und reichen, insofern sie in der Praxis in einer dezidiert säkular-rechtlichen Regulierung entsprechender Gruppen und Organisationen münden, weit über die öffentlichen und politischen Diskussionen hinaus.

Das Konfliktpotenzial zwischen alternativen Formen von Religion, atheistisch-rationalistischen Bewegungen und säkularen Staaten Eine wichtige Hypothese hinter dieser Studie erwartet hinter Konflikten um NRB in Frankreich generelle Wertkonflikte und eine Herausforderung des gesellschaftlichen Konsenses. Damit wird der Anspruch nominell säkular-demokratischer Staaten, in religiösen Angelegenheiten neutral zu sein und sich qualitativer Bewertungen religiöser Vorstellungen und Praktiken zu enthalten, infrage gestellt. José Casanova führt in diesem Zusammenhang als ein Pfad der Legitimation säkularer Weltbilder the naturalization of the secular, das fast unbemerkte Avancieren säkularer Weltbilder zum status quo der Weltdeutung an: auf der Objektebene (von den beteiligten Akteuren) werde „säkular“ und seine jeweiligen semantischen Entsprechungen) als Counterpart von „religiös“, beziehungsweise, als die „Realität“ bestimmt, die bleibt, wenn „Religion“ im Sinne einer Täuschung, verschwunden ist. So werden entsprechende nicht-religiöse Weltbilder, trotz ihrer Divergenz und Normativität – auch in der im eigenen Selbstverständnis „säkularen“ Religions- und Sozialforschung – im selben Zug für „neutral“ und „wahr“ gehalten und religiöse Positionen per se tendenziell abgewertet. Dies stellt einen „blinden Fleck“ in der säkularen Selbstbetrachtung dar, welcher zunehmend angesprochen wird und in die Forschung mit einbezogen werden muss, wozu nicht zuletzt hiermit angeregt werden soll.32 „Säkularität“ und „säkular“ werden dementsprechend als Abstrakta, welche viele Bedeutungen einschließen können, verstanden und analytisch zunächst negativ im Sinne von „nicht-religiös“ definiert.33 In den Quellen kann dies unter anderem anhand des explizierten Selbstverständnisses der Sprecher wie im französischen Fall oder anhand der Abwesenheit expliziter religiöser Semantiken und

32 Siehe und vgl. José Casanova: The Secular, Secularizations, Secularisms, in: Craig Calhoun/Mark Juergensmeyer/Jonathan van Antwerpern (Hg.): Rethinking Secularism. New York: Oxford University Press, 2011, S. 54-74, hier S. 55 ff. 33 Vgl. McCutcheon, platter, 2007, S. 173-199.

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Bekenntnisse festgestellt werden.34 Positive Füllungen des Begriffs in konkreten Fällen müssen generell für sich behandelt werden, so dass „Säkularität“ als Substantiv hier keine analytische Verwendung über das eben Gesagte hinaus findet, zumal genau der auf Objektebene implizit damit verbundene Anspruch säkularer Neutralität vieler Staaten hier in Frage gestellt wird. Die Verwendung von „säkular“ hingegen bezieht sich auf das Selbstverständnis der jeweils so bezeichneten Akteure. In Frankreich gibt es eigens die Bezeichnung „Laizität“ als Gegensatz zu „Religion“, welche auch Neutralität impliziert, darüber hinaus jedoch positiv definiert ist und insgesamt eher als Sammelbecken verschiedener nominell nichtreligiöser (und teilweise auch anti-religiöser) Meinungen und Agenden aufzufassen ist.35 Unter „Säkularismus“ (für Frankreich: „Laizismus“) wird dementsprechend ein explizit ideologisches und tendenziell anti-religiöses Programm verstanden. In der Praxis zeigt sich der besagte Anspruch säkularer Staaten, sich in religiösen Angelegenheiten neutral zu verhalten und höchstens integrierende und vermittelnde Aufgaben zu übernehmen, vor allem im Umgang mit älteren religiösen Traditionen und ihren lokalen Migrationsgemeinden. Diese Rolle wird scheinbar in absentia der früheren sozialen Autorität der traditionellen Religionen eingenommen, ist also Resultat in der von James Beckford konstatierten „Deregulierung des religiösen Feldes“.36 Genauer: müsste in dieser Form eingenommen werden, denn idealiter gedacht wäre dies eine Situation, in der ein anything goes postmoderner Beliebigkeit gelten und alle Religionen gleich behandelt werden könnten. Realiter müssen die Beziehungen zwischen Staat und Religionen und die Grenzen von „religiös“ und „säkular“ jedoch immer wieder ausgehandelt werden. Das dennoch inhärente Konfliktpotenzial kristallisierte sich jedoch zum Beispiel jüngst an der deutschen Beschneidungsdebatte: letztendlich stellte sich hier auf juristischer Ebene die Frage nach der Gewichtung von Werten, das heißt danach, 34 Vgl. in Bezug auf die Unterscheidung „religiöse“ und „säkulare“ Semantik Christiane Königstedt: Religio-spiritual strategies of self-help and empowerment in everyday life. Selected cases of spirituality in Germany, in: Ahlbeck, Tore and Dahla, Björn: PostSecular Religious Practices. Donnerska Institutet, 2012, hier S. 192 f. 35 Siehe ausführlich in Kap 2, vgl. Véronique Altglas: Laïcité is what Laïcité does. Rethinking the French Cult Controversy, in: Current Sociology, Vol. 58(3), 2010, S. 489-510. 36 James A. Beckford/James T. Richardson: Religion and Regulation, in: Demerath, Jay and Beckford, James A. (Hg): The SAGE Handbook of the Sociology of Religion. London: Sage Publications, 2007, S. 397-419. Die Varianten von „säkularer Verfasstheit“ sind extrem vielfältig und reichen z. B. von besagter Erklärung in Frankreich bis zum liberaleren System in den USA (vgl. Beckford, Politics, 1999; vgl. Beckford/Richardson, Religion and Regulation, 2007, S. 403 f.).

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welche als die höheren gelten sollten, die Freiheit der Religionsausübung oder die der Unversehrtheit des Kindes.37 Im Fall der „Sektenkinder von Lonnerstadt“38 wurde aufgrund „fragwürdiger Erziehungsmethoden“, vor allem jedoch wegen eines internen Verbotes, medizinische Behandlungen in Anspruch zu nehmen, den Anhängern einer kleinen religiösen Gruppe das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen. Diese das „Kindeswohl“ betreffenden Beispiele illustrieren, inwiefern Regierungen und Rechtssysteme auf Werten basieren, die gegebenenfalls in Konflikt mit denen religiöser Gemeinschaften und deren Weltbildern geraten können. Darüber hinaus ist ein wertender Umgang mit nicht-traditioneller „Religion“ an sich in Westeuropa natürlich nichts Neues, wenn auch eher durch das gegenteilige Vorzeichen motiviert: so war und ist durch die staatliche Privilegierung der traditionellen Kirchen in Deutschland trotz deren Autoritätsverlust ein „freier Markt der Religionen“ wie in den USA faktisch nicht gegeben. Und auch dort herrscht keine reine Nachfragelogik: einleitend bereits gesagt, traten negative Reaktionen auf nicht-traditionelle Religionen seit den 1970er Jahren international und bezeichnenderweise auch in den USA auf, reichten in ihrer auf regulierenden Folgen jedoch nicht an Frankreich heran. Nach Beckford und Richardson rangiert Letztgenanntes sogar auf einer Ebene mit Russland, Saudi Arabien, dem Iran und China,39 ein Vergleich der insofern nicht als uneingeschränkt passend erscheint, da in Frankreich nur wenige Verurteilungen ausgesprochen werden und strafrechtliche Maßnahmen generell weniger drakonisch ausfallen dürften als in den anderen genannten Ländern. Allerdings traf man in Frankreich vergleichsweise drastische Entscheidungen in Bezug auf alternative Formen von Religion, was in hier in Kapitel 6 detailliert geschildert werden wird. Wird auch im Rahmen der französischen Verfassung vor dem Hintergrund des Prinzips der „Religionsfreiheit“, „Religion“ der Privatsphäre zu- und den öffentlichen republikanischen Wertmaßstäben prinzipiell untergeordnet, ihre freie Ausübung aber garantiert, gibt es doch zusätzlich die besagte Kategorie der „Sekte“, einer kriminellen religiösen, beziehungsweise, „pseudo-religiösen“, Organisation. Zwischen 173 bis 18640 allgemein als „Sekten“ bezeichneten alternativen Formen von Religion wurde und wird auf

37 Spiegel-Online (28.06.2012): Religionsfreiheit: Westerwelle kritisiert Urteil gegen Beschneidungen, URL: http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/koelner-beschneidungsur-teil-loest-debatte-aus-a841550.html; zuletzt eingesehen am 11.11.2013. 38 Nordbayern.de (08.07.2013): Sektenkinder Lonnerstadt: Eltern verlieren Sorgerecht; URL: http://www.nordbayern.de/region/hoechstadt/sektenkinder-lonnerstadt-eltern-ve rlieren-sorgerecht1.3018804; zuletzt eingesehen am 11.11.2013. 39 Beckford/Richardson, Religion and Regulation, 2007, S. 412. 40 Nach 1995 werden sukzessive weitere Gruppen, die gefährlich seien, genannt.

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diese Weise nicht nur die religiöse Qualität mehr oder weniger abgesprochen, sondern sie werden staatlich subventioniert bekämpft. Es ist zudem einzigartig in Europa, dass neben verschiedenen zivilgesellschaftlichen Strategien der Ausgrenzung wie dem Ausschluss von öffentlichen Veranstaltungen, der Diffamierung in den Medien, Behinderungen bei der Ausübung ihrer religiösen Praxis, ein demokratischer Staat explizit unter Berufung auf säkulare Werte und Normen „zum Schutz von Gesellschaft und Bevölkerung“ auf nicht-traditionelle Formen von Religion mit rechtlichen Neuerungen reagierte.41 Insofern ist das Thema auch in das von Beckford und Richardson neu ausgemachte Teilthema gegenwärtiger säkular-religiöser Konflikte und der säkularen Regulierung bestimmter Formen von Religion jenseits des Islam42 eingebettet. Feindselige Reaktionen auf alternative Religion von säkular-staatlicher Seite können einerseits als Indiz für eine kulturelle Dynamik im Sinne der tatsächlichen quantitativen Zunahme neuer Religionen und der Infragestellung säkularer Weltbilder, respektive als Argument für die zunehmende gesellschaftliche „Sichtbarkeit“ beziehungsweise „Spürbarkeit“43 ersterer interpretiert werden. Andererseits ist diese Verbindung nicht eindeutig, zumal die repressiven Reaktionen gegen alles Abweichende oft durch eine ideologische Radikalisierung bestimmter Regierungen oder relevanter pressure groups verursacht sind. Diese Erklärungsmodelle schließen sich – und andere – in keiner Weise aus, sondern können genauso in Wechselwirkung zueinander stehen. Eine Auseinandersetzung mit diesem wenig erforschten Feld der Berührungspunkte zwischen säkularen Regierungen, Gesellschaften und Weltanschauungen und dem alternativ-religiösen Feld ist also gegenwärtig notwendig und weiterführend zumal ähnliche Spannungen wie in Frankreich nicht nur in mehreren Ländern auftreten44 und deren systematische Erschließung Aufschluss über beides – „Religion“ und säkulare Gesellschaften und ihr Verhältnis zueinander – zu geben vermag. Die hier unternommene qualitative und systematische Untersuchung der skizzierten Konstellation in Frankreich leistet dabei auch einen Beitrag zur Analyse der Facetten des gegenwärtigen praktischen Umgangs säkular-demokratischer Regierungen mit als „illegitim“ eingestuften Religionen und den vorhergehenden Klassifizierungsprozessen sowie zu den Wandlungen in religiös-säkularen Aushandlungsprozessen leisten. Hierdurch sollen nicht zuletzt nominell säkulare Werte und Wertungen sowie Prozesse der Zuschreibung von Abweichung bewusst gemacht werden, die zwar unter der Flagge des europäischen Ideals der Wertfreiheit gegenüber „Religion“ geschehen mögen, 41 Vgl. Beckford/Richardson, Religion and Regulation, 2007, S. 412 f. 42 S. 397-419. 43 Vgl. S. 419 ff. 44 S. 412.

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jedoch durch ideologische Standpunkte, unbewusste Vorannahmen und einseitige Information mitgeprägt sein können und besser reflektiert werden müssen.

Provozierte Konflikte durch religiöse „Abweichung“? Warum ging „man“, beziehungsweise, eine sich durchsetzende Gruppe von Personen, gerade in Frankreich so radikal gegen Neue Religiöse Bewegungen vor? Und wie war es möglich, dass hier vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlich kodifizierten Prinzips der Religionsfreiheit vielleicht eine innerhalb der Zivilgesellschaft entstandene „Sekten“-Panik gesetzlich kodifiziert werden konnte? Wodurch entstanden also diese, massiv zu nennenden, Konflikte? Bevor die zentrale Fragestellung anhand der vorliegenden Quellen eingehend untersucht wird, stellt sich mit Blick auf die kleinen, neuen Religionsgemeinschaften durchaus gerechtfertigt die Frage, in welcher Hinsicht diese provozierend gewirkt haben könnten. Doch bereits eine erste Sichtung des Materials zeigt einen Gefahrendiskurs auf, der, angesichts der quantitativ kaum relevanten Anzahl der Anhänger von „Sekten“ und damit einhergehend, der Unwahrscheinlichkeit empirischer Begegnungen zwischen ihnen und dem größten Teil der Bevölkerung, auf die Wichtigkeit von Multiplikatoren gegenüber der Öffentlichkeit und hiermit einher gehende Verzerrungen und Überhöhungen hindeutet. Dennoch sind vorab einige systematische Überlegungen zu tatsächlicher „Abweichung“ sinnvoll, anhand derer im Folgenden verschiedene Fronten der Konflikte gegeneinander abgegrenzt werden können. Als erster Idealtypus auf der wissenschaftlichen Metaebene (von nicht-beteiligten Akteuren objektiv erkennbar) zu nennen wäre die „bewusste, trotz Sanktion beibehaltene Abweichung“,45 die nicht selten eine Kritik an den gegebenen Umständen beinhaltet. Dadurch kann diese leicht als Bedrohung der bestehenden Ordnung wahrgenommen werden und wird von den gegebenenfalls hierzu Befähigten sanktioniert und zu unterdrücken versucht. Beispiele hierfür sind die meisten Protestbewegungen. Dem gegenüber steht, ebenfalls idealtypisch, die „nicht-intendierte Abweichung“, durch Ethnizität und abweichendes Erscheinungsbild und Gewohnheiten, Fremdheit, im Sinne einer Unvertrautheit

45 Siehe: Thomas Hase: Askese und Protest. Formen religiöser Weltablehnung in den gegenkulturellen Milieus des innerprotestantischen Nonkonformismus. Universität Leip zig: Habil.-Schr, 2006, S. 307-315.

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mit den regionalen Gepflogenheiten, allgemein46 aber auch akute materielle Bedürftigkeit, die verhindert zum Beispiel Kleidungs- und Aufenthaltsnormen zu entsprechen. In Bezug auf (nicht nur) „Religion“, muss hier auch eine kognitive Dimension berücksichtigt werden. Abweichung kann, ohne explizit normativ zu sein, infolge einer anderen Wahrnehmung von Welt und einem daraus resultierendem Weltbild, abweichendes Handeln oder Verhalten verursachen.47 Karl-Heinz Bohrer greift die nicht-intendierte Andersartigkeit auf und unterscheidet den bewussten, singulären Abweichler (den „Nonkonformisten“) vom „einfachen“ Außenseiter durch die den Sprecher überschreitende Gültigkeit der Argumentation: »[...] dass der Außenseiter erst dann nonkonformistisch wird, wenn er sein Außenseitertum, seine Abweichung von der konformen Meinung begründet. Und zwar nicht nur als Ausdruck seines psychologisch-kognitiven Andersseins, sondern als ein Argument, das auf Dauer nicht nur für den Sprecher gilt.[…].«48 46 Eine klassische Abhandlung hierzu stellt Georg Simmels „Exkurs über den Fremden“ dar, in: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe Band 11. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S.764-771. 47 Schon Max Weber stellte unterschiedliche Typen von Religiosität in Zusammenhang mit verschiedenen Ständelagen heraus (nach dem der Bauernstand zu einem eher magischen Weltbild tendieren würde, welches seiner naturnahen Lebenswelt besser entspräche als zum Beispiel die transzendente christliche Vision, welche im Adel mehr Anklang gefunden habe) denen entsprechend Gruppen oder Individuen mit bestimmten, sozio-strukturell bedingten Erfahrungshorizonten abweichende Weltbilder – und hiervon informierte Handlungsweisen – entwickelten. Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. 1-9. Aufl., Nachdruck der Erstauflage 1920. Tübingen: MohrSiebeck, 1988, S. 571 ff. 48 Bohrer, Karl Heinz: Der Mut zur Wahrheit: Hamlet, in: Sag die Wahrheit! Warum jeder ein Nonkonformist sein will, aber nur wenige es sind. Merkur, Sonderheft 14. 09.10.2011. Doch liegen das psychologisch-kognitive Anderssein, die Rechtfertigung mit dem Nichtintendiertseins der Abweichung und das bewusste Argument für die Richtigkeit des eigenen Andersseins dicht beieinander. Stößt das nicht-intendierte Anderssein, wenn es sich äußert, an soziale Grenzen und auf Sanktion, wird es, wenn es als Ursache für die Sanktion offensichtlich ist, dadurch bewusst. Wird nun dieses Handeln nicht als Reflex auf die Sanktion direkt unterlassen und gerechtfertigt, muss das eigene Weltbild gegen das andere abgewogen und zwischen Modifikation, Anpassung oder Beibehalten der abweichenden Haltung trotz Sanktion entschieden werden. Eine Entscheidung zu Letzterem muss das Ignorieren (nach außen) oder Ertragen von Sanktion normativ (nach innen) legitimieren und dafür argumentieren. So kann sich, muss sich jedoch

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Die Diagnose „Abweichung“, intendiert oder nicht, ist wird hier auf der Metaebene als unbedingt wertfrei verstanden, und ihre Bewertung den Akteuren der Objektebene, dem Forscher wenn, dann in einem explizit gekennzeichneten Kommentar, überlassen. Abweichung muss immer relational verstanden werden, insofern sie einen vorhergehenden Vergleich erfordert (Abweichung von „was“). Auf der Objektebene geht diese Diagnose in den meisten Fällen von denen aus, die den status quo, die bestehende Ordnung oder den einflussreicheren Entwurf einer solchen tragen und deren Durchsetzung und die Unterdrückung der Abweichler realisieren können. Das Arrangement „bestehenden Ordnung“ ist allerdings variabel, insofern, zum Beispiel in Demokratien, von konkurrierenden Parteien idealiter keine die absolute Oberhand gewinnen, sondern sich nur punktuell in Bezug auf bestimmte Themen, Entscheidungen und Agenden durchsetzen kann. Die Konstellation ist die konkurrierender pressure groups oder Interessengruppen, von denen innerhalb einer von allgemeiner Akzeptanz getragenen Ordnung keine die absolute Dominanz erreichen kann. Die übergeordneten, regulierenden Strukturen beruhen auf Prinzipien und institutionalisierten Abläufen und werden von den Mitgliedern der Gemeinschaft in einem gewissen Rahmen mitgestaltet wird. Als sanktionierende Instanz gibt es hier Gerichte und die Durchsetzung einer Forderung oder Agenda kann in Bezug auf ein Thema Zuwiderhandlungen staatlich sanktionsfähig machen. Beispiele hierfür sind aktuelle Debatten und nachmittägliche Yoga-Klassen in Schulen in den USA, im Hinblick auf die darüber gestritten wird, ob dies der religiösen Neutralität öffentlicher Einrichtungen widerspräche, die Kreationismus-Debatte, das Tragen religiöser Symbole in der Öffentlichkeit in Frankreich sowie verschiedene Streitigkeiten um die Anerkennung bestimmter Gruppen als religiöse Gemeinschaften auch in anderen Ländern. „Zu sanktionierende Abweichung“ bedeutet hier den Verstoß gegen rechtliche Bestimmungen. In diesem Zusammenhang ist eine holistische Stigmatisierung als „religiöse Abweichler“ von Seiten des Staates nur dann möglich, wenn Zuwiderhandlungen als Verstoß gegen demokratische Prinzipien, also gegen die bestehende Ordnung, in der sich die aushandelnden Parteien bewegen, bewertet werden oder diese an sich öffentlich kritisiert wird. Jenseits tatsächlich feststellbarer Abweichungen, wird die politische Relevanz der Zuschreibung von „bewusster Abweichung“ und „Devianz“ im Sinne zu sanktionierender, politischer Opposition, deutlich:49 auf der Objektebene ist es beinahe nicht, kognitive Divergenz im Falle der Konfrontation leicht in normative Divergenz umwandeln, empirisch nur zeitlich rückwirkend durch sich wiederholenden Konflikte erkennbar. 49 Oft wird Gruppen mit gemeinsamen ideologisch-religiösen Hintergrund, sowie Einzelpersonen, die diesen zugerechnet werden, eher absichtsvolle Abweichung unterstellt als

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irrelevant, inwiefern der Vorwurf von Devianz tatsächlich intersubjektiv nachvollziehbar zutreffend ist. Hier geht es um Bewertungs- und Klassifizierungsprozesse durch Akteure innerhalb des Feldes, welche die als abweichend empfundene Gruppe so bezeichnen und damit häufig stigmatisieren.50 Hierfür wird hier die Bezeichnung der „auf Objektebene zugeschriebenen, bewussten Abweichung“ eingeführt. Denn selbst eine tatsächlich bestehende Abweichung muss, um einen Konflikt zu provozieren, durch eine soziale Entität, die diese sanktionieren könnte und die definiert, was abweichend, gefährlich oder ungefährlich ist und Verhalten und Handlungen entsprechend bewertet, wahrgenommen und kommuniziert werden. Auch „bewusstes abweichendes Verhalten“ ist aus dieser Perspektive „[...] ein solches, das Andere so definieren“.51 Für dessen Bewertung ist zwar nicht determinierend, aber auch nicht unerheblich, ob der Abweichung Absicht oder Nichtintendiertheit, das entsprechende subversive Potential oder mangelnder Anpassungswille zugeschrieben wird, da hiervon ausgehend unter Umständen auf Objektebene prognostiziert wird, ob Durchsetzungsversuche und eine weitere Gefährdung der bestehenden Ordnung zu erwarten sind. Bewertungen der letzteren Art können jedoch auch aus Gewohnheit oder politisch-strategischen Gründen („Sündenbockfunktion“) verwendet werden sowie, wie von Goode und BenYehuda 2009 auf der grassroot-Ebene für die Moral Panics beschrieben, den Charakter von Gerüchten annehmen und dennoch für die Betroffenen reale Konsequenzen haben.52 Ablehnung und gegebenenfalls folgende Stigmatisierung und Bestrafung kann schlicht auf nicht-intendierten Irritationen („es“ sieht anders aus, benimmt sich nicht erwartungsgemäß) beruhen, ohne vollständig explizit legitimiert zu werden. Einige für eine Mehrheit plausible Gründe – konstruiert oder Einzeltätern, die eher als exzentrisch, geistig krank oder als kriminelles Subjekt eingeordnet werden, wie z. B. jüngst der Fall Anders Breiviks zeigte: trotz dessen massiven Beteuerungen, ein Überzeugungstäter in Bezug auf die Morde an 69 Menschen zu sein, wurde hartnäckig dessen geistige Gesundheit überprüft – während ein ähnlich handelnder muslimischen Glaubens vor allem auch als religiös motivierter Überzeugungstäter behandelt worden wäre. 50 Diese Perspektive ist die klassische Neuerung, die der „Labeling Approach“ Ende der 1960er in die Devianz-Forschung brachte. Dieser weise leider insgesamt noch zu wenig Theorie-Bildung auf, so dass sich nur einige Konzepte gewinnbringend anwendbar seien (Siegfried Lamnek: Theorien abweichenden Verhaltens: Eine Einführung für Soziologen, Psychologen, Juristen, Journalisten und Sozialarbeiter. 5. Aufl. München: Wilhelm Fink Verlag [UTB], 1993. 51 Lamnek, Abweichendes Verhalten, 1993, S. 257. 52 Vgl. Goode und Ben-Yehuda: Moral panics: the social construction of deviance. Oxford: Blackwell, 1994, S. 52 ff.

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„echt“ – reichen aus (besonders wenn auf Prinzipen der bestehenden Ordnung rekurriert wird), damit die, sich in der Minderheit befindlichen, „Abweichler“ ihre Position rechtfertigen und gegebenenfalls Sanktionen hinnehmen müssen. Wichtigster, aus diesen Überlegungen folgender Aspekt, ist zunächst die Unterscheidung zwischen möglichen, empirisch nachvollziehbaren Provokationen durch NRB, denen gegenüberstehend bestimmt werden muss, was hierdurch herausgefordert wird, was auf Kritik und Ablehnung stößt, welche Vorwürfen ohne empirische Grundlage sind und warum sie verwendet werden. Aufgrund ihrer geringen quantitativen Relevanz, der geringen Anzahl nachweisbarer Konfliktfälle mit NRB und der milderen Reaktionen in anderen europäischen Ländern, ist anzunehmen, dass die Ursachen der Konflikte um NRB eher in Frankreich, als bei einem lokalen Sonderverhalten der Gruppen zu suchen sind, weshalb, ohne Letzteres allein vom Forschungsansatz her auszuschließen, die Studie primär die französische Reaktion auf NRB fokussiert.

F RAGESTELLUNG UND V ORGEHENSWEISE Diese Vorgehensweise entspricht den Foki anderer wissenschaftlicher Arbeiten zu den Ursachen der Reaktion auf NRB in Frankreich, in denen, auch verschiedene Überlegungen zu kulturell besonderen Voraussetzungen unternommen wurden. Die Thesen und Ergebnisse der Forscher rangieren jedoch von „säkularistischer Religionsfeindlichkeit“ bis hin zu einem „katholisch geprägten und deshalb schwer Pluralismus-fähigen monolithischen Weltbild“ und weichen so zum Teil deutlich voneinander ab.53 Zwar liegen gegenwärtig mehrere, auch ausführlichere, Arbeiten zum Thema, „,Sekten‘ in Frankreich“ vor,54 dennoch fehlt eine systematische Prüfung ihrer Ursachen sowie eine umfassende Analyse der Genese der gegenwärtigen Situation, zumal der Zeitraum nach dem Erlass des „Anti-Sekten“ Gesetzes an sich bis jetzt nicht untersucht worden ist. Mit der übergeordneten Fragestellung nach den Ursachen und Hintergründen der starken Ablehnung von NRB in Frankreich soll nicht zuletzt zur Schließung dieser Lücke beigetragen werden. Wie die gegenwärtige Situation, blieben der Prozess der Implementierung des Gesetzes und die der Verrechtlichung der Konflikte vorausgehenden politischen Debatten jenseits der großen Enquête-Berichte relativ unbeachtet. Der Un-

53 Vgl. z. B. Jean Baubérot: Laïcité, sectes, société, in: Baubérot und Champion (Hg.): Sectes et Démocratie. Paris: Éditions du Seul, 1999. 54 Ausführlich dargestellt in Kapitel 2.

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tersuchungszeitraum wurde daher auf die der Gesetzgebung vorausgehenden parlamentarischen Debatten und die Entwicklung der Konflikte nach der Implementierung des Gesetzes, also etwa auf die Jahre von 1994 bis 2013, festgelegt. Zu dieser Zeit wurde über eine Gesetzesverschärfung gegen „Sekten“ im Parlament debattiert und diverse Vorschläge auf Regierungsebene geprüft. Anschließend legte sich der öffentliche Protest ein wenig, doch lediglich weil die Konflikte nun vor allem auf rechtlicher Ebene ausgetragen wurden. Als Quellenmaterial wurden die nur punktuell analysierten Rechtsdokumente und die Protokolle der parlamentarischen Debatten verwendet. Da die Fragestellung sehr weit gefasst und eine systematische Untersuchung das Ziel ist, wurden ebenfalls hierüber hinaus gehende Quellen zur Untersuchung des weiterreichenden Kontextes des zentralen Materialkorpus herangezogen. Da der Sekundärliteratur mehrere Thesen als Antwort auf die zentrale Fragestellung entnommen werden können ohne dass diese bereits zueinander ins Verhältnis gesetzt worden wären, müssen annähernd alle und weitere Ursachen als potenziell relevant angenommen werden. Erscheint die Hypothese, dass es „kulturelle“, das heißt spezifisch französische Gründe für den Verlauf der Konflikte gibt, aus oben genannten Gründen zusammen mit der, dass bestimmte Interessengruppen die Konflikte vorantrieben, auch sehr plausibel, bedarf es dennoch einer zumindest halb-offenen Operationalisierung der Forschungsfrage. Die ist wichtig, um einerseits mögliche Faktoren jenseits der angenommenen „kulturellen Bedingtheit“ der Konflikte nicht von vornherein auszuschließen und anderseits um an bestehende Forschungsergebnisse anschließen zu können. Forschungspraktisch werden Bedeutungen und Legitimationen der „Anti-Sekten“-Agenda, die Verwendung des Pejorativ les sectes, damit verknüpfte Themen in verschiedenen Textgattungen auf dem Wege zur Verschärfung der rechtlichen Mittel fokussiert, wobei die unterschiedlichen Quellenarten streng aufeinander bezogen untersucht werden. Die Erklärungskraft der inhaltsanalytischen Untersuchung intertextueller Bezüge ist im ersten Hauptteil für die Fragestellung noch relativ gering, insofern dieser Auswertungsschritt in erster Linie jenseits der Erfassung aller relevanten Daten, deren Reduktion und Neuordnung darstellt. Im zweiten Hauptteil55 wird auf der Basis der Funde und Ergebnisse der vorhergehenden Kapitel eine vertiefende Analyse der Legitimationen der „Sekten“-Bekämpfung“ und der damit verknüpften Themen56 vorgenommen. Dabei wird davon ausgegangen, dass gesellschaftliche Realität verbal konstruiert wird und, besonders auf politischer Ebene, Äuße-

55 Kapitel 8. 56 Vgl. John. R. Bowen: Why the French donҲt like headscarves. Islam and the public Space. Princeton University Press: Princeton and Oxford, 2007, S. 153 ff.

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rungen zwar auch tatsächliche mentale Repräsentationen des vom Sprecher Gedachten darstellen können, die Inhalte aber immer auch strategisch für die Adressaten „geframed“ werden, um deren Verständnis und deren Zustimmung zu erreichen.57 Da sich die Debatten auf der politischen Ebene relativ „Sprecher-anonym“ darstellen und deshalb auf diesem skizzierten Weg allein die praktische Genese der Konflikte bis hin zu ihrer Verrechtlichung nicht hinreichend untersucht werden kann, wird vorweg in Kapitel 4 ein Umweg zur Bestimmung des politischen „Anti-Sekten“-Milieus unternommen, auf das bestimmte Argumentationen im Parlament thematisch zurückgeführt werden können. In weiteren Kapiteln werden im Rahmen des ersten Hauptteils die Tragweite der Gesetzgebung und die jüngste Entwicklung nach Erlass des Gesetzes im Jahr 2001 im Sinne der praktischen Konsequenzen für die NRB komplementär beleuchtet. Zusätzlich wurde durch eine inhaltliche Analyse des Gesetzestextes und einiger exemplarischer Prozessprotokolle eine Übersicht zur Entwicklung der Rechtspraxis erarbeitet und die zusammen mit der Entwicklung der Debatten bis zum Jahr 2013 dargestellt wird. Hier war langsamer Einflussverlust der „Sekten“- Gegner maßgeblich, der etwa seit dem Jahr 2004 (spätestens seit dem Jahr 2007) zu beobachten ist und der an entsprechender Stelle mit Blick auf potenzielle Wechselwirkungen zwischen dominanten Diskursen auf europäischer Ebene und dem französischen Szenario diskutiert wird. Seit etwa dem Jahr 2006 lässt sich zusätzlich eine sehr viel konkretere Neufokussierung des „Anti-Sekten“-Engagements auf alternative Heilmethoden feststellen, welche mit Blick auf Parallelen in anderen Staaten berücksichtigt werden. Der erste und der zweite Hauptteil bauen also zentral aufeinander auf, während ergänzend zum zentralen Versuchsaufbau immer wieder zusätzliche Quellen herangezogen werden, um die Forschungsergebnisse in Bezug auf die aktuelle Entwicklung der Konflikte und innerhalb des Kontextes ihrer Entstehung erklären zu können. Die Teilbefunde der verschiedenen Untersuchungsschritte werden in der abschließenden Gesamtauswertung zusammengetragen und in Bezug auf die Forschungsfrage diskutiert.

57 James. A. Beckford: The Cult Problem in five Countries: The Social Construction of Religious Controversy, in: Eileen Barker (Hg.): Of Gods and Men: New Religious Movements in the West. Macon, Ga: Mercer University Press, 1984, S. 202.

2. Forschungsstand

Die Richtigkeit der negativen Darstellung von „Sekten“ durch ihre Gegner wird hier bezweifelt, denn die von ihnen angeblich generell ausgehenden Gefahren erstens, sind nur zum Teil mit nachweisbaren Vorkommnissen zu verbinden58 und viele der gegen NRB eingebrachte Vorwürfe haben sich im Nachhinein als unrichtig heraus gestellt. Zweitens ist die Anzahl von Mitgliedern in NRB sehr gering: nur 0,5% der Franzosen, die sich als religiös bezeichnen, geben an, einer Gemeinschaft oder einem Glauben jenseits der Traditionsreligionen oder den Zeugen Jehovas anzugehören.59 Mit den Zeugen Jehovas zusammen käme man zusammen auf etwa 1,1% religiöser Personen, die wahrscheinlich Mitglied einer Gruppierung jenseits der Kirchen sind, einen Glauben vertreten oder Praktiken nachgehen, welche in die Kategorie NRB oder gegenwärtige Spiritualität fallen. Ähnliche Konflikte wie in Frankreich sind drittens in anderen Ländern (ausgenommen Russland und China) deutlich weniger dramatisch verlaufen, da, wie oben am Beispiel Deutschlands geschildert, eine sehr ähnliche Situation anders bewertet wurde. Viertens haben sich mittlerweile einige Gruppen, die früher als potenziell gefährlich eingestuft wurden, der Kommunikation geöffnet und sind gegenwärtig in Frankreich als religiöse Gemeinschaften „quasi-anerkannt“.60 Hierzu zählen unter

58 Vgl. Kapitel 8. 59 9JO,663YJO$UQDXG(VTXHUUHLa manipulation mentale. Sociologie des Sectes en France. Paris: Fayard, 2009, S. 63. Die Zeugen Jehovas (in Frankreich nicht anerkannt und auf der GGR-Liste), liegen jedoch statistisch immerhin bei 0,6%. 60 Der französische Staat erkennt im strengen Sinne keine Religion an, verwendet aber die administrative Kategorie der association cultuelle, einer Gemeinschaft die allein der Ausübung eines Glaubens dient. Damit einhergehen steuerliche Vergünstigungen und eine Quasi-Anerkennung, welche von religiösen Gemeinschaften als sehr erstrebenswert gesehen werden (vgl. Alan Garay: Religious Intolerance and Discrimination in France, in: Besier/Seiwert (Hg.): Religion-Staat-Gesellschaft: Religiöse Intoleranz und

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anderem Mandarom, die in den 1990er Jahren Gegenstand einer massiven „Mediabolisierung“61 wurden oder die Zeugen Jehovas, die sich in Frankreich nach gewonnenen Prozessen vor dem European Court of Human Rights derzeit auf dem Weg zur Anerkennung befinden sollen. Alain Garay beschreibt die von den Zeugen verfolgte „Politik der Kommunikation“ mit den Behörden als sehr aussichtsreiche Strategie, um Konflikte zu reduzieren.62 Ein genauerer Blick auf und in die Gruppen, so er gewährt wird, scheint oft überraschend schnell Vorbehalte und Misstrauen vonseiten des Staates abbauen zu können. Fünftens verbleiben die meisten Mitglieder nicht länger als ein Jahr oder sogar nur für einen noch kürzeren Zeitraum in einer Gruppe, wenden sich dann ab und gegebenenfalls einer anderen zu,63 was nicht nur die Wahrscheinlichkeit einer potenziellen Schädigung der Adepten reduziert, sondern auch die oft behauptete völlige Vereinnahmung und Unterdrückung der Anhänger durch die Gruppe fragwürdig erscheinen lässt. Die nur wenigen nachgewiesenen Vorfälle in einzelnen Gruppen, sowie die pejorative, oft wenig systematische Verwendung der negativ stereotypen Begriffe sectes (engl. cults) auch für Gruppen, denen nie kriminelles Verhalten nachgewiesen wurde, deuten stark auf unzulässige Verallgemeinerungen hin. Les sectes werden aufgrund dessen von Anfang an als ein in weiten Teilen konstruiertes Problem eingeschätzt, während ob, und wie, es zur rechtlichen Kodifizierung des Konstrukts in Frankreich kommen konnte, genauer zu bestimmen ist.

D IE F ORSCHUNG ZU DEN K ONFLIKTEN UM N EUE R ELIGIÖSE B EWEGUNGEN Jenseits der umfassenden religionswissenschaftlichen und religionssoziologischen Forschung zu gegenwärtigen Religionen (NRB, Spiritualität und Esoterik bis hin zu (neo-)paganen Zusammenschlüssen), wurden speziell die Konflikte um NRB seit späten 1960er Jahren wissenschaftlich untersucht.64 Proteste, meist initiiert von besorgten Bürgern, waren seit Anfang der 1970er eine international zu

Diskriminierung in ausgewählten Ländern Europas -Teil II. Münster: Lit.-Verlag, 2011, S. 185-186. 61 Susan Palmer: The new Heretics of France. Minority Religions, la Republique, and the Government-Sponsored ,War on Sects‘. Oxford: Ashgate, 2011, hier S. 33-58. 62 Garay, Religious Tolerance, 2011, ebd. 63 Barker, Ageing in New Religions, DISKUS 2011, S. 6-8. 64 Introvigne zeichnet prägnant z. B. die wichtigsten Entwicklungen in der amerikanischen Anti- und Countercult-Bewegung nach (Massimo Introvigne: L‫ތ‬évolution du

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verzeichnende Reaktion auf das ebenso internationale Auftreten von religiösen Neuschöpfungen und später auf das Bekanntwerden einiger tragischer Todesfälle wie in Guyana,65 Waco/Texas66 und in Kanada, der Schweiz und Frankreich.67 In diesem Kontext aufwallender Debatten entstanden unzählige, zunächst überwiegend kleinere wissenschaftliche Studien, während die wissenschaftliche Diskussion in Bezug auf viele Übereinstimmungen in ihren Grundannahmen gegenwärtig gereift ist und eine solide Grundlage für weitere, vertiefende Studien bildet. Aus der Religionssoziologie und Religionswissenschaft sind unter den Forschern, die sich von den Anfängen der Debatten an engagierten, aus den USA und Kanada unter anderem Rodney Stark, Gordon Melton, Richard Bromley, Anthony Shupe, Lorne Dawson, J.T. Richardson sowie in jüngerer Zeit Stewart Wright und Susan Palmer und aus Europa mindestens Bryan Wilson, Eileen Barker von INFORM (The Information Network on Religious Mouvements)68 James Beckford, Hubert Seiwert und Massimo Introvigne von CESNUR (Centro studi sulle nouve religioni)69 zu nennen. Der grundlegende Tenor dieser Forschung besteht zum einen in einem Unverständnis bezüglich der als unverhältnismäßig angesehenen negativen Reaktionen gegenüber kleinen Religionsgemeinschaften, zum anderen in einer Betonung des kreativen, sozialen und kulturellen Potenzials solcher Gruppen. Letzteres wird darin gesehen, dass sie als sozialer Raum für Gesellschaftskritik und soziale Experimente zur Lösung empfundener Spannungen fungieren können und damit einen wertvollen Bestandteil gegenwärtiger Gesellschaften darstellen.70 Aus diesen Reihen wird als ein thematisch relevanter und vergleichswürdiger Aspekt die Unterschiedlichkeit im praktischen staatlichen und zivilen Umgang mit den Konflikten vor dem Hintergrund der jeweiligen sozialen, politischen und kulturellen Gegebenheiten in unterschiedlichen Ländern betont, was in der vorliegen

„mouvement contre les sectes“ chrétien 1978-1993, in: Social Compass 42(2), 1995, S. 237-247). Einen guten Überblick für Arbeiten zu NRB im angloamerikanischen Raum insgesamt gibt Cowan, New Religious Movements, 2009 und einige der wichtige involvierten Forscher sind in Lewis, New Religious Movements, 2004 versammelt. 65 1978, People‫ތ‬s Temple. 66 1993, Branch of Davidians. 67 1993, 1994, 1997, Temple Solaire; 1993, Branch of Davidians; 1978, People‫ތ‬s Temple. 68 Information Network on New Religious Movements; Webseite URL: http://www.inform.ac.uk/; zuletzt eingesehen am 05.04.2013. 69 Webseite, URL: http://www.cesnur.org]uletzt eingesehen am 06.12. 2012. 70 Seiwert in Introvigne und Seiwert: Schluß mit den Sekten! Die Kontroverse über ,Sekten‘ und neue religiöse Bewegungen in Europa, Marburg: Diagonal-Verlag, 1998.

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den Arbeit aufgegriffen wurde. Das Gros der genannten Autoren wurde wegen ihrer neutralen bis wohlwollenden Berichterstattung, ihrer relativ engen Zusammenarbeit untereinander und mit den NRB als Cult-Apologists kritisiert. Ihr tendenziell positiver Tenor, der mögliche Gefahren eben nicht in den Vordergrund stellt, kann und soll auch nicht geleugnet werden, während der eigentliche Anspruch jedoch vor allem derjenige der Wertneutralität war und ist. Dennoch: da gerade in den 1970er Jahren und der Folgezeit die potenziell von „Sekten“ ausgehenden Gefahren von einer aktiven „Anti-Kult“-Lobby unzureichend geprüft und generalisierend für fast alle NRB fast mantrisch wiederholt wurden, bestand aus meiner Sicht eine Notwendigkeit, die öffentlichen und politischen Debatten durch das Einbringen wissenschaftlich neutraler, aber auch wohlwollender Argumente auszubalancieren.71 Zu den spezifisch französischen Konflikten um NRB in Frankreich arbeite(te)n vor allem Nathalie Luca, Françoise Champion, Jean Baubérot, Bruno Etienne, Cyrille Duvert, Alain Garay, Francis Messner72 sowie Danièle Hervieux-Légèr und Jean Paul Willaime, deren Arbeiten überwiegend in französischer Sprache zugänglich sind. In englischer Sprache sind, neben richtungsweisenden Aufsätzen und den „Cult Controversies“ (1985) von James Beckford, vor allem Véronique Altglas und Susan Palmer Verfasser wichtiger Arbeiten. Letztere veröffentlichte, basierend auf eigenen ethnographischen Studien, im Oktober 2011 die erste Monographie zu den französischen „Sektenkonflikten“ seit 25 Jahren.73 Die Forschung zum Thema insgesamt generierte in Bezug auf die hier gestellte Forschungsfrage teilweise widersprüchliche Ergebnisse, bedingt durch unterschiedliche Foki auf unterschiedliche thematische Felder und Zeitabschnitte innerhalb der Konflikte, unterschiedliche Quellen und Ansichten ihrer jeweiligen Relevanz für das Gesamtbild. Folgend wird aus Gründen der Übersichtlichkeit der relevante Literaturkorpus in die wissenschaftlichen Argumentationslinien und Themenfelder („Kultur“, Medien, Recht […]) gegliedert und auf diese Weise der Stand der gegenwärtigen Forschung zusammengefasst. Innerhalb der soziologischen oder sozialwissenschaftlichen Arbeiten lassen sich auf Akteure bezogene soziologische (Beckford, Altglas, Luca), ethnographisch-qualitative (Palmer), historisch-diskursanalytische (Esquerre), rechtswissenschaftliche Ansätze mit rechtssoziologischer Orientierung (vor allem Duvert) sowie historisch-soziologische Ansätze (zum Beispiel Baubérot) unterscheiden. 71 Zur Generierung von Information durch u. a. UNADFI und MIVILUDES siehe Kap. 4. 72 Francis Messner (Hg.): Les „sectes“ et le droit de religion. Paris: PUF [Politique d'aujourd'hui], 1999. Als allgemeines juristisches Nachlagewerk wurde neben anderen auch dieses Werk herangezogen: Francis Messner, Pierre-Henri Prélot, Jean-Marie Woehrling (Hg.): Traité de droit français des religions. Paris: Éditions du Juris-Classeur, 2003. 73 Palmer, Heretics, 2011.

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Letztere arbeiten oft mit einem Fokus auf „Kultur“, zum Teil ideengeschichtlich und zumindest implizit mit dem Theorem der Pfadabhängigkeit, vor allem dann, wenn sie auf historisch gewachsene Inhalte institutionalisierter Kategorien rekurrieren (wie auch Hervieux-Légèr 2001) oder widmen sich allgemeiner der historischen Entwicklung der Situation.74 Ansätze, die vor allem Akteure fokussieren, wie die separat behandelte ethnographische Forschung, betonen die Relevanz konkreter politischer Akteure für die Entwicklung der Konflikte. Vor allem die Letztgenannten, wie Susan Palmer und Massimo Introvigne, liefern zudem detaillierte und anderweitig schwer zugängliche Informationen über nur kurz zurück liegende Ereignisse.

D IE AKTEURE DER „ANTI -S EKTEN “-AGENDA IN S EKUNDÄRLITERATUR

DER

Soziologische Ansätze Einer der frühen richtungsweisenden Aufsätze wurde 1981 von James Beckford veröffentlicht.75 Wertvoll sind besonders seine Analysen der Reaktionen von katholischer Seite vor 1980 sowie die nah an die Kirche angelehnten, frühen Argumentationen UNADFIs (Union Nationale Associations Défense Famille et Individu contre les Sectes).76 Bereits hier werden verschiedene relevante Faktoren, wie die historisch gewachsene Bedingtheit der Reaktionen und den Einfluss des Katholizismus als Majoritätsreligion auf das nationale Selbstverständnis und die „Pluralismusfähigkeit“ Frankreichs und im Vergleich zu den USA deutlich unter-

74 Diese versuchte Unterscheidung verschiedener Forschungsrichtungen ist als „holzschnittartige“ Unterscheidung der methodologischen und theoretischen Herangehensweise zu verstehen und wurde zur Steigerung der Übersichtlichkeit eingeführt. In den konkreten Arbeiten werden oft verschiedene Methoden, Theorien und Erklärungsansätze zusammen verwendet oder jeweils als Erklärung für verschiedene Befunde herangezogen. 75 James A. Beckford: Cults, Controversy and Control: A Comparative Analysis of the Problems posed by New Religious Movements in the Federal Republic of Germany and France, in: Sociological Analysis, Vol. 42, No. 3 (Autumn), 1981 S. 249-263. Überarbeitet in Beckford, Cult Controversies, 1985, S. 249-275. 76 Siehe Kapitel 4.

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schiedliche diskursive Frames bezüglich der Gefährlichkeit der Gruppen herausgestellt.77 Beckford fasst zusammen, dass die dominanten Reaktionen in Frankreich sich erstens in Äußerungen zur „organischen Gewachsenheit“ und „natürlichen Ordnung“ der französischen Gesellschaft und der „kulturellen Fremdheit“ von Protestanten, Freimaurern und NRB basierend auf der katholisch-integristischen Lehrmeinung, niederschlugen, sich, zweitens, Theorien über totalitäre Verschwörungen ausbreiteten und drittens, die „Anti-Kult“-Bewegungen einen semioffiziellen Status erlangten. Er betont, dass NRB immer in Abhängigkeit von ihrer Gastgesellschaft zu betrachten sind, da sie sich anpassen und ihren modus operandi entsprechend ihrer Umgebung variieren. Damit waren einige wichtige Aspekte, die bis heute in der Sekundärliteratur immer wieder aufgegriffen werden, bereits früh genannt. Für weitere Forschungen sei zudem mehr Aufmerksamkeit auf die sozialen Netzwerke der Akteure, speziell der „Anti-Sekten“-Aktivisten und multi-organisational fields zu lenken, um so auch nicht mehr existierende soziale Bewegungen und ihre möglicherweise kanalisierenden Wirkungen erfassen zu können. Véronique Altglas griff diesen Impuls78 auf und lenkte das Augenmerk auf personale Überschneidungen von MIVILUDES (Mission interministérielle de vigilance et de lutte contre les dérives sectaire) und den „Anti-Kult“-Organisationen, woran sich Kapitel 4 dieser Arbeit mit einer anderen Methodik direkt anschließt. In „,Laïcité‫ދ‬, ,Dystopia‫ދ‬, and the Reaction to New Religious Movements in France“,79 greift Beckford das Thema Frankreich erneut auf, trägt dem voranschreitenden Prozess Rechnung und evaluiert verschiedene Faktoren, die die Situation in Frankreich mit bedingt haben könnten. Er fokussiert nun einerseits die rechtlichen Neuerungen und verlagert den Schwerpunkt der Argumentation auf das Eingreifen staatlicher Autorität, kulturellen Wandel und die Rolle der Laizität als Grundlage der Konzeption französischer Nationalität.80 Alternativ zur Betonung der laïcité im Sinne einer historisch gewachsenen Struktur und Kombination

77 Zum BeispLHOGLH.RQQRWDWLRQDOVSROLWLVFKVXEYHUVLYVLHKH.DSLWHOXQG.DSLWHO vgl. Beckford, Cult Problem in five Countries, 1984, S. 202. 78 Véronique Altglas: French Cult Controversy at the Turn of the Millennium: Escalation, Dissentions and New Forms of Mobilisations across the Battlefield, in: Barker, Eileen (Hg.): The Centrality of Religion in Social Life. Essays in Honor of James Beckford. Aldershot: Ashgate, 2008, S. 59-60. 79 James A. Beckford: „Laïcité“, „Dystopia“, and the Reaction to New Religious Movements in France, in: Richardson, J.T. Regulating Religion. Critical Issues in Social Justice. %HUOLQ+HLGHOEHUJ6SULQJHU6IIYJO%HFNIRUG Controversies, 1981, S. 254 ff. 80 Siehe Unterkapitel „Laizität“.

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verschiedener philosophischer, sozialer und politischer Werte81 publizierte Véronique Altglas mit Hinweis auf das begrenzte Erklärungspotenzial „einer allgemeinen religionsfeindlichen Tendenz in Frankreich“ eine Analyse des diskursiven Gebrauchs des Begriffs „Laizität“ sowie „Laizität als institutionelle Praxis“.82 Ausgehend von einer „ideologischen“ und einer „liberalen“ Auslegungsvariante des Prinzips der strikten Trennung von Staat und Religion83 konstatiert sie, dass der Begriff nicht statisch sei, sondern innerhalb Frankreichs in verschiedenen Variationen seiner Bedeutung in Bezug auf gesellschaftlich vorteilhafteste Interpretation aktiv diskutiert werde.84 Dies zeigt die anhand der Verwendung des Begriffs „Laizität“ vonseiten der NRB, den „Anti-Kult“-Bewegungen und des Bureau de Cultes heraus. Erstgenannte verwenden den Begriff einmal im Sinne der Religionsfreiheit und einmal im Sinne der staatlichen Aufgabe des Schutzes der Bürger vor religiöser Beeinflussung und Unterdrückung, während die Aufgabe der Regierungsinstitution darin besteht, mit den Vertretern verschiedener Religionen zu kommunizieren85 und für die „Laizität“ im Sinne von „Neutralität“ den zentralen legitimierenden Wert ihrer Agenda darstellt.86 Der Vergleich zwischen dem Bureau de Cultes und MIVILUDES im Umgang mit den Zeugen Jehovas zeigt, wie unterschiedlich der administrative Umgang mit so genannten „Sekten“ vor dem Hintergrund laizistischer Ideale auch zwischen staatlichen Behörden sein kann.87 Zwar habe sich der Umgang des Staates mit den ZJ normalisiert, doch würden diese von

81 Jean-Paul Willaime: The paradoxes of Laïcité in France, in: Barker, Eileen (Hg.): The Centrality of Religion in Social Life. Essays in Honour of James A. Beckford. Aldershot: Ashgate, 2008, S. 41-54, hier S. 43, 49%HFNIRUGDystopia, 2004, S. 31 f. 82 Altglas, Laïcité, 2010, S. 59-60. 83 Ebenso: Baubérot: Laïcité, sectes, société, Willaime, Paradoxes, 2008, S. 43 f. 84 Altglas, Laïcité, 2010, S. 494. 85 Das Bureau de Cultes verwaltet religiöse Organisationen staatlich und kontrolliert ihre Finanzen sowie die Nutzung öffentlichen Eigentums. Die Einrichtung ist nach Altglas mit der religiösen Pluralisierung stark gefordert und interpretiere das Prinzip der „Laizität zunehmend als „religiös neutral“. Das Bureau de Cultes beziehe sich zwar implizit auf anerkannte „Religionen“ (vs. „Sekten“), sei insgesamt jedoch pluralismusfähig, lehnte u. a. die „Guyard-Liste“ als nicht legal ab und stellte sich zu diversen Anlässen gegen die „Anti-Kult“-Bewegung (vgl. Altglas, French Cult Controversy, 2008, S. 61 VLHKH GLH :HEVHLWH GHV Bureau de Cultes, URL: http://lannuaire.service-pu blic.fr/services_nationaux/service-national_180130.html?xtor=RSS-870 zuletzt eingesehen am 20.09.2012. 86 Altglas, Laïcité, 2010, S. 495-97. 87 Ebd. S. 498.

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den „Anti-Kult“-Bewegungen und MIVILUDES noch immer als eine der gefährlichsten Gruppen betrachtet. Zusätzlich zum „Liberalisierungsschub“ der 1990er Jahre88 gebe es von staatlicher Seite verstärkt eine „Politik der Toleranz“ gegenüber dem, Islam die auch einige NRB betreffe,89 zu der sich parallel allerdings die „Anti-Kult“-Kampagnen von MIVILUDES intensiviert hätten.90 Altglas‫ ތ‬Befunde betonen damit die Uneinheitlichkeit der Reaktionen auf „Sekten“ innerhalb des französischen Staates und indizieren ein Anwachsen der Konfliktdynamik.91 Damit ist besonders die Selbstorganisation der NRB gemeint, welche sich zunehmend emanzipierten und – wenn auch mit begrenztem Erfolg – vor allem mit rechtlichen Mitteln aktiv gegen die „Anti-Kult“-Bewegungen, MIVILUDES und einzelne „Sekten“-Gegner vorgingen.92 Neben einer klareren Formulierung wichtiger Faktoren (u. a. rechtlich-institutionelle, staatlich-autoritäre, kulturell innovative und traditionelle, öffentliche Debatten) an die angeschlossen werden kann, stützen die Befunde von Altglas und Beckford die Annahme der Relevanz verschiedener Akteure gegenüber der Betrachtung des Staates als monolithischer Einheit, wie sie in anderen Ansätzen vertreten wird.93 Methodologisch verweist dies entsprechend auf die Notwendigkeit einer vorangehenden genaueren Prüfung des Feldes der Gegenspieler, anstatt den französischen Staat, seine Maßnahmen und die Argumentationen seiner Vertreter isoliert zu betrachten.

88 Vgl. Willaime, Paradoxes, 2008, S. 49 ff. 89 Ebd. Willaime schreibt hier sogar von partieller Kollaboration. 90 Altglas, Laïcité, 2010, S. 498 f. 91 Zum Beispiel stellen der CAP LC (Coordination des Associations et Particuliers pour la Liberté de Conscience) und seit 2004 CICNS (Centre d'Information et de Conseil des Nouvelles Spiritualités) als Zusammenschlüsse von NRB und spirituellen Gruppen und Menschen als Organisationen wirksamere Gegengewichte zu den „Anti-Kult“-Bewegungen dar, als es einzelne kleine Gruppen bisher waren (vgl. Kapitel 6.). 92 Vgl. Christiane Königstedt: New Religious Movements and Alternative Religions in France. The use of Digital Media as a Counter-Strategy against Social and Legal Exclusion. Donner Institute: Digital Religion, 2013, S. 123-137. 93 Vgl. Palmer, Heretics, 2011.

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Untersuchungen zur Geschichte der Konflikte seit den 1970er Jahren Die Dichte der Information bestimmter Forschungsarbeiten beruht zum Teil darauf, dass die Autoren als Experten in Gerichtsverhandlungen involviert waren eine gewisse Bestürzung über die französische Situation teilten. Zu nennen wäre hier erneut Massimo Introvigne, der sich in seinen schriftlichen Arbeiten auf die „Anti-Kult“-Organisationen konzentrierte94 und als Jurist, Soziologe und Gründungsmitglied CESNURs95 die wissenschaftlichen Debatten um NRB auch jenseits Frankreichs mitprägte. Die französischen „Anti-Kult“-Bewegungen (folgend: AKB), vor allem UNADFI und CCMM (Centre Contre les Manipulations Mentales – Centre Roger Ikor96) seien auf private Initiative hin gegründet worden und bis etwa zum Jahr 1995 die dominanten zivilgesellschaftlichen Akteure gegen NRB gewesen, welche nicht zuletzt die mediale Verfolgung der Gruppen initiiert hätten.97 Sie hätten zudem mit den US-amerikanischen Anti- und Countercult-Movements kooperiert, und deren Brainwashing-Diskurs nicht zuletzt die Diskurse über die manipulation mentale in Frankreich beeinflusst. In Frankreich haben die AKB mittlerweile gemeinnützigen Status und werden bei Gerichtsprozessen gegen NRB als Nebenkläger zugelassen, nehmen also aktiv bis in die rechtlichen Aushandlungsprozesse hinein Einfluss. Zum Wirken der „Anti-Kult“-Lobby im Parlament, die vor Verabschiedung des Gesetzes im Jahre 2001 ein gros der Stimmen hierfür mobilisierte arbeitete der Jurist Cyrille Duvert, auf dessen Arbeiten folgend noch mehrfach zurück gekommen wird.98 Zu den Vorgängen im Parlament

94 Siehe u. a. Introvigne, Massimo: Something peculiar about France. Anti-Cult Campaigns in Western Europe and the French Exceptionalism, in: Lewis, James R. (Hg.): The Oxford Handbook of New Religious Movements, New York: Oxford University Press, 2004, S. 206-Ygl. Einleitung hier. 95 Webpräsenz URL: http://www.unadfi.org/ zuletzt eingesehen am 15.05.2013. 96 Webpräsenz URL: http://www.ccmm.asso.fr/ zuletzt eingesehen am 15.05.2013. 97 Vgl. Massimo Introvigne: Holy Mountains and Anti-Cult Ecology: The Campaign Against the Aumist Religion in France, in: Social Justice Research, Vol.12, Issue 4, 1999, S. 365-375. 98 Cyrille Duvert: Anti-Cultism in the French Parliament. Desperate Last Stand or an Opportune Leap Forward? A Critical Analysis of the 12 June 2001 Act, in J.T. Richardson (Hg.): Regulating Religion. Critical Issues in Social Justice, Heidelberg: Springer, 2004a, S. 41-52. Siehe auch: James T. Richardson und Massimo Introvigne: „Brainwashing“ Theories in European Parliamentary and Administrative Reports on „Cults“

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steuerte außerdem Patrice Rolland eine auf teilnehmender Beobachtung basierende Analyse und Gedanken bei, die in Bezug auf die Identifizierung der politischen Akteure hier an späterer Stelle relevant werden.99 Die Bedeutung der AKB für den Verlauf der Konflikte, die Veränderung ihrer Rolle und Zusammensetzung nach Erlass des About-Picard-Gesetzes und der Schaffung von MIVILUDES ist deutlich wahrnehmbar100 und wird hier eingehend behandelt werden. Laurent Hinckers101 veröffentlichte seine Erlebnisse als Anwalt betroffener NRB, die, zum Beispiel wegen Diffamierung, gegen die AKB und Journalisten klagten. Neben den Beschreibungen seiner Beobachtungen der Abläufe innerhalb der Verhandlungen und der öffentlichen Reaktionen auf bestimmte Prozesse, stellt er wertvolle juristische Kommentare sowie kurze Auszüge von aus Protokollen von Gerichtsprozessen zur Verfügung und erweitert hierdurch die hier zur Verfügung stehende Quellenbasis um detaillierte Insider-Informationen aus der Rechtspraxis.102 Susan Palmer forschte überwiegend in den Gruppen selbst und als Einzige auch ausführlich zu den realen Dimensionen der sozialen und juristischen Reglementierung von NRB. Dies läge laut Palmer unter anderem an den Karriererisiken für französische Forscher, die sich des Themas annähmen.103 Sie selbst befragte Mitglieder von NRB und Akademiker, die in direkten Kontakt mit den „AntiKult“-Bewegungen kamen persönlich oder über das Internet und sammelte so vor and „Sects“, in: Journal for the Scientific Study of Religion, June 2001, Volume 40, Issue 2, S. 143-168, hier 147 f. 99 Patrice Rolland: La loi du 12 juin 2001 contre les mouvements sectaires portant atteinte aux Droits de l'Homme. Anatomie d'un débat législatif, in: Archives de sciences sociales des religions, 121, 2003, S. 149-166. 100 Vgl. Palmer, Heretics, 2011, S. 19-21. 101 Laurent Hincker: Sectes, rumeurs et tribunaux. La republique menacée par la chasse aux socières? Strasbourg: DNA [La Nuée Bleue], 2003. 102 Nicht alle gerichtlichen Dokumente müssen in Frankreich veröffentlicht werden, unter anderem dann nicht, wenn Beteiligte die namentlich genannt werden, nicht öffentlich nicht bloßgestellt werden wollen. Auch wurde über Verurteilungen von „Sekten“-Gegnern anfangs häufig nicht in den Medien berichtet, sondern diese wur den nur informell bekannt. Ein weiterer Fall wurde als Gesamtprotokoll veröffentlicht (Albin Michel: Le procés d'Église de Scientologie, o.O: Édition, 1997), fand allerdings vor Erlass des APG statt und diente so hauptsächlich als Beleg des (wie von Augenzeugen häufig angemerkt) vorherrschenden scharfen Tonfalls während ei nes der Prozesse der Church of Scientology. 103 Susan J. Palmer: Field Notes – France's „War on Sects“- A Post 9/11 Update, in: Nova Religio. Vol 11:3, 2008, S. 104.

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allem Fallbeispiele. Die Hälfte der von ihr für die Field Notes-Artikel untersuchten vierzehn Gruppen (u. a. ISKON, Scientology, Aum, das Lectorium Rosicrucianum) hätten schon vor dem Guyard-Report massive Probleme mit der seit den 1980er Jahren aktiven UNADFI und dessen regionalen Unterorganisationen (ADFI – Associations Défense Famille et Individu contre les Sectes) gehabt. Palmer konnte insgesamt sechs mehr oder weniger militante Strategien gegen NRB isolieren, mit denen gegen die später im Gest-Guyard-Report indizierten Gruppen vorgegangen wurde und die vermehrt zu Austritten aus den Gruppen geführt hätten: a) b) c) d) e) f)

Dämonisierung durch die Medien Finanzieller Druck (hohe Steuerauflagen, Kündigung von staatlichen Verträgen) Öffentliche Diskriminierung, vor allem der Führungspersonen Ausschluss von öffentlichen Plätzen (von Nationalfeiern, aus Hotels, Gaststätten u.a.) Ungerechte Verfolgung wegen angeblich illegal praktizierter Medizin Anschwärzen von Angestellten am Arbeitsplatz.104

Palmers Monographie „The New Heretics of France“, gingen nach eigenen Angaben zehn Jahre Forschungsarbeit voraus. Die Publikation behandelt überwiegend auf der Basis von Insider-Berichten unter Hinzuziehung von Zeitungsartikeln und Expertenaussagen - die Fälle von Mandarom, Scientology, die Raëlianer, Tabitha‫ތ‬s Place, Horus und Neo-Phare, von denen jeder exemplarisch für eine Dimension der Konflikte wie die „Mediabolisierung“,105 rechtliche und aktivistische Strategien, die „Herausforderung der wissenschaftlichen Orthodoxie“ und der gängigen Sexualmoral, Eltern- und Kinderrechte, alternative Heilmethoden und die illegitime medizinische Praxis sowie die erste Anwendung des About-Picard-Gesetzes, steht. Dieser Teil der Arbeit stellt eine ausgezeichnete, wertvolle Recherche und Datensammlung dar, auf die hier an verschiedenen Stellen zurückgegriffen wurde. Im zweiten Abschnitt des Buches106 unternimmt Palmer eine systematische Betrachtung der möglichen Bedeutungen des War on Sects und greift hauptsächlich exemplarisch auf Zeitungsartikel und öffentliche Aussagen wichtiger Persönlichkeiten zurück, die jedoch letztendlich keine repräsentativen Aussagen oder eine

104 Susan J. Palmer: Field Notes – France‫ތ‬s Anti-Sect Wars, in: Nova Religio.Vol. 6:1, 2002, S. 181. 105 Wortschöpfung von Palmer. 106 Palmer, Heretics, 2011, S. 177 ff.

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klare Schlussposition ermöglichen und eine erneute Prüfung hier verlangen. Palmer ergreift deutlich die Seite der NRB, 107 da diese aus ihrer Sicht in Frankreich massiv vom Staat verfolgt würden. Dies wird hier nicht grundlegend kritisiert, wohl aber Palmers homogene Konzeptualisierung von „Staat“, die die den Blick auf die komplexeren Dynamiken der Situation verstellt. Basierend auf den bis jetzt angesprochenen Studien kann vorläufig die Konstellation der involvierten Akteure insgesamt zu einem Überblick (ohne genaue Gewichtung der jeweiligen Einflüsse) zusammengefasst werden. Abb. 1: Akteurzentrierte Feldskizze

Medien

die Öffentlichkeit

Informationen verbreiten

(Meinungsbildung)

Informationen sammeln, beraten, informieren

Ablehnung, Aggression, Klagen

Einfluss: siehe Kapitel 5+6

AKB

NRB

Klagen/ Verklagt werden

Klagen/verklagt werden

MIVIVLUDES

beratende Funktion

Bureau des Cultes

Gerichte

In der Abbildung wiedergegeben sind die Wege des Informationstransfers, innerhalb derer die „Anti-Kult“-Bewegungen zusammen mit MIVILUDES die zentralen Akteure sind, die Informationen über „Sekten“ sammeln, über die Medien an die Bevölkerung sowie auch an die Regierung weiterleiten. Das Bureau des Cultes als eher ausgleichende staatliche Behörde kann in konkreten Fällen als Fürsprecher auftreten, beeinflusst den Informationsfluss in die Öffentlichkeit jedoch kaum. Hieraus resultiert, dass die NRB im Informationskreislauf ohne Fürsprecher und eigene Einflussmöglichkeiten stehen und in der Tat hatten sie gegenüber der Öffentlichkeit über mehrere Jahrzehnte hinweg überhaupt keine Stimme.108 Das 107 Vgl. Palmer, Heretics, 2011, S. ix-xiii. 108 Zu Veränderungen dieser Situation im Zuge der Verbreitung des Internets siehe Kapitel 6.

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Mittel der Klage vor Gericht war und ist entsprechend die wichtigste Möglichkeit der NRB gegen die „Anti-Kult“-Bewegungen vorzugehen, die im Rahmen der jüngsten Entwicklung der Konflikte noch an Bedeutung gewann und in einem folgenden Kapitel genau untersucht wird. Die Bedeutung des Engagements der „Sekten“-Gegner für die anhaltende Dynamik der Konflikte, erfordert eine genauere Erschließung dieses Feldes.109 Es erscheint aus jetziger Perspektive als ein recht beliebiges Netzwerk von Bürgern, Psychiatern, Politikern und Juristen, deren Motive, seien es persönliche Betroffenheit, Eigeninteressen oder die „Sekten“-Bekämpfung ideologisch legitimierende Agenden, nur wenig deutlich herausgestellt wurden. Deshalb wird der vorliegenden Untersuchung unter anderem der Analyse bestimmter Argumentationsstrategien im Parlament, eine genauere Betrachtung der „Anti-Sekten“-Akteure und Akteur-Gruppen vorangestellt. Alternativ zu bisherigen Darstellungen und angelehnt an Bruno Latour wird im 4. Kapitel die Selbstdarstellung und Struktur des „Anti-Sekten“-Milieus untersucht. Dabei ist es durch den erweiterten Akteur-Begriff und die Abwendung des Fokus vom klassischen Verständnis von „Organisation“ und „Gruppenkohäsion“ möglich, auch eher diffuse soziale Formationen, im Zusammenhang mit historischen Ereignissen zu beschreiben und das französische „Anti-Sekten“-Milieu mit seinen Wandlungen über einem Zeitraum von mindestens fünfundzwanzig Jahren differenzierter darzustellen.

K ULTURBEZOGENE , IDEENGESCHICHTLICHE UND ANDERE HISTORISCHE ANSÄTZE Mit Michèle Lamont wird hier für Frankreich von einer vorhandenen geteilten kulturellen Basis im Sinne eines geteilten Wissensvorrates ausgegangen,110 jedoch wird von einer Konzeptualisierung „französischer Kultur“ als homogen abgesehen.111 Hierfür sprechen zunächst nicht nur die bereits ansatzweise identifizierten

109 Siehe auch Altglas, French Cult Controversy, 2008, S. 55-57. 110 Michèle Lamont/Laurent Thévenot (Hg.): Rethinking Comparative Cultural Sociol ogy. Repertoires of Evaluation in France and the United States. Cambridge University Press, 2000. 111 Zusätzlich zu den Arbeiten, die bestimmte kulturelle und gesellschaftliche Themen innerhalb der französischen Debatten benennen, gibt es mehrere jüngere und umfang reiche historische Arbeiten zu Frankreich allgemein, welche die oben konstatierte Re levanz treibender politischer Akteure und die hier gewählte Konzeptualisierung „fran zösischer Kultur“ (in Anführungszeichen) als stark fragmentiert und relativ inhomo

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Konfliktparteien und die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs „Laizität“ als dem prominentesten Selbstbeschreibungsbegriff französischer kollektiver Identität, sondern auch die von Duvert festgestellte „Amerikanisierung“ französischer Rechtspraxis mit dem wachsenden Einfluss verschiedener pressure groups.112 Zusätzlich indiziert die begrenzte Erklärungskraft der Ansätze, die von einer monolithischen staatlichen Position Frankreichs gegen les sectes ausgehen, einen derartigen Perspektivenwechsel bis in staatliche Angelegenheiten hinein, worauf in Kapitel 3 genauer eingegangen wird. Die wichtigste Implikation für die vorliegende Arbeit ist die Notwendigkeit, verschiedene, in Bezug auf das „Sekten“-Thema möglicherweise wirksame und der Bevölkerung zur Verfügung stehende Wissensbestände und deren inhärente Wertvorstellungen aus der Sekundärliteratur zu identifizieren.113 Im Material könnten solche abstrakte Werte verteidigt und von einer Interessengruppe als Legitimation der „Anti-Sekten“-Agenda eingesetzt werden, oder implizit in der Kritik an NRB und deren (vermuteten) Praktiken enthalten sein. Um diese identifizieren zu können, werden in diesem Teilkapitel unter Rückgriff auf historische Ansätze, kulturelle pattern – im Sinne eines traditionellen „Wertekanons“ – allem voran verschiedene Bedeutungen von „Laizität“ und Elemente der katholischen Prägung sowie aktuelle Themen der öffentlichen Aushandlungsprozesse zusammengetragen, die im Zusammenhang mit den französischen „Sekten“-Debatten bisher aufgegriffen worden sind. Diese werden auf der praktischen methodologischen Ebene für die teil-standardisierte Analyse des neu erhobenen Materials sowie zur Erklärung und Integration der Funde verwendet. In den Argumentationen zu den „kulturellen“ Prägungen der "Sektenkonflikte" ist implizit häufig das Theorem der „Pfadabhängigkeit“ enthalten, mit dem Beschränkungen des institutionellen, aber auch des habituellen Handels erklärt werden sollen.114 Dies beträfe vor allem die katholische Prägung französischer Kultur im Umgang mit Minoritätenreligionen,115 aber auch originär „Fremdes“ als eigene Kategorie. In Bezug auf die „Sekten“ der 1970er Jahre könnte zum Beispiel gerade gen unterstreichen. Siehe besonders: Jack Hayward: Fragmented France. Two Cen turies of Disputed Identity. New York, London: OUP, 2007, hier Kapitel 6-8. Siehe zur „Fragmentierung“ „französischer Kultur“ auch S. M. Lipset: The First New Na tion, S. 225, zitiert nach Ehrenberg, Unbehagen, 2010, S. 268. 112 Duvert, Anti-Cultism, 2004, S. 44. 113 Vgl. Lamont, Cultural Sociology, S. 8-10. 114 Vgl. J. Beyer: Pfadabhängigkeit. Über institutionelle Kontinuität, anfällige Stabilität und fundamentalen Wandel. Frankfurt/Main: Campus Verlag, 2006 (Einleitung). 115 Vgl. Beckford, Dystopia, 2004, S. 37.

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die Sanktion der Abweichung als „Pfadzwang“ betrachtet werden, mit dem ein bestehender legitimer Weg, der traditionelle, durchgesetzt wird. Warum genau ein solcher Zwang auch nach dem Schwinden einer aktiven (z. B. religiösen) Autorität weiter besteht, könne jedoch über einen längeren Zeitraum hinweg oft nicht mehr eindeutig festgestellt werden, da es, wie Beyer bemerkt, unterschiedliche Mechanismen sind, welche gewisse strukturelle Elemente reproduziere und andere verschwinden lassen.116 Eine empirische Untersuchung solcher Phänomene würde eine eigene Studie erfordern, weshalb, hier vor dem Hintergrund der Fragestellung und der begründeten Wahl der Forschungsperspektive nur im Falle einer eindeutig sachdienlichen Relevanz für die Forschungsfrage dieser Erklärungsansatz herangezogen wird. In einigen wenigen Fällen, dort, wo nicht eine direkte historische Kontinuität über Akteure festgestellt oder entsprechende Mechanismen identifiziert werden konnten, wurde sich auch mit der Feststellung paralleler Entsprechungen zufrieden gegeben oder diese Argumentationslinie nicht weiter verfolgt.

Die Hintergründe der Opposition gegen „Sekten“ nach Jean Baubérot Einige pattern französischer Geschichte und Denktraditionen im Zusammenhang mit den Konflikten um les sectes wurden von Jean Baubérot 1999117 bereits herausgearbeitet und knapp dargestellt. Er identifiziert Quellen der Spannung … 1. …zwischen einer rechtlich garantierten Glaubensfreiheit (liberté de conscience)118 im Sinne einer religiösen oder politischen Überzeugung einer einzelnen Person, zu der diese sich frei bekennen kann. Diese hat auch eine kollektive Bedeutung, die mit dem Konzept jedoch nicht in erster Linie impliziert ist.119

116 Ebd. 117 Baubérot, Laïcité, sectes, société, 1999, S. -327. 118 Ebd. S. 326. Diese idealtypische Position wird auf Seiten des Staates am ehesten vertreten durch das ursprünglich zur Regelung des Verhältnisses von Staat und katholischer Kirche eingerichtete Bureau de Cultes vertreten (Altglas: French Cult Controversy, 2008, S. 61-63). 119 Der Staat hat nach französischer Auffassung für die „Wahrung der öffentlichen Ordnung“ zu sorgen, wobei religiöse Überzeugungen eben dieser Auffassung nach nicht in den Bereich der Öffentlichkeit fallen.

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2. Die liberté de penser hingegen zielt im naturwissenschaftlich-rationalen Sinne120 auf die individuelle Freiheit des Denkens ab, welche nicht durch Unterwerfung unter Dogmen (auch nicht katholische) oder geistige Manipulation beeinträchtigt werden dürfe.121 Neben den Spannungen zwischen den historisch jüngeren ideologischen Polen des liberalen Laizismus und den religionsfeindlichen laizistisch-ideologischen Milieus bestünden laut Baubérot 3. … durch das jahrhundertelange dogmatische und Häresie-feindliche Bestehen der katholischen Kirche eine „nicht spontan pluralistische Grundhaltung“ und/oder auch … 4. … ein generelles Misstrauen gegenüber religiösen Organisationen122 sowie … 5. … seit den Vorfällen bei den Sonnentemplern zusätzlich eine von der medialen Repräsentation dieser Geschehnisse mitausgelöste diffuse Angst.123 Diese nach Baubérot in Frankreichs Politik und Öffentlichkeit vertretenen Grundhaltungen mit Relevanz für das „Sekten“-Thema werden als das erste und zu ergänzende strukturierende Grundmuster kultureller Hintergründe verwendet, zumal sie bereits von mehreren Autoren aufgegriffen, ergänzt und weitergehend diskutiert worden sind. Folgend wird die historische Bedeutung der verschiedenen Spielarten von „Laizität“ und ihrer katholischen Prägung im Sinne des „KathoLaizismus“ und des historisch gewachsenen Verhältnisses der Kirche zum laizistischen Staat vertiefend beschrieben. Abschließend und überleitend zu den medialen Repräsentationen und öffentlichen Debatten werden weitere „aktuelle Themen“ unter dem Stichwort „Gegenwartskultur“ zusammengefasst. 120 Baubérot, Laïcité, sectes, société, 1999, S. 326, 316. 121 Im Zuge der Entwicklung des Gedankens der „Freiheit des Denkens“ wurde der Be griff „Sekte“ früher vor allem von katholischen Akteuren für protestantische Gruppen, von Laizisten auch für die katholische Kirche als „une secte comme les autres“, ver wendet (Baubérot: Laïcité, sectes, société, 1999, S. 322). Siehe zu dieser Diagnose einer liberalen und einer ideologischen Laizität auch Jean-Paul Willaime: 1905 et la pratique d‫ތ‬une laïcité de reconnaissance sociale des religions, in: Archives des sci ences sociales des religions, No 129, 2005. 122 Ebd. S. 319. 123 Vgl. ausführlich: Baubérot, Laïcité, sectes, société, 1999, S. 314-330 oder auch Jean Baubérot: Laïcité 1905-2005, entre passion et raison. Paris: Seuil, 2004.

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Die katho-laizistische Tradition und der aktuelle Katholizismus Als ein zentraler Aspekt des kulturellen katholischen Erbes in Frankreich, aktuell seit Beginn des Mittelalters bis zur französischen Revolution, wird der „Integrismus“ angeführt,124 die katholische Strategie, Schismen zu vermeiden indem religiöse Abweichungen durch deren weitest mögliche Inkorporation und Assimilierung integriert werden. Diese Haltung sieht religiöse Pluralität nicht vor, wie die Juden- und Hugenottenpogrome sowie der Umgang der katholischen Kirche mit „häretischen Bewegungen“ allgemein, veranschaulichen125 und entspricht in dieser Hinsicht der von Baubérot konstatierten „Unfähigkeit zum Pluralismus“.126 Auch nach Beckford127 waren die Argumentationen der Kirche in Bezug auf NRB nicht anders als in Bezug auf frühere Häresien, so dass hier eine Kontinuität angenommen werden kann. Als ideologisches Pendant zu dieser Praxis kann der christliche Universalismus, der alle Menschen zu potenziellen Mitgliedern der Kirche und damit andere Religionen generell zu potenziellen Konkurrenten macht, aufgefasst werden. Die radikalen Umbrüche im Zuge der französischen Revolution hätten, so Nathalie Luca, die prägende Dominanz und historische Autorität der katholische Kirche, die bis zur französischen Revolution Staatskirche war, so kurzfristig dieser Position enthoben, dass Leerstellen entstanden seien, die schnell gefüllt werden mussten. Das Schaffen eines Ersatzes der über Jahrhunderte gewachsenen katholischen Strukturen hätte jedoch nicht vorhandene Zeit erfordert, so dass eine strukturelle Neuformung nicht oder nur unvollständig habe durchgeführt werden können. Stattdessen seien in der Eile, eine neue Ordnung zu schaffen, alte Kategorien mit neuen Inhalten gefüllt worden.128 Als Resultat sei die positive Definition von Laizität und eine organische Auffassung französischer Nationalität an die Stelle der katholischen Glaubensgemeinschaft und die laizistische Ideologie an die Stelle des katholischen Theozentrismus getreten129 ohne dass, folgt man Baubérot und 124 Siehe auch Beckford, Control, 1981, S. 254-YJOGHUVCult Problem, 1983 und Dystopia, 2004. 125 Vgl. Baubérot: Laïcité, sectes, société, 1999, S. 26-225. Siehe allgemein weiterfüh rend: David Martin: On Secularisation. Towards a revised general theory. Ashgate: Aldershot, 2005, S. 131. 126 9JOHEG%DXEpURWLaïcité, sectes, société, 1999, S. 215-225. 127 Beckford, Control, 1981, S. 254, vgl. ders., Cult Contoversies, 1985, S.249-275. 128 Nathalie Luca: Is there a Unique French Policy of Cults? A European Perspective, in J.T. Richardson: Regulating Religion. Critical Issues in Social Justice. Berlin, Heidel berg: Springer, 2004, S. 53-YJO&DURQSecular Attitudes, 2007. 129 Vgl. ebd.

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Chélini-Pont, ein neutrales oder positives Konzept von „Pluralismus“ entwickelt worden wäre. Die These der Füllung der ideologischen, sinn- und moralgebenden Leerstellen nach der Entmachtung der katholischen Kirche wird dadurch gestützt, dass nach der Revolution zeitweilig säkulare Ersatzreligionen wie zum Beispiel die Comte‫ތ‬sche Religion de lҲHumanité entstanden und erst in der Dritten Republik, als zunehmend die moral laïque auf der Basis kantianischen Denkens diskutiert wurde, das Konzept „Moral“ weitestgehend von dem der „Religion“ gelöst wurde.130 In der hier relevanten Praxis der Gegenwart hätte, so Hervieux-Légèr, die „Umfüllung“ laizistischer Inhalte in katholisch geprägte Strukturen nachweisbar nicht nur dazu geführt, dass kognitive Strukturen erhalten blieben und weiter gedacht wurden (wie z. B. der Universalismus der Menschenrechte und das ebenso gedachte Konzept des Citoyen), sondern auch dazu, dass institutionelle Kategorien wie „Religion“ dem katholischen Modell sehr ähnlich blieben.131 Auch der „lebendige“ Katholizismus blieb mit der Kirche und in den entsprechenden politischen Lagern nach der Revolution bestehen: der Klerus sei zwar besiegt, die Kirche an sich jedoch nicht einflusslos geworden, so dass von Frankreich häufig als Nation „zweier Lager“, namentlich einem katholischen und einem laizistischen gesprochen werde.132 Die konflikthaften Prozesse der Aushandlung eines Arrangements zwischen Kirche und Staat, die 1905 zu ihrer strikten Trennung bis hin zur gegenwärtigen Unterordnung der Kirche unter den Staat - dem pacte laïque - führten, hätten die französische Kultur und das französische Selbstverständnis geprägt. Das von Baubérot angesprochene Misstrauen gegenüber Religion entspringt demzufolge dem Kampf und letztendlichen Sieg der Laizisten gegenüber dem Klerus - ein Sieg, der einen wichtigen Teil des Gründungsmythos der Republik darstelle.133 Chélini-Pont resümiert zur kulturellen Identität Frankreichs:

130 Vgl. Blandine Chélini-Pont: L‫ތ‬heritage culturel français face au pluralisme religieux, in: Droit et religions, Annuaire, 2005, S. 298 f. 131 Vgl. Hervieux-Légèr, Obsession, 2004, S. 42-44; vgl. Luca: Unique Policy of Cults? 2004, S. 55. 132 Martin, On Secularisation, 2005, S. 133; Chélini-Pont: LҲheritage culturel, 2005, S. 300. 133 Baubérot: Laïcité, sectes, société, 1999, S. 215-225, Chélini-Pont: L'heritage culturel, 2005, S. 298 f. Für eine ausführliche Beschreibung der Entwicklung des Laizismus aus einem überwiegenden Anti-Klerikalismus siehe Charlier-Dagras: La laïcité fran çaise à l'épreuve de l'intégration Européenne, Paris: Harmattan 2004, S. 43-203.

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»À un pays clairement divisé en deux camps qui se connaissaient bien et s‫ތ‬appuyaient sur leur haine réciproque pour exister a succédé un pays où chaque camp est pénétré par les idées de son meilleur ennemi et navigue dans un flou consensuel qui désespère les politiques...En même temps, ce consensus catho-laïque est l‫ތ‬identité culturelle actuelle de ce pays.«134

Die Antipoden Katholizismus und Laizismus haben sich in Frankreich gegenseitig bekämpft und gleichzeitig stark beeinflusst, während auf politischer Ebene ein mittlerweile durchaus harmonisches Arrangement mit den gegenwärtigen Katholiken im Staat und der Gesellschaft ausgehandelt wurde. Dies bedeutet, dass es mindestens zwei verschiedene Arten anhaltender katholischer Präsenz im laizistischen Staat gibt, traditionelle Prägungen, sowie die Kirche und Gläubige als gegenwärtige Akteure, ein Amalgam, welches oft als „Katho-Laizismus“ bezeichnet wird.135 Der pacte laïque, dieses friedliche Arrangement zwischen Staat und Kirche, bei dem sich die Kirche säkularen Werten unterordnet, impliziert zum einen aufgrund der Trennung von staatlichen und religiösen Angelegenheiten, dass der Katholizismus am ehesten dort politisch einflussreich ist, wo er mit laizistischen Parteien kooperiert. Jenseits dessen könne, nach Palmer, der zeitweilige laizistischkatholische Schulterschluss gegen les sectes unter Akzeptanz der Bevölkerung auch durch sich ergänzende Interessen und die Persistenz des katholischen Modells für „legitime“ Religion erklärt werden.136 Während von katholischer Seite die Orthodoxie gewahrt und von laizistischer die Bürger vor mentaler Manipulation und Ausnutzung bewahrt werden sollten, sei es die Position von les sectes zwischen Gesellschaft und laizistisch „domestiziertem“137 Katholizismus, der als Portfolio für „akzeptable Religion“ diene,138 die konflikthaft sei. NRB seien nicht ausreichend in den französischen Kontext eingepasst und bedrohten so das gegenwärtige Arrangement von Staat und Religion, welches Katholiken und Laizisten miteinander verbinde und gegenwärtig identitätsstiftend fungiere. Diese empfundene Bedrohung des pacte laïque rufe defensive Reaktionen in der Gesellschaft 134 L'heritage culturel, 2005, S. 300. 135 Z. B. Chélini-Pont: L'heritage culturel6I1LFKRODV*XLOOHWLiberté de religion et mouvements à caractère sectaire. Bibliothèque de droit public 235, Paris: Librairie Générale de Droit et de Jurisprudence, 2003. 136 Palmer, Heretics, 2011, S. 182. 137 Begriff nach Hubert Seiwert: Wilde Religionen. Unveröffentlichtes Manuskript, Leipzig 2011. 138 Vgl. Hervieux-Légèr: Obsession, 2004, S. 44, Chélini-Pont: L'heritage culturel, 2005, 6I%HFNIRUGDystopia, 2004, S. 32.

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hervor, wodurch beide Parteien gleichzeitig zu Gegnern der NRB werden würden.139 Für eine Exploration des potenziellen individuellen Einflusses katholischer Prägungen und des aktiven katholischen Milieus auf die "Sektenkonflikte" soll hier auch kurz ein möglicher, noch immer bestehender Zusammenhang zwischen „katholischem Glauben“ und „nationaler Identität“ geprüft werden, den David Martin anspricht. Er stellt auch die katholische Tradition in Frankreich als potenzielle Quelle kultureller Identität dar, welche vor allem unter äußerem Druck explizit und implizit aktiviert werden könne.140 Martin formuliert allgemein „ [...] civic nationalism [can] retain ethnic, cultural and maybe religious markers in reserve“.141 Statistische Daten,142 zu bewussten Attitüden in der französischen Bevölkerung stellen jedoch die Relevanz katholischer Tradition als wichtigen „Identitätsmarker“ eher in Frage. Traditionell ist in Frankreich der Katholizismus zwar die Majoritätsreligion, zu der sich gegenwärtig jedoch weniger als 50% der französischen Bürger bekennen. Von den Befragten insgesamt bezeichneten sich 56,9% als „nicht-religiös“ oder „atheistisch“.143 Unter denen, die sich als „religiös“ bezeichneten, ordneten sich laut EVS144 85,2% als „katholisch“ ein. ChéliniPont spricht von ca. 5 Millionen Menschen, die den katholischen Glauben aktiv praktizieren würden.145 Anhand dieser Zahlen kann die zwar Rolle des Katholizismus als Kulturreligion bestätigt werden, andere Rückschlüsse werden jedoch schwierig. „Nationale Zugehörigkeit zu empfinden“ wird im ISSP 2008 zwar von ca. 65% der Befragten als wichtig eingeschätzt, während im ISSP 2003 etwa ebenso viele Befragte Religion als „überhaupt nicht wichtig“ für ein Gefühl nationaler Zugehörigkeit angeben, so dass hier kein Zusammenhang angenommen werden kann (zumindest nicht, wenn direkt nach diesem Zusammenhang gefragt wird). Dies könnte durch öffentlichkeitsorientiertem Antwortverhalten vonseiten der Bevölkerung und der laizistischen Praxis, Religion nicht öffentlich zu diskutieren, zumindest zum Teil erklärt werden. Wie Beckford146 und Palmer147 heraus-

139 Palmer, Heretics, 2011, S.177-183. 140 Martin, On Secularisation, 2005, S. 132. 141 Ebd. 142 International Social Survey Programme, 2008, EVS (European Value Survey) 2003. 143 Beckford, Control, 1981, S. 54-YJO3DOPHUHeretics, 2011, S. 194 ff. 144 EVS 2008. 145 Chélini-Pont: L'heritage culturel, 2005, S. 294 f. 146 Beckford, Dystopia, 2004. 147 Vgl. Palmer, Heretics, 2011, S. 194-196.

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stellten, waren es in den 1980er Jahren vornehmlich kirchliche Sprecher und religionsnahe Personen, die in diesem Sinne öffentlich kulturalistisch und xenophob argumentierten. Deren Argumente können allerdings durchaus breiter anschlussfähig und von diesen Personen als Vermittler bewusst verwendet worden sein148 insofern traditionell katholische Werte ihre Geltung bewahrt haben, auch wenn sie nicht mehr bewusst dem Katholizismus zugeordnet werden. Ein darüber hinaus noch immer vorhandenes mobilisierendes Potenzial des katholischen Glaubens, beschränkt auf das eigene Milieu, zeigte sich in den deutlich sichtbaren katholischen Protesten in Form von Petitionen, Kundgebungen und Demonstrationen gegen die gleichgeschlechtliche Ehe in Frankreich im Sommer 2013. In Bezug auf les sectes ist mir dergleichen seit den 1990er Jahren allerdings nicht bekannt und kann dadurch erklärt werden, dass nach Erlass des About-Picard-Gesetzes im Jahr 2001 sich die dem Katholizismus nachgesagte Feindlichkeit gegenüber Minoritätenreligionen, für die es historisch Belege in großer Zahl gibt, fast in ihr Gegenteil verkehrte. Seit der Politisierung der Konflikte, auf die später detailliert eingegangen wird, sah sich die katholischen Kirche mit dem zunehmend rigoroserem Vorgehen gegen Minoritätenreligionen selbst bedroht und argumentierte im Vergleich zum laizistischen Lager in einigen Fällen deutlich toleranter bis hin zur Befürwortung einer pluralistischen Haltung.149 Katholischer Aktivismus gegen „Sekten“ war in Form UNADFIs und Sympathisanten sowie katholischen Einzelpersonen durchaus in großem Umfang gegeben, muss jedoch weiter, besonders in Bezug auf die Entwicklung der Konflikte nach dem Jahr 2001, geprüft werden. Kulturalistische und nationalistische Argumentationen von katholischer Seite werden in Ermangelung umfassenderer Daten hier generell vornehmlich als Meinungen innerhalb der Kirche oder gegebenenfalls politisch strategische Legitimierungsversuche angesehen,150 können aber weder per se für den gläubigen und den nominell katholischen Teil der, oder gar die Gesamtbevölkerung verallgemeinert werden. Es wird demnach geschlussfolgert, dass katholische Akteure berücksichtig werden müssen, sich der katholische Einfluss in der Gesamtbevölkerung Frankreichs in Bezug auf les sectes aber gegenwärtig vornehmlich implizit über kognitive und institutionelle Kategorien, namentlich als Modell „legitimer Religion“ 148 So Beckford, Cult Problem in five Countries, 1984, S. 202 und Beckford, Control, 1981, S. 254-256. 149 Vgl. z. B. Introvigne, Mouvement Contre les Sectes, 1995, S. 242-247YJO'XYHUW Anti-Cultism, 6Ivgl. Hincker, Rumeurs, 2003, S. 27. 150 Vgl. Beckford, Cult Problem in five Countries6YJO'XYHUWAnti-Cult ism, 2004.

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wirksam zeigt. Daraus folgt, dass, neben frühen Akteuren, einerseits institutionellen Kategorien mit verbindlicher juristischer Wirkung viel Beachtung geschenkt werden sollte151 und aus dem Vorhergehenden andererseits, dass auch gerade laizistische Argumentationen als katholisch geprägt erwartet werden können.

„Laizität“ Die so oft mit der französischen nationalen Identität identifizierte laïcité sei nach Chélini-Pont ein wichtiger, jedoch nur einer ihrer Bestandteile, während sie eher „eine fragile Kombination verschiedener geistiger Einstellungen [i. O. ,ein Tryptichon‘]“ darstelle.152 Die laïcité (à la française) ist, wie bereits angemerkt, kein stehender Begriff PLWHLQHUVLQJXOlUHQIL[LHUWHQ%HGHXWXQJ Nathalie Caron153 definiert sie unter anderem als „[...] an attitude about the proper relationship between the political and religious sphere, and, more broadly, religion and society“, was den Aspekt „Laizität“ als Gegenstand öffentlicher Aushandlung treffend beschreibt. Idealtypisch existieren hier zwei wichtige politische Pole, eine pluralistisch orientierte, offene laïcité und eine ideologische, säkularistische Variante,154 die auf der Basis säkularer Werte eine strikte Trennung von Staat und Kirche befürwortet und fordert.155 Die Aushandlung feinerer Justierungen der Bedeutung findet darüber hinaus auch in den Publikationen französischer Forscher statt. Es herrscht dabei mitnichten Einigkeit darüber, was laïcité genau sei und wie sie interpretiert werden müsse, um in Bezug auf die Praxis zum Beispiel die Spannungen zwischen alternativer Religion, Staat und Öffentlichkeit mildern oder lösen zu können. Diese wissenschaftliche Literatur bewegt sich in ihren Fragestellungen sehr oft auf dieser praktisch-philosophischen Ebene und ist deshalb, jenseits der von Véronique Altglas erarbeiteten Dimensionen der strategischen Verwendung, eher als Quellenmaterial relevant und wird hier weitgehend ausgeklammert. 151 Siehe Unterkapitel „Das Recht betreffende Arbeiten und Argumentationen“. 152 Blandine Chélini-Pont: Is Laïcité the Civil Religion of France? In: The George Washington International Law Review [Vol. 41], 2010, S. 815. 153 Nathalie Caron: Laïcité and Secular Attitudes in France, in: Barry A. Kosmin/Ariela Keysar (Hg.): Secularism and Secularity: Contemporary International Perspectives. Hartford, CT: Institute for the Study of Secularism in Society and Culture, 2007, S. 114. 154 Diese Unterscheidung verwenden auch Altglas, French Cult Controversy, 2008 und Willaime, Paradoxes, 2008. 155 Caron, Secular Attitudes, 2007, S. 120.

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Geschichte und Grundbedeutung Die ursprüngliche Kernbedeutung seit der französischen Revolution wurde in der gegen die Dominanz der katholischen Kirche und des Adels durchgesetzten laizistischen Verfassung Frankreichs kodifiziert. Dort wurde mit den Menschenrechten ein säkularer Universalismus, der allen Menschen denselben Wert und dieselben Rechte und Pflichten zuwies, postuliert. Es sind die grundlegenden Elemente dieser Vision von Gesellschaft,156 welche sich in beständiger Aushandlung über ihre Interpretation und praktischen Handlungsimplikationen befinden. Als strukturierendes Prinzip des institutionellen Rahmens bedeutet Laïzität zum einen die strikte Trennung von Staat und Kirche sowie zum anderen staatliche Neutralität in religiösen Angelegenheiten und ist in dieser Form seit dem Jahr 1905 rechtlich kodifiziert.157 Die liberté de conscience und die liberté de penser sind zwei zentrale Konzepte bürgerlicher Rechte, seine Religion einerseits frei wählen zu dürfen, ohne verfolgt zu werden, aber andererseits auch nicht religiös indoktriniert zu werden. „Religion“ wird in der Praxis des pacte laïque in den privaten Raum jenseits von Staat und Öffentlichkeit verwiesen158 und über ihre Existenz und Handlungsbereiche implizit definiert.159

156 Siehe weiterführend: M. Koenig, Menschenrechte, 2005YJODXFK&KDUOLHU-Dagras, La laïcité française, 2004. 157 Loi du 9 décembre 1905 concernant la séparation des Églises et de l'État. Quelle: www.legifrance.fr., URL: http://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.docidTexte=JO RFTEXT000000508749 zuletzt eingesehen am 29.04.2013. 158 Caron (Secular Attitudes, 2007, S. 116) betont hier konträr nicht den Ausschluss von Religion, sondern die Trennung von öffentlich und privat als maßgeblich. Das private Individuum genieße Religionsfreiheit und könne sich auch mit ande ren zusammen tun, öffentlich werde jedoch kaum über Religion, über die auch wenig Wissen vorhanden sei, gesprochen. 159 Vgl. Astrid Reuter: Säkularität und Religionsfreiheit – ein doppeltes Dilemma, in: Le viathan. Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft 35, 2, 2007, S. 178-%HFNIRUG Control, 1981, S. 259-60.

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„Civil Religion“ und „Republikanismus“ Seit 1958 ist Laizität auch offiziell als Terminus nationaler Selbstbeschreibung160 in die französische Verfassung aufgenommen und damit die französische Staatsbürgerschaft noch expliziter mit der Akzeptanz der laïcité verknüpft worden.161 Laïcité ist damit ein signifier französischen nationalen Bewusstseins, mit variierender Detailbedeutung. Chélini-Pont spricht wie Caron von laïcité als „französischem Gründungsmythos“ und civil religion, beides bezieht sich jedoch über laïcité hinaus auf die Republik. Der Sieg über den Katholizismus und damit über eine religiöse Dominanz ist deren zentrales Moment, das in der Geschichte französischer säkularistischer Bestrebungen, mit ihren Wurzeln im Antiklerikalismus, zum Ausdruck kommt.162 Beckford unterstreicht die Bedeutung von Laizität als die rationalistische „Verteidigung der Republik“ und der obersten Geltung ihrer Werte.163 Inhärent in der Bedeutung von laïcité als positiver Definition französischen Selbstverständnisses und der Vorstellung der französischen Gesellschaft als organischer Einheit, sei zudem das Konzept une republique indivisible.164 Es basiere auf der republikanischen Vorstellung demokratischer Partizipation der gesamten Bevölkerung in Verbindung mit der Fähigkeit des Einzelnen, rational zu entscheiden. In der repräsentativen Logik der französischen Verfassung bedeute „Rationalität“165 damit implizit eine notwendige Bedingung für eine aktive, demokratische Staatsbürgerschaft. Diese zu schützen, sei wiederum eine Aufgabe des Staates und kristallisiere sich u. a. an den Debatten um die manipulation mentale. 160 So, wie ein Land von außen wahrgenomPHQZHUGHQZLOOYJO%HFNIRUGXQG5LFKDUG son, Regulation, 2007, S. YJO3HWHU(GJHReligion and Law: An Introduction, Aldershot: Ashgate, 2006, S. 12 ff. 161 Caron, Secular Attitudes, 2007, S. 114. 162 Chélini-Pont: L'heritage culturel, 2005, S. 296 GLHV Civil Religion, 2010, S. 788 Caron, Secular Attitudes, 2007, S. 113-Willaime, Paradoxes, 2008, S. 43. Über die Geschichte des Verhältnisses Religion und der laïcité à la française seit der französischen Revolution siehe: Charlier-Dagras: La laïcité française, 2004, S. 43-203. 163 Beckford, Dystopia, 6YJO6YJO%RZHQHeadscarves, 2007, 10 ff. 164 La Constitution du 4 octobre 1958“, Art. 1. (Verfassung Frankreich, Text mit Revi sionen seit 1958), URL: www.conseil-constutionell.fr, dort: http://www. conseilconstitutionnel.fr/conseil-constitu-tionnel/francais/la-constitution/la-constitution-du4-octobre-1958/texte-integral-de-la-constitution-du-4-octobre-1958-en-vigueur.5074 .html zuletzt eingesehen am 31.01.2013. 165 Vgl. Beckford, Dystopia, 2004, S. 36. Die morale laïque, als dem säkularen Weltbild zugrunde liegendes Wertesystem, ist stärker kantianisch mit der Betonung rationalen Denkens als vom Comte‫ތ‬schen Positivismus geprägt (vgl. Chélini-Pont, Civil Reli gion, 2010, S. 777).

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Beispiele für praktische Implikationen Hiermit zusammenhängend werden an verschiedenen Stellen paternalistische Tendenzen bezüglich des Schutzes der Mitglieder der Gesellschaft angeführt, die aufgrund ihres Alters, mangelnder Bildung oder psychischer Instabilität oder Krankheit nicht für voll entscheidungsfähig gehalten werden. Eine ähnliche Einschätzung trifft auch auf Anhänger so genannter „Sekten“ zu.166 Auch in historischen Vergleichsfällen nachweisbar,167 beinhaltet dieser Schutz paradoxerweise die Tendenz, auch gegen den Willen betroffener Personen zu handeln. Auf der Ebene kollektiver Identität werden Anforderungen an die Bürger deutlich, wenn er heutige Ex-Präsident Nicholas Sarkozy sich im Jahr 2003 für „Freiheit“ als Wert der privaten Sphäre und Konformität zu republikanischen Werten in der öffentlichen Sphäre aussprach, wobei erstere jeder anderen Form von (auch religiöser) Zugehörigkeit unterzuordnen sei.168 Die Unterordnung der katholischen Kirche unter den Staat und laizistisch-republikanische Werte gilt also ebenso für die privaten Interessen des Einzelnen und les sectes werden als vermeintlich an dieser Grenze unerwünscht intervenierend aufgefasst, vor allem dann, wenn große Anforderungen an die Adepten gestellt werden, welche mit den Ansprüchen, die von staatlicher Seite an das Individuum herangetragen werden, konfligieren können. Wird „Laiziät“ als von in die „Sektenkonflikte“ involvierten Akteuren als Argument verwendet, kann sie aufgrund ihres umfangreichen Bedeutungsspektrums nicht als singuläres Argument behandelt werden, sondern muss in ihrer jeweilig intendierten Bedeutung, betonten Aspekten und konstruierten Verknüpfungen zu anderen Themen wahrgenommen werden.

Die „Sekten“-Konflikte im Spiegel der französischen „Gegenwartskultur“ An dieser Stelle werden wissenschaftliche Argumente und Hypothesen über Attitüden in der Bevölkerung, die mit der rigorosen Ablehnung von les sectes in Verbindung gebracht wurden, zusammen getragen. Grundlegend kann wie in anderen

166 Beckford, Dystopia, 2004, S. 34-VLHKH.DS 167 Vgl. David Allen Harvey: Fortune-Tellers in the French Courts: Antidivination Pros ecutions in France in the Nineteenth and Twentieth Centuries, in: French Historical Studies, Vol. 28, No. 1, 2005, S. VLHKH.DSLWHO 168 Vgl. Bowen, Headscarves,  6  Ygl. Nathalie Luca: Individus et pouvoirs face aux sectes. o.O: Armand Colin, 2008, S. 105-106.

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europäischen Ländern auch in Frankreich von einem Verlust der sozialen Bedeutung des katholischen Glaubens seit den 1960ern169 ausgegangen werden. In Kombination mit der Neutralität des Staates in religiösen Angelegenheiten trat hier verstärkt eine Situation ein, in der die Hauptinstanz religiöser Autorität wegfiel beziehungsweise, weitgehend entmachtet war und zeitweise eine „Deregulierung von Religion“ auch in Frankreich einsetzte.170 Der Staat habe anfänglich dazu tendiert, das Potenzial alternativer Religionen, sozial marginalisierte Individuen zu binden, zu nutzen und auch den kleinen Organisationen relativ viel Freiheit zuzugestehen.171 Dies stieß jedoch, so Beckford, besonders vonseiten katholisch geprägter „Anti-Kult“-Bewegungen (ADFI) und kirchlichen Sprechern auf starke Kritik: les sectes würden aus Bequemlichkeit, sich mit sozialen Problemen auseinander zu setzen geduldet oder – wie die AKB im Übrigen auch – sogar staatlich gefördert. Die dominante Position der AKB und die Angst vor „Sekten“ waren also keineswegs ein von Anfang an gegebener Zustand, und dass die AKB sowie die Kirche ihre Position erst durchsetzen mussten. Die die generell zunehmende Toleranz des Staates habe nach Beckford allerdings zu einer Verschärfung der „Sektenproblematik“ geführt, insofern „Religion“ als Kategorie im Kontext ihres augenscheinlichen Bedeutungsverlustes von staatlicher Seite weiter gefasst wurde. Verschiedene, aber nicht alle, Religionsgemeinschaften seien als „legitim“ anerkannt und der Graben zwischen „legitimen“ und „nicht-legitimen“ Religionsgemeinschaften so vergrößert worden. Letztere seien folglich noch sehr viel weiter ins gesellschaftliche Abseits gerückt und gänzlich als Bedrohung eingestuft worden.172 Die artifiziell geschaffene Differenz von „Sekten zu „normaler“ Religion (die Traditionsreligionen und einige NRB) habe im Zusammenhang mit einem schnellen, Irritationen hervorrufenden gesellschaftlichen Wandel173 die Kondensierung gesellschaftlicher Ängste an les sectes und les dérives sectaires befördert.174 „Sekten“ seien zu einen greifbaren Symptom der mutmaßlich negativen Aspekte des Wandels geworden und entsprechende Abwehrreaktionen wären deshalb stellvertretend auf sie gerichtet worden. Damit wurde das Problem im Kontext der Globalisierungs- und Überfremdungsängste situiert,175 welche hauptsäch-

169 Vgl. Ehrenberg, Unbehagen69JOIHervieux-Légèr, Obsession, 2004, S. 44. 170 Vgl. Hervieux-Légèr, Obsession, 2004, S. 44. 171 Beckford, Control, 6YJO%HFNIRUGCult Contoversies, 1985, S. 249-275. 172 Beckford, Dystopia, 2004, S. 33-34. 173 Vgl. hierzu ausführlich z. B.: Ehrenberg, Unbehagen, 2012, 282 f., 288 f., 292 f., vgl. auch Touraine nach Ehrenberg, S. 293-294. 174 Beckford, Dystopia, 2004, S. 36. 175 Siehe HEG vgl. Palmer, Heretics, 2011, S. 194-195.

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lich aus den öffentlichen Diskursen zu erschließen sind. Für den möglichen Vergleichsfall „Ausländerfeindlichkeit in der Schweiz“, innerhalb dessen ebenso Überfremdungsängste wie hiermit verbundene Anti-Modernisierungs- und AntiGlobalisierungs-bestrebungen kommuniziert werden, fasst Stolz176 dieses Themencluster mit dem Begriff „Traditionalismus“ im Sinne „Kultur-bewahrender“ Attitüden zusammen. In Bezug auf die rigorose Ablehnung von les sectes kamen einerseits die explizit Kultur-bewahrenden Argumentationen vor allem aus dem katholischen Milieu und manifestierten darüber hinaus anderseits in USA-feindlichen Aussagen. Als einen weiteren Aspekt der Gegenwartskultur stellt Nathalie Luca177 eine „Angst vor Infiltrierung“ der französischen Administration durch „Sekten“ fest, die sich laut Palmer seit dem Machtverlust der katholischen Kirche auf NRB verlagert habe.178 Dies entspräche in etwa Baubérots generellem Misstrauen gegenüber (potenziell einflussreicher) Religion179 (Hincker äußert sich bezüglich dieser Ängste im Sinne einer „kollektiven Psychose“180). Aktuelle Anlässe, die derartige Äußerungen stimulierten habe es immer wieder gegeben, wie die eingangs be-

176 Jörg Stolz: Soziologie der Fremdenfeindlichkeit. Theoretische und empirische Anasen. Frankfurt/M: Campus, 2000, S. 20. 177 Luca, Unique Policy of Cults? 2004, S. 67 f. 178 Siehe Palmer, Heretics, 2011, S. 19, 59- YJO %HFNIRUG Controversies, 1981, S. 256 ff. Die Spekulationen reichten von der Durchsetzung des gerichtlichen Admi nistration, der Assemblée Nationale mit Scientologen oder die Bestechung oder Er pressung von Richtern und Abgeordneten, bis zur direkten Beeinflussung Nicholas Sarkozys, der 2008 die „Sekten“ als „Nicht-Problem“ bezeichnet hatte: „[...]MIVI LUDESҲs new report and reaffirmation of its founding mission came a month after President SarkozyҲs chief of staff elicited public controversy when she reportedly publicly disparaged the groups efficacy. On February 21, 2008, President Sarkozy hastened to quell a wave of criticism that followed the publication of a press interview in which his chief of staff was quoted as saying that non-mainstream religious cults and their impact on citizens were a „nonproblem“. Presidential spokespersons reiter ated Sarkozy’s declaration that „excessive sectarianism is unacceptable and not al lowed“ and emphasized that „the Government has no plans to reduce its vigilance against sectarianism.“ On February 21, 2008, MIVILUDES President Jean-Michel Roulet acknowledged that the group‫ތ‬s list of suspect cults was outdated“ YJO 86 Department of State: Religious Freedom Report 2008: France, URL: http://www. state.gov/j/drl/rls/irf/2008/108446.htm]XOHW]WHLQJHVHKHQDP08.04.2013. 179 Baubérot, Laïcité, sectes, societé, 1999, S. 319. 180 Hincker, Rumeurs, 2003, S. 45.

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schriebene, nicht mögliche Auflösung von Scientology durch eine kurz vorhergehende Gesetzesänderung, vor allem aber die Selbstmorde der Sonnentempler. Nach Palmer erregten auch der wirtschaftliche Erfolg von Scientologen geleiteten Firmen,181 die Praxis der NRB, Geld für „religiöse Dienstleistungen“ zu verlangen,182 der vermehrte Erwerb historischer Gebäude, zum Beispiel alten Chatêaux durch NRB sowie deren Versuche, sich im sozialen Sektor als nützlich für die Gesellschaft zu profilieren, Misstrauen.183 Die Kritik vonseiten der USA am Umgang Frankreichs mit religiöser Vielfalt irritierten zusätzlich und hätten weitere Bezugspunkte derartiger Befürchtungen dargestellt.184 Insofern können zwar ganz reale Auslöser derartiger Ängste identifiziert werden, welche jedoch zügig in den Bereich von Gerüchten und sogar Verschwörungstheorien ausgeweitet worden zu sein scheinen.185 Es nicht möglich, genau festzustellen, welcher Anteil der Bevölkerung solche Aussagen glaubte. Dennoch können sie als Symptome für die Eskalation der Beunruhigung verstanden werden und werden im Abschnitt „Medien und Diskurse“ noch einmal aufgegriffen, da die Medien in der Art und Häufigkeit ihrer Berichterstattung eine zentrale Rolle spielten. In ihrer Wirkung auf die öffentliche Meinung und gegenwärtige Kultur auch im Sinne Baubérots „diffuser Angst“ sind die realen Vorfälle nicht zu unterschätzen, insofern zum Beispiel die von den Sonnentemplern verübten Selbstmorde und Morde auch über Frankreichs Grenzen hinaus schockierten. In Verbindung mit diesen realen Vorfällen bezüglich les sectes und dem irrationalen Moment der Überhöhung potenzieller Gefahren bis hin zur Cult-Scare oder zu den Moral Panics186 wurden ebenso Reaktionen auf Globalisierungstendenzen, eine wahrgenommene Bedrohung der eigenen Kultur durch Überfremdung festgestellt beziehungsweise in der Sekundärliteratur in diesen Zusammenhang gebracht. Die „Sekten-Panik“ stellt sich aus dieser Perspektive einerseits als von tatsächlichen Vorkommnissen, aber auch als von Verunsicherungen im Bereich kultureller Identität gespeist dar und kann dementsprechend Rückschluss auf relevante Faktoren in der französischen Gegenwartskultur zulassen. Kurz: an les sectes kristallisierten sich Unzufriedenheit und Ängste und nicht greifbare Probleme wurden auf sie

181 Vgl. Palmer, Heretics, 2011, S. 68-69. 182 Hervieux-Légèr, Obsession, 2004. 183 Palmer, Heretics, 2011, S. 91 ff. 184 Ebd. 185 Vgl. Beckford, Control, S. 256. 186 Vgl. Palmer, Heretics, 2011, S. 190- VLHKH *RRGe und Yehuda, Moral Panics, 1994, z. B. S. 23-27.

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projiziert.187 Solche Verbindungen mögen auch aus Sicht der Bevölkerung naheJHOHJHQKDEHQGHQQRFKLVWGDYRQDXV]XJHKHQGDVVUHVSHNWLYH'HEDWWHQ]XPLQ dest auch bewusst angestoßen, also mediengerecht formuliert, in die Medien eingespeist und dort aufgegriffen worden sind,188 denn nur so konnte überhaupt eine relevante Reichweite erlangt werden. Auch dies bedeutet, dass les sectes ein Medienkonstrukt sind, welches mehr oder weniger bewusst negativ mit dem bestehenden normativen Rahmen in Kontrast gesetzt worden ist. Als ein weiteres potenziell relevantes Elemente gegenwärtiger „französischer Kultur“ ist nach Jaques Dériquebourg der Pensée Unique, als konservative Attitüde, aufzufassen,189 welche „nicht fähig sei, mit Abweichung umzugehen“190 und der die von Baubérot konstatierten „Unfähigkeit zum Pluralismus“ entsprechen könnte. Champion und Cohen nennen zudem den „säkularen Humanismus“, dessen Vertreter aufgrund seiner inhärenten Werte Religion generell nicht befürworteten, jedoch „religiöser Zufriedenheit und Gewissheit“ sogar so etwas wie Neid entgegenbrächten.191 Beides konnte hier nur am Rande berücksichtigt werden, da sie generelle Werteinstellungen zum Leben darstellen, die sich in der Praxis relativ diffus äußern und statistisch nicht adäquat erfasst sind, vor allem aber, weil sich die Angst vor und die Ablehnung von „Sekten“ quer durch die Gesellschaft und nicht nur in diesen Milieus verbreitete. Aus der Forschung, die hier unter „Gegenwartskultur“ zusammengefasst wurde, gehen einige, nur lose miteinander in Verbindung gesetzte Themenkomplexe hervor. Im Rahmen des hiesigen Forschungsvorhabens ist es ein zentrales Anliegen, weitere thematische Zusammenhänge zu identifizieren. Folgend werden zusätzlich zur Entwicklung des „Sekten“-Themas in den Medien, in der Sekundärliteratur genannte mögliche Erklärungen für die thematischen Funde zusammengefasst.

187 „Sündenbockfunktion“ Palmer, Heretics, 20 6  II YJO *RRGH XQGYehuda, Moral Panics, 1994, S. 117. 188 Vgl. Beckford, Cult Problem in five Countries6YJO%HFNIRUG, Control, 1981, S. 258, 261. 189 „neoliberal³vgl. auch folgende öffentliches Stellungnahme des Redakteurs von Le Monde diplomatique bis 2008, Ramonet Ignacio: La Pensée Unique, in: Le monde Diplomatique. Janvier 1995. 190 Palmer, Heretics, 2011, S. 188 ff. 191 Ebd.

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U NTERSUCHUNGEN D ISKURSE

DER

M EDIEN

UND ÖFFENTLICHEN

Die Mediendiskurse vor den 1990er Jahren werden hier nicht noch einmal untersucht, sondern nur knapp zusammengefasst. Die Massenmedien von Beginn an eine zentrale Rolle innerhalb der Konflikte, da sie allein durch ihre Reichweite und angenommene Glaubwürdigkeit wichtigsten Vermittler und Mitgestalter des konstruierten „Sektenproblems“ an die breite Bevölkerung waren. Nur eine Minderheit Letzterer hatte direkten Kontakt zu NRB. Die mediale Berichterstattung musste beunruhigend und plausibel (im Sinne von: an aktuelle Themen anschlussfähig) sein, um beim Publikum Interesse und Reaktionen hervorzurufen, weshalb die Darstellung des Themas und die in Verbindung mit les sectes behandelten Themen Aufschluss über kollektive Ängste der Gegenwart, Auffassungen nationaler Identität und das, was als Gefahr aufgefasst wird, geben. Wurden NRB in den 1950er und 1960er Jahren zunächst noch vorrangig von der katholischen Kirche als „Häresien“ verhandelt, weil sie von der katholischen Lehrmeinung abwichen, argumentierten Mitglieder der „Anti-Kult“-Bewegungen seit den 1970er Jahren192 auf der Basis von Aussteigerberichten oder Berichten von Familienangehörigen zunehmend mit Rekurs auf die psychische Gefährlichkeit der Gruppen. Arnaud Esquerre betitelt den ersten Abschnitt seiner Arbeit „L'invention de la ,secte‘ qui manipule mentalement“,193 in der er Michel Foucault folgend erforscht, wie les sectes und la manipulation mentale in historischen Diskursen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis heute verbunden wurden.194 Er konstatiert wie Beckford das anfängliche katholische Engagement gegen „Sekten“195 und hat als französischer Soziologe vor allem Interesse an der Aufklärung eben darüber, dass „Sekten“, die ihre Mitmenschen „manipulieren“ würden, ein diskursives Konstrukt mit wenig zwingendem Realitätsgehalt darstellen196 und untermauert diese These mit vielfältigen empirischen Belegen. Der praktische Verlauf der Vermittlung der Problematik über die Medien, wie sie in der Sekundärliteratur relativ einheitlich skizziert wird, beschreibt die zunehmende Dämonisierung der als „Sekten“ bezeichneten NRB. Die öffentlichen Medien hätten in Zusammenarbeit mit den „Anti-Kult“-Bewegungen von der ersten Stunde an (seit etwa Mitte der 1970er Jahre) zum negativen öffentlichen Bild von

192 Esquerre, manipulation mentale, 2009, S. 35. 193 S. 19. 194 S. 8. 195 S. 21 196 S. 331 ff.

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les sectes HQWVFKHLGHQGEHLJHWUDJHQHLQ3UR]HVVIUGHQ6XVDQ3DOPHUGHQ Begriff Mediabolization prägte.197 Neben der selektiven und negativen Berichterstattung wurden Talkshows ausgestrahlt, in denen „Opfer“ oder solche, die es zu sein glaubten, les sectes und den ihnen zugefügten Schaden (zuweilen tränenreich) anprangerten. Zusätzlich traten Experten wie der Psychiater Jean Marie Abgrall auf, der öffentlich seine eigene Brainwashing-Theorie als Erklärung für die Attraktivität der Gruppen propagierte.198 Die Berichterstattung gestaltete sich also einseitig und emotionalisierend, die dargestellten Sachverhalte wurden oft ungeprüft vermittelt und waren häufig schlicht falsch. Die betroffenen NRB kamen in eigener Sache nicht zu Wort, waren also vom Diskurs über sich selbst ausgeschlossen. Im Zuge tatsächlicher großer Medienereignisse wie der Sonnentempler-Tragödie im Jahr 1995 schien die Besorgnis der „Anti-Kult“-Bewegungen zudem endgültig gerechtfertigt. Dadurch, dass die Medien les sectes ohne Unterscheidung explizit und dauerhaft mit dem Attribut „gefährlich“ belegten, sei, so Campiche, ein Frankreich-weit verbreiteter stabiler Stereotyp geschaffen worden, der auch über zehn Jahre später noch wirksam sei.199 In Bezug auf das Funktionieren des Medienapparates berichtet Beckford von der Praxis, fast nur besonders medienwirksame Konflikte zu präsentieren und selektiv Referenzen zu anderen medienwirksamen Konflikten (Waco, People‫ތ‬s Temple, Aum) weltweit zu setzen. Durch das sich gegenseitig Zitieren von Fernsehen und Printmedien hätten beide wiederum ihre Glaubwürdigkeit erhöht.200 Zusätzlich habe zeitlicher und finanzieller Druck und die starke Abhängigkeit von ihren Auftraggebern auf den Journalisten gelastet, 197 Siehe z. B. Susan. J. Palmer: The Secte Response to Religious Discrimination. Sub versives, Martyrs, or Freedom Fighters in the French Sect Wars? In: Phillip, Charles Lucas/Thomas Robbins (Hg.): New Religious Movements in the Twenty-First Century. Legal, Political, and Social Challenges in a Global Perspective, New York: Rout ledge, 2004, S. 50-59. 198 Siehe Palmer, Heretics, 2011, S. 78, 160- Hincker, Rumeurs, 2003, S. 63 ff. 199 Rolande J. Campiche: Sects, Media and the End of the World, in: Lewis, J. R. (Hg.): The Order of the Solar Temple: the Temple of Death. Aldershot: Ashgate, 2006, S. VLHKHDXFK0DVVPLPR,QWURvigne und Jean F. Mayer: Occult Masters and the Temple of Doom: The fiery end of the Solar Temple, in: David G. Bromley/J. Gor don J.Melton: Cults, Religion, and Violence, Cambridge: Cambridge University Press, 2002, S. 170-188. 200 James A. Beckford: Cults, Conflicts and Journalists, in: Robert Towler (Hg.) New Religions and the New Europe. Aarhus: Aarhus University Press, 1995, S. 105-110. Über kurz oder lang habe dies den Druck auf die Autoritäten, die Bürger vor der wie derholt präsentierten Gefahr zu schützen, wachsen lassen, Handlungen eingefordert oder zumindest legitimiert (vgl. ebd. S. 108).

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weshalb, wenn nicht explizit gefordert, nuancierte und tiefergehende Recherchen nicht unternommen, alternative Meinungen nicht formuliert und so ausschließlich der gängige negative Tenor fortlaufend reproduziert wurde201 Hamili nennt darüber hinausgehend die mit großen personellen Überschneidungen besetzten Schlüsselpositionen innerhalb der französischen Medienlandschaft und diagnostiziert davon ausgehend eine einseitige Kontrolle über die Medieninhalte,202 was deren Einseitigkeit in Bezug auf les sectes zusätzlich erklären kann. Darüber hinaus profitierten generell die Medien in Form höherer Auflagen und Zuschauerquoten von Unglücken, Tragödien – eben Besorgnissen in der Bevölkerung – sofern sie diese behandeln oder gar vergrößern.203 Die Themen, mit denen les sectes vordergründig im Rahmen der generellen Stigmatisierung als „gefährlich“ verknüpft wurden, waren vor allem die manipulation mentale,204 die sexuelle und finanzielle Ausbeutung potenzieller und aktueller Adepten sowie deren Entfremdung von ihren Familien und Ehepartnern. Dieses Themenspektrum wurde, wie gezeigt werden wird, nach und nach erweitert, bis hin zu grotesk anmutenden Behauptungen. Eine in sich widersprüchliche Verschwörungstheorie bezog sich auf eine Involvierung der Freimaurer hinter dem Wirken der „Sekten“. Hier wurden einerseits geheime Verbindungen zu den „Sekten“ behauptet, andererseits den Freimaurern aber auch nachgesagt, als „Vorreiter der Sektenbekämpfung“ eng, aber verdeckt, mit MIVILUDES zusammenzuarbeiten. Da die Freimaurer zu allen Zeiten als geheime und mutmaßlich einflussreiche Verbindung von Menschen „besserer“ sozialer Schichten Gegenstand solcher und ähnlicher Mutmaßungen waren, interpretiert Palmer dieses Beispiel als Symptom von Angst vor einer unbemerkten Bedrohung aus den eigenen Reihen.205 Die Betrachtung der Vorwürfe gegen les sectes als symptomatisch für andere Probleme

201 Vgl. ebd. S. 109. Für eine vertiefende Lektüre zu Medien und NRB siehe: Review of Religious Research, Special Issue: Mass Media and Unconventional Religion, Vol. 39, No. 2, 1997. 202 Serge Hamili: Les nouveaux chiens de garde. Paris: Liber-Raisons d'Agier, 1997 siehe auch: Bowen, Headscarves, 2007, S. 153 ff. 203 Für eine allgemeinere Abhandlung von „Media Panics“ vgl. Goode und Yehuda, Moral Panics, 1995, S. 95 ff. Goode und Yehuda betonen hier stark den ökonomischen Bedarf der Medien an Moral Panics und die Medien dementsprechend als von Eigen interessen geleiteWHQ7ULHENUlIWHYJODXFK S. 96. 204 Beeinflussung der Adepten ohne deren Zustimmung im Sinne eines BrainZDVKLQJV auch Duvert, Anti-Cultism, 2004, S. 37-48. 205 Vgl. Palmer, Heretics, 2011, S. 193 ff. Zum Grand Orient ist ansonsten bekannt, dass er nach Zerwürfnissen mit der katholische Kirche in den vorausgegangenen Jahrhun

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und Unsicherheiten, teilen fast alle Wissenschaftler. Einzelne Aspekte wurden bereits sehr detailliert untersucht, andere eher angerissen: Im Sinne einer Diskursgeschichte des französischen Sektenbegriffs und der „mentalen Manipulation“, analysierte Esquerre ebenso relevante politische Akteure, wie er nach der sozialen Bedeutung „psychischer Gesundheit“ seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis heute fragt.206 Wie Alain Ehrenberg konstatiert er eine allgemeine „Psychologisierung“ der Gesellschaft und damit eine steigende Wahrnehmung der Relevanz psychischer Unversehrtheit207 als Hintergrund der Debatten um die manipulation mentale und erklärt damit einen Teil der Genese des wichtigsten mit les sectes verbundenen Themas. Dieser Aspekt wird zu überprüfen sein. In Bezug auf die angesprochene „kulturelle Fremdheit“ werden bezeichnenderweise les sectes vor allem als US-amerikanisches Phänomen dargestellt und die Äußerungen, die sich auf die USA beziehen, sind abgrenzender und polemischer Art. Palmer208 nennt hierfür mehrere Beispiele: les sectes seien als „Speerspitzen“ US-amerikanischer Spionage bezeichnet und polemische Vergleiche zwischen les sectes und McDonalds als „US- amerikanische Importe“ sowie „richtigem Essen“ und „richtiger Religion“ angestellt worden.209 Den USA sei unterstellt worden, ein spezielles Interesse daran zu haben, seine Religionspolitik in Frankreich einzuführen, was sehr wahrscheinlich auch als Reaktion auf die Aussagen des Botschafters der USA 2010 zu werten ist. Dieser habe vorgeschlagen, die amerikanische religiöse Toleranz und das Pluralismus-fähige Modell an französischen Schulen in die Curriculae aufzunehmen210 und stieß hiermit auf wenig Gegenliebe: es gab sogar Annahmen derart, dass die US-Regierung bereits von „Sekten“ infiltriert sei und ob deren Religionspolitik nicht auch hierdurch zu erklären wäre.211 Die „Sektendebatten“ begannen in den Medien ein nicht zu unterschätzendes Eigenleben zu führen, nachdem die Verbindung des Themas zu einem breiten Publikum über die Medien geschaffen werden konnte. Ein Großteil der Bevölkerung kam nie direkt mit NRB oder ihren „Opfern“ in Kontakt, sondern bezog seine

derten eine laizistische (und humanistische) Loge ist, aus der sich öffentlich, wenn, dann anti-secte geäußert wurde (vgl. Kap 4). 206 Esquerre, manipulation mentale, 2009, S. 356 ff. 207 6YJOEhrenberg, Unbehagen, 2012, S. 244-252. 208 Palmer, Heretics, 201, S. 191. 209 S. 192. 210 S. 196. 211 Siehe Kapitel 5.

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Informationen aus Zeitungen, Radio und Fernsehen.212 Die von Beckford beschriebene Rolle der AKB als Hauptinformanten der Medien213 und Initiatoren des Framings, die aktiv darauf gearbeitet hätten, das „Sektenthema“ an die bestehenden Diskurse anzuschließen, nehmen hier eine besondere Rolle ein, über die die medialen Prozesse erklärt werden können: „One of the reasons for ADFI‫ތ‬s prominence and credibility is that it has been successful in persuading journalists to take anti-cultism seriously by situating it in a more overtly political context than has happened in any other western country.“214 Die eben geschilderten Überfremdungsdebatten und Ängste vor dem „inneren Zerfall“ können nach diesem Erklärungsansatz ebenso als intendiert mit les sectes verknüpft angesehen werden, um deren Medienattraktivität und -relevanz zu erhöhen. Warum dies möglicherweise im Interesse bestimmter Akteure gelegen haben könnte, ist eine der in der vorliegenden Arbeit behandelten Kernfragen. Die Relevanz der oben beschriebenen „großen Themen“ französischen Selbstverständnisses wie „Laizität“ erklärt John R. Bowen: er betont einen großen Einfluss philosophischer Themen in den französischen öffentlichen Debatten,215 welche öffentlichen Diskussionen eine augenscheinliche Tiefe, Intellektualität, Dauerhaftigkeit und den Anschein übergeordneter Relevanz geben könnten,216 was die Persistenz beziehungsweise die Vielfalt abstrakter Wertdiskussionen im Zusammenhang mit „Sekten“ zumindest etwas besser nachvollziehen lässt.

D AS R ECHT BETREFFENDE UND ARGUMENTATIONEN

ARBEITEN

Rechtliche Dokumente und Gerichtsprozesse werden hier als in kulturelle, gesellschaftliche und politische Prozesse eingebettet untersucht. Wichtig ist hier unter anderem erstens, wie legitime und „illegitime Religion“ und der Handlungsspielraum religiöser Organisation juristisch definiert und festgelegt wird,217 wie Vergehen in diesem Bereich geahndet werden und welche Konsequenzen dies für die betroffenen Religionsgemeinschaften hat. Zweitens wird davon ausgegangen,

212 9JOKLHU.DSLWHOYJO%HFNIRUGJournalists,1995, S. 107, 110. 213 Ebd. S. 106, siehe hier Kapitel 4. 214 Vgl. Beckford, Cult Problem in five Countries, 6YJOHEHQVRBeckford, Control, 1981 und ders. Cult Controversies, 1985. 215 Bowen, Headscarves, 2007, S. 155. 216 Vgl. ebd. 217 Vgl. Reuter, doppeltes Dilemma, 2007, S. 178-192.

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dass Rechtsquellen kulturelle Themen, vor allem in Form kulturell geprägter Kategorien enthalten und auch dadurch in Bezug auf die zentrale Fragestellung relevant sind218 und drittens, dass die Prozesse der Rechtsetzung und -anwendung eine von Akteuren getragene politische Dimension haben. Hier folgend werden einerseits bereits vorliegende Ergebnisse zu den Inhalten des About-Picard-Gesetzes (folgend: „APG“), der Rechtsetzung und -praxis sowie die in der Sekundärliteratur bereits angesprochenen und aus den Rechtsquellen zu erschließenden Implikationen für die übergeordnete Fragestellung zusammengefasst werden. Die Implementierung des französischen „Anti-Sekten“-Gesetzes (des „APG“) wurde von vielen der oben aufgezählten Wissenschaftlern besorgt wahrgenommen und scharf kritisiert. Duvert219 sowie Hervieux-Légèr bemerken eine überraschende Einstimmigkeit,220 mit der das Gesetz im Parlament verabschiedet wurde. Ersterer sieht hier vor allem den Einfluss der Säkularisten und eine Art Zugzwang auf Seiten katholischer Vertreter, um nicht mit les sectes assoziiert zu werden, sieht.221 Hervieux-Légèr erkennt im Thema „[...] eines der raren (vielleicht das einzige!),sozialen Themen‘ [Frankreichs], das verschiedene ideologische Familien dazu brachte, ihre Differenzen beiseite zu legen.“222 Beckford befindet es als besonders problematisch, dass der Staat durch die Beschreibung des Tatbestandes einerseits Adepten, ohne dass diese sich als missbraucht betrachten müssen und mutmaßliche „Sektenführer“, ohne dass diese jemanden bewusst manipulieren wollten, schützen beziehungsweise bestrafen könne.223 In den dem Gesetz vorausgehenden und es umgebenden Debatten wurde der Begriff sectes gegen den der dérives sectaires ausgetauscht (während in der Überschrift des Gesetzes selbst von den mouvements sectaires gesprochen wird), was so viel wie „sektiererische Abweichungen“ bedeutet, die innerhalb religiöser Gemeinschaften vorkommen können. Zentral ist – in der offiziellen Theorie – dass es von hier an nur noch illegale Praktiken und offiziell nicht mehr die vorab stigmatisierten 173 Gruppen des GestGuyard Report sein sollten, die so einer Verfolgung ausgesetzt sein würden. Es

218 Siehe Kapitel 3, Hervieux-Légèr, Obsession, 2004, S. 44. 219 Duvert, Anti-Cultism, 2004. Duvert promovierte sich mit der Arbeit: Les sectes et droit (veröffentlicht 2004), in der er drei Themen des öffentlichen Diskurses (indivi duelle Freiheit, Gesundheit und Geld) und die rechtlichen Reaktionen darauf sowie in einem zweiten Teil der Dissertation soziale Reaktion und juristische Strategien, die hauptsächlich von „Anti-Kult“-Akteuren angewendet werden, beleuchtet. 220 Hervieux-Légèr, Obsession, 2004, S. 41. 221 Duvert, Anti-Cultism, 2004, S. 48-49. 222 Hervieux-Légèr, Obsession, 2004, S. 41. 223 Beckford, Dystopia, S. 35.

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wurde jedoch angezweifelt, dass die „schwarze Liste“ mit Erlass des Gesetzes tatsächlich obsolet und unwirksam wurde und tatsächlich geriet so zusätzlich ein über NRB hinausgehendes Feld religiöser Praktiken, nämlich Formen alternativer Spiritualität und alternativer Therapien in den Blick.224 Als Neuerung sind Letztere nun ebenfalls als potenziell illegal definierbar und werden gegebenenfalls vom Strafrecht erfasst. Altglas deutet diese Änderung zu Recht als Möglichkeit, in Frankreich „alternative“ Religion per se verfolgen zu können, insofern „sektiererische Abweichungen“ im Sinne eines Fehlhandelns, prinzipiell in jeder Gruppe oder Organisation, aber auch innerhalb der Workshop und Klientenkult-Kultur alternativer Spiritualität und alternativer Heilpraktiken, auftreten können.225 In der Praxis kam es im Sinne des zentralen Tatbestandes – der sujétion psycholgique – nur ein einziges Mal zur Auflösung einer Gruppe und zur Verurteilung des mutmaßlichen Leiters, wobei das APG nicht das einzige rechtliche Mittel darstellt, welches gegen unerwünschte Gruppen eingesetzt werden kann. Wie in anderen Ländern können zum Beispiel nicht erteilte Bau- und Umbaugenehmigungen oder – im französischen Fall – wiederholte genaue Steuerprüfungen sich als sehr einschränkend und hinderlich erweisen. Zur weiteren Wirkungen des Gesetzes wurde bisher nur wenig gearbeitet, zumal es anfangs von Wissenschaftlern als wirkungslos eingeschätzt wurde.226 Dies ist jedoch bis jetzt nicht genauer überprüft worden. Abgesehen von der Verurteilungswahrscheinlichkeit qua APG, müssen eine mögliche emblematische Wirkung der vermeintlichen staatlichen Bestätigung der von les sectes ausgehenden Gefahr227 sowie die abschreckende Effekte, die generell das Ziel strafrechtliche Verordnungen sind, miteinbezogen werden. Im Verhältnis zu den öffentlichen Debatten ist das Spektrum der les sectes zugeschriebenen Gefahren im Gesetz etwas enger, wurde jedoch ebenfalls noch nicht präzise herausgestellt. Bereits in den Diskussionen zum Gesetz von 2001 ist der neue Tatbestand der manipulation mentale in Verbindung mit dem „Missbrauch Schwächerer“ prävalent, kommt jedoch im finalen Gesetzestext nur noch in Form der „psychologischen Unterdrückung“ in Verbindung mit der „Ausbeutung von Menschen und ihres Eigentums“ und „durch Ausnützung eines Zustands von Schwäche“ vor. Das gesamte Spektrum des Einsatzes und der Wirkungen rechtlicher Mittel in den französischen „Sektenkonflikten“ reicht deutlich über das APG hinaus. Bereits 224 Altglas, French Cult Controversy, 2008, S. 59. 225 Ebd. 226 Hervieux-Légèr vermutete die Wirkungslosigkeit des Gesetzes bereits früh, da dieses aus ihrer Sicht keine juristisch wirksame Definition von secte bereit stellte (Ob session, 2004, S. 46). 227 Hervieux-Légèr, Obsession, 2004, S. 47.

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lange vor der Implementierung des Gesetzes wurde auch von den NRB rechtlich gegen ihre Gegner zum Beispiel in Form von Klagen gegen Verleumdungen vorgegangen. Dies war zum Teil durchaus erfolgreich, nur wurde über diese Fälle selten in den Medien berichtet.228 Zusätzlich gibt es die Möglichkeit für religiöse Gemeinschaften, den quasi-religiösen Status der association cultuelle (einer „Organisation mit ausschließlich religiösen Charakter“) zu erlangen, was oft ein eher langwieriges Verfahren darstellt.229 Die Vorteile einer Anerkennung als association culturelle liegen aus der Sicht der NRB neben einer Nichtbesteuerung von Spenden nicht zuletzt in einem besseren Schutz vor negativen Medienkampagnen, da ein offiziell legaler Status die Wirkung von Rufschädigungen abmildert, die eben auf die Illegitimität einer Gruppe abzielen.230 Hervieux-Légèr wie Beckford231 sehen in eben dieser impliziten Anerkennungsstrategie ein Problem, da einerseits das katholische Modell als Folie für eine Anerkennung notwendige administrative „Form“ genutzt würde, mit der ein entsprechender autonomer Handlungsbereich verbunden sei.232 Beckford merkt als ein Spezifikum europäischen Rechtes außerdem an,233 dass es stärker als in anderen Rechtskreisen über administrative Spielräume, d. h. unklare Grenzen und Vorgaben, wirke. Tatsächliche Ansprüche (Rechte) hätten betreffende Gemeinschaften in einem solchen System nur wenige. Dies macht sie von der wohlmeinenden Handhabung des Interpretationsspielraums der jeweiligen Sachbearbeiter und damit nicht zuletzt von deren, oft von der öffentlichen beeinflussten, Meinung abhängig und setzt sie einem größeren Anpassungsdruck aus. Die potenzielle Möglichkeit dieser Form von Anerkennung habe, wie oben bereits erwähnt, außerdem den Graben zwischen legitimer Religion und les sectes vergrößert.234 Dem von Beckford konstatierten Effekt wird hier zugestimmt, allerdings nicht seiner Einschätzung, dass dieser Effekt liberal-laizistischer Politik stärkere negative Konsequenzen gehabt habe als die aktiven säkularistischen Ausgrenzungsbestrebungen. Zwar ist diese Form administrativer Wertung subtiler und wird vermutlich eher unreflektiert akzeptiert, allerdings bedarf es des aktiven Engagement von „Sekten“- Gegner, die den administrativ in die „Reste-Kategorie“ verwiesenen Gruppen die negative Konnation wie die „gefährlicher Pseudo-Religionen“ hinzufügen.

228 Vgl. Palmer, Heretics, 2011, S. 26, 33-58, 83-110. 229 Garay, Religious Tolerance, 2011, S. 183-184 ff. 230 Vgl. Garay, Religious Tolerance, 2011, S. 184. 231 Hervieux-Légèr, Obsession%HFNIRUGDystopia, 2004, S. 32. 232 Herviex-Légèr, Obsession, 206YJODXFK5HXWHUdoppeltes Dilemma, 2007. 233 Beckford, Control, 1981, S. 260. 234 Beckford, Dystopia, 2004, S. 32.

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Auf der Ebene der kulturellen Signifikanz bespricht Duvert zwei sonst wenig beachtete Neuerungen mit Implikationen für einen kulturellen Wandel im APG. Die Neuschaffung und Verschiebung des Paragraphen bezüglich Verbrechen gegen die „psychische Integrität“ in Verbindung mit dem „Missbrauch Schwächerer“ aus dem vierten Buch des Strafgesetzes („Verbrechen gegen das Eigentum von Personen“) in das erste Buch („Verbrechen gegen die Person“).235 Dahinter stehe nach Duvert (etwa analog zur „Psychologisierung der Populärkultur“ bei Ehrenberg und Esquerre) ein breiterer Wandel in der Wahrnehmung des menschlichen Geistes vom westlich philosophischen Paradigma der Freiheit des Bewusstseins und des Denkens zu der Annahme, der menschliche Geist sei manipulierbar.236 So habe es schon seit einiger Zeit (seit etwa den 1990er Jahren) Ersuche von verlassenen Ehefrauen gegeben, die Geliebten ihrer Ehemänner wegen psychischer Manipulation zu verklagen und so die freie Entscheidung ihrer Ehemänner als krankhaftes Symptom umzuinterpretieren. Die zweite Änderung berühre das bis dato wenig offen propagierte, jedoch faktisch vorhandene Recht religiöser Organisationen (im Rahmen des pacte laïque) innerhalb ihrer Strukturen nach Belieben eigene Regeln zu schaffen und auf ihre Mitglieder anzuwenden wie in den USA, ohne dass der Staat sich hätte einmischen können. Eine Einmischung des Staates sei bis zum Erlass des APG lediglich im Falle einer „Bedrohung der öffentlichen Ordnung“ möglich gewesen.237 In der Implementierung eines Gesetzes, das möglicherweise auch das Grundrecht auf eine Privatsphäre infrage stellen könnte,238 sieht Duvert jedoch ein Anzeichen der Erosion der bisher festgelegten Beziehungen zwischen Staat, Kirche und Religionsgemeinschaften.239 Und in der Tat haben sich einige weitere Debatten, unter anderem der Kopftuchstreit, nicht zugunsten der GläubiJHQ HQWVFKLHGHQ ZHLWHUH (QWVFKHLGXQJHQ GLH GDV9HUKlOWQLV YRQ gIIHQWOLFKNHLW und „Religion“ tangieren, sind abzuwarten. Jenseits dessen und für die vorliegende Studie höchstrelevant, habe es in der französischen Rechtskultur selbst relevante Veränderungen gegeben. Die Implementierung des APG sei in den Kontext der „Amerikanisierung“ des Rechtssystems in Frankreich gefallen, wobei der Staat die letztendliche zentrale Kontrolle 235 Duvert, Anti-Cultism, 2004, S. 49. 236 Ebd.; Ehrenberg, Unbehagen, 2012, S. 244-252 beschreibt ab den 1960ern eine gene relle „Psychologisierung“ (vs. religiös) der Sprache, in denen über das Subjekt und eine belange gesprochen werde, was inhaltlich gewisse Ähnlichkeiten oder Kongru enzen mit den von Duvert berichteten Entwicklungen bezüglich der Zuschreibung von Schuld aufweist. Siehe auch Esquerre, manipulation mentale, 2009, S. 359. 237 Duvert, Anti-Cultism, 2004, S. 49 ff. 238 Cyrille Duvert, Sectes et Droit, Aix-en-Provence: PUAM, 2004, S. 39 f., S. 126-129. 239 Duvert, Anti-Cultism, 2004, S. 50.

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über den Rechtsapparat aufgegeben habe.240 Stattdessen würde „Recht“ zunehmend auch in der Gesellschaft gemacht, während der Staat mehr und mehr die vermittelnde Rolle zwischen den konkurrierenden gesellschaftlichen Fraktionen innehabe.241 Am Beispiel der Durchsetzung einer rechtlich anerkannten Lebensgemeinschaft für homosexuelle Paare macht Duvert deutlich, wie durch politische Kampagnen und Lobbyismus, Parlamentsmitglieder überzeugt werden können, aus politischem Aktivismus eine juristische Agenda werden und ein neues Gesetz entstehen kann.242 Im Falle der französischem „Sekten“ seien verschiedene es Mobilisierungsbewegungen (NRB und „Anti-Kult“-Bewegungen), welche den Staat jeweils auf ihre Seite ziehen wollten und dabei außerdem die Relevanz von Präzedenzfällen erkannt hätten: Urteile würden die Rechtmäßigkeit der Klagen belegen und auf beiden Seiten die Notwendigkeit, den Rechtsweg zu gehen, erkannt und entsprechend werde gehandelt.243

E RTRAG AUS

DER

S EKUNDÄRLITERATUR

Die letztgenannte Sekundärliteratur beleuchtet unterschiedliche Ausschnitte der Entwicklung der Rechtslage zu les sectes in Frankreich, betont jedoch politischgesellschaftliche Einflüsse auf die juristische Sphäre, ohne diese zusammenhängend zu untersuchen. Die vorliegende Arbeit schließt trotz des über die französischen Medien weit verbreiteten negativen Einheitsdiskurses über les sectes, in mindestens drei Aspekten direkt an die Arbeiten Duverts an. Vor dem Hintergrund des von ihm diagnostizierten Wandels der französischen Rechtskultur im Sinne ihrer „Amerikanisierung“ und eines steigenden Einflusses von politischen pressure groups im Kontrast zur Rechtsprechung vor dem Hintergrund Prinzipien-orientierter staatlicher Entscheidungen (1) lenkt auch er den Blick auf treibende Akteure in Bezug auf die Implementierung des About-Picard-Gesetzes (2). Deren sichtbare Sprecher ordnet er auf der Basis von Beobachtung dem laizistischen Spektrum zu, was jedoch noch in Bezug auf weniger sichtbare Akteure geprüft werden muss. Duvert stellt den auch von Ehrenberg und Esquerre angesprochenen kulturellen Wandel im Sinne einer neuen Bewusstheit der Beeinflussbarkeit der menschlichen Psyche innerhalb der Rechtstexte fest (3). So zeigte er bereits eine Verbindung des Wandels der philosophischen-weltanschaulichen Grundannahmen

240 Ebd. 241 Cohen-Tanigi 1985 nach Duvert, Anti-Cultism, 2004, S. 44-45. 242 Ebd. 243 S. 45.

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und rechtlich kodifizierter Problemstellungen als Teil der gesellschaftlich verhandelten und mit les sectes verknüpften kulturellen Topoi auf, die für die übergeordnete Fragestellung nach möglichen „kulturellen“ Gründen hochinteressant sind. Damit ist er sowohl an die Arbeiten von zum Beispiel Hervieux-Légèr als auch an die Akteurzentrierung von Beckford und Altglas anschlussfähig und ergänzt diese sinnvoll um einen juristischen Blickwinkel auf die hier notwendig zu untersuchenden Rechtsquellen. Auf diese Weise können zudem die zuvor als problematisch identifizierten monolithischen Konzeptualisierungen von „Staat“ und „Öffentlichkeit“ aufgebrochen werden und der Forschungsstand insgesamt um eine weitere Perspektive ergänzt werden. Der steigende gesellschaftliche Einfluss auf das Recht in Frankreich, im Sinne einer Angleichung an das amerikanische Modell (nach Duvert: „Amerikanisierung“) vereinfacht das Hinzuziehen weiterer Studien aus anderen Ländern. Von J.T. Richardson präsentierte Ergebnisse aus den USA zeigen, das und inwiefern Gerichte in der Praxis eine nicht unabhängige, sondern normative Funktion haben und bei entsprechender öffentlicher Stigmatisierung der Gruppen zur Betonung dieser Stigmatisierung anstatt zur neutralen Bewertung von tatsächlichen Evidenzen beitragen.244 Dies besagt ebenso eine quantitative Studie von Finke und Wybraniec, in der nachgewiesen werden konnte, dass bereits verurteilte religiöse Gruppen in den USA häufiger mit Folgeverurteilungen zu rechnen haben.245 In Deutschland beschreiten Migrationsgemeinden immer häufiger den Rechtsweg, um ihre Anliegen einzufordern und hier wurde ebenfalls ein Einfluss der öffentlichen Meinung auf die Urteilssprechung festgestellt.246 Vor diesem Hintergrund fiel die Entscheidung auf die relativ neue Forschungsperspektive an der Schnittstelle zwischen gesellschaftlich-politischen Aushandlungsprozessen, Rechtsprechung und Rechtsetzung, die sich mit der Hypothese der strafrechtlichen Kodifizierung eines diskursiven Konstruktes gerade für les sectes in Frankreich als sehr sinnvoll herausstellte. Vermittelt durch einen Framing-Ansatz kann die Genese der Konflikte bis in die jüngste Vergangenheit mit einem Fokus auf die treibenden Akteure, 244 James T. Richardson: Legal Dimensions of New Religions, in: Lewis, James R. (Hg.): The Oxford Handbook of New Religious Movements, New York: Oxford University Press, 2004, S. 174 ff. 245 John Wybraniec/Roger Finke: Religious Regulation at the Courts: The Judiciary's Changing Role in Protecting Minority Religions from Majoritarian Rule, in: Journal for the Scientific Study of Religion 40:3, 2001, S. 427-444. 246 Siehe: Matthias Koenig: Gerichte als Arenen religiöser Anerkennungskämpfe, in: Astrid Reuter und Hans Kippenberg (Hg.): Religionskonflikte im Verfassungs staat. Göttingen:Vandenhoeck&Ruprecht, 2010, S. 151-153.

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der wirksamen Kodifizierung eines Pejorativ sowie die mit les sectes verbundenen Themen quellenübergreifend und zusammenhängend untersucht werden. Im Anschluss werden im zweiten Hauptteil die aus diesem Analyseschritt hervorgehenden bedeutungstragenden Elemente tiefergehend auf ihren gegebenenfalls kulturellen Bedeutungsgehalt hin untersucht.

3. Forschungsdesign

T HEORIE Da die Fragestellung auf die gesellschaftlichen Reaktionen gegenüber Neuen Religiösen Bewegungen abgezielt, kann der (ein großer) Teil klassischer Theorien abweichenden Verhaltens, die die Gründe für das Abweichen erklären sollen, bereits ausgeschlossen werden.247 Die wichtigste, empirisch angezeigte, Spannung bei der Wahl eines theoretischen Ansatzes besteht zwischen den Debatten auf politischer Ebene und der Konzeptualisierung von „Kultur“. „Politik“ bedeutet in demokratischen Ländern überwiegend einen dynamischen Meinungspartikularis-

247 Die Sichtung klassischer Theorien abweichenden Verhaltens führte Siegfried Lamnek (Lamnek, Abweichendes Verhalten, 1993) Ende der 1970er Jahre zu der Bilanz, dass der zur Verfügung stehende Theoriebestand wenig fruchtbare Ergebnisse produziert. Lamneck folgerte, dass induktive Analysen, trotz der scheinbaren Zusammenhangs losigkeit der Resultate, der Verwendung mehrerer Theorien vorzuziehen sind (Lam nek, Abweichendes Verhalten, 1993, S. 283). Bei genauerer Betrachtung der von ihm behandelten Ansätze zwischen Recht, gesellschaftlichen Normen und Sanktion sowie dem Labelling Approach, wird schnell deutlich, dass „Gesellschaft“ im Einklang mit dem (damaligen) soziologischen Konsens nicht als variierendes Konzept, sondern als gegeben behandelt wird. Gleichzeitig machen multiple Perspektiven auf „Abwei chung“ deren notwendige kontextuelle Einbettung und multiple Dimensionen von Normverstößen, Sanktionen über Zuschreibungsprozesse bis hin zu Ursachen der Ab weichung die extreme Komplexität des Themas deutlich, so dass eine einzelne Theo rie mehrere Fragestellungen und Axiome integrieren und selbst überkomplex werden müsste. Da ein solcher Ansatz damit notwendig an Erklärungskraft verlieren würde, erscheine ein Vorgehen auf der Basis engerer Fragestellungen, deren Ergebnisse in Kombination das Gesamtbild erklären, als die vorzuziehende Variante.

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mus, während „Kultur“, im Sinne des englischen Begriffs civilisation, eine vereinheitlichende Homogenität und eine gewisse Statik impliziert. Auf beiden Ebenen stellen jedoch „Werte“ und „kognitive Orientierungen“ ein zentrales Element dar.248 Eine für die vorliegende Konstellation genau passende Lösung liegt nicht vor, doch kann zumindest eine Synthese aus der Empirie und der Kombination verschiedener Ansätze entwickelt werden. Gerade für den französischen Fall konnte bereits in der Sekundärliteratur die (etwas neuere) Tendenz, den Meinungspartikularismus zu betonen und zum Beispiel eine auf der Basis institutionell fixierter Werte vereinheitlichend normierende Position des Staates zugunsten des Einflusses politischer und öffentlicher Aushandlungsprozesse in den Hintergrund rücken, festgestellt werden.249 Um dies zu plausibilisieren, ist zunächst die Studie Michèle Lamonts und Laurent Thévenots „Rethinking Cultural Sociology – Reperoires of Evaluation in France and the United States“ sehr hilfreich. Die Autoren des Sammelbandes definieren „Kultur“ im Sinne geteilter Wissensbestände (und Werte) bezogen auf Nationen, insofern diese innerhalb dieser Einheiten über den partizipatorisch verpflichtenden Schulbesuch an mehr oder weniger alle Staatsbürger vermittelt werden.250 Bei Lamont stellen diese Wissensbestände mit Rekurs auf Anne Swidler 1986251 „kulturelle Repertoires“ im Sinne „kultureller Werkzeuge“ dar, derer sich Individuen bedienen um zu kommunizieren und anhand derer die vorgefundenen Sachverhalte und Situationen der Realität bewertet werden.252 Die geteilten kulturellen Elemente werden also nicht gleichmäßig von allen

248 Glenda Patrick definierte politische Kultur als „the set of fundamental beliefs, values and attitudes that characterize the nature of the political system and regulate the po litical interaction among its members“(S. 279). Es gibt keinen Grund zur Annahme, diese „grundelegenden Überzeugungen, Werte und Einstellungen“ auf politischer Ebene in einem demokratischen System nicht mit denjenigen von größeren Gruppen innerhalb der jeweiligen Bevölkerung gekoppelt sein sollten. 249 Duvert, Anti-Cultism6VLHKHDXFK%HFNIRUGXQG$OWJODV'LH Autoren in Jack Hayward: Fragmented France, 2007, belegen Frankreich als generell als politisch – und damit Sinne von Werten auch kulturell - seit der Revolution stark fragmentiert. Siehe für eine sehr gute Zusammenfassung zum Thema: Brian Jenkins: French Political Culture: Homogenous or Fragmented? In: William Kidd, Sian Reyn olds (Autoren): Contemporary French Cultural Studies. Taylor & Francis, 2000, Kapitel 9. 250 Lamont, Cultural Sociology, 2000, S. 9. 251 Lamont, Cultural Sociology, 2000, S. 8 Ann Swidler: Culture in Action: Symbols and Strategy. American Sociological Review, Vol. 51, No. 2, 1986, S. 273-286. 252 Lamont, Cultural Sociology, 2000, S. 8-10.

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Akteuren (die aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen, mit unterschiedlichen Interessen und Zielen handeln) mitgetragen und als „kulturelle Werkzeuge“ verwendet. Joanne Martin diskutierte drei verschiedene Perspektiven auf Organisationskulturen – Integration, Differentiation, Fragmentation – auf den Ertrag für ihren Analysefall, die hier partiell auf „Kultur“ im Nationalstaat übertragen werden können. Der erste Ansatz geht von „Kultur“ als Quelle der Harmonie und als in sich konsistent aus, der zweite vom Effekt nie endender Interessenkonflikte die in Aushandlungsprozessen ihren Ausdruck finden, der Dritte davon, dass „Kultur“ Ambiguitäten (Paradoxa, Ignoranz, Nichtwissen und eine Fragmentierung über Einzelindividuen, die sich in bestimmten Situationen als nicht dazugehörig empfinden) einschließen muss.253 In der Terminologie von Grenzziehungen um kulturelle Einheiten, bezieht die zweite Perspektive „Subkulturen“, allerdings definiert durch ihren Gegensatz zur Primärkultur (des ersten Ansatzes) mit ein,254 während der dritte Ansatz keine exakten Grenzziehungen vorsieht. Martin schließt keinen der Ansätze als „falsch aus, gibt dem Ansatz „fragmentierter Kultur“ in Bezug auf Organisationen jedoch den Vorzug um Ambiguitäten der subjektiven Interpretationen der jeweiligen Unternehmenskultur miteinzubeziehen.255 Vor diesem Hintergrund ist dem Ansatz Lamonts, der von geteilten Wissensbeständen mit unterschiedlicher Relevanz für die Mitglieder einer „Kultur“ ausgeht, für den Nationalstaat die zwischengelagerte Ebene einer Fragmentierung über Interessengruppen, politische Parteien und Milieus hinzuzufügen.256 Die individuelle Ebene 253 Joanne Martin: Cultures in Organizations: Three Perspectives. New York: Oxford Univ. Press, 1992, S. 4.

254 Martin, Cultures in Organizations, S. 135, 136 und, ausführlicher, S. 130-139. 255 Martin betont in der Einleitung ihres Buches außerdem die Relevanz der Perspektive des Forschers und dessen subjektiver Wahrnehmung der „Kultur“, in der sie/er sich befindet und zur Wahl jeweils einer der skizzierten Perspektiven neigen lässt. Auf politischer Ebene kann der Faktor „Traditionalismus“ als Grund zur Unterdrückung von Abweichung ebenso zum Beispiel mit dem Ideal der vermeintlich bestehenden „homogener Kultur“, die erhalten werden soll, erklärt werden. Die Wahl der Konzep tualisierung von Kultur ist also nicht nur potenziell aufseiten des Forschers beein flusst, sondern selbst Streitpunkt innergesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Dies entspräche in Frankreich dem Ideal der Republique Indivisible und den scheinbaren Schwierigkeiten, pluralistische Konzeptionen zu adaptieren (vgl. auch Jenkins, French Political Culture, 2000, S. 123, 124). 256 Entsprechend formuliert DiMaggio, „Kultur“ sei auf sozialer Ebene über gesellschaft liche „Gruppen“ fragmentiert und in ihren Manifestationen inkonsistent, während ein zelne Elemente im Sinne Swidlers ebenfalls strategisch verwendet werden (DiMag gio, Culture, 1997, S. 264).

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ist hier nur insofern relevant, als dass, wie gezeigt werden wird, auch Sub-Gruppen nicht als in sich homogen angenommen werden können und politische Koalitionen bezüglich einzelner Themen fraktionsübergreifend geschlossen werden. Ausgegangen wird hier also von national geteilten kulturellen Wissensbeständen und Werten im Sinne eines gemeinsamen „Pools“. Innerhalb dessen können sich die Akteure aber auf unterschiedliche, ihren Bedürfnissen und ihrer Wahrnehmung am besten entsprechenden Elemente beziehen und, durch variierende Interpretationen der Inhalte und Zugehörigkeit zu anderen Teilgruppen, dem „Pool“ Elemente hinzufügen. Zudem tendiert die gegenwärtig durch das Internet potenziell zu jedem Zeitpunkt zur Verfügung stehende fast unbegrenzte Menge an „Wissen“ dazu, individuelle Kapazitäten, es zu verarbeiten, schnell zu übersteigen. Dementsprechend wird folgend von der Annahme eines in sich nicht vollständig schlüssigen und von allen Akteuren (zum gleichen Zeitpunkt) geteilten, normativen Horizonts ausgegangen257 und „Kultur“ analytisch als aus separat verhandelten Ausschnitten ihres Gesamtbestandes zusammengesetzt verstanden, die in der Mehrgruppengesellschaft über Akteure miteinander verbunden werden. Kurz: in einer Mehrgruppengesellschaft werden von verschiedenen Gruppen wiederum jeweils variierende Themen und Werte vorrangig vertreten und mit bestimmten Konnotationen versehen. Obgleich zumindest potenziell allen verfügbar, sind deshalb nicht alle Elemente des kulturellen Repertoires, für alle Individuen, die auf dasselbe zugreifen, gleich plausibel oder werden auf gleiche Weise interpretiert und verwendet. Ebenso besteht eine gewisse Freiheit in der Wahl der Legitimation des eigenen Handelns, da lediglich gewährleistet sein muss, dass eine ausreichende Anzahl anderer Personen ein Vorgehen plausibel finden und es gegebenenfalls unterstützen. Die Notwendigkeit, dass die Bedeutung der jeweilig verwendeten Elemente, im jeweiligen kulturellen Kontext, bis zu einem gewissen Grad bekannt ist, ist wiederum durch die geteilte Sekundärsozialisation und geteilte öffentliche Orte und Institutionen, Medienprodukte, also eine partiell geteilte soziale Lebenswelt, gegeben. Beispielhaft wäre in unserem Fall der Konsens über Frankreich als eine laizistische Republik, der nicht bedeutet, dass „Laizität“ und ihre zentralen Werte einheitlich interpretiert oder gewichtet werden würden.258 Für die Forschungspraxis bedeutet dies, dass in den Argumentationen kulturelle pattern nicht zusammenhängend auftreten müssen, diese auf abstrakte Prinzipien reduziert sein können und wiederum in Bezug auf bestimmte Themen hin unterschiedlich ausgelegt 257 Vgl. Paul DiMaggio: Culture and Cognition, in: Annual Review of Sociology 23, 1997, S. 268 f. 258 Vgl. Altglas, Laïcité, 2010, S. 495: „[...] Far from being a stable and unitary idea laïcité has been shaped in various contexts by interactions between competing social actors in some of the most passionate social debates.“

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werden. Jenseits des kulturellen Gesamtkontextes, von dem die Quellen nur einen Ausschnitt darstellen, sind sie für mehr oder weniger Kulturfremde (hier die Forscherin) nicht unbedingt in jeder Form direkt nachvollziehbar, können jedoch unter Hinzuziehung von Sekundärliteratur wieder im Gesamtkontext verortet werden. In Bezug auf eine Konzeptualisierung der gesellschaftlich-politischen Situation, sind im Anschluss an den gewählten Ansatz analytisch pluralistische Ansätze, die von einer Mehr-Gruppen-Gesellschaft als Konglomerat aus interdependenten Inklusivgruppen Gruppen (pressure groups), Aushandlungsprozessen und „Stabilität“ im Sinne einer Balance der Kräfte259 zwischen diesen ausgehen, sinnvoll. Zumindest beschreiben sie die von Duvert und Altglas beschriebene Prozessdynamik der französischen „Sektenkonflikte“ in mehrerlei Hinsicht präzise, wendet man sie wie Duvert auf die NRB und die „Anti-Kult“-Bewegungen an. Dies gilt vor allem, wenn die lobbyistischen Aktivitäten Letzterer sowie die verschiedenen Verwendungen des Laizitätsbegriffs in Betracht gezogen werden.260 Der zentralen Kritik an dieser Theorie Bentleys von 1949, namentlich, dass vor allem die Behauptung, jede Gruppe würde nach politischer Durchsetzung streben, nicht begründbar ist,261 kann leicht mit dem fehlenden Erklärungswert einer solch allgemeine Aussage begegnet werden, weshalb dieser Aspekt seines Ansatzes schlicht ausgelassen werden kann. Stattdessen müssen die Intentionen der Akteursgruppen für jedem Fall separat geprüft werden, wie es hier für die französischen „AntiKult“-Bewegungen vorgenommen wird. Für diese kann, mit Rückblick auf ihre Erfolge, die Absicht, sich durchzusetzen, bestätigt werden, zumal neben der medialen Verfolgung sogar die Kriminalisierung so genannter „Sekten“ erreicht wurde. Die jedoch dahinter stehenden Handlungsgründe und Motivationen gehen weit hierüber hinaus und sind ein zentraler Bestandteil der Fragestellung. Der Anstoß, dass die Konflikte auch als politische Konflikte mit strategischen Zielen auf Seiten der einzelnen Parteien zu verstehen sind, ohne sie darauf zu beschränken ist gerade im vorliegenden Fall von großer Wichtigkeit. Vor allem mit Blick auf die Empirie und einem Fokus auf die dezidiert politische Arena „Parlament“, deren Dokumente untersucht werden, ist dies unumgänglich. Im Zentrum des Interesses steht deshalb, wie die „Anti-Sekten“-Agenda legitimiert und durchgesetzt werden konnte, genauer, wie eine parlamentarische Mehrheit für die rechtliche

259 Bentley, nach Siegfried Lamnek: Neue Theorien abweichenden Verhaltens, 2. Durch gesehene Auflage. München: Wilhelm Fink Verlag, 1997 [OA:1994]. 260 Duvert, Anti-Cultism, Altglas, laïcité, 2010. 261 Lamnek, Neue Theorien, 1997, S. 104 f., S. 105.

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Kodifizierung der „Anti-Sekten“-Agenda gewonnen wurde. Wie im Forschungsstand in Form relevanter Themen für das französische nationale Selbstverständnis und vor allem für medial vermittelte Themen der Gegenwart herausgestellt wurde, sind im vorliegenden Fall Funde abstrakter Wertverhandlungen, auf konkrete Ursachen und Gerüchte zurückzuführende Ängste und bestimmte Interessen anderer partikularer Gruppen wahrscheinlich.

Kultur, parlamentarische und öffentliche Diskurse Der konkrete Aktivismus der AKB, die ihre Agenda durchsetzen wollten und dies bis zu einem gewissen Grade auch erreichten, verweist auch auf die Bewegungsforschung und dort genauer auf die „Ressourcenmobilisierung“. Der gegenwärtige Stand der Forschung sieht die Konzeptualisierung der individuellen Akteure als ökonomisch-rational handelnd widerlegt und betont demgegenüber „Kultur als erklärenden Faktor“ und die Relevanz „[...] kulturelle[r] Elemente bei der Mobilisierung von Interessen und der Genese wechselseitiger Bindungen und Solidaritäten [...].“262 Die „Formierung kollektiver Akteure erfordere die Konstruktion einer kollektiven Identität“, was wiederum mit Anne Swidler (1986) in Bezug auf verfügbare kulturelle Repertoires geschehe.263 In diesem Zusammenhang seien nach Donati auch die Termini frames und frame-allignments eingeführt und vermehrt auf den Nutzen von Diskursanalysen bei der Ideologieforschung hingewiesen worden.264 In Bezug auf erkennbare soziale Bewegungen erscheint dieser Ansatz plausibel und für die Fragestellung relevant, allerdings müssen mindestens zwei Kritikpunkte angesprochen werden: Erstens ist die „Gruppe“ der „Sekten“-Gegner jenseits der „Anti-Kult“-Bewegungen weder eindeutig abgrenzbar noch in sich homogen und reicht deutlich in das Parlament und damit in die staatliche Ebene hinein.265 Außerdem ist eine gemeinsame, den Zusammenhalt festigende Ideologie zumindest nicht sofort er-

262 Paolo R. Donati: Die Rahmenanalyse politischer Diskurse, in: Keller et al: Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse1 – Band 1, Theorien und Methoden, 2. Aktu alisierte und erweiterte Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006, S. 147-176, hier S. 159-YJO/DPRQWCultural Sociology, 2000, S. 6. 263 Donati, Rahmenanalyse, S. 160, vgl. Lamont, Cultural Sociology, S. 7 f. 264 Donati, Rahmenanalyse, S. 160, 265 Vgl. Kap. 2 und 4.

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kennbar. Vielmehr wird in verschiedenen Öffentlichkeiten (z. B. medial, zivilgesellschaftlich, parlamentarisch, international266) eindeutig strategisch gegen „Sekten“ argumentiert, um zu überzeugen: innerhalb des Parlamentes wird z. B. davon gesprochen, dass „Frankreich“ hier eine Art Auftrag habe, weniger informierte Nationen über die Gefahr zu informieren. Die eigene Referenzgruppe wird dabei nicht klar umrissen, sondern gegenüber außerfranzösischen Plena gerne als „die französische Nation“ und gegenüber innerfranzösischen Öffentlichkeiten wenig deutlich als „Zusammenschluss besorgter und engagierter Politiker innerhalb des Staates“ für die Bürger dargestellt. In Abgrenzung zur Bewegungsforschung werden deshalb aufgrund der parlamentarischen Aktivität der französischen „Sekten“Gegner seit den frühen 1990er Jahren und ihren politischen Erfolgen im Jahr 2001 politische Framing-Prozesse nicht in erster Linie als die eigene Gruppe festigend, sondern vor allem auch als Versuch, diese zu vergrößern, aufgefasst, wobei die Argumente auch (!) strategisch gewählt werden müssen, um andere zu überzeugen. Die im letzteren Fall verwendeten Themen müssen dementsprechend für den Sprecher und bereits Überzeugte selbst nicht einmal sonderlich plausibel sein. Zweitens ist m. E. die Annahme, dass Akteure rein ideologisch handeln und argumentieren ebenso wenig plausibel wie die Annahme einer reinen Zweckrationalität:267 Um die eigenen Werte und Ziele durchzusetzen, kann und wird durchaus gerade auf politischer Ebene um andere zu überzeugen strategisch argumentiert. Da solche Motivationen jedoch nur vermittelt, d. h. über die Aussagen der Beteiligten oder mit nachträglicher Evaluierung der Effekte näherungsweise überprüfbar sind, sollte dies nicht bereits vor der Untersuchung entschieden und Möglichkeiten ganz ausgeklammert werden. Dementsprechend zeigen Untersuchungen am Material analog zur Annahme der „Mehrgruppengesellschaft“ die Inkonsistenz der Argumentationen und Legitimierungsstrategien im Kontext verschiedener Öffentlichkeiten auf. Schon während der Probeuntersuchung konnten unterschiedliche Argumentationsweisen zwischen wertrational und strategisch identifiziert werden, für die der Forschungsansatz sensibel sein muss. Druckman und Chong formulierten hier einen passenden und modifizierbaren Framing-Ansatz, der zwi-

266 Vgl. John Macnamara. (11.06.2008): Emergent media and what they mean for society, politics and organisations, public lecture, University of Technology Sydney, URL: www.uts.edu.au/new/speaks/2008/-June/resources/1106-WDONSGI zuletzt eingesehen am 20.08.2012. 267 Vgl. Donati, Rahmenanalyse, S. 159.

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schen kommunizierter mentaler Repräsentation der Sprecher und an andere gerichtete Botschaften differenziert.268 Framing wird hier verstanden als ein Prozess sozialer Konstruktion eines sozialen Phänomens durch politische Akteure oder die Medien, bei der versucht wird, die Bedeutung von bestimmten Begriffen in der Wahrnehmung von verschiedenen Personen zu beeinflussen. Dabei können Frames einmal kognitiv als mentale Repräsentationen der Realität, in welcher der Sprecher sich befindet (also was dieser selbst für relevant hält) und einmal als kommunikative Bindeglieder zwischen verschiedenen Akteuren aufgefasst werden, bei denen die Sprecher versuchen – bewusst oder unbewusst – an beim Publikum vorhandene Vorstellungen und Meinungen anzuschließen.269 Beckford zeigte bereits auf, dass katholische Akteure das Thema „Sekten“ mittels eines entsprechenden Framings interessant für die Medien und die Politik machten,270 während die unten aufgezeigten Bedeutungsverschiebungen des Sektenbegriffs als Resultate eines solchen Framing gegenüber anderen Parlamentariern erklärt werden können. In der Praxis bedeutet ein Medien-Framing oder ein empfängerorientiertes Framing meist wenig mehr, als dass ein Thema in andere Diskurse eingebettet,271 die eigene Position also mit für andere Parteien oder eine Mehrheit relevante Themen in Zusammenhang gebracht wird. Die Relevanz der Themen für die Adressaten als Grund für die Anschlussfähigkeit der gewählten Themen kann dann wiederum durch für diese relevante „kulturelle Repertoires“, durch emphatische Betroffenheit oder deren eigene Interessen erklärt werden.272 Über die „kulturellen 268 James N. Druckman und Dennis Chong: A Theory of Framing and Opinion Formation in Competitive Elite Environments, in: Journal of Communication 57, 2007, S. 99118. 269 Ebd. S. 100-101 270 Beckford, Cult Problem in five Countries, 1984, S. 202. 271 Vgl. hierzu Bowen beschreibt ähnliche Vorgänge in Bezug auf den Islam in Frankreich (Bowen, Headscarves, 2007, 155 ff.). 272 Hier wird im Übrigen nachdrücklich nicht von einer Frame-Manipulation gesprochen werden, da unter „Manipulation“ auch die alltägliche und allgegen wärtige Beeiflus sung (unter Ausklammerung der bewussten „Lüge“, welche hier bereits als „Betrug“ gewertet wird) verstanden wird, welche bewusst oder unbewusst Anwendung findet. Im ersteren Fall wäre der Manipulationsbegriff sogar gültig, nur kann eine bewusste kaum nachgewiesen werden, es sei denn die Sprecher gäben dieses zu. Gerade im politischen Bereich (verstanden als Arena entsprechender Machtaushandlungspro zesse) ist es überdies ein grundlegendes Ziel, andere – nicht nur auf dem Wege inhalt licher und argumentativer Superiorität – von der eigenen Meinung zu überzeugen, weshalb derartige Strategien als integrativer Bestandteil von Kommunikation gewer tet werden.

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Repertoires“ kann gleichfalls auch die Anschlussfähigkeit für andere nur durch die Äußerung eigener mentaler Repräsentationen erklärt werden, allerdings wären beide Prozesse nur in einem direkten Vergleich von in-group und out-group-framing voneinander abzugrenzen, was dort vorgenommen wurde, wo es möglich war. Forschungspraktisch wird in jedem Fall mit der Identifizierung der relevanten, mit les sectes verbundenen Themen begonnen und erst im Zuge der folgenden Untersuchungsschritte die Frage, für wen diese Verbindungen aus welchem Grund relevant, gestellt. Vorher werden, hier im zweiten Hauptteil, normative oder emotionalisierende Argumentationen, seien es mentale Repräsentationen oder kommunikative Frames, gemeinsam daraufhin untersucht, auf welche größeren Sinnzusammenhänge und gegebenenfalls auf welche komplexen Weltbilder die Argumentationen verweisen. Erst im Anschluss kann die Relevanz der identifizierten Norm-, Wert- oder Sinnbezüge, die gegen les sectes argumentativ eingebracht wurden, möglichen speziellen Akteursgruppen oder den Sprechern selbst zugeordnet werden. Über die größeren Sinnzusammenhänge, auf die verwiesen wird, kann ebenfalls die Frage nach ihrer partiell auch „kulturellen“ Bedeutung beantwortet werden.

„Kultur“ und Recht Im Anschluss an die Ergebnisse von Duvert und Hervieux-Légèr zum Thema „Frankreich“, also an die festgestellte Relevanz von Norminteressenten im Zuge der Genese der Sektenkonflikte und an die herausgestellte Persistenz traditioneller Fassungen bestimmter Kategorien wie „Religion“, wird „Recht“ hier einerseits als kodifizierte soziale und kulturelle Norm und anderseits als das Ergebnis von Aushandlungsprozessen, als der allgemeinste gesellschaftliche Konsens konzeptualisiert. Durch Letzteres ist seine handlungsleitende Verbindlichkeit legitimiert. Überlegungen zum erstgenannten Aspekt sind in dem von Modak-Truran vertretenen Paradigma,273 „Recht“ nicht als säkular, sondern von verschiedenen, auch religiösen Traditionen geprägt anzusehen, enthalten: »Rather than proposing a fixed, certain foundation for the law, I will argue that the legitimation of law depends on the plurality of religious and comprehensive convictions in the culture. Under the constructive postmodern paradigm, the text of the law must be explicitly 273 Ähnliche Annahmen werden – implizit – in rechtswissenschaftlich vergleichenden Ar beiten über „Rechtskreise“, welche unterschiedliche Rechtstypen untersuchen, vertre ten, vgl. z. B. Peter Sandrini, Translation zwischen Kultur und Kommunikation, in Übersetzen von Rechtstexten, Tübingen: Narr, 1999, S. 9.

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secularized (i.e., no explicit recognition of religion), but at the same time, the law is implicitly legitimated by a plurality of religious foundations«274

Er zielt darauf ab, dass die abstraktesten legitimierenden Werte von Rechtssystemen von religiösen Traditionen gespeistem philosophischem Denken entstammen,275 selbiges also ideengeschichtlich pfadabhängig und dadurch weltanschaulich eben nicht „neutral“ sei. Unter „Religion“ werden hier alle normativen Welterklärungsmodelle, die Antworten auf existenzielle Fragen geben (also auch normative Varianten von „Säkularität“) gefasst, welche in pluralistischen Konstellationen miteinander konkurrierten.276 Zudem wird „Recht“ auch als historisch gewachsen und in diesem Zusammenhang als durch Strömungen in der jeweiligen Geistesgeschichte beeinflusst und geformt aufgefasst. Entsprechend können aus Quellen der Rechtsetzung in Bezug auf die verwendeten Kategorien (wie die der „Sekte“) gegebenenfalls wichtige normativ-kulturelle Parameter abgeleitet werden, wenn zum Beispiel anhand konkreter Straftatbestände deutlich wird, wer (potenzielle Opfer) vor was geschützt werden soll und was genau als Bedrohung der bestehenden Ordnung empfunden wird.277 Die oben skizzierte Auffassung von „Recht“ als „abstraktesten gesellschaftlichen Wertkonsens“, muss darüber hinaus zusammen mit der Orientierung des Rechtes an den eigenen, hierarchisch organisierten Setzungen und Prinzipen sowie möglicherweise betroffenen anderen Paragraphen und dem rechtseigenen Pragmatismus – Straftaten in Konkordanz mit dem bestehenden Rechtskorpus zu benennen und zu bestrafen wahrgenommen werden. Hier wird auch einer vorgreifenden Stichprobenanalyse des untersuchten Materials Rechnung getragen. „Recht“ wird also einerseits als ausdifferenziertes, eigenlogisch funktionierendes aber nicht weltanschaulich neutrales „System“ anerkannt und andererseits als nicht unabhän-

274 Mark C. Modak-Truran: Beyond theocracy and secularism (PART I): Towards a new paradigm for law and religion. HeinOnline 27 Miss. C. L. Rev. 163. 2007-2008, S. 166. 275 Modak-Truran: Beyond theorcracy and secularism, 2007-2008, S. 176. 276 Ebd. S. 182, 185. 277 Modak-Truran endet mit John Bowen und Talal Asad allerdings speziell für das Bei spiel Frankreich und das Kopftuch-Verbot in einer monolithischen Konzeption des französischen Staates, welcher verschiedenen Aspekte der „laizistische Doktrin“ sei nen (Neu-)Bürgern aufoktroyiere. Dem kann sich hier in Bezug auf die französischen „Sekten“-Debatten nicht angeschlossen werden (Modak-Truran, Beyond theocracy and secularism, 2007-2008, S. 216 ff).

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gig von gesellschaftlichen Debatten betrachtet. Festzustellen ist in diesem Zusammenhang, wo welche Überlegungen Einfluss nehmen können. So sind nicht alle rechtlichen Bestimmungen, die „Sekten“ betreffen „kulturell“ zu erklären, sondern diese beziehen sich teilweise sehr direkt auf aktuelle Vorfälle und die Vorwürfe gegen „Sekten“ aus öffentlichen Debatten und den Enquête-Berichten.278 Diese drücken Befürchtungen aktueller und konkreter Art, aber auch den oben genannten kulturellen Wandel im Sinne der Annahme einer psychischen Manipulierbarkeit von Personen aus,279 die auch nicht aus dem bestehenden rechtlichen Kanon allein hätten geschöpft werden können und verdeutlichen so bestehende Interdependenzen zwischen den öffentlichen Debatten und der Rechtsetzung. Das Medium „Recht“ reagiert dabei in seiner gesetzten Form, wenn auch nur relativ langsam, auf Änderungen im gesellschaftlichen Konsens, während Urteilssprüche in konkreten Prozessen direkter in Abhängigkeit von den öffentlichen und politischen Debatten variieren können.280 Hier genauer zu beachten ist das mehrfach konstatierte Wirken von Norminteressenten (Interessengruppen, pressure groups), wie sie bereits Max Weber in seiner Rechtssoziologie als einen von mehreren Faktoren der Rechtsentwicklung nannte.281 Dies betrifft im französischen Fall die Schwächung der Rolle des Staates als letztendlich entscheidende, zugunsten des Staates als einer vornehmlich den Volkswillen umsetzenden Instanz282 und der damit einhergehende Einfluss von entsprechenden Lobbys. Dies könnte z.B. das anfängliche Desinteresse der französischen Regierung an den „Sekten“,283 welches sich auch zu einem späteren Zeitpunkt bei einigen Parlamentariern finden lässt284 und die trotzdem erfolgenden Umsetzung des loi contre les mouvements sectaires erklären. Aus dieser Perspektive reagierte der Staat nicht im Sinne einer einheitlichen Ideologie, was hier sehr genau untersucht werden wird. Die Arbeitshypothese ist die, dass analog zu den Framing-Prozessen, die den „Sektendebatten“ die Aufmerksamkeit der Politik sicherte, auch die Implementierung der Forderungen zur Rechtsverschärfung von Norminteressenten sich auf ähnlichem Wege im Parlament fortsetzte. 278 Siehe Kapitel 5 und 6 hier. 279 Duvert, Anti-Cultism, 2004, S. 58-59. 280 Vgl. Koenig, Arenen, 2010. 281 Michael Baurmann: Recht und Moral bei Max Weber, in: Heike Jung et al.: Recht und Moral. Beiträge zu einer Standortsbestimmung. Baden-Baden: NOMOS Verlagsge sellschaft, Sonderdruck (nicht im Buchhandel erhältlich), 1991, S. 113-138, bes. S. 116-119. 282 Duvert, Anti-Cultism, 2004, S. 44 ff. 283 Beckford, Control, 1981, S. 254. 284 Siehe Kapitel 5 und 6 der vorliegenden Arbeit.

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In Bezug auf „Recht“ verschiebt sich die Bedeutung des Framing-Begriffs: hier muss der Gegenstand vergleichsweise sehr klar definiert und in ein festgeschriebenes Regelwerk aus hierarchischen Prinzipien (welche ihrerseits letztendlich wertrational legitimiert sind) eingeordnet werden, deren jedoch vorhandene Interpretationsmöglichkeiten innerhalb des Parlamentes und vor Gericht ausgehandelt werden müssen. In Bezug auf die geringen, aber existenten Interpretationsmöglichkeiten muss hinzu gefügt werden, dass neue Gesetze wie das APG als Anträge bestimmter Personen oft mehrere Überarbeitungsvorgänge und parlamentarische Besprechungen durchlaufen, bis sie gegebenenfalls von der Regierung bewilligt werden. Dementsprechend geht es neben der Einpassung in den gegebenen rechtlichen Rahmen auch darum, das parlamentarische Kollegium zu überzeugen. Wie aus Abb. 1 hervorgeht, waren es in Frankreich überwiegend die „Anti-Kult“-Bewegungen in Kooperation mit den Enqu۶te-Kommissionen und später MIVILUDES beziehungsweise dessen Vorgänger MILS („Mission interministérielle de lutte contre les sectes“), welche die Informationen, die den Medien, aber auch den Parlamentariern zur Bewertung zur Verfügung standen, generierten und präsentierten. Dies verdeutlicht vor allem angesichts eines Mangels an nennenswerter alternativer, leicht zur Verfügung stehender Information, dass neben Framing-Prozessen die Kontrolle des verfügbaren Wissens über „Sekten“ nicht bei neutralen staatlichen Instanzen, sondern bei ideologisch positionierten Akteursgruppen und Individuen lag.285 Die „Sekten“-Gegner definierten damit im auch Parlament den Gegenstand, der verhandelt wurde, hatten also die „Definitionsmacht“ LQQ‫ތ‬G‫ތ‬V halb waren sie besser als anderen in der Lage, den Gegenstand in ihrem Sinne in andere relevante Debatten zu integrieren oder mit kulturellen Themen zu verknüpfen und so Einfluss zu nehmen. Aus diesen theoretischen Überlegungen lässt sich unter Einbeziehung empirischer Befunde die Fragestellung nach den Ursachen und Hintergründen der französischen „Sektenkonflikte“ in mindestens drei Richtungen präzisieren und im Anschluss daran operationalisieren:

285 Tuomas Martikainen stellte die Vermitteltheit von staatlichen Informationen über re ligiöse Minoritäten als generellere Tendenz fest und schreibt dies einem gewissen Desinteresse von staatlicher Seite zu. Tuomas Martikainen: „The New Religious Di versity and the State“, in: Diversity, Journal on Multiculturalism and Societal Inter action, 04.12.2013, URL: http://mcnet.utu.fi/diversity/2013/12/the-new-religious-di versity-and-the-state/; zuletzt eingesehen am 27.12.2013. Vgl. zu den personellen Überschneidungen der Enqu۶te-Kommissionen und MILS und MIVILUDES Kapitel 4.

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1. 2. 3.

Welche Kontinuität und Diskontinuität besteht in Bezug auf den Sektenbegriff auf dem Weg vom öffentlichen Diskurs zum Gesetz? Wer sind die Norminteressenten, die das Gesetz durchbringen wollen und warum? Welche Themen werden im Zusammenhang mit les sectes verhandelt und welche Bedeutungen werden damit über NRB und ihre potenziellen Gefahren hinaustransportiert?

Q UELLEN UND M ETHODEN Die aus den präzisierten Fragestellungen resultierenden methodologischen Überlegungen führen neben der Notwendigkeit dem eigentlichen Hauptteil vorausgehend die relevanten Akteure genauer zu bestimmen, zunächst zur Eingrenzung des zentralen Materialkorpus im ersten Hauptteil der Arbeit auf Rechtsquellen und parlamentarische Dokumente seit dem Jahr 1995, beginnend mit der Veröffentlichung des zweiten Enquête-Berichtes, dem Gest-Guyard-Report, bis zum Erlass des Gesetzes und der Folgezeit. Diese wurden bis jetzt im Gegensatz zu den öffentlichen Debatten vor den Jahr 1995 in der Forschungsliteratur kaum berücksichtigt, so dass mögliche Veränderungen in der Bedeutung des französischen Sektenbegriffs im Zuge seiner Politisierung und rechtlichen Kodifizierung und die Änderungen der Situation für NRB in Frankreich nach Erlass des Gesetzes weitestgehend unbekannt sind. Die Bestimmung der relevanten Akteure wird hier mit einem Rückgriff auf Bruno Latour und sein im französischen Kontext entwickeltes Konzept des groupbuildings vorgenommen, da die französischen „Sekten“-Gegner außerhalb der „Anti-Kult“-Bewegungen und MIVILUDES keine explizite corporate identity schufen (jedoch auch nicht in genannten Institutionen aufgingen), sondern ihre Gruppengrenzen gerade in Frankreich aus verschiedenen Gründen lediglich prozesshaft und verbal durch ihre Sprecherpersonen immer wieder neu inszenierten. Dies geschieht unter anderem über gegenseitige personelle sprachliche Referenzen und verbale Grenzbestimmungen, durch die hier der relevante Akteurskreis zu einem späteren Zeitpunkt auch in den sprecher-anonymeren parlamentarischen Debatten teilweise identifiziert werden konnte. Der erste Hauptteil der Untersuchung behandelt das About-Picard-Gesetz als Spezifikum der französischen „Sektenkonflikte“, setzt den Schwerpunkt jedoch auf die Debatten, die im Parlament der Implementierung des Gesetzes vorausgingen. Kollektive Akteure jenseits der vertretenen Religionsgemeinschaften sind aufgrund der Homogenität der Akzeptanz der „Anti-Sekten“-Agenda nur noch undeutlich wahrnehmbar, so dass hier

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die Verwendung des Sektenbegriffs und die mit ihm verknüpften Themen fokussiert werden. Im Zuge der ersten Sichtungen des zentralen Quellenkorpus, welcher die beiden Enquête-Berichte von 1995 und 1999, Gesetzesanträge, die Protokolle der parlamentarischen Debatten sowie den Gesetzestext und ausgewählte Urteilsbegründungen einschließt, wurde schnell deutlich, dass das Themenfeld fast während der gesamten Entwicklung der Debatten auf der Objektebene286 durch das Pejorativ ,sectes‘ oder Derivate wie ,sectaire‘ semantisch markiert wird. Da die Fragestellung durch die Sekundärliteratur sowie theoretisch vorstrukturiert ist, wird an dieser Stelle mit einer mehrstufig intertextuellen inhaltsanalytischen Untersuchung des Vorkommens und der Verwendung des Begriffs angesetzt, mit der das Material in einem ersten Schritt auf die Verwendung des Begriffs und seiner Derivate untersucht wird.287 Auf diese Weise wird das gesamte Vorkommen des Begriffs im angegeben Zeitraum erfasst, der Weg des Sektenbegriffs bis in das Gesetz hinein und so gleichzeitig der Prozess der Kriminalisierung von les sectes verfolgt werden. In einem zweiten und dritten Schritt werden die Bedeutung der Funde im objektsprachlichen Kontext sowie die damit verbundenen Themen untersucht, wobei der Wechsel der Quellenart von relativ freien Debatten hinzu regelgeleiteten Texten berücksichtigt werden muss. Besonders im zweiten und dritten Durchgang wird die Untersuchung im Anschluss an die Qualitative Inhaltsanalyse nach Gläser und Laudel288 – hier erneut für die verwendeten Quellenarten modifiziert – teil-standardisiert entworfen, um einerseits das Vorhandensein der in der Sekundärliteratur bereits angeführten Themen überprüfen zu können und anderseits offen für neue thematische Funde zu sein.289 Die Ergebnisse dieses Arbeitsschrittes, besonders die mit les sectes verknüpften Themen werden, den Ansatz von Laudel und Gläser überschreitend,290 im zweiten Hauptteil kontextbezogen, das heißt unter Hinzuziehung der Sekundärliteratur über Frankreich sowie 286 Von den Akteuren im Feld. 287 Siehe ausführlich Kapitel 5. 288 Jochen Gläser und Grit Laudel: Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse als Instrumente rekonstruierender Untersuchungen. 1. Aufl. Wiesbaden: VS, Verl. für So ziDOZLVVYJO&KULVWLDQHKönigstedt: Individualisierte Religiosität und der Ein fluss auf die praktische Lebensführung am Beispiel des„New Age“- Komplex. Uni versität Göttingen, Unveröffentlichte Magisterarbeit, 2008, dort S. 51 ff. 289 6LHKHDXVIKUOLFK.DSYJO*OlVHU/DXGHOExperteninterviews und qualitative In haltsanalyse, 2004, S. 192-210. 290 „Die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring ist keine Methode, die über das Ge sagte hinaus in die Tiefe der Sinnstrukturen vordringen kann (vgl. Flick 2006, S. 283), was in der modifizierten Variante nach Gläser ebenfalls nicht möglich ist, weil auch diese auf ausgesprochene Inhalte abzielt“ (Königstedt, praktische Lebensführung,

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der Ergebnisse aus Kapitel 4 und 6 theoriegeleitet hinsichtlich ihrer Aussagekraft über kulturelle Themen, Einstellungen und Motivationen verschiedener Akteure interpretiert und ausgewertet. Ein entsprechendes sozialkonstruktivistisches Modell in Kombination mit handlungstheoretischen Überlegungen Max Webers sowie unter Berücksichtigung von möglichen hörerorientierten Framings der Legitimationen wird ebenda vorgestellt, wodurch die Funde aus dem ersten Hauptteil systematisch zueinander in Bezug gesetzt werden können.291 Durch die strikte Trennung der inhaltliche Funde und deren Interpretation, ist eine präzise Erfassung des Vorkommens des Sektenbegriffs und seiner Ableitungen in verschiedenen Quellen, der expliziten thematischen Verknüpfungen auf Objektebene, gewährleistet,292 auf die die vertiefende Analyse der Bedeutung des Gesagten und Geschriebenen aufbauen kann. Der zentrale Untersuchungsaufbau stellt sich schematisch entsprechend wie in Abb. 2 dar. Zum relevanten Kontext des Gesagten zählen ebenso die viel zu wenig erforschten, theoretisch möglichen Implikationen der abgeschlossenen Rechtsetzung, deren praktischen Folgen für NRB in ihrer Anwendung, weitere Bestimmungen nach dem Jahr 2001 und die Entwicklung der Situation insgesamt, die in Kapitel 6 untersucht werden. Erst in diesem Zeitraum werden nicht nur die praktischen Folgen des Gesetzes für NRB, sondern auch dessen nachhaltige Wirksamkeit im Sinne eines dauerhaften Interesses oder eben Nicht-Interesses der Bevölkerung, mögliche Strategie-Wechsel der „Anti-Sekten“-Akteure und Reaktionen auf neue Medienereignisse293 sichtbar.

2008, S. 53). Eben dies wird hier über das in den Quellen Gesagte oder Geschriebene über die kontextbezogene Interpretation erweitert. 291 Siehe Kap. 8 IUGLHDXVIKUOLFKH(UOlXWHUXQJGHU.RPELQDWLRQYJODXFK&KULVWLDQH Königstedt: Religio-spiritual strategies of self-help and empowerment in everyday life. Selected cases of spirituality in Germany, in: Ahlbeck, Tore and Dahla, Björn: Post-Secular Religious Practices. Donnerska Institutet, 2012, S. 178-182, 183. 292 Vgl. Gläser und Laudel, Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse, 2004, S. 194. 293 Wie die „esoterische Apokalypse“ im Jahr 2012, siehe Kapitel 6.

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Abb. 2: Untersuchungsaufbau

1975 zivile Proteste

frühe Geschichte (vorläufige Bestimmung): relevante Akteure Argumen tatonsmerk male

1995 politische Verhandlungen

2001 ff. Gesetz und Anwendung

Mehrstufige Inhaltsanalyse Begriff, objektsprl. Bedeutung, verbundene Themen Enquêteberichte (1), 2, 3 Parlamentarische Protokolle propositions de loi

Gesetzestext Urteile, Urteilsprotokolle Augen- und Zeitzeugenberichte

1995 - 2001 Analyse der impl. Bedeutungen/ Kontextbezogene Interpretation

Legitimationsstrategien mentale Repräsentationen/ Intentionales Framing Motivationen/ Soziale und aktuelle kulturelle Bedeutungen

Rückbindung (wenn möglich) bestimmter Argumentations merkmale an die anfänglich herausgestellten Akteure.

Die beschriebene Vorgehensweise ermöglicht es, die Ursachen und Hintergründen der französischen „Sektenkonflikte“ innerhalb eines Spektrums von zweckgebundenen Interessen bestimmter Akteure bis hin zur Verteidigung kollektiver Werte und politischer Ideologien, systematisch zu erfassen und gleichzeitig die Genese der Konflikte (unter Einbeziehung der europäischen und internationalen Öffentlichkeit in Kapitel 6) nachzuvollziehen und bisher verbleibende Forschungslücken zum Thema der französischen Sektendebatten weiter zu schließen.

I. Das „Anti-Kult“-Milieu, die parlamentarischen Debatten und die Judikative

4. Die Genese der französischen „Sektenkonflikte“294

Wie eingangs angemerkt, ist sammelten sich „Sekten“-Gegner in einigen Organisationen, gingen aber nicht in diesen auf. Waren die „Anti-Kult“-Bewegungen anfänglich noch die zentralen und erkennbaren Akteure mit einer expliziten Identität als zweckbezogene Vereine, änderte sich dies mit der der Ausbreitung der Opposition gegen „Sekten“ in der Bevölkerung und unter Politikern immer mehr. Die Konturen der „Sekten“-Gegner als kollektive Akteure wurden dabei immer undeutlicher und überschritten Partei und Organisationsgrenzen und wurden als Einzelpersonen, als kooperierende Netzwerke und neben den „Anti-Kult“-Bewegungen in Kommissionen erkennbar.295 Sie werden im Folgenden als „Anti-SektenAggregat“296 in Bezug auf ihr ähnliches politisches Ziele weit gefasst und hier auf ihre personale Zusammensetzung und weitere ideologische Gemeinsamkeiten genauer bestimmt.

294 Dieses Kapitel basiert zum Teil auf dem Vortrag: „Action-response-areas“ within Frances conflicts on ,les sectes‘. Christiane Königstedt, EASR-Conference „Ends and Beginnings“, Södertörn Universität Stockholm 23.-26.08.2012b. 295 Vgl. Altglas, French Cult Controversy, 2008, dies. Laïcité, 2010. 296 „Aggregat“ im Sinne einer mehr oder weniger losen Ansammlung von Einzelpersonen mit in diesem Fall ähnlichem Interesse und ähnlicher Stoßrichtung, nicht einer kohä siven Gruppe, da die Fluktuation trotz Persistenz einiger Namen relativ hoch ist und die Verbindung hauptsächlich auf ein Thema beschränkt ist, vgl. Latour, Reassemb ling, 2005.

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L ATOUR

UND DIE

„N EUFASSUNG DES S OZIALEN “

Für die kollektive Erfassung der aktiven Verfechter der „Anti-Sekten“-Agenda wird auf Bruno Latour zurückgegriffen und dabei vorwiegend auf seine Analyse der selbstkonstituierenden Handlungen von „Gruppen“ (im weitesten, nicht streng soziologischen Sinne). Latour kritisiert als Anthropologe und Vertreter des Material Turn in „Reassembling the Social“297 die Verwendung „gebrauchsfertiger“ soziologischer Konzepte, die nur als vorübergehende Markierungen in der Empirie nützlich wären, aber statt dessen als Erklärungen verwendet werden würden. Seiner Meinung nach sollten Erklärungen aus der Deskription von Prozessen und daraus, wie Akteure „das Soziale“ erschaffen, generiert werden und nicht bereits vor der Untersuchung definiert werden.298 Dem entgegen wird die Notwendigkeit des reflektierten Gebrauchs soziologischer Konzepte, die ihrerseits in erklärungskräftige Theorien eingebunden sind und die ermöglichen, auf abstrakterer Ebene erklärende Aussagen über weitläufige und komplexe Prozesse zu machen, in dieser Arbeit nicht in Frage gestellt. Mit Latour ist es jedoch möglich, soziale Einheiten zu erfassen, die mit vorhandenen Konzepten nicht genau oder nur sehr umständlich bestimmbar sind, was hier in Bezug auf das „Anti-Kult-Aggregat“ einen unbedingten Vorteil darstellt. Die Actor-Network-Theorie, kurz: ANT, ist keine Theorie im klassischen Sinne und ebenfalls nicht in erster Linie eine Netzwerkanalyse. Sie ist, wie oft betont wird, eine alternative Ontologie insofern sie auf Prozesse anstelle von Stabilität299 fokussiert und die Innenperspektive radikal der wissenschaftlichen Konstruktion und Erklärung des Feldes vorzieht.300 Zusätzlich wirksame Faktoren (actants, ohne eigene agency301) werden mit berücksichtigt und sogar unbelebte Gegenstände – zum Beispiel eine Türklingel und ihre Betätigung – werden situativ als wirksame und handlungsbeeinflussende Faktoren verstanden.302 Auf diese Weise werden auf das menschliche Handeln mehr oder weniger

297 Bruno Latour: Reassembling the social – An Introduction to Actor-NetworkTheory. Erstausgabe, New York: Oxford University Press Inc, 2005. 298 Vgl. ebd. S. 1 ff., S. 21-25. 299 Vgl. ebd. S. 24. 300 Vgl. ebd. z. B. S. 28, 30 ff. 301 Zur Unterscheidung actor vs. agent siehe Laura M. Ahearn,: Language and Agency, in: Annual Review of Anthropology, 30, 2001, S.109-137, hier S. 113. 302 Latour, Reassembling, 2005, S. 63. Siehe als Beispiele praktischer Anwendung: Mark van Vuuren, François Cooren: My attitude made me do it. Considering the Agency of Attitudes, in: Human Studies, Volume 33, Issue 1, 2010, S. 85-10 in Bezug auf Re ligion siehe Utriainen, Terhi, Tuija Hovi and Måns Broo: Combining Choice and Des

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unsichtbar wirksame Faktoren, wie auch Prozesse in der blackbox des menschlichen Gehirns, historische Ereignisse oder Ideen als wirksame Faktoren „sichtbar“ gemacht und können zur beschreibenden Erklärung einer gegebenen Situation hinzu gezogen werden.303 Auch individuelle Erfahrungen werden als actants verdinglicht und können so leichter als Elemente eines Prozesses in die Analyse mit einbezogen werden. Latours Methode zur Untersuchung von Gruppen besteht darin, sich ausschließlich an die verfügbaren Primärquellen zu halten, die Innenperspektive der Akteure zu verfolgen und eigene Generalisierungen strikt zu vermeiden. Die Einbeziehung des Selbstverständnisses einer Gemeinschaft ist weder in der Soziologie noch für die Religionswissenschaft etwas Neues, doch trifft dies für die Radikalität der Forschungsstrategie, Metakonzepte zunächst völlig auszuschließen, zu. Diese Vorgehensweise stellt eine Möglichkeit dar, gerade in spezifischen Kontexten – wie hier dem nationalen französischen – jenseits bestehender Konzepte Situationen und deren Entwicklung zu verstehen, zu denen der Zugang über bereits stark verallgemeinerte Konzepte ansonsten sehr erschwert wäre. Darüber hinaus ist eine solche Untersuchung im Idealfall extrem dicht durch empirisches Material fundiert und kann aus einer anderen Perspektive gewonnene Forschungsergebnisse sehr gut ergänzen. In der Praxis beginne eine solche Untersuchung „irgendwo in der Mitte“ des Materials und des Geschehens und verfolgt sichtbare „Spuren der Handlungen“ von Akteuren.304 Ich beginne hier mit den Hauptfiguren hinter dem loi contre les ,dérives sectaires‘ oder ,mouvements sectaires‘, no 2001-504 du 12 juin 2001, Nicolas About und Catherine Picard, nach denen das Gesetz umgangssprachlich genannt wird. Auf sie stößt, zum Beispiel beim Durchblättern einer Tageszeitung im Juni des Jahres 2009, im Zusammenhang mit einem Artikel über die BeinaheAuflösung Scientologys.305 Dieser Fall wurde über die französischen Grenzen hin-

tiny: Identity and Agency within Post-Secular Well-Being Practices, in: Nynäs et. al., Post-Secular, 2012. 303 Die schwache Stelle dieses Ansatzes, das Einflüsse zwar sichtbar gemacht werden können, jedoch in Bezug auf das Ausmaß und die ganz genaue Wirkrichtung nicht gewichtet und exakt bestimmt werden können. 304 Latour, Reassembling, 2005, S. 27. 305 Zeitungsartikel in The Guardian und Le Figaro: Davies, Lizzy: Church of Scientol ogy goes on trial in France, in: The Guardian, 25.05.2009, (online). URL:http://www.guardian.co.uk/world/2009/may/25/scientology-france-fraud, Négroni, Angélique: Procès: la Scientologie risque la dissolution, in: Le Figaro, 23.05.2009, URL: http://www.lefigaro.fr/actualite-france/2009/05/23/01016/20090523ARTFIG00622-

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aus bekannt und wäre ein „durchschlagender Erfolg“ in der Bekämpfung so genannter „Sekten“ gewesen. Wären hier nicht ziemlich genau einen Monat vorher Änderungen zur Vereinfachung der Gesetzgebung umgesetzt und die Referenz zum entsprechenden Artikel – unbeabsichtigt306 – entfernt worden, hätte man nicht nur einzelne Mitglieder und Unterorganisationen finanziell belangt, sondern Scientology in Frankreich möglicherweise aufgelöst und verboten.307 Die Zeitungsartikel enthalten alle nötigen Hinweise auf Scientologys Probleme in Frankreich seit ihrer Gründung, verweisen ebenfalls auf die „Anti-Kult“- Bewegungen, die bereits seit Langem an der Weichenstellung für einen derartigen Prozess gearbeitet hatten, sowie auf weitere wichtige Schlüsselpersonen. So verfassten der ehemalige Senator Nicolas About und die heutige Präsidentin von UNADFI (Union nationale des associations de défense des familles et de lҲindividu victimes de sectes308), Catherine Picard den Entwurf für dieses Gesetz in Kooperation miteinander zwischen Parlament und Senat, sind darüber hinaus aber weder Partei-politisch noch institutionell direkt miteinander verbunden. Beide ermöglichen ihrerseits über sprachliche Referenzen auf und Kollaborationen mit anderen Personen den Zugang zur Erfassung anderer „Sekten“-Gegner, die auf das Gesetz hinarbeiteten. Im Material werden folgend bekannte Kooperationen (inklusive personaler Referenzen) und Beiträge, Mitgliedschaften in Parteien, Gremien oder Vereinen, deren potenzielle ideologische Orientierung über weitere Zugehörigkeiten eines großen Anteils der Mitglieder oder Schlüsselpersonen, Ereignisse und der personelle Übertrag zwischen verschiedenen Institutionen genauer betrachtet. Diese werden in Form einer Übersicht signifikanter Akteure innerhalb des Prozesses hin zur Verrechtlichung der französischen „Sektenkonflikte“ bis heute zusammengetragen. proces-la-scientologie-risque-la-GLVVROXWLRQSKS beide zuletzt eingesehen am 14. 12.2013. 306 So zumindest nach Aussage der Verantwortlichen. 307 Dass diese Gefahr letztendlich nicht bestand, wussten weder die Organisation noch die Medien zum Zeitpunkt des Prozesses und Scientology beschwerte sich über den durch ihre erneute negative Medienpräsenz ausgelösten erhöhten Druck auf die Orga nisation. Man habe sogar darüber nachgedacht, den Staat für diesen Fehler zu verkla gen. (Scientology Pressemitteilung, URL: http://www.ericroux.com/Communique-lEglise-Scientologie-poursuit-l-etat-francais-pour-1-million-d-euros_aKWPO zuletzt eingesehen am10.02.2013). Dies konnte jedoch nicht umgesetzt werden, da Staatsangestellte in Ausübung ihres Amtes Immunität genießen und nicht individuell verklagt werden können. 308 Deutsch: Nationale Vereinigung der Organisationen zum Schutz der Familie und Ein zelopfern von Sekten.

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Anschließend werden verbale Akte der Grenzziehung und Selbstdefinition des „Anti-Kult-Aggregats“ fokussiert und so der faktische Personenkreis, bis zu einem gewissen Grad, die Art der internen Verbindungen sowie Indizien einer kollektiven Identität herausgestellt und so der eher diffus wahrnehmbare Personenkreis anschaulicher erschlossen.

D AS „ANTI -S EKTEN -A GGREGAT “ AB 1995 – P ERSONEN , I NSTITUTIONEN , E INFLÜSSE Senator Nicolas About ist Mediziner und Präsident der Groupe Union Centriste, früherer Präsident und Sekretär in der Abteilung für soziale Angelegenheiten. Catherine Picard, die im Parlament die augenscheinlich stärker treibende Kraft war, ist seit dem Jahr 1997 Abgeordnete für die sozialistische Partei im Parlament und verantwortlich für die öffentliche Bildung. Beide erarbeiteten zusammen den ersten Entwurf des Gesetzes im Jahr 1998. Seit dem Jahr 2004 ist Catherine Picard auch Präsidentin der staatlich geförderten „Anti-Kult“-Organisation UNADFI. Ihr Engagement gegen les sectes ist weitreichend, zum Beispiel publizierte sie zusammen mit Anne Fournier die Monographie „Sectes, démocratie et mondialisation.“309 Fournier veröffentlichte ihrerseits bereits mit dem Psychiater Michel Monroy über „La dérive sectaire“,310 eine Arbeit, die vor allem einer Begriffsneubestimmung angesichts eines Wandels im Feld der „Sekten“ von charismatischen Gruppen hin zu individualisierten Klientenkulten diente. Nach Aussage des CAP LC (Coordination des Associations & Particuliers pour la Liberté de Conscience) und der Loge selbst ist sie Schwester der laizistischen Freimaurer-Loge „Droit Humain“.311 Ihre Reden enthalten viele Referenzen zu „Kollegen“ oder „Freunden“, die an der „Anti-Sekten“-Agenda mitwirken oder mitwirkten und sie wird vice versa selbst von diesen häufig genannt. Aufgrund ihrer weitreichenden Vernetzung und ihres Hauptredeanteils, ragt sie als eine, wenn nicht die zentrale Figur heraus und wird aus diesem Grund in der folgenden Übersicht über die Akteurskonstellation in den Mittelpunkt gestellt.

309 Anne Fournier und Catherine Picard: Sectes, démocratie et mondialisation. PUF, 2002. 310 Anne Fournier und Michel Monroy: La dérive sectaire. PUF, 1999. 311 CAP LC-Webseite, URL: http://www.coordiap.com/press2961-amorc-picard- setes. htm, zuletzt eingesehen am 25.03.2013. L'Express/Blogs, Eintrag vom 23.10.2010, URL: http://blogs.lexpress.fr/lumiere-franc-macon/2010/10/23/godf-chez-lamorc-ca therine-picard-repond-a-philippe-JXJOLHOPL zuletzt eingesehen am 25.03.2013.

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Abb. 3: Das „Picard-Netzwerk“

Parlament

Senat

[Picard, Abgeordnete, Mitglied Parti Socialiste

[Nicholas About, Union Centriste]

UNADFI Präsidentin 1992-2001: Tavermier seit 2004: Picard

TS*

EnquêteKommission 1994

**

MILS/MIVILUDES 1998 Vivien (PS) 2002 Fenech (UMP) seit 8/12 Blisko (PS)

CCMM

C.Picard anfangs vorwiegend katholisch

Parti Socialiste [ebenfalls: Alain Vivien, Autor des Berichtes 1983]

Grand Orient Loge: Droit Humaine

ab 1997: Vivien

atheistisch laizistisch

---- Zur-Verfügung-Stellen von Informationen, Kooperation „Personeller“ Übertrag Direkte religiös/ideologische Prägung, Verbindung oder Zugehörigkeit *Selbstmorde/Morde (?) im Temple Solaire 1995. **u. a. MM. Alain Gest, Jean-Pierre Brard, MM. Eric Doligé, Martine David, (Aus GHPHUZHLWHUWHQ8PIHOG0LFKHO0RQUR\QXU0,/66HQDWRU1$ERXW-HDQ-MaULH$EJUDOO$QQH)RXUQLHU$QJDEHQELV).312 Die roten Pfeile in der Grafik zeigen personelle Überschneidungen der verschiedenen Einrichtungen an: Catherine Picard wird nicht namentlich als Mitglied der Enquête-Kommission von 1995, aus deren Arbeit der Gest-Guyard-Bericht hervor ging, geführt. Die Einrichtung der ersten Enquête-Kommission wurde jedoch vorwiegend von anderen Mitgliedern der sozialistischen Fraktion (Parti Socialiste) 312 No 272 du 24 novembre 1998, S. 17731, N25350;$-25)QRGX7 février 2001, S. 2088, NORPRMX0104659A.

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im Parlament durchgesetzt,313 in die Picard erst im Jahr 1997 gewählt und damit Abgeordnete im Parlament wurde. Ihr Kooperationspartner About war von 1998 (bis 2001) auch Mitglied von MILS (Mission interministérielle de lutte contre les sectes314), dem interministeriellen Ausschuss für „Sektenfragen“. Bereits im Jahr 1983 erarbeitete Alain Vivien, der wie Picard Mitglied der Parti Socialiste ist (Picard verweist an mehreren Stellen mit großer Wertschätzung auf ihn), im Auftrag des damaligen Premierministers den so genannten VivienBericht „Les sectes en France – Expression de la Liberté morale ou facteurs de manipulations?“,315 welcher im Vergleich zu späteren Berichten noch als „moderat“ einzuordnen ist. Im Jahr 1997 wurde er Präsident der laizistisch-atheistisch geprägten „Anti-Kult“-Organisation CCMM (CENTRE ROGER IKOR-Centre Contre les Manipulations Mentales316) und im Jahr darauf Vorsitzender von MILS. Diesen Posten verlor er, genauer, er wurde angeblich wegen (nicht nachgewiesenen) Missbrauchs des MILS-Budgets für Auslandsreisen im Dienste anderer humanitärer Organisationen denen er vorstand, umgangen, als im Jahr 2002 MILS durch MIVILUDES (Mission interministérielle de vigilance et de lutte contre les dérives sectaires317) ersetzt wurde. Seitdem tritt er in der „Sektenfrage“ kaum noch in Erscheinung. MIVILUDES ist gegenwärtig die staatliche Einrichtung, in denen sich überwiegend „Sekten“-Gegner verschiedener politischer Fraktionen, vor allem aber aus dem linken Spektrum und ähnlich eingestellte Wissenschaftler sammeln, darunter mehrere ehemalige Mitglieder der Enquête-Kommission von 1995.318 Unter ihnen war neben Alain Gest auch Jean-Paul Brard (assoziiert mit der kommunistischen Partei) der zusammen mit Jaques Guyard den zweiten Enquête-Berichts „Les sectes et lҲargent“ (1999) verfasste. Catherine Picard wurde erst im Jahr 2006319 Mitglied von MIVILUDES, hatte aber bereits seit dem Jahr 2004 das Amt der Präsidentin UNADFI inne. UNADFI wurde nach deren Selbstdarstellung bereits im Jahre 1974 von Eltern gegründet, deren Tochter der Unification Church beigetreten war. Die Moonis waren zunächst auch die einzige

313 Vgl. GGR S. 1-3. 314 Deutsch: Interministerieller Ausschuss zum Kampf gegen die Sekten. 315 Rapport au premier ministre, La Documentation Française, 1985. 316 Deutsch: Roger Ikor-Zentrum gegen mentale Manipulation. 317 Deutsch: Interministerieller Ausschuss zur Überwachung und Bekämpfung sektie rerischer Abweichungen. 318 Abb. 3 **. 319 Liste der Mitglieder. Stand Februar 2013 auf der MIVILUDES-Hompage: KWWSZZZPLYLOXGHVJRXYIUPLVVLRQVRUJDQLVDWLRQ ]uletzt eingesehen am 10.02. 2013.

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Gruppe, gegen die sich die Aktivitäten UNADFIs (zu diesem Zeitpunkt noch lokal, also: „ADFI“) gerichtet hätten. Die Organisation arbeitete zu diesem Zeitpunkt eng mit den katholischen Priestern Jean Vernette und Jaques Trouslard zusammen, die anfangs aufgrund der Nähe zu ihren eigenen Gemeinden nahe genug an den Menschen waren, um dort religiöse Abweichungen wahrzunehmen zu können.320 Auch heute würden sich viele, die der katholischen Kirche nahe stehen, an UNDAFI wenden oder sich hier engagieren. Eine andere wichtige und bereits oben genannte „Anti-Kult“-Bewegung in Frankreich, das Centre Roger-Ikor,321 kurz: das CCMM, entstand 1981, nachdem dessen Sohn sich mutmaßlich unter dem Einfluss der Gruppe Zen-Yoga macrobiotique umgebracht hatte.322 Beide Organisationen teilen also einen ähnlichen Gründungsanlass und unterscheiden sich hauptsächlich durch ihre katholische beziehungsweise laizistische Prägung, in der Praxis durch die Betonung der religiösen Abweichung von les sectes und die Betonung der Gefahr psychischer Manipulation. Die so gewonnene Übersicht bestätigt einerseits Picard als eine gut vernetzte Schlüsselperson, die vielfältig involviert ist und andererseits signifikante personelle Überschneidungen zwischen den „Anti-Kult“-Bewegungen UNADFI und CCMM und den staatlichen Behörden MILS und MIVILUDES über einen längeren Zeitraum. Diese haben wahrscheinlich auch pragmatische Hintergründe, insofern es sich bei den Besetzungen um Personen handelte, die bereits mit dem Thema vertraut waren, allerdings zeugt die über Jahre währende Partizipation im „Kampf gegen Sekten“ ebenso von beträchtlichem Engagement bei den betreffenden Personen, sich weiter für dieses schwierige und möglicherweise wenig prestigeträchtige Thema zu engagieren.323 Eine leichte Mehrheit der namentlich genannten Personen stammt im Zeitraum von 1983-2010 aus dem linken politischen Spektrum und der Parti Socialiste,324 ist jedoch mitnichten hierauf beschränkt. Die

320 :HEVHLWH 81$'), 85/ www.unadfi.org Webseite CCMM, URL: http://www. FFPPDVVRIU zuletzt eingesehen am 10.02.2013. 321 So genannt nach seinem Gründer seit 1986, siehe Webseite CCM0]XOHW]WHLQJHVH hen am 10.02.2013. 322 Vgl. für die Daten und Gründungsgeschichte: ebd. 323 Weitere Verbindungen und Referenzen zwischen Personen und Organisationen werden häufig durch mündliche Referenzen angezeigt und folgend an gegebener Stelle ergänzt. 324 Auch Duvert (Anti-Cultism,  Sectes et Droit, 2004) bemerkte einen immer mehr zunehmenden Einfluss säkularistischer Haltungen in den parlamentarischen Debatten, die an späterer Stelle in dieser Arbeit genauer untersucht werden.

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ursprünglichen „Anti-Kult“-Bewegungen hatten katholische und laizistische Hintergründe, wobei anzumerken ist, dass katholische Akteure später auf politischer Ebene kaum in Erscheinung traten.

S ECTE

UND

A NTI -S ECTE

Nachdem diese Übersicht der in Erscheinung tretenden Akteure, Einflüsse und ihrer Verbindungen erstellt ist, wird nun nach möglichen verbalen Äußerungen kollektiver Identität gesucht. Da eine genaue Bestimmung des Sektenbegriffs in den nächsten Kapiteln ausführlich besprochen wird, wird sie an dieser Stelle bis auf die Feststellung, dass die „Sekten“-Gegner ohne diese Kategorie schlicht ihres zentralen Themas und ihres definierenden Gegenbegriffs entledigt währen, ausgespart und stattdessen auf die AKB und die politischen Akteure fokussiert. Nach Latour325 gibt keine kollektiven sozialen Akteure, keine Gruppe im Sinne von ANT,326 die nicht kontinuierlich ausgehandelt werden würde, weshalb er alle a priori- Kategorien durch „Aktivitäten der Gruppenkonstituierung“ (group-making activities) durch die Gruppe selbst ersetzt. Neben faktischen Verbindungen von Einzelpersonen und Institutionen seien es – oft verbale vermittelte – performative Grenzziehungen zu anderen Gruppen und die Bestimmung und Aushandlung der eigenen Gruppenidentität, welche in Abwesenheit einer nominalen kollektiven Bezeichnung die „Spuren“ des group-making darstellten. Diese „Spuren“ fasst Latour wie folgt systematisch zusammen: 1. Das group-making in Form der Beschreibung der Referenzgruppe beinhaltet normalerweise auch die Zuordnung von Anti-Gruppen (hier überdeutlich „Sekten“). 2. Gruppen bräuchten Sprecher (group talker) und ebenso Personen, die die Gruppen auf performativer, praktischer Ebene etc. konstituieren (group-makers) sowie group-holder (mediators, z. B. Namen von Gruppen, Symbole etc.).327

325 Latour, Reassembling, 2005, S. 20-36. 326 Den Gruppenbegriff fast immer verwendend, ihn jedoch inhaltlich und in Bezug auf seine Größenordnung unbestimmt lassend, spricht Latour an anderer Stelle auch von „Vergruppungen“, die wiederum das „Soziale“ konstituieren. Als „Gruppe“ können bei Latour also fast jede Art Vergemeinschaftung verstanden werden (vgl. La tour, Reassembling, 2005, S. 29). 327 Latour, Reassembling, 2005, S. 31 ff.

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3. Eine Gruppe muss Ressourcen mobilisieren und ihre Grenzen stabilisieren. Solche Ressourcen können finanzielle sowie intellektuelle sein, oder andere Formen von Spezialisierung, oft in Form unterstützender und kooperierender Personen. 4. Die Gruppen-Selbstbeschreibung sowie die Produktion von Gruppenkohäsion werden rhetorisch (sprachlich), über Mythen, Recht, Theorie oder Geschichte (Geschichtsschreibung) vollzogen.328 5. Soziale Aggregate wie „Gruppen“ haben also keine vordefinierte Größe oder Struktur und sind nach Latour nur „Gegenstand performativer Definition“, durchgeführt von Akteuren, die selbst involviert sind.329 Sie benötigen den kontinuierlich betriebenen Aufwand der Durchführung performativen Handelns – im Sinne einer Selbstpräsentation und dem Konstruktion von Kontrastgruppen – sowie wenigstens auch die konstante Aktivität in der Erschließung materieller und intellektueller Ressourcen.330 Dabei ist m.E. zusätzlich eine mögliche intentionale Performanz, das heißt, eine Bewusste Selbstdarstellung gegenüber bestimmten Plena auf semantischer Ebene von praktischen Handlungen und Fakten wie der Ressourcengenerierung analytisch zu unterscheiden. In ersterem Zusammenhang müssen zudem Unterschiede in Rhetorik und Argumentationsweise in unterschiedlichen Kontexten mit berücksichtigt und kenntlich gemacht werden.331 Dies wurde hier bereits durch die Ebd. S. 35-37. Latour benutzt den Begriff des group holders im Weiteren vorerst nicht, verweist allerdings auf Durkheims Analyse des Totems, insofern der group holder als Symbol der, wenn auch flüchtigen, Gruppenidentität, verstanden werden kann. Er ändert sich mit den Attributionen, aktualisiert aber dennoch in seiner Kontinuität die Zugehörig keit zur Gruppe für die Mitglieder. Latour spricht im Aktiv hier dezidiert von media tors (nicht: intermediariesYJO6 39) um Letzteres, bzw. die Ungleichheit von Input und Output (d. h. die ursprüngliche Bedeutung und die sich partiell wandelnde Inter pretationen) zu betonen (vgl. Latour, Reassembling, 2005, S. 37-42). 328 S. 32. 329 S. 34. 330 S. 30-36. 331 Dies ist wichtig, um die Ergebnisse auch für nicht Performanz oder Diskurs-orientierte Untersuchungen verwenden zu können. Scientology beschreibt sich selbst zwar z. B. mit überhöhten Mitgliederzahlen, mobilisiert gleichzeitig sichtbar relativ große finan zielle und intellektuelle Ressourcen ohne dies in die verbale Performanz direkt mit einzubeziehen. Gruppen reagieren also auf performativer Ebene auch auf ihre Um welt, was in der Darstellung des Materials zu berücksichtigen ist.

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räumliche Trennung des „Picard-Netzwerkes“, welches personelle und institutionelle Überschneidungen sowie potenzielle Einflüsse deutlich machen soll, umgesetzt und nun folgend die Selbst- und Fremdbeschreibungen der „Sekten“-Gegner genauer betrachtet. Da die Geschichte der französischen „Sektenkonflikte“ bereits in den 1970er Jahren begann, Catherine Picard jedoch erst in den 1990er Jahren im Geschehen sichtbar wurde, wird die frühe Genese der Konflikte von dieser Perspektive auf der Basis von Expertenberichten und der Selbstdarstellungen der „Anti-Kult“-Organisationen skizziert.

Das frühe „Making-of-Anti-Sectes“(1975-1995) Die „Anti-Kult“-Akteure suchten von Anfang an Kontakt zur Öffentlichkeit. Überwiegend waren es besorgte Angehörige, deren Ehepartner oder Kinder neuen religiösen Bewegungen beigetreten waren, aus welchen sich die AKB, allem voran UNADFI und das CCMM bildeten. Ihre jeweiligen Botschaften und ihr jeweiliges Selbstverständnis wurden dabei sehr deutlich gemacht: sie, Eltern und Familien, hatte sehr schlechte Erfahrungen mit bestimmten Gruppen gemacht, wollten andere warnen und gegen die „Sekten“, die ihre Familien geschädigt hatten, vorgehen. Der erste Artikel, den UNADFI in den späten 1970ern in der Tageszeitung lҲOuest France veröffentlichten, führte laut eigener Aussage dazu, dass sie selbst als Experten angesehen wurden, so dass andere besorgte Eltern sich wiederum an sie wendeten. In den Anfängen finanzierten sie sich überwiegend selbst und mit zunehmender Reputation auch über Spenden.332 Durch ihren Ruf als Experten und durch die Kooperation mit den gemeindenahen katholischen Priestern akkumulierten wiederum einseitige Informationen von besorgten Personen in den Händen UNADFIs und des CCMM, während keinerlei andere, akademisch generierte oder neutralere, Information zur Verfügung stand. Dadurch hatten die AKB in diesem Zeitraum die Informationshoheit inne und avancierten ebenfalls zu den Hauptinformanten der Medien. Die AKB verstanden und kommunizierten sich als „Speerspitzen der Sekten-Bekämpfung“ und zeitweise seien über vierhundert Pressemitteilungen am Tag mit negativen Berichten über „Sekten“ an Zeitungen, Radio und Fernsehen gesendet und zusätzlich Flugblätter und anderes Informationsmaterial verbreitet worden.333 Zudem seien Firmen angerufen und über mutmaßliche Mitgliedschaften ihrer Angestellten in „Sekten“ oder einen entsprechenden Verdacht informiert worden, was oft zu deren 332 Webseite UNADFI. 333 Thierry Bécourt: La nouvelle chasse aux sorcières, o.O: Omnium Éditions, 2002 Palmer 2011.

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Entlassung geführt habe. Andere Aktivitäten der AKB schlossen Demonstrationen vor Geschäften, deren Inhaber verdächtigt wurden oder aber das Informieren von Hotelbesitzern und Bürgermeistern, wenn eine Gruppe dort Räumlichkeiten mieten wollte, mit ein. Die Medien übernahmen die Rolle des mediators insofern sie die Empfängerschaft der Botschaft „Sekten sind gefährlich“ nicht nur multiplizierten, sondern mit ihrer eigenen Autorität ein wichtiger Akteur der „Anti-Sekten“-Kampagnen wurden, die mittels des Fernsehens auch stärker emotional aufgeladenen werden konnte. In Fernsehsendungen berichteten in dieser Zeit besorgte bis verzweifelte Geschädigte und Augenzeugen, die sich familiär für direkt betroffen hielten, von ihren negativen Erfahrungen und verbreiteten viele, zum Teil stark übertriebene oder schlicht falsche Neuigkeiten, wie sich in einigen Fällen in späteren Gerichtsverhandlungen herausgestellt habe. Nach Palmer verloren, ignoriert von den Medien, auch einige der mutmaßlichen Opfer die von ihnen initiierten Gerichtsprozesse, was den Eindruck verstärkt habe, einige Journalisten hätten ihre Karriere im Sog der negativen Berichterstattung ausbauen wollen.334 Die AKB, die sich selbst ebenso als besorgte, organisierte (ehemals) Betroffene, die aufgrund ihrer Erfahrungen und Informationen als Experten weiterhelfen konnten, stilisierten,335 hatten also die Funktion der Aufklärung der Bevölkerung übernommen. Vor dem Hintergrund dieses Engagements zur Hilfe anderer, konnten nicht nur Spenden gesammelt, sondern zum Beispiel in Bezug auf die Publikation von Zeitungsartikeln, Spezialisten zur Unterstützung mobilisiert werden.336 Nachdem 1983 zum ersten Mal der Staat Interesse zeigte und Alain Vivien mit der Untersuchung des „Sekten“-Phänomens und dem Anfertigen eines Berichtes beauftragt wurde, geschah lange Zeit von staatlicher Seite nichts. Dies änderte sich gegen Anfang der 1990er Jahre. Die Konflikte zwischen kleinen, nicht-traditionellen religiösen Gruppen und UNADFI, CCMM und der Bevölkerung wurden wieder eine Angelegenheit, in die sich die Autoritäten einmischten. Die erste Enquête-Kommission wurde einberufen um die Gefahren, die von les sectes ausgehen könnten, zu untersuchen. Religionswissenschaftler und Soziologen waren dabei ausgeschlossen. Stattdessen wurde als Experten vorwiegend auf die AKB und darüber hinaus auf Psychologen wie den eindeutig gegen „Sekten“ eingestellten Jean-Marie Abgrall zurückgegriffen. Er propagierte eine eigene Modifikation der US-amerikanische „Brainwashing“-Theorie für den europäischen Kontext in französischen TV-Shows.337 Drei Tage nach der Veröffentlichung des ersten Enquête334 Palmer, Heretics, 2011, S. 33-580, siehe auch Hincker 2003. 335 Webseite UNADFI. 336 Ebd. 337 Palmer, Heretics, 2011, S. 160-161.

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Berichtes kam es zum zweiten Mal, diesmal in Frankreich, zu einem tödlichen Unglück bei den Sonnentemplern, was die Glaubwürdigkeit dieses Berichts und seiner Autoren in den Augen von Kollegen und der Öffentlichkeit wahrscheinlich stark erhöhte. Dieses Zusammenfallen muss jedoch nicht als überraschend gewertet werden, da eine Zunahme an Spannungen deutlich früher abzusehen war, insofern die Anzahl der zivilen wie gerichtlichen Konflikte bereits der der 1980er Jahre stark angewachsen war und den Druck auf die Gruppen erhöhte. Im Jahr 1992 erschoss ein Vater seinen Schwiegersohn in spe auf offener Straße um seine Tochter zu schützen, nachdem er darüber informiert worden war, dass ihr zukünftiger Ehemann Mitglied in einer „Sekte“ sei.338 Zur selben Zeit wurden die Zeugen Jehovas in einen Prozess wegen Steuerhinterziehung involviert, welcher der Gemeinde großen finanziellen Schaden zufügte. Auf der anderen Seite nahmen die Klagen von Gruppen gegen UNADFI und dem CCMM wegen Denunziation zu.339 Die AKB werden im an mehreren Stellen explizit als Informanten der Kommission genannt und nach der Veröffentlichung des Berichts folgten nicht nur die die Einrichtung von MILS, sondern auch die Anerkennung als gemeinnützig und damit die staatliche Subventionierung UNADFIs und des CCMM im Jahr 1996. Auf der Basis des GGR wurden in der Assemblée Nationale die Gefahren von „Sekten“ und die rechtlichen Möglichkeiten gegen sie vorzugehen diskutiert, was im Juni 2001 im Erlass des „About-Picard“-Gesetzes mündete. Die Politisierung der Konflikte veränderte die Rolle der AKB, womit im nächsten Abschnitt fortgefahren wird. Mit MILS 1998 und seit 2002 MIVILUDES sind es staatliche Ausschüsse, die die Sprecherfunktion zu großen Teilen übernommen haben, was die Autorität der AKB als Informanten deutlich in den Hintergrund rückte. Gegenwärtig präsentieren sich letztere Organisation und die Umstände ihrer Gründung ähnlich wie damals, während ihr Schwerpunkt stärker auf der Opferhilfe als auf ihrer früheren Rolle als Informanten liegt.340 MIVILUDES, die staatliche Behörde zur Beobachtung von „Sekten“, arbeitet mit einer an die Rechtsetzung angelehnten Definition von „Sekten“. Unterschiede zwischen den zivilen Aktivisten (den AKB) und der politischen Agenda (einer deren Vertreterinnen Catherine Picard ist) werden an den Entwicklungen nach 2001 deutlich. Janine 338 Bécourt, chasse, 2002, S. 5 f. 339 Vgl. Hincker, Rumeurs, 2003, S. 47 f., S. 63-77. 340 Seine Agenda beschreibt UNADFI etwas breiter gefasst: „L‫ތ‬étude des principes et méthodes des organisations de type sectaire, – LҲaccueil et lҲaide aux familles et personnes victimes de ces organisations. – LҲinformation auprès d'un large public, – Le regroupement des personnes touchées par ce problème, – LҲaide à la réinsertion de personnes sorties dҲun groupe sectaire“, UNADFI-Homepage, URL: http://www .unadfi.org/-Qui-sommes-nous.

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Tavernier, Präsidentin UNADFIs zwischen 1992 und 2001, begann an die Möglichkeit eines Brainwashing zu glauben, nachdem ihr Ehemann einer Gruppe namens Ecoovi beigetreten war. Als dieser nach etwa vier Jahren zurückkehrte, habe sie deutliche Veränderungen in seiner Persönlichkeit wahrgenommen und wurde daraufhin Aktivistin für ADFI, begann jedoch die Organisation nach 2001 und besonders nach 2004 (Übernahme des Amtes durch Picard) zu kritisieren. Bereits 1999 wurden zusätzlich zur Gest-Guyard Liste weitere Gruppen, darunter die Anthroposophie, im Guyard-Brard Bericht angeführt, im Jahr 2006 in einem Bericht MIVILUDES‫ތ‬341 genauer untersucht und so die inoffizielle schwarze Liste ergänzt. Tavernier geriet selbst ins Visier der Kritik, da ihre Enkelkinder eine Waldorfschule besuchten: »2001 hatte ich das Gefühl, dass wir uns auf einen Pfad der Hexenjagd zu bewegen. Heute bin ich besorgt, wenn ich höre, dass die jetzige Präsidentin von UNADFI (Catherine Picard) alle evangelikalen Kirchen Réunions (mit „Sekten“) zusammen wirft. Ich war immer gegen die Publikation eine Liste von „Sekten“. Ich traue mich kaum zu sagen, dass ich Homöopathie benutze.«342

Das Selbstverständnis und die Auffassungen darüber, was akzeptabel ist und was nicht, driften auseinander und Tavernier, die dem Aktivismus gegen Sekten UNADFIs fast zehn Jahre leitend vorgestanden hat, sieht sich nun selbst davon betroffen.

Catherine Picard als „group-talker“ Obwohl sich, wie die obige Abbildung des „Picard-Netzwerks“ zeigt,343 neben Catherine Picard die jeweiligen Vorsitzenden der AKB, MILS und MIVILUDES, die Enquête-Kommission von 1995 mit Alain Gest und Jaques Guyards sowie Gest und Brard im Bericht von 1999 öffentlich äußern, ist Catherine Picard wohl mit am prominentesten und steht der Presse auch für kurze Beiträge als Gesprächspartner zur Verfügung. Sie fungiert in vielen Fällen jenseits der gesetzten Berichte 341 Fenech, Georges, Vuilque, Philippe (2006): RAPPORT N° 3507, fait au nom de la commission d‫ތ‬enquete relative à l‫ތ‬influence des mouvements à caractère sectaire et aux conséquences de leurs pratiques sur la santé physique et mentale des mineurs. Assemblée nationale le 12 décembre 2006. 342 Xavier Ternisien, Le Monde, 11/2006, zitiert nach Palmer, Heretics, 2011, S. 16 (Übersetzung ins Deutsche durch Autorin). 343 Abb. 3.

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als eine Sprecherin der Agenda, so dass folgend eine ihrer Reden und eines ihrer Interviews exemplarisch untersucht wird. Die Selbstbeschreibung des politischen „Anti-Sekten“- Aggregats ist am kompaktesten und deutlichsten aus Texten zu erschließen, die an ein internationales Publikum gerichtet sind. Denn besonders hier soll ein positiver Eindruck erzeugt werden und es kann weniger Vorwissen vorausgesetzt werden, was oft zu ausführlicheren Selbsterklärungen führt. Innerhalb Frankreichs sind les sectes eng mit den Themen des Schutzes der französischen Bürger und der Gesellschaft verknüpft und die involvierten Politiker versuchten und versuchen, ihre Überzeugung gegenüber der Regierung zu vermitteln.344 Catherine Picard verteidigt die französische „Sekten“-Politik, die international und vor allem von den USA auf Kritik stößt, auf internationalen Konferenzen und artikuliert dabei ihre eigene, aus Forscherperspektive nur schwach konturierte Referenzgruppe. Exemplarisch ausgewählt wurde hier einerseits ein relativ langer Vortrag vom 16.11.2010, in dem Picard als Vertreterin MIVILUDES‫ ތ‬über „Manipulation und Ausbeutung junger und verletzlicher Menschen durch schädliche Gruppen: Gesetzgebende Maßnahmen auf Europäischer Ebene – Das Gesetz „About-Picard“. – Die Entwicklung der Sekten in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts“345 sprach. Dieser wird in Bezug auf die Äußerungen, die Rückschlüsse auf die „Gruppe“, für die Picard spricht, zulassen, ausgewertet. Gleich zu Beginn fällt auf, dass Picard im Namen des französischen Staates zu sprechen vorgibt, wozu sie der Erlass des Gesetzes auch in gewisser Weise legitimiert. Dies ist zum Teil jedoch irreführend, denn, wie Altglas346 herausstellte, ist das Bureau de Cultes, ebenfalls eine staatliche Einrichtung und oft nicht der Meinung von MIVILUDES, als deren Vertreterin Picard präsent ist. Im Rahmen der Gesamtproblematik legt Picard den Schwerpunkt auf die Opfer von „Sekten“, welche schädlich und kriminell seien und bereits zu lange in ihrem Handeln hätten fortfahren können. Sie fügt hinzu, es sei Frankreichs AufJDEH DOV1DWLRQ JDQ](XURSD]XZDUQHQGLHVZLUGMHGRFK– für die Bevölkerung – an anderer Stelle relativiert, wenn gesagt wird, dass viele Menschen nur bei größeren Medienereignissen aufgebracht seien, dies aber nicht dauerhaft anhalten 344 Vgl. hier Kapitel 5 und 8. 345 Catherine Picard: Manipulations et exploitation des jeunes et des personnes vulnérab les par des groupements nuisibles: Actions Législatives au Niveau Européen. La Loi „About-Picard“, Conférence Internationale - Rijeka (Croatie) 26.11.2010. Deutsch: „Manipulation und Ausbeutung junger und verletzlicher Menschen durch schädliche Gruppen: Gesetzgebende Maßnahmen auf Europäischer Ebene“. Das Gesetz „AboutPicard“, URL: http://ebookbrowse.com/catherine-picard-de-pdf-d249362662]XOHW]W eingesehen am 27.2.2013. 346 Altglas, French Cult Controversies, 2008, S. 61 ff.

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würde. Ihre eigentliche referenzielle Untergruppe wird in diesem Zusammenhang beschrieben als die Politiker, die im Prozess der Schaffung eines Gesetzes beteiligt waren. Als früher Vorreiter wird namentlich Alain Vivien genannt. Picard stellt die Durchsetzung des Gesetzes, das einerseits „Sekten“ bekämpfen, aber andererseits individuelle Freiheiten nicht einschränken durfte, als „harte Arbeit“ (und die Beteiligten dabei als sehr engagierte Personen) dar, welche gerade in Anbetracht der zeitnahen Tragödien unbedingt notwendig gewesen sei. In der Aufzählung ihrer Informanten betont sie zu Unrecht deren Vielfalt, denn die Aufzählung enthält zwar Ärzte, Kleriker, Mitglieder der AKB, Ex-Mitglieder und sogar Ex-„Gurus“ von „Sekten“, aber niemanden, der aktuell aktiv in einer so genannten „Sekte“ oder gar deren offizielle(r) Sprecher(in) oder entsprechend wissenschaftlich ausgebildet ist. Dies zeigt eine strikte Abgrenzung, wahrscheinlich aber auch einen Ausschluss aufgrund von Misstrauen vonseiten der NRB, die vice versa explizit als „Gegner“ beschrieben werden. Einzelne wichtige Argumentationslinien, mit denen auch das APG in Frankreich legitimiert wurde (von den Menschenrechten bis hin zur Trennung von creeds und deeds) beschreibt Picard, wie die Inhalte des Gesetzes, detailliert. Ihre weiteren Aussagen spezifizieren ihre Auffassung französischer Nationalität, die ihre Hauptreferenz darstellt: Frankreich habe in der Vergangenheit ,die Republik als Organisationsform gewählt, welche die Freiheit, Vereine zu gründen und die freie Religionsausübung garantiere‘. Darüber stehe allerdings die Demokratie: „Aufklärung, Bildung, Fortschritt, Emanzipation, Staatsbürgerschaft – Werte, welche man als universell gültig annehmen können“. Die Kritik, die ihr und ihren Kollegen entgegen gebracht wird, beantwortet sie mit dem Zitat eines Wissenschaftlers, in dem „sektiererische Behauptungen“ das „Schutzzeichen des Glaubens“ benützten, jedoch eigentlich behaupteten „[...] jede kritische Haltung sei eine Art der Verfolgung, der Intoleranz, eines Widerstandes gegen Veränderung [… [oder]] einer mentalen Unfähigkeit, zu Spiritualität zu gelangen [...]“. Nach Picard sei dies eine klassische Argumentation [...] welche Spiritualität mit Religion und jede genuin laizistische Meinung mit grobem Materialismus gleichsetzt.“ Damit kommuniziert sie eine Empfänglichkeit für Kritik an der Wertigkeit säkularer Philosophie, die eine religiöse Meinung durchaus ernst zu nehmen scheint, auch wenn sie ihr nicht zustimmt. Der laizistische Standpunkt, dem sie sich und die Ihrigen zuordnet, sei feingeistiger als „simpler Materialismus“, wie sie später mit der Betonung einer moralischen Verantwortung verdeutlicht. Zugleich deuten ihre detaillierten Ausführungen eine gewisse emotionale Gebundenheit an ihre Überzeugungen, die eng mit der „Nation“ verknüpft sind

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oder sollen diesen Eindruck zumindest erwecken. Noch deutlicher wird sie in einem Kommentar von 2008,347 der für ein französisches Publikum bestimmt ist und in dem sie sich gegen einen geplanten großzügigeren Umgang mit den spiritualités religieuses ausspricht: allein diese Idee würde zeigen, dass das Lobbying der „Sekten“ erfolgreich gewesen sei und das Gebot der laïcité auf allen staatlichen und rechtlichen Ebenen verletzt und mLVVDFKWHWZUGHEDOGJlEHHVkeinen Platz mehr für die Verteidigung der Opfer‘.Die französische nationale Identität, mit der sie sie positiv verbindet, basiert hier auf ihrer Interpretation von laïcité, bei der die individuelle Freiheit zu Denken ohne Indoktrination (liberté de penser) der Religionsfreiheit (liberté de conscience) übergeordnet wird. Laïcité bedeute nach Picard „die Neutralität des Staates und seiner Handlungsträger gegenüber einem Publikum von Staatsbürgern, die individuell, nicht in Gruppen oder Gemeinschaften, wahrgenommen werden würden. Dies impliziere die Gleichheit eines Jeden vor dem Gesetz und keine Aushandlungen zwischen unterschiedlichen Lobbys“. Laïcité garantiere überdies die Religionsfreiheit im Sinne „der Freiheit zu Glauben und seine Religion auszuüben“, Picard sieht diese jedoch als private Angelegenheit, die nicht die öffentliche Ordnung stören oder eine Angelegenheit der Öffentlichkeit werden dürfte. Mit „[...] Nous défendons l’idée d’une nation attachée à un modèle particulier de démocratie, la République, où la Liberté se conjugue avec l’Egalité.“348 bindet sie ihre Ausführungen wieder an das Thema französischer Nationalität zurück, in dessen Kontext der Kampf gegen „Sekten“ mit traditionellen republikanischen Werten geführt werde. Damit wird der Kampf gegen „Sekten“, neben einem Kampf rechtschaffener Politiker für die „Opfer“ zu einem Kampf um die französische nationale Identität (aus der Metaperspektive: einem Kampf, um deren legitime Deutung).

AUSWERTUNG : D AS „ANTI -K ULT “-AGGREGAT ALS „ THEMENBEZOGENE I NTERESSENGEMEINSCHAFT “ UND ALS LAIZISTISCHE „K ÄMPFER FÜR F RANKREICH “ Catherine Picard gibt vor, im Namen des französischen Staates (nicht im Namen der Bevölkerung) zu sprechen, dessen monolithische Einheit jedoch nicht gegeben LVWYLHOPHKULVWVLHDOV6SUHFKHULQ81$'),XQGJHJHEHQHQIDOOV0,9,/8'(6]X sehen. Ihre Rhetorik illustriert hier in Bezug auf les sectes außerdem anschaulich

347 Webseite des Cercle Ramadier, URL: http://www.ramadier.fr/Tribune-Declarati ons-Manifestes/Toilettage-de-la-loi-de-1905]XOHW]WHLQJHVHKHQam 27.02.2013. 348 Picard 2008.

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eine moralisierend vorgetragenen Position ideologischer Laizität, die unter anderem im Rahmen der Agenda der Parti Socialiste ein relativ hervorstechendes Merkmal ist und der Picard angehört.349 Dieselbe Partei reichte auch 1996 den ersten, abgelehnten Gesetzesentwurf ein350 und sowie, so dass ihre möglicherweise spezielle Rolle als kollektiver Akteur in Erwägung gezogen und weiter geprüft wird. Picard rekurriert mehrfach vehement auf republikanische Werte und Vorstellungen (Aufklärung, Bildung, Fortschritt, Emanzipation, Staatsbürgerschaft351). Ihre Auffassung von Demokratie und Gesellschaft ist (als Ideal), dass gleiche Personen aus freiem und doch moralischem Denken heraus politisch aktiv die Nation konstituieren (sollen352). Picard deklariert diese Werte sogar als universell gültig, was eigentlich ein Merkmal frühere Phasen republikanischen Denkens bis 1870 ist.353 „Der Republikanismus“ kann jedoch sehr verschiedene Ausprägungen haben und wird von den meisten französischen Politikern hoch gehalten, so dass allein aus dieser Rede nicht auf die Gruppe hinter Picard als Gemeinschaft mit gemeinsamer Ideologie geschlossen werden kann. Insofern erscheint das politische „Anti-Sekten-Aggregat“,354 welches sich aus personellen Verbindungen (siehe Abb.3) und aus mündlichen Referenzen zu anderen Personen ergibt, hier noch immer als Interessengemeinschaft (mit einem größeren Anteil an Laizisten) um das Thema „Sekten“-Bekämpfung. Deren weitergehende gemeinsame Interessen sind oberflächlich nicht leicht erkennbar, lediglich das Thema, anti-secte sticht als relativ stabiler group-holder und Identifikationsbegriff hervor während les sectes vice versa die Gegengruppe darstellen und als negativer Identifikator dienen. Die Frage nach den Konturen des „Anti-Sekten-Aggregats“ kann also zu diesem Zeitpunkt also nur teilweise über das thematische Zentrum beantwortet sowie 349 Vgl. z. B. Webseite der Partei, URL: http://www.parti-socialiste.fr/articles/liberte-ega lite-laicite-un-combat-republicain]Xletzt eingesehen am 27.02.2013. 350 Hincker, Rumeurs, 2003, S. 18. 351 Vgl. Jeremy Jennings: Two Philosophers in the French Republic: Charles Renouvier und Jules Barni, in: Iseult Honohan/Jeremy Jennings: Republicanism in Theory and Practice, Hoboken: Taylor&Francis, 2005, S. 53-66, hier S. 55 ff. 352 Vgl. auch ebd.; für eine detailliertere Beschreibung der Kernideen siehe Philip Pettit: On the People‫ތ‬s Terms. A Republican Theory and Model of Democracy. Cambridge: Cambridge University Press, 2012. 353 Jennings, Two Philosophers, 2005, S. 53. 354 Altglas, French Cult Controversy, 2008, S. 59-60 und Beckford, Cult Contoversies, 1985, S. 263-271, sprechen von einem „Netzwerk“. „Netzwerke“ sind jedoch in der Regel relativ mechanische Konzepte, die Verbindungen von Personen und Institu tionen aufzeigen, jedoch die Qualität dieser Verbindungen und nicht-personelle wirksam Faktoren kaum erfassen, weshalb dieser Ansatz hier nicht verwendet wurde.

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eine Mehrheit dieser Haltung im sozialistischen Spektrum verortet werden. Zudem ergaben sich aus dieser exemplarischen Untersuchung des Akteurmillieus Anknüpfungspunkte für den interpretativen zweiten Hauptteil dieser Arbeit,355 wie die nach Bedeutung der republikanischen Philosophie für die „Sektenfrage“, die nach der emotionalen Betroffenheit aufgrund der Verletzung von Werten, jenseits einer Empathie mit den „Opfern“ oder die nach der hier nur angedeuteten Historizität einzelner verwendeter Begriffe.356 Die Akteure der hier dargestellten frühen Entwicklungsgeschichte der Konflikte, die durch ihr Engagement eine entscheidende Dynamik in Gang setzten, sind in den nun anschließend zu analysierenden parlamentarischen Debatten kaum als solche zu erkennen. Folgend sind vor allem bestimmte Themenkomplexe und verschiedene Verwendungen des Sektenbegriffs geeignet, zur Klärung des weiteren Verlaufs der Konflikte beizutragen.

355 Siehe Hauptteil II. 356 Picard verwendet zum Beispiel den Begriff obscurantisme, der unter anderem „antiaufklärerisch“ und „verdunkelnd“ bedeutet und weit darüber hinaus eine praktische Schädlichkeit im Sinne verletzter Normen hinaus impliziert (vgl. folgende Kapitel).

5. „Les Sectes“ zwischen parlamentarischen Debatten und Gesetzgebung Ein Pejorativ und seine rechtliche Kodifizierung

Cyrille Duverts Befund der zunehmenden Mitgestaltung rechtlicher Setzungen durch gesellschaftliche Interessengruppen (Lobbys) und politischen Kampagnen auch in Frankreich bildet den Ausgangspunkt der Untersuchung. Zwar kann der Präsident in der fünften Republik das Parlament noch immer jederzeit auflösen, doch wird sich von staatlicher Seite spätestens seit den 1990er Jahren immer mehr auf die Vermittlung zwischen Mehrheits- und Minderheitenmeinungen konzentriert und stärker auf gesellschaftliche Bewegungen reagiert.357 So genannte „Sekten“ waren als nicht anerkannte Minderheiten hiervon jedoch ausgeschlossen. Thierry Bécourt, der Präsident des CAP LC, beschreibt die Situation für die als „Sekten“ bezeichnete Gruppen in den späten 1980er und 1990er Jahren als „Hexenjagd“:358 Übergriffe aus der Bevölkerung, zuweilen gewalttätig, meist jedoch in Form von Diffamierungen und Diskriminierungen, kamen zum Aktionismus der „Anti-Kult“-Bewegungen und Diskriminierungen, wie räumlichen Verweisen von öffentlichen Feierlichkeiten durch die Polizei, hinzu. Viele der Betroffenen versuchten Übergriffe gerichtlich unterbinden zu lassen. Die Forderung nach stärkeren rechtlichen Mitteln gegen les sectes von der Gegenseite ist auch als Reaktion hierauf zu verstehen, um den wehrhaften religiösen Gruppen auf der von

357 Vgl. Duvert, Anti-Cultism, 2004, S. 44-45. Jean-Paul Willaime stellt dies gerade in Bezug auf den Umgang mit (anerkannter) „Religion“ fest und schreibt von einer ge nerellen Tendenz, die Zentralität des Staates weniger zu und zum Beispiel laïcité li beraler zu Interpretieren und Religion auch im öffentlichen Raum zunehmend zuzu lassen (Willaime, Paradoxes, 2008, S. 49 ff.). 358 Bécourt, chasse, S. 4 f.

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ihnen gewählten rechtlichen Ebene besser begegnen zu können.359 So wurde deren erhöhte Klagetätigkeit im Jahr 1994/95 als Indikator für einen „sektiererischen Charakter“ in den Gest-Guyard-Report aufgenommen und entsprechende Forderungen nach einer Verschärfung der Gesetze formuliert. Parallel hierzu wurde sich in begleitenden Spezialdiskursen auf eine zumindest semantische Entkopplung von Gruppe (secte) und „sektiererischer Abweichung“ (dérives sectaires) geeinigt, so dass streng genommen nur bestimmte Verhaltensweisen von Gruppen so hätten etikettiert werden können und der Grundsatz der Nicht- Diskriminierung scheinbar eingehalten wurde (s. u.). Die Kategorie sectes und ihre Modifikationen waren im Rahmen der Maßnahmen gegen „Sekten“ zwar juristisch problematisch, nahmen als Bezeichnungen des wahrgenommenen Problems jedoch die zentrale Rolle ein. Deshalb werden im ersten Abschnitt der Hauptuntersuchung diese und ihre verschiedenen Bedeutungen in verschiedenen Ab- und Ausschnitten der Debatten untersucht. Die untersuchungsleitenden Fragestellungen lauten: „Was genau sollen „Sekten“ sein und in welchen Kontexten wird der Begriff relevant? Gibt es eine eindeutige „materielle“ (d. h. in der Realität eindeutig bestimmbare) Referenzgröße oder wird der Begriff mit unscharfen Konnotationen versehen? Gibt es Bedeutungsverschiebungen auf dem Weg zum Gesetz und wodurch ergeben sich diese? In den 1970er Jahren wurde die Kategorie durch die AKB, Vertreter der katholischen Kirche und über die Medien in die öffentlichen und die folgend relevanten politischen und rechtlichen Diskussionen eingebracht. Zunächst wird dieser durch erste Stichproben an den Quellen festgestellte Zusammenhang zwischen den öffentlichen und den politischen Debatten und dessen Auswirkung auf die endgültige Gesetzgebung nachgewiesen.360 Die Entwicklung der Kategorie wird dabei von den frühen 1990er Jahren bis hin zur Verschärfung der Gesetzgebung in unterschiedlichen Textarten verfolgt. Die dabei herauszuarbeitenden, sich wandeln-

359 Nach Matthias Koenig: Recht auf Religionsfreiheit: Ein neuzeitliches Differenzie rungsmuster und seine Entstehung, in: Gabriel/Pollack/Gärtner:Umstrittene Säkulari sierung, 2012, S. 308, schaffe ein Rechtssystem mit zunehmender Autonomi sierung (von staatlicher Kontrolle) „Gelegenheitsstrukturen“ zum Beispiel für religiöse Min derheiten, insofern diese in der Lage sind, sich selbst rechtlicher Mittel zu bedienen. Aus dieser Perspektive kann die Forderung nach einer Gesetzverschärfung, in Kom bination mit der Wahl von „Klagetätigkeiten“ als Indikator einer „Sekte“ als Versuch die Nutzung eben dieser Möglichkeiten für NRB zu erschweren, beziehungs weise diese ganz zu unterbinden, verstanden werden. 360 Dieses Vorgehen basiert auf den im Forschungsstand skizzierten Beobachtungen und empirischen Ergebnissen.

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den Bedeutungen und Konnotationen werden auch die mit les sectes auf Objektebene verknüpften Themen erhoben, was in einem späteren Schritt Rückschlüsse auf explizit im Subtext verhandelte kulturelle Themen zulässt. Durch die oben beschriebene wachsende Anzahl der „Sekten“-Gegner jenseits der Grenzen zivilgesellschaftlicher Organisationen, ist in den Debatten der Assemblée Nationale immer weniger erkennbar, welche kollektiven Akteure welche Meinungen vertreten und den Sektenbegriff auf bestimmte Weise verwenden. Die zur Verfügung stehenden Quellen, Berichte, Gesetzesentwürfe und parlamentarischen Protokolle limitieren an dieser Stelle die genaue Bestimmung der dominanten aktiven politischen Milieus, da Sozialisten, Kommunisten und Konservative auf unterschiedliche Art, aber doch etwa gleichmäßig aktiv sind. Die aus den Protokollen ersichtlichen Reaktionen des Plenums (Lachen, Applaus, Entrüstung, respektive Beleidigungen) sind vieldeutig interpretierbar und deshalb relativ unsichere Indikatoren. Dies führt hier (intermediär) zum perspektivischen Wechsel in der Untersuchung, namentlich zur Analyse der Bedeutung und Verwendung der Kategorie „Sekte“ als Abstraktum, im Sinne Foucaults „Anonymität der Diskurse“, also losgelöst von einzelnen Sprechakten und Sprechern.361 Die hier ausgeklammerte Zuordnung von Äußerungen zu bestimmten Akteuren wird stattdessen im Nachhinein durch die in obigen Kapitel gewonnenen Informationen in Verbindung mit der Tiefenanalyse der Bedeutungen sowie mithilfe der im Material enthaltenen Information und wissenschaftlicher Augenzeugenberichte rekonstruiert.

P RAKTISCHES V ORGEHEN Den Materialkern der Untersuchung stellen der Text der Gesetzgebung gegen „sektiererische Bewegungen“ aus dem Jahr 2001 und dessen „Umgebungstexte“

361 Vgl. Annette Bührmann und Schneider, Werner: Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld: transcript Verlag, 2008, S. 42. Ziel der Untersuchung ist dabei ausdrücklich nicht, die Konstitution legitimen, „wahren“ Wis sens im Sinne Foucaults nachzuvollziehen. Dieser Prozess war in dem von der Unter suchung fokussierten Zeitraum bereits weitestgehend abgeschlossen, insofern sich die Meinung der „Sekten“- Gegner zumindest in Frankreich weitestgehend durchgesetzt hatte. Stattdessen werden, materialorientiert die verschiedenen Etappen der Kategorie bis zum endgültigen Gesetzestext und die mit ihr verbundenen verschiedenen Bedeu tungen herausgestellt und so der Weg des Pejorativ in die Institutionen Staat und Recht nachgezeichnet.

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dar. Über die zeitlich vorausgehenden sachbezogenen Gutachten, Gesetzesentwürfe, Protokolle parlamentarischer Sitzungen sowie Ausschnitte aus den elaborierteren Spezialdiskursen, d.h. akademische Kommentare wird der Prozess der Rechtsetzung im zeitlichen Verlauf erfasst. Der Gest-Guyard-Report aus dem Jahr 1995 ist das erste Schlüsseldokument, welches durch v. a. formale Definitionsversuche des Sektenbegriffs die Kategorie der öffentlichen Debatten für die zukünftige Gesetzgebung aufbereiten sollte. Die bereits ausführlicher analysierten öffentlichen Debatten werden im Rahmen dieser Untersuchung hier aus Gründen des Materialumfangs ausgeklammert. Ähnlich werden separate Äußerungen der AKB sowie von MILS und MIVILUDES und ihrer Sprecher, die nicht im direkten Kontext des innerparlamentarischen Geschehens vor 2001 standen, behandelt und nur vereinzelt angeführt, um einzelne Argumente und Interpretationen weitergehend zu belegen. Tabelle 1: Schema formale Inhaltsanalyse 1 – Bezeichnungen und Fundorte, Beispiel GGR und CCMM Bezeichnung

Fundort/ Dokument GGR

Secte(s)

Mouvements sectaires

Dérives sectaires

Minorités religieuses

Nouveaux mouvemts religieuses

X

x,x,x

x,x,x

-

x,x,x

Parlamentarische Protokolle

x

X

X

i

i

UNADFI

X

x

X

-

-

CCMM MIVILUDES

X

x

X

-

-

x

X

i

x,x,x

APG [...]

-

i

X

-

-

[...]

i = einmalige Nennung x [x,x,x...] = zeitweilige Verwendung (unterschiedlich häufig) X = hauptsächliche Verwendung

Der vollständige zu untersuchende Materialkorpus setzt sich also aus den beiden Berichten der Enquête-Kommissionen von 1995 und 1999, den Vorschlägen und Anträgen zum Gesetz, parlamentarischen Protokollen und dem fertigen Gesetzes-

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text von 2001 zusammen. Akademische Kommentare, vorwiegend juristische Sekundärliteratur, aber auch psychologische Schriften, deren Autoren als einschlägige Sachverständige fungierten, werden dann hinzu gezogen, wenn sie entweder direkten Einfluss auf die Beschaffenheit der Gesetzgebung hatten oder das Quellenmaterial erläutern. Als Erhebungsmethode wurde eine mehrstufige qualitative Inhaltsanalyse mit halb-offenen Kategorien gewählt, mit der explizite und implizite Definitionen des sowie thematische Verknüpfungen mit dem Sektenbegriff intertextuell zwischen dem Gesetz und den Umgebungstexten erfasst und anschließend analysiert werden können. In der Praxis bedeutet das, dass der Sektenbegriff, von ihm abgeleitete Begriffe und ungefähre Entsprechungen im Gesetz und den Umgebungstexten (hier vor allem in den parlamentarischen Protokollen) in einem ersten Schritt über die Grenzen der verschiedenen Textarten hinweg durchgehend kodiert werden362 (siehe Tab. 1). In einem zweiten Schritt werden der Kontext der Verwendung des Begriffs – inhaltlich und in Bezug auf die Quellengattung– und dessen genaue Bedeutung und Konnotationen auf Objektebene anhand von expliziten Erläuterungen und Konnotationen, sowie den mit dem Begriff verknüpften Themen und herausgearbeitet. Auf diese Weise können unterschiedliche Verwendungen, Bedeutungen und vor allem Bedeutungsverschiebungen sehr genau festgestellt und untersucht werden. Die Halb-Offenheit der Kategorien bezieht sich auf sectes und dérive sectaires als feststehende Kategorien, während das Schema für hiervon abgeleiteten Bezeichnungen und Synonymen sowie für die verschiedenen Bedeutungen offen bleibt und von diesen beliebig viele in die Analyse integrieren kann. Die so geordneten Funde lassen erste Schlussfolgerungen zu und stellen zusammen mit den in weiteren Kapiteln generierten Kontextinformationen die Materialbasis für die in Kapitel 8 folgende tiefergehende Interpretation dar.

362 Vgl. Teemu Taira: Religion as a Discursive Technique: The Politics of Classifying Wicca, in: Journal of Contemporary Religion 25, no. 3, 2010, S. 379 ff. Taira wählt die Methode des „Durchkodierens“ für „Religion“ in den finnischen Debatten. Gerade für den französischen Fall in Bezug auf „Sekten“ ist dies über die Erfassung der Be griffsverwendung hinaus weniger geeignet, da (siehe 3.) mehrere Anläufe unternom men werden mussten, um die „Anti-Sekten“-Agenda überhaupt in den bestehenden Rechtskorpus zu integrieren. Dafür bedurfte es langer Debatten und verschiedene ReFormulierungen, deren Ergebnisse nur im Kontext des innerrechtlichen Verfahrens weise nachvollziehbar sind.

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Tabelle 2: Schema formale Inhaltsanalyse 2 – Spezifizierungen der Funde (Beispiel) Bezeichnung Fundart/-ort

Secte(s) 1

Secte(s ) 2

Dérives sectaires

Minoritésreligieuses

[…]

GGR II 3 c

[…]

Ort

[…]

[…]

[…]

Explizite Erläuterungen zum Begriff auf Objektebene

[…]

[…]

[…]

Verbundene Themen

Manipulation, Zerstörung von Familien

Infiltrierung, Zersetzen der Gesellschaft

[…]

D IE B EDEUTUNG DER K ATEGORIE VON 1995 BIS 2001

Ablehnung der Bezeichnung/ Kennzeichnung als ausschließliche 6HOEVWEH]HLFKQXQJ weitere Fundorte mit ähnlicher Begründung:[...] Versuche der „Sekten“, sich als ungefährlich und schützenwert darzustellen/Infiltrierung

[…]

[…]

SECTES

Die Definition auf Basis der Annahme der Gefährlichkeit von „Sekten“ im Gest-Guyard-Bericht Der im Jahr 1995 veröffentlichte GGR folgte auf den Vivien-Report aus dem Jahr 1983 und beinhaltete die Ergebnisse der zweiten staatlich angeordneten Enqu۶teKommission über „Sekten“. Er stellt eines der wichtigsten hier zu analysierenden Dokumente dar, da die in ihm publizierten Ergebnisse noch immer quasi-offiziellen Status haben.363 Letzteres betrifft vor allem die oft besprochene und kritisierte Maßnahme des Berichts, die Veröffentlichung der Namen von 173 Gruppen, die als „gefährlich“ einzustufen seien und die seit dem stigmatisiert sind. Zusätzlich wird der Blick auf die im Dokument unternommenen Versuche einer allgemeineren Definition von les sectes und die dem Begriff zugeordneten Themen im Verhältnis zu den öffentlichen Debatten und den anderen parlamentarischen Dokumenten gerichtet. 363 Vgl. z. B. Altglas, French Cult Controversy, 2008, S. 56-57.

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Der Bericht beginnt mit der Feststellung, dass secte (die mit Abstand am häufigsten verwendete Bezeichnung) keine juristische Kategorie sei und rechtlich auch keine Entsprechungen habe. Die Entstehung des ursprünglich negativ konnotierten Begriffs datiere in die Zeit der „Religionskriege“. Er stelle heute die ‚gegenwärtig gängige Bezeichnung für religiöse Minderheiten und Pseudo-Religionen‘ dar, besonders für die, die in den letzten Jahrzehnten entstanden seien. In der gegenwärtigen Debatte um die dérives sectaires („sektiererische Abweichungen“) würde allerdings ebenso die ursprünglich negative Bedeutung mit kommuniziert. »[...] Gruppen, die versuchen durch psychologische Destabilisierung die bedingungslose Treue ihrer Anhänger, eine Verringerung kritischen Denkens, den Bruch mit allgemein akzeptierten Referenzgrößen (ethische, wissenschaftliche, staatsbürgerliche, pädagogische) zu erreichen und damit Gefahren für die individuelle Freiheit, Gesundheit, Bildung und demokratischen Institutionen darstellen.«364

Dieser erste Definitionsversuch bezieht sich sehr explizit auf verschiedene Normund Rechtsverstöße, die Ausbeutung und Verleitung von Menschen. Er wird verworfen, da die Grenzen zwischen akzeptablen Abweichungen und der „Gefahrenzone“ nicht genau bestimmt werden könne.365 Die von der Kommission übernommene Definition von les sectes folgt aber letztendlich dann doch der Annahme ihrer mutmaßlichen Gefährlichkeit, denn obwohl der Begriff nicht zufriedenstellend definiert werden könne, „[...] scheint die Wirklichkeit (sic!) eindeutig identifiziert worden zu sein („[...] la réalité visée semble unanimement cernée“). Daher ‚beruhe die Arbeit der Kommission auf einer Reihe ethischer Entscheidungen, welche nicht verschleiert werden sollten‘.366 „Sekten“ seien demnach in erster Linie für ihre Adepten gefährliche pseudo-religiöse Gruppen. Anstelle dieser NichtDefinition des Begriffs werden im folgenden Abschnitt dehnbare Kriterien vorgestellt, welche Charakteristika „[...] der möglichen Phänomenologie einer sich als Religion präsentierenden Sekte“ darstellen sollen und anhand derer 173 Gruppen von den Autoren im selben Zug als zu beobachtende „Sekten“ eingestuft werden.367 Das Definitionsverfahren wird damit abgeschlossen, dass „[...] trotz der Gefahr, nur einen Teil der Realität zu erfassen, die Direktive des gesunden Menschenverstandes [...]“ beibehalten werde, mit der die öffentliche Meinung den

364 **5,$hEHUVHW]XQJGXUFK$XWRULQ 365 Ebd. 366 Vgl. GGR I A 2 c, d. 367 Ebd. ff.

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Begriff konnotiere.368 Darüber hinaus ‚müsse die Kommission trotz der Probleme mit einer präzisen Definition handeln, da reelle Gefahren nun einmal bestünden‘.369 Das Verständnis von dem, was eine „Sekte“ ist, wurde somit explizit sehr direkt und unverändert aus den von den AKB und den Medien angeregten öffentlichen Diskursen übernommen, die Ende der 1980er Jahre einen negativen Höhepunkt erreicht hatten (und sogar zu einem Todesfall durch einen gegen „Sekten“ aufgebrachten Vater führten370). Die aufgezählten Charakteristika einer „Sekte“ werden als Indikatoren gehandhabt und beziehen sich auf die angeblichen Handlungen einer Gruppe. Sie lassen sich anhand der Art der Argumentation in folgende Kategorien einteilen: Tabelle 3: Kriterien einer „Sekte“ im Gest-Guyard-Report

Schädigung ihrer Anhänger (1)

Art und Häufigkeit von Straftaten (2)

Strategien der Durchsetzung (3)

„Schädliche Ideen“ (4)

„Mentale Destabilisierung“

Schädigung der Anhänger/Umgang mit denselben (1)

mehr oder weniger anti-soziale Ideen und „antisoziale Rede“ (i.e. gesellschaftskritische Äußerungen)

Angriffe auf die physische Integrität

Störungen der öffentlichen Ordnung

Missbrauch/ Beeinflussung bestehender Wirtschaftsstrukturen, Betrug und Steuerhinterziehung (Les Sectes et lӂarJHQV Gest/Bard 1999) Versuche, öffentliche Autoritäten zu beeinflussen und zu infiltrieren

außergewöhnliche finanzielle Forderungen

Häufige Verwicklungen in Gerichtsprozesse (als Kläger und Angeklagte)

Betrug

368 „La difficulté de définir la notion de secte, qui sera pourtant utilisée dans la suite de ce rapport, a conduit la Commission à retenir un faisceau dҲindices, dont chacun pourrait prêter à de longues discussions. Elle a donc préféré, au risque de froisser bien des susceptibilités ou de procéder à une analyse partielle de la réalité, retenir le sens commun que lҲopinion publique at tribue à la notion.“ (GGR 1 A d). 369 Ebd. ff. 370 Vgl. Bécourt, chasse, 2002, S. 4 f.

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Als Kriterien zur Identifizierung einer „Sekte“ werden vor allem verschieden Arten, ihre die Anhänger zu schädigen (deren mentale Destabilisierung, Betrug und Misshandlungen) genannt. Auf gesellschaftlich-politischer Ebene hätten „Sekten“ die Absicht, den Staat zu infiltrieren und über eine Beeinflussung öffentlicher Autoritäten und die Verbreitung „antisozialer Ideen“ eine politische Machtposition zu erreichen. Des Weiteren wird die häufige Verwicklung in gerichtlich ausgetragene Konflikte angeführt. Zusätzlich, eher konklusiv als das Spektrum erweiternd, werden die Schädigung von Adepten und die Störung der öffentlichen Ordnung als gültige Straftatbestände genannt und damit les sectes explizit mit Personen und die Gesellschaft schädigender „Kriminalität“ verbunden. Außerdem wird eine negative Verbindung mit Wirtschaftsthemen und Steuerhinterziehung hergestellt. Als empirische Grundlage zur Entwicklung der Kriterein hätten bestehende Gerichtsurteile, (angebliche) Vorfälle sowie Aussagen von Betroffenen als Beispiele gedient. Im Abschnitt „Verschiedene illegale Handlungen“ werden Präzedenzfälle präsentiert, allem voran solche, in denen Kinder von ihren Eltern getrennt und einer speziellen Erziehung unterzogen worden seien. Die Praktiken hätten Bestrafungen, Fasten, öffentliche Demütigungen eingeschlossen und die Teilnahme am regulären Schulunterricht verhindert. Hinzu kämen Beispiele alternativer Behandlung von Krankheiten bis zur Unterlassung erster Hilfe, in einem Fall mit Todesfolge, welche jedoch nicht explizit in die Kriterien aufgenommen werden. Interessant ist die Anführung der Klagetätigkeiten Scientologys gegen Verleumdungen XQG )DOVFKGDUVWHOOXQJHQ XQWHU DQGHUHP GXUFK$'), VLH Yerdeutlicht, dass das Identifikationskriterium „Verwicklung in Gerichtsprozesse“ für eine „Sekte“ also auch dann gilt, wenn die Gruppen z. B. gegen Diffamierungen selbst klagen. Ergänzt werden diese durch Fallberichte über Steuerhinterziehung, Betrug, Verstöße gegen das Arbeitsrecht und die Sozialversicherungsvorgaben.371 Unter den Vergehen werden diverse (v. a. die mentale Destabilisierung) identifiziert, die zu diesem Zeitpunkt mit den bestehenden Rechtsmitteln nicht geahndet werden könnten, die Arbeit der Kommission also notwendig machten.372 Diese werden systematisch in Vergehen gegen das Individuum (a) und Vergehen gegen die Gesellschaft (b) eingeteilt.373 Für das unter (a) mit manipulation mentale Gemeinte, welches in allen der aufgelisteten einhundertdreiundsiebzig Gruppen nachgewiesen werden könne, wird als Beispiel etwa die dianetische Praxis Scientologys angeführt. Hier offenbarten Personen ihr Innerstes und erhielten dann überdurchschnittlich häufig die Rückmeldung, sie seien therapiebedürftig und 371 Vgl. GGR II B 1. 372 Vgl. GGR II B 1,2 a, b. 373 Vgl. GGR II B 2.

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eine (kostenpflichtige) Teilnahme an den Angeboten der Church im Bereich „Selbstverwirklichung“ oder „Selbstverbesserung“ dringend notwendig. Durch die Teilnahme an den angebotenen Kursen würden die Interessenten dann weiter in die psychische Abhängigkeit geführt.“374 Außerdem werden Praktiken rigoroser Disziplin, repetitiver Gebetstechniken und harter Arbeit in Kombination mit langen Meditationszeiten wie bei der ISCON als Mittel zur Erlangung fast völliger Unterordnung und starker Reduzierung des kritischen Denkens genannt. Die „psychische Vergewaltigung“ führe nicht selten auch zu Depression, Schizophrenie und einem Zustand völliger Unterordnung. Etwa bei sechsundsiebzig der aufgeführten Gruppen hätten exorbitante finanzielle Forderungen gegenüber den Mitgliedern festgestellt werden können (genannte Beispiele: Scientology, Moonies, Raelianer, lҲAlliance Rose Croix, la Nouvelle Acropole, les Chevaliers du Lotus dҲOr, lҲEglise universelle du royaume de Dieu, le Grand logis). Siebenundfünfzig der benannten Gruppen würden darüber hinaus einen kompletten Bruch mit dem früheren Umfeld der Adepten verlangen und zweiundachtzig die psychische Integrität der Anhänger, sei es durch Gewalt, sexuelle Ausbeutung und Inzest, aber auch unterlassene Hilfeleistung, Schläge und Vereinzelung von Erwachsenen, verletzen. Besonders häufig erwähnt werden hier die „Kinder Gottes“.375 Als Gefahr für die Gesellschaft (b) werden vor allem mutmaßliche Absichten, politische Macht zu erlangen in Verbindung mit subversiven Strategien bewertet. Das Kriterium „antisoziale Rede“ („Volksverhetzung“) wird als Tendenz, die eigenen, dem Gesetz und den allgemeinen Normen entgegen gesetzten Praktiken mit der NichtGültigkeit dieser Gesetze und Normen zu legitimieren erläutert. Dies sei bei sechsundvierzig Organisationen376 festgestellt worden, während mehrere dieser Organisationen377 (insgesamt 26) auch anderweitig gegen das Recht verstoßen würden. Erneut werden die Klagetätigkeiten von Scientology nun auch als antisozial deklariert und die Vorwürfe, Gelder zu unterschlagen und Berichte von angeblichen Versuchen, die Administration und den Staatsapparat zu infiltrieren, wiederholt – wobei die Enquête-Kommission den „[...] Wahrheitsgehalt dieser Vorwürfe nicht überprüfen könne“378 Die Enquête-Kommission kommt also in vier Bereichen (rechtlich, wirtschaftlich, gesellschaftlich und auf Personenebene) zum Schluss der Schädlichkeit von „Sekten“, explizit ohne dies en detail prüfen zu können. 374 Vgl. GGR II B 2 a. 375 Vgl. Ebd. 376 Z. B. les Chevaliers du lotus dҲor, la Fédération française pour la conscience de Krishna, la Famille, le Suicide des Rives, le Mouvement raëlien et lҲOrdre du coeur immaculé de Marie et de Saint Louis de Montfort (ebd.). 377 GGR II B. 378 Ebd.

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Dies wird erwähnt, aber „zugunsten der aktuellen Gefahr“ offensichtlich als das kleinere Übel hingenommen.

Typisierende Definitionsversuche Neben der Bestimmung der handlungsleitenden „von Sekten ausgehenden Gefahren“ wird der Versuch, „Sekten“ typisierend zu bestimmen, unternommen. Gleich am Anfang werden dabei die großen Kulturreligionen (Christentum, Islam, Buddhismus, Hinduismus) explizit ausgeklammert und der Kreis der Gemeinten damit aus freien Stücken auf eine bestimmte Anzahl von Gruppen beschränkt. Bei diesen sammelten sich die Anhänger meist um einen spirituellen Führer, teilten den Glauben an ein „Wesen“ oder eine Anzahl transzendenter Ideen und seien bereits gelegentlich in den Verdacht geraten, nicht legale Aktivitäten zu verfolgen oder Verstöße gegen die individuellen Freiheiten zu begehen. Fast beiläufig werden später auch Baptisten, Quäker und Mormonen von den „gefährlichen“ Gruppen unterschieden und manchen Gruppen wird sogar zeitlich befristet ein positiver Einfluss auf das psychische Befinden von Personen zugestanden. Es „müsse sorgfältig darauf geachtet werden, nicht alle spirituellen Gruppen mit den gefährlichen zu vermischen“.379 Im Zuge einer systematischen Bestimmung besagter „pseudo-religiöser“ Gruppen werden NRB unter GGR I C in die der ersten und zweiten „Welle“ unWHUVFKLHGHQ GLHGHU„ersten Welle“ seien zu Beginn 20. Jahrhunderts im angelsächsischen Raum entstanden, wohingegen letztere ausschließlich amerikanischen Ursprungs, in den 1960er Jahren entstanden und häufig durch östliche und esoterische Einflüsse gekennzeichnet seien. „Ihre Natur“ sei die zeitnah zurückliegende Entstehung, universalistische Erklärungsansprüche der Welt und die Rekrutierung aus den Mittelklassen.380 Weiter seien sie durch ihre pyramidal-hierarchische Struktur um einen Guru gekennzeichnet, welche die Komplexität einer Organisation annehmen könne381 sowie dadurch, dass nunmehr nicht nur die Kirchen und die Kirchen-Nahen, sondern auch andere Personen negativ auf sie reagierten und diese Gruppen zunehmend in Konflikte involviert seien. Die Ziele und Themen der neuen Gruppen drehten sich besonders oft um die individuelle „Selbstverbesserung“, vermeintlich zu erreichen über eine asketische Lebensführung, was zu abrupten Brüchen mit dem persönlichen Umfeld der Adepten führen könne. Bis

379 Ebd. 380 GGR I C a. 381 Ebd.

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zu diesen Punkten deckt sich die Beschreibung im GGR, jenseits des konflikthaften und gefährdenden Aspekts, stark mit frühen religionswissenschaftlichen und soziologischen Beschreibungen von NRB. Insofern könnten solche Arbeiten, vielleicht nur indirekt, rezipiert worden sein. Allerdings seien mit den Adaptionen aktueller Themen z. B. auch die Rekrutierungsmethoden der „Sekten“ verfeinert worden382 und ihre Finanzkraft gegenwärtig ungewöhnlich stark,383 was kaum wissenschaftliches Interesse oder Zustimmung finden konnte, zumal die Gruppen in Bezug auf ihre Finanzkraft und die Professionalisierung der Mission nur schwer, wenn überhaupt, mit den christlichen Kirchen mithalten können. Die sich anschließende Liste von Klassifizierungen auf Basis von inhaltlichen „Familienähnlichkeiten“ (z. B. „satanische“, „New Age“ und „pseudo-katholische“ Gruppen384), ist fragwürdig und enthält wie der gesamte Ansatz der Definition qualitative Unterscheidungen zwischen verschiedenen Glaubensformen. Zudem werden „politisch-alternative“ Gruppen aufgeführt und bei La Nouvelle Acropole handele es sich sogar um eine neo-faschistische Organisation. Es werden zu jedem „Typus“ Namen von Gruppen als Beispiele genannt, wodurch manche (wie Scientology und die Zeugen Jehovas) insgesamt etwa 8-12 Mal häufiger im gesamten Bericht erwähnt werden als andere Gruppen. Allen wissenschaftlich eventuell haltbaren Beschreibungen (von NRB) wird als wichtigster Indikator „Konflikt“ hinzugefügt und die Gefahren, die von „Sekten“ ausgehen sollen, ausführlich erläutert. Das „pseudo-religiöse“ Spektrum wurde zudem um „politische Gruppen“ erweitert, dieser Aspekt jedoch nicht weiter vertieft. Wie bei der Entwicklung der Charakteristika einer ,Sekte‘, bei denen die Gruppen letztendlich von den Autoren bestimmt und zu einer „schwarzen Liste“ zusammen gefasst werden, wird im Zusammenhang mit den Typisierungsversuchen von NRB sehr schnell wieder zu namentlichen Mehrfachnennungen gegriffen. Dies zeigt die definitorischen und logischen Grenzen der verwendeten Ansätze überdeutlich auf: anstatt eine „objektive“ Bestimmung und Überprüfung am Material zu ermöglichen, bedürfen die Modelle selbst einer Veranschaulichung durch das Material, bei der ohne eine präzise Bestimmung der einzelnen Kriterien schnell auf einige Gruppen, deren Gefährlichkeit bereits öffentlich diskutiert wird, zurück gegriffen wird. Die Typologie kann also keine die negativen Konnotationen korrigierende Funktion haben, sondern stellt, im Gegenteil, bestimmte Gruppen aufgrund ihrer Mehrfachnennung noch intensiver ins Zentrum der Kritik.

382 Vgl. GGR 1 B. 383 GGR 1 C. 384 GGR II A.

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Quantitative Untersuchung und Prognosen Das quantitative Wachstum der Gruppen wird von den Autoren als zunehmend besorgniserregend eingeschätzt. Die Mitgliederzahlen stiegen sehr schnell, was aber ‚schwer präzise zu messen sei‘. Unter den neuen Mitgliedern befänden sich seit 1968 vor allem junge und Menschen beider Geschlechter aus der Mittelschicht, während es sich früher mehrheitlich um ein Phänomen weiblicher Erwachsener aus ärmeren Verhältnissen gehandelt habe. Dies und die potenzielle Stabilität dieser Aufwärtstendenz lägen in einem tatsächlichen vorhandenen gesellschaftlichen Bedarf begründet.385 Diese Aussagen im GGR basieren hauptsächlich auf den Daten der AKB. Sie stimmen in Bezug auf die gesellschaftliche Position und das Alter mit wissenschaftlichen Befunden ansatzweise überein,386 allerdings wird die quantitative Dimension überbewertet. Hier und in weiteren Erläuterungen spiegelt sich nicht zuletzt die Befürchtung wider, dass mit Menschen in einflussreicheren beruflichen und wirtschaftlichen Positionen oder in Beamtenverhältnissen (Lehrer), die hauptsächliche Klientel von so genannten „Sekten“ darstellen. Solche sind meist auch sozial besser vernetzt als Personen im unteren Einkommenssektor oder Hausfrauen, könnten einen Vorbildcharakter haben und so den gesellschaftlichen Einfluss der „Sekten“ erhöhen. Les sectes rücken also aus Sicht der Enquête-Kommission im Vergleich zum früheren „Kunden-Pool“ ähnlicher Gruppen deutlich näher in die Mitte der Gesellschaft. Gleichzeitig wird ein Bedarf an psychologischer Stabilisierung in der Bevölkerung konstatiert und insofern durchaus ein Problembewusstsein angedeutet, welches den Erfolg der „Sekten“ auch als Sekundärproblem und Symptom einer gesellschaftlichen Problemlage versteht. Jedoch wird weder dazu aufgefordert, sich möglichen hintergründigen Problemen zu widmen, noch werden diese genauer benannt.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen zum GGR Die im GGR vorgelegte Definition einer „Sekte“ changiert zwischen der Bestimmung als kriminell und Versuchen einer Systematisierung der teilweise im 19.

385 Vgl. GGR II A. 386 Vgl. z. B. Dawson, NRM – A Reader, 2003. Welche Gruppen das frühere, ärmere und weibliche Kundenspektrum angezogen haben sollen wird in Dawson nicht genauer erläutert. Diesbezüglich sind Arbeiten über die „Zaubereiprozesse“ im 19. Und 20. Jahrhundert in Frankreich sehr erhellend und werden in Hauptteil II ausführlicher be sprochen.

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Jahrhundert, vorwiegend aber der in den 1960er Jahren entstandenen religiösen Gruppen, die wissenschaftlich zumeist als „NRB“ bezeichnet werden. Thematisch kumuliert die Bestimmung der „Sekten“ im GGR jedoch in einer Gefahr für das Individuum, für die Gesellschaft, in wirtschaftlichem Betrug und einer Existenz jenseits der rechtlichen Grenzen. Das Kriterium der „Konflikte mit der gesamten Gesellschaft“, bis hin zur rechtlichen Ebene, grenzt zusätzlich gesellschaftlich akzeptierte „Religion“ in der Bedeutung der Weltreligionen und einigen anderen Ausnahmen als „gut“ von les sectes als „schlecht“ ab. „Sekten“ werden also als historisch relativ neue Gruppen mit begrenzter Anhängerzahl, welche in Konflikte verwickelt sind und die (dadurch bereits impliziert) eine, verschiedene gesellschaftliche Bereiche umfassende, Gefahr darstellen, definiert. Das beschriebene Spektrum der vermeintlichen strafbaren oder gefährlichen Handlungen an Personen und deren Eigentum ist beängstigend: es umfasst unterschiedlichste Formen von körperlichen und psychischen Gefährdungen – Missbrauch, Schläge und Verwundungen, das Einsperren von Personen, unterlassene Hilfeleistung oder unprofessionelle und falsche Medikation, das Beschädigen oder Zerstören von familiären Bindungen, Beleidigungen, Beschimpfungen, Eingriffe in die Privatsphäre, Betrug und Vertrauensmissbrauch, Übertretungen des Arbeitsrechtes und der Gesetze zur sozialen Sicherheit. Von diesen könne, so die Autoren des GGR, zwar unmöglich gesagt werden, dass sie tatsächlich zugenommen hätten, dennoch wird zu einem „verschärften pragmatischen Vorgehen“ gegen die Gruppen geraten. In den Kategorien des GGR mischen sich Handlungsweisen von Gruppen, tatsächliche Delikte und Konfliktpunkte sowie genuin beschreibende Charakteristika. Dadurch fallen „Sein“, im Sinne ihrer Existenz und „Schuldig-Sein“, im Sinne einer genuin kriminellen Existenz in eins – „Sekten“ werden demnach als kriminelle Gruppen mit einem ihnen zugeordneten und bezeichnendem Spektrum an Straftaten unter Generalverdacht gestellt. Besonders der Indikator „Involvierung in Gerichtsprozesse“ gibt hier zu denken, da auch die Reaktion auf bestimmte Angriffe als „Sekte“ qualifiziert. Das heißt, z. B. als „Sekte“ bezeichnet zu werden ist bereits ein Indikator dafür, dass dies zutrifft und die betroffene Gruppe kann sich auch nicht juristisch dagegen wehren, ohne damit einen weiteren Beweis gegen sich selbst zu erbringen. Neben dieser sehr auffälligen zirkulären Argumentation zur Bestimmung einer „Sekte“ zeigen sich viele andere, sachhaltige Probleme, allem voran die Vermeidung der Prüfung der tatsächlichen Gefährlichkeit der Gruppen, die jedoch durch die wiederholte Behauptung desselben ersetzt wird. Mit der Bestimmung der „Verwicklung in gesellschaftlicher Konflikte“ als Indikator werden die von den AKB verbreiteten negativen Bilder bestimmter Gruppen bestätigt, welche in nicht geringem Ausmaß erst zu derartigen Konflikten führten.

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Auch alle weiteren Überlegungen unterstützen den Versuch, dem beschlossenen Feindbild eine generalisierte materielle Entsprechung zuzuordnen, sowie bereits getane Feststellungen argumentativ zu untermauern und nicht zu überprüfen. Die Ungenauigkeit der Kriterien des GGR zur Bestimmung einer „Sekte“ erweist sich folglich auch für die Arbeit der Enquête-Kommission als problematisch. Die entwickelten, sehr vagen, Kriterien zur Bestimmung einer „Sekte“ bedürfen zur Identifizierung einer solchen eines Vorwissens über das Gemeinte, dass die Autoren selbst am umfänglichsten haben. Dies räumen sie ein und erstellen die Liste mit konkreten Gruppen selbst. Das notwendige Vorwissen aus dem GGR speiste wiederum sich aus den Informationen der AKB und den öffentlichen Debatten, so dass die Gruppen, die bereits im allgemeinen Verständnis als „Sekten“ und damit als gefährlich galten, beim Erstellen der „schwarzen Liste“ nach den oben aufgeführten Kriterien mehr als wahrscheinlich negativer bewertet wurden als andere und in die Liste aufgenommen wurden. Dieser Mechanismus kann sich beliebig oft auch in anderen Situationen wiederholen, worauf bei der Behandlung des Gesetzestextes und einige Urteile, zurückgekommen wird. Vorhandene Vorurteile werden im GGR auch auf andere Weise verstärkt, z. B. durch die genannten Mehrfachnennungen im Verlauf des Berichts werden. Die Mormonen, welche UNADFI, dem GGR entgegen, für eine „Sekte“ hält387 und die Baptisten hätten angeblich glaubhafte Fürsprecher gehabt388 und werden vorab von der gemeinten Zielgruppe ausgeschlossen, obwohl ihnen viele der im GGR genannten Charakteristika einer „Sekte“ zugeschrieben werden könnten. Empirische Belege wurden also in einigen Fällen Referenzen durch Fürsprecher explizit untergeordnet, den AKB zu diesem Zeitpunkt aber nur selten widersprochen. Die Gruppe möglicher Für- und Gegensprecher wurden zudem weit früher eingegrenzt und Religionswissenschaftler und Soziologen hierbei nicht außenvor gelassen. Stattdessen werden UNADFI und das CCMM als wichtigste Informationsquellen und Experten genannt und z. B. die Vorwürfe gegen „Sekten“, die französische Administration infiltrieren zu wollen, stützten sich auf nicht-überprüfbare Aussagen des investigativen Journalismus. Das verdeutlicht, dass negative Meinungen bevorzugt hinzugezogen wurden. Gravierende methodologische Schwächen im GGR sind von wissenschaftlicher Seite wiederholt bemängelt worden, stießen allerdings auf keine Resonanz 387 UNADFI veröffentlicht auf seiner Homepage u. a. negative Zeugenaussagen, in de nen die Mormonen als „Sekte“ bezeichnet werden, die von frühester Kindheit den Nachwuchs der Gruppe indoktriniert (vgl. URL: http://unadfi.org/temoignage-d-uneex-adepte-de-lzuletzt eingesehen am 06.02.2013). 388 GGR II B.

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bei den Autoren. Die hier präzisierten Mängel (die ungenaue Definition, die explizite Übernahme des Verständnisses einer „Sekte“ aus den öffentlichen Diskursen, die zirkulären Argumentationen) wurden stattdessen bewusst in Kauf genommen und so der GGR zu dem Dokument, das das Pejorativ aus den öffentlichen Debatten in die Nähe einen potenziellen Gesetzes brachte. Auf die Kritik aus den eigenen Reihen (neue religiöse Phänomene würden so nicht in ausreichendem Umfang erfasst) wurde mit, parallel zu den parlamentarischen Debatten um die angestrebte Verschärfung der Gesetzeslage geführten, Diskussionen zur Präzisierung des Begriffs reagiert.

„Les sectes et lӂargent“389 Im Jahr 1999 veröffentlichte eine zweite Enquête-Kommission in Ergänzung zum GGR einen Bericht über die ökonomischen (und politischen) Gefahren, die von les sectes oder les mouvements sectaires ausgingen (der Guyard-Brard-Report,390 folgend: GBR).391 Der GBR schließt explizit an den Indikator der ökonomisch ausgerichteten Motive und der Ausnutzung und Beeinflussung bestehender Wirtschaftsstrukturen durch die mouvements sectaires392 sowie an die Typologie einer „Sekte“ aus dem GGR an.393 Gruppen, die zwar eine Gefahr für Individuen darstellten, aber in ökonomischer und politischer Hinsicht nicht relevant wären, wurden aufgrund des speziellen Fokus nicht behandelt worden.394 Neben eben genannten Bezeichnungen wird das Adjektiv sectaire regelmäßig auch zusammen mit anderen Substantiven (z. B. phénomene) verwendet. Als neue Entwicklung im Feld wird dessen Instabilität durch diverse Umbenennungen und Aufspaltungen von Gruppen angesehen,395 während vor allem apokalyptische, satanistische, UFO-

389 Guyard, Jaques und Brard, Jean-Pierre: Rapport No 1687 sur la situation financiere, patrimoniale et fiscale des sectes, ainsi sur leur activites economiques et leurs rela tions avec les milieux economiques et financieres. Assemblée nationale, 1999. 390 Verfasser Guyard – 3DUWL 6RFLDOLVWH %UDUG – assoziiert mit der kommunistischen Fraktion. 391 Da es sich um eine den GGR ergänzende Arbeit handelt und keine neue Definition versucht wird, werden aus dem Bericht von 1999 lediglich die für dieses Hauptkapitel relevanten Aspekte kurz zusammengefasst. 392 Z. %%HWUXJ6WHXHUKLQWHU]LHKXQJ**5,$G*%56 393 GGR I C 1 a, b, GBR, S. 15. 394 GBR S. 20. 395 Vgl. GBR, S. 17.

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und heilungsorientierte Gruppen gegenwärtig expandierten.396 Generell sei eine „De-Spezialisierung“ der Gruppen festzustellen, welche ihr Spektrum von Themen und Praktiken erweiterten, um so eine größere Klientel anzuziehen.397 Die verschiedenen administrativen Formen, die les sectes innehätten, bzw. annähmen und deren Vorteile sie nutzen könnten, bestünden der association déclarée nach dem Gesetz von 1901 und der associtation cultuelle nach dem Gesetz von 1905, im Status der politischen Partei sowie in dem einer NGO.398 Die association déclarée, ein gemeldeter Verein, ist für NRB in Frankreich die gängigste Form der Registrierung, während die associtation cultuelle eine implizite Anerkennung als religiöse Gemeinschaft darstellt und für viele Gruppen nur schwer zu erreichen ist. Als besonders gefährdete Sektoren, in denen „Sekten“ aktiv seien, wird der der „Bildung“399 genannt, welcher durch Rekrutierung von Lehrern, kommerzielle Erziehungsmethoden, Kontrolle von schulischen Einrichtungen, aber auch über Tagesmütter möglicherweise bedroht sei. Weiter bestehe eine Gefährdung im Gesundheitssektor durch alternative Therapieangebote und Medikamente, durch die Rekrutierung von Ärzten,400 aber auch durch die Art des Wirtschaftens (insofern sehr hohe Honorare verlangt und nicht ordnungsgemäß abgerechnet werden).401 Jenseits der Hauptargumentation werden im GBR (beiläufig) Hinzufügungen zur GGR-Liste gemacht, v. a. die Anthroposophie wird hier zum ersten Mal als gefährlich erwähnt402 und andere therapeutische Gruppen im Fließtext hervorgehoben. Die Tendenz zur Fokussierung auf alternative Therapien wurde zukünftig beibehalten und mündete im Jahr 2012 in der Veröffentlichung eines entsprechenden MIVILUDES-Leitfadens.403 Auch in anderen Zusammenhängen werden einzelne Gruppen namentlich genannt, besonders Scientology und die Zeugen Jehovas als die mit dem mutmaßlich größten Finanzvolumen.404 Rechtliche Verstöße durch die mouvements sectaires fänden zudem im Bereich „Arbeitsrecht“, „soziale Sicherheit“405 und Finanzen (z. B. Steuerbetrug) statt. Zu diesem Zeitpunkt würden solche Vergehen nur zu einem geringen Teil verfolgt und müssten zusätzlich auch auf 396 Ebd. 397 S. 18. 398 Vgl. S. 66-VLHKH.DSLWHOIUHLQHJHQDXHUH(UOlXWHUXQJGHU9HUHLQVIRUPHQ 399 Vgl. S. 109 f. 400 Vgl. S. 115 f. 401 Vgl. S. 128 f. 402 Vgl. Kap. 4. 403 MIVILUDES 2012: Guide: Santé et dérives secatires. La documentation française. 404 S. 162. 405 S. 190 ff., betrifft z. B. die individuelle Kranken-und Sozialversicherung.

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internationaler Ebene angegangen werden,406 denn bei les sectes handele es sich meist Unterorganisationen international aktiver „Muttersekten“ (eine Annahme, die „Sekten“ als ein nicht originär französisches Problem darstellt).407 Die Handlungsempfehlungen am Ende des Berichtes408 fallen entsprechend aus. Im GBR wird die Annahme der von „Sekten“ ausgehenden Gefahr von Individuen auf die Wirtschaft, den Gesundheitssektor, den gesamten Staat und schließlich auf die internationale Ebene ausgeweitet. Ökonomische Expansionsbestrebungen von „Sekten“ werden kritisch dargestellt, vor allem aber eng mit politischen Aspekten, genauer, der Infiltrierung Frankreichs durch von außen kommende, fremde Entitäten verbunden. Die den „Sekten“ zugeschriebene ökonomische Stärke ist als Ressource eng mit dem Thema politischer Macht und größerer Unabhängigkeit der Gruppen verbunden. In den strategisch wichtigen Sektoren Bildung und Gesundheit, in denen sie sich angeblich ausbreiten, machen les sectes, nicht zuletzt staatlich kontrollierten Institutionen Konkurrenz und gelangten zudem in Positionen, in denen sie andere beeinflussen und schädigen könnten. Dem wird noch hinzugefügt, dass alle zur Verfügung stehenden Rechtslücken genutzt würden, um zu profitieren. „Sekten“ werden im GBR zum politisch brisanten Thema gesellschaftlicher und institutioneller Infiltrierung gemacht und der wahrgenommene Konflikt so zu einem „Mehrfrontenkrieg“ stilisiert.

Ein Spezialdiskurs: von les sectes zu den dérives sectaires Parallel zur Untersuchung der verdächtigten Gruppen und deren demographischer und struktureller Entwicklung wurde seit etwa dem Jahr 1997 auch von den französischen „Sekten“-Gegnern verschiedentlich über den Begriff „sectes“ diskutiert. Dieser schien vor allem für juristische Zwecke nicht zufriedenstellend definiert und sollte durch die dérives sectaires ersetzt werden. Diese zweite Bezeichnung stammt ursprünglich aus der Schweiz und wurde als „[...] unerlaubte Handlung, von einer Bewegung sektiererischen Charakters begangen [...]“409 inhaltlich bestimmt. In Frankreich wurde mit dem neuen Begriff und dessen verbesserter

406 S. 196 ff., 218 f., 232 f. 407 Vgl. ebd. S. 25. 408 Vgl. ebd. S. 238 ff. 409 Bellanger et al.  ]LWLHUW QDFh Benjamin Mine: La notion de „dérive sectaire“: quelle(s) implication(s) pour la régulation du „phénomène sectaire“? in: Champ pénal/Penal field [En ligne], Vol. VI, 2009, S. 20-22, URL: http://champpenal.re vues.org/7535'2,FKDPSSHQDOzuletzt eingesehen am 04.04.2013.

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Definition der im Rahmen des französischen Prinzips der Religionsfreiheit geforderte Trennung von Glaubensinhalten und Handlungen („creeds“ und „deeds“) nominell eher entsprochen410 und eine per se Stigmatisierung der Gruppen auf der GGR-Liste augenscheinlich vermieden, solange keine Straftat begangen wurde. Doch implizit, oder genauer, in den Spezialdiskursen, wurde noch immer dahingehend unterschieden, wer eine solche Handlung begeht. Monroy und Founier definierten die Kategorie für Frankreich zum Beispiel wie folgt: „Dérives Sectaires – Abweichungen“: »Das Schaffen einer uneingeschränkten Bindung an ein selbstreferentielles ,isolat culturel‘, das vereinnahmend auf verschiedene Bereiche des menschlichen Lebens wirkt. Eine jede Gruppe solchen Typus‫ ތ‬wird unvermeidlich schlimme Auswirkungen haben.«411

Als „sektiererische Abweichung“ wird zwar „das Schaffen einer uneingeschränkten Bindung an ein selbstreferentielles ,isolat culturel‫ “]…[ ތ‬im Sinne einer Handlung bezeichnet, das handelnde Subjekt „müsse jedoch zusätzlich als eine ,Bewegung sektiererischen Charakters‘ (mouvement sectaire) – also als ,Sekte‘ – erkennbar sein“. Der Fokus dieser ebenfalls unpräzisen Definition liegt zunächst auf dem Individuum, das in verschieden Bereichen seines Lebens negativ beeinflusst werde. Diese Definition wird um einen Kommentar zur Veränderung des religiösen Feldes (bereits im GGR an- im GBR detaillierter ausgeführt) dahingehend ergänzt, dass die Kategorie „Sekte“ immer schwieriger auf die Empirie angewendet werden könne. Da „[...] die „Sekten“ sich veränderten (‚mutierten‘)“, seien sie mit dem bisherigen Standardansatz nicht mehr angemessen zu erfassen.412 In der Praxis wird auch dieser Diskurs über „Sekten in ihrer Art und Beschaffenheit“ und den „Wandel des religiösen Feldes“ in Frankreich nicht von Vertretern der entsprechenden Fachwissenschaften, sondern von Vertretern MIVILUDES‫ ތ‬und psychiatrischen Gutachtern geführt. So wird einerseits auf die wahrgenommene strukturelle Änderung innerhalb des neureligiösen Feldes reagiert, durch die sich die Zuordnung einzelner Straftaten zu konkreten Gruppen zunehmend schwerer gestalte, und anderseits den rechtlichen Erfordernissen entsprochen.413 Inwiefern eine der Interessen eventuell dominant war, lässt sich leider 410 Diese Unterscheidung im Sinne der Religionsfreiheit setzte sich auch zunehmend bei den AKB durch (vgl. Introvigne, Mouvement Contre les Sectes, 1995). 411 Bellanger et al.  ]LWLHUW QDFK 0LQH 'pULYHV VHFWDLUHV  6  22 (Übersetzung durch Autorin). 412 Fournier ]LWLHUWQDFK0LQHDérives sectaires, 2009, S. 21. 413 Königstedt, Self-Dissolving Enemies.

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nicht zweifelfrei bestimmen. Die Überlegungen münden jedenfalls in einer nur theoretischen Entkopplung der vordefinierten Gruppen von den eigentlichen strafbaren Handlungen (dérives sectaires), angeblich um flexibler gegen deren befürchtete Ausbreitung vorgehen zu können, während zumindest nominell der geforderten Trennung von creeds und deeds entsprochen wird. Über die oben gezeigte Rückbindung an einen bestimmten Typus „Gruppe“ wirkt der bisherige Sektenbegriff und damit auch die Liste des GGR trotz des scheinbaren Zugeständnisses an das Prinzip Religionsfreiheit jedoch nach wie vor weiter, so dass im Prinzip keine positive Neuerung festgestellt werden kann, sondern zusätzlich einzelne Praktiken und Personen z. B. im Bereich alternativer Therapien nach dem angestrebten Gesetz geahndet werden könnten.414

D IE I NNERPARLAMENTARISCHEN D EBATTEN – D ER W EG ZUR V ERSCHÄRFUNG DER RECHTLICHEN M ITTEL Die Schwierigkeiten bei der Defintion des Sektenbegriffs im GGR lassen annnehmen ist, das dessen Bedeutung auch im mündlichen Gebrauch stark variiert. Verschiedene Bedeutungen, die Art seiner Verwendung und damit verbundene Themen müssen dementsprechend auch in den Protokollen der parlamentarischen Debatten auf dem Weg zum Gesetz zu untersucht werden, weil nur so diffusere Konnotationen und Bedeutungsverschiebungen herausgestellt werden können. Teile Letzterer sind, wie angemerkt, juristisch bedingt, insofern im Gesetzestext Definitionen und Bestimmungen mit den übergeordneten Grundprinzipien des Rechts (wie der Verfassung) und Werten nicht in Konflikt geraten dürfen. Brauchbare Definitionen wie die des Tatbestandes müssen sich in den bestehenden Rechtskorpus einfügen,415 dürfen nicht zu viele Änderungen an anderer Stelle nach sich ziehen und müssen in der Praxis anwendbar sein. Diesem Reglement sind zum Beispiel Gesetzesanträge untergeordnet, die freien Debatten im Parlament jedoch in weit geringerem Ausmaß, so dass deren Protokolle sehr viel genauer Aufschluss über eine mögliche Vielfalt an Bedeutungen des Sektenbegriffs geben können. Auf begrifflicher Ebene werden im Verlauf der Diskussionen um die Verschärfung der Gesetzeslage im Parlament hauptsächlich die Bezeichnungen secte(s), mouvement sectaire, mouvements à charactère sectaire, weitere Begriffe denen

414 So auch Altglas, French Cult Controversy, 2008 415 Vgl. z. B. AN: Debats parlamentaires. 22.06.2000 enthält eine tabellarische Gegen überstellung von für das Gesetz beantragten, übernommenen, fallengelassenen und veränderten Vorschläge.

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das Adjektiv sectaire attribuiert wird sowie dessen Substantivierung sectarisme verwendet. Deren genauere Bedeutungen erschließen sich aus den expliziten Bestimmungen des Begriffs, den zugeschriebenen Attributen und Charakteristika und dem, was damit bezeichnet wird. Zusätzlich werden hier bereits indirekte Verweise auf weiterreichende Themenkomplexe und Werte, in welche die Begriffe eingebettet oder mit denen sie verbunden werden, sichtbar, deren genaue Bedeutung im 2. Hauptteil der vorliegenden Arbeit analysiert wird. Als initiale Diskussionsgrundlage für ein Gesetz diente, neben dem GGR, der vom konservativen Senator Nicholas About (in Kooperation mit Catherine Picard, Parti Socialiste) ausgearbeitete Gesetzentwurf N° 79416. Dies war der erste Entwurf, den der Senat überhaupt annahm und so die konkrete Diskussion um die Verschärfung der rechtlichen Mittel gegen „Sekten“ im Parlament eröffnete. About schlug in Verbindung mit einer Verschärfung des Vereinsrechtes vor, les sectes juristisch als terroristische Vereinigungen,417 also hauptsächlich über ihre Militanz und Staatsfeindlichkeit, zu fassen, da sie antisoziale Ideen verbreiteten, Steuern hinterzögen, sich irreführend registrierten, Personen schädigten sowie die öffentliche Ordnung und die Integrität von Staat und Bürgern gefährden würden. Nach diesem Entwurf hätten „Sekten“ vom jeweils amtierenden Präsidenten Frankreichs aufgelöst und ihre Neugründung sanktioniert werden können. Die Auffassung von dem, was eine „Sekte“ ist und welche Konnotationen und Aspekte betont werden, weicht in diesem Entwurf vom GGR durch die Hervorhebung der politischen Gefahren ab. Erst im dritten Absatz des Dokuments, wird die Forderung, die AKB als Nebenkläger zuzulassen, mit dem destabilisierten Zustand, in dem sich die Klagenden oft befänden, begründet. Alle folgenden Gesetzesentwürfe rekurrierten aber genau auf diesen Aspekt. Die auf die auf diesen Entwurf folgenden Diskussionen im Parlament betrafen zwar hauptsächlich die rechtliche Lösung des vermeintlichen Problems: die Verschärfung der rechtlichen Mittel gegen „gefährliche“ Gruppen, der Schutz schwächerer Personen und das Schaffen eines Deliktes psychologischer Gewaltanwendung (manipulation mentale), doch wird das Thema wesentlicher weiter aufgefächert.

416 1998-1999. 417 9JOHEGYJO*HVHW]YRP

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Das Themenspektrum und Bedeutung von „secte“ in den parlamentarischen Debatten „Sectaire“ als politischer Kampfbegriff Während der parlamentarischen Debatten und beim Einbringen von Vorschlägen waren vor allem die Sozialisten, aber auch Politiker des konservativen Spektrums aktiv.418 Auffällig sind in diesem Zeitabschnitt mindestens zwei Arten von Verwendungen des Sektenbegriffs gegen Kollegen im Parlament. Zum einen findet das Adjektiv sectaire relativ unspezifisch Anwendung gegen unbeliebte Anträge oder als Kritik an Blockierungen eigener Projekte.419 Zum anderen kommt es als Substantiv, ähnlich unspezifisch, bei Nicht-Übereinstimmung, auch gegen ungewöhnlich harsche und persönliche Kritik an Kollegen,420 manchmal zusammen mit dem Vorwurf des „Integrismus“421 vor allem aber dann, wenn eigennützige,

418 Die wenn nicht anders vermerkt waren die Protokolle (Compte Rendus) einsehbar unter: http://www.assemblee-nationale.fr/11/documents/archives-OHJDVS zuletzt eingesehen am 10.02.2013. Die Dokumente wurden zum Teil als Web-integrierte Texte ohne oder mit unvollständigen Seitenangaben verwendet und über Suchfunkti onen ausgewertet. 419 Z. B. „QuҲest-ce qui justifie le refus du Gouvernement dҲoffrir aux salariés du privé les mêmes droits quҲà ceux du public, si non une certaine forme de sectarisme, à moins quҲil ne sҲagisse de clientélisme électoral (Protestations sur les bancs du groupe soci aliste).“ Assemblée National: Debats parlamentaires. Journal officiel de la République française. 28.01.1999 (3. Sitzung). 420 Z. B. „votre dogmatisme sectaire“YJOZHLWHU 6LW]XQJ     6LW]XQJ    6LW]XQJ  07.11.1998 (2. Sit ]XQJ   -DTXHV 0\DUG „[...] J‫ތ‬en viens tout naturellement à la notion de manipulation mentale au sujet de la on nous appelle à la prudence. Oui, soyons prudents! Mais nous savons non m oins certainement que les manipulations mentales existent. Lors des commissions dҲenquête, nous avons vu des cas patents et, là encore, nous allons agir sous le contrôle du juge. Alors ne nous faisons tout de même pas peur par avance et sanctionnons ce qui doit lҲêtre. Même si parfois je peux être enclin à penser que mes adversaires politiques, pour être élus, ont manipulé leurs électeurs - mentalement sҲentend - je sais bien que cela ne se peut que sur la partie gauche de lҲhémicycle et pas sur celle où je siège! (Exclamations sur les bancs du groupe socialiste.)“ AN: Debats parlamentaires. 22.06.2000, S. 5740 f. 421 Vgl. AN: Debats parlamentaires. 07.11.1998 (2. Sitzung).

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antinationale Motive unterstellt oder vorgeschoben werden zum Einsatz.422 Immer wieder wird es auch als spontaner Ausruf bei Empörung eingebracht.423 Aus dieser Art des Gebrauchs kann eher vage die Bedeutung von „Separatismus“,424 das Untergraben der gemeinsamen Werte und Handlungsfähigkeit, kurz: der Vorwurf bewusster, oft subversive Abweichung und Störung des Grundkonsens, abgeleitet werden. Dass der Gebrauch in einzelnen Fällen auch rhetorischer und/oder ironischer Art ist,425 ist zu erahnen, anhand der Quellen jedoch nicht immer eindeutig nachzuweisen. Ein Kommentar Rudelles (konservatives Spektrum), in dem er, sich verteidigend, darauf hinwies, dass in der dritten Republik auch die damaligen Sozialisten zuweilen als „Sekten“ bezeichnet wurden, kann allerdings recht eindeutig als Spitze gegen den Aktivismus vonseiten Parti Socialiste interpretiert werden, aus deren Reihen anfangs einige mit dem „Sektenvorwurf“ vielleicht zu freizügig umgingen. Arnaud Esquerre bestätigt eine vielfältige und unspezifische Verwendung des Begriffs als „politischen Kampfbegriff“ mindestens seit der französischen Revolution. Er sei von den Säkularisten gegen die katholische Kirche, von dieser gegen andere Religionsgemeinschaften und später oft für Von-AußenKommendes, Fremdes, zum Beispiel gegen andere Länder, den „Orient“ allgemein verwendet worden und jüngst auch vermehrt für die USA.426 Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass es sich bei secte, sectaire etc. auch um einen geläufigen „rhetorischen Vorwurf handeln kann. Neu sei jedoch, so Esquerre, dass eine radikale Gruppe eine andere so bezeichne (was an die Überlegungen Duverts, Beckfords und Altglas‫ ތ‬zur Relevanz von ähnlich starken Lobbies in den Konflikten anschließt). Würde, worauf es klare Hinweise gibt, die Gefahr administrativer und politischer Infiltrierung zum Teil auch ernst genommen, bliebe die Akzeptanz der Möglichkeit, dass Kollegen im Parlament involviert sein könnten, nicht aus. Eine solche ernsthafte Dimension derartiger Vorwürfe zeigt sich tatsächlich im GBR und an anderer Stelle. Im GBR wird dezidiert die Form der politischen Partei als eine

422 Vgl. AN: Debats parlamentaires. 29.11.2000 (1. Sitzung). 423 Vgl. AN: Debats parlamentaires. 26.01.2000. 424 Vgl. AN: Debats parlamentaires. 17.12.1998 (1. Sitzung), s. a. 28.01.1999 (1. und 3. Sitzung). 425 Vgl. z. B. AN: Debats parlamentaires. 08.11.1999 (2. Sitzung). Dieser Punkt ist m. E. schwierig aus dem schriftlichen Dokument herzuleiten, da weder die allgemeine Stim mung, ggf. persönliche Konflikte, Tonfall u.ä. daraus ersichtlich werden können und lediglich Reaktionen wie „grinsen“ und „lachen“ oder „Applaus“, zum Teil differen ziert nach Sprechern und/oder Fraktionen, angegeben werden. 426 Esquerre, manipulation mentale, S. 58.

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von „Sekten“ genutzte administrative Form genannt und in einem innerparlamentarischen Gespräch wird beiläufig erwähnt, dass ein ranghoher Politiker aktiver Mooni gewesen sei.427 Zudem werden die aus dem Palais de Justice verschwundenen Akten über Scientology428 ausführlich und in Bezug auf eine mögliche Infiltrierung des Staates oder Erpressung von Richtern diskutiert.429 Ein Teil der gegenseitigen Vorwürfe, in eine „Sekte“ involviert zu sein, könnte also durch tatsächliche Befürchtungen motiviert sein und hier kommt ein möglicher Zugzwang ins Spiel (wie er von sozialistischer Seite gegenüber katholischen Sprechern eingesetzt wurde430), der für spätere Überlegungen von Relevanz sein könnte: in einer Situation, in der der „Sektenvorwurf“ im Raum steht und potenziell jeden treffen könnte, war es in gewissem Maße „gefährlich“, für als „Sekten“ klassifizierte Gruppen zu sprechen. Ob die letztendliche Einigkeit im Parlament, dass die gegenwärtigen „Sekten“ eine ernsthafte Gefahr darstellten,431 ein Resultat von Überzeugungsarbeit oder tatsächlicher Überzeugung ist, muss hier vorerst offen gelassen werden Alle drei Interpretationen, ernst gemeinter Vorwurf, Ironie und der die „traditionelle Rhetorik“ gegen politische Gegner sind plausibel und schließen sich nicht gegenseitig aus. Es kann also davon ausgegangen werden, dass les sectes und seine Derivate in den 1990er Jahren unter anderem Verwendung als relativ unspezifische innerparlamentarische „Kampfbegriffe“ finden, denn sie gehören auch zu eine sehr viel älteren Tradition des Sprachgebrauchs.432

Politisch-ökonomische Themen Der oben inhaltlich zusammengefasste Guyard-Brard Bericht über „Sekten“, ihre Finanzkraft und ökonomischen Netzwerke als Ergebnis der zweiten, der Implementierung des Gesetzes vorausgehenden Enquete-Kommission, untersuchte vor allem die angebliche Ausnutzung des Finanzmarktes, Delikte der Steuerhinterziehung und die Strategien „Sekten“, sich finanzielle Ressourcen zu schaffen. Letztere werden als ökonimisch einflussreiche und parasitär wirtschaftende Gruppen

427 AN: Debats parlamentaires. 10.12.1998. 428 Vgl. AN: Debats parlamentairesYJODXFK 6LW]XQJ  429 Vgl. AN: Debats parlamentaires. 22.06.2000 (Beitrag von Rudy Salles). 430 Siehe Duvert, Anti-Cultism, 2004, S. 44-45. 431 Vgl. Hervieux-Légèr, Obsession, 2004, S. 41. 432 Siehe Hauptteil II. Für eine ausführlichere Beschreibung der Geschichte des Sekten begriffs siehe auch: Guillaume Leyte: Aperçu historique sur la notion de secte, in: Messner: Sectes et le droit, 1999, S. 9-20.

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dargestellt,433 ein Themenkomplex der fortan in den parlamentarischen Debatten mit Rekurs auf den GBR diskutiert wird.434 Sectaire oder sectarisme wird für Gewerkschaften und Finanzunternehmen, deren Umgang mit Geld oder deren politische Absichten, ohne jegliche religiöse Konnotation verwendet. „Sektiererisch“ wird zusätzlich als Attribut verwendet, wenn den Forderungen des Staates zugunsten der eigenen Anliegen nicht nachgekommen wird, wie einer Diskussion über die Pflicht von Gemeinden, soziale Einrichtungen zur Verfügung zu stellen, zu entnehmen ist.435 Der Begriff „Sekten“ wird in Bezug auf ökonomische Themen durchgehend mit der Bedeutung „schädlich“ verwendet und fungiert in einigen Fällen auch als Kampfbegriff und wird im Sinne eines Labels zur Sanktionierung von als nicht adäquat empfundenen Verhalten von Vereinen mit der Bedeutung „dem Gemeinwohl entgegen stehend“, verwendet.

Kinder und Jugendliche Kinder werden, wie im GGR, als besonders gefährdete Gruppe betrachtet. Sie werden im Nachklang der „Woche für Kinderrechte“ in Bezug auf „Sekten“ als Spezialproblem behandelt: so sollen jene einen Ombudsmann bekommen und generell jeder, der mit Kindern arbeitet, zu ‚besonderer Achtsamkeit‘ angeregt werden.436 Ausführlich wurde dabei die Verschärfung der Überwachung des in aus u. a. religiösen Gründen möglichen und nicht generell kritisierten Heimunterrichts diskutiert, wobei die Funktion der Schule als kontrollierende Instanz für die Behandlung von Kindern in ihren Familien betont wird. In „Sekten“, so die Befürchtungen, würden Kinder seelisch, körperlich und sexuell misshandelt, isoliert, litten Mangelernährung und mangelhafter ärztlicher Fürsorge, was bei der Teilnahme am regulären Schulunterricht leichter festgestellt werden könnte. Auch müsse garantiert werden, dass Kinder und Jugendliche die säkularen Werte der Republik, kritisches, freies Denken und das nötige Wissen zur gesellschaftlichen Partizipation vermittelt bekämen und so zu vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen würden, was durch regelmäßige Kontrollen des Lernfortschrittes überprüft

433 Vgl. AN: Debats parlamentaires   6LW]XQJ  *X\DUG XQG %UDUG (1999): Les sectes et lҲargent, report no° 1687. 434 Vgl. AN: Debats parlamentaires. 17.10.2000, 6.10.1999. 435 AN: Debats parlamentaires. 16.03.2000 (1. Sitzung). 436 Vgl. AN: Debats parlamentaires.   6LW]XQJ  YJO   Sitzung).

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werden solle.437 In der drastischen Formulierung „lҲecole doit respecter les principes dҲègalité et de laïcité, qui excluent tout sectarisme ou communarisme“,438 wird sectaire im Sinne einer Abgrenzung vom staatlich Vorgegebenen den grundlegenden Prinzipien französischer Staatsbürgerschaft diametral entgegengesetzt. Ein hiermit verwandter Aspekt, Tagesmütter und die Betreuung von Kindern betreffend, findet sich im GBR.

Pacte civil de solidarité In Zusammenhang mit dem PACS (Pacte civil de solidarité), einer in Frankreich möglichen, eheähnlichen Solidargemeinschaft, auch für z. B. gleichgeschlechtliche Paare, wurde bezüglich der möglichen Verbindung von mehr als zwei Personen die „Sekten“-Thematik angesprochen. Viele gleichgeschlechtliche Paare wollen auch rechtsgültig als Familie zusammenleben, also gleichmäßige Rechte auf die gemeinsamen Kinder haben. Bei einer potenziellen Erweiterung des PACS auf eine solche Mehr-Personengemeinschaft, bestünde laut einiger Parlamentarier die Gefahr, „sektiererischen Abweichungen“ Vorschub zu leisten439 (möglicherweise insofern, dass „Gurus“ dann junge Adepten adoptieren und rechtsgültig die Vormundschaft übernehmen könnten). Potenzielle Gefahren durch „Sekten“ werden ebenso im Kontext von Vereinen allgemein und speziell von Sportvereinen für Jugendlichen aufgrund ihrer pädagogischen Funktion gesehen. Aus dieser Befürchtung resultierte die Forderung, „Sekten“ keinen Vereinsstatus zuzuerkennen. Laut GBR seien die meisten „Sekten“ in irgendeiner Form staatlich registriert und zwar oft, wie Jugendgruppen, als einfache Vereine. Insofern sei diese administrative Form verdächtig, doch wird an anderer Stelle noch einmal betont, dass Gruppen und Vereine vordergründig positive, dynamisierende Effekte auf die Gesellschaft hätten.440 Die Freiheit im Sinne des Gesetzes von 1901 Vereine zu gründen, gehöre, wie die Religionsfreiheit, zu den wichtigen Manifestationen der der Republik zugrunde liegenden Werte.441 Die die Bekämpfung der „Sekten“ stößt hier auf ein weiteres Problem, namentlich, den Wunsch, unerwünschte Gruppen rechtlich per se sanktionieren zu können, die französische Vereinskultur aber nicht zu beeinträchtigen. Darüber hinaus wird

437 Vgl. AN: Debats parlamentaires. Sitzung 10.12.1998. 438 AN: Debats parlamentaires. 13.11.2000. 439 Vgl. AN: Debats parlamentaires. 08.11.1998 (2. Sitzung), Diskussion eines Geset zesentwurfes. 440 Vgl. AN: Debats parlamentaires. 10.05.2001 (1. Sitzung). 441 Vgl. AN: Debats parlamentaires. 08.02.2000 (2. Sitzung).

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deutlich, dass die Diskussionen um les sectes auch Einfluss auf relativ weit entfernte Problemstellungen wie den PACS haben. Dies trifft z. B. auch auf das ebenfalls kontroverse Thema gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften, Adoption und Kindererziehung zu. Dabei ist nicht völlig klar, ob hier wenn dann tatsächlich les sectes gemeint sind oder ob schlicht gleichgeschlechtliche Familiengründungen – gegen die es im Jahr 2013 öffentliche Proteste gab – verhindert werden sollen und das „Sektenproblem“ teilweise nur vorgeschoben wurde.

Alternative Heilmethoden und Psychotherapien Aus dem medizinischen Bereich wurden Gesetzesanträge zur genaueren Regelung der Verwendung des Titels „Psychotherapeut(in)“ und zur Ausübung von Psychotherapien mit der Begründung eingereicht, da der Titel nicht hinreichend definiert und geschützt sei. Dies müsse in Anbetracht des derzeitigen Florierens von sektiererischen Gruppen als besonders kritisch bewertet und erneut evaluiert werden, denn „Sekten“ gäben sich zunehmend als psychotherapeutische Vereine aus wendeten „zweifelhafte“ Praktiken an.442 Der explizite Verweis auf „Sekten“ in diesem Sektor kam, wie entsprechende Maßnahmen, etwas später als in den Bereichen Medizin und Pharmazie.

Schwangerschaftsabbrüche Im Zusammenhang mit dem Thema „Abtreibung“ wird betont, dass Frauen sich frei dafür oder dagegen entscheiden können müssen. Vor allem die Begleitung minderjähriger Frauen zu diesem Schritt müsse staatlich kontrolliert, durch gut ausgebildetes (staatlich geprüftes) und nicht mehr durch Laienpersonal erfolgen, denn gerade in derartigen Fällen persönlicher Bedrängnis müsse verhindert werden, dass „sektiererische“ Gruppen beratende Funktionen übernehmen und Einfluss auf die Entscheidungen der Frauen nehmen könnten. Die „Sekten“, die derzeit in die Laienbetreuung von schwangeren Frauen involviert seien, würden versuchen, Einfluss auf deren Entscheidung für oder gegen eine Abtreibung zu nehmen, die Frauen zu bevormunden und Druck auf die Betroffenen auszuüben. Inwiefern hier ebenso die katholische Seelsorge gemeint ist, wird weder direkt gesagt noch aktiv ausgeschlossen, allerdings handelt es sich hier um einen traditionellen Wirkungsbereich und ein konfliktbehaftetes Thema in der Kirche. Am

442 Vgl. Proposition de loi no° 2288 vom 28.3.2000 Am 13.10.1999 (no° 1844), 28.03. (no° 2288) und 26.04.2000 (no° 2342) debattiert im Parlament 09.01.2001, 3. Sitzung.

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Thema „Abtreibung“ kristallisierten sich auch häufig in anderen Kontexten Differenzen christlicher und säkularer Weltbilder,443 so dass hier von einer Überschneidung der Bedeutung der Kategorien „Sekte“ und „(katholische) Religion“ ausgegangen werden kann. Hier offenbart sich innerhalb der Sektendebatte eine generelle Religionskritik.

Die Diskussionen um die Verschärfung der rechtlichen Mittel Die Ergebnisse aller Diskussionen werden in zwei Sitzungen in denen die Verschärfung der rechtlichen Mittel konkret besprochen werden, zusammengeführt. In der ersten Sitzung am 22. Juni 2000444 legen verschiedene Abgeordnete ausführlich ihre Position dar. Les sectes kristallisieren sich hier als im grundsätzlichen Widerspruch zu bestehenden Werten der Republik stehend und als internationales Problem heraus. Die USA werden als zu „Sekten“-freundlich, infiltriert oder sogar selbst als „sektiererisch“ dargestellt. Zudem werden weitere Daten zur Legitimation des Vorgehens angeführt: Laut der Justizministerin (Mme Elisabeth Guigou) habe es insgesamt bis zu diesem Zeitpunkt 248 Klagen gegen „Sekten“ gegeben, von denen es bei 48 zu Verurteilungen gekommen sei und 119 Ergebnisse noch ausstünden. Weiterhin seien öffentliche Umfragen durchgeführt worden, in denen die Mehrheit der Bevölkerung „Sekten“ als wichtiges Problem angesehen hätte. Die rechtliche Verfolgung der manipulation mentale als Delikt sei dennoch schwierig umzusetzen, da eine zu leichtfertige Handhabung die individuellen Freiheiten widerrechtlich beschneiden könnte. Eric Doligé nennt „Sekten“ zusammen mit Drogenmissbrauch als eines der beiden großen Probleme zukünftiger Generationen und betont damit erneut die soziale Brisanz der Problematik --P. Brard spricht von einer „angemessenen Repräsentation der Republik“ (der „Sekten“ entgegenstünden) und Martine David benutzt wie Catherine Picard den alten Begriff

443 Vgl. ebd. S. 9533: M. Bernard Charles: „Il est dangereux en effet que cette fonction puisse être aujourdҲhui exercée par des personnels mal formés ou des membres dҲor ganisations sectaires. Au-delà du délai légal, se pose le problème de lҲIVG tardive. Tant que le foetus nҲest pas viable, le problème n’est pas moral, il est exclusivement médical. Cela peut être dangereux et une commission dҲexperts doit être consultée. Mais nous exprimons notre inquiétude devant des amendements visant à introduire des ‚personnalités qualifiée dans ces commissions. Il n’appartient pas à certains, qui veulent faire passer leur confession, leurs croyances ou leurs idées philoso phiques, d'interférer dans une décision médicale. 444 AN: Comte Rendu 22.06.2000 (Eingangsreden und Discussion Generale).

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obscurantisme („Obskurantismus“), der direkt mit „Aufklärungs- und Bildungsfeindlichkeit“ übersetzt werden kann.445 In der zweiten Lesung kurz vor Verabschiedung des Gesetzes (am 30.5.2001) werden die Debatten auf zwei für die neue Gesetzgebung zentrale Aspekte kondensiert, die mögliche Auflösung der Gruppen und den „Missbrauch Schwächerer“. Das Schaffen eines Deliktes „mentaler Manipulation“ wird als nicht umsetzbar gewertet und sich stattdessen auf die Möglichkeit einer gerichtlichen Auflösung der zur Diskussion stehenden Gruppen konzentriert.446 Die Leiterin der Sitzung hält einleitend einen emotionsgeladenen Vortrag, in dem sie der „Opfer von Sekten“ gemahnt. Anschließend spricht Catherine Picard, die erneut die Gefahren von les sectes unterstreicht und die Verantwortung der Politiker für die Opfer betont. Sie versucht noch einmal, mögliche Einwände zur individuellen und religiösen Freiheit zu entkräften, so seien z. B. alle Sprecher der traditionellen Religionen befragt und ihre Bedenken thematisiert worden. Jean-Pierre Brard und andere folgende Redner thematisieren sowohl die politischen Gefahren als auch die für Individuen. Sehr explizit wird das Thema abschließend noch einmal auf die internationale Ebene gehoben und erneut werden Vermutungen über eine Infiltrierung der US-amerikanischen Administration durch Scientology (oder Moon) geäußert. Hiermit wird nicht zuletzt die Kritik an Frankreichs „Sekten“-Politik vonseiten der USA beantwortet: nicht die USA, sondern der von „Sekten“ durchsetzte Staatsapparat, kritisiere Frankreich, ist die implizierte Botschaft. Die Überzeugung von der Notwenigkeit, auch über die französischen Grenzen hinaus in Europa aktiv zu werden, stellt bei vielen Rednern einen Ausblick auf eine sich scheinbar notwendig anschließende Agenda dar.

445 Der aus aufklärerischem Kontext stammende Begriff wurde u. a. als „mit zweifelhaf ter Herkunft“, mit den Bedeutungen anti-aufklärerisch, metaphysisch oder „religiös“ im Sinne von „geistiger Verdunklung“ und „Wegführen“ von wahrer Einsicht verwen det (Meyers Konversationslexikon  ]XOHW]W HLQJHVHKHQ EHU URL: http:// de.academic./dic.nsf/meyers/99642 am 10.02.2013). Auch eine Übersetzung als „Verdum mungseifer“ ist zu finden (Duden, Fremdwörter-Lexikon, 1960) oder als „das Bestreben, die Menschen bewusst in Unwissenheit zu halten, ihr selbständiges Denken zu verhindern und sie an Übernatürliches glauben zu lassen (Duden online  GHU%HJULIIZXUGH seit dem 17. Jht. wurde jedoch von unterschiedlichen Autoren mit unterschiedlichen Akzentuierungen adaptiert. 446 9JO HEG YJO$1 Debats parlamentaires   6LW]XQJ $1 Debats parlamentaires. 22.06.2000.

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L ES

SECTES IM G ESETZ NO ° 2001-504 DU UND DEN VORHERGEHENDEN E NTWÜRFEN

12

JUIN

2001

Nach mehreren Vorschlägen, den oben zusammengefassten Debatten und pragmatisch-juristischen Überlegungen wurde am 12. Juni 2001 schließlich das Gesetz „[...] tendant à renforcer la prévention et la répression des mouvements sectaires portant atteinte aux Droits de lҲHomme et aux libertés fondamentales“447 erlassen. Folgend werden die juristische Fassung des Sektenbegriffs sowie dessen letztendlich übernommenes Bedeutungsspektrum, das sich überwiegend in den Straftatbeständen abzeichnet,448 besprochen. Um die Entwicklung der juristischen Mittel vollständig nachzuzeichnen, werden hier vor der Analyse des Gesetzestextes chronologisch geordnet weitere, dem Gesetz vorausgehende, propositions de loi sowie die Anträge, die nicht direkt mit dem APG in Verbindung stehen sich aber auf die „sektiererische“ Gefahr berufen, aufgelistet.

Der Weg zur Verschärfung der Rechtsmittel in den verschiedenen Entwürfen und Anträgen Nicholas About Vorschlag wurde u. a. dahingehend modifiziert, dass anstatt einer Auflösung verurteilter „Sekten“ durch den Präsidenten die gerichtliche Auflösung bevorzugt wurde. In diesem Fall würde der Vollzug der Strafe deutlich weniger einen Ausnahmefall von nationaler Relevanz darstellen, wie auch die Konnotationen „terroristisch“ und „staatsgefährdend“, im direkten Zusammenhang mit dem Gesetz, stark in den Hintergrund rückten. In der wichtigen und längsten parlamentarischen Besprechung des potenziellen Gesetzes am 22. Juni 2000 wurden zuVlW]OLFK]XGHQ(QWZUIHQ D QRƒXQG E QRƒPLUOHLGHUQLFKW]XJlQJ

447 Das „APG“: Loi n° 2001-504 du 12 juin 2001 tendant à renforcer la prévention et la répression des mouvements sectaires portant atteinte aux droits de lҲhomme et aux libertés fondamentales (deutsch: Gesetz n° 2001-504 vom 12. Juni 2001 zur Stärkung der Prävention und Bestrafung sektiererischer Bewegungen, welche die Menschen rechte und grundlegenden Freiheiten gefährden), URL: www.legifrance.fr, zuletzt ein gesehen am 10.01.2016. 448 Die hiermit zu großen Teilen gleichzeitig erhobenen Inhalte des Gesetzes inklusive der theoretischen Konsequenzen für betroffene Gruppen wurden als Übertrag in fol gende Kapitel zur praktischen Anwendung des Gesetzes übernommen.

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lich) noch folgende Vorschläge zum Gesetz eingebracht, die vornehmlich auf weitere pragmatische Modifikationen von Senator Abouts Vorschlägen ausgerichtet sind: c) Vorbeugung und Unterdrückung „sektiererischer“ Gruppen (C. Picard, no° 2435). d) Schaffung des Verbrechens „mentaler Manipulation“ ('ROLJpQRƒ nicht erfolgreich). e) Schutz verletzlicher Personen gegen tadelnswerte Aktivitäten von „Sekten“ (J. 7LEHULQRƒHUIROJUHLFK  f) Verschärfung der rechtlichen Mittel im Kampf gegen „Sekten“ (E. Doligé, no° 2156). g) Verschärfung der rechtlichen Mittel gegen kriminell aktive Gruppen und Vereine, die eine Störung der öffentlichen Ordnung oder eine große Gefahr für 0HQVFKHQGDUVWHOOHQ -3%UDUGQRƒHUIROJUHLFK  h) Die Zulassung von „Anti-Sekten“-Organisationen als Zivilkläger (E. Doligé, QRƒQLFKWHUIROJUHLFK  i) Zulassung einiger „Anti-Sekten“-Organisationen als Zivilkläger (C. Picard, no° 1295, erfolgreich). j) Über die Bedingungen öffentlicher Finanzierung politischer Parteien und Gruppen (betrifft die Bereitstellung finanzieller Ressourcen für MILS%UDUG no° 842, erfolgreich). k) Die Einschränkungen bei der Erteilung von Baugenehmigungen für „sektiererische Gruppen“ %UDUGQRƒJLQJQLFKWLQGDV$3*HLQ  l) Schaffung eines Haut Conseil des cultes (P. Albertini, no° 376). Der Versuch, das Verbrechen der „mentalen Manipulation“ zu schaffen scheiterte, nicht aber allgemeiner gehaltene Anträge die den Schutz Schwächerer und der öffentlichen Ordnung forderten. Zusätzlich wurde die Möglichkeit für AKB, als Nebenkläger aufzutreten sowie die Bereitstellung finanzieller Ressourcen für eine interministerielle Behörde zur Beobachtung der „Sekten“ erfolgreich beantragt. h) und i) im Vergleich zeigen auf, dass nicht zuletzt eine Detailarbeit an den Formulierungen war, die geleistet werden musste, während der Vorschlag k), in dem „Sekten“ nicht in einem Umkreis von einigen hundert Metern von Schulen und sozialen Einrichtungen hätten operieren oder anwesend sein dürfen, aufgrund der Unmöglichkeit der praktischen Umsetzung abgelehnt wurde (eine jeweils exakte Messung des Radius wurde als nicht durchführbar angesehen). Nicht offiziell direkt das APG betreffend wurden zudem vom Jahr 1999 bis zum Jahr 2000 drei

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Anträge zur Reglementierung der Verwendung des Titels „Psychotherapeut“ sowie „Inhalte einer Psychotherapie“ eingereicht und im Parlament diskutiert.449 In ihnen wurde darauf verwiesen, dass mit dem vermehrten Aufkommen von Therapeuten die Qualität der Behandlung nicht mehr gleichmäßig gewährleistet sei und zudem die Gefahr bestünde, dass sich „Sekten“ in diesem Bereich ausbreiten würden. Seit dem Jahr 2004 wurden derartige Forderungen umgesetzt und respektive Bestimmungen in den Rechtskorpus aufgenommen.450

Artikel 1 des APG und „die psychische und physische Unterwerfung von Personen“ Das im Juli 2001 erlassene „Gesetz n° 2001-504 vom 12. Juni 2001 zur Stärkung der Prävention und Bestrafung sektiererischer Bewegungen (mouvements sectaires), welche die Menschenrechte und grundlegenden Freiheiten gefährden würden“451, ist Teil des französischen Strafgesetzbuchs (Code Pénal, folgend: CP). Es bezieht sich inhaltlich zum großen Teil auf im CP bereits festgelegte Straftaten

449 Vgl. Proposition de loi no° 2288 vom 28.0.2000 Am 13.10.1999 (no° 1844), 28.03. (no° 2288) und 26.04.2000 (no° 2342) debattiert im Parlament 09.01.2001 (3. Sit zung). Anders die Bereiche Pharmazie und Medizin, welche direkt in das APG ein gingen. 450 Vgl. LOI n° 2004-806 du 9 août 2004 relative à la politique de santé publique. Art. 52: Réservation de lҲusage du titre de psychothérapeute aux professonnels inscrits au registre national des psychothérapeutes - Inscription de droit audit registredes méde cins et psychologues diplômés de lҲUniversité et des psychanalystes réguli èrement enregistrés dans les annuaires de leurs associations. URL: http://www.le gifrance.gouv.fr/jopdf/common/jo.pdf.jspnumJO=0&dateJO=0040811&numTexte=0 000&pageDebut=00004&pageFin ]XOHW]Weingesehen am 25.03. 2013. 451 Loi n° 2001-504 du 12 juin 2001 tendant à renforcer la prévention et la répres sion des mouvements sectaires portant atteinte aux droits de lҲhomme et aux libertés fondamentales (deutsch: Gesetz n° 2001-504 vom 12. Juni 2001 zur Stärkung der Prä vention und Bestrafung sektiererischer Bewegungen, welche die Menschenrechte und grundlegenden Freiheiten gefährden).

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und Delikte, die vor diesem Hintergrund auf bestimmte moralische (d. h. juristische) Personen452 im Sinne von Vereinigungen, Organisationen und Gruppen erweitert angewendet und schwerer bestraft werden können.453 Als zentrale einschneidende Neuerung ermöglicht es mit Artikel 1 die administrative Auflösung »[…] jeglicher juristischer Person, gleich welcher tatsächlichen Form, welche Aktivitäten verfolgt, die als Ziel oder als Ergebnis die Erzeugung, die Aufrechterhaltung oder die Ausnützung einer psychischen oder physischen Unterwerfung von Personen haben, die an diesen Aktivitäten teilnehmen.«454

Mit anderen Worten: Individuen oder juristische Personen (zum Beispiel Vereine, Firmen) und deren Leiter (beides „Täter“), die Aktivitäten verfolgen, welche intendieren oder effektiv dazu dienen, andere Personen psychisch zu unterwerfen oder eine solche, bereits bestehende Situation, aufrecht zu erhalten oder auszunützen, machen sich strafbar im Sinne des Gesetzes. Dies gilt vor allem unter der Bedingung, dass besagte unterworfene Personen, vor allem „Schwächere“ („Opfer“) s. u., an solchen Aktivitäten teilnehmen, während das Schaffen dieses Kontextes zum „Delikt“ gehört. „Täter“ werden über den Vollzug des Straftatbestandes definiert, wobei weder Ergebnis noch die Intention eine Rolle spielen. Wie

452 „personnes morales“:„[…]Expression désignant une construction juridique à laquelle la loi confère des droits semblables à ceux des personnes physiques (nom, domicile, nationalité, droit dҲacquérir, dҲadministrer et de céder un patrimoine...). Ainsi, sont des personnes morales, on dit aussi ,personnes juridiquesұ, lҲEtat, les Départements, les municipalités, les établissements publics, les associations déclarées, les sociétés commerciales, les fondations.“, URL: http://www.dictionnaire-juridique.com/define tion/personne-PRUDOHSKSzuletzt eingesehen am 05.10.2011. 453 Loi n° 2001-504 du 12 juin 2001, Art. 1, Spezifizierungen: 1*eine juristische Person (Gruppe, Organisation s. o.) kann aufgelöst werden, wenn sie, ihr Leiter oder eines ihrer Organe in irgendeiner Form im Code Pénal freiwillig oder aus Versehen Straftaten begeht, die einem Menschen, besonders Minderjährigen in irgendeiner Form schädigen. 2* bei Verstoß gegen das Gesetz für öffentliche Gesundheit. 3*bei Vergehen lügnerischer Veröffentlichungen, des Betrugs oder der Fälschung, vorgese hen im Verbraucherschutz Gesetz. Die explizite Erweiterung der Verantwortlichkeit auf die Gruppe in Bezug auf Straftaten, für die üblicherweise nur Einzelpersonen zur Rechenschaft gezogen werden, ist in dieser Form neu (vgl. APG, Kapitel II). 454 Loi n° 2001-504 du 12 juin 2001, Art. 1.

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Beckford455 hervorhebt, bedeutet dies, dass sich weder das „Opfer“ als Opfer fühlen, noch der Täter ein Bewusstsein seiner Handlung oder die Intention dieselbe durchzuführen haben muss. Diese Entscheidung wird paternalistisch von einem Gericht getroffen. Erläuterungen im GGR und zum ersten Gesetzentwurf von N. About (°79) weisen darauf hin, dass auf der Seite des „Opfers“ Unzurechnungsfähigkeit vermutet wird und zum Beispiel erfahrene Gewalt nicht als solche wahrgenommen werden konnte. Das entscheidende Kriterium der Täterschaft, das Begehen des Missbrauchs in Zusammenhang mit der Erzeugung oder Aufrechterhaltung psychischer Unterwerfung, hat darüber hinaus Implikationen eines organisierten, mehr als einmaligen und regelmäßigen Vorgehens. Die Begriffe sectes und dérives sectaires werden im Gesetzestext nicht verwendet Auf die gemeinte Entsprechung der über den Straftatbestand definierten Täter verweist jedoch der Titel des Gesetzes mit der Bezeichnung mouvements sectaires (in der Überschrift des Gesetzes und der von Kap. IV) relativ direkt. „Sekten“ und „sektiererisch“ sind demnach Organisationen, Gruppen oder Einzelpersonen, die gegen die Menschenrechte und fundamentalen Freiheiten verstoßen, indem sie Personen psychisch oder physisch unterdrücken oder solche Zustände innerhalb eines organisierten Kontextes ausnutzen. Das Label „Sekte“ wird offiziell erst mit der Verurteilung aufgebracht und eine „Sekte“ damit juristisch als eine spezielle Unterform krimineller Organisationen definiert. Allerdings ist die Definition des Straftatbestandes noch immer so ungenau, dass das Gemeinte anderweitig spezifiziert werden und auf allgemeines Wissen zurückgegriffen werden muss, was schon die Nennung der mouvements sectaires im Titel anzeigt. Der Straftatbestand der „psychologischen Unterdrückung“ ist zudem so eng, prominent und fast ausschließlich mit den „Sekten“ aus den öffentlichen Diskussionen verknüpft, das mit ihm implizit auf diese Gruppen verwiesen wird. Wann es sich genau um eine „Sekte“ und „psychologische Unterdrückung“ handelt, kann aus der Definition nicht abgeleitet werden (ebenso wenig wie aus den Kriterien im GGR), so dass zur der Bestimmung einer entsprechenden Straftat in der Praxis wieder auf die Liste des GGR, die allgemeine Auffassung darüber oder auf Experten wie die „Anti-Kult“-Bewegungen (mit ihrer hier neu festgelegten Rolle als potenzielle Nebenkläger456) zurückgegriffen werden muss. Eine Klassifizierung als „Sekte“ steht also sehr wahrscheinlich zumindest im Fall bekannter verdächtiger Gruppen

455 Beckford, Dystopia, 2004, S. 34-35. 456 Siehe Kapitel 6.

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nach wie vor bereits vorher fest und wird ebenso wahrscheinlich in anderen Fällen noch immer von „Anti-Sekten“-Gruppen beeinflusst.457

Die mit den mouvements sectaires verbundenen Delikte. Das Strafspektrum. Zur Bestimmung der Auffassung dessen, was eine „Sekte“ über die im Artikel 1 des APG genannten Handlungsweisen hinaus ausmacht, ist eine genauere Betrachtung der anderen im Gesetz benannten konkreten Straftaten und Delikte hilfreich. Diese spiegeln das von les sectes erwartete Straf- und damit ihr Handlungsspektrum wider und benennen gleichzeitig die als konflikthaft wahrgenommenen Bereiche, in denen das Schaffen der „Sekten“ nun konkret bekämpft und reguliert werden soll. Das APG bezieht sich auf und modifiziert neben den Verbrechen gegen die Person und das Eigentum von Personen im CP, das Gesetz öffentlicher Gesundheit (&RGH GH OD 6DQWp 3XEOLTXH folgend CSP) und das Verbraucherschutzgesetz (Code de la Consommation, folgend CdlC). Im CSP wird das Strafmaß für das illegitime Ausüben medizinischer Tätigkeiten458 und die illegitime Ausübung des Berufs des Pharmazeuten459 geregelt. Im CdlC wurde ein zusätzlicher Artikel, L. 213-6 eingefügt, der sich auf Vergehen betreffs des Verkaufs von Gütern, deren Etikettierung, (irreführende) Produktbeschreibung und Produktverfälschung (z. B. bei Medikamenten) sowie hinsichtlich des Betruges in Bezug auf Mengen bezieht.

457 Eine offizielle Zurücknahme der GGR-Liste erfolgte erst 2005 (Circulaire du 27 mai 2005 relative à la lutte contre les dérives sectaires. n°126 du 1 juin 2005, S. 9751, n° 8). Fraglich ist auch, wie das Ausüben psychischen Drucks zu einem in der Ver gangenheit liegenden Zeitpunkt nachgewiesen werden könnte, zumal die psychische Verfassung des „Opfers“ sowie das, was als Druck empfunden wird, schwer objektiv nachvollzogen werden kann. Unklar ist ebenfalls, wie dies von alltäglichen Situatio nen, in denen Druck ausgeübt, empfunden oder Manipulation eingesetzt wird unter schieden werden kann (gemeint sind alltägliche Situationen im Fußballverein, am Ar beitsplatz oder die Beeiflussung durch die Medien). Angesichts einer solchen heuris tischen Dysfunktionalität der zentralen Begriffe ist es unumgänglich, dass auf andere Wissensbestände (das allgemeine Vorverständnis, von dem, was und wer eine „Sekte“ ist) zurückgegriffen wird. 458 In L.4161-5(CSP) werden weiter explizit die „[...] illegale Ausübung des Berufs des Arztes, Zahnarztes oder der Hebamme“ genannt. 459 Art. L. 4223-1 ebd.

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Für diese Vergehen können die im APG angeführten Vereine sowie einzelne Mitglieder derselben härter bestraft werden. Es ergeben sich vier größere und vielfach miteinander verbundene Felder, innerhalb derer Straftaten von les sectes vermutet werden: 1. Verbrechen gegen die Person, 2. Verbrechen gegen Eigentum sowie Geldwäsche, 3. illegitimes Ausüben medizinischer und pharmazeutischer Berufe sowie 4. Produktfälschung und Falschangaben auf zu vertreibenden Produkten. Punkt 4 zielt, wenn keine Schädigung der Person oder ein Verbrechen oder eine Unterlassung im dritten Bereich vorliegt, vorwiegend auf Punkt drei im Sinne eines Betrugs in Form von falschen Angaben bezüglich der Wirksamkeit, der Reinheit von Produkten, der Art der Wirksamkeit oder Schädlichkeit ab und wird gegen anerkannte Therapiemethoden abgegrenzt. „Verbrechen gegen das Eigentum von Personen“ beinhalten „räuberische Erpressung“ (sowie „Erpressung“ allgemein), Unterschlagung aber auch Geldwäsche. Das Genannte bezieht sich einerseits auf die finanzielle Ausbeutung ihrer Adepten sowie andererseits auf Steuerhinterziehung und das Betreiben von Geschäften, die illegale Bezüge verschleiern sollen. Steuerhinterziehung ist ein Vorwurf mit dem bereits weit früher gegen „Sekten“ vorgegangen wurde: Im Jahr 1998 sollten die Zeugen Jehovas nach einer negativen Prüfung ihres, bis dato steuerbefreiten, Status einer ihrer Teilorganisationen rückwirkend für mehrere Jahre zu einer Zahlung von 60% Steuern auf eingenommene Spenden zurückzahlen.460 Diese Summe überschritt das Vermögen der ZJ jedoch bei Weiten und führte zeitweilig zu ihrem Konkurs in Frankreich, wovon sich die Gruppe heute jedoch wieder erholt hat. Eine explizite Erwähnung im APG ist als eine Stärkung der NRB betreffenden negativen Steuerpolitik Frankreichs zu bewerten und die ZJ selbst vermuteten zu ihrem Fall, dass über diese Maßnahme der Gruppe gezielt ihre gesamte finanzielle Grundlage entzogen werden sollte. Die aufgeführten Verbrechen gegen die Person beinhalten Mord, Totschlag (auch unbeabsichtigt), besonders durch Vergiftungen, Anstiftung zur Selbsttötung, Werbung für Hilfsmittel zur Selbsttötung, Folter, Androhung von Gewalt und Missbrauch der Aufsichtsstellung in Form von Drohung, Zwang oder starkem Druck, um sexuelle Gefälligkeiten zu erlangen. Sie spiegeln nicht nur reale Vorkommnisse in Zusammenhang mit einzelnen NRB, sondern auch viele nie bewiesene Anschuldigungen, wider.461 Beides wird durch die Nennung an dieser Stelle zu-

460 Vgl. Informationsdienst der Zeugen Jehovas, Nr. 14/98, 30. Juni 1998. 461 Hier wohl das kollektive, gewaltsame Sterben bei den Sonnentemplern Anfang der neunziger Jahre gemeint, bei dem PHKUHUH3HUVRQHQVLFKVHOEVWRGHUHLQDQGHUW|WHWHQ sexuelle Nötigung, Vergewaltigung und körperliche Gewalt sowie deren Androhung

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sätzlich mehr oder weniger für alle als les sectes bezeichneten Gruppen generalisiert.462 Hinzu kommen Vergehen wie wiederholte böswillige Telefonanrufe (so angeblich geschehen durch Scientology bei unsicheren Mitgliedern oder Aussteigern) oder starke Lärmbelästigungen, die die Ruhe eines anderen stören sollen,463 unterlassene Hilfeleistung,464 Nicht-Zahlung von Schulden und Unterhalt, Vernachlässigung der Fürsorgepflicht (zum Beispiel bei der gemeinschaftlichen Erziehung von Kindern in einer Kommune) sowie die Unterlassung, ein Kind in einer Bildungseinrichtung anzumelden. Für diese, wie alle anderen Vergehen wird die Verantwortlichkeit, wie bereits oben gesagt, auf moralische Personen erweitert, während das Strafspektrum weitgehend, den hier von Indikatoren zu Delikten umformulierten, Kriterien des GGR entspricht. Einzig „[d]em betrügerische Missbrauch des Zustandes der Unwissenheit oder der Schwäche“,465 dem lҲabus faiblesse wurde ein eigenes Kapitel im APG eingeräumt, in dem seine Bedeutung durch die „Schädigung der Person“ ergänzt wurde.466 Hier wird im Gegensatz zum Artikel 1 des APG der Straftatbestand mit der Opfergruppe „Schwächerer“ spezifiziert. Hiermit über eine Referenz verbunden, wurde im Code Pénal darüber hinaus ein Artikel 223-15-2 geschaffen, der den „betrügerischen Missbrauch des ,Zu-

stellen Vorwürfe dar, die einigen NRB (wie den Kindern Gottes, den Räelianern u. a.) öffentlich gemacht wurden. 462 Zu nennen sind in diesem Zusammenhang auch die Bezüge auf die Verletzung der Unversehrtheit eines Leichnams und Schändung oder Entweihung von Grabmälern, Grabstätten oder Totendenkmälern. Diese Verweise können Relikte der Satanic Scare sein, wie es sie auch u. a. Deutschland gab, ein Thema, das gegenwärtig in Frankreich kaum noch präsent zu sein scheint. 463 Der zweite Vorwurf wurde einige Male von Anwohnern gegen NRB, die Räumlichkeiten in der Nachbarschaft nutzen, vorgebracht und so deren Aktivitäten behindert. Ähnliches ist auch z. B. in Australien mit seinen im Prinzip sehr liberalen Regelungen für religiöse Gemeinschaften zu beobachten. 464 Hierunter können die Duldung einer möglichen Misshandlung durch andere Adepten, aber auch die Verweigerung von Bluttransfusionen (Zeugen Jehovas) sowie die Verweigerung anderer schulmedizinischer Behandlungen zugunsten al ternativer Medizin fallen (vgl. das Kapitel zu Tabhita‫ތ‬s Place in Palmer, Heretics, 2011, S. 111-127). 465 Dispositions relatives à lҲabus frauduleux de lҲétat dҲignorance ou de faiblesse APG Kap. V. 466 Duvert, Sectes et droit, 2004, S. 77.

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standes der Unwissenheit‘ oder der ,Situation der Schwäche‘, bei einem/r Minderjährigen, einer ,Person besonderer Verwundbarkeit […]‘,467 die offensichtlich und dem Urheber bekannt sind (ist), mit 2500000 F468 Geldbuße und einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bestraft, wenn dieser Person schwerer Schaden durch Ausführen oder Unterlassen einer Handlung zugefügt wird.“ Zusätzlich explizit erwähnt werden noch einmal Personen „im Zustand der psychologischen oder physischen Unterwerfung, welcher durch die Anwendung schweren, wiederholten Drucks oder durch Techniken hervorgerufen wurde, die geeignet sind, ihre Urteilsfähigkeit zu verändern“. Sollte diese Straftat von einer Vereinigung gemäß Artikel 1 des APG begangen werden, erhöht sich das Strafmaß (für Ausführende und/oder verantwortliche Leiter) auf 5000000 F469 und fünf Jahre Gefängnis.470 Cyrille Duvert zufolge ist der entsprechende Paragraph bereits vorher im CP im Kontext der Schädigung von Eigentumsrechten vorhanden gewesen und nun in den Kontext der Schädigung von Personen direkt hinter den Abschnitt zur Anstiftung zum Selbstmord innerhalb des CP verschoben worden, so dass hierdurch nicht mehr nur der Besitz, sondern das Sein der Person geschützt werde.471 Dem betrügerischen Aspekt wurde also der Aspekt der Schädigung der Person in ihrer physischen und psychischen Unversehrtheit hinzugefügt und zwar besonders dann, wenn diese Personen in irgendeiner Form speziellen Schutzes bedürfen (und leichter als andere Opfer psychischen oder physischen Druckes werden könnten). Die psychische Verletzlichkeit der Person wurde hiermit rechtlich kodifiziert und anerkannt und verweist auf einen kulturellen Wandel in der Konzeption des Individuums in Frankreich, der später genauer erörtert werden wird.472 Nach erfolgter Verurteilung473 ist dem mouvement sectaire außerdem jegliche Werbung und das Verbreiten von Nachrichten an Jugendliche verboten, was auf missionarische Tätigkeiten abzielt, gegebenenfalls jedoch die gesamte öffentliche Präsenz der betroffenen Gruppe einschränken kann.

467 Wegen ihres hohen oder niedrigen Alters, einer Krankheit, eines Gebrechens, einer physischen oder psychischen Behinderung oder im Zustand der Schwangerschaft. 468 Etwa 380 000 Euro. 469 Etwa 760 000 Euro. 470 Loi n° 2001-504 du 12 juin 2001, Artikel 19. 471 Duvert, Sectes et droit, 2004, S. 77. 472 Duvert, Anti-Cultism, 2004, S. 45. 473 Loi n° 2001-504 du 12 juin 2001, Kap IV.

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Z USAMMENFASSUNG : T HEMATISCHE F ELDER S EKTENBEGRIFFS

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DES

„Infiltrierung“ und „Manipulation“ – „Sekten“ als individuelle, soziale und politische Gefahr in Enquête-Berichten und parlamentarischen Debatten In den parlamentarischen Debatten zwischen den beiden Enquête-Berichten können analog zum GGR und GBR zunächst zwei übergeordnete Themenkomplexe als Pole zwischen denen die Diskussion sich hin und her bewegt herausgestellt werden: die bereits im GGR betonte Gefährdung von Individuen, besonders von Kindern oder anderweitig verletzlichen Personen sowie die Gefahr einer subversiven Infiltrierung des Staates durch „Sekten“ mit Machtbestrebungen auf politischer Ebene. Wurden im GGR die „Grundlagen“ der Diskussion geschaffen und die Gefahr für Personen schwerpunktmäßig thematisiert, wird der Themenkomplex im GBR stark in die politische und gesellschaftliche Dimension erweitert. Dem können zumidest zum Teil auch die im GBR behandelten ökonomischen Gefahren zugeordnet werden, die aber darüber hinaus auch einen separaten Themkomplex bilden. Weiter wird der Begriff vor allem mit sozialen Themen zwischen Individuum und Gesellschaft verknüpft, so durch ihre administrativen Eingliederung über bestehende Vereinsformen, die Werbung von funktional wichtigen gesellschaftlichen Personen in ihren Rollen als Ärzte oder Lehrer, oder ihr Erstarken im therapeutischen Sektor. Kurz, die befürchteten Fronten der „Infiltrierung“ und Gefahr durch „Sekten“ werden im Verlauf der Debatten fast überall vermutet. Nun hier zusammengetragen erscheinen die Inhalte der Debatten thematisch GHXWOLFKZHQLJHULQNRQVLVWHQWDOVQRFK]X%HJLQQGHU8QWHUVXFKXQJDQHLQLJHQ Stellen werden logische Zusammenhänge zwischen einzelnen Opfern von „Sekten“ und einer Gefährdung des Staates von den Sprechern selbst auf abstrakterer Ebene formuliert und beide Aspekte über die Werte der laizistischen Republik und der individuellen Staatsbürgerschaft mit ihren Pflichten, aber auch den entstehenden Schutzansprüchen miteinander verbunden. Beide Aspekte werden aber auch auffällig häufig voneinander entkoppelt benutzt, was im Anschluss an Beckford474 durch Framing-Prozesse innerhalb des Parlaments erklärt werden kann, dass für verschiedene Fraktionen möglicherweise entweder jeweils politische Gefahren oder die mögliche Schädigung von Personen jeweils im Vordergrund standen. Beides wird im zweiten Hauptteil genauer ausgeführt.

474 Vgl. Beckford, Cult Controversies in five Countries, 1984.

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In allen angesprochenen Zusammenhängen haben „Sekten“ eine negative Bedeutung, die allen positiv besetzten Werten diametral entgegensteht. Seien „antisozial“, das heißt zum einen in Rede und Handlungen gegen die Gesellschaft eingestellt, um ihre eigenen unorthodoxen Praktiken zu rechtfertigen und zum anderen, in erster Linie auf (ökonomischen) Selbsterhalt ausgerichtet. So schädigten die nationale Gemeinschaft durch ihre Machtbestrebungen und parasitäre Partizipation und schädigten Individuen, in dem sie diese finanziell und seelisch ausnutzen, nachdem sie sie aus der französischen Gesellschaft in ihre Kreise „hinein manipuliert“ hätten. Zu schützen seien schwächere oder verletzliche Personen vor Ausbeutung und Isolierung durch „Sekten“, die Familie als Fundament der Gesellschaft und die Gesellschaft selbst vor separierenden Bestrebungen in Verbindung mit oppositionellen Entwürfen von Gemeinschaft und einer (Re-)Infiltrierung mit denselben. Befürchtet wird ein Einfluss„sektiererischer“ Bestrebungen bis hin zu einer Durchdringung auf Staatsebene, eine Befürchtung die so aus anderen europäischen Ländern nicht bekannt ist. Der Begriff fungiert außerdem als Schimpfwort, welches nicht nur gegen NRB verwendet wird, um zum Beispiel sich abgrenzendem Verhalten von Gruppen innerhalb der Gesellschaft als Fehlverhalten zu sanktionieren. Der Vorwurf des „Sektierertums“ ist hier meist ein Vorwurf antisozialen (parasitären) Verhaltens und sozialer Schädlichkeit, der auch gegen Gewerkschaften, Firmen oder Kommunen eingesetzt werden kann. Der Begriff in seiner Bedeutung wird so im rhetorischen Gebrauch weit über NRB hinaus entgrenzt, auch (vielleicht zufällig) analog zu den zur Entwicklung in den Spezialdiskursen von les sectes zu den dérives sectaires, bei der die Entkopplung von bestimmten Akteuren theoretisch die Möglichkeit einer umfangreicheren Verwendung des Begriffs erlaubt. „Sekten“ erscheinen durch die Erweiterung des mit ihnen verbundenen Themenspektrums, den teilweise höheren Abstraktionsgrad einiger Argumente und die Verwendung über NRB hinaus in den Debatten zunehmend als großer abstrakter Topos gesellschaftlicher und privater Erosion.475 Deutlich zeigen sich innerhalb der „Sekten“-Debatten das Wirken abstrakter Topoi hinter den Konflikten und eine zumindest rhetorische Abwehr von etwas, das als gänzlich fremd, unmoralisch und gefährlich eingestuft wird und eher einem Prinzip als einer sozialen Entität gleicht. Konkret als Beispiele angeführt werden jedoch nur die – zahlenmäßig geringen – NRB. Abbildung 4 veranschaulicht die Fronten der wahrgenommenen Gefahr und kontrastiert die „Sekten“ und ihre vermeintlichen Wirkungsbereiche mit dem wissenschaftlichen Verständnis von NRB: 475 Im GGR (unter „Charakteristika einer ,Sekte‘“) selbst wird eingestanden, dass les sec tes bestimmte Bedürfnisse einiger Menschen bedienen.

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Abb. 4: Skizze zum Bedeutungsspektrum des französischen Sektenbegriffs im Verhältnis zum Begriff „Neue Religiöse Bewegungen“ Spekulationen über „subversive Infiltrierung durch „Sekten“ - vermeintlich betroffene Sektoren [x]

NRB Neue Religiöse Gruppen, Klientenkulte, Netzwerke Online-Religionen

Gesundheitsund therapeutischer Sektor

x „Les Sectes“ Sozialer und Bildungssektor

Psychologische Unterdrückung von Personen, Betrug [...].

x

Wirtschaft und Politik

x

Spektrum des Verständnisses einer „Sekte“ auf Objektebene (blau)

Wissenschaftliches Verständnis von Neuen Religiösen Bewegungen und gegenwärtiger Spiritualität (inkl. alternativer Heilpraktiken)

Die Vermutung, hier wird unter anderem diffusen und damit nicht kontrollierbaren Schwierigkeiten ein Name und eine scheinbare Gestalt – ein „Sündenbock“ – gegeben, liegt relativ nahe und wird in Hauptteil II erneut angesprochen.

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„Les sectes“ und „Religion“ (I) Im GGR wird eine Typisierung der „Sekten“ unternommen, bei denen es sich überwiegend um NRB handelt und die traditionellen Religionen ausgeschlossen werden. In den Debatten werden, abgesehen von der oben beschriebenen Ausweitung der Begriffsverwendung gegen nicht-religiöse Akteure hinaus, wiederholt Scientology, die Zeugen Jehovas und die Moonies namentlich genannt, wenn praktisch erläutert werden soll, was gemeint ist. Gleichzeitig werden die Kategorien „Sekte“ und „Religion“ explizit mit großem Abstand zueinander behandelt. Die von Beckford angeführte in den 1990er Jahren verstärkt einsetzende Abgrenzung zwischen guter (akzeptierter) „Religion“ und (schädlichen) „Sekten“476 wird rhetorisch hauptsächlich durch die aktive Betonung des verfassungsgemäßen Wertes der Religionsfreiheit umgesetzt. Diese Abgrenzung wird nur im Fall der Regelungen zur Betreuung von Frauen vor einem potenziellen Schwangerschaftsabbruch nicht explizit vorgenommen, wenn die Standpunkte von „Sekten“, anderen Religionsgemeinschaften und philosophischen Überzeugungen zusammen als den medizinischen Erfordernissen möglicherweise entgegenstehend angeführt werden. Insofern der Bereich der Laienbetreuung traditionell ein Arbeitsbereich der Kirche ist, ist dies als Hinweis auf eine partiale oder generelle Religionskritik, möglicherweise -feindlichkeit, zu interpretieren. Insgesamt werden „Sekten“ im Parlament kaum noch explizit als religiös oder religionsähnlich bewertet. Auch die vorherige Bestimmung als „religioid“ und „pseudo-religiös“ aus dem GGR weicht bezogen auf die gesellschaftliche Ebene zunehmend der Betonung von allgemeiner Schädlichkeit und Kriminalität. Da jedoch als religiös zu qualifizierende Gruppen, NRB, namentlich genannt werden und sogar religionskritische Tendenzen erkennbar sind, kann ein Vermeiden des Themas „Religion“ im Zusammenhang mit „Sekten“ als mehr oder weniger nomineller Akt der parlamentarischen Sprachkonventionen gewertet werden (streng genommen sollte auf Regierungsebene, gemäß dem Prinzip religiöser Neutralität, „schlechte Religion“ nicht explizit diskutiert werden).

Der Pragmatismus und Formalismus der rechtlichen Mittel Der dritte Pol thematischer Ausrichtung der Debatten ist die juristische Bekämpfung des diskutierten „Sektenproblems“. Neben Überlegungen zur Umsetzungspraxis müssen die geplanten Maßnahmen vor allem formal in den Rechtskorpus

476 Beckford, Dystopia, 2004.

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und an die übergeordnete Prinzipien wie die Religionsfreiheit, die Freiheit des Individuums und den Grundsatz der Nicht-Diskriminierung angepasst werden. Hierzu gehören die Spezialdiskurse um die Nomenklatur, die wie oben herausgestellt, allerdings nur nominell den Sektenbegriff des GGR und dessen „schwarze Liste“ obsolet machen. Die theoretische Entkopplung von bestimmten Gruppen und den dérives sectaires bedeutet in der Praxis kein Ende der Stigmatisierung, sondern vielmehr eine Erweiterung der Fronten, denn nun können praktisch alle religiösen, philosophischen oder politischen Gruppen, das diffuse Feld individualisierter Formen von Religion, wie das Nouvel Age („New Age“) oder la mythiqueesoterique nebuleuse477 und alternative therapeutische Praktiken, gleich in welche Organisationsform sie eingebettet sind oder nicht, anvisiert werden. Hier zeigt sich die Umsetzung der von Fournier und Monroy geäußerten Überlegungen, was den Schluss nahelegt, dass im APG auch der Formwandel des alternativ-religiösen Feldes berücksichtigt wurde478 wurde. Die im Parlament verwendete Empirie, anhand derer die Notwendigkeit der Verschärfung der rechtlichen Mittel demonstriert werden soll, folgt der Argumentationsweise des GGR: entsprechend dem Kriterium „Verwicklung in Gerichtsprozesse und Klagetätigkeiten“, wird die Anzahl von in Klagen und Prozesse verwickelten Gruppen als einziger Indikator für ein Anwachsen der „sektiererischen Gefahr“ angeführt.479 Die genannten Zahlen enthalten die von den AKB und anderen „Sekten“-Gegnern angestrengten Prozesse gegen NRB und auch die Klagen letzterer gegen die Verleumdungen der Sekten“-Gegner. Der Umfang dieser Indikatorgröße hängt also vom Verhalten der Argumentierenden selbst und zwar in zweierlei Hinsicht ab: je mehr die „Sekten“-Gegner den „Sekten“ Anlässe für ein gerichtliches Vorgehen zumuten und je mehr Klagen sie selbst anstrengen, desto mehr Klagen, die dann als Beleg für die Notwendigkeit der Agenda herangezogen werden können, gibt es. Weder der Sektenbegriff noch der der dérives sectaires und das Konzept der manipulation mentale werden direkt in den Gesetzestext übernommen, sie sind jedoch noch indirekt enthalten. Ersterer wird im Titel und in einer Zwischenüberschrift mit über das Synonym les mouvements sectaires eingeführt. Die manipulation mentale erscheint zwar nur in Form des Straftatbestands der sujétion psychologique, „psychische Beeinflussung“ ist aber generell im öffentlichen Diskurs und somit im Vorwissen des juristischen Personals wieder eng mit „Sekten“ (und 477 Siehe hierzu die Arbeiten von Rocchi und Champion. 478 Die oben ausführlicher beschriebenen Situation alternativer, oft von NRB angebote nen Therapien, spiegelt also auch religionswissenschaftlich zu bestätigende Entwick lungen im alternativ-religiösen Feld wider. 479 AN: Comte Rendu 22.06.2000 (Eingangsreden und Discussion Generale), Beitrag Mme Guigou (1).

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damit mit den auf der GGR-Liste genannten Gruppen) verknüpft. Insgesamt bleibt die Bestimmung einer „Sekte“ von GGR bis ins APG hinein unpräzise. Rolland merkt an, hier hätten liberalere Kräfte im Parlament auf eine unspezifische Definition bestanden, um kein diskriminierendes Gesetz zu schaffen. Wahrscheinlich sei allerdings auch, dass die definitorischen Schwierigkeiten mehr oder weniger auf sich beruhen lassen wurden, was die Autorin jedoch nicht eindeutig entscheiden könne.480 Im Vergleich reduzierte die Verrechtlichung der Konflikte die noch in den parlamentarischen Debatten wahrzunehmende Radikalität der Forderungen. Der auch hier aufgrund der Unschärfe der Definition des Tatbestandes zunächst vermuteten sehr breiten Anwendungsmöglichkeit des APG widersprach zunächst Hervieux-Légèr481 und später auch wenige andere. Sie argumentierten sogar, die Unschärfe der Defintion würde eine Anwendung des Gesetzes ganz verhindern, da der Tatbestand vom Gericht nachgewiesen werden muss. Dies trifft bis heute nachweislich nicht ganz zu und diese Vermutung wird im folgenden Kapitel anhand der tatsächlichen Anwendungsfälle des APG (und anderer rechtlicher Mittel) empirisch geprüft werden. Inhaltlich zeigt sich zwischen Debatten und APG eine deutliche Reduktion der Vielfalt der mit les sectes verbundenen Themen, insofern die politische Konnotation im Gesetz fast völlig fehlt und überwiegend Verbrechen gegen individuelle Personen (Code Pénal) und Verstöße innerhalb des Code de Santé aufgenommen wurden. Die konkreten Straftatbestände spiegeln sehr deutlich einerseits Vorfälle wieder, die bereits vorher vor ein Gericht gekommen waren, anderseits konkrete Vorwürfe aus dem GGR und den öffentlichen Debatten. Seit dem Jahr 2007 ist zum Beispiel eine Verordnung in Kraft ist, die sich auf CP 511-1-2 bezieht und das Klonen von Menschen behandelt482 – eine Debatte, die damals von Absichtsbekundungen der Raëlianer ausgelöst wurde.483 Juristisch wurde also, mit dem pragmatischen Ziel, konkrete Gefährdungen zu unterbinden, auf aktuelle Themen und reale Ereignisse (was nicht deckungsgleich sein muss) reagiert. Deshalb kann 480 Vgl. Hauptteil II. 481 Hervieux-Légèr, Obsession, 2004, S. 44. 482 Der neue Paragraph gegen das Klonen menschlicher Embryonen von 2004 (CP 511-1-2) ergibt nur in Zusammenhang mit der Existenz des Raëlianer-Instituts Clone Aid und deren Erfolgsbehauptungen aus dem Jahr 6LQQ VLHKH6SLHJHO-Online   URL: http://www.spiegel.de/panorama/raelianer-klon-sekte-will-20menschen-zuechten-a-2288KWPO]XOHW]WHLQJHVHKHQDP18.08.2013). 483 Darüber hinaus waren es auch gerade die Raëlianer, die häufig mit sexuellen Hand lungen an Minderjährigen in Zusammenhang gebracht wurden (vgl. auch Palmer, He retics, 2011, S. 83-110).

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aus dem Themenspektrum im Gesetzestext ein Teil des Standes der aktuellen Debatten abgelesen werden, während hier, jenseits des Themas mentale Manipulation (s. u.), wenig Information zur kulturellen Bedeutung enthalten ist.

AUSWERTUNG : L ES SECTES ZWISCHEN P ARLAMENT

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Qui sont, et que font „les sectes“? Durch die vorliegende Quellenanalyse wurden vor allem Kontinuitäten in der Bedeutung des Begriffs „Sekte“ zwischen den öffentlichen und parlamentarischen Debatten sowie dem Gesetzestext des APG belegt. Dessen Bedeutung wurde explizit im GGR aus den von „Sekten“-Gegnern maßgeblich beeinflussten öffentlichen Debatten übernommen und als „religioide“ oder „pseudo-religiöse“ Vereinigung mit schädlichen Absichten die strategisch manipulierend vorgeht, definiert. Im Parlament trat die religiöse Konnotation des Begriffs stark in den Hintergrund. Im Zusammenhang mit einer extremen Erweiterung des „Sekten“ betreffenden Themenspektrums und einer Entgrenzung des Begriffs auf kriminelle, manipulative und „parasitäre“ Vereine aller Art werden les sectes zum abstrakten, negativen Prinzip stilisiert, von dem die Gefahr kompletter gesellschaftlicher Erosion ausginge. Die empirische Zielgruppe, NRB, rücken in diesem Prozess zumindest in der allgemeinen Rhetorik in den Hintergrund (Abb. 4 kontrastiert den Bedeutungsumfang des Sektenbegriffs dem wissenschaftlichen Konzept „Neue Religiöse Bewegungen“). Im Gesetzestext des APG wird über „Sekten“-typische Straftatbestände und die Verwendung des Synonyms mouvements sectaires in der Überschrift implizit, aber doch deutlich an die Definitionsversuche des GGR angeschlossen. Mit dem vordergründigen Wegfallen der religiösen Konnotation werden „Sekten“ im Parlament und vor allem im Gesetzestext hauptsächlich über ihr Handeln bestimmt. Die Kategorie „Sekte“ bezeichnet eine „schädliche Organisation, die kriminelle Handlungen bestimmter Art begeht“. Als zentrale Strategien besagter Verneigungen werden die manipulation mentale und die Infiltrierung der Gesellschaft betont. Da diese Handlungen in öffentlichen Bewusstsein mit den in der „schwarzen Liste“ des GGR genannten eng verbunden sind, bedeutet dies jedoch nicht, dass nicht mehr die Gruppen per se verfolgt werden würden. Im APG bleibt das öffentliche Verständnis einer „Sekte“ so auch über die unscharfe Definition

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des Straftatbestandes und die nur implizite Definition eines bestimmten Tätertypus präsent. Im Vergleich zum GGR wird das Themenspektrum der von „Sekten“ ausgehenden parlamentarischen Gefahren und der gefährdeten gesellschaftlichen Bereiche stark erweitert und die politische Dimension der Gefährdung betont. Dieser Teil des Spektrums ist im APG nur ansatzweise abgebildet, insofern sich in dessen Straftatbeständen vor allem Individuen betreffende und pragmatisch zu unterbindende Probleme, die bereits zu einem früheren Zeitpunkt gerichtlich verhandelt wurden oder Aufmerksamkeit in den öffentlichen Debatten erlangten, widerspiegeln. Entgegen der in den Spezialdiskursen theoretisch erfolgten systematischen Trennung beider Aspekte sind im Pejorativ „Sekte“ „Sein“ und „Handlung“ engsten miteinander verbunden. Die zentralen Vorwürfe gegen sie, die manipulation mentale (geistige Manipulation) oder sujétion psychologique (psychologische Unterdrückung) verweisen auf die Akzeptanz der Möglichkeit, jemandem eine „psychologische Verletzung“ zuzufügen oder jemanden psychisch zu unterdrücken,484 eine in Frankreich zu diesem Zeitpunkt neuere Annahme , die im zweiten Hauptteil genauer untersucht werden wird.

Die Politisierung der Konflikte Bis zu den 1990er Jahren wurden die „Sekten“-Konflikte vor allem in der Zivilgesellschaft und teilweise vor Gericht ausgetragen. Nachdem sich die französischen Sozialisten des Themas angenommen und durch den Antrag zur Verschärfung der rechtlichen Mittel ins Parlament und den Staat involviert hatten, musste sich auf staatlicher Ebene von Politikern verbindlich mit der Problematik auseinander gesetzt werden und die „Anti-Sekten“-Agenda war infolge säkularistisch dominiert. Dieser Abschnitt der Debatten mit seinen speziellen Bedingungen und Möglichkeiten für die „Anti-Sekten“-Agenda soll hier als „Politisierung der Konflikte“ gefasst und die Ergebnisse der ersten Schritte der Materialanalyse hier unter diesem Gesichtspunkt diskutiert werden.

Religionsfeindliche Tendenzen und die Säkularisierung der Debatten Ein Nebeneffekt der Notwendigkeit, juristisch nicht nur bestimmte Religionsgemeinschaften zu diskriminieren und das Prinzip der Religionsfreiheit zu gewähr-

484 Vgl. Duvert, Anti-Cultism, 2004, S. 44-Sectes et Droit, 2004, S. 77.

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leisten war, dass der zentrale, implizit mit einem Tätertypus verbunden, Straftatbestand abstrakt formuliert werden musste. Dies hatte zur Folge, dass in der juristischem Formulierung im Prinzip keine Gruppe und besonders keine Religion vorweg vom Vorwurf des „Sektierertums ausgeschlossen werden konnte.485 Da sich der Staat in dezidiert religiösen Angelegenheiten zudem neutral verhalten muss, können religiöse „Qualitätsunterschiede“ (die zumindest von den traditionellen Religionen als Unterscheidungskriterien genutzt werden) zwischen „Sekten“ und anderen Religionsgemeinschaften im Prinzip weder Parlament noch im Gesetz angesprochen werden. Als Konsequenz der rhetorischen „Säkularisierung“ der Debatten können sichere Grenzen zwischen „Religion“ und „Sekte“ von staatlicher Seite nicht eindeutig gezogen und der Straftatbestand potenziell auf alle Religionen angewendet werden, was allgemein religionsfeindliche Politiker hätten ausnutzen können. Die Vertreter der traditionellen Religionsgemeinschaften standen entsprechend dem letztendlichen Gesetz kritisch gegenüber und hegten dahingehende – und zum Teil berechtigte – Befürchtungen. Duvert verweist auf bezeugte religionsfeindliche Äußerungen im Zuge der Verhandlungen. Vertreter der Kirche, die sich kritisch zum Gesetzesentwurf geäußert hatten, seien mit dem Hinweis auf Anklagen gegen eine katholisch-charismatische Gruppe von säkularistischer Seite sogar mündlich darauf hingewiesen worden, dass die katholische Kirche mit ihrer Kritik an der „Anti-Kult“-Agenda doch lieber „ihre eigenen Reihen untersuchen sollte“.486 Gegenwärtig nehmen die katholische Kirche und das Katholizismusnahe Milieu in Frankreich einen pluralistischen Standpunkt ein, plädieren verstärkt für allgemeine Religionsfreiheit und äußern sich gegenüber religiösen Minderheiten zunehmend tolerant (ein Beispiel ist der eingangs zitierte Kommentar Jeannine Taverniers, der ehemaligen Präsidentin von UNADFI hervorgeht). Nach diesem Positionswechsel der politischen Vertreter der traditionellen Religionsgemeinschaften traten die „Sekten“-Gegner aus dem sozialistisch-säkularistischen Milieu als wichtige Akteure der „Sekten“-Bekämpfung umso deutlicher hervor. Anzumerken ist, dass zwar von Anfang an auch säkularistische Organisationen wie der CCMM oder Personen wie Alain Viviens involviert waren, der Wechsel in den politischen und juristischen Kontext, durch die Schaffung von MILS und MIVILUDES auch den katholisch geprägten AKB ihre Rolle als wichtigste Experten in der „Sektenfrage“ nahm. Hierdurch entstand Raum für säkularistische (und zum Teil mehr oder weniger offen auch religionskritische) Haltungen, um sich durchzusetzen. Insofern ist fraglich ob die katholischen Initiatoren der „AntiSekten“-Agenda aus späten 1970er und 1980er Jahren, die eine politische Diskussion um das Thema wünschten, diesen Verlauf hätten voraussehen können. 485 Hincker, Rumeurs, 2003, S.-129. 486 Duvert, Anti-Cultism, 2004, S. 48-49.

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Adressatengerechtes Framing und relevante Interessengruppen Relevante Bedeutungsverschiebungen in Bezug auf les sectes zeigen sich zunächst wie oben beschrieben in dem, was als „Sekte“ bezeichnet wird. In der Überschrift des APG wird von „sektiererischen Bewegungen, welche die Menschenrechte und die fundamentalen Freiheiten beeinträchtigen“487 gesprochen. Derartige politische Zuspitzungen, die hier „Sekten“ sogar als Bedrohung der Menschenrechte darstellen, erkannte bereits Beckford als Resultat eines speziellen Framings. In dem von ihm beschriebenen Fall wurde das Thema durch Akteure mit katholischem Hintergrund und Sprecher der Kirchen in den 1980ern derart medienwirksamer gemacht und sich die Aufmerksamkeit der Politik gesichert.488 In Anbetracht der von vielen Forschern überrascht wahrgenommene fraktionsübergreifenden Kooperation gegen „Sekten“ im Parlament, liefert dieser Ansatz eine plausible Erklärung: der mit vielen Bedeutungen versehene und zwischen diesen changierende Begriff bediente eine Vielzahl verschiedener Befürchtungen und politische Interessen. Zudem wurde in den sektenkritischen Beiträgen im Parlament jeder Bürger und damit jeder einzelne Abgeordnete und deren Familien als potenziell gefährdet dargestellt. Die emotionalisierende Darstellung von „Opfern“ im Fernsehen vorweg und parallel zu den Debatten sowie selektive Berichte über Anklagen, nicht aber von anschließenden Nicht-Verurteilungen von „Sekten“, sind als Einflüsse mit zu berücksichtigen.489 Ob die überraschende Einstimmigkeit in der Nationalversammlung vorrangig als Resultat einer bewussten thematischen Anpassung an die Positionen der verschiedenen parlamentarischen Fraktionen durch die dominanten Sprecher der linken Spektrums oder als Ausdruck deren eigener Position zu bewerten ist, soll nicht hier, sondern in Hauptteil II besprochen werden. Eine Interpretation dessen als Konsequenz einer Mischung aus tatsächlichem besorgten und gegebenenfalls wertorientierten, politischen Engagement für eine als wichtig empfunden Sache, welche in einem parlamentarischen Konsens resultierte, ist möglich, sowie die Zustimmung zumindest einiger durch das Motiv, nicht selbst in den „Sekten“-Verdacht zu geraten, motiviert gewesen sein kann. In den letzten Unterkapiteln wurden bereits einige Anschlusspunkte für die Analyse im zweiten Hauptteil aus abgeleitet. Vor der Tiefeninterpretation steht jedoch im folgenden Kapitel die Frage nach den praktischen Konsequenzen der Gesetzesänderungen für die betroffenen Gruppen, ob es bei den Debatten und der Rechtstheorie blieb oder das Gesetz tatsächlich, in welchem Umfang und auf welche Art zur Anwendung kam. Dies ist zum einen nötig, um die letztendliche Wirksamkeit der „Anti-Sekten“-Agenda einschätzen zu können und zum anderen 487 Loi n° 2001-504 du 12 juin 2001, Artikel 1. 488 Beckford, The Cult Problem in Five Countries, 1984. 489 Vgl. Hincker 2003, vgl. Palmer 2011.

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PARLAMENTARISCHEN

D EBATTEN

UND

G ESETZGEBUNG

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wurde festgestellt, dass im APG viele Elemente der aus den parlamentarischen Debatten nicht enthalten sind, diese aber in der Rechtspraxis wieder zutage treten könnten. Das Verhältnis von Diskurs und Praxis sowie der bisher nicht systematisch erforschte Verlauf der Konflikte nach Erlass des Gesetzes, können nicht noch nicht aus den bis hier analysierten Quellen erschlossen werden, stellt aber eine wichtige Kontextinformation für die folgende Interpretation der Ergebnisse dar.

6. Die rechtlichen Mittel in der Praxis und im Spiegel der Öffentlichkeit

In den vorhergehenden Kapiteln wurden die treibenden politischen Akteuren gegen les sectes genauer bestimmt, die Inhalte der Diskussionen in der Assemblée Nationale analysiert. Kontinuitäten und Veränderungen in Bedeutung und Verwendung des Begriffs sowie die letztendliche Homogenität der innerparlamentarischen Akzeptanz der Agenda wurden auf definitorische Schwierigkeiten sowie sich an den Interessenlagen der verschiedenen Fraktionen und an übergeordneten Rechtsprinzipen orientierenden Framing-Prozesse zurück geführt. Bereits an diesem Punkt der Untersuchung liegt als wichtiges Zwischenergebnis vor, dass das APG eben nicht einer zentralen staatlichen Agenda entsprang, sondern diese über Jahrzehnte hinweg durch das zivile und politische Engagement der verschiedenen Interessengruppen durchgesetzt wurde. Dadurch wird die Zuschreibung einer allgemeinen „Sektenfeindlichkeit“ (gegenüber der gegenwärtig so klassifizierten NRB) zum gesamten französischen Staats relativiert, der gerade zu Beginn der 1980er Jahre von katholischer Seite dafür kritisiert wurde, nicht gegen NRB vorzugehen.490 Wurden vorangehend vor allem die Inhalte des Gesetzes vom Juni 2001 im Verhältnis zu den vorausgehenden Diskussionen untersucht, werden folgend die seinem Erlass folgende konkrete Rechtspraxis, die weiterreichenden Effekte der Gesetzgebung und die öffentlichen Reaktionen auf nationaler und internationaler Ebene behandelt. Auf diese Weise kann ein umfassendes Bild der Entwicklung der Situation bis heute gezeichnet und damit die diesbezügliche Forschungslücke zu Teilen geschlossen werden.

490 Vgl. Beckford, Cult Problem in five countries, 1884, S. 202.

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D IE K OMBINATION SOZIALER , ADMINISTRATIVER UND STRAFRECHTLICHER R EGULIERUNG Strafrechtliche Kontrolle: Die Implikationen des „loi contre les mouvements sectaires“ Um die praktische Wirksamkeit der neuen Regelungen zu bestimmen, müssen zunächst die theoretisch geschaffenen juristischen Werkzeuge identifiziert werden. Da in Kapitel 5 bereits auf das Strafspektrum gegen „Sekten“ im APG eingegangen wurde, werden an dieser Stelle nur noch die theoretischen Konsequenzen der neuen Rechtsetzung behandelt. Bis hier wurde gezeigt, dass der Begriff „Sekte“ im Gesetzestext nicht explizit erwähnt, dafür aber hauptsächlich über die Kategorien des „Missbrauchs Schwächerer“, der kaum spezifizierten „psychischen Unterwerfung“ und über den Bezug auf die mouvements sectaires im Titel operationalisiert wurde. Darüber hinaus spiegeln die Straftatbestände des APG die Vorwürfe gegen „Sekten“ aus den öffentlichen Debatten und den vorhergehenden Gerichtsprozessen wider. Im APG wurde juristisch zunächst eine erweiterte Verantwortlichkeit der in Art. 1, Abs. 1 spezifizierten Vereine aufgenommen. Sollte eine der am Prozess beteiligten Personen Antrag auf Auflösung eines Vereins bei der Staatsanwaltschaft stellen, erfolgt die Prüfung des Falles und gegebenenfalls der Beschluss der Auflösung durch einen tribunal de grande instance491 in einem Schnellverfahren.492 Im Verlauf desselben können mehrere zur selben NRB gehörende Vereine oder Organisationen (deren Leiter zuvor wegen einer der aufgelisteten Straftaten

491 Zivilgericht der 1. Instanz, zuständig ab einem Streitwert von über 10.000 Euro oder wenn die Rechtssache keinem anderen Gericht zugeordnet ist. 492 „jour fixe“: „La procédure à jour fixe désigne un mode d‫ތ‬instruction écourté pour que soit jugé rapidement une affaire dans la le demandeur établit que ses droits se trouvent en péril. Cette procédure doit relever à la compétence d‫ތ‬un Tribunal de grande instance et se trouver soumise aux règles de la représentation obligatoire. De vant la Cour d‫ތ‬appel, lorsque l‫ތ‬affaire semble présenter un caractère d‫ތ‬urgence ou être en état d‫ތ‬être jugée, ou lorsque l‫ތ‬appel est relatif à une ordonnance de référé ou à une des ordonnances du juge de la mise en état, le président de la Chambre saisi d‫ތ‬office ou à la demande dune partie, fixe à bref délai l‫ތ‬audience à laquelle sera ap SHOpHDXMRXULQGiqué, il est procédé selon les modalités prévues aux articles 760 à 762“ (URL: http://www.dictionnaire-juri-dique.com/definition/procedure-a-jour-fix e. SKS]XOetzt eingesehen am 05.10.2011).

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verurteilt wurde(n)) aufgelöst werden.493 Dies soll unter anderem eine Auflösung aller zu einer „Sekte“ gehörenden Organisation gleichzeitig ermöglichen, da eine Gruppe sich für verschiedene Zwecke zumeist in mehreren unterschiedlichen administrativen und wirtschaftlichen Formen organisiert. Für den Fall, dass eine aufgelöste Vereinigung entgegen dieser Verfügung aufrecht erhalten wird, wurden weitergehende Bestimmungen, die in erster Linie eine Strafverschärfung gegenüber dem Vereinsvertrag494 darstellen, eingefügt. Zusätzlich können anerkannte gemeinnützige Organisationen, die thematisch seit mindestens fünf Jahren aktiv sind, als Nebenkläger zu den Prozessen zugelassen werden495 und damit oben genannte Anträge auf Auflösung an den Staatsanwalt stellen. Diese „gemeinnützige Organisationen“ sind in der Regel Organisationen wie UNADFI, das CCMM Centre Roger IKOR oder auch CNOP (Conseil National de lҲOrdre des Pharmaciens).496 Die politischen Gegner von les sectes können gemäß dieser Klausel vor Gericht für das „Opfer“ sprechen, sollte dieses sich dessen, was ihm „angetan“ wurde, „nicht bewusst sein“ und auch darüber hinaus im Gerichtssaal direkten Einfluss auf das gerichtliche Verfahren nehmen.497

493 „Le tribunal de grande instance peut prononcer au cours de la même procédure la dissolution de plusieurs personnes morales mentionnées au premier alinéa dès lors que ces personnes morales poursuivent le même objectif et sont unies par une com munauté dҲintérêts et quҲa été prononcée à lҲégard de chacune dҲentre elles ou de ses dirigeants de droit ou de fait au moins une condamnation pénale définitive pour lҲune des infractions mentionnées aux 1° à 3°. Ces différentes personnes morales doivent être parties à la procedure“(Loi n° 2001-504 du 12 juin 2001.DS$UW  494 Loi du 1er juillet 1901 relative au contrat dҲassociation, Artikel 8, unter dem die meisten NRB in Frankreich als associations registriert sind (s. o). 495 APG, Kap. VI. Bezieht sich auf und modifiziert den Artikel 2-17 des Code de pro cédure pénale: „Toute association reconnue dҲutilité publique régulièrement déclarée depuis au moins cinq ans à la date des faits et se proposant par ses statuts de défendre et dҲassister lҲindividu ou de défendre les droits et libertés individuels et collectifs peut, à lҲoccasion dҲactes commis par toute personne physique ou moraledans le cadre dҲun mouvement ou organisation [….]“ (Loi n° 2001-504 du 12 juin 2001, Kap. 6). 496 Vgl. ebd. S. 11, 34. 497 Im Fall Scientologys im Jahr 2012 beantragte z. B. CNOP eine Veröffentlichung des Urteils in den Online-Ausgaben der Tageszeitungen, die allerdings bereits anderweitig beschlossen waren (vgl. ebd. S. 34).

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Jede Straftat in Zusammenhang mit dem APG führt zudem für in Tat und Verein involvierte Personen individuell zu höheren Gefängnisstrafen und Geldbußen.498 Mitglieder einer implizit definierten „Sekte“ werden also möglicherweise schwerer bestraft.499 Für Angeklagte ist es dementsprechend sehr erstrebenswert, außerhalb dieses Gesetzes verhandelt zu werden.500 Diese potenziell strafverschärfende Wirkung einer Mitgliedschaft stellt ebenso eine indirekte direkte Einschränkung der individuellen Religionsfreiheit dar, denn eine Mitgliedschaft in einer stigmatisierten Gruppe birgt auch ein individuelles Risiko, rechtlich härter belangt zu werden. Aufgrund der vagen Definitionen wird die Verantwortung für die Entscheidung, ob es sich um eine „Sekte“ handelt oder nicht, unter direkter Einflussmöglichkeit der AKB auf die Richter verlagert.501 Durch dessen interpretativen Spielraum im Verfahren besteht unter anderem durch eine mögliche Voreingenommenheit die Gefahr der willkürlichen Auslegung der rechtlichen Bestimmungen.502 Hieraus folgt ein generell erhöhter Anpassungsdruck (nicht aufzufallen, nicht mit einer stigmatisierten Gruppe assoziiert zu werden), welcher nicht nur die Mitgliedschaft in einer „verdächtigen Gruppe“ sondern auch die Gegenwehr einer Gruppe gegen Stigmatisierungen demotivieren kann, zumal zu aggressives eigenes Klageverhalten laut GGR ebenfalls als „sektiererisch“ gilt. Die im Gesetz enthaltene Verordnung, Urteile über das Auflösen eines Vereines oder einer Firma zu veröffentlichen503 trüge effektiv ebenso zu einer weiteren Stigmatisierung bei. Diese Maßnahme würde gegebenenfalls auch auf andere Organisationen mit kriminellHQ$EVLFKWHQDQJHZHQGHWLP)DOOHHLQHULPSOL]LWGXUFKLKUH9HUKDQGOXQJ „au titre des dérives sectaires“ bestimmten „Sekte“ fielen hierdurch erneut „Han-

498 Code Pénal: Art. 434-43, 434-47. 499 Vgl. APG, Kap. 5, letzter Absatz. Das Vergehen wird dann als gravierender eingestuft. 500 Vgl. auch den unten beschrieben Fall eines katholischen Priesters (Prozessvelaufspro tokoll: Cour de cassation, chambre criminelle. Rejet du 28 avril 2004 N° 04-80468). 501 Vgl. Rolland, la loi du 12 juin, 2003, S. 157 f. 502 Im Deutschen kennt man hierfür den Begriff des „Gummiparagraphen“, der je nach individueller Einschätzung eines Verantwortlichen interpretierbarist. Damit kann sich der Angeklagte selbst nicht auf eindeutige Regelungen zu seinerVerteidigung berufen und ist der Einschätzung des Gerichtes ausgeliefert. 503 APG, Kap. 2, verweist auf CP, Artikel 131-39/°9: Die Bestrafung von Vereinigungen (sowie verantwortlicher Einzelpersonen), jenseits der direkter Auflösung ersterer, wird geregelt nach Artikels 131-39 Punkt 2° bis 9° CP (die strafrechtliche Regelungen für Vereinigungen allgemein) und reicht von Verboten zur Ausübung bestimmter Tä tigkeiten, gerichtlicher Aufsicht, Konfiszieren von Räumlichkeiten, Sach- und finan ziellen Mitteln sowie der Bekanntmachungdieser Entscheidung durch die Presse.

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deln“ und „Sein“ ineinander, d. h. durch eine Verurteilung würde nicht nur bestätigt, dass eine Organisation eine kriminelle Handlungen begangen habe, sondern dass dies der Selbstzweck dieser Organisation sei und der Tenor der „Anti-Sekten“-Debatten würde von Mal zu Mal erneut von staatlicher Seite bestätigt. Die strafrechtlichen Implikationen (siehe folgende Unterkapitel) des APG wurden im Verhältnis zum betriebenen Aufwand, sie zu schaffen, relativ selten umgesetzt, zumal in der Praxis die Beweispflicht beim Gericht liegt und dieses die unklar definierten Straftatbestände nachweisen muss. Viel wichtiger scheint hier die symbolische Wirkung des Gesetzerlasses gegenüber den potenziell Betroffenen aber auch gegenüber der Öffentlichkeit zu sein. Zum einen wurden, durch den Erlass des Gesetzes und durch die Anerkennung der AKB als „gemeinnützig“, die „Sekten“-Gegner und ihre Anliegen offiziell von staatlicher Seite anerkannt. Die Auflösung Neo-Phares 2004 (s. u.) wurde der vermeintliche politische Erfolg entsprechend in den Medien zelebriert.504 Zum anderen, auch wenn in der Anwendungspraxis der Rechtsmittel mit der Zeit immer deutlicher wurde, dass deren Anwendbarkeit durch die unscharfen Definitionen tatsächlich sehr eingeschränkt ist,505 gerieten französische NRB zumindest in den ersten Jahren durch die vermeintliche Möglichkeit harter Bestrafungen unter Druck. Unter anderem als Reaktion hierauf begann der CAP LC (Coordination des Associations & Particuliers pour la Liberté de Conscience506), sich systematisch rechtliche Unterstützung zu sichern. 504 Vgl. Palmer, Heretics, 2011, S. 147 ff. 505 Vgl. Hervieux-Légèr, Obsession, 2004, S. 58. Das Gericht ist in der Beweispflicht und es ist schwer den Zustand psychischer Unterdrückung oder Manipulation zeitlich rückwirkend nachzuweisen und auch die Abgrenzung von alltäglicher und krimineller Ausübung von Druck ist schwer. Psychischer Druck im weiteren Sinne kommt z. B. ebenso am Arbeitsplatz oder in einem Fußballverein vor, während die Beeinflussung der Meinung anderer Bestandteil alltäglicher Kommunikationspraxis in den Medien, aber auch in Einzel- und Gruppenbegegnungen ist. Noch deutlicher ist die Schwierig keit, die die Wirkung von „Sekten“-Religiosität, welche als manipulativ eingeschätzt wird, von den Praktiken der Kirche zu unterscheiden. Hincker spielt die Wirkung des APG in einem gedanklichen Experiment soweit durch, dass im Prinzip, bei strenger Anwendung, auch die Auflösung der katholischen Kirche möglich wäre (Hincker, Rumeurs, 2003, S. 126 f.). 506 Der CAP LC wurde als Nachfolgeorganisation von FIREPHIM (Fédération Internati onale des Religions et Philosophie Minoritaires, gegründet 1992) wurde im Jahr 2000 gegründet, u. a. von. Claude Vorilhon (Raël). FIREPHIM organisierte öffentliche Pro teste betroffener NRB in Frankreich gegen deren Behandlung durch die „Anti-Kult“Bewegungen. (siehe: Palmer, Heretics, 2011, S. 74, 98). Das ursprüngliche Ziel be

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Es kann geschlussfolgert werden, dass der hauptsächliche Effekt des APG in der symbolischen Bestätigung der „Anti-Sekten“-Agenda und angesichts der anfänglichen Unabsehbarkeit der Konsequenzen, im Erzeugen von Druck auf die bereits anvisierten oder potenziell gefährdeten Gruppen bestand, was wiederum auch deren Gegenmobilisierung auch rechtlicher Ebene verstärkte. Eine symbolische, abschreckende Wirkung ist jedoch generell das zentrale Ziel aller strafrechtlichen Maßnahmen, insofern Verbrechen möglichst präventiv verhindert werden sollen.507 Vor diesem Hintergrund könnte z. B. eine sich hierauf verringernde Anzahl an Klagen gegen NRB (als hypothetischer Indikator für eine Verringerung der Anzahl begangener Straftaten) als Erfolg der „Anti-Sekten“-Agenda gewertet werden – nicht jedoch die feststellbare verhältnismäßig geringe Anzahl an Verurteilungen aufgrund der Nicht-Nachweisbarkeit des Verbrechens. Dennoch ist festzuhalten, dass es anfangs zu Verurteilungen, vor allem von Individuen, kam die die AKB in ihrer Position zu bestärken schienen. Die Haltung der „Anti-Sekten“-Akteure muss insgesamt zumindest für einige Jahre als dominant bezeichnet werden, auch wenn sich dies später ändern soll.

Administrative Kontrolle: „Religion“ und „Sekte“ als juristische Kategorien Eben skizzierte Mechanismen, die über vage Kategorien diffusen Druck auf NRB erzeugen, finden sich ebenso im administrativen Recht und dessen Implikationen für nicht-traditionelle Religionen. Vor dem Hintergrund der seit 1958 explizit laizistischen Verfasstheit des französischen Staates und seiner Selbstverpflichtung

stand nach eigener Aussage des CAP LC anfangs explizite darin, gegen ADFI vor zu gehen, und die Organisation sieht heute, nach Aussage eines Vertreters, ihre Aufgabe darin, Neuen Religiösen Bewegungen in schwierigen Situationen v. a. juristisch, z. B. durch die Vermittlung von Anwälten weiter zu helfen sowie regelmäßig Treffen abge haltenwerden, die dem Informationsaustausch zur Rechtslage dienen (siehe weiter führend: Palmer, Heretics, 2011, S. 83-110 und Königstedt, Digital Religion, 2013). Der CAP LC tritt vor der parlamentarischen Kommission als Omnium des Libertés auf (URL: http://www.omnium-des-libertes.com/zuletzt eingesehen am 23.02.2012). 507 Ich bedanke mich an dieser Stelle für diesen und andere sehr wertvolle Hinweise bei Peter Edge und den Teilnehmern des 3. Ph.D.-Student Meetings on Law and Religion am 23.09.2011 in Oxford-Brookes.

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zu religiöser Neutralität im Sinne der „liberté de conscience“,508 wirkt die Verfolgung von „Sekten“ als religiöse Gemeinschaften in Frankreich widersprüchlich.509 Charakteristisch für einen säkular-laizistischen Umgang mit „Religion“ in Frankreich ist lediglich die Trennung von creeds und deeds, von Glaubensinhalten und Handlungen religiöser Personen und Gemeinschaften. Demnach darf niemand wegen seiner (auch religiösen) Überzeugungen verfolgt werden,510 denn verfassungsgemäß sind alle Bürger vor dem Gesetz unabhängig von Herkunft, Rasse, Religion, unter Achtung aller Glaubensrichtungen gleich. Religiöse Handlungen können jedoch unterbunden werden, wenn sie die öffentliche Ordnung stören, was

508 Text und Revisionen seit 1958, URL: http://www.conseil-constitutionnel.fr/conseilconstitutionnel/francais/la-constitution/la-constitution-du-4-octobre-1958/texte-inte gral-de-la-constitution-du-4-octobre-1958-HQYLJXHXUKWPO zuletzt eingesehen am 31.01.2013. Seit 1995 lautet die Formulierung: „Frankreich ist eine unteilbare, laïzistische, demokratische und soziale Republik. Sie gewährleistet die Gleichheit al ler Bürger vor dem Gesetz ohne Unterschied der Herkunft, Rasse oder Religion. Sie achtet jeden Glauben." (ebd.). Artikel 10 der Erklärung der Menschenrechte von 1789 (bis heute in der Präambel der Verfassung als gültig ausgewiesen) vor, „niemand soll wegen seiner Meinungen, selbst religiöser Art, belangt werden, solange ihre Äuße rung nicht die durch das Gesetz festgelegte öffentliche Ordnung stört.“ 509 Zu Bedenken ist generell die repräsentative Funktion einer staatlichen Verfassung nDFKDX‰HQGLH,QKDOWHVWHOOHQeine Selbstverpflichtung, aber auch ein „ideales Selb stbild“ des Staates dar (vgl. Beckford and Richardson, Regulation, 2007, S. 403-405). Siehe für verschiedene Aufsätze zur französischen Verfassung und „Religion“: Peter Edge (Hg.): Law and religion in contemporary society: Communities, individualism and the state. Aldershot: Ashgate, 2000. 510 Präambel der frz. Verfassung. Siehe für eine kritische Analyse und Einschätzung die ser Unterscheidung am Beispiel des französischen Urteils zum öffentlichen Tragen religiöser Symbole Mayanthi L. Fernando: Belief and/in the Law, in: Method & The ory in the Study of Religion. Volume 24, Issue 1, 2012, S. 71- 80. Mayanthi sieht hinter der aktuellen Praxis des Umgangs mit „Religion“ auch in Frankreich ihr protestanti sches Erbe wirkend. Der individuelle Glaube werde deshalb gegenüber praxisorien tierten oder Symbole verwendenden Glaubensgemeinschaften bevorteilt. Trotz der traditionell mehrheitlich katholischen Prägung Frankreichs ist dies insofern plausibel, als Säkularisten zusammen mit den Protestanten politisch gegen den katholische Kle rus und $GHOVWDQGHQdas Verweisen von Religiosität ins Private, ein wichtiger Aspekt republikanischer Staatsordnung, entspricht zudem in weiten Zügen der protestanti schen Vorstellung innerlicher Frömmigkeit.

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2004 im Urteil zum öffentlichen Tragen von religiösen Symbolen511 und den Diskussionen zum Verbot von religiösen Symbolen in den Wohnungen von Tagesmüttern zum Ausdruck kam. Hierin spiegelt sich die republikanische Unterordnung des privaten Bereichs, dem Religion zugeordnet ist, unter die kollektiven laizistischen Werte in der Öffentlichkeit. Die Regelung bezüglich des staatlichen Umgangs mit Religion (culte) wurde im Gesetz vom 9. Dezember 1905 festgelegt, in dem auch die strikte Trennung von Staat und Religion kodifiziert wurde. Im Prinzip ist der französische Staat demnach zu strikter Neutralität in religiösen Angelegenheiten verpflichtet, erkennt offiziell keine Religion an und garantiert gleichzeitig ihre freie Ausübung. Dennoch gibt es trotzdem die Möglichkeit, als religiöse Gemeinschaft einen quasi anerkannten Status, den der association cultuelle, zu erreichen,512 der einer Anerkennung als „Religion“ in etwa gleichkommt.513 Ihr Bestimmungszweck darf ausschließlich die Ausübung einer Religion sein514 und hiermit zusammenhängende Vergünstigungen bestehen z. B. in einer generellen Steuerbefreiung für Spenden und dem Anspruch auf Räumlichkeiten zur Ausübung der religiösen Praxis.515 Zusammen mit dem staatlichen Schutz vor Kritikern, den eine solche implizite Anerkennung mit sich bringt, stellen diese Vorteile einen hohen Anreiz dar, diesen Status zu erlangen,516 der jedoch lange nur wenigen Gemeinschaften gewährt wurde.517 Die Liberalisierung der Anerkennungspolitik in den 1990er Jahren, die

511 Vgl. ebd. 512 Die Praxis, die größeren, traditionellen Religionen formal anzuerkennen, wurde von Napoleon nach der Revolution eingeführt (siehe ausführlich: Charlier-Dagras, La laïcité française, 2004). In den 1990er wurde die Praxis der Anerkennung auch auf andere Religionen ausgeweitet, vgl. Beckford, Dystopia, :LOODLPHParadoxes, 2008. 513 Vgl. Garay, Religious Tolerance, 2011, S. 183-184. 514 Im Falle des Eingangs größerer Spenden werden religiöse Gemeinschaften erneut auf die Berechtigung des Tragens des religiösen Status geprüft. Werden die entsprechen den Bedingungen als nicht (mehr) erfüllt beurteilt, werden die Steuerforderungen er höht und es müssen hohe Strafen wegen Steuerhinterziehung und vermeintliche Fehl beträge rückwirkend auf frühere Einnahmen gezahlt werden (wie es einer Gemeinde der Zeugen Jehovas widerfuhr, die sich daraufhin fast völlig Bankrott aus der Öffent OLFKNHLW]XUFN]RJYJO3DOPHUHeretics, 2011, S. Xii, 22, 177, 184). 515 Siehe auch: Guillet, Liberté de religion, 2003, S. 24-25, 26-28, 101. 516 Garay, Religious Tolerance, 2011, ebd. 517 Ebd.

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sich unter anderem in der Vergabe des Status einer congrégation518 an nicht-katholische Gruppen zeigte, erfolgte parallel aber scheinbar unabhängig zur Intensivierung der Bekämpfung von „Sekten“. Denn anderen Gruppen steht hauptsächlich die Registrierung als association déclarée (als einfacher Verein) offen, die keine speziellen Rechte für deren Mitglieder vorsieht. Ein Teil von Scientology ist so registriert und hat als Zusatz die Bezeichnung „spirituell“ angenommen. Eine Registrierung lediglich in dieser Form kommt nach Nicholas Guillet der Nicht-Anerkennung als Religion im juristischen System gleich519 und auch Beckford sieht hier eine faktische Vergrößerung der Distanz zwischen anerkannten und nicht anerkannten Religionen:520 im Zuge der französischen „Cult-Scares“ fiel eine nichtanerkannte Religion leicht in die Sektenkategorie, während die staatliche „QuasiAnerkennung“ einen gewissen Schutz vor derartigen Anschuldigen bot. Auch auf administrativer Ebene existiert also eine Unterscheidung von legitimer und nichtlegitimer Religion, die im Zuge ihrer vermehrten Anwendung ähnlich ausgrenzende Wirkung hatte, vor allem aber in Kombination mit der aktiven Stigmatisierung als „Sekte“ gefährlich werden konnte.521 Obwohl der Begriff in seiner Bedeutung aus dem 1995er Gest-Guyard-Report Guillet zufolge für die juristische Betrachtung keine Bedeutung habe, bezeichnet der Sprachgebrauch mit ,mouvements à charactère sectaire‘, ,terroristes ou insurrectionnels‘ („terroristisch und aufständisch“) die rechtlich nicht als religiös anerkannten Gruppen („Sekten“) im Sprachgebrauch genau in diesem Sinne signifikant.522 Auch laut Guillet, der den Gruppen ersichtlich nicht wohlwollend gegenübersteht, verwiesen diese Bezeichnungen auf eine enge Verbindung von NRB und Verstößen gegen die öffentliche Ordnung in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit, weshalb er das gesamte Phänomen in einer Dialektik zwischen freier Ausübung von Religion, rechtlicher Ordnung und sozialer Inklusion und Exklusion verortet („Les ,nouvelles sectes‘ se situent dans un rapport dialectique entre exercice de la liberté de religion et ordre juridique, entre inclusion et exclusion de lҲordre social“523). Er resümiert, dass die 518 Dieser wurde vorher für katholische Gruppen vergeben. NRB wird er in Ermangelung einer für sie zuständigen, anerkannten religiösen Autorität (anders als im Fall der or thodoxen Kirche in Frankreich) in der Regel nicht zugestanden (Pierre-Henri Prélot: La secte en droit administratif, in: Messner, „Sectes“ et le droit, 1999, S. 147-174, hier S. 157 f.). 519 Guillet, Liberté de religion, 2003, S. 121. 520 Dystopia, 2004, S. 34-35. 521 9JOHEG%HFNIRUGVFKlW]WGLH:LUNXQJGHVVHQVRJDUDOVIROJHQVFKZHUHUHLQDOVGLH des ideologisch laizistischen Engagements gegen les sectes. 522 Guillet, Liberté de religion, 2003, S. 130. 523 Ebd. 20.

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sich hieraus ergebende juristische Bedeutung der Bezeichnung „Sekte“, „Religionen, die nicht in die öffentliche Ordnung integriert sind (nicht implizit anerkannt sind) und in der Ausübung ihrer Religionsfreiheit gegen die Rechtsordnung verstoßen“, sei. Die Bewertung der Handlungen nicht-anerkannter Gruppen erfolgt somit mehr oder weniger frei von offiziellen, kontrollierten Kriterien und macht betroffenen Gruppen für Negativbewertungen von „Sekten“-Gegnern extrem verletzlich. Eine Anerkennung zu erreichen ist zudem ist ein schwieriger Prozess, der hohe Ansprüche an die administrative Form der Gruppe stellt, die viele kleinere Gemeinschaften nicht erfüllen können. Die Forderung nach sozial konformen Verhalten ist in Ermangelung eindeutiger Kriterien zudem ein stark bewertungsabhängiger Aspekt während die Kommunikationsbereitschaft mit den Autoritäten524 ein Grundvertrauen voraussetzt. Dieses ist angesichts bereits jahrzehntelang andauernder Anfeindungen nicht selbstverständlich gegeben, so dass Beurteilungen hier nicht zuletzt davon anhängen, welche konkreten Personen miteinander interagieren und wie sehr involvierte staatliche Vertreter durch die öffentliche Meinung vorbelastet sind. Auch durch interpretativen Spielräume an dieser Stelle entsteht, in Wechselwirkung mit der „Anti-Sekten“-Agenda, ein hoher Anpassungsdruck für die NRB.

Veränderungen der gesellschaftlichen Reaktionen nach dem Erlass des APG Im Gegensatz zur deutschen Situation, in der die Veröffentlichung des EnquêteBerichtes525 den Anfang vom Ende großer Teile der Sektendebatte herbei führte, stellte die Veröffentlichung des GGR in Frankreich im Jahr 1995 den Ausgangspunkt zur Schaffung des APG dar. Erst mit der Verschärfung der juristischen Mittel und der Erhöhung des staatlichen Druckes gingen die zivilen Übergriffe auf alternative Religionsgemeinschaften wahrnehmbar zurück. Die Änderung der Gesetzgebung führte in Frankreich also, mit umgekehrten Vorzeichen, ebenfalls zu einer gewissen Beruhigung der Sektendebatten, nicht aber zu einem Verschwinden des Themas aus den Medien. Hier waren die zivilen Übergriffe seit den 1980er Jahren auch deutlich gravierender gewesen als die Proteste in Deutschland: man könnte sie als sehr aggressives social bullying bezeichnen, welches von Diffamie-

524 Garay, Religious Tolerance, 2011, S. 183-184, 525 Siehe Seiwert, German Enquete Commission, 1999, S. 323 f.

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rung und sozialem Ausschluss vereinzelt bis hin zu Bombenanschlägen auf alternative religiöse Zentren sowie in einem Fall Mord, reichte.526 Die Bekämpfung und Beobachtung gefährlicher Gruppen und „sektiererischer Aktivitäten“ wurde seit dem 1996 im „Interministeriellen Ausschuss zur Bekämpfung der Gefahr durch sektiererische Bewegungen“ („MILS“, seit 2002: „MIVILUDES“) auf Regierungsebene institutionalisiert. Dessen Aufgaben bestanden vor allem in der Beobachtung der „Sekten“ und in der Herausgabe von Handlungsleitfäden zur Verteilung an öffentliche Einrichtungen und Schulen. Die Rolle der „Anti-Kult“-Bewegungen, deren Meinungen zum Teil von der MIVILUDES abweichen, verschob sich dahingehend, dass diese sich zunehmend auf die „Opfer“ von „Sekten“ konzentrierten, in deren Namen sie in Gerichtsverhandlungen sprechen konnten. Nachdem man sich des „Sektenproblems“ von staatlicher Seite angenommen hatte, den verschiedenen Institutionen und Organisationen klare Aufgabenbereiche zugeteilt worden waren und scheinbar verbindlich und regelgeleitetet gegen die „Sekten“ vorgegangen wurde, beruhigten sich die zivilen Konflikte. In anderen Worten: seitdem die Bedrohung als staatlich kontrolliert angenommen werden konnte, verlagerte sich die subjektive „Sanktionspflicht“ gegenüber dem, was für die allgemeine Ordnung als bedrohend wahrgenommen wurde, von Vereinen (den „Anti-Kult“-Bewegungen) und Einzelpersonen auf den Staat.527 Die neuen Orte der Austragung der Konfliktdynamik waren, unter Einbeziehung der zivilen Hauptakteure, der AKB und betroffenen NRB, anstelle des öffentlichen Raums nun die Gerichte.528

L ES

SECTES IN DER GERICHTLICHEN

P RAXIS

Wie oben dargelegt verortet Nicholas Guillets les sectes aus juristischer Perspektive an der Schnittstelle von Rechtsverstößen, sozialer Ablehnung und administrativer „Reste-Kategorie“, der der nicht-anerkannten Gruppen mit religiösem Selbstverständnis/Selbstpräsentation. Aus dieser administrativen Unterscheidung resultiert das Signal, dass es sich hier nicht um legitime Religion handelt, wodurch von staatlicher Seite kein Schutz vor eventuellen öffentlichen Anfeindungen ausgeht.529 Wie Finke und Wybraniec (2001) zeigten, kann dies wiederum in einer

526 Vgl. Palmer, Field Notes, 2008 (s. D3DOPHUXQG %pFRXUWchasse, 2002, S. 4. 527 Vgl. Lamnek, Abweichendes Verhalten, 1993, S. 20 ff. 528 Vgl. Bécourt, chasse, 2002, S. 4 f. 529 Vgl. Garay, Religious Tolerance, 2011, S. 183 f.

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Abwärtsspirale rechtlicher Verurteilungen münden, insofern die negative öffentliche Meinung auch Gerichtsurteile beeinflusst.530 Die sich Wechselwirkung von Verurteilungen und öffentlicher Meinung sind neben der Nicht-Anwendbarkeit des Gesetzes der zentrale, in diesem Kapitel zu prüfende Aspekt. Begonnen wird hier, nach Klärung der quantitativen Dimension, mit der qualitativen Untersuchung einiger exemplarischer Fälle auf der Basis der jeweiligen Urteilsprotokolle. Am Ende der parlamentarischen Debatten vor Erlass des Gesetzes wurde mit den etwa 280 laufenden Prozessen (und angeblich etwa 50 Verurteilungen) die Notwendigkeit, die rechtlichen Mittel gegen les sectes zu stärken, begründet. Im Jahr 2011, wird für die darauf folgenden Dekade auf der Homepage des CAP LC von 35 Verurteilungen, von denen nur fünf „au titre des dérives sectaires“ verhandelt worden seien, gesprochen. Auf der UNADFI-Homepage werden für diesen Zeitraum kaum abweichend 40 Fälle insgesamt genannt.531 Diese scheinbare Abnahme der Quantität der Verurteilungen zu erklären ist schwierig, da die gesamte Anzahl von Prozessen leider nicht durch eine unabhängige Quelle zu ermitteln ist. Nicht alle Urteile müssen veröffentlicht werden und involvierte Personen optieren nicht selten für diese Möglichkeit, um ihr öffentliches Ansehen nicht zu gefährden und negative Effekte auf ihr Berufs- und Privatleben nach Möglichkeit zu vermeiden. Besonders gravierende Fälle werden jedoch aufgrund der im APG geregelten Pflicht zur Veröffentlichung bekannt, während vor allem über die für die Betroffenen positiv ausgehenden Fälle zumindest vonseiten des CAP LC und des CICNS (Centre d’Information et de Conseil des Nouvelles Spiritualités) berichtet wird. Von anderen Fällen wurde mir zumindest mündlich berichtet, allerdings sind diese weder belegt noch zitierfähig. Recherchen in juristischen Datenbanken brachten zudem kurze inhaltliche Protokolle einiger anonymisierter Urteilsverkündungen hervor, die jedoch wenig weitere Angaben zum Prozessverlauf enthielten. Eine quantifizierbare inhaltliche Analyse der Rechtspraxis war über die Angaben des CAP LC und UNADFI hinaus war auf dieser Basis also nicht möglich, wohl aber eine punktuelle Exemplifizierung derselben in Form einer inhaltliche Untersuchung der Prozessgegenstände, -verläufe und Argumentationsweisen. Diese werden ergänzt durch Augenzeugenberichte beteiligter Wissenschaftler und Juristen, die ihre Eindrücke publizierten. Hier explizit besprochen werden neben der einzigen Auflösung einer Gruppe vor allem drei Gerichtsverhandlungen, die letzte von Scientology, eine Diffamierungsklage der Raëlianer und ein (nicht-identifizierter) Fall in Kirchennähe, welcher insofern von exemplarischem Interesse ist, als hier 530 Vgl. Wybraniec/Finke, Regulation, 2001. 531 Homepage UNADFI, URL: http://www.unadfi.org/portrait-de-catherine-picard-une, ]XOHW]Weingesehen am 05.03.2013.

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eine Abgrenzung vonseiten der katholischen Kirche gegen einen ihrer Priester vorliegt. Von den anderen Urteilen, an denen einige anwendungsbezogene Aspekte der juristischen Logik untersucht werden konnten, wurden etwa Zwanzig Stichproben gesichtet und im Rahmen der ausführlich besprochenen Fälle gegebenenfalls punktuell als Beispiele eingebracht.

Die einzige Anwendung des APG, Artikel 1 Nach Aussage des CAP LC war der einzige Fall, in dem es zur Auflösung einer Gruppe und der Verhängung einer Haftstrafe über den mutmaßlichen Leiter wegen sujétion psychologique kam, der von Arnaud Mussy und der Kommune NeoPhare. Susan Palmer besuchte Mussy und beschreibt den Fall aus ihrer und Mussys Sicht ausführlich in „The New Heretics of France“. Ihr Bericht wird hier folgend zusammengefasst. Ende der 1980er Jahre habe Mussy informell die spirituelle „Leitung“ eines Teiles der bereits bestehenden Gruppe Phare-Quest übernommen, die von da an unter dem Namen Neo-Phare auftrat. Er selbst beschreibt seine Rolle als die des „Animateurs“, insofern er zwar die religiös-spirituellen Texte verfasst hätte, jedoch nicht der Leiter der Gruppe gewesen sei. Neo-Phare waren auf einem gemeinsamen Grundstück ansässig, jedes Mitglied habe jedoch die eigenen Bankkonten behalten. Von Mussy sei weder jemand angeworben worden noch hätten es anderweitige missionarische Tätigkeiten gegeben. In einer Phase interner Zerwürfnisse nahm sich ein Mitglied das Leben und Mussy wurde daraufhin vor Gericht gestellt. Nachdem zwei andere – enttäuschte – Mitglieder gegen ihn ausgesagt und ihn als Leiter der Gruppe verantwortlich gemacht hatten, wurde er zu einer dreijährigen Gefängnisstrafe wegen sujétion psychologique verurteilt. Ihm wurde die Schuld an besagtem Selbstmord gegeben, obwohl dessen tatsächliche Ursachen nicht genau festzustellen waren.532 Der Prozess wird laut Palmer von der Mehrheit der Beobachter als gezieltes Statuieren eines Exempels interpretiert, welches die Wirksamkeit des APG demonstrieren sollte, zumal Neo-Phare weder die größte noch die finanzkräftigste

532 Vergleiche und siehe für eine ausführliche Beschreibung dieses Falles Palmer, Here tics, 2011, S. IIYJODXFKein früherer Vortrag Palmers: France‫ތ‬s About- Picard Law and Neo-Phare: The First Application of „Abus de Faiblesse“(Short Version). Unpublished paper presented at the CESNUR 2006 International Conference (-to be quoted only with the author‫ތ‬s permission-).

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NRB und so in seinen Mitteln zur Verteidigung sehr eingeschränkt war. Eine Auflösung Scientologys hätte zudem auch in der internationalen Presse sehr viel mehr Aufmerksamkeit erregt und dies habe anscheinend vermieden werden sollen. Der von Palmer geschilderte Ablauf des Prozesses ist dramatisch und verweist auf die gezielte Anwendung öffentlichen Druckes währenddessen: Mitglieder UNADFIs hätten Mussy laut als Guru beschimpft und die gesamte Stimmung im Gerichtssaal sei von Anfang an gegen ihn gewesen. Es habe gewirkt, als habe das Ergebnis von vornherein festgestanden. Palmer stellt sehr richtig fest, dass eine verantwortungsvolle Beurteilung des Falles, vor allem der Frage, inwiefern von geistiger Unterwerfung durch Mussy gesprochen werden könne, einer detaillierten wissenschaftlichen Untersuchung der Gruppe und des Kontextes bedurft hätte. Eine solche habe aber nicht stattgefunden.533 Mussy leide noch heute an den Folgen, da er nicht nur als Straftäter stigmatisiert ist, sondern auch deshalb, weil er wahrscheinlich wieder ins Gefängnis gehen müsste, sollten sich andere Mitglieder der Gruppe – auch gegenwärtig – noch etwas antun. Abgesehen davon, könne er sich mit diesen nicht einmal treffen, ohne den Verdacht der Weiterführung der Gruppe zu erregen. Die Causa Mussy ist bis heute ein Einzelfall geblieben. In Verbindung mit dem Umstand, dass man sich nicht nur nicht auf weitere, sondern ebenfalls nicht etwa auf eine finanzkräftige, wehrhaftere und international vertretene Gruppe konzentrierte, unterstreicht dies die Annahme, man habe hier in erster Linie ein strategisches Beispiel inszenieren wollen. Die „Siegesfeiern“ der „Sekten“-Gegner nach Mussys Verurteilung sind demnach als Feier der gelungenen Demonstration der Wirksamkeit des und der Sanktionswahrscheinlichkeit durch das APG zu werten.

„Gerechtfertigte Diffamierung“ und die Klagen der Raëlianer Der überwiegende Teil der von Palmer beschriebenen brisanten und bekannten Fälle534 stammt aus der Zeit vor dem Erlass des APG und wird deshalb hier nicht erneut aufgegriffen. Auf einen weiteren Fall, den Palmer nicht erwähnt und der eine andere Dimension der möglichen strengen Anwendung des APG demonstriert, verweist Hincker:535 „Vereine zum Schutz von Kindern und Familien“ (vermutlich UNADFI) hatten den Raëlianern sexuelle Verbindungen mit Minderjährigen unterstellt, was diese und die betroffenen Mädchen bestätigten. Da jedoch

533 Ebd. 534 Palmer, Heretics, 2011, u. a. Mandarom, die Zeugen Jehovas, Tabhitas‫ތ‬s Place. 535 Hincker, Rumeurs, 2003, S. 129-139.

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letztere über 15 Jahre alt waren und fragliche Handlungen mit deren Einverständnis und ohne jegliche Gewaltanwendung geschahen, wurden vier der fünf Angeklagten „nur“ aufgrund einer angeblichen Bestechung von Minderjährigen angeklagt. Nicht die Mädchen forderten in diesem Zusammenhang Schadensersatz und Strafe, sondern der gemeinnützige Verein. Zwei der Männer wurden infolge dessen zu Gefängnisstrafen und Schadensersatzleistungen unter den verschärften Bedingungen des APG verurteilt, nachdem im Berufungsverfahren das Thema Religion aufgegriffen und ihre Nähe zu den Raëlianern mit größerer Aufmerksamkeit betrachtet wurde. Die Verurteilung wegen sujétion psychologique durch das Gericht resultierte für die Betroffenen in einem fünfjährigen Verlust ihrer Bürgerrechte536 (unter anderem das Recht zu wählen, gewählt zu werden und respektive ein öffentliches Amt zu bekleiden). Die zu zahlenden Strafen gingen an die „Opfer“ und die AKB in ihrer Funktion als Zivilkläger, so dass es auch durchaus interessant wäre zu erfahren, welche Summen insgesamt von AKB auf diesem Wege eingenommen wurden und möglicherweise noch immer werden. Ein weiterer Fall betrifft ebenfalls die Raëlianer, die hier selbst ein Klage anstrengten: die Beklagten (ein Sprecher des „Regional de Nord du Centre documentation de lҲaction et éducation contre les Manipulations Mentales“ und zwei Journalisten) hatten in einem Interview den Satz „Raël ist der Pädophilie stark verdächtig und lädt Erwachsene und Kinder ein, um sie in „Sexualität zu unterrichten“537 geäußert, beziehungsweise, so wiedergegeben. Dieses Interview wurde in einer Zeitung veröffentlicht, weshalb Raël wegen Verleumdung klagte. Seine Klage wurde abgewiesen, weshalb er mehrmals in Berufung ging. Der Argumentationsverlauf war in etwa der folgende: »Der Beklagte gibt an, seine Aussage aufgrund von Erfahrungen mit solchen Gruppen in seinem Departement gemacht zu haben. Zudem sei nicht die Privatperson, sondern die gleichnamige Gruppe mit dem Diminutiv ,Raël‘ bezeichnet worden, welche in diesem Departement des Öfteren Konferenzen organisiere, während die Privatperson Raël gar nicht an diesem Ort wohne und deshalb nur die so bezeichnete Gruppe hiergegen klagen könne.//Gegenargument: 1. Die Formulierung könnte als auf die Privatperson gerichtet aufgefasst worden sein, 2. Diffamierung wird am Effekt, nicht an der Intention beurteilt, 3. daran habe das Opfer keine Schuld, weshalb 4. bei einer ungenauen Formulierung jede als Ziel in Frage kommende Person Entschädigung verlangen könne.//Erwiderung: Eine Beleidigung habe gar nicht stattgefunden, da die Aussage hypothetisch [R. „sei der Pädophilie verdächtig“.] 536 &RXUGHFDVVDWLRQ&KDPEUHFULPLQHOOH&RXUG‫ތ‬appel de Lyon, Civ 4, 24. 24.01, 2002 (zitiert nach Hincker, Rumeurs, 2003, S.132). 537 Die Raëlianer lehren eine freiere und genussvolle Sexualität bereits für Jugendliche.

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gehalten gewesen sei.//Im nächsten Schritt führt die klagende Partei an, dass, wenn die Beleidigung hypothetisch sei, sich das Gericht nicht vorherig auf die Diskussion um die Wahrheit der Aussagen hätte einlassen müssen, womit die Äußerungen anscheinend doch präzise genug seien und die Beklagten dann von einer Ausnahmeregelung profitierten, ,in gutem Glauben/nach bestem Wissen (à bonne foi)‘ gehandelt zu haben. //Erwiderung: Die Aussagen wurden als wahr nachgewiesen und der Beklagte habe bezogen auf die Gruppe nur öffentlich daran erinnert.//Die klagende Partei erkennt daraufhin den Wahrheitsbeweis nicht an, da dieser aus den einzelnen Publikationen gezogen wurde, was wiederum nicht die ganze Gruppe beträfe. Ebenso habe er die fraglichen Stellen in späteren Publikationen korrigiert, also ginge es doch um ihn persönlich und die Beweisführer hätten sich nicht richtig informiert.//Zusammenfassung und Ablehnung der Klage: Es sei sorgfältig recherchiert worden, ob persönliche Animositäten gegen den Kläger oder die Gruppe vorlagen und es könne nicht festgestellt werden, dass nicht ,in gutem Glauben‘ gehandelt worden sei, zumal sich die Beklagten vorher informiert hätten. Damit sei erstens ein gültiger ,Wahrheitsbeweis‘ erbracht worden und zweitens nicht der Kläger als Privatperson, sondern die Gruppe in Form des Diminutivs bezeichnet worden, was das Gericht im Hinblick auf den Kontext der Äußerungen, s. o, autorisiert feststellt. Die Klage wird abgewiesen.«538

Raël und auch andere Raëlianer wurden in der Öffentlichkeit durch die Aktionen der AKB weitreichend bekannt und stigmatisiert, auch weil sie gegen diese Kampagnen vehement juristisch vorgingen und häufig in den Medien erwähnt wurden. Laut der gerichtlichen Argumentation hätte eine Einzelperson wie Raël in diesem )DOO DQVFKHLQHQG NODJHQ N|QQHQ ZlUH VLH EHWURIIHQ JHZHVHQ GDV *HULFKW HQW scheidet jedoch, dass die Gruppe der Raëlianer gemeint gewesen sei und diese wurde öffentlich ja tatsächlich verdächtigt, wenn auch nicht verurteilt. Außerdem seien die Aussagen hypothetisch formuliert gewesen und außerdem ihr Wahrheitsgehalt durch die Schriften der (wiederum) Einzelperson Raël belegt und demnach nach bestem Wissen von den Beklagten der Öffentlichkeit in Erinnerung gerufen worden. Damit wird gerichtlich proklamiert, dass die Gruppe und Raël (um den es sich gar nicht gehandelt habe) genügend Verdacht geschürt hätten, so dass die Information, Raël oder die Gruppe seien der Pädophilie verdächtig, legitim verbreitet habe werden können. Die Raëlianer-Bewegung ist französischen Ursprungs und die nach Scientology die am meisten öffentlich angefeindete. Sie ist ein Beispiel dafür, wie der Konflikt zwischen Gesellschaft und einer NRB eska-

538 Cour de cassation, chambre criminelle: Rejet du 30 mars 2010 N° 09-Über setzung der Inhalte durch Autorin.

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lierte. 2002 ging Raël ins Ausland, nachdem ihn über zehn Jahre öffentlicher Anschuldigungen, Beleidigungen und zumeist verlorene Klagen gegen Verleumdungen auch finanziell geschwächt hatten.539

Die Sujétion psychologique und das Verhältnis von Straftat und religiöser Abweichung innerhalb der katholischen Kirche In einem weiteren Fall ist ein katholischer Priester angeklagt, unter Ausnutzung seiner kirchlichen Autorität und dem Vorwand, einen Exorzismus durchzuführen, Mädchen unter 15 Jahren sexuell missbraucht zu haben. »Die Kirche distanziert sich vom Gebaren des Beklagten als „Guru“ und gibt an, ihm das Ausführen derartiger Exorzismen nicht aufgetragen, sondern sogar ausdrücklich untersagt zu haben. Der Priester habe somit jenseits und gegen die Anweisungen der Diözese gehandelt, während Bruno X angibt, sich im kirchlichen Rahmen bewegt zu haben und so in keiner Weise in die Nähe einer sektiererischen Bewegung zu stellen sei. Das Gericht befindet jedoch, Bruno X habe die Autorität seiner Funktion missbraucht, während eine Situation „psychischer und physischer Unterwerfung“ zwischen Bruno X und den Minderjährigen bestanden habe, weil letztere durch Furcht vor den angeblichen bösen Mächten eingeschüchtert und verängstigt gewesen seien. Die Zulassung UNADFIs als Nebenkläger gilt GHP=ZHFNGHU)|UGHUXQJGHV*HPHLQZRKOVGHU9HUHLQJLOWDOV([SHUWHQ]XVDPPHQVFKOXVV in Fragen über „Sekten“ Kindern und der Familie, ersteres eine Kategorie, in die Bruno X nun vorerst fällt. Bruno X‫ތ‬s Berufung wird abgelehnt.«540

Dieser Fall illustriert den Umgang der Kirche mit innerkirchlichen Abweichlern vor dem Hintergrund des APG. Die Kirche distanziert sich in Bezug auf den Exorzismus vom Täter, eine Praxis, die in anderen Ländern und dem Vatikan einen gängigen Aspekt katholischen Priestertums und der Priesterausbildung darstellt.541 Der Beklagte versucht, eine solche Distanzierung zu vermeiden, da er nun als außerhalb kirchlicher Anweisung Handelnder nicht nur des sexuellen Missbrauchs

539 Dieses Protokoll ist auf 2010 datiert, so dass sich Raël schon im Ausland befand, als GLHVHU 3UR]HVV JHIKUW ZXUGH vgl. das entsprechende Kapitel in Palmer, Heretics, 2011, S. 83-110. 540 Cour de cassation, chambre criminelle. Rejet du 28 avril 2004 N° 04-80468, Übertra gung der Inhalte ins Deutsche durch Autorin. 541 Inwiefern Exorzismen in Frankreich vonseiten der Kirche nicht oder nur inoffiziell durchgeführt werden sollen, konnte hierfür nicht eruiert werden.

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für schuldig befunden werden kann, sondern ohne die Rückendeckung einer anerkannten Religion in die Nähe der Kategorie „dérives sectaire“ fällt, was eine weitere Verschärfung des Strafmaßes zur Folge haben kann und zumeist hat. In Frankreich ist es offizielle katholische Praxis, Fälle von Pädophilie und anderweitigem sexuellen Missbrauchs strikt weltlicher Verantwortung zu übergeben.542 Auch distanzierte sich die Kirche in einigen Fällen von zu starken Abweichungen in Orthodoxie und Orthopraxie. Katholische Untergruppen und Bruderschaften, die zur Kirche gehören, müssen sich im Gegensatz zu denen, von denen sich die Kirche distanziert, nicht separat zur Anerkennung als religiöse Gemeinschaft dem Staat gegenüber melden, da sie den Status als „religiös anerkannt“ über die Kirche bereits innehaben. Hier wird der Unterschied zwischen legitimer und nicht-legitimer Religion sehr deutlich: Bruno X verstieß hier einerseits in Bezug auf den sexuellen Missbrauch und andererseits mutmaßlich in Bezug auf die Nichtbefolgung der Weisungen seiner Vorgesetzten gegen säkulare Gesetze und innerkirchliche Anordnungen gleichzeitig. Indem er nun selbst ein religiöses Motiv (die Durchführung eines Exorzismus) im Rahmen seiner Funktion in der Kirche angab, sich diese dann aber von ihm distanzierte, wurde er aufgrund dessen außerhalb der Schirmherrschaft einer anerkannten Religionsgemeinschaft in die Kategorie der secte im Zusammenhang mit dem Missbrauch Minderjähriger eingeordnet. Die Kirche kann also, als „quasi-anerkannte“ Religionsgemeinschaft in gewissem Rahmen Mitglieder und Untergruppen vor der Einordnung die „Sekten“-Kategorie schützen, insofern ihr der Status des religiösen Expertentums in NDWKROLVFKHQ)UDJHQ]XJHVWDQGHQZLUG%UXQR;KlWWHKLHU„nur“ wegen des sexuellen Missbrauchs weltlich gerichtet werden können, versuchte sich aber religiös zu legitimieren. Distanziert sich die Kirche dann wie in diesem Fall, treten alternativ Experten für verbrecherische, religionsartige Gruppen und Personen, die AKB, an ihre Stelle. Hieraus ist ersichtlich, dass von staatlicher Seite die Neutralität in religiösen Angelegenheiten durchaus ernst genommen wird, fraglich ist, ob sich die Kirche hier aus Prinzip wegen des Kindesmissbrauchs oder auch distanzierte, weil sie für sich selbst weiterreichende Konsequenzen fürchtete (selbst für „sektiererische Handlungen“ belangt zu werden).

542 Vgl. Les indulgences de l‫ތ‬Église de France, in: Le Monde, 25.03.2010 85/ http://www.lemonde.fr/societe/article/2010/03/25/les-indulgences-de-l-eglise-defrance_1324336_3224. htPO]XOHW]Weingesehen am 17.08.2012.

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Organisierter Betrug und illegale pharmazeutische Praxis (Scientology im Jahr 2012) In den letzten Jahren war es fast ausschließlich Scientology, über deren Prozesse in den Medien ausführlich berichtet wurde. Im Jahr 2012 wurden verschiedene zu Scientology gehörige Einzelpersonen, die Association Spirituelle-Celebrity Centre (L‫ތ‬ASES-CC) und die Scientologie Espace Librairie (SARL SEL) wegen organisierten Betruges und zum Teil illegaler Ausübung pharmazeutischer Praxis verurteilt (Urteil vom 03.02.2012543). Als zivile Nebenkläger waren UNADFI und der Conseil National de lҲOrdre des Pharmaciens (CNOP) angemeldet, UNADFI wurde jedoch als Zivilkläger nicht anerkannt.544 Die Anwälte der Scientologen hatten mehrere Gründe angeführt, warum UNADFI nicht zugelassen werden könne, entscheidend war dessen Ausrichtung auf familienbezogene Themen, die in diesem Fall nicht behandelt wurden.545 Bei entsprechenden finanziellen Mitteln und juristischer Unterstützung haben betroffene Gruppen, anders als damals Mussy, durchaus die Möglichkeit Einfluss auf ihren Prozess zu nehmen. LҲASES-CC und SARL SEL wurden zu 400.000 und 200.000 Euro Strafe verurteilt und mussten das Urteil zusätzlich auf ihre Kosten in den französischen Zeitungen Le Parisien, Le Monde, Le Figaro, Libération, lҲQuest France, Herald Tribune und im Time Magazine inklusive deren Online-Ausgaben veröffentlichen, da die Praktiken Scientologies „unseriös“ seien und oft nur zu indirekt auf ihre eigentlichen Urheber, Scientology, verweise.546 Die des Betruges für schuldig befundenen Angeklagten hatten individuelle GeldstrafHQ]ZLVFKHQXQG(XUR]X]DKOHQYLHU von sieben erhielten Bewährungsstrafen zwischen zehn Monaten und zwei Jahren.

543 Cour D‫ތ‬Appel de Paris – pôle 4 – chambre 11 – n° rg 10/00510 – arrête rendu le 3 février 2012. 544 9JOHEG6IIVRZLHCour d‫ތ‬Appel de Paris, Pôle 4-Ch.11, Arrêt n°1:3234 545 Die Anwälte der Beklagten hatten den Ausschluss der Organisation beantragt, unter anderem mit Verweis auf Unregelmäßigkeiten bei der Wahl Picards und in der Doku mentation einer Änderung in den Statuten. Dem wurde nicht stattgegeben, da dieser Prozess jedoch nicht Familien beträfe, deren Schutz als Ziel UNADFI‫ތ‬s in dessen Sta tuten festgehalten sei, würde die Organisation hier deshalb keinen Status als Zivilklä ger erhalten, da sie in diesem Rahmen „kein konkretes Ziel entsprechend ihres Zwe ckes“ hätte (N° rg 10/00510 – arrête rendu le 3 février 2012, S. 33). 546 Ebd. 2 ff.

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Drei einzeln Beklagte hatten bei der Church übliche „Vitaminpräparate“ zu Therapiezwecken vertrieben und damit das pharmazeutische Monopol verletzt.547 Die Strafen fielen also hart aus, der verbliebene Zivilkläger CNOP beantragte allerdings nicht die Auflösung der Organisationen. Dennoch jubelten die Gegner Scientologies: damit sei Scientology als eine Organisation, die – in ihren alltäglichen Praktiken – bandenmäßigen Betrug begehe und illegale pharmazeutische Mittel vertreibe, überführt, womit man ihrer Auflösung einen Schritt näher gekommen sei. Scientology will Revision einlegen und sich wie andere Gruppen an den europäischen Gerichtshof wenden.

Frankreichs Prozesse gegen „Sekten“ nach 2001 im Überblick Das Gesamtbild bleibt aufgrund der beschriebenen widrigen Quellenlage noch unvollständig, da auch Umfragen unter Betroffenen eine relativ hohe Dunkelziffer produzieren könnten. Auch aus den exemplarisch analysierten Fällen lässt sich ableiten, dass das Gesetz vor allem als politisch-symbolisches Mittel gegen Gruppen verstanden und eingesetzt wurde. Eine Interpretation als politisches Gesetz wäre zudem eine mögliche Erklärung der gelöschten Referenz im eingangs beschriebenen Scientology Prozess von 2009,548 insofern hier schlicht vor den Konsequenzen einer tatsächlichen Auflösung der Organisation zurückgeschreckt worden sein könnte. In der effektiven Rechtspraxis waren vor allem Individuen in Verbindung mit einer „Sekte“ von dessen Anwendung betroffen. Zudem bestand aber auch (sofern die finanziellen Mittel gegeben waren) die Möglichkeit einer gewissen Einflussnahme der Gruppen auf die Rahmenbedingungen ihres Prozesses. Für Einzelpersonen und kleine Gruppen konnte die Anerkennung innerhalb einer größeren, anerkannten religiösen Organisation einen gewissen Schutz bieten. Die administrative Unterscheidung zwischen legitimer und nicht legitimer Religion ist also relevant, während der Staat das Gebot der Neutralität in religiösen Angelegenheiten

547 Ebd. S. 4-6. 548 Dieser Umstand wurde offiziell als Fehler und „Versehen“ dargestellt, während aus einigen Ecken Vermutungen laut wurden, Scientology hätte dieses auf subversivem Wege bewirkt. Nicht von der Hand zu weisen ist bei internationalen Organisationen, die wie Scientology in den USA als „Religion“ gelten, die Gefahr weiterreichener Spannungen, die eine Auflösung mit sich gebracht hätte. Zudem ist Scientology rela tiv finanzstark und Frankreich hätte sich mit großer Sicherheit im Anschluss vor dem ECoHR verantworten müssen.

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durchaus ernst nimmt und in derartigen Fragen Experten hinzu zieht. Bei Verhandlungen mit Religionsbezug außerhalb des Rahmens anerkannter Religion, werden diese häufig von den AKB gestellt, was aufgrund deren sektenfeindlicher Ausrichtung in den Prozessen für die Beklagten das eigentliche Problem darstellt. Auch hier bestätigt sich, dass unterschiedliche Interessengruppen nun in der rechtlichen Arena ihre Konflikte austragen, wobei „Sekten“-kritische Stimmen durch ihre staatliche Anerkennung als gemeinnützig lange Zeit im Vorteil zu sein schienen. Vor allem durch Letztere behält die (nicht zuletzt auch von ihnen geprägte) negative Einstellung gegenüber „Sekten“ ihre Relevanz bis in die Gerichtsbarkeit hinein, und einige, mittlerweile relativ bekannte Gruppen waren und sind folglich besonders von rechtlichen Maßnahmen betroffen. Es handelt sich in der Regel solche, die eine hohe negative Medienpräsenz aufweisen, selbst juristisch sehr aktiv sind oder von den AKB bereits intensiv fokussiert werden.549 Dies wird besonders in der Diffamierungsklage Raëls deutlich: mit dem Argument, dass gewissenhaft recherchiert worden sei, konnten Pädophilie-Verdächtigungen in den Medien ungestraft ausgesprochen, beziehungsweise, aktualisiert werden, was die Person oder Gruppe natürlich in ihrem öffentlichen Ansehen schädigt. Das implizite Wirken von Vorurteilen wird von den betroffenen Gruppen in Gerichtsprozessen immer wieder beklagt,550 was von den Richtern aber in der Regel zurückgewiesen wird. In Bezug auf Scientology wird von Gegnern der Organisation weiterhin im direkten Umfeld der Prozesse intensiv mit der Beeinflussung der öffentlichen Meinung, z. B. durch das Verteilen entsprechender Flugblätter, gearbeitet. Das APG als politisches Gesetz wirkt(e) also entscheidend zwischen öffentlicher Meinung und möglicher Strafe, insofern die öffentliche Meinung Gerichtsurteile beeinflussen kann und Verurteilungen erste wiederum bestätigen. Diese Schlussfolgerung unterstreichend, wurden lange Zeit Fälle, in denen erfolgreich gegen Verleumdungen geklagt wurde oder Klagen zum Vorteil der NRB abgewiesen wurden, von den Medien mehr oder weniger systematisch verschwiegen. Prägnant ist ein Beispiel, in dem die Mitgliedschaft bei den Zeugen Jehovas nicht zur Verlagerung des

549 In den 1990ern hatten auch die Zeugen Jehovas massive Probleme mit Spenden, die sie nicht versteuert hatten, was sie mit steuerbefreitem Status auch nicht hätten tun müssen. Da entschieden wurde, dass sie bestimmte Auflagen für eine diesbezügliche Steuerbefreiung im Nachhinein nicht erfüllten, wurden sehr detaillierte Nachfor schungen angestellt und die Gruppe musste eine extrem hohe Summe an Steuern nach zahlen, was die Organisation fast zerstörte. Bis zu ihrer Rehabilitierung war die Gruppe in Frankreich mehr oder weniger untergetaucht. 550 Ebenso im Scientology-Urteil von 2012 (Cour D‫ތ‬Appel de Paris – pôle 4 – chambre 11 – n° rg 10/00510 – arrête rendu le 3 février 2012, S. 32).

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Sorgerechtes auf den frisch geschiedenen Ehegatten führte, da es den Kindern offensichtlich gut ging.551 Kaum bekannt wurde auch ein Prozess gegen Jaques Guyard: nachdem er eine NRB im Fernsehen als „Sekte“ bezeichnet hatte, verlor er die ersten beiden daraufhin gegen ihn angestrebten Prozesse, ehe seine Verurteilung erst in der dritten Instanz aufgehoben wurde.552 Dies änderte sich mit der Zeit, so wurde Catherine Picard im Jahr 2007 für eine öffentliche Beleidigung der Zeugen Jehovas553 und George Fenech, der damaligen Präsident von MIVILUDES, im Jahr 2012 für die Nennung einer katholischen Gruppe im MIVILUDES-Bericht von 2009, verurteilt und hierüber in mehreren großen Zeitungen berichtet.554 War die Implementierung des APG zunächst eine viel kritisierte Maßnahme, zeichnet sich im zeitlichen Verlauf entgegen der Intention der „Sekten“-Gegner also scheinbar eine leichte Besserung der Situation für betroffene NRB ab. Bei den auf der Homepage von CAP LC im Jahr 2011 besprochenen 35 Verurteilungen von NRB der vorhergehenden zehn Jahre, handele es sich in 30 Fällen lediglich um Verbote vom Bauen von Toiletten im Garten, die Bestrafung für nicht instand gehaltene Feuerlöscher oder die Limitierung der Anzahl der Fenster in einem Gebäude. Der CAP LC kommentierte dies als „die üblichen Schikanen“. Von den verbleibenden fünf direkt unter dem Titel „sektiererische Abweichungen“ besprochenen Urteilen habe es sich um Fälle wie Sorgerecht-Entscheidungen gehandelt, welche nicht direkt unter das APG fallen und in deren Rahmen der Elternteil, der

551 Siehe z. B. de cassation, chambre civile 2, Audience publique du 11 avril 2002, N° de pourvoi: 00-15819. „[...] quҲil y a lieu de prendre en considération les conditions de vie de tous les enfants dҲune secte à la les parentssont affiliés qui pourraient être denature à compromettre gravement lҲévolution et lҲéquilibre psychologique des en IDQWVTXҲen se référant à un arrêt du 15 janvier 1999 rendu en matière dҲassistance éducative pour dire que „malgré son appartenance à la secte des témoins de Jéhovah, Mme Y... ne met pas ses enfants en danger, sans préciser dans quelles conditions de vie avec les autres enfants de la secte se trouvaient les quatre enfants X..., la cour dҲappel a privé son arrêt de base légale au regard de lҲarticle 287 du Code civil [...]“ 552 Hincker, Rumeurs, 2003, S. 63 ff. 553 Blog du sociologue et anthropologue Fabrice Desplan, 22.07.2007, URL: http://www .dixmai.com/archive/2007/07/22/la-presidente-de-l-unadfi-condamnee-pour-diffa mation-envers.html]XOHW]WHLQJHVHKHQDP05.03.2013. 554 Über das Urteil vom 09.06.2012 wurde immerhin in einigen Tageszeitungen berichtet. Siehe z. B: Paris Tribune, 7 juin 2012, URL: http://www.paristribune.info/Le-Presi dent-de-la-MiviludesGeorges-)HQHFKFRQGDPQHBDKWPO zuletzt eingesehen am 11.08.2012.

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Mitglied in einer so genannten „Sekte“ ist, oft benachteiligt werde.555 Unter ihnen befand allerdings erstmalig auch eine so genannte „sanfte“ Heilmethode (medicine douce), die Méthode Hamer, die öffentlich als Charlatanerie bezeichnet wurde556 und die in die neue Stoßrichtung MIVILUDES mit einem Fokus auf alternative Therapieformen fällt.557 Erklärt werden können diese Entwicklungen, z.B. der Wechsel in der Agenda MIVILUDES, als durch die bereits früh festgestellten Veränderungen im alternativ-religiösen Feld bedingt. Alternative Heilmethoden gewannen nicht nur in Frankreich bis heute gegenüber den klassischen NRB an Bedeutung. Zudem speziell in Frankreich die zunehmend dezentralisierte Organisation der Gruppen als Reaktion auf die rechtliche Verfolgung festgestellt.558 Valerie Rocchi beschreibt weitere Reaktionen auf den rechtlichen Druck, insofern sich im Rahmen des durch seine flexible Selbstorganisation und flüchtigen sozialen Formen und damit seine schnelle Anpassungsfähigkeit bekannte Nouvel Age („New Age“559) in Frankreich ungleich zu anderen Ländern 555 Vgl. auch Duvert, Anti-Cultism, 2004, S. 83 ff. Laut Angaben des CAP LC ist die gegenwärtige Situation eher so, dass eine Mitgliedschaft in einer der im GGR ver merkten Gruppen nicht zwangsläufig dazu führt, dass der betreffende Elternteil im Falle einer Scheidung die Kinder nicht bekomme, allerdings verbessere dies auch nicht die „Chance“ hierzu. Juristisch gebe es zwar keine Grundlage, da hier der Sek tenbegriff offiziell ja nicht existiere, allerdings sähe es gelegentlich so aus, als würden in diesem Falle intensiver nach anderen Gründen für einen Nicht-Zuspruch des Sor gerechtes gesucht (Telefonisches Interview mit dem CAP LC am 17.11.2011). 556 Vgl. u. a. URL: http://www.ouvertures.net/10-ans-de-loi-about-picard-5-condamna tions-seule-ment-umotif-de-derives-sectaires/]XOHW]W eingesehen am 05.03.2013. Kommentar Picard in le Figaro 31.01.2013, URL: http://www.lefigaro.fr/actua lite-france/2013/01/31/01016-201-30131ARTFIG00653-sectes-une-condamntion-stu SHILDQWHSKSzuletzt eingesehen am 05.03.2013. MIVILUDES: Communiquée de Presse 12.06.2012: URL: http://www.ccmmasso.fr/spip.php?article4008 ]XOHW]W HLQJHVHKHQ DP  YJO 85/ http: //www.overtures.net/le-conseil-de-lordre-attaque-lanthroposophie-en-radiant-deuxmedecins/]XOHW]WHingesehen am 05.03.2013. 2012 gab MIVILUDES einen Leitfaden zu gefährlichen Therapie und les dérives sectaires heraus (MIVILUDES 2012: Guide: Santé et dérives secatires. La documen tation française. 557 Vgl. MIVULUDES 2006: Rapport au Premier Ministre. 558 Siehe hierzu ausführlich: Königstedt, Self-dissolving enemies. 559 Der „New Age“-Begriff wird im europäischen Wissenschaftskontext kaum noch und wenn in Anführungszeichen verwendet, da sich seit den späten 1980ern aufgrund der inflationären Verwendung und negativen Konnotation des Begriffs kaum noch jemand

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eigene Instanzen zur Kontrolle von Publikationen über Spiritualität und alternative Heilmethoden herausgebildet hätten.560 Die scheinbare Besserung der Situation ist zum Teil der Ineffizienz des Gesetzes zuzuschreiben. Angesichts der fehlenden auf Gruppen bezogenen Anwendung wurde zum einen der Erlass des APG als mehr symbolischer-politischer Akt auch vonseiten der Öffentlichkeit und der NRB nachvollziehbar. Das Begehen einer Straftat im Sinne des APG setzt, Wissenschaftler früh anmerkten, deren Nachweisbarkeit durch das Gericht voraus, was jedoch unter anderem durch die unscharfen Kategorien des APG in der Praxis oft nicht möglich war. Anzunehmen ist, dass, unter anderem, fehlende folgende öffentlichkeitswirksame Verurteilungen mit der Zeit die Ernsthaftigkeit der „Anti-Sekten“-Agenda in den Augen der Öffentlichkeit untergruben, die zudem neben dem neuen Thema, dem Islam, seit dem 11. September 2001, an öffentlichem Interesse verlor. Die Ineffizienz des Gesetzes in Bezug auf die Auflösung von Gruppen war jedoch nicht von vornherein abzusehen und Individuen waren tatsächlich in mehreren Fällen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer „Sekte“ von härteren Strafen betroffen. Hierauf reagierten die betroffenen Gruppen und organisierten sich im CAP LC und im CICNS gegen den zunehmenden rechtlichen Druck. Vor allem sie strengten vermehrt Klagen gegen die „Sekten“-Gegner an, die im bekanntwerdenden Erfolgsfall die Rechtmäßigkeit des Vorgehens letzterer wiederum infrage stellten. Die Bedeutung von Urteilen und der diesbezüglichen Medienberichterstattung für die innerfranzösische öffentliche Meinung (und deren Relevanz für die rechtliche Praxis) wurden bis hier hin herausgestellt. Sie wird folgend mit einem Fokus speziell auf Prozesse der zunehmend international beeinflussten öffentlichen Diskussionen zu Frankreichs „Anti-Sekten“-Agenda, die Rolle des ECoHR sowie den durch die „New Media“ entstandenen Möglichkeitsstrukturen zur Partizipation der betroffenen NRB am den öffentlichen Debatten über sich selbst untersucht.

damit identifiziert. Im deutschsprachigen Raum ist auf der Objektebene gegenwärtig „Esoterik“ und „Spiritualität“ gebräuchlicheF rançoise Champion verwendet für den gesamten Bereich wenig organisierter Spiritualität, sanfter Heilmethoden und Esote rik in Frankreich die Bezeichnung „nébuleuse mystique-ésotérique“ (vgl. z. B. Cham pion: La nébuleuse mystique ésotérique, 1989, S. 155-169). 560 Rocchi, Du Nouvel Âge, Des Nouvelles Formes Du Religieux?, 2003.

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D IE „ANTI -S EKTEN “- G ESETZGEBUNG UND DIE NATIONALEN UND INTERNATIONALEN ÖFFENTLICHEN D EBATTEN Parallel zum eben Beschriebenen liefen bereits Anerkennungsverfahren einzelner Gruppen sowie die Bedeutung der Möglichkeit von NRB, sich an den Europäischen Gerichtshof (folgend: ECoHR) zu wenden, für die Genese der Situation nicht unterschätzt werden darf. Die durch die staatlich angeordnete Sprengung ihrer größten Buddha-Statue und intensive Medienverfolgung bekannte Gruppe Mandarom ist seit 2010 als Religionsgemeinschaft anerkannt und seit dem Jahr 2011 klagten mehrere Gruppen erfolgreich vor dem europäischen Gerichtshof561 infolgedessen der französische Staat ihnen hohe Entschädigungen zahlen musste (s. u.).562 Derartige Meldungen werden etwa seit dem Jahr 2006 auch über die französischen Printmedien und damit unter einem größeren Publikum verbreitet, so dass sie wiederum auf die Bevölkerung zurück wirken können. Bis hierher wird jedoch auch festgestellt, dass trotz gewisser Erleichterungen, die betroffene Personen oder Gruppen im späteren Verlauf der Jahre nach Erlass des APG erfahren, diese weiterhin gezwungen sind, aktiv gegen die Diskriminierung in Frankreich zu arbeiten und hohe Prozesskosten zu finanzieren.563 Die „Sekten“-Gegner bleiben ihrerseits weiterhin aktiv und werden von Frankreich weiter staatlich subventioniert. Der folgenden detaillierten Untersuchung der Entwicklung der und relevanten Faktoren für die Konfliktdynamik vor dem Hintergrund einer internationalen Öffentlichkeit muss daher vorweg genommen werden, dass ihr Abflauen vorerst nicht abzusehen ist564 und die nächsten Ereignisse abgewartet werden müssen.

561 CEDH (30/09/2011) AFFAIRE ASSOCIATION LES TEMOINS DE JEHOVAH c. FRANCE (Requête no 8916/05). Témoins de Jéhovah: Paris condamné. Le Figaro, 85/http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2011/06/30/97001-20110630FIL WWW00522-temoins-de-jehovah-paris-condamne.php ]XOHW]W HLQJHVHKHQ DP 05. 03.2013. 562 Im Fall Mandaroms (und des Temple Pyramide, der Chevaliers du Lotus sowie der l‫ތ‬Église évangélique missionnaire) waren es knapp 4 Mio. Euro, die zu zahlen der französische Staat verurteilt wurde. 563 Vgl. Königstedt, Digital Media, 2013. 564 Siehe auch: Tensions autour d‫ތ‬un projet de nouvelle ‚liste noire‘, Le Parisien, 13.02.2009, URL:http://www.leparisien.fr/abo-faits-divers/tensions-autour-d-un-pro jet-de-nouvelle-liste-noire-13-02200409018.php?wHA=1ART&mvt=20373&wHA= $57 PYW  Z+$ $57 PYW ]uletzt eingesehen am 10.03.2013.

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Die französische Öffentlichkeit Wechselwirkungen zwischen den öffentlichen Debatten und dem Rechtssystem konnten zum einen über die Kongruenz der Terminologie der öffentlichen Debatten und der Rechtsetzung ausgemacht werden. Das Verständnis einer „Sekte“ wurde aus den von den entsprechenden pressure groups geprägten öffentlichen Debatten übernommen. Die implizite Vor-Definition des Begriffs und die resultierende Stigmatisierung einer Gruppe finden sich, nicht zuletzt durch den Expertenstatus der AKB vor Gericht, auch in der Urteilspraxis,565 der jedoch nicht alle Gruppen wehrlos gegenüber stehen. Die Berichterstattung über die Prozesse und Urteile wirkt wiederum auf die öffentliche Meinung zurück und kann so zu einer Abwärtsspirale der Stigmatisierung führen. Dies ist im Fall der französischen Sektenkonflikte nur bedingt eingetreten, vielmehr profitierten die betroffenen Gruppen von der gegenläufigen Meinungen in der außerfranzösischen Öffentlichkeit. Verschiedene wissenschaftliche Arbeiten stellten in anderen Kontexten derartige Wechselwirkungen fest, zu nennen sind die Befunde von Matthias Koenig für Prozesse von Migrantengemeinden in Deutschland, bei denen richterliche Entscheidungen in ihrer Bewertung durch den Stand der öffentlichen Debatten beeinflusst wurden566 sowie Arbeiten von Richardson, Wybraniec und Finke,567 die empirisch zeigten konnten, dass im Fall von NRB Gerichtssäle wie öffentliche Debatten Orte normativer Bewertung jenseits der konkreten Straftatbestände werden. Diese Impulse wurden erneut vertiefend aufgegriffen, da solche Wechselwirkungen in der französischen Praxis empirisch und durch wissenschaftliche Augenzeugenberichte bestätigt werden.568

565 Siehe Raëls Diffamierungsklage. 566 Bezüglich der Klagetätigkeit von Migrantengemeinden in Deutschland siehe Koenig, Arenen, 2010, S. 151-153 und S. 163-164. Der Ansatz von Koenig betont im Gegen satz nicht die Beeinflussung der Rechtsetzung, sondern den Einfluss „öffentlicher“ Debatten auf die Beurteilung einzelner Fälle durch Richter und Geschworene, welche dies in der RegeO]XUFNZHLVHQVLHKH hierzu z. B. Cour D‫ތ‬Appel de Paris – pôle 4 – chambre 11 – n° rg 10/00510 arrête rendu le 3 février 2012, S. 30 ff. 567 Richardson, Legal Dimensions, 2004, S.174 ff.:\EUDQLHF)LQNHRegulation, 2001. 568 Vgl. z. B. Hincker, Rumeurs3DOPHr, Heretics, 2011, Beckford, Control,  Cult Controversies, 1985. Scientology plädierten im Prozess von 2012 auf illegitime Beeinflussung der Richter, da im ersten Prozess über diese Klagen UNADFI zeitnah vorher warnende Broschüren und Flugblätter verteilte (vgl. Scientology über die eigene Klagetätigkeit siehe die

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Statistische Daten zur öffentlichen Meinung über „Sekten“ in Frankreich gibt es kaum. Lediglich eine (von MIVILUDES beauftragte und deshalb hier nur kritisch rezipierte) Umfrage liegt vor569 und ergab für das Jahr 2010, dass hochgerechnet nur etwa 7% der Bevölkerung angeben zu wissen, was MIVILUDES sei, 26 % hätten immerhin von dem Ausschuss gehört, was jedoch bei 74% nicht der Fall sei. Im Jahr 2011 seien es 17% gewesen, die angaben, Genaueres zu wissen und 27%, die schon einmal etwas von der Institution gehört hätten.570 Die Existenz MIVILUDES‫ ތ‬scheint dementsprechend lange kaum zur Kenntnis genommen worden zu sein. Laut selbiger Umfragen (2010) sehen 66% „Sekten“ als „ausreichend große“ bis „sehr große“ Gefahr für die Demokratie und die Gesellschaft an, 44% (2011/40%) für ihre Familien, 30 % für sich selbst, während etwa 20% eine oder mehrere Personen kennen würden, die „Opfer“ einer „Sekte“ geworden seien (2011/14%). Eine leichte Mehrheit habe sich 2010 dafür ausgesprochen, dass mehr gegen diese Gruppen unternommen wird. Die Umfrage von 2011 erhebt alWHUQDWLYH0HGL]LQXQGDSRNDO\SWLVFKH*UXSSHQJHWUHQQWHUVWHUHZHUGHQYRQ für die Gesellschaft und von 43% für ihre Familien als Gefahr eingeschätzt, letztere zu 40% und 20 %. Auffällig ist, dass nur wenige der Befragten mit „Opfern“ direkt bekannt sind und die Gefahr für die Gesellschaft höher eingeschätzt wird als die für einzelne Personen. Die politische Dimension der „Gefährdung durch Sekten“ wurde im GBR aus dem Jahr 1999 und den parlamentarischen Debatten ausführlich unter den Aspekten der „Infiltrierung“ und „wirtschaftliche Interessen“ so genannter „Sekten“ diskutiert. Es ist wahrscheinlich, dass sich dies über die Printmedien auch in der öffentlichen Einschätzung des Problems niederschlug. Selbiges kann für die parallel zur Agenda MIVILUDES‫ ތ‬geäußerten Bewertungen Webseite des Pariser Scientology Celebrity Centers, URL: http://www.celebricentreparis.com/scientologieblog/La-Scientologie-denonce-un-lynchage-me-diatique a2.html.zuletzt eingesehen am 10.03.2013). 569 Die Umfragen wurden von IPSOS, einem internationalen Markt- und Meinungsfor schungsinstitut, beauftragt von MIVILUDES, erhoben, das sich (privat-)kundenori entiert präsentiert. Das Sample der ca. 1000 befragten Personen ist nicht genauer be schrieben, es ist nicht klar, ob alle abgefragten Themen mit Ergebnissen im „Survey“ repräsentiert sind. In Bezug auf die Stichprobengröße sind sie mit einem Konfidenz level von 95% und einem Konfidenzintervall von 3 als repräsentativ für eine Bevöl kerung von etwa 65 Mio. Menschen schätzbar und damit theoretisch nicht von vorn herein anzuzweifeln, muss jedoch vorsichtig interpretiert werden, da anzunehmen ist, dass MIVILUDES seine eigene Relevanz hierdurch bestätigen möchte. 570 Quelle: IPSOS 24 & 25 septembre 2010(WXGH,362617 & 18 juin 2011. Zugänglich über URL: http://www.miviludes.gouv.fr/publications-de-la-mivildes/rap ports-annuels, Webseite MI9,/8'(6 ]XOHW]WHLQJHVHKHQDP2013.

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alternativer Medizin als im Vergleich zu apokalyptischen Gruppen gefährlicher zutreffen. Diese Schlussfolgerung über die Ursachen der Kongruenz der Meinung MIVILUDES und den Angaben in der Umfrage ergeben sich über das Ausschlusspinzip: da MIVILUDES selbst als relativ unbekannt angegeben wird und nur wenige direkte Kontakte mit den dérives sectaires vonseiten der Bevölkerung berichtet werden (also eine direkte Problemwahrnehumung ausgeschlossen werden kann), muss die Medienberichterstattung, gespeist durch die Informationen MIVILUDES‫ ތ‬aber auch durch Medienereignisse wie dem Fall Scientologies im Jahr 2009, als Vermittler zwischen allen Instanzen angenommen werden.571 Zumindest kamen tragische Vorfälle oder Verurteilungen in Bezug auf apokalyptische Gruppen nach dem Jahr 2004 kaum vor, während sich Klagen wegen Vergehen wie Betrug und illegalem Ausüben pharmazeutischer und medizinischer Tätigkeiten mehrten und häufiger thematisiert wurden. Währenddessen wurden „Apokalyptische Gruppen“ (inklusive des „New Age“) von MIVILUDES und George Fenech keineswegs ignoriert. Der MIVILUDES-Bericht des Jahres 2010572 beschäftigt sich eingehend mit dem mittlerweile bekannten Dorf Bugarach in Südfrankreich. In dessen Nähe befindet sich ein Bergplateau, welchem in esoterischen Kreisen eine besondere Rolle im Rahmen der zum 21.12.2012 erwarteten Apokalypse zugeschrieben wurde. Fenech und MIVILUDES erlitten mit ihrer Einschätzung der Situation als „massive“ Gefahr eine nennenswerte Blamage, denn das Datum verstrich in Bugarach ohne Tragödien, in Abwesenheit von Endzeit-Gläubigen, zumal das Gelände (kostenintensiv) weiträumig abgesperrt worden war. Zur vermeintlichen Apokalypse anwesend waren lediglich die Polizei, Fenech und eine große Anzahl Journalisten.573 Bereits im Vorfeld berichteten die Medien über die Verurteilungen Catherine Picards und George Fenechs, denen vorangehend AMORC sowie eine weitere kleine Gruppe um einen Abbé gegen die Bezeichnung als „Sekte“ geklagt hatten. Das Ansehen der „Sekten“-Gegner, vor allem aber Fenechs, war durchaus beschädigt und letzterer wurde zum Jahr 2013 durch Serge Blisko als Präsident von MIVILUDES ersetzt. Catherine Picard ihrerseits geriet, aufgrund ihres als zu radikal empfundenen Standpunkts, in die Kritik von Teilen UNDAFIs deren Präsidentin sie seit

571 In dem in Kapitel 4 besprochenen Vortrag Catherine Picards gibt diese sogar explizit an, dass die Aufmerksamkeit der Bevölkerung sehr nachlasse, wenn nicht gerade eine Tragödie geschehen sei Picard, Sectes, 2010, S. 2-3). 572 Rapport au Premier Ministre. La documentation française, S. 17-126. 573 Siehe URL: http://www.liberation.fr/societe/2012/12/06/bugarach-la-rumeur-la-beti se-et-les-fai-VDQVzuletzt eingesehen am 10.03.2013.

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2006 ist. Von einer Einheit des „Anti-Sekten“ Milieus zu diesem Zeitpunkt kann also mitnichten gesprochen werden.574 Eine Krise in den Reihen der „Sekten“-Gegner in Ermangelung von Verurteilungen im Zeichen der sujétion psychologique deutete sich zwischen den Jahren 2007-2012 an, mit dem neuen Fokus MIVILUDES‫ ތ‬auf therapeutische Praktiken kann es jedoch zukünftig zu neuen Verurteilungen kommen und diese die Meinung in der Bevölkerung beeinflussen. Da im Jahr 2004 die Liste des GGR für ungültig erklärt wurde,575 fordert MIVILUDES zusätzlich seit geraumer Zeit eine neue Liste gegen „Sekten“, deren offizielles Inkrafttreten unwahrscheinlich ist, jedoch erneut informell die schwierige Anwendbarkeit der Definition von „Sekte“ zum Nachteil betroffener Gruppen und Praktiken ausgleichen könnte.576 Es bleibt abzuwarten, inwiefern die sujétion psychologique in zukünftigen Prozessen wieder eine Rolle spielen wird oder ob sich weiterhin Fälle von „Betrug“ häufen und UNADFI infolgedessen des Öfteren auf Zivilklagen verzichten muss.

Selbstorganisation der NRB und die Öffentlichkeit des Internets Als Reaktion auf den erhöhten rechtlichen und politischen Druck begannen sich in Frankreich einige NRB wie die Raëlianer und Scientology zu organisieren um sich gegenseitig zu unterstützen. Derzeit existieren zwei Dachorganisationen von NRB. Der CAP LC (Coordination des Associations & Particuliers pour la Liberté de Conscience), dessen selbst gesetzte Aufgabe vor allem in der Unterstützung der Betroffenen zum Beispiel durch die Vermittlung juristischer Unterstützung (bei eigenen Klagen sowie Anklagen gegen die hier Ratsuchende Person oder Gruppe) und dem Leisten moralischen Beistandes besteht.577 Darüber hinaus werden vor allem intellektuelle Ressourcen mobilisiert, Konferenzen organisiert, auf denen Probleme mit der Rechtslage besprochen werden können sowie überhaupt ein Fo-

574 Vgl. Kap. 4 575 Circulaire du 27 mai 2005 relative à la lutte contre les dérives sectaires, n°126 du 1 juin 2005, pp. 9751, n° 8. 576 Tensions autour d‫ތ‬un projet de nouvelle ‚liste noire‘, Le Parisien, 13.02.2009, URL: http://www.leparisien.fr/abo-faits-divers/tensions-autour-d-un-projet-de-novelle-liste-noire1302200409018.php?wHA=1ART&mvt=20373&wHA=1ART&mvt=20-37 4&wHA=1ART&mvt=]uletzt eingesehen am 10.03.2013. 577 Vgl. CAP LC Charta. URL: http://www.coordiap.com/reference00.htm]XOHW]Weinge sehen am 05.10.2012.

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rum zur Vernetzung unter den Gruppen geboten wird. Zusätzlich werden im Rahmen ihrer Internetpräsenz Primärquellen und Kommentare zu den Konflikten Frankreich angeboten und damit die Möglichkeit, sich selbst umfassend zu informieren, geschaffen. Weiter existiert seit dem Jahr 2004 das CICNS (Centre d’Information et de Conseil des Nouvelles Spiritualités), welches ebenfalls Beistand und Vermittlung an Experten sowie aufgearbeitete Informationen anbietet, jedoch deutlicher auch auf das Verbreiten ihrer Einschätzung der Situation in Kooperation mit verschiedenen Wissenschaftlern (u. a. Raphael Logier, Eileen Barker, Jean Baubérot, Susan Palmer578) nach außen Wert legt und deshalb regelmäßig seinen Newsletter an wichtige Regierungsbehörden, Medienzentren und andere öffentliche Stellen versendet. Eine Idee dahinter ist, die öffentlichen Diskurse auszubalancieren, da die Tageszeitungen und Massenmedien über einen langen Zeitraum hinweg – bis heute – die Stimmen der „Sekten“ sowie positive Meinungen fast völlig ausschlossen. Die Reichweite dieser Maßnahmen, die über das On-Demand-Medium „Internet“ wirksam werden (also hauptsächlich dann, wenn bereits ein Interesse am Thema besteht und eigeninitiativ recherchiert wird), ist begrenzt, bezieht jedoch Wissenschaftler als Schnittpunkte verschiedener Diskurse und als inhaltliche Gewährspersonen mit ein.579 Neben Versuchen, sich Gehör zu verschaffen, agieren beide Organisationen als NGO – das CICNS auf UN-Ebene mit beratender Funktion,580 der CAP LC als teilnehmende Organisation der EU-Plattform für Grundrechte581 – und haben sich damit politisch über Frankreich hinaus vernetzt. Die so angestoßenen Veränderungen beeinflussen die nationalen Debatten insofern die Informationshoheit von „Sekten“-Gegnern gegenüber NRB zumindest bei Interesse ausgeglichen werden kann, den Gruppen Plattformen zur Stellungnahme zur Verfügung stehen und Engagement und Präsenz demonstriert wird.582

578 Siehe URL: http://www.sectes-infos.net/Video.htm ]XOHW]W eingesehen am 05.10. 2012. 579 Vgl. ebd. 580 Webseite, URL: http://www.sectes-infos.net/Index.htm]XOHW]WHLQJHVHKHQDP10.02. 2013. 581 Webseite, URL: http://www.freedomofconscience.eu/2012/03/state-religions-shouldnever-be-used-for-national-identity-SROLWLFV]XOHW]WHLQJHVHKHQDP.02.2013. 582 Für eine ausführlichere Analyse der Nutzung so genannter „neuer“ oder digitaler Me dien von NRB in Frankreich siehe Königstedt, Digital Media, 2013.

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Der ECoHR Starke Kritik an der französischen „Sektenpolitik“ wurde von außerhalb Frankreichs geübt, welcher spätestens seit 2011 durch Verurteilungen durch den European Court of Human Rights (ECoHR) wiederholt Nachdruck verliehen wurde. Frankreich stellt in Europa einen Einzelfall dar, dessen Umgang mit „Religion“ und Religionsfreiheit kritisch beobachtet wird, noch mehr, seit der „Kopftuch-Entscheidung“, die seit 2004 das Tragen religiöser Symbole in der französischen Öffentlichkeit verbietet und damit die größte muslimische Minderheit in Europa betrifft. Frankreich hat in Bezug auf seinen Umgang mit „Religion“ ein schwieriges Standing auf internationaler Ebene,583 von dem dort als „Sekten“ verhandelte Gruppen profitieren. Der ECoHR selbst changiert derzeit zwischen einem liberalsäkularen Standpunkt und dem „republikanischen“ Modell584 und es sind vor allem internationale Organisationen wie die UN und UNESCO die sich sehr deutlich für den Schutz religiöser Minderheiten aussprechen. Frankreich sei von ihnen wiederholt aufgefordert worden, ethnische und religiöse Minderheiten in seinen Territorien anzuerkennen.585 Die Interpretationen der Menschenrechte auf der Ebene europäischen Rechts legitimieren verstärkt sub- und transnationale kollektive Identitäten und betonen Gleichheit, Nicht-Diskriminierung und den Schutz von Minderheiten als Aufgabe der Staaten.586 „Religion“ wird hier primordial (ethnisch)587 oder traditionell legitimiert und als Bezugspunkt kollektiver Identität verstanden, weshalb religiöse Gemeinschaften als schützenswert einzustufen seien.588 Obwohl nicht alle religiösen Minderheiten über die Mittel verfügen, sich über den

583 Siehe dort: Es sind in erster Linie die USA und andere westeuropäische Länder, die Frankreich in Bezug auf seinen Umgang mit den NRB kritisieren. 584 Matthias Koenig: Governance of religious diversity at the European Court of Human Rights, forthcoming in: Jane Bolden/Will Kymlicka (Hg.): International Approaches to the Governance of Ethnic Diversity, 2013, S. 32. 585 Matthias Koenig: Institutional Change in the World Polity: International Human Rights and the Construction of Collective Identities, International Sociology 2008, 23, Fn 12. 586 Ebd. S. 106-107. 587 „Primordiale Codierung kollektiver Identität“: siehe weiter: Shmuel Eisenstadt/Ber hart Giessen: The construction of collective identity, in: European Journal of Socio ogy. Vol. 36, Issue 01. May 1995, S. 72-102. 588 Koenig, Institutional Change, 2008, S. 106. Siehe für einen ausführlichen Bericht über die Debatten auf europäischer und internationaler Ebene den gesamten Aufsatz, S. 95-114.

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ECoHR Recht zu verschaffen,589 gewannen 2011 die Zeugen Jehovas590 und 2013, drei weitere Gruppen, darunter eine Splittergruppe von Mandarom,591 ihre Prozesse über zu hohe Steuerforderungen gegen Frankreich und erhielten entsprechende Rückzahlungen. Die französische Presse berichtete über der AKB auch in Frankreich als diskriminierend infrage gestellt werden (können).diese Urteile, durch welche die die französische „Sekten“- und Religionspolitik und die Agenden MIVILUDES‫ ތ‬und

Auswertung Eingangs wurde noch einmal die wichtige Rolle der medialen Berichterstattung zur Meinungsbildung in der Bevölkerung angesichts des seltenen Kontaktes zum religiösen Feld und des anscheinend relativ geringen Bekanntheitsgrades MIVILUDES‫ ތ‬unterstrichen. Es wurde geschlussfolgert, dass die Krise der „Sekten“Gegner jenseits der schwierigen Anwendbarkeit des APG und dem Wandel des religiösen Feldes sehr wahrscheinlich zum Teil durch einem Wandel der öffentlich debattierten Themen und der Berichterstattung zu verstehen ist. Seit der Verlagerung der Sanktionspflicht auf den Staat, dem 11. September 2001 und der damit verbundenen Konjunktur des Themas „Islam“, ist zudem von einem schwachen

589 Vgl. Koenig, Governance, 2013, S. 32. 590 Témoins de Jéhovah: Paris condamné, in: Le Figaro (online), 30.06.2011, URL: http://www.lefiga-ro.fr/flash-actu/2011/06/30/97001-20110630FILWWW00522-te moins-de-jehovah-paris-FRQGDPQHSKSzuletzt eingesehen am 05.03.2013. 591 Condamnation de la France par trois sectes: Quoiqu‫ތ‬elles fassent, la cour européenne donne raison aux sectes, LҲExpress, 31.01.2013, URL: http://www.leexpress.fr/actu alite/societe/condamnation-de-la-france-par-trois-sectes-quoiqu-elles-fassent-la-cou r-europeenne-donne-raison-aux-VHFWHVBKWPO zuletzt eingesehen am 05.03. 2013. Die Strafe, die Frankreich an die vier Gruppen Zahlen soll beträgt 4.000.000 Euro, UNADFI will den Premierminister um Einspruch gegen das Urteil bitten (siehe: Le premier ministre saisi par des associations de victimes de sectes, LaCroix, 23/4/13, URL: http://www.la-croix.com/Actualite/France/Le-premier-ministre-saisi-par-des-a ssociations-de-victimes-de-sectes-201304-23951879, zuletzt eingesehen am 24.04. 2013.). Urteile: CEDH 36 (2013) 31.01.2013: Arrêts de chambre concernant la France: Association Cultuelle Du Temple Pyramide c. France (requête no 50471/07); Association Des Chevaliers Du Lotus D‫ތ‬Or c. France (no 50615/07), Église Évan gélique Missionnaire et Salaûn c. France (no 25502/07).

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Interesse vonseiten der Bevölkerung an „Sekten“ auszugehen. Nach dem oben geschilderten Fall Neo-Phare gab es zudem kaum weitere Medienereignisse in Bezug auf charismatische und apokalyptische Gruppen und immer häufiger wurde diese Lücke mit Verurteilungen von „Sekten“-Gegnern gefüllt, während sich Fenech mit übertriebenen Aktionismus in Bugarach bloßstellte und der ECoHR wiederholt Klagen gegen die französische Regierung vonseiten betroffener NRB entsprach. Über diese Fälle wird die in internationalen Diskursen vertretene Agenda der Nicht-Diskriminierung und des staatlichen Schutzes von Minoritäten auch in der französischen Öffentlichkeit wahrgenommen. Ohne die kausale Wirkung aller hier, vor allem in den letzten Unterkapiteln, skizzierten Faktoren, die die Sektendebatten Frankreichs nach dem Jahr 2001 beeinflussten, im Detail belegen zu können, ist davon auszugehen, dass eher ihr Zusammenspiel als ein einziges Element die Konflikte zu Gunsten der NRB beeinflusste. Festgestellt wurde eine leichte Verlagerung der Kräfte zugunsten betroffener NRB auch durch die punktuelle Unterstützung auf europäischer Ebene (für die Gruppen, die sich dies leisten können) sowie eine Änderung der Agenda MIVILUDES. Die „Sekten“ der späten 1970er Jahre scheinen ihre Bedrohlichkeit verloren zu haben, gelten der europäischen Öffentlichkeit als religiöse Gemeinschaften und damit als schützenwert und profitieren gleichzeitig von der medial demokratisierenden Wirkung des Internets. In Frankreich wird von den „Sekten“- Gegnern derzeit der traditionelle ampf gegen die Charlantanerie (alternative Heilpraktiken) anstatt gegen charismatische „Sekten“ mit einem Fokus auf betrügerische Aktivitäten gegenüber Individuen und weniger in Bezug auf die mentale Manipulation weitergeführt. Dies deutet auch darauf hin, dass die „Sektendebatten“ vor dem Hintergrund zunehmender gesellschaftlicher Individualisierung (sichtbar vor allem im sich schnell der Nachfrage anpassenden alternativ religiösen Feld) und transnationaler Orientierung auf politischer Ebene, innerhalb eines Zeitgeistes, der auf globaler und europäischer Ebene wenig Verständnis für empfundene nationale Bedrohungen durch „subversive“ religiöse Gruppen zu haben scheint, neu kontextualisiert werden.

II. Die Hintergründe der französischen „Sektenkonflikte“ Tiefenanalyse

7. Les Sectes und ihre Bedeutungen Untersuchungsaufbau

In Kapitel 6 wurde gezeigt, dass die öffentliche Meinung zu der von „Sekten“ ausgehenden Gefahr zwischen Indifferenz und einer Einschätzung der Gefahr auf einer Linie mit MIVILUDES tendiert. Die kann wegen der angeblich geringen Bekanntheit MIVILUDES, vor allem aber aufgrund der wenigen direkten Erfahrungen im engeren Umfeld der Befragten mit „Sekten“ als ein Effekt der medialen Vermitteltheit relevanter Information erklärt werden. Die Mängel in der neuen Gesetzgebung – unklare Definitionen, große Interpretationsspielräume und die passive Teilhabe von Richtern und Geschworenen an den öffentlichen Debatten592 – mangelnde negative Medienereignisse, eine Zunahme der Anti-Diskriminierungsdiskurse (unterstrichen durch Urteile des ECoHR) auf europäischer Ebene, aber auch die kontinuierliche juristische Gegenwehr der NRB erschließen den staatlichen Kurswechsel, die relativ geringe Anzahl von Verurteilungen von so genannten „Sekten“ und vermehrte Verurteilungen der „Sektengegner“ zwischen 2004 und 2011. Erneut ins Zentrum gestellt werden nun die in den Kapiteln vier bis sechs herausgearbeiteten Themen, die mit les sectes verbunden wurden. Die halb-offene Inhaltsanalyse der Bedeutung des Sektenbegriffs, seiner Derivate und mit diesen verbundenen Themen den parlamentarischen Debatten resultierte mindestens in den folgenden, hier relevanten Funden: Über den GGR wird, erstens, das allgemeine Verständnis dessen, was eine „Sekte“ ist, bis in das APG hinein transportiert. Zweitens wirken nicht nur die im GGR genannten Kriterien, sondern vor allem die auf deren Basis aufgestellte „schwarze“ Liste bestimmter Gruppen implizit über die unscharfe Bestimmung des Straftatbestandes im APG weiter. Drit-

592 Koenig, Arenen, 2010, S. 153-156.

198 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « tens werden die parlamentarischen Debatten zunehmend säkularer und damit tendenziell religionsfeindlich, während viertens der Sektenbegriff stark erweitert und vor allem mit sozialen und gesellschaftlichen Themen verbunden wird. Dabei changiert dieser hauptsächlich zwischen Gefahren für das Individuum, ökonomisch parasitärem Verhalten und politisch subversiven Absichten. Darüber hinaus wird fünftens die Verwendung des Sektenbegriffs als polemische Bezeichnung oder Kampfbegriff der den jeweiligen Gegner de-legitimieren soll weiter entgrenzt und das gesamte Thema sechstens im Parlament zu einem Thema gesellschaftlicher rund individueller Erosion stilisiert, bevor es, siebentens, im Gesetz wieder weitestgehend auf die Gefahr für das Individuum reduziert wird. Die Agenda gegen „Sekten“ wird, achtens, im Zuge dieser Debatten mit tatsächlich entstehenden Schäden aber auch sehr oft mit abstrakten Wertbezügen („Ideologien“) legitimiert, welche auf bestimmte Akteure verweisen. Über die können weitere Bedeutungsebenen der „Sektenkonflikte“ rekonstruiert werden, was die Basis der vertiefenden Analyse im hier beginnenden zweiten Hauptteil darstellt. Es wurde weiter gezeigt,593 dass trotz der Breite der Begriffsverwendung in der Praxis hauptsächlich „Neue Religiöse Bewegungen“ gemeint sind. Diesen „Sekten“ wird eine fundamentale Gefährlichkeit für Individuen und Gesellschaft vorgeworfen, die außerhalb Frankreichs gegenwärtig kaum intuitiv verständlich und in fast jeder Hinsicht erklärungsbedürftig ist. Durch die Inkongruenz der Definition von „Sekten“ und den realiter anvisierten NRB, wurde die der Arbeit zugrunde liegende Annahme, dass es sich in weiten Teilen (wenn auch nicht ausschließlich) um Zuschreibungs- und Klassifikationsprozesse sowie einer aktiven Konstruktion von NRB als „Sekten“ handelt endgültig bestätigt. Im Zuge der aktiven Konstruktion von „Sekten“ werden der Begriff und seine sprachlichen Derivate mit verschiedenen Werten und Normen kontrastiert oder diesen diametral gegenübergestellt. Dies geht, wie oben erläutert, initial von einer politischen Teilgruppe – und eben nicht vom Staat als monolithische Instanz aus –, welche die Gefährlichkeit von „Sekten“ begründet, das Vorgehen gegen sie legitimiert und gleichzeitig die eigenen Werte positiv betont. Diese beiden Elemente der Argumentationen – Akteure und Themen – werden folgend zueinander in Verbindung gesetzt und interpretiert. Aus dem Übertrag der vorherigen Kapitel ergeben sich auf anderer Ebene folgende inhaltliche Dachthemen, die als erste Skizze der Bedeutung stiftenden Hintergrundfolien der Argumentationen und Legitimationen realer Akteure zu verstehen sind. Vor diesem Hintergrund können die meisten Funde aus dem Material spezifiert, diskutiert und erklärt werden. 593 Vgl. Abb. 4.

L ES S ECTES UND

IHRE

B EDEUTUNGEN

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(1) Der kulturelle und soziale Wandel in Frankreich seit den 1960er Jahren, der die Entstehung von NRB begleitete. (2) Verweise auf republikanisches Denken und die Konsolidierung der französi schen nationalen Identität, (3) säkularistische Argumentationen, die von bestimmten Akteuren verwendet werden, um les sectes abstrakterer Ebene konzeptualisieren.

F RAMES

UND

B EDEUTUNGEN

Zur Konzeptualisierung der hier erforderlichen Perspektive bedarf es mindestens zweier analytischer Werkzeuge, zum einen ein Schema, um die verschiedenen angesprochenen Themen, welche zunächst wenig konsistent erscheinen und auf verschiedenen Ebenen der Abstraktion liegen, sinnvoll zu ordnen oder zumindest zu gruppieren. Dieses muss zum anderen in die Theorie eingebunden werden, um die Funde weiterreichend erklären zu können.

A: Theorie [Zusammenfassung aus Kapitel 3]: Wie oben gezeigt, steht Duverts „Amerikanisierung des französischen Rechtssystems“ in Bezug auf „Sekten“ in Frankreich analog zu den von Haferkamp und Bentley beschriebenen Normsetzungs- und Kriminalisierungsprozessen in der „Mehrgruppengesellschaft“. Verschiedene kollektive Akteure verfolgen hier ihre politischen Ziele und konkurrieren miteinander um Ressourcen und um die Deutungshoheit bestimmter Themen. Dies löst bisher gängige Konzeptualisierungen des französischen Staates und der französischen nationalen Gemeinschaft als zentralistisch und monolithisch ab.594 Das Wirken verschiedener politischer Akteure, inkonsistentes Argumentieren und das Vorhandensein mehrerer Öffentlichkeiten (u.a. zivilgesellschaftlich, parlamentarisch, international595) erfordern ein Herangehen, das für unterschiedliche Legitimationsstrategien in unterschiedlichen Kontexten und mit unterschiedlichen Adressaten sensibel ist, weshalb hier auf eine modifizierte Variante einer FrameAnalyse zurückgegriffen wurde. Mit dem hier gewählten Ansatz werden Frames einmal kognitiv als mentale Repräsentationen der Realität der/des Sprechers (also

594 Vgl. Lamnek, Neue Theorien, 1997, S. 80 ff. 595 Macnamara, Emergent media, 2008.

200 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « als Ausdruck dessen, was diese selbst für relevant hält) und einmal als kommunikative Bindeglieder zwischen verschiedenen Akteuren aufgefasst, mit denen der/die Sprecher – bewusst oder unbewusst – versuchen, an beim Publikum vorhandene Vorstellungen und Meinungen anzuschließen.596 In Bezug auf einen geteilten Bedeutungshorizont wird zwar mit Michèle Lamont von einem grundsätzlich existenten Vorrat an geteiltem kulturellen Wissen und Werten ausgegangen (die in sprachlichen Beiträgen kommuniziert werden), nicht aber davon, dass alle Diskursteilnehmer sich in ihren Argumentationen notwendig auf dieselben Aspekte innerhalb desselben beziehen. Dies gilt gerade für die politische Ebene, wenn es explizit darum geht, ein Anliegen durchzusetzen. Stattdessen wird analog zur „Mehrgruppengesellschaft“ auf ein Konzept „fragmentierter Kultur“ zurückgegriffen, welches, mit Seiwert definiert als „kognitivnormative Orientierungen“, weder als homogen noch in sich völlig konsistent aufgefasst wird. Stattdessen wird von einem „Pool“ von Bedeutungen ausgegangen, aus dem Akteure verschiedene Legitimationen schöpfen können, was wiederum auch eine passive Dimension hat: Nicht alle „Empfänger“ sind für alle Legitimationsstrategien gleich empfänglich, sondern am wahrscheinlichsten für die, die an ihren jeweils eigenen Bedeutungshorizont anschlussfähig sind. In diesem Zusammenhang wird „Kultur“ analytisch als aus separaten Phänomenen, welche über Akteure und Akteurgruppen miteinander verbunden sind, bestehend verstanden. Im Material zeigen sich Verweise darauf als Werte oder Themen, welche bis hierher problemlos jenseits von Fragen nach ihrer Konsistenz nebeneinander behandelt werden konnten. An diesem Punkt der Analyse musste nun ermittelt werden, in welchem Verhältnis zueinander die Argumente verstanden werden müssen und welche potenziell kulturelle Bedeutung die Themen haben, in die les sectes eingeEHWWHWZXUGHQNurz: in welche größeren Sinnzusammenhänge und gegebenenfalls komplexen Weltbilder sie integriert sind oder auf welche anderen Themen in diesem Zusammenhang implizit verwiesen wird. Auch mit Verweisen auf abstrakte Werte und größere Sinnzusammenhänge, vor allem aber durch die ständige Wiederholung konkreter Bedrohungen, wurden auch gezielt negative Emotionen (Angst vor Gefahr) geschürt. Dem ging vor allem die extrem negative mediale Berichterstattung voraus, die als solche hier außen vor bleibt, jedoch den von Baubérot beschriebenen Boden „diffuser Angst“ vorbereitete auf dem und von dem ausgehend die rhetorische Verhandlung der Bedrohung erst eine breite Anschlussfähigkeit erreichen konnte. Erneut ist hierbei analytisch nicht exakt zu trennen, inwiefern es sich im Einzelfall um mentale Repräsentationen oder kommunikative Frames handelt, die kommuniziert werden. Jedoch handelt es sich in beiden Fällen 596 Druckman/Chong, A Theory of Framing and Opinion Formation, 2007, S. 100- vgl. Kapitel 3.

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um Ausdruck und Evokation von für die Rezipienten relevanter Norm-, Wert- oder Sinnbezüge, die letztendlich einen zumindest vordergründigen parlamentarischen Konsens bezüglich des Erlass des APG herbeiführten.

B: Diffuse Argumentationen und die Verstehende Soziologie Die in den Argumentationen enthalten sind einerseits Sachbezüge in Form der wenigen, aber nachweisbaren Vorfälle mit „Sekten“ sowie andererseits solche, die auf Gerüchten basieren oder unzulässige Generalisierungen darstellten. Beide werden ohne Unterschied von den „Sekten“-Gegnern als handlungslegitimierend gegen alle „Sekten“ angeführt. Die seit den 1970er Jahren in Frankreich für NRB verwendete Kategorie wird also in Bezug auf Gefahren für Individuen und Gesellschaft wie ein Faktum behandelt und resultiert in entsprechenden Konsequenzen für die entsprechenden Religions-gemeinschaften. Die vorausgesetzte Annahme der Existenz von gefährlichen „Sekten“ ist gleichzeitig in hoch-moralisch verhandelte Kontexte eingebettet und die Agenda wird immer wieder zwischen verschiedenen Akteuren variierend über zentrale, universalistische Werte legitimiert. Argumentiert wird gegen „Sekten“ als Gefährdung auf verschiedenen Ebenen der Abstraktion, so dass es möglich sein muss, die Argumente, die sich alle auf dieselbe Quelle der Gefahr beziehen, in Bezug auf ihre Reichweiche u. a. zu hierarchisch zu ordnen. Dies wurde hier, basierend auf einer phänomenologischen Lesart Max Webers597 und den Arbeiten Thomas Luckmanns und Peter L. Bergers, unternommen, die sich bereits in einer anderen Studie zur Bestimmung diffuser und extrem variabler Weltsichten bewährt hat. Im Rahmen einer Untersuchung des „New-Age“ Komplex598 konnten die berichteten individuellen Glaubens- und Praxissysteme und die Ebene ihrer Relevanz idealtypisch in zweckrational-innerweltlich, ideologisch (auf die Vision von Gemeinschaft bezogen) und an abstrakten Prinzipien

597 Eine phänomenologische Lesung geht generell von einer Konstruiertheit aller, auch rationalistischer Weltbilder und nicht von „Rationalität“ als Absolutum aus (vgl. Ko enig, Institutional Change, 6IViehe für eine Anwendung auf gegenwär tige, individualisierte Religiosität: Königstedt, Individualisierte Religiosität,  dies, Strategies, 2012). 598 Königstedt, Individualisierte Religiosität,  %HJULII +XEHUW .QREODXFK „Eso terik/New Age“, in: Auffarth, Christoph et al. (Hg.): Metzler Lexikon der Religionen. Band 1. Stuttgart, Weimar: Verlag J. B. Metzler, 1999, S. 293-300.

202 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « und transzendenten Vorstellungen orientierte Argumentationen unterteilt und werden. Die Interviews waren so angelegt, dass die Probanden der Interviewerin sowohl die Wahl der Glaubensvorstellungen und Praktiken, als auch ihre Einstellungen zu gesellschaftlichen und politischen Themen erklären sollten. Die Probanden legitimierten im Gespräch verschiedene Glaubensvorstellungen und Praktiken nach ihrem eigenen Verständnis und versuchten, sie im Gespräch für den Interviewer nachvollziehbar zu machen, was Rationalisierungen mit unterschiedlichen (unter anderem „letzten“) Referenzgrößen gleichkam. Beispiele: „Ich übe diese Praxis aus, weil sie effektiv ist und mir bei einer Problemlösung hilft“ (zweckrational). „Ich übe diese Praxis aus, weil ich so ein besserer Mensch werde und damit mithelfe, die Welt zu verbessern“ VR]LDOVR]LDO-ideologisch). „Ich übe diese Praxis aus, weil sie durch die eine göttliche, immer gültige Gesetzmäßigkeit ausgedrückt wird“ (Letztere als Eigenwert – universalistisch). Diese Veranschaulichungen sind sehr vereinfacht, jedoch konnten alle Äußerungen und Legitimationen von Handlungen und Überzeugungen in den Interviews zusammen genommen nach Transzendenz- und Themenbezügen sortiert, zu einander in Relation gesetzt, aber auch Leerstellen (Kontingenzen), wie sie z. B. in „postmodernen“ Weltansichten häufig vorkommen, präzise bestimmt werden. Die für Außenstehende oft diffus bis beliebig scheinenden Glaubenslandschaften konnten auf diese Weise so weit geordnet werden, dass die diese Fälle individualisierter Konstruktionen von Wirklichkeit im Feld gegenwärtiger Spiritualität in großen Teilen nachvollzogen werden konnten.599 Die Anordnung in und Kontrastierung mit einem klassischen Modell sinnhafter Konstruktion von Wirklichkeit konnte die von den Probanden mit ihren Vorstellungen verbundenen Bedeutungen im Sinne einer verstehenden Soziologie deutlich tiefer erschließen als andere Herangehensweisen, da das Modell als Brücke zwischen Involvierten und Außenstehenden fungierte. Dieses Vorgehen kann und wird hier auf „Kultur“ (im weitesten Sinne), übertragen, muss jedoch modifiziert werden. Die Möglichkeit nachzufragen, wie bei den in der früheren Untersuchung analysierten Sprechakten, besteht nicht. Stattdessen werden die in Kapitel 5 enthaltenen Verweise auf weiterreichende Bedeutungen anhand der in Kapitel 2, 4, 6 gewonnenen Kontextinformationen, der Situation, in der ein Verweis, von wem, eingebracht wird und zusätzlicher Sekundärliteratur erklärt. Im Material handelte es sich überwiegend um die verschiedenen oben dargestellten Themen, welche bezogen auf die „sektiererische Gefahr“ besprochen wurden, wobei Werte und Idealvorstellungen zum Beispiel oft explizit gegen les sectes abgegrenzt wurden und so direkt und indirekt identifizierbar werden. Prak-

599 Vgl. ebd.

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tisch wurden zunächst alle Arten von bereits herausgestellten Verweisen tabellarisch erfasst sowie das Material erneut in einem halb-offenen Analyseverfahren auf eventuell übersehene Verweise geprüft. Alle wurden den nun bekannten relevanten Themenfeldern zugeordnet und dort, wo dies gegebenenfalls noch nicht möglich war, weitere Recherchen unternommen und Themenfelder ergänzt.600 Tabelle 4: Schema der Funde von mit „Sekten“ verbundenen Themen auf der Objektebene Thema

Quelle Rede Picard GGR+ GBR Propositons de loi Parlamentarische Debatten APG

Opfer

Demokratie

Manipulation mentale

Menschenrechte

Nation/ Republikanismus

x x

x x

x x

x x

x,x v, (la France, etc.) x

x

x

x

x

x

x

x

x

(sujétion psychologique)

x

x

AufNOlUXQJ Fortschrittsdenken x

[…]

[…] […] […]

X, v (obscurantisme)

[…] […]

[ YRUKDQGHQY ,QGLNDWRU  LQGLUHNWH9HUZHLVH

S CHEMA Das Modell (Abb. 5) ist idealtypisch zu verstehen (in der Praxis sind die einzelnen Ebenen variabel miteinander verbunden) und dient dazu, einzelne Argumentationsketten zu veranschaulichen und die Funde aus dem Material zu strukturieren. Darüber hinaus können Argumentationen, die auf verschiedenen Abstraktionsebenen verhandelt werden (z. B. im Rahmen der „Entgrenzung“ der Bedeutung des Themas „Sekten“, von der mutmaßlichen Schädigung einzelner Personen bis hin zu Bezügen auf die Menschenrechte) über das Modell zueinander ins Verhältnis gesetzt und in Bezug zueinander verstanden und erklärt werden.

600 Tabelle 4.

204 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « Abb. 5: Schema möglicher Legitimationsbezüge von Handlungen und Agenden

Religiöse oder philosophische Weltbilder abstrakte Prinzipien Normativ

kognitiv

(„kulturell“) Sinn, Werte, Normen, strukturelle Kategorien

Recht

zunehmender Abstraktionsgrad

Politker

sozial-politisch (Form und/oder Beschaffenheit von Gesellschaft zunehmende Wertorientierung

AKB sozial (Individuen und Familien betreffend)

CNOP, Psychotherapeuten ggf. Mediziner

zunehmende Komplexität sachbezogene Eigeninteressen

Mittels der Leitfragen „Auf welche komplexeren Zusammenhänge oder Weltbilder wird in den Argumentationen möglicherweise verwiesen?“ und „Welche Interessen verfolgen bestimmte Akteure möglicherweise?“ wurden alle tabellarisch erfassten Funde unter Hinzuziehung weiteren Kontextmaterials interpretiert und die entlang dieses Schemas geordnet. Mehrere Aspekte hatten auf mehreren oder allen Ebenen Relevanz, und werden deshalb in verschiedenen Zusammenhängen erwähnt. Auf Objektebene wird das Thema „Sekten“ zum Beispiel gleichzeitig

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negativ mit anderen Themen verbunden, in den, auf abstrakten normativen Prinzipen beruhenden, rechtlichen Rahmen eingepasst, oder auch mit positiv belegten Themen kontrastiert, die erst in diesem erweiterten Kontext als „Werte“ verstanden werden können. Durch das Herausstellen der verschiedenen Aspekte und ihrer Sub- und übergeordneten Konzepte sowie der dahinterstehende Weltansichten, in der sie gedanklich miteinander verbunden werden, konnte die tieferliegende Legitimationslogik in großen Teilen rekonstruiert werden. Durch dieses Vorgehen konnten die Funde methodisch kontrolliert interpretiert und die relevanten Bezüge weitgehend erfasst werden. Über die Konkretisierung der Bedeutungen und zusätzliches Material folgend zusätzlich die relevanten Akteure genauer identifiziert charakterisiert. In Verbindung mit dem Framing-Ansatz und den Konzepten „fragmentierte Kultur“ und „Mehrgruppengesellschaft“ können die Aushandlungsprozesse auf Akteure bezogen und gleichzeitig zusammen mit den Inhalten der Debatten zur Erklärung der französischen Sektenkonflikte herangezogen werden. Dies stellt einen entscheidenden Vorteil gegenüber einer ausschließlichen Fokussierung auf anonyme Diskurse dar, welche zwar Prozesse wie die Etablierung von Diskursmacht hervorragend abbilden können, jedoch in Bezug auf die gesamte Situation und ihrer Entstehung nur ein begrenztes Erklärungspotential besitzen. In dem nun folgenden Kapitel werden nicht mehr die einzelnen Interpretationsschritte, sondern nur noch die Ergebnisse des Analyseprozesses der Bedeutung der wichtigsten Themen dargestellt, bevor in Kapitel 9 die Gesamtauswertung vorgenommen und die Vorgehensweise in dieser Studie vor dem Hintergrund der Ergebnisse evaluiert wird.

8. Darstellung der Einzelergebnisse

S ACHBEZOGENE E IGENINTERESSEN

VON

AKTEUREN

Abb. 6: Übersicht: Interessengeleitete Akteure und für diese jeweils relevante Themen

Anti-Kult Bewegungen (UNADFI, CCMM, u.a)

MIVILUDES das „Anti-Sekten-Aggregat“ (Picard, Fenech, Blisko et. al.)

– Schädigung von Personen und der Familie – Demokratie-feindlich (bes.von CCMM) – manipulation mentale – kriminelle Absichten

alle Themen gegenwärtiger Schwerpunkt: alternative Medizin

Mediziner Pharmazeuten (CNOP, Scientology-Urteil 2012, s.o.) Psychotherapeuten (Propositions de loi 1998-2000)

Frz.Republik/Nation Laizität Moral Infiltrierung Manipulation

Gefahr Menschenrechte

illegales Ausüben pharmazeutischer Berufe illegales Tragen des Titels und Ausüben der Praxis

Die obige Übersicht (Abb. 6) stellt einen groben Gesamtüberblick über Akteure und deren spezielle Agenden sowie Beispiele für Themen, die auf mögliche Eigeninteressen verweisen, dar. Sprecher der Kirche sind nicht mitaufgeführt, weil diese zwar in der Anfangsphase zentrale Akteure gegen „Sekten“ waren, sich aber

208 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « zum Zeitpunkt des Erlass des Gesetzes und folgend stark zurück hielten.601 Miteinbezogen wurden stattdessen die durchgängig aktiven AKB, MIVILUDES, Politiker und die mit ihnen kooperierten, sowie diejenigen, die sich z. B. durch Propositons de loi an den Kriminalisierungsprozessen aktiv beteiligten. Hier im speziell behandelt werden die, die eine eigene Agenda zusätzlich zur offiziellen verfolgten und thematisch abweichen. Besonders nicht in erster Linie ideelle Ziele, wie „Selbsterhalt“, das Ausschalten von Konkurrenz, Vergeltung und Prävention von subjektiven Schädigungen, vergleichbar mit Webers „Zweckrationalität“ sind an dieser Stelle von Interesse. Da die gesamten Debatten argumentativ in Bezug auf die „Opferhilfe“ und die „Rettung der Gesellschaft“ geführt werden sowie im Prinzip jede Handlung auch einen impliziten Zweck verfolgen oder zumindest so interpretiert werden kann, kann die Kategorie „Zweckrationalität“ nur begrenzt genau erhoben werden und ist damit nur von begrenztem Nutzen, darf jedoch nicht völlig ignoriert werden. Zudem dürfen kommunizierte und tatsächliche „Motivation“ generell nicht als deckungsgleich verstanden werden und können für die Ist-Situation auf Basis des verwendeten Material nicht akkurat bestimmt werden. Die „blackbox“ des menschlichen Gehirns ist einerseits aus sozial- und religionswissenschaftlicher Perspektive wenig zugänglich, andererseits muss sich auch der Sprecher seines Antriebs nicht bewusst sein oder kann diesen verheimlichen oder lügen.602 Aufgrund der Vermitteltheit durch Sprache der zur Verfügung stehenden Informationen können „Motivationen“ dementsprechend nur als Näherungswert, zum Beispiel gemessen am historisch nachweisbaren Resultat oder als Wahrscheinlichkeit im Verhältnis zu den ersichtlichen Notwendigkeiten des Selbsterhaltes, den expliziten Äußerungen und gegebenenfalls deren Abwesenheit bestimmt werden. Im Themenspektrum der parlamentarischen Debatten wurden verschiedene konkrete Ziele und Zwecke, wie die illegale Ausübung pharmazeutischer Praktiken zu unterbinden, Jugendliche zu schützen, zum Teil explizit benannt, während das Verfolgen der Ziele selbst, meist wertrational legitimiert wurde. „Zweckrationale Motivationen“ können zunächst dort vermutet werden, wo andere Argumentations-weisen ausbleiben. Vermutlich – insofern ein allgemeines, ideologisiertes Bekämpfen der „sektiererischen Gefahr“ ist nicht erkennbar ist603 – war dies bei CNOP (Conseil National de lҲOrdre des Pharmaciens) und den Psychotherapeu-

601 9JO.DSLWHOYJODuvert, Anti-Cultism, 2004, S. 44-45. 602 Legitimation eines Handelns werden häufig auch erst im Nachhinein hinzugefügt (während die Handlung selbst unbewusst ablief), wie sich ebenfalls in der „New Age“Studie herausstellte (vgl. Königstedt, Strategies, 2012). 603 Vgl. Abb. 6.

D ARSTELLUNG

DER

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ten der Fall. Letztere fühlten sich ihren Zuständigkeitsbereich verantwortlich (sahen ihre Reputation gefährdet) und wollten ihre Berufsbezeichnung und ihre Therapiebezeichnungen angesichts einer Explosion alternativer Angebote in ihren Sektoren sichern. Dies setzten sie mit entsprechenden Gesetzesvorschläge auch durch.604 Hierbei spielte sicherlich auch das Ausschalten von Konkurrenz eine Rolle, allerdings wurden in den Anträgen les sectes nur sachlich in Verbindung mit einem starken Anwachsen psychotherapeutischer Praxen und Therapieformen und die Notwendigkeit, Standards zu sichern, erwähnt. Mediziner traten in den Jahren bis 2012 und 2013 nicht als Kollektiv, sondern in Form von Einzelpersonen in Erscheinung, wie Serge Blisko als neuer Präsident von MIVILUDES. Die Rolle der Mediziner ist nicht immer eindeutig: MIVILUDES sucht einerseits derzeit – aufgrund der ärztlichen Schweigepflicht mit begrenztem Erfolg – vor allem deren Kooperation über entsprechende Dachorganisationen, um systematisch Informationen über Auffälligkeiten wie nicht erfolgende Impfungen zu erhalten.605 Anderseits verweisen informelle Quellen ebenso auf aktives Engagement von Ärzten gegen „Sekten“ im Bereich Gesundheit, was jedoch nicht zitierfähig abgesichert werden konnte. Der ONM (Orde National des Medecins) erwähnte in einem zusammenfassenden Bericht aus dem Jahr 2007 jedenfalls nur sehr knapp „auffällige“ Aktivitäten von Psychotherapeuten.606 Die AKB bestanden anfangs (Mitte der 1970er Jahre) vor allem aus Privatpersonen, die persönlich Schaden erlitten hatten oder glaubten, erlitten zu haben und deshalb gegen „Sekten“ vorgehen wollten. Der Selbstzweck dieser Vereine war das Bekämpfen von „Sekten“, weil ihnen und anderen Personen persönliches Leid zugefügt wurde, so dass sie ebenso mit hier aufgeführt werden müssen. MIVILUDES und MILS einziger Zweck war und ist die zu weiten Teilen eigenverantwortliche Observation und Bekämpfung der „sektiererischen Gefahr“ im Auftrag der Regierung, woran auch monetäre Einkünfte gebunden sind. Es nicht nachweisbar – und auch nicht in erster Linie anzunehmen – dass es den Beteiligten ausschließlich um Posten und Entlohnung ging, da es sich bei dieser Einrichtung auch um eine ideologisch spezifischer geprägte Institution handelt. Diesbezüglich wird unten die Rolle der Parti Socialiste und der UMP genauer betrachtet, die sich politisch zum Thema „Sekten“ besonders hervorgetan hatten. Die Eigeninteressen von bestimmten individuellen und kollektiven Akteuren waren zu Beginn der Konflikte von zentraler Relevanz, insofern initialen Handlungsinitiativen von den AKB und Vertretern der katholischen Kirche ausgingen. 604 Siehe Kapitel 5. 605 Vgl. Orde National des Medecins: L‫ތ‬interview de mois: Nous invitons les médecins à nous signaler toute dérive sectaire, Newsletter des Médecins N°33, 10.11.2011. 606 Vgl. ebd.

210 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « Die Debatten entwickelten sich also ausgehend von begrenzten Milieus mit konkreten Interessen. Zu einem späteren Zeitpunkt stiegen Akteure wie die Psychotherapeuten quer in diese Debatten ein, da sie ihre eigene Ansprüche gefährdet sahen, verstärkten die Seite der „Sekten“-Gegner und lieferten neue Themen und Argumente gegen „Sekten“. Dadurch belebten sie sie die Debatten nicht zuletzt zusätzlich neu. Mit der zunehmenden Institutionalisierung der „Anti-SektenAgenda“ wurden außerdem Positionen geschaffen, die verschwinden würden, würde das Thema obsolet werden, was vielleicht eher als Nebenbemerkung festzuhalten ist. Mit den wichtigsten Akteuren hinter zweckorientierten Argumentationen, den AKB mit ihrem Fokus auf den Schutz von Individuen, wird der zweite Teil der Materialauswertung hier fortgesetzt.

„S EKTENOPFER “, VERLETZLICHE I NDIVIDUEN KULTURELLE T HEMEN IN F RANKREICH

UND NEUE

Tatsächliche Ereignisse Die frühe Entwicklung der „Sekten“-Debatten wurde bereits in der Einleitung und in Kapitel 4 ausführlich beschrieben, so dass an dieser Stelle nur Details ergänzt werden müssen. In den späten 1970er Jahren gründeten vor allem familiär Betroffene in Zusammenarbeit mit Kirchenvertretern zivile Organisationen gegen les sectes. Zu diesem Zeitpunkt und in den folgenden Jahren waren es tatsächlich Merkmale oder Praktiken einiger Neuer Religiöser Bewegungen, die als anstößig, abnormal und gefährlich607 wahrgenommen wurden. Die enge Gruppenbindung und abweichende religiöse Vorstellungen konnten die Kommunikation in Familien und zwischen Partnern stören und infolge ernsthafte Konflikte um vermeintliche Absonderungstendenzen oder Änderungen in der Lebensführung auslösen, wodurch sich einzelne Personen tatsächlich absonderten.608 „Sekten“ erschienen als Störer und Zerstörer des „familiären Friedens“ indem sie einzelne Mitglieder auf „falsche Pfade“ führten“ und entfremdeten. Vor allem UNADFI und die Medien verbreiteten dies, überhöht bis zur omnipräsenten Gefahr. Laut Esquerre hätten die von UNADFI herausgegebenen Leitfäden einen hysterisierenden Effekt

607 Vgl. Palmer, Heretics, 2011, zu den Raëlianern S. 83-110. 608 Siehe für eine sehr gute und anschauliche Illustration der Erfahrung eine Familien migliedes, welches sich einer Gruppe zugewandt hatte: Esquerre: La manipulation mentale, 2009, S. 104 ff.

D ARSTELLUNG

DER

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gehabt: sogar kleine Veränderungen in den Gewohnheiten oder z. B. Ernährungsumstellungen seien als Einfluss einer „Sekte“ interpretiert worden, obwohl irgendein neuer Einfluss der Grund hierfür hätte sein können.609. Bécourt berichtet von Fällen, in denen Personen angeblich entmündigt und psychologisch behandelt ZXUGHQ(OWHUQKlWWHQLKUHHUZDFKVHQHQ.LQGHUHQWIKUWXQGLKQHQ%HKDQGOXQJHQ aufgezwungen610 In jedem Fall ist glaubwürdig, dass es entsprechende Fälle gegeben hat und von den betroffenen Eltern und Partnern als sehr tragisch empfunden wurden. Ähnliche Berichte gab es vor allem in den USA. Doch könnte auch die Frage nachdem konkreten familiären Umgang mit auftretenden Konflikten gestellt werden, und ob Konflikte und Brüche durch einen liberaleren Umgang mit persönlichen Neuorientierungen gemildert oder verhindert werden können. Angesichts der geringen Anzahl an belegten Vorfällen ist die Darstellung von Familientragödien in den Medien als unverhältnismäßig einzuschätzen. Sie löste die panische Besorgnis in der Bevölkerung aus, die sich dann jedoch mit den Sonnentempler(Selbst-)Morden zu bestätigen schien und ihren Höhepunkt erreichte. Solche Vorfälle und weitreichende Gerüchte die vor diesem Hintergrund entstanden, ihre überhöhte mediale Repräsentation und die Generalisierung der Gefahr auf mehr oder weniger alle NRB, zogen sich thematisch durch die gesamten öffentlichen Debatten, durch das Parlament611 bis in das Straftatenspektrum des APG hinein. In diesem Zusammenhang wurden vor allem die „mentale Manipulation“ und der Schutz der „Opfer“ vor den „Gurus“ und vor sich selbst diskutiert. Aber auch andere Verhaltensweisen der NRB schürten das Misstrauen in der Bevölkerung, so die Praxis, Geld für religiöse Dienstleistungen zu nehmen, Versuche, sich im sozialen Sektor zu etablieren und eine generelle Zunahme ihrer wirtschaftlichen Aktivität. Doch auch über die Aspekte ging die öffentliche Thematisierung der potenziellen Gefahren weit hinaus.

609 Siehe ausführlich in Unterkapitel 9. 610 Bécourt, chasse, 2002, S. 4 f., so auch die Betreiber der Website des CICNS. 611 Siehe z. B: Martine David: „[...] Certes, nous le savons mais nous savons aussi que plusieurs dizaines de milliers dҲenfants, dҲadolescents ou dҲadultes sont tombés dans le piège et que dҲautres, peuvent à leur tour, être victimes. Aussi, la complexité de la tâche ne doit pas masquer son absolue nécessité. […] il faut alerter lҲopinion sur les risques que certaines sectes font courir à lҲindividu.Nous soutiendrons ainsi le travail remarquable, mais trop longtemps méconnu et solitaire accompli, par les associations et nous donnerons à chaque citoyen lҲinformation afin quҲil ait les moyens de pré server sa liberté.“ AN: Debats parlamentaires. 22.06.2000. S. 5733.

212 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « Manipulation mentale, Paternalismus und die Psychologisierung der französischen Massenkultur Auch der zentrale Vorwurf gegen „Sekten“ und ihre Leiter, die manipulation mentale, wurde hier bereits mehrfach angesprochen. Die psychische Schädigung der Mitglieder einer „Sekte“, durch die diese ihren freien Willen verlören und folgend gegen den eigenen Willen und das eigene Wohl handelten (einem Guru hörig folgten, sich von ihren Familien abwendeten, asketische Lebensumstände in Kauf nähmen, sich misshandeln und ausbeuten ließen und Selbiges bei ihren Kindern duldeten), war einer der Gründe, weshalb AKB als zivile Nebenkläger und Experten für „Sekten“ in Gerichtsverhandlungen zugelassen wurden. Sie konnten anstelle des „Opfers“ klagen, sollte sich dieses der ihm widerfahrenen Misshandlungen nicht bewusst sein oder nicht als solche deuten.612 Dieser Diskurs war von USamerikanischen Brainwashing-Debatten beeinflusst.613 Der französische Psychiater Jean-Marie Abgrall propagierte eine modifizierte Brainwashing-Theorie in

612 Vgl. Nicolas About (1998): Proposition de loi °79. Im APG wird die Täterschaft ohne die Notwendigkeit der Absicht festgelegt, während bei Straftaten generell die Staats anwaltschaft und nicht das Opfer die Klage führt. Den Nebenklägern wird zugestan den, als gemeinnützige, anerkannte „Experten“ zum Themen ebenfalls Klagen im sel ben Fall zu erheben, ohne dass das „Opfer“ dem zustimmen muss (vgl. Hincker, Rumeurs, 2003, S. 129-139). 613 Unter den Stichworten Brainwashing, „Gehirnwäsche“, „Indoktrination“[…] finden sich große Mengen an Literatur, die in jedem Fall kritisch zu rezipieren ist. Es war gängige Vorwurf gegen Neue Religiöse Bewegungen ab den1970er Jahren, wobei heute strittig ist, ob es so etwas wie „Gehirnwäsche“ überhaupt gibt (siehe weiterfüh rend z. B. Barker, Eileen 1985: The making of a Moonie: choice or brainwashing? Oxford: Blackwell). Der Begriff Brainwashing hat seinen Ursprung beim US-ameri kanischen Militär und wurde verwendet, um vermeintliche US-amerikanischer Solda ten zum Kommunismus in koreanischer oder chinesischer Kriegsgefangenschaft zu erklären. Einige interessante Hinweise hierzu und weitere Fallberichte aus der Zeit der größeren Aktualität des Diskurses bietet Klaus Thomas: Die künstlich gesteuerte Seele: Brainwashing, Haschisch und LSD, chemische und hypnotische Einflüsse auf das Gehirn... . Stuttgart: Enke 1970. Arnaud Esquerre schreibt über die manipulation mentale als eine französische Erfindung in den 1970er Jahren (Esquerre: La manipu lation mentale, 2009, S.53). Dieser Ansicht wird hier zum Teil widersprochen, auch wenn die Brainwashing Debatten in Frankreich u. a. durch Jean-Marie Abgrall sowie durch soziale und politische Konstruktionsprozesse eine deutlich eigene Note erhiel ten und eine soziale Akzeptanz erlangten, die in den USA ausblieb (ebd. S. 55). Den

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Frankreich und fungierte z. B. im Prozess von Neo-Phare und innerhalb MILS als einschlägiger Experte des „Anti-Sekten-Aggregats“. Durch den „Sekten“ zugeschriebenen Effekt, eine psychische Abhängigkeit zu erzeugen, bekam die Mitgliedschaft in einer solchen Gruppe zum Teil den Stellenwert einer Drogenabhängigkeit, wie Eric Doligé in seinen Ausführungen in der Besprechung vom 22. Juni 2000 aussprach und was mir zusätzlich in informellen Interviews bestätigt wurde. Die Verbindung von „Sekten“ mit der manipulation mentale entstand in den französischen Debatten der 1970er Jahre neu, auch wenn der Begriff secte bereits Jahrhunderte vorher verwendet wurde.614 Das Topos war insofern negativ anschlussfähig, als dass republikanische Konzeption von Gesellschaft nach der Partizipation aller verlangt. Die „Erfüllung der Bürgerpflichten“ steht hier in engen Zusammenhang mit der individuellen Fähigkeit zu rationalem Denken, da jedes einzelne Individuum als für den „Volkswillen“ konstitutiv gedacht ist. Hieraus resultiert konzeptionell die empfindliche Bedrohung des Individuums durch „psychische Beeinflussung“ sowie die Verantwortung des Staates,615 auch geistige Freiheit seiner Bürger (nicht zuletzt vor „Religion“, im Sinne der liberté de penser) zu schützen. Die oben beschriebene paternalistische Bevormundung der „Opfer“ von „Sekten“ erscheint aus dieser Perspektive fast als folgelogisch, zumindest plausibilisiert dies die breite der negativen Anschlussfähigkeit des Konzeptes. Bis heute hält Catherine Picard ihre Reden explizit im Namen der Aufklärung und der Republik616 und auch Martine David617 verwendet Kampfbegriffe der Aufklärung wie obscurantisme (Verdunkelung), wenn sie die Problematik um psychisch manipulative „Sekten“ beschreibt. Beide rekurrieren damit auf traditionelle säkularistische Ideen, die einst gegen die katholische Kirche und andere Formen von Religion angewendet wurden, wenn sie sich heute gegen so genannte „Sekten“

noch hat Introvigne (Les mouvements anti-sectes aux États-Unis et en France: parallèles et différences,  Webseite CESNUR, URL: http://www.Ces nur.org/testi/bordeaux.htm ]XOHW]W HLQJHVHKHQ am 02.04.2012) die Korrespondenz UNADFIs mit US-amerikanischen „Anti-Kult“Bewegungen nachgewiesen, so dass die These einer isolierten Neuerfindung des Themas in Frankreich – nicht jedoch die über einen signifikant an deren Verlauf der sozialen Konstruktion manipulation vs. lҲautonomie (vgl. Esquerre: La manipulation mentale, 2009, S. 57, 350 f., s. u.) – in Frankreich unhaltbar ist und stattdessen von einer parallelen Entwicklung mit zumin dest zeitweiser gegenseitigerBeeinflussung ausgegangen werden muss. 614 Vgl. Leyte, sur la notion de secte, 6IIYJO(VTXHUUH 615 S. u. 616 Siehe Kapitel 4. 617 AN: Debats parlamentaires, 22.06.2000.

214 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « äußern.618 Der Tatbestand der manipulation mentale wurde zwar nicht in das APG übernommen, das Konzept jedoch in den abus faiblesse im Code Pénal in Verbindung mit der sujétion psychologique übersetzt. Dabei wurde als Neuerung die Annahme einer bestehenden Möglichkeit der psychischen Verletzung kodifiziert, was nach Duvert in den 1990er Jahren ein größerer wahrnehmbarer Trend in der Bevölkerung gewesen sei,619 insofern auch andere unerwünschte Verhaltensweisen, z. B. Ehebruch, verschiedentlich nicht der freien Entscheidung des Einzelnen, sondern einer psychischen Beeinflussung zugeschrieben wurden. Eine Änderung des rechtlichen Rahmens, die Inklusion des neuartigen („kulturellen“) Konzeptes „psychischer Beeinflussung“ wurde außerdem durch die sich wandelnde Bedeutung der Psychologie als Disziplin seit den 1950er Jahren in Frankreich vorbereitet. Zu dieser Zeit fand die Psychoanalyse verstärkt Anklang und weite Verbreitung im Denken der Bevölkerung620 und etwa zeitgleich betonten einflussreiche post-strukturalistische Konzeptionen des Subjektes dessen Beeinflussbarkeit. Letztere entwarfen seit den 1960er Jahren zunehmend das schwache, von äußeren Einflüssen gesteuerte Subjekt, was die These von dessen ReKonzeptualisierung in Frankreich in dieser Zeit unterstützt. Alain Ehrenberg analysierte die Genese des „Befindens“ des Individuums in der französischen Gesellschaft und beschreibt den „Siegeszug“ der Psychoanalyse in den populären Medien:621 in den 1970er Jahren habe sich das Angebot psychologischer Therapien (parallel zur Entstehung des „New Age“ in Frankreich, welches ähnliche Themen aufgriff) vervielfacht.622 Die Schriften der Psychoanalytiker wurden Bestandteil gymnasialer Curriculae und hierdurch Themen wie das persönliche, psychische Wachstum in Frankreich weitgehend bekannt.623 Laut Ehrenberg habe zu dieser Zeit der ‚Psychoanalytiker habe den Priester als Ratgeber und professionellen Seelsorger abgewechselt und die Sprache der Psychoanalyse wurde die, in der 618 S. u. 619 Duvert, Anti-Cultism, 2004, S. 44-45. Konkret habe es zum Beispiel Klagen gegen die Verführerinnen untreuer Ehemänner gegeben, die Letztere manipuliert hätten. Diese Fälle seien etwa zeitgleich mit den Höhepunkten der damaligen „Sektenpanik“ festzustellen gewesen und psychischer Missbrauch wurde vor allem im Kontext der dérives sectaires oder sectes behandelt. Informelle Informanten meinerseits gaben so gar an, derartige Fälle kämen gegenwärtig noch immer vor. 620 Vgl. Ehrenberg, Unbehagen, 2012, S. 244-252. 621 Vgl. ebd. S. 244-248. 622 Ebd. S. 250. 623 Vgl. 250-251. Im GGR wird eben dies als das an einen Bedarf in Bevölkerung ange passtes Angebot beschrieben (siehe Kapitel 5).

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Eheprobleme oder persönliche Misserfolge ausgedrückt wurden‘.624 Als französisches Spezifikum war die Psychoanalyse auch politisch und philosophisch relevant625 und wurde (in der Prägung durch Lacan) eine „kulturelle Tatsache“. Die „Psychologisierung der Kultur“ in Frankreich kann entsprechend als eine Variante zunehmender gesellschaftlicher Säkularisierung zu verstanden werden, insofern nun Psychotherapien anstelle religiöser Institutionen für die seelische Gesundheit eines großen Teils der Bevölkerung sorgten. Mit der starken und kaum kontrollierten Vermehrung psychotherapeutischer Angebote, die die wachsende Nachfrage bedienten, begannen Grenzziehungsprozesse zwischen legitimer und illegitimer Therapie. Und diese wurden mit Rekurs auf sogenannte „Sekten“ verhandelt, die in diesem Zusammenhang, wie das das Attribut sectaire, religiös konnotiert wurden. Hierin deutet sich eine generelle Abgrenzung gegen „Religion“ an und unspezifischer anti-religiöse Tendenzen und Potenziale können, wie gezeigt, auch gegenwärtig im seelsorgerischen/psycho-therapeutischen Sektor festgestellt. Vor diesem Hintergrund erschließt sich zum einen die erhöhte Aufmerksamkeit für psychische Prozesse und die leichte Anschlussfähigkeit psychologisierter Themen und entsprechender Interpretationen in der Bevölkerung besser. Zum anderen scheint die Ablehnung des Wirkens von „Sekten“ im therapeutischen Bereich auch dadurch begründet zu sein, dass diese hier als „religiös“ klassifiziert sind damit die säkulare, wissenschaftliche „Orthodoxie“ im sensiblen Bereich der menschlichen Psyche zu bedrohen scheinen. Hinzu kommt, dass in der Tat sehr viele NRB mit diesem Trend mitgingen (und bis heute mitgehen) und alternativpsychologische Therapien anbieten. Philippe Vuilque bezeichnete die Psychotherapie im Parlament sogar als „[...] die Methode der Sekten […] ihre Vision der Welt umzusetzen“: »Ces groupes, souvent puissants, prennent des masques variés – religion, santé, développement du potentiel personnel, etc – et s‫ތ‬appuient sur des motivations importantes pour chaque individu – besoin de servir une grande cause, recherche de spiritualité ou autre –, le tout en se servant souvent de techniques dévoyées de psychothérapie leur permettant d‫ތ‬embrigader leurs adeptes, de transformer leur vision du monde en les privant de tout esprit critique.«626

Das Konzept der manipulation mentale durch „Sekten“ konnte also sowohl in Bezug auf das historisch-ideell verankerte Konzept des „rationalen“ Bürgers, als auch auf die im gesellschaftlichen Trend zunehmende Vorstellung vom psychisch sensiblen Subjekt als Bedrohung wahrgenommen werden. Durch die religiöse 624 Vgl. Ehrenberg, Unbehagen, 2012, S. 250. 625 Ebd. S. 52. 626 AN: Debats parlamentaires. 22.06.2000, S. 5725.

216 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « Konnotation, die „Sekten“ in diesem Zusammenhang gegeben wurde, handelte es sich zusätzlich um eine Grenzüberschreitung religiöser Akteure im therapeutischen Sektor. Dies erklärt die Anschlussfähigkeit des Konzeptes, welches jedoch nicht aus diesen kulturellen Trends allein entstand. Es selbst gelangte über die Kooperation der französischen AKB mit US-amerikanischen Anti-Cult- und CounterCult-Movements und deren Brainwashing-Debatten nach Frankreich und lieferte hier nicht zuletzt auch willkommene Erklärungen für unverständliches und schmerzhaftes Verhalten von Familienmitgliedern oder dem eigenen Partner.

Der Missbrauch Schwächerer und la chasse au sorcières in der I.-III. Republik zum historischen Vergleich In einer, hier als Vergleichsstudie verwendeten, Aufsatzes über die Verfolgung der Wahrsagerei in Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert,627 zeigen sich einige interessante Parallelen zu der „Anti-Sekten“-Agenda der 1970er Jahre. Letzere schließt zudem fast direkt an die Nachwehen der vorhergehenden an. Im Jahrhundert nach der Revolution konsultierten vor allem in ländlichen Regionen Menschen Wahrsager, um Auskunft über ihre Partnerschaft, mögliches zukünftiges finanzielles Glück oder Feindschaften zu erhalten und um Liebestränke oder Heilmittel zu erwerben. Bei ihnen handelte es sich um Einzelpersonen, die mehrheitlich aus armen, ungebildeten Bevölkerungsschichten stammten. Im Code Napoléon 479/7628 ist Wahrsagerei explizit benannt, sei jedoch, nach Harvey, ausVFKOLH‰OLFKDOVOHLFKWHV9HUJHKHQQXUPLW*HOGVWUDIHQJHDKQGHWZRUGHQLQ)lOOHQ größerer finanzieller Umsätze habe zusätzlich der Paragraph 405629 bezüglich Be-

627 Harvey, Fortune-Tellers, 2005. 628 „Seront punis dҲune amende de onze à quinze francs inclusivement, […] 7° Les gens qui font le métier de deviner et pronostiquer, ou dҲexpliquer les songes […]“,URL: http://www.koebler-gerhard.de/Fontes/CodePenal1810.htm ]XOHW]W eingesehen am 23.04.2013. 629 „Quiconque, soit en faisant usage de faux noms ou de fausses qualités, soit en des manœuvres frauduleuses pour persuader lҲexistence de fausses entreprises, dҲun pouvoir ou dҲun crédit imaginaire, ou pour faire naître lҲespérance ou la crainte dҲun succès, d‫ތ‬un accident ou de tout autre événement chimérique, se sera fait remettre ou délivrer des fonds, des meubles ou des obligations, dispositions, billets, promesses, quittances ou décharges, et aura, par un de ces moyens, escroqué ou tenté dҲescroquer la totalité ou partie de la fortune dҲautrui, sera puni dҲun emprisonnement dҲun an au

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truges angewendet werden können. Dies sei jedoch nur selten geschehen und insofern sei „Wahrsagerei“ zwar nominal strafbar, faktisch aber weitgehend geduldet gewesen.630 Dies erkläre sich, laut Harvey, aus dem geringen sozialen Status der involvierten Personen. Die Klientel der Wahrsager bestand hauptsächlich aus Frauen der unteren sozialen Schichten und habe ohnehin häufig als „schwachsinnig“ oder dumm gegolten, war also bereits sozial marginalisiert. Der verbreitete Vorwurf gegenüber weiblichen Personen, grundsätzlich „irrational“ zu sein und zu handeln, sei über die Frequentierung von Wahrsagern, wie das Bild der Frau als religiöser Fanatikerin, erwartungsgemäß bestätigt worden, so dass derartiges Handeln, von dieser Seite, kaum schockierte.631 Der Artikel 479 wurde in der dritten Republik beibehalten, denn in dieser Zeit säkularistischer Reformen und Fortschrittsdenken, auch in den ländlichen Gegenden, betrachteten die Regierenden die französische Gesellschaft weiter als rückständig und abergläubisch. Zwar forderten vor allem Verfechter bourgeoiser, männlicher Rationalität die „Unterdrückung des Obskurantismus“,632 doch wurde dessen aktive Verfolgung aufgrund der Marginalität der involvierten Bevölkerungsgruppen633 von vielen, entgegen dem vordergründigen Beharren auf die republikanische Pflicht, die Schwachen (Frauen, Arme, Bauern) vor ihrer eigenen Ignoranz zu schützen und „Rationalität auch in den entlegenen Winkeln des Landes zu verbreiten“,634 kaum ernsthaft erwogen oder gleich abgelehnt.

moins et de cinq ans au plus, et d‫ތ‬une amende de cinquante francs au moins et de trois mille francs au plus. […] Le coupable pourra être, en outre, à compter du jour oit il aura subi sa peine, interdit, pendant cinq ans au moins et dix ans au plus, des droits mentionnés en lҲarticle 42 du présent Code: le tout sauf les peines plus graves, sҲil y a crime defaux.“85/http://www.koebler-gerhard.de/Fontes/CodePenal1810.htm zuletzt eingesehen am 23.04.2013. 630 Harvey, Fortune-Tellers, 2005, S. 133-134, 136, 138-139. 631 Vgl. ebd. S. 139-140. 632 Harvey, Fortune-Tellers, 2005, S. 140. 633 S. 140-141. Trotz dieser Sichtweise der Eliten entstanden um das Fin de siècle in Frankreich, wie im Rest Europas, Kreise in den höhere Schichten, bestehend beson ders aus Künstlern und Schriftstellern, die Interesse an okkulten Themen pflegten („Salon-Okkultismus“), welches initial von zunehmender Übernahme exotischer Ele mente in selbige noch ausgelöst worden sei, was zu diesem Zeitpunkt noch „nieman den Relevantes“ gestört habe (S. 143-144). 634 S. 145.

218 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « Im Zuge der Unsicherheiten des ersten Weltkriegs stieg die Nachfrage an Wahrsagern stark an. Gleichsam wurden Forderungen nach einer Verschärfung der Gesetze und deren Verbot zwar laut (jedoch erst später umgesetzt), da nun besorgte Ehefrauen, die nicht zuletzt von staatlicher Hilfen lebten, ausgebeuten würden.635 In Kriegszeiten hätten, nach Harvey, republikanische Argumenten gegen die „Irrationalität“ etwas flach gewirkt, denn nichts hätte einen ähnlichen Effekt subjektiver Beruhigung wie Wahrsager erzielen können: ein großer Teil der Klientel hatte Angehörige, ohne die Möglichkeiten, mit diesen zu kommunizieren, an der Front gehabt und genau dies gewünscht und gebraucht.636 Eine ähnliche Entwicklung konnte auch während des zweiten Weltkriegs beobachtet werden, hiernach habe die Zahl entsprechender Verurteilungen allerdings insgesamt abgenommen. Während der noch stattfindenden Gerichtsverhandlungen sei immer wieder deutlich gemacht worden, wo die Grenze zwischen Wissenschaft und „Aberglaube“ verlaufe.637 In den 1960er Jahren, im Zuge einer zunehmenden gesellschaftlichen Liberalisierung, sei „Wahrsagerei“ dann zur Unterhaltung und als Lebenshilfe immer mehr akzeptiert und gesellschaftsfähig geworden, während republikanische Argumente im öffentlichen Diskurs als „archaisch“ abgelehnt und das Zulassen irrationaler Aspekte in der in der Alltagsrealität als aufgeklärter aufgefasst worden sei. Die Wahrsager ihrerseits hätten sich zu dieser Zeit organisiert, gegen die “Scharlatanerie“ abgegrenzt und erschienen als ein relativ normaler Teil französische Populärkultur. Der Paragraph 479/7 zur Bestrafung von Wahrsagern wurde jedoch erst im Jahr 1993, etwa zeitgleich mit der Einsetzung der ersten Enqu۶te-Kommission gegen „Sekten“, abgeschafft.638 Nach Harveys Darstellung waren die Argumente für die Verfolgung der sorcières seit der dritten Republik grundsätzlich ideologisch-republikanischer Natur. Sie stammten, analog zu den Befunden der vorliegenden Untersuchung, aus dem linken politischen Spektrum. Liberale Argumente betrafen wirtschaftliche Aspekte und folgten darüber hinaus dem Motto „solange es nicht in meinen Kreisen stört [...]“. Damit waren die Liberalen den sorcières gegenüber zwar gleichgültiger, hielten jedoch gleichzeitig die gesellschaftliche Spaltung in Bürgerschicht und marginalisierte Gruppen aufrecht, weil man diese ohnehin für unwichtig hielt. Die zunehmende Akzeptanz der sorcières in den 1960er Jahren die mit der Liberalisierung der Gesellschaft einherging, wurde von den entstehenden Konflikten um 635 S. 146. 636 S. 148-149. 637 Ebd. 638 Harvey, Fortune-Tellers, 2005, S. 153-156.

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les sectes in den 1970er Jahren mehr oder weniger abgelöst. Festgestellt werden kann, dass sich bestimmte argumentative Muster wiederholen. Im Fall der dérives sectaires war es folgelogisch die Situierung der Adepten in den Mittelschichten, welche die Besorgnis der Autoren des GGR erregte. Die beobachteten Zielpersonen der „Sekten“ standen mitten in der Gesellschaft, verfügten über Ressourcen und in gewissem Maße auch über Einfluss. Gleichzeitig wurden sie, gemäß moralisch-republikanischem Denken, wieder als unmündige Opfer geistiger Manipulation stilisiert, denen auch gegen ihren Willen geholfen werden soll(te). Die französische Politik hat ihre Wurzeln in republikanischem Gedankengut. Verschiedene noch immer aktuelle Interpretationen der laïcité zwischen ideologischem Säkularismus und Liberalismus, einhergehend mit der Betonung innergesellschaftlichen Egalitarismus oder der Abgrenzung der Bürgerlichen von ärmeren Bevölkerungsschichten sind in den Argumentationen gegen die sorcières und in denen gegen les sectes auf die eine oder andere Art enthalten. Das anfänglich geringe Interesse am „Sektenproblem“ vonseiten der Vertreter liberaler Positionen im Parlament sowie die Betonung der Werbung durch „Sekten“ in den Mittelschichten und den ökonomischen Gefahren, die von ihnen ausgingen, vonseiten der Säkularisten, könnten entsprechend als Framing-Prozesse erklärt werden, die liberale Stimmen für die Agenda gewinnen sollten. Auch die Initiative und das Interesse vonseiten der Säkularisten kann im Vergleich mit den früheren Prozessen als in eine ideologische Genealogie einbettet verstanden werden. Die „Sekten“ stimulierten im Gegensatz zu den sorcières allerdings auch als kollektive Akteure politische Befürchtungen, die wahrgenommene Problematik der jeweiligen Fälle beinhaltet also auch wichtige Unterschiede. Wie verhält sich das historische Beispiel zu der gegenwärtigen entgegengesetzten Bewegung, der erneuten Fokussierung alternativer Heilpraktiken durch „Sekten“Gegner? Erklärt werden müssen zunächst die Entwicklungen, die zu einer Verlagerung des Fokus in den 1970er Jahren geführt haben könnten: laut Harvey hing die zunehmende Akzeptanz von Wahrsagern und alternativen Heilpraktiken auch mit deren zunehmenden Erfolg in höheren Gesellschaftsschichten zusammen, die gesellschaftlich in gewisser Weise Vorbildfunktion haben und von denen ein gewisser Schutz ausgehen kann. Der folgende Exkurs fasst einen Betroffenenbericht als Fallbeispiel zusammen, das die Entwicklung der französischen Situation nach den zweiten Weltkrieg, vor allem den scheinbaren Widerspruch von zunächst stärkerer juristischer Verfolgung bei gleichzeitig steigender gesellschaftlicher Akzeptanz der sorcières in Frankreich etwas besser veranschaulichen kann:

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Exkurs 1: Die Gerichtsprozesse des Maurice Mességué »Der Weg zur sukzessiven Akzeptanz der Wahrsager und Heiler, ihre Frequentierung durch höhere Schichten in den 1960er Jahren wird, durchaus unterhaltsam, in den Berichten des Phytotherapeuten (des „Kräuterpapstes“) Maurice Mességué in seinem Buch „Des hommes et des plantes“639 aus dem Jahr 1970 geschildert. Mességué praktizierte etwa vom Jahr 1950 an, heilte nach eigener Aussage viele, auch berühmte und reiche, Menschen und war hauptsächlich auf Schönheitsmittel spezialisiert. Mit steigender Bekanntheit wurde er jedoch immer wieder wegen Betruges vor Gericht gestellt. In diesen Prozessen scheint er nur selten verurteilt worden zu sein, was Mességué in seinen Erzählungen immer wieder auf seine einflussreichen Fürsprecher zurückführt, die ihn durch ihre Empfehlung vor einer Verurteilung retteten. Hier berichtet von nur positiven, sondern begeisterten Patientenberichten und Zeugnissen selbst geheilter Richter und Ärzte. Jenseits der, m. E. berechtigten, Annahme, die künstlerische Freiheit wurde in Mességués Berichten weidlich genutzt, entsprechen diese Beschreibungen in den grundlegenden Zügen Harveys, von der anfänglichen Verschärfung der Rechtspraxis nach dem zweiten Weltkrieg und legen das Thema als sich in gesellschaftlicher Verhandlung mit Für- und Gegensprechern befindlich offen. Mességué jedenfalls blieb zeitlebens vorsichtig und verfolgte moderate Ziele: er enthielt sich der Behandlung von Krebsleiden und anderen tödlichen Krankheiten, wies als einer der Ersten auf die Gefährlichkeit von Pflanzenschutzmitteln hin, propagierte extensiven Genuss lediglich innerhalb einer naturbelassenen Ernährung und gründete in der Stadt Fleurance eine noch immer existierende Kosmetik-Firma.640 Aus seiner späteren Ernennung zum Bürgermeister dieser Stadt lassen sich zudem gesellschaftliches Engagement und ein gewisses populistische Geschick ableiten. Dadurch, dass sich Mességué von lebensentscheidenden Themen und Krankheiten fernhielt und sich stattdessen auf Schönheitsmittel und chronische leiden konzentrierte, stellte er sich kaum in Konkurrenz zur Schulmedizin. Er engagierte sich zudem auf kommunaler Ebene und versuchte dort, wo es um Gesundheit, ging gängige Lebensgewohnheiten zu modifizieren und nicht drastisch zu verändern. Neben den positiven Empfehlungen einflussreicher Personen von denen er berichtet, wird ebenso seine Fähigkeit, die Grenzen des Akzeptablen nie zu weit zu überschreiten und seine Ziele als gemeinnützig öffentlich zu kommunizieren zu seinem relativen Erfolg, trotz rechtlicher Querelen, beigetragen haben, da er so die öffentliche Meinung auf seiner Seite hatte.«

Ein Schutz, wie Mességué ihn anschaulich beschreibt, bestand, für das zudem etwas anders gelagerte, „Sekten“-Problem nicht, an das sich der Fokus auf alternative Heilmethoden anschloss. Festzustellen ist, dass die empirische Grundlagen der zu verschiedenen Zeiten wahrgenommenen Probleme, in jedem Fall stärker 639 Éditions Robert Laffont, coll. Le Livre de Poche, 1970. 640 Vgl. ebd.

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variieren als die Argumentationen dagegen, worauf hier an anderer Stelle zurückgekommen werden wird. Es wird zudem festgestellt, dass diese Themen fast lückenlos alternierend in den Fokus der Aufmerksamkeit gerieten und ähnlich verhandelt wurden und werden.641 Ein anderer erwähnenswerter Aspekt auf rechtlicher Ebene ist die Parallele, dass, auf deren gesellschaftliche Akzeptanz zugehend, im 20. Jahrhundert Verurteilungen von Wahrsagerei, Blendung und Obscurantisme abnahmen und stattdessen „Betrug“ sanktioniert wurde. Dies birgt eine Ähnlichkeit zur Entwicklung der französischen Rechtspraxis von 2004-2012: in diesem Zeitraum geriet die „Anti-Sekten“-Agenda zunehmend in die Kritik, und während Neo-Phare (2004) aufgelöst wurde musste man sich im Fall Scientologies im Jahr 2012 auf „Betrug“ beschränken. Die Vermutung, hier setzten sich möglicherweise die jeweils liberaleren, weniger Ideologie-geleiteten Positionen und das Prinzip der Religionsfreiheit durch, liegt nahe und wird in Kapitel 9 wieder aufgegriffen.

L A R ÉPUBLIQUE VERSUS LES SECTES : K ONKURRENZ UM DEN B ÜRGER , DIE M ÖGLICHKEIT I NFILTRIERUNG UND „ LA Q UESTION S OCIALE “

EINER

Direkte Verweise auf republikanische Werte im Parlament und in öffentlichen Äußerungen namhafter Politiker kommen generell häufig vor. Auch in Verbindung mit les sectes werden republikanische Ideale Rousseau‫ތ‬scher Prägung im Parlament hochgehalten. Die im vorhergehenden Kapitel herausgestellte diesbezügliche Tendenz zu staatlichem Paternalismus ist hiervon beeinflusst und verweist unter anderem auf die Wichtigkeit des rationalen Individuums als Konstituente einer idealen Gesellschaft im Sinne eines Vertrags zwischen Individuen. Der „Bürger“ nach republikanischem Ideal ist gleichwertig mit allen anderen Bürgern und als Person zunächst universalistisch und erst nachfolgend partikularistisch als Franzose gedacht.642 Spannungen entstünden, nach Durkheim, durch „Sekundärgruppen“, welche die Eigenschaft hätten, „die Persönlichkeit ihrer Bürger zu absorbieren“643 und so dem Staat seine Konstituenten zu entziehen. Dem Staat kommt in

641 Möglicherweise hat aber die Abschaffung des Gesetzes gegen Wahrsagerei auch die Notwendigkeit der Schaffung schärferer Gesetze gegen „Sekten“ aus Sicht der „Sek ten“-Gegner sogar verstärkt, siehe konklusive Diskussion zum Thema unten. 642 Ehrenberg, Unbehagen, 2010, S. 269. 643 Durkheim, É: Leçons de Sociologie. [Vorlesungen zwischen 1890 und 1900], zitiert nach Ehrenberg, Unbehagen, 2010.

222 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « dieser Gedankenfolge die Aufgabe zu, seine Bürger zu befreien644 (oder in anderen Worten: sie wieder für sich verfügbar zu machen). Dies ist ein weiterer ideengeschichtlich-historischer Anknüpfungspunkt, von dem aus die Betonung der „Opfer von Sekten“ beleuchtet werden kann. Strukturell wurde in Frankreich der jakobinisch-republikanische Entwurf der in sich homogenen République Indivisible, in der die Bürger individuell dem „Staat“ gegenüberstanden, spätestens seit 1901 durch anfänglich überwiegend katholische Vereine relativiert. Diese, als rein zweckbezogene Zusammenschlüsse, waren in ihren Möglichkeiten als kollektive Akteure zwar begrenzt, konnten aber dennoch partikulare Interessen vertreten und zwischen Individuum und Staat vermitteln. Sie stellten eine der Formen dar, in denen sich ein pluralistischeres staatliches Modell manifestieren konnte.645 Das französische Recht sieht jedoch auch heute noch die Konzepte „Gruppe“ und „Minorität“646 nicht vor. Kollektive, die auf einer Homogenität der Mitglieder bezüglich bestimmter Eigenschaften (Abstammung, Glaube) beruhen, sind zwar nicht verboten, dem Staat jedoch unterzuordnen. Besonders religiöse Überzeugungen sind im Privaten auszuleben und in der Öffentlichkeit kollektiv-nationalen Interessen hinten an zu stellen. Neben diesem Ideal der Gleichheit aller treten auch in Frankreich relativ viele Fälle von Diskriminierung gegenüber Migranten und gegen religiöse Einrichtungen auf.647 Auch Frankreich tut sich hier, anders als auf europäischer Ebene gefordert, in absentia entsprechender juristischer Kategorien schwer, Minoritäten den notwendigen Schutz zu gewähren. In den oben beschriebenen associations (einfache Vereine) nach dem Gesetz von 1901 organisieren sich auch die meisten „Sekten“, was sich in den parlamentarischen Debatten zum APG im mehrfachen Aufgreifen vereins- oder gemeinschafts-bezogener Themen wie Sportvereinen von Jugendlichen oder auch den PACS648 widerspiegelt. Aus dieser Perspektive erscheinen „Sekten“ als ein strukturelles Problem, da sie zwischen Individuum und Staat, dort wo partikuläre Interessen gültig gemacht werden, stehen, ihre Mitglieder aber weit über einen zweckbezogenen Zusammenschluss hinaus involvieren, also eher (anspruchsvolle) „Gruppen“ als Vereine darstellen. Die verbreiteten Annahmen, les sectes würden Individuen der Mittelschicht rekrutieren, sie manipulieren und von 644 Ebd. 645 Della Sudda, Magalli: Associations and political Pluralism: The effects of the law of 1901, in: Julian Wright/H.S. Jones: Pluralism and the Idea of the Republic in France. 2012. Palgrave Macmillan, S. 161-162. 646 Siehe Guillet, Liberté de religion, 2003, S. 28-31. 647 Vgl. US Department of State: Religious Freedom Report 2008: France. URL: http:// www.state.gov/j/drl/rls/irf/2008/108446.htmzuletzt eingesehen am 08.04.2013. 648 Vgl. z. B. AN: Debats parlamentaires6IIV o.

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ihren Adepten die völlige Anerkennung ihrer eigenen Regeln fordern, bedeuten vor dem Hintergrund republikanischer Ideale nicht zuletzt, dass deren Erfüllung der Bürgerpflichten verhindert wird oder diese zumindest mit den Ansprüchen der Gruppe konkurrieren muss. Serge Blisko, gegenwärtig Präsident von MIVILUDES formulierte zum Beispiel: »[...] Si un groupe d‫ތ‬individus ne respectent pas les lois de l‫ތ‬Etat, pensent qu‫ތ‬il existe une loi qui y est supérieure. [...] La proposition de loi qui nous est soumise est essentielle: elle doit nous permettre de contrer ce danger grandissant. Si toute la difficulté réside à s‫ތ‬opposer démocratiquement à ceux qui ignorent les règles démocratiques et républicaines, nous pouvons nous féliciter d‫ތ‬avoir trouvé, dans cette loi de consensus […].«649

Neben der Konkurrenz für den Staat in Bezug auf seine Bürger ist die die „Infiltrierung“ der Gesellschaft und des Staates über Schlüsselfiguren eine andere Variante der „Sekten“ vorgeworfenen Gefährdung. Nicht nur im GBR wird explizit auf die Gefahr der Infiltrierung des Gesundheits- und Bildungssektors über Schlüsselpersonen wie Lehrer oder Ärzte, sowie auf die Infiltrierung der Administration und Politik hingewiesen. Auch angesichts einiger undurchsichtiger Vorfälle in Bezug auf verschwundene Akten in Scientology-Prozessen stießen diese Behauptungen auch auf Resonanz. Die gemutmaßte wirtschaftliche Potenz einiger Gruppen erschien gefährliche, da monetäre Mittel politische Einflussmöglichkeiten aber auch eine größere Unabhängigkeit von und Resistenz der Gruppen gegen auf sie angewendeten politischen und juristischen Druck bedeuten können. Die wirtschaftlichen Probleme Frankreichs, an denen die Parti Socialiste in den 80er und 90er Jahren scheiterte, sind ebenfalls in Erwägung zu ziehen. Frankreich hatte zu diesem Zeitpunkt kaum größere Unternehmen und eine hohe Arbeitslosenquote. Finanzkräftige NRB, die sich (wie z. B. Scientology gerne größer darstellen, als sie sind) wurden vor diesem Hintergrund möglicherweise als beeindruckender und gefährlicher wahrgenommen, als sie es in der Realität sind. Das Fehlen von Riesenkonzernen erleichterte es in jedem Fall, sich als mittelständische

649 AN: Debats parlamentaires. 22.06.2000, S. 5738.

224 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « Unternehmen auf dem Markt zu etablieren. Eine von einem Scientologen betriebene Softwarefirma endete in der „Panda-Affäre“650, als öffentlich bekannt wurde, dass diese Firma Regierungseinrichtungen belieferte.651 Die „soziale Frage“ Frankreichs, „la Question Sociale“, die während der Unruhen der Revolution und in der Zeit der Industrialisierung immer wieder aufkam, zielt in reduzierter ideologischer Form auf die Feinde des Universalismus, der mit der Revolution und der Erklärung der Menschenrechte einen großen Teil des nationalen Mythos ausmacht. Genauer: sie zielt auf die, eben in Bezug auf die Kategorie der „Gruppe“ oder „Minorität“ besprochenen, illegitimen partikularistischen Ansprüche, gleich von wem hervorgebracht, die der Republik schaden oder ihre Einheit bedrohen könnten.652 Oder, wie Furet formuliert: »[…] das mythische Denken stattet das Universum mit einem subjektiven Willen aus […] wenn man so will, mit Verantwortlichen oder Sündenböcken. Das Handeln stößt hier nicht mehr auf Hindernisse oder Grenzen, sondern nur noch auf Gegner.«653

Les sectes werden auch auf abstraktester Ebene als den Fundamenten der Republik entgegenstehend und damit als verfassungswidrig eingestuft – die Überschrift des APG richtet sich an die „mouvements sectaires“, welche „die fundamentalen Freiheiten und die Menschenrechte“ bedrohten. Angesicht der fast lächerlich geringfügigen Quantität der Mitglieder in NRB ist dieser Bezug tatsächlich erst über den erweiterten Sektenbegriff654 in Verbindung mit der Rekonstruktion der Kernideale republikanischen Denkens und des nationalen Mythos in Verbindung mit dem Topos der Infiltrierung annähernd nachzuvollziehen. Les sectes besetzen hier zumindest in der politischen Rhetorik die Rolle des historischen Gegenspielers an dem 650 Rekurs darauf im Parlament: (J. P. Brard) „[...] Les tentatives dҲinfiltration des sectes sont, en effet, nombreuses, par exemple dans le domaine des nouvelles technologies de lҲinformation et de la communication. Ainsi sҲest-on aperçu récemment que des programmes informatiques anti-virus utilisés par certains ministères étaient fabriqués par une société proche de la Scientologie. Il nҲétait fort heureusement pas possible pour la secte de pénétrer les systèmes sécurisés des ministères, mais lҲon voit quҲelle cherchait à se constituer une référence de clientèle prestigieuse. […].“ AN: Compte Rendu: 30.05.2001 (2me lecture). 651 Vgl. Palmer, Heretics, 2011, S. 68 f. 652 Vgl. Ehrenberg, Unbehagen, 2010, S. 269-270. 653 Furet: Penser la Révolution française, 1978 ]LWLHUW QDFK (KUHQEHUJ, Unbehagen, S. 270. 654 Siehe Kapitel 5.

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die Republik sich über politische Gegensätze hinweg eint und der als solcher über die geteilten Wissensbestände655 auch für einen großen Teil der Bevölkerung plausibel ist. In diesem Zusammenhang lassen sich die Ergebnisse des Vergleichs mit der Verfolgung der sorcières besser verstehen: da die wahrgenommenen Probleme (Wahrsager, „Sekten“, alternative Heilpraktiken) sich durchaus voneinander unterscheiden, ihnen aber zum Teil mit denselben Argumenten (Aufklärungs-feindlichkeit) begegnet wird, handelt es sich bei ihrer Bekämpfung zumindest auch um die Selbstvergewisserung des eigenen kollektiven, rationalen, und säkular(istischen) Selbstverständnisses. Verweise auf republikanische Werte erfolgen vonseiten Catherine Picards und Serge Bliskos (Partie socialiste) in eben diesem Sinne, kommen jedoch weitaus häufiger auch in entgegen gesetzter Richtung vor. Namentlich sollten les sectes zwar verfolgt werden, aber ohne dass die individuelle Religionsfreiheit und die Freiheit, Vereine zu gründen darunter leiden dürfe. Insofern wird in Bezug auf les sectes der liberalere republikanische Konsens scheinbar mehrheitlich stärker befürwortet als der ältere jakobinistische und stand damit der Gesetzgebung eher als Hindernis entgegen. Das muss nicht bedeuten, dass die ältere, jakobinistische Version, die direkter an den nationalen Mythos anschließt, jeglicher allgemeiner Anschlussfähigkeit entbehrt, denn er gehört zur gemeinsamen Geschichte und wurde nie offiziell verworfen. Jedoch ist davon auszugehen, dass die Meinungen bezüglich der Radikalität, mit der diese Ideale umgesetzt werden sollten und wie relevant sie sie für die politische Praxis der Gegenwart sind, stark auseinander gehen und zumindest grob in die traditionellen Lager von ideologischer und liberaler Laizität eingeordnet werden können.

G LOBALISIERUNG , DIE USA UND K AMPF GEGEN „S EKTEN “

DER INTERNATIONALE

Susan Palmer erwähnt die Bedeutung von Globalisierungstendenzen neben xenophoben und diskriminierenden Haltungen gegenüber Mitbürgern ausländischer Herkunft als Kontext der „öffentlichen Sektenkonflikte“. Als Anlass hierfür gehen aus den öffentlichen Debatten hauptsächlich die wahrnehmbare Präsenz von Moslems oder Migranten in Frankreich und die mäßig beliebten Einflüsse aus den USA festgestellt hervor.656

655 Vgl. Kap. 3. 656 Siehe Kapitel 2.

226 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « In den parlamentarischen Protokollen wird nur Letzteres erwähnt, in Form explizit kritischer Verweise auf die USA und die mögliche „sektiererische Infiltrierung“ des dortigen Staatsapparates sowie Kommentare zu „sektiererischem Lobbyismus“ innerhalb Frankreichs657 und auf europäischer Ebene, die auch z. B. von Duvert (ohne das kritische Vorzeichen) als „Amerikanisierung“ verstanden werden. Dies deutet auf kritisch wahrgenommene, strukturelle und kulturelle Angleichungsprozesse durch die Einbettung in einen zunehmend globalen Kontext hin. Internationale institutionelle Homogenisierungstendenzen werden gegenwärtig wissenschaftlich unter anderem im Rahmen von „Weltgesellschaftstheorien“ abgehandelt. Dort werden deren gängige Symptome zumeist als Verlust an Bedeutung nationalstaatlicher Arrangements, als die Spannung zwischen der globalen und nationalen Gemeinschaft und nicht zuletzt zwischen national-partikularistischen und universalistischen Ansprüchen beschrieben. Ironischerweise werden universalistische Ansprüche im Sinne der Menschenrechte ebenso in Frankreich geltend gemacht, während global häufiger das US-amerikanisch-pluralistische und religionsfreundlichere staatliche Modell (mit einem schwachen Staat) angenommen wird. Dieses wurde wiederum von französischer Seite häufig kritisiert und Frankreich musste seinerseits von vielen Seiten herbe Kritik ob seines Umgangs mit religiösen Gemeinschaften entgegen nehmen. »Ici et là, notamment outre-Atlantique, des voix s‫ތ‬autorisent d‫ތ‬une certaine conception de la liberté pour critiquer notre fermeté et notre volonté collective de préserver les libertés, qu‫ތ‬elles soient individuelles ou collectives. Les sectes les plus totalitaires − qui sont responsables de décès, de suicides − crient au liberticide.«658

Innerhalb des französischen Parlamentes wird auf der USA-kritischen Position beharrt, auch weil Scientology dort als Religion gilt und ihren Ursprung hat. Frankreich habe die Aufgabe, als Vorkämpfer gegen „Sekten“ europa- und weltweit die gewonnenen Erkenntnisse über die mit ihnen verbundenen Gefahren zu verbreiten. Als Resultat aus dieser Position wird FECRIS (Fédération Européenne des Centres de Recherche Fédération Européenne des Centres de Recherche et dҲInformation sur le Sectarisme), der europaweit aktive Dachverband nationaler AKB, hauptsächlich von der französischen Regierung finanziert. Die Rhetorik der „Anti-Kult“-Akteure rekurriert auch im Parlament wiederholt auf ein Frankreich kollektiver laizistischer und republikanischer Identität (à la française) und dehnt

657 Siehe Kapitel 4. 658 AN: Debats parlamentaires. 30.05.2001, S. 3682.

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die Geltungsansprüche ihrer Agenda über Frankreichs Grenzen hinaus aus.659 Im Rahmen dieser Spannungen wird die „Sekten“-Bekämpfung als speziell französisches Thema mit Potenzial, die eigene Identität gegen andere Staaten abzugrenzen und der Möglichkeit zur eigenen Profilierung als Experten auf europäischer und internationaler Ebene angesprochen: »[...] D‫ތ‬autre part, il convient de porter à l‫ތ‬ordre du jour des négociations internationales le problème sectaire. Il n‫ތ‬est pas acceptable, en effet, que certains pays comme la France ou l‫ތ‬Allemagne luttent contre les sectes et que certains autres, y compris en Europe, aient une attitude complaisante à leur égard. Mme Catherine Picard, rapporteure. Absolument ! M. Rudy Salles. Si l‫ތ‬on ne peut envisager une législation internationale sur le sujet, du moins devrait-on s‫ތ‬efforcer de la mettre en place sur le plan européen. C‫ތ‬est donc sur ces regrets, mais aussi avec la satisfaction de voir la France avancer dans le domaine de la lutte contre les sectes, au-delà des alternances ET des clivages politiques, que je vais conclure. [...].«660

Hier schwingen ebenso paternalistische Haltungen mit, wenn von den Ostblockstaaten als „nicht mehr mit Religion vertraut und deshalb besonders verletzlich“ gesprochen wird.661 Ob die französische Abgrenzung gegen das amerikanische Modell wegen der unterschiedlichen Auffassungen von Religion als notwendig empfunden wird oder ob sich ein generelles Abgrenzungsbedürfnis zur Wahrung der eigenen nationalen Besonderheit an diesem Thema kristallisiert, beziehungsweise, einem solchen in der Bevölkerung entsprochen wird, kann an dieser Stelle nicht entschieden werden. Deutlich wird jedoch erstens, dass das Thema nationaler Identität im Sinne einer Abgrenzung innerhalb Europas – und partiell sogar nationaler Superiorität – nachdrücklich an den Themen „Sekten“ und „Religion“ evoziert wird. Zweitens schließt die Thematik an insofern an öffentliche Diskurse an, als dass hier Vorbehalte gegenüber Elementen US-amerikanischer Kultur und einer Überfremdung Frankreichs vielfach geäußert wurden. Les sectes werden in diesem Zusammenhang als Problem, das von außen und vornehmlich aus den USA 659 Der CAP LC geriert sich auf NGO Ebene übrigens dem diametral entgegen gesetzt als Verteidiger der „Weltbürgerschaft“ (siehe: http://www.freedomofconscience.eu/: zuletzt eingesehen am 05.03.2013). 660 AN: Debats parlamentaires. 30.05.2001, 2eme lecture, S. 3688. 661 Martine David: CҲest enfin lҲoccasion de communiquer de façon structurelle avec les pays de lҲEurope de lҲEst où la situation semble être encore plus alarmante car ces sociétés longtemps privées d'accès à lҲimportation libre et souvent sous lҲinfluence de communautés religieuses, sont très vulnérables. AN: Debats parlamentaires. 22.06. 2000, S. 5733.

228 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « kommt in bereits bestehende Problemdiskurse eingepasst und auch auf diese Weise anschlussfähig gemacht wird. Aus dem hier Dargelegten kann geschlossen werden, dass zumindest einige politische Lager (die zitierten Beiträge stammen von Personen aus dem sozialistischen Spektrum) in Frankreich auf Globalisierungssymptome mit Argumentationen nationaler und kultureller Selbstbehauptung reagieren und diese außerdem mit dem Thema „Sekten“ in Verbindung setzen. Die Fremdheit der „Sekten“ im Inneren Frankreichs, ihr konstruiertes genuines „Nicht-Französisch-Sein“, stellt ein zentrales Argument gegen sie dar und wird mit den USA als von außen kommend und „kulturell invasiv“ verbunden. Frankreich mit seinem radikalen (als vorbildlich dargestellten) Umgang mit solchen Gruppen wird so implizit zum Bewahrer nationaler Kultur erhoben, womit die These eine Relevanz einer Angst vor Überfremdung und hierdurch stimulierte traditionalistische Tendenzen für die französischen „Sekten“-Konflikte bestätigt werden kann.

L AÏCITÉ

UND LES SECTES ALS

„ FALSCHE “ R ELIGION

Auf die Verwendung von Ausdrücken aufklärerischen Ursprungs vonseiten einiger Politiker wurde bereits mehrfach hingewiesen. Weitere diesbezügliche Akzente setzte Jean-Paul Brard am 30.05.2001 im Parlament: »[…] Nous avions conscience, alors comme aujourd‫ތ‬hui, d‫ތ‬être fidèles à l‫ތ‬héritage des Lumières en combattant les sectes, ces fléaux d‫ތ‬obscurantisme et d‫ތ‬oppression modernes. L‫ތ‬ensemble de ces propositions ont été votées à l‫ތ‬unanimité dans notre assemblée, car elles s‫ތ‬inspirent fondamentalement des principes fondateurs de notre République. Cela montre que, même si bien des sujets nous opposent, nous savons nous retrouver quand il s‫ތ‬agit de l‫ތ‬essentiel.[…].«662

Der Gegensatz von Aufklärung (lumières) und „Verdunklung“ (obscurantisme), über den der französische Gründungsmythos vom Sieg der Rationalität gegenüber der katholischen Kirche und dem Glauben revitalisiert wird, ist klassisch. Der antiklerikale Säkularismus der Revolution klingt an, der sich im gegenwärtigen pacte laïque, dem Konsens des Schutzes beziehungsweise impliziten Anerkennung traditioneller Religionen, zumindest nominell nicht mehr offen gegen die katholische

662 AN: Debats parlamentaires. 6Hbenso C. Picard: vgl. Kap. 4 und Martine David Compte Rendu. 22.06.2000 (eigene Hervorhebung).

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Kirche äußert.663 Picard verwendet entsprechende Begriffe auch außerhalb des Parlamentes, was hier als Hinweis darauf gedeutet werden kann, dass geglaubt wird, diese Bezüge seien auch für andere relevant. Die in dieser Rhetorik enthaltene, einseitige Betonung liberté de penser664 wurde mit der Zeit in Frankreich durch liberale Einflüsse abgeschwächt. Mit der Betonung der Freiheit der privaten Sphäre bekam die liberté de conscience mehr Raum in der Konzeptualisierung der laïcité à la française. Dies wird unter anderem an der sich den 1980er Jahren entwickelnden toleranteren Anerkennungspolitik religiöse Gemeinschaften betreffend sichtbar, was zumindest für die, die nicht noch immer ausgeschlossen blieben, eine positive Entwicklung darstellte.665 Wurde also in Bezug auf gegenwärtige „Sekten“ im Parlament von einigen auf das religionsfeindliche Vokabular der Aufklärung zurückgegriffen, wurde das Thema „Religion“ dem entgegen jenseits des Prinzips der Religionsfreiheit (liberté de conscience)666 vordergründig kaum und höchstens implizit negativ verhandelt. Hauptsächlich folgende Arten von Funden bezogen sich mehr oder weniger direkt darauf:667 1. In Bezug auf die Betreuung minderjähriger Mädchen vor einer Abtreibung wurde auf eine professionelle und explizit nicht religiös oder philosophisch geprägte Betreuung bestanden. 2. Es wurde wiederholt deutlich gemacht, dass das Prinzip der individuellen Religionsfreiheit durch die angestrebte Gesetzverschärfung nicht gefährdet werden dürfe.668 3. Die Grenze zwischen „Religion“ und „Sekte“ wurde nicht einheitlich festgelegt.669 4. „Sekten“ wurden als mit ,religiöser Fassade auftretend‘ beschrieben.670 663 Siehe für eine detaillierte Beschreibung der politischen Auseinandersetzungen zwi schen katholischer Kirche und der franz. Regierung bis 1905: Charlier-Dagras, La laïcité française, 2004, S. 43-105. Für detailliertere Informationen über die Instituti onalisierung der liberaleren Variante von „Laizität“: ebd. S. 107 ff. 664 Vgl. ebd. S. 202. 665 Vgl. Beckford, Dystopia, 2004, S. 32. 666 Siehe auch: Charlier-Dagras, La laïcité française, 2004, S. 203. 667 Die verschiedenen Arten von Referenzen kamen, wenn nicht anders vermerkt, mehr fach vor. 668 Vgl. AN: Debats parlamentaires. 30.05.2001, S. 368122.06.2000, S. 5728. 669 Vgl. AN: Debats parlamentaires. 17.03.1999, 2eme lecture, S. 2532-2533. 670 Vgl. AN: Debats parlamentaires. 14.06.200022.06.2000, S. 5725, 5736-5738.

230 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « 5. Es wurde mehrfach die Absicht ausgedrückt, die „guten“ Religionen nicht zu gefährden.671 6. Jean-Jaques Brard fasste die Reaktionen einiger Vertreter der größeren Religionen zusammen, die sich unter anderem an den Premierminister gewendet hätten um sich zu beschweren – und rät diesen, sich besser über „Sekten“ zu informieren.672 7. Es wurde angeben, dass man sich mit den Vertretern der vier großen Religionen geeinigt hätte.673 8. Es wurde die Kritik von außen, in der Frankreich als „die Religionsfreiheit einschränkend“ deklariert wird besprochen. In fünf der acht Arten von Referenzen (außer 1, 6, 8), wurden der Wert von „Religion“ und deren geschützter, gesetzlich verordneter Status sowie die eigene Kooperationsbereitschaft betont. In der Praxis wurden die traditionellen Religionsgemeinschaften hingegen zwar bezüglich des APG gefragt, hatten jedoch, wie aus

671 Picard: „[...] Rappelons que dans la conception laïque des droits de l’homme qui est la nôtre, aucun amalgame ne saurait être fait entre secte et religion lorsqu’ il estquestion d’une pratique religieuse tolérante et respectueuse de la liberté et de l’in tégrité de la personne humaine, qui tend à élever les personnes et non à les humilier et à les asservir.“ (ebd.). 672 „[…] Dans ce contexte, la récente prise de position de Mgr Billé, président de la con férence des évêques, et de M. de Clermont, président de la fédération protestante de France, sont surpre-nantes. Ces deux personnalités, écornantquel que peu le prin cipe de la séparation des pouvoirs, ont choisi de s’adresser au Premier ministre, à la veille même du débat législatif dans notre assemblée. Peut-être eût-il mieux valu que Mgr Billé s’adressât plutôt à M. Vernette pour lui recommander plus de prudence et de discernement dans ses prises de position et dans ses relations, notamment avec M. Massimo Introvigné, propagandiste zélé du laisser-faire pour les sectes! Il a, en effet, publié, dans un ouvrage édité par M. Introvignié, un texte qui, s’il n’est pas en soi répréhensible, laisse un sentiment étrange en raison du voisinage avec d’autres textes. Et peut-être M. de Clermont aurait-il été mieux inspiré en procédant à un examen attentif et critique dufonctionnement de certaines structures ou organisations s’ap propriant l’adjectif „évangélique“ pour des activités qui ne le sont guère. Chacun dans sa sphère, en particulier dans le domaine de la vie publique et de la défense des libertés individuelle et collectives, a beaucoup à faire. Le législateur ne peut que souhaiter bénéficier du renfort des grandes religions existant dans notre pays, bien entendu dans le respect de la loi de 1905[...].“ ebd. S. 3682. 673 Ebd. S. 3681, S. 3689.

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einigen Kommentaren hervorging,674 nur sehr begrenzten Einfluss, was ihre Einwände betraf. In einem konkreten Fall wurde ein Einfluss von religiöser Seite direkt abgelehnt und so ein Bereich festgelegt, von dem „Religion“ generell ausgeschlossen werden sollte. Dies zeigt, wie das „Kopftuchurteil“ im Jahr 2004, dass im Parlament „Religion“ generell anscheinend mehrheitlich im öffentlichen Raum und in Bezug auf beeinflussbare Menschen abgelehnt wird. Die tendenzielle „Säkularisierung der Sektendebatten“ wurde bereits in Kapitel 5 durch den parlamentarischen Rahmen erklärt, in dem die Qualität von Religion idealiter nicht verhandelt werden durfte. Dies hatte aber auch zur Folge hatte, dass die Grenzen zwischen anerkannter und nicht anerkannter Religion undeutlich wurden und die Kirche sich vom APG am Ende der Verhandlungen selbst bedroht sah. Wenn, dann wurde eine derartige qualitative Unterscheidung zum Beispiel über die Bezeichnung „Sekten“ im Sinne „falscher Religion“ mit Betrugsabsichten umgesetzt.675 »Evoquant une déclaration du fondateur de cette dernière secte, selon laquelle, pour devenir millionnaire, le meilleur moyen consiste à fonder sa propre religion, il a fait valoir que, mues par des intérêts exclusivement financiers, les sectes convoitaient le patrimoine de leurs adhérents.«676

Vorbehalte gegen „Religion“ allgemein klangen auf verschiedene Arten immer wieder in den parlamentarischen Debatten an und insofern kann an dieser Stelle ausdrücklicher als in Kapitel 5 gesagt werden, dass in den parlamentarischen Debatten ein religionsfeindlicher Unterton aus einigen politischen Milieus zutage tritt, der in den öffentlichen Debatten mit der starken Partizipation kirchlicher Vertreter weitestgehend fehlte oder unsichtbar blieb. Die eingangs genannten Konzepte der Aufklärung, die von Picard und anderen verwendet werden, richteten sich in ihrer ursprünglichen Bedeutung vor allem gegen die katholische Kirche und erinnert so auch an diesen Aspekt auf französischer Kultur(-geschichte). Abgesehen von diesem weniger auffälligen Sub-Text, blieb vordergründig bei „Sekten“ als kriminelle, zuweilen „pseudo-religiöse“, Vereinigungen. Indem „Sekten“ als kriminelle Vereinigungen definiert werden, konnten sie, ohne mit den Prinzipien der Verfassung zu konfligieren, in den französischen Rechtskorpus eingepasst werden.

674 Siehe auch Duvert, Anti-Cultism, 2004, S. 47. 675 Siehe Kapitel 5. 676 Compte Rendu (°71) 02.06.1998 (Séance de 10 heures). Vgl. hierzu auch Her vieuxLégèr, Obsession, 2004.

232 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN «

D IE R OLLE

DER FRANZÖSISCHEN

L INKEN

UND DER

UMP

An dieser Stelle wird fortgefahren, politisch-ideologische Gemeinsamkeiten unter den „Sekten“-Gegnern zu identifizieren. Dazu werden die Ergebnisse aus Kapitel 4 werden unter Hinzuziehung der weiter hinzugekommenen Ergebnisse neu evaluiert werden. Die oben angesprochene Behandlung der „Sekten“ als die traditionelle „soziale Frage“ innerhalb der republikanischen Gesellschaftskonzeption als „Sündenbock“ und noch mehr Thema, „an dem die Gegensätze sich einen“ (analog zum weiteren Verständnis des Themas „Sekten“ als group holder aus Kapitel 4) erscheint zwar als besonders wichtig für die abschließende Diskussion. Um den Prozess, in dem „Sekten“ in diesem Format stilisiert wurden noch genauer aufzuschlüsseln, wurden für folgende Ausführungen der sprachliche Duktus, die thematischen Übereinstimmungen zwischen relevanten politischen Akteure vor dem Hintergrund der politischen Gesamtsituation zu diesem betrachtet. Der Ausgangspunkt am Ende des vierten Kapitels war die Feststellung, dass gerade zu Beginn des verstärkten politischen Interesses an den „Sekten“ Mitglieder der Parti Socialiste, 1983 mit Alain Vivien und seit den 1990er Jahren allen voran mit Catherine Picard aktiv in Erscheinung traten. Die Parti Socialiste vereinte ab dem Jahr 1969 viele kleinere linke Gruppen in sich und stellte mit François Mitterand von 1981 bis Mitte 1995 den Staatspräsidenten. Bezüglich des „Sekten“-Themas sind insbesondere drei Faktoren relevant. Die Parti Socialiste repräsentierte kurz vor der Ära Mitterand am Anfang der 80er Jahre am besten den Bevölkerungsdurchschnitt, was zum Teil erklärt, warum gerade hier die Besorgnis in der Zivilbevölkerung aufgegriffen wurde. Anfang der 1990er Jahre, in der sich ein politisches Versagen der Partei unter anderem in weiter steigenden Arbeitslosenzahlen manifestierte und ein der der PS als Regierungspartei zu erahnen war, verloren die Sozialisten mit dem Zusammenbruch der realsozialistischen Systeme des Ostblocks zusätzlich an ideologischer an Legitimation. Die Partei vollzog eine programmatische Erneuerung zum „Nouveau Contrat pour la République sociale“, reagierte also mit einem Rückgriff auf die historischen Werte des Republikanismus mit der citoyenneté als zentralem Konzept, woran sich auch nach Mitterand wenig änderte.677

677 Vgl. Ina Stephan: Aufstieg und Wandel der Parti socialiste in der Ära Mitterand (1975-1995). Kern et al. (Hg:): Europa- und Nordamerika-Studien Bd. 8, Opladen: Leske&Budrich, 2001, S. 221.

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In dieser Zeit wirtschaftlicher Schwierigkeiten wurden, um das individuelle Gefühl von Verantwortlichkeit aufseiten der Bürger zu stimulieren, die Staatsbürgerrechte von den Linken rhetorisch bis in die politische Sphäre hinein aufgewertet. Die individuelle Verantwortlichkeit und die Notwendigkeit stärkeren Eigenengagements sei, nach Stephan, bei allen Aspekten der wirtschaftlichen Krise als „Allheilmittel“ gereicht worden.678 Diese Entwicklung und die neo-republikanische Wende im sozialistischen Parteiprogramm erklärt zunächst die von dieser Seite eingebrachten Verweise auf republikanische Ideen in Verbindung mit der Verwendung verschiedener Begriffe der Aufklärung als Bestandteile ihrer politischen Position. Ein genauerer Blick auf die tatsächliche Zusammensetzung der involvierten Personen verweist auch auf Nicholas About, George Fenech und Alain Gest als einflussreiche Vertreter der „Anti-Sekten“-Agenda aus dem rechten Spektrum, besonders der UMP (Union Pour un Mouvement Populaire). Beide Parteizusammenschlüsse teilen die republikanische Philosophie und trafen sich hier vor allem in Bezug auf die die Betonung des freien Individuums,679 die seit ihrer Programmerneuerung erneut ein ebenso zentrales Thema der Linken war.680 Darüber hinaus sieht sich die UMP jedoch generell als politischer Gegenspieler der Linken,681 so dass die Kooperation, die mit Picard und About begann und bis heute besteht, noch weiterer Erklärung bedarf. Stephan konstatiert auch eine allgemeine Tendenz der Linken zur abstrakten, prinzipienbezogenen Argumentation,682 die wie gezeigt wurde, in den parlamentarischen Debatten um die „Sekten“ großen Raum einnimmt. Die Funde abstrakt republikanischer Argumentation in den Quellen können mit Catherine Picard, Jean-Paul Brard, Martine David auch überwiegend auf 678 Stephan, Aufstieg, 2001, S. 147. 679 Webseite der UMP „Nos Valuers“, URL: http://www.u-m-p.org/notre-parti/nos-va leurs ]XOHW]W HLQJHVHKHQ DP  YJO 5ROODQG la loi du 12 juin, 2003, S. 148. 680 Die Annahme des gemeinsamen Nenners in Bezug auf republikanisches Gedankengut ist auch jenseits der Programmänderung auf Seiten der Partie Socialiste plausibel: Die französische Linke wies und weist Besonderheiten auf und wird aus seit der dritten Republik von einigen Historikern gänzlich eher als Spielart des Republikanismus und philosophisch orientiert, als eigenständige, praktisch wirksame politische Richtung verstanden. Gerade ihre mittelständischen Vertreter seien z. B. marxistischem Denken eher fern (nach Robert Tombs: History and the French Left. 1830-1981, in: The Histo rical Journal, 31, 3, 1988, S. 733-744, hier S. 736-744. 681 Vgl. Ebd. 682 Stephan, Aufstieg, 2001, S. 21.

234 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « Sprecher aus dem linken Spektrum zurückgeführt werden. In Verbindung den obigen Ergebnissen zur Besetzung von Positionen, die der „Sekten“-Bekämpfung gewidmet waren und sind, einer Auszählung der längeren Redebeiträge im Parlament sowie und über die verwendete Rhetorik ergibt sich, dass die Akteure aus dem linken Spektrum die sichtbarsten, mit dem größten Redeanteil im Parlament waren. Im Zusammenhang mit deren programmatischer Neuorientierung erklärt sich die neo-republikanische Prägung großer Teile der ganzen Debatte durch die Verortung der rhetorisch treibenden Kräfte hinter der Politisierung der Sekten“Konflikte" überwiegend im linken Milieu. Da die meisten Redebeiträge der Linken zugeordnet werden können, ist wahrscheinlich, dass die resultierende Agenda dann von den Vertretern der UMP mitgetragen und von ich ihnen vor allem, weniger sichtbar, deren praktische Umsetzung unterstützt wurde. Die letztendliche Kooperation in Bezug auf das Thema ist vor allem nach den Änderungen im sozialistischen Programm nicht überraschend, zumal nun die Betonung des freien Individuums das republikanische Ideal einen gemeinsamen Nenner auch über diese beiden Fraktionen hinaus darstellte. Zudem betrafen der weite Sektenbegriff und die Vielfalt der hiermit in Framingprozessen verbundenen Themen nicht mehr nur Angelegenheiten der „Opfer“, sondern auch wirtschaftliche und politische Interessenlagen und verbesserte so die Anschlussfähigkeit der „Anti-Sekten“-Agenda auch im entgegengesetzten politischen Spektrum.



Aus politikwissenschaftlicher Sicht überrascht das willige Aufgreifen eines gemeinsamen Themas ebenfalls nicht. Laut Stephan leiden in Frankreich auch Parteien unter der konzeptionellen Individualisierung der Gesellschaft, insofern ihr Handeln als Gruppe beschränkt und die innere Bindung gewöhnlich weniger stark sei. Letzteres werde immerhin durch die Selbstverortung im Rechts-LinksSchema relativiert.683 Das französische Parteiensystem betone außerdem die repräsentative Funktion der einzelnen Parteien, weshalb sich im Parlament dauerhafte gesellschaftliche Konflikte widerspiegelten und Einigungen unter den Parteien sich häufig schwierig gestalteten.684 Vor diesem Hintergrund erscheint die oben angesprochene, traditionelle „soziale Frage“ mit den „Sekten“ in der Rolle des traditionellen „inneren Feindes“ als sehr plausible Erklärung der Situation. Im „politischen Theater des französischen Parlamentarismus“685 (welches zu Instabilität neigt und innerhalb dessen Einigungen schwer zu erzielen sind) nehmen les sectes die strukturell fest verankerte Position des „inneren Feindes“ ein, gegen den la République sich vor allem in Krisenzeiten eint und über den der französisch683 S. 20. 684 S. 21. 685 Ehrenberg, Unbehagen, 2010, S. 267.

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nationale Gründungsmythos angesichts äußerer Verunsicherung und innerer Probleme aktualisiert wird. Hierauf deuten auch die Ergebnisse des Vergleichs mit der Verfolgung der sorcières, zumindest kann das fast lückenlose Alternieren von Problemen, denen mit aufklärerischem Vokabular begegnet wird, als fester Bedarf an einem internen Gegenspieler, gegen den die eigene, gemeinsame Position extrapoliert wird, interpretiert werden. Wichtig ist an dieser Stelle anzumerken, dass bei weitem nicht alle Parlamentarier ein ebensolches Interesse an diesem Thema artikulierten und dass diese indifferente Haltung wie die Unterstützung der Agenda quer zu den Fraktionsgrenzen verläuft – die Diskussionen werden vorwiegend von denselben Personen geführt.686 In den hier zugrundeliegenden Quellen konnten überwiegend nur die Aussagen der dominanten „Sekten“-Gegner untersucht werden, während angenommen werden muss, dass potenzielle Gegenstimmen nicht erfasst wurden, da sie aus mangelndem Interesse nicht geäußert wurden.687 Die Kritiker aus der Wissenschaft688 und aus den Reihen der betroffenen NRB wurden im Parlament nicht gehört und die der anerkannten Religionsgemeinschaften mussten ihre Kritik vorsichtig anbringen und konnten sie nicht durchsetzen. Patrice Rolland fokussierte ihre Analyse auf die liberaleren Stimmen, die Véronique Altglas689 als Beleg für die Uneinigkeit des Staates anführt. Rolland stellt den Einfluss liberalerer Positionen u. a. daran fest, dass offiziell kein spezielles Ausnahmegesetz erlassen wurde, sondern „nur“ die bestehenden Rechtsmittel verschärft wurden und keine substanzielle Definition einer „Sekte“ in das APG einging. Sie schreibt aber vor allem Letzteres aber ebenso weniger liberalem Engagement für zu Unrecht verfolgte Gruppen als den definitorischen Schwierigkeiten zu.690 De facto sei, so Rolland, hier ein repressives Gesetz geschaffen worden, da diese allgemeine

686 Kapitel 4, siehe auch die a. a. O. dort nicht berücksichtigte Mitgliederliste der Groupe dҲétudes du groupe dҲétudes sur les sectes der Assemblée Nationale; Webseite, URL: http://www.assemblee-nationale.fr_organe=/11/tribun/xml/xml/organes/59980.xml; zuletzt eingesehen am 24.04.2013. 687 Vgl. Rolland, la loi du 12 juin, 2003, S. 148-166. 688 Die es in Frankreich in großer Zahl gab – fast alle genannten französischen Soziologen und Juristen von Hervieux-Légèr, Duvert, Esquerre, Willaime, Hincker und Rolland über Francis Messner und die, die zu dem von Messner herausgegebenen Sammel band; Messner, Sectes et le droit, 1999, beitrugen, kritisierten das Vorgehen der „Sek ten“-Gegner und die rechtlichen Neuerungen zum Teil auf das Schärfste. 689 Altglas, French Cult Controversy, 2008, S. 55-57. 690 Rolland, la loi du 12 juin, 2003, S. 154-157.

236 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « Rechtsetzung speziell auf „Sekten“ anwendbar sei.691 Dies deckt sich mit den Ergebnissen der vorliegenden Studie zur impliziten Definition einer „Sekte“ in ihrer Bedeutung aus dem öffentlichen Diskurs.692 Mit Blick auf das hier verwendete Material und auf die Entwicklung der Anwendungspraxis kann Rollands Befunden jedoch hinzu gefügt werden, dass die Prinzipien der individuellen Religionsfreiheit, das Recht, Vereine zu gründen sowie Stimmen gegen die Diskriminierung bestimmter Gruppen immer wieder kritisch eingebracht und auch so die Umsetzung der „Anti-Sekten“-Agenda modifiziert und abmildert wurde, auch wenn darüber hinaus ist ein spezielles Engagement für die betroffenen NRB nicht festzustellen ist. Das Ergebnis der parlamentarischen Debatten kann so als Resultat einer Kombination starker Fürsprecher der Agenda, der Initiative einiger Politiker aus dem linken Spektrum und deren Kooperation mit Politikern der UMP und mangelnder gegenteiliger Fürsprache für die „Sekten“ interpretiert werden, während Versuche, grundlegende rechtliche Prinzipien in diesem Zusammenhang zu wahren, erfolgreich unternommen wurden.

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DES ZWEITEN

H AUPTTEILS

Auf Basis der Tiefenanalyse der in identifizierten explizit angesprochenen Themen, der impliziten Verweise und einer genaueren Analyse der Akteurdynamiken ergaben sich zunächst drei weitere, miteinander verbundene Hintergrundaspekte der Konflikte, die ihre Bedeutung für den Außenstehenden erschließen können Der Kampf gegen les sectes lässt (erstens) als eine Fortsetzung des Konfliktes mit der katholischen Kirche und anderen politischen Gegenspielern im inneren es Landes verstehen. der fundamental mit dem Gründungsmythos der französischen Nation verknüpft ist. Dieser wird im Parlament regelmäßig neu inszeniert,693 wodurch eine scheinbare Einheit und eine gewisse Stabilität der stark fragmentierten politischen Positionen im Parlament und Interessen erreicht wird und der Glaube auch an die gemeinsame Handlungsfähigkeit durch ein gemeinsames Ziel aktualisiert wird.694 Der hierzu notwendige, gemeinsame innere Feind wird traditionell unter dem Stichwort la Question Sociale und auch darüber hinaus rhetorisch ähnlich verhandelt und sich gegen „ihn“ gemeinsam abgegrenzt. Auch die „Sekten“ der 1970er

691 S. 157 f., 163. 692 Kapitel 5. 693 Vgl. Ehrenberg, Unbehagen6YJO6WHSKDQAufstieg, 2001, S. 221. 694 Siehe weiterführend: Hayward, Jack: Fragmented France, 2007.

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und folgenden Jahre werden (zweitens) im untersuchten Zeitraum, auf diese Art in traditionelle Konfliktstrukturen eingepasst. »En combattant les sectes, formes modernes d‫ތ‬obscurantisme et d‫ތ‬oppression, nous avions conscience alors comme aujourd‫ތ‬hui d‫ތ‬être fidèles à l‫ތ‬héritage des Lumières. L‫ތ‬ensemble de ces propositions, qui s‫ތ‬inspirent des principes fondateurs de notre République, ont été votées sur tous les bancs de l‫ތ‬Assemblée.«695

Die dabei verwendeten Begriffe und Themen sowie die Art, wie die „Sekten“ der Gegenwart, dargestellt werden, erklären sich (drittens) durch Verweise auf die republikanische Staatsphilosophie, die, als Gegenstand schulischer Curriculae, bis zu einem gewissen Grad als von allen Franzosen verinnerlicht angenommen werden kann. „Sekten“ werden als der innere Feind dargestellt und rhetorisch plausibel gemacht, der das rationale und frei entscheidende Individuum als wichtigste Konstituente des „Gemeinwillens“ der Republik bedroht. So wird der vermeintliche Angriff der „Sekten“ auf die individuelle „Freiheit des Denkens“ politisiert und dessen Politisierung so legitimiert wird. Hierüber hinaus stoßen als „Sekten“ bezeichnete NRB an strukturelle Grenzen und Interessen anderer, werden als Fremdkörper wahrgenommen und geraten mit Staat und Familie in Konkurrenz. Die Gesellschaftsstruktur Frankreichs ist nach republikanischem Modell stark individualisiert und ohne Einbeziehung emotionaler oder auf Ähnlichkeiten beruhenden Vergruppungen jenseits der Familie konzipiert. Gemeinschaften unterhalb der nationalen Ebene „dürfen“ oder sollten entsprechend keine Ansprüche auf ein Engagement ihrer Mitglieder haben, die jenseits eines definierten Zwecks das Individuum in der Erfüllung der Staatsbürgerpflichten (die Rationalität und Hingabe an die republikanische Idee erfordern) beeinträchtigen oder gar eine Alternative zu familiärer „Wärme“ bieten. Les sectes, wie vormals die Kirche, treten hier in eine Konkurrenz mit Familien auf der einen und mit dem Staat auf der anderen Seite. Dies geht aus den „Opfer“-bezogenen Argumentationen über „Sekten“ als „Zerstörer von Familien“ und aus Äußerungen zum Schulunterricht, der die Kinder vor allem zu befähigten Staatsbürgern erziehen soll, hervor.696 „Sekten“ werden in diesem Zusammenhang als strukturelle Fremdkörper in der Gesellschaft wahrgenommen und als konkurrierende Ideologien (mit zu weit reichendem Geltungsanspruch) angesehen. Innerhalb dieser Konflikte auf politisch-ideologischer und struktureller Ebene, bei denen es um die Konstruktion von „Sekten“ als politische Gefahr und ihre Nicht695 AN: Compte Rendu. 30.05.2001 (2me lecture). 696 Siehe Kapitel 5.

238 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « Passung in die französische Gesellschaft geht, besteht ein empirischer Kern darin, dass die Kategorie der Minorität auch in Frankreich nicht existiert, von NRB aber häufig gefordert wurde. Auf vermittelnder Ebene zwischen Individuum und Staat ist lediglich die Form des Vereins vorgesehen. Die strukturelle Nicht-Passung der „Sekten“ ist insofern nicht ausschließlich frei konstruiert, sondern hat auch institutionelle Grundlagen. Ein empirischer Kern, von dem ausgehend abstraktere Argumentationen entwickelt werden, kann auch in anderen Zusammenhängen identifiziert werden. Hierzu gehören die konkreteren Debatten um als gefährlich wahrgenommene Gruppen, die einzelne Individuen schädigten, sie ihrer Familie und Gesellschaft entfremdeten oder diese Individuen bewusst benutzen würden, um diese Gesellschaft zu unterwandern. Die Argumente stützen sich nicht nur auf, zunehmend stark überhöht dargestellte einzelne Vorfälle mit „Sekten“, sondern auch auf die überraschend detaillierte Observation des alternativ religiösen Feldes, wenn auch die entsprechende Schlussfolgerungen grundsätzlich im Rahmen des Gefahrendiskurse gezogen werden. Die beiden genannten Vorwürfe, das Entfremden und Absorbieren Einzelner in der Gruppe und die netzwerkartige Unterwanderung der Gesellschaft, erscheinen zunächst widersprüchlich. Sie können jedoch auf zeitlich aufeinanderfolgenden Beobachtungen der Enquête-Kommissionen zurückgeführt werden. Neigten NRB in den 1970er und 1980er Jahren dazu, im Kommunen-Stil der Gesellschaft entsagen, entwickelte sich mit der Zeit die Tendenz, dass die Mitglieder ihre Berufe beibehielten und, dem Seklusionsvorwurf entgegen, welt-bejahend agierten.697 Dies ist durchaus kongruent zu den Beobachtungen aus dem GBR, nach denen die Gruppen ihre kollektive Identität zunehmend verschleiern und sich immer stärker am Markt orientieren würden. Aus wissenschaftlicher Perspektive fallen diese Entwicklungen in die Zeit, in der das „New Age“ in Europa und mit ihm eine zunehmende Individualisierung des alternativ-religiösen Feldes sichtbar wurde. Wie in Kapitel 5 gezeigt wurde, gingen diese Beobachtungen der „Sekten“-Gegner in die Debatten und, sehr viel pragmatischer, in die neu geschaffenen rechtlichen Maßnahmen mit ein. Sehr reale Konkurrenz zwischen Interessengruppen findet sich im Zusammenhang mit dem hier besprochenen „kulturelle Wandel“. Komplementär zur „Psychologisierung der alltäglichen Interpretationsschemata“ nach Ehrenberg wurde nicht nur die mit der manipulation mentale verbundene Vorstellung der psychischen Verletzlichkeit von Menschen öffentlich anschlussfähig und die Bedrohung durch die unlauteren Absichten der „Sekten“ plausibel. Zusätzlich reagierten viele

697 Vgl. hierzu Roy Wallis: New Religions as Social Indicators, in: Eileen Barker (Hg.): New Religious Movements: A perspective for understanding society, Vol. 3, 1982, S. 216-229.

D ARSTELLUNG

DER

E INZELERGEBNISSE

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NRB auf diesen gesellschaftlichen Trend und die von ihnen angebotenen alternativen, auch psychologischen, Therapien, setzten früh flexibel dort an, wo z. B. Individuen ihr „wirkliches, spirituelles Selbst“, ihr vorhandenes, noch ungenutztes Potenzial entfalten wollten oder eigene Probleme mit den bisherigen Theorien als nicht zufriedenstellend erklärt empfanden. Die NRB waren damit selbst Indikatoren und Akteure für Teile des kulturellen Wandels, innerhalb dessen gängige Interpretationsmodelle und Sinnquellen für einige teilweise oder ganz an Plausibilität verloren. Damit bedienten sie nicht zuletzt bestehende Bedürfnisse und wurden von etablierten Psychotherapeuten als Konkurrenz in diesem boomenden Sektor wahrgenommen. Auf der Seite der letztgenannten resultierte dies in Abgrenzungsbestrebungen und etwa ab dem Jahr 1998 in separaten Anträgen zum Schutz der Berufsbezeichnung „Psychologe“, was der „Anti-Sekten“-Agenda einen neuen Aspekt hinzufügte und diese dadurch, zusammen mit der neuen Agenda MIVILUDES zur Kontrolle der medizinischen Praxis, aktualisierte. Im Falle von derartigen Konflikten in Frankreich ist die relative Sicherheit bemerkenswert, mit die Grenzen zwischen „legitimen“ und „nicht-legitimen“ Praktiken anscheinend bestimmt werden können. Dies ist sicher auch der starken Verbindung positiv definierter säkularer Weltanschauung mit naturwissenschaftlichen Erkenntnismethoden und damit der Relevanz einer säkularen therapeutischen „Orthodoxie“ geschuldet. Als die Psychoanalyse die kirchliche Seelsorge für viele ablöste, wurden die Leerstellen eben nicht nur Therapeuten gefüllt. Als Reaktion hierauf wurden die NRB, die sich des der neuen psychologischen Themen annahmen, durch die Zuschreibung religiöser Konnotationen zusammen mit den traditionellen Religionen als im therapeutischen Sektor „illegitim wirkend“ klassifiziert. Die Anschlussfähigkeit des „Sekten“-Themas in der französischen Bevölkerung und im Parlament liegt also zwischen ideologischer Rhetorik, tatsächlichen Vorfällen und anderen empirischen Anstößen zur Kritik. Auf den abstrakteren Ebenen der Diskussion ergibt sich für den Betrachter klar das Bild einer Konsolidierung des eigenen Selbstverständnisses gegen die Kategorie des traditionellen inneren Feindes. Die betroffenen „Sekten“ sind hier in der Praxis nicht in der Lage, sich gegen diese Stilisierung zu wehren. Dieses Argument stützend, wird durch die Verortung des Ursprungs der „Sekten“ in den USA, die eigene Interpretation französischer Identität gleichzeitig auch nach außen abgegrenzt. Die realen Konflikte, in die NRB gerieten und die die sich verselbständigenden Debatten punktuell mit belebten, bezogen sich zum Teil zunehmend nicht nur auf ihre Wahrnehmung als strukturell unpassende kollektive Akteure, sondern sind auch als Konsequenzen ihrer Versuche, sich in entstehende gesellschaftliche Leerstellen „einzunischen“

240 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « verstehen, dass sie beim Versuch, sich einzunischen mit anderen Akteuren in denselben Sektoren konkurrieren und dabei nicht zuletzt gegen therapeutischen „Orthodoxie“ die verstießen. Auf Ebene der Akteure im Parlament, konnte die tatsächliche fraktionsübergreifende Übereinstimmung, mit den Sozialisten als Wortführern und Mitgliedern des rechten Spektrums als Unterstützern der Agenda herausgestellt werden. Als wirksames Verbindungselement wurde die Einbettung des Themas „Sekten“ in die republikanische Staatsphilosophie als gemeinsamer Nenner verschiedener Politiker herausgearbeitet. Zudem wurde das Thema, durch die frühe Medienarbeit der Kirchen und AKB und das das spezielle politisch-ideologische Framing im Parlament, auch durch seine apokalyptische Konzeptualisierung als Topos allgemeiner gesellschaftlicher Erosion plausibilisiert. Dieses stieß auf real vorhandene Verunsicherungen aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen sowie wirtschaftliche, soziale und politische Unsicherheiten, gegen die nicht nur ein gemeinsames Vorgehen der Politiker nötig war, sondern mit den „Sekten“ als „Sündenböcke“ könnte ebenfalls von politischen Fehlern (der Mitterand-Ära) abgelenkt werden. Der „Anti-Sekten“-Agenda selbst wurde zwar von liberaler Seite eher Desinteresse begegnet, diese aber zumindest dort, wo grundlegende Freiheiten bedroht gewesen wären, ausgebremst. Ein solcher Kritikpunkt war auch die theoretische Möglichkeit der Anwendung des APG auf andere als religiöse Vereine (zum Beispiel Gewerkschaften) und damit das Schaffen eines sehr viel weiter greifenden politischen Kontrollinstrumentes.698 Die Analyse der Bedeutung der französischen „Sektenkonflikte“ ist also in ihrer Breite auch mit dem zweiten Hauptteil nicht ganz abgeschlossen. Folgend werden die hiesigen Befunde mit Rückgriff auf das oben eingeführte Schema und unter Berücksichtigung weiter Gesichtspunkte, die sich nicht direkt aus dem Material ergaben, abschließend diskutiert.

698 Esquerre 20095ROODQG2003.

9. Diskussion

D IE „R ATIONALISIERUNGEN “

DES

S EKTENPROBLEMS

Wie sind die Argumentationen gegen „Sekten“ zueinander in Beziehung zu setzen? Mit dem hier gewählten Ansatz, wird davon ausgegangen, dass die gesellschaftlich wahrgenommene Wirklichkeit in Teilen von Akteuren verbal ausgehandelt und konstruiert wird. In den entsprechenden Argumentationen werden handlungsleitende Bezugspunkte, Werte, Normen, Bedeutungen und Zwecke offen gelegt, anhand derer die innere Logik der Konstruktionen sinnhaft nachvollzogen und auch von Außenstehenden verstanden werden kann. An dieser Stelle werden nun, soweit möglich, die argumentativen Strukturen über das bereits Gesagte hinausgehend in das oben eingeführte Schema eingeordnet und durch bis jetzt nicht berücksichtigte Informationen ergänzt. Der Begriff „Ordnung“ greift dabei insofern etwas zu hoch, als les sectes mit zu vielen Bedeutungen und Konnotationen belegt und die Debatten zwar nicht völlig diffus, aber logisch nicht vollständig in sich geschlossen sind. Wie bereits gezeigt wurde, werden auch unterschiedliche Legitimationsstrategien und Anknüpfungspunkte eines ähnlichen Abstraktionsgrades nebeneinander verwendet und können nicht immer mit direkten Bezug zueinander diskutiert werden.

„Vertikale Rationalisierungen“ des Sektenbegriffs „Vertikale Rationalisierungen“ bedeuten in diesem Zusammenhang, dass Subthemen auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen in einer begründenden Logik miteinander verbunden sind und weniger abstrakte Argumente in abstraktere, weiterreichende Argumentationen eingebunden wurden. Das „Sekten“-Thema betreffend, sind die Subthemen, die auf ein Niveau abstrakter Werte und struktureller

242 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « oder kognitiver Nicht-Passung gehoben werden, die durch die manipulation mentale bedrohte individuelle Freiheit (liberté de penser) mit den Topoi „gesellschaftliche Erosion“ und die „Werte der Republik“, bis hin zu den Menschenrechten. Die manipulation mentale ist der Anfang eines Argumentationsstranges, mit dem les sectes zur politischen Gefahr stilisiert wurden. Dieser Vorwurf ist mit den „Sekten“ so eng verknüpft, dass er in Form der sujétion psychologique in Verbindung mit dem abus faiblesse als zentraler Straftatbestand in das APG übernommen wurde. Zunächst wurde er in Frankreich als Erklärung für die Abwendung einiger Mitglieder von NRB von deren sozialen Umfeld verwendet, denn es wurde nicht angenommen, Familienmitglieder und Ehepartner taten dies aus freien Stücken. Laut Esquerre verbreitete UNADFI in der Frühphase der Konflikte Leitfäden zur Erkennung, ob sich ein Familienmitglied einer „Sekte“ annähert. Diese hätten sich auf „Veränderungen alltäglicher Gewohnheiten“ und die „Übernahme neuer Gewohnheiten“ wie zum Beispiel der Wunsch nach einer ausschließlich vegetarischen Ernährung, mehrtägiges Fernbleiben von der gemeinsamen Wohnung wegen eines Treffens der Gemeinschaft sowie Änderungen im Vokabular bezogen.699Indikatoren oder „Symptome“ der Mitgliedschaft in einer „Sekte“ werden also im privaten Bereich verortet und diese Anzeichen von „Entfremdung“ wurden dann zunehmend politisch konnotiert. Eine Ähnliche Debatte verlief in den USA unter dem Stichwort Brainwashing und war inspiriert von Vordenkern wie Magaret Singer, beschränkte sich jedoch überwiegend auf die „Anti-Kult“-Aktivisten und wurde von der amerikanischen Bevölkerung weit weniger angenommen als in Frankreich. In Frankreich wurde diese Debatte zur Debatte um manipulation vs. lҲautonomie abstrahiert und innerhalb der parlamentarischen Diskussionen mit Rückgriff auf die grundlegenden Werte der Republik und die Menschenrechte (wert-)rational legitimiert. Das oben bereits angedeutete Grundschema ist zusammengefasst etwa das Folgende: die zentralen Werte des idealen Konstruktes „französischen Republik“ beinhalten unter anderem Rationalität, Laizität, Fortschritt und die Freiheit des Individuums, vor allem Freiheit von geistiger und intellektueller Unterdrückung (die liberté de penser).700 Mit anderen Werten sind sie in den 699 Aus soziologischer Perspektive können treten habituelle Veränderungen bei einem Eintritt eines Individuums in neue soziale Kreise relativ regulär auf, insofern dieses anfängt sich an anderen Personen zu orientieren. 700 „Brüderlichkeit“ ist in diesem Zusammenhang schwer zu integrieren und auch Gleich heit ist eher als „bürgerliche Gleichheit“ (unter Ausschluss der armen Schichten) als absolut aufzufassen. Siehe für eine ausführliche Darstellung des praktischen Repub likanismus im Jahrhundert nach der französischen Revolution: Honohan/Jennings: Republicanism in Theory and Practice, 2005.

D ISKUSSION

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„Menschenrechten“ zusammengefasst und bilden so den abstraktesten Wertkanon, auf dem das französische Strafrecht und somit das APG basiert. Les sectes griffen mit ihrem vermeintlichen Angriff auf die geistige Autonomie eines Menschen dessen grundlegenden Freiheiten an,701 verstoßen damit angeblich gegen zentrale, universalistische Prinzipien, was als Konsequenz die Republik bedrohe, welche idealiter von rational handelnden Individuen getragen wird. Auf sozialphilosophischer Ebene resultiert aus dieser Betonung des Individuums als Konstituente der Nation dessen argumentative Politisierung. Les sectes werden als diejenigen stilisiert, die dem Individuum seine Autonomie und damit die Fähigkeit seine Staatsbürgerpflichten zu erfüllen durch Manipulation nehmen. Deshalb müssten die Bürger geschützt und les sectes mit aufwendigen Mitteln beobachtet (und gegebenenfalls bestraft) werden: »Dans le respect des principes républicains et des règles de l‫ތ‬Etat de droit, nous nous devons de protéger nos concitoyens contre tous les aspects de l‫ތ‬emprise sectaire, que les deux rapports parlementaires de 1995 et 1999, le travail de l‫ތ‬Observatoire interministériel des sectes, de la Mission interministérielle de lutte contre les sectes et du groupe d‫ތ‬études sur les sectes de l‫ތ‬Assemblée nationale, ainsi que les efforts des chercheurs et des associations d‫ތ‬aide aux victimes ont permis de mieux cerne.«702

In der „republikanischen Logik“ sind zudem mehrere „manipulierte“ Individuen bereits ein Aspekt der gesellschaftlichen „Infiltrierung“ durch „Sekten“. Dies gilt besonders dann, wenn die Personen dem Staat nicht nur durch Einbindung in eine Gruppe entzogen werden, sonders es sich um gesellschaftlich aktive Personen in administrativen, medizinischen, pädagogischen Institutionen oder sonstigen Schlüsselpositionen handelt, die von hier aus der im Hintergrund vermuteten Gruppe Einfluss verschaffen könnten. Dies lässt sich noch erweitert betrachten: die Werte, um die es geht, sind im Kontext der Menschenrechte vorrangig auf den individuellen Menschen bezogen und insofern nicht auf la République beschränkt. Dies erklärt, neben dem selbstzugeschriebenen Expertenstatus der französischen „Sekten“-Gegner, bereits in Ansätzen die gesehene Notwendigkeit Exportes der „Anti-Sekten“-Agenda in andere Staaten, die diesbezügliche Abwertung der Religionspolitik der USA und paternalistische Äußerungen gegenüber den „mit Religion unerfahrenen früheren Ostblockstaaten“. So wie die im Zusammenhang mit der „Sektenbekämpfung“ evozierten Werte potenziell auf „jeden“ Menschen abzielen, beziehen sich deren inhärente Geltungsansprüche – ebenfalls universalistisch – potenziell auf „alle“ Menschen über die nationalen Grenzen hinaus. 701 Siehe Überschrift des APG. 702 AN: Compte Rendu. 30.05.2001 (2me lecture).

244 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « Traditionell zeichnen sich linke Politiker in Frankreich durch eine moralisierendideologische Argumentationsweise und die säkularistische Interpretation von laïcité aus,703 so dass es nicht überrascht, dass das Schaffen einer multiplen Anschlussfähigkeit der ursprünglichen Argumentationen der AKB und dem, was sich über die Medien als allgemeiner Wissensbestand über „Sekten“ in der Bevölkerung durchsetzte, von dieser Seite übernommen wurde. Die skizzierte republikanische Interpretation kann dabei, mit Betonung der individuellen Freiheit und ihrem Rekurs auf den Gründungsmythos der Republik, zumindest in Grundzügen, nicht in allen Spielarten, auf eine durchgehende politische Anschlussfähigkeit setzen da es sich hierbei um konstitutiven ideologischen Grundlagen Frankreichs handelt,704 die den Ausgangspunkt politischen Denkens bilden und bis in die schulischen Curriculae festgeschrieben sind. Als separater Subthemenbereich ist an dieser Stelle zu erwähnen, dass die beiden Werte „Rationalität“ und „Aufklärung“ auch außerhalb explizit republikanischpolitischer Argumentationen und dann mit abweichender, vor allem naturwissenschaftlicher Konnotation relevant sind. Wenn wissenschaftliches (vor allem medizinisches und pharmazeutisches) und illegitimes (oft pseudo-religiöses) Wissen voneinander abgegrenzt werden sollen, bekommt „Laizität“ häufig eine Bedeutung im Sinne von „Atheismus“ (beziehungsweise „säkularem Humanismus“) oder „Nicht-Glauben“. „Atheistische“ Positionen werden innerhalb des „Anti-Sekten-Aggregates“ allerdings erheblich seltener offen vertreten oder in Verbindung mit der französischen nationalen Identität als Thema ins Parlament eingebracht. Wenn dies geschieht, schwingt zum Teil relativ deutlich eine gewisse Religionsfeindlichkeit im Sinne der Opposition gegen den „Obskurantismus“ in den Argumentationen der „Sekten“-Gegner mit. Akteure mit Eigeninteressen in denselben Sektoren wie die „Sekten“ äußern sich dahingehend auffällig wenig, abstrahieren ihre Argumente kaum bis auf die ideologische Ebene, sondern versuchen überwiegend pragmatisch ihre Interessen durchzusetzen. Zwischen der folgend besprochen Entgrenzung des Sektenbegriffs zur politischen Gefahr und einer vertikalen Rationalisierung steht auf „kognitiver“ Ebene (also nicht explizit als Wert formuliert) die „strukturelle Nicht-Passung“ von „Sekten“. Wenn „Sekten“, beziehungsweise NRB, die Form der rechtlich vorgesehenen administrativen Kategorien für „legitime Religion“, denen hauptsächlich die katholische Kirche und ihre Organisationsform als Hintergrundfolie diente, nicht entsprechen können, fallen sie, ohne dass dies genauer begründet werden müsste in 703 Stephan, Aufstieg, 2001. 704 Vgl. La Constitution française, 1958.

D ISKUSSION

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die negativ konnotierte „Restekategorie“ „nicht als Religionsgemeinschaft anerkannt“. Den als „Sekten“ bezeichneten nicht-anerkannten Religionsgemeinschaften wird außerdem unterstellt, politische Macht anzustreben und sich in allen gesellschaftlichen Bereichen etablieren zu wollen, sich also außerhalb der säkular bestimmten legitimen Grenzen religiösen Einflusses und Partizipation zu bewegen und damit quer zu den akzeptierten Strukturen zu agieren. Ein Teil des Aspekts „strukturelle Nichtpassung“ plausibilisiert sich, wie oben bereits besprochen, wieder auf gesellschaftsphilosophischer Ebene. Innerhalb der Gesellschaft nach republikanischem Ideal, in der das Individuum, „gesellschaftsvertraglich“ mit anderen Individuen verbunden und so direkt dem Staat gegenübergestellt ist, stören Vergemeinschaftungen die auf Gemeinsamkeit und Emotion beruhen, die bipolare Organisation zwischen der Nation und Familie. Als dazwischen vermittelnde Instanzen sind nur zweckgebundene Vergemeinschaftungen, vorgesehen, aber auch diese werden in Form von Vereinen und Parteien, werden als latent suspekt wahrgenommen, hatten sich aber zur Vermittlung partikularer Interessen gegenüber dem Staat notwendig gezeigt.705 Als auf Ähnlichkeit der Anschauungen beruhenden Gemeinschaften stehen les sectes aber auch politische Gruppen quer zu dieser Ordnung zwischen Staat und Familie und werden als Konkurrenz und Bedrohung der staatlichen Ansprüche an die Bürger wahrgenommen. Solche Vergemeinschaftungen stehen neben der Infiltrierung zur Selbstbereicherung, auch im Verdacht, politische Machtbestrebungen zu hegen, zu dem sich im Rahmen der „Sekten“Debatten separater Argumentationszweig im Sinne eines „Totalitarismusstreits“, in Abgrenzung zum Streit um dezidiert religiöse gesellschaftliche Einflussnahme, herausgebildet hatte. Dieser wurde in der vorliegenden Untersuchung bis jetzt nur am Rande erwähnt, da es in den verwendeten Quellen relativ wenige explizite Hinweise darauf gibt. Unter anderem wissenschaftliche Kritiker der „Anti-Sekten“-Agenda in Frankreich hielten den hierhinter stehenden Akteuren vor, im Rahmen der Agenda alternative-politische Gruppen generell unterdrücken zu wollen. Dieser innerfranzösischen Kritik an der „Anti-Sekten“-Agenda wird sich folgend ausführlicher gewidmet, weil hierdurch die nicht-religiösen Konnotationen des Sektenbegriffs verständlicher werden.

705 Siehe: Della Sudda, Associations and political Pluralism, 2012, S. 161-165.

246 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « Die „Entgrenzung“ der Bedeutung des Sektenbegriffs hin zur politischen Gefahr Die politischen Konnotationen des Sektenbegriffs werden zum Beispiel im Versuch Abouts, „Sekten“ im Rahmen des Gesetzes für „terroristische Vereinigungen“ aufzulösen sichtbar. Praktisch deuteten sie sich zudem in der oben beschriebenen „entgrenzten“ Verwendung des Begriffs für andere Parlamentarier, Gewerkschaften, Kommunen und generell unerwünschte politische Forderungen an. Diese politische Konnotation wird im Parlament selten verwendet, sondern jenseits des folgenden Beispiels, eher negiert: »(J.-P. Brard:706) En légiférant aujourd‫ތ‬hui, nous dévoilons à l‫ތ‬opinion le vrai visage de ces organisations qui tentent de mettre en pratique, en leur sein et dans notre société, une idéologie totalitaire [...].«707

Dieser Aspekt betont „Sekten“ als gesellschaftliche und ideologische Gegenspieler ein und diesbezüglich wird nicht von „Religion“, sondern „totalitären Ideologien“, also schwerpunktmäßig von Gruppen mit (potenziell) äquivalenten politischen Geltungsansprüchen gesprochen, die bekämpft werden müssten. Diese zusätzliche Konnotation, in den parlamentarischen Debatten seltene Konnotation, war hier zunächst nicht sofort nachvollziehbar. Arnaud Esquerre als französischer Wissenschaftler erklärt den Erlass des APG jedoch unter anderem als staatlichen Versuch, dessen Kontrollmöglichkeiten bis ins Private und Psychische auszudehnen.708 Die Vorwürfe gegen „Sekten“, totalitäre Organisationen zu sein, spielten nach Rolland und Esquerre sogar eine sehr wichtige Rolle.709 In den hier untersuchten Quellen wird „Sekten“ zwar vorgeworfen subversive Motive zu verfolgen um unter dem „Deckmantel des Religiösen“ andere politische ZLHOH]XHUUHLFKHQ die Modifikationen N. Abouts‫ ތ‬erster proposition de loi (°79) deuten jedoch in eine etwas andere Richtung. Aufschlussreich ist, dass abgelehnt wurde, „Sekten“

706 Brard äußert sich überdurchschnittlich häufig und sehr ausladend zum Thema – er ist ein Experte für die gesellschaftliche Dimension der „Sektenproblematik“, Co-Autor des GBR und, wie seine Parlamentskollegen an verschiedenen Stellen bemerkten, ein sehr guter Rhetoriker – wodurch ein größerer Teil der nicht-pragmatischen Diskussi onen von ihm bestritten wird und es deshalb nicht verwundert, dass gerade er diesen Aspekt in Bedarf an Argumenten aufgreift. 707 AN: Compte Rendu, 30.05.2001, (2me lecture). 708 Vgl. Esquerre, manipulation mentale, 2009, S. 57, 350 f. 709 (EG5ROODQGla loi du 12 juin, 2003, S. 151.

D ISKUSSION

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als terroristische Vereinigungen zu handhaben und dass Catherine Picard, zumindest mündlich, eine Verwendung des Gesetzes gegen zum Beispiel Gewerkschaften und politische Parteien ausschloss. In ihrer diesbezüglichen Kritik an den „Sekten“-Gegnern drücken sich vielmehr das Misstrauen und die Befürchtungen einiger französischer Forscher und einiger Politiker in Erinnerung an die repressive Vorgehensweise staatlicher Kräfte gegen französische Studenten während der 1968er Studentenproteste aus. Eine Verwendung des APG für derartige Zwecke wurde tatsächlich befürchtet und Anträge wie der erste von About dementsprechend mehrheitlich abgelehnt. Denn das autoritäre Handeln der Regierung, die gewaltätigen Polizeieinsätze gegen Studierende, Straßenschlachten, die Schließungen französischer Universitäten und vielfache Festnahmen im Jahr 1968 konnten im Fernsehen flächendeckend verfolgt, werden und haben das kollektive Gedächtnis in Frankreich ebenso geprägt. Sie erregten damals großen Zorn und Solidarität mit den Studierenden in weiten Teilen der Bevölkerung. Eine offizielle Assoziierung der „Anti-Sekten“-Agenda mit totalitären Kontrollansprüchen des Staates wäre für die „Sekten“-Gegner also hinderlich gewesen, was die seltene Verwendung derartiger Argumente, aber deren Spuren, im Parlament erklären kann. Die abstrakte (a-religiöse) Definition des Straftatbestandes im APG, durch die die katholische Kirche sich gefährdet sah, konnte tatsächlich ebenso für politische Zusammenschlüsse und daran beteiligte Einzelpersonen kritisch gesehen werden. Auch wenn vom APG in der Praxis hauptsächlich NRB und alternative Heilmethoden betroffen waren, mag die zusätzlich darin enthaltene Verbindung von „totalitär“ und „manipulativ“ entsprechende Befürchtungen befördert haben. Auch dass der Staat gegenüber den NRB anfangs, entgegen der Kritik vonseiten der Kirche, wohlwollend eingestellt und deren Potenzial zur Bindung marginalisierter Individuen laut Beckford sogar genutzt hatte,710 macht obige Befürchtungen einiger französischer Politiker und Wissenschaftler nachvollziehbar. Der Verdacht, dass APG sei als weiterreichendes Kontrollinstrument gegen jede Art politischer Abweichung favorisiert worden, widerspricht den hier vorliegenden Befunden nicht Geringsten. Belegt werden kann dies jenseits schwacher Indizien auf der Basis des hier verwendeten Materials jedoch nicht und die relative Wichtigkeit dieses von Esquerre betonten Aspekts im Rahmen der „Sekten“-Debatten dementsprechend nicht abschließend eingeschätzt werden. Esquerres und Rollands Interpretationen stellen jedoch einen Fall dar, in dem auch von nicht-religiöser Seite direkte Kritik an den „Anti-Sekten“-Aktivisten und dem von ihnen geplanten Gesetz laut wurde.

710 Beckford, Control, 1981.

248 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « Der „innere Feind“ und historische Dimension des Sektenbegriffs Die eben besprochene „Entgrenzung“ des Sektenbegriffs thematisiert die Breite der Konnotationen, mit denen „Sekten“ belegt werden, was zusammen mit dem Gebot der Nicht-Diskriminierung zur abstrakten Definition des Straftatbestandes (und damit indirekt des Täterprofils) im APG führte. Dadurch fühlten sich auch andere Gruppen als NRB bedroht und standen dem Gesetz entsprechend kritisch gegenüber. Auch in der Verwendung in den parlamentarischen Debatten wurde nachgewiesen, dass der Sektenbegriff in seiner Bedeutung weit über „NRB“ hinausgeht. In diesem Zusammenhang wurden vereinzelt explizite Verweise auf die historische Verwendung des Sektenbegriffs gefunden sowie einige historische Kontinuitäten in der Verfolgung des Aberglaubens zu den heutigen „Sekten“ festgestellt. Beides deutet eine zusätzliche, historisch gewachsene, Bedeutung des Themas an, die an dieser Stelle knapp erläutert wird. Eine, wie hier am Material herausgestellte, areligiöse, politische Verwendung des Begriffs auch zur gelegentlichen Abgrenzung von nicht-religiösen, aber unliebsamen Parteien, Vereinen, politischen Gegnern, die nicht per se so klassifiziert sind, ist, so Esquerre, in Frankreich etwa seit der französischen Revolution „üblich“.711 Historisch vorausgehend wurde der Begriff von der katholischen Kirche gegen (religiöse) Häresien, seit der Revolution jedoch darüber hinaus für fast alles Fremde und als politischer Kampfbegriff, zum Beispiel auch gegen die Sozialisten, verwendet.712 Mit les sectes selbst wurde also mitnichten eine neue Kategorie geschaffen, sondern es handelt sich vielmehr um eine ältere Kategorie, die mit neuen Inhalten (einer neuen Art der Gefahr) – NRB – gefüllt wurde. Diese hat große Parallelen zur Kategorie des traditionellen, „inneren Feindes“ und der question sociale, gegen den und an der die Politik sich eint und auf die bereits von Palmer, Hervieux-Légèr und Ehrenberg in diesem Zusammenhang verwiesen wurde. Diese Kategorie ist abstrakter und transportiert vor allem die Rolle und Funktion des inneren Gegenspielers für die kollektive politische Identität in Frankreich, die für die gegenwärtigen französischen „Sekten“ bereits herausgestellt wurde. Die gegenwärtige Breite der Verwendung des Sektenbegriffs sowie seine Stilisierung zum fast abstrakten Bösen unterstreichen seine Funktion als abstrakte, negative Kategorie, an welcher die „Nation“ und die gemeinsamen Werte

711 Vgl. Esquerre, manipulation mentale, 2009, S. 58. 712 Vgl. ebd.

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positiv extrapoliert werden können. „Secte“ kann demnach als eine (objektsprachliche) Bezeichnung für den traditionellen „inneren Feind“ mit historischer Kontinuität verstanden. Die Breite und Ausgestaltung des Bedeutungsspektrums des gegenwärtigen Sektenbegriffs kann vor diesem Hintergrund ergänzend zu den beschriebenen Framing-Prozessen erklärt werden. In Anbetracht der langen Verwendungsgeschichte der Kategorie ist erstens anzunehmen, dass vorhergehende Bedeutungen (die Kirche, bestimmte politische Agenden oder Parteien, die linken Protestgruppen der 1968er Jahre) als Inhalt der Kategorie weiter mitschwingen und automatisch mit ihr assoziiert werden (wenn sie nicht sogar bewusst im Sinne eines Framings eingebracht werden um das eigene Argument zu verstärken). Zweitens hat diese historische Kategorie im Sinne des „inneren Feindes“ einen politisch stabilisierenden Effekt und kann nicht ersatzlos wegfallen (wenn sie auch gegebenenfalls anders benannt werden könnte). Im Fall der als „Sekten“ bezeichneten NRB sind sich die Sprecher im französischen Parlament besagter Historizität nachweislich bewusst, reflektieren und evozieren diese. Dieses Element der gegenwärtigen Debatten ist also nicht (nur) unbewusste Übernahme einer Terminologie, sondern Teil der Konstruktion des gegenwärtigen Sektenbegriffs in Abgrenzung zur eigenen Identität. Und dieser Effekt tritt verlässlich ein, weil die Kategorie secte eine bekannte historische Kategorie in der Bedeutung des „inneren Feindes“ oder des „unerwünschten Anderen“ mit andauernder gesellschaftlicher Relevanz, gerade in Zeiten gesellschaftlicher Unsicherheiten, ist.713

„Horizontale“ oder „parallele“ Rationalisierungen Im Zuge der Ausweitung und Abstrahierung des „Sekten“-Themas wurde es nicht nur abstrahiert und ideologisiert, sondern, wie oben ausführlich beschrieben, auch 713 Zur Ergänzung: Esquerre interpretiert die Situation in Bezug auf die Akteure im Sinne einer mentalen Repräsentation und schreibt in erkennbar Foucault‫ތ‬scher Tradition in diesem Zusammenhang die Debatten um die manipulation mentale als Anstrengung der „Anti-Sekten“-Akteure, die Definitionshoheit über das, wasgesund und krank – den sozialen Ausschlusskriterien schlechthin – ist für sich zu behaupten, weshalb die se verschiedene NRB innerhalb dieser Negativkategorie verortet werden würden (vgl. Esquerre, manipulation mentale, 2009, S. 350 IVLHKHZHLWHUIKUHQG0LFKHOFoucault: Wahnsinn und Gesellschaft: Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Ver nunft. Suhrkamp Verlag [Taschenbuch Wissenschaft], 1973. [OA: Histoire de la folie, 1961]).

250 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « thematisch in die Breite aufgefächert. Mit „horizontalen Rationalisierungen“ sind Themen auf einem ähnlichen Abstraktionsniveau gemeint, die im Sinne einer Aufzählung von Vorwürfen oder Ereignissen nebeneinander stehen und in vertikale Rationalisierungen als empirische Beispiele oder Ausgangspunkte der Argumentationen eingebunden sein können. Ein Beispiel hierfür ist der „Panda-Skandal“ als Medienereignis zu nennen, der seinerseits speziell Besorgnis und Gedanken zu einer wirtschaftlichen Infiltrierung durch „Sekten“ schürte. Diese wiederum ist verbunden mit der Anwerbung von „Sekten“-Mitgliedern aus den gebildeten Mittelschichten, der Tarnung bestimmter Gruppen als Wirtschaftsunternehmen und steht eher parallel zu anderen entworfenen Infiltrierungsszenarios durch politisch subversive und totalitäre Gruppen oder auf sozialer Ebene durch Schlüsselpersonen. Die wirtschaftliche Bedrohung durch „Sekten“ ging vor allem über „Betrug“ ins APG und die Rechtspraxis ein und ist kaum argumentativ an den Vorwurf der finanziellen Ausnutzung der Adepten gekoppelt. Die „parallelelen“ Rationalisierungen stellen in der Analyse lediglich Ergänzungen zu den zentralen Argumentationen dar und werden hier zugunsten der Vollständigkeit noch einmal separat erläutert. Sie haben ihren Ursprung überwiegend in verschiedenen realen, wenn auch extrem überrepräsentierten Vorfällen und Gerüchten, die in der Masse die Wahrnehmung der Rezipienten und in ihrer Vielfalt die Anschlussfähigkeit im Parlament mitbedingten714 sowie in Teilen die Straftatbestände des APG prägten.

714 Neben der mit der breite der Themen implizierten potenziellen Betroffenheit eines jeden, gestalten sich diese Debatten wie Palmer (Bromley nach Palmer, Heretics, 2011, S. 196) richtig beschreibt, besonders auf der Ebene der AKB zumTeil in Form von Counter-Subversion-Ideologies, die gegen Angriffe auf ihre eigene Geltung zum Teil immunisiert sind. „Sekten“ würden zum Beispiel im Geheimen (also: nicht sicht bar) arbeiten und subversive Absichten hegen („Les sectes cultivent le secret et la dissimulation, elles prospèrent dans lҲobscurité, loin de la place publique, et ne pour suivent-sous couvert de spiritualité et dҲésotérisme- que le pouvoir et lҲargent.“ AN: Compte Rendu. 30.05.2001, 2me lecture, (eigene Hervorhebungen). Mögliche Kon struktionen zur rhetorischen Immunisierung lassen z. B. sich in Form eines rhetori schen Zirkels identifizieren: wenn alle „Sekten“ schädlich sind (und „Sekte“ ist an sich ein Pejorativ), so ist die Gruppe, die eine „Sekte“ ist, ebenso schädlich. Für „Sek ten“sein kann niemand, der will, dass es der Gesellschaft gut geht also, wenn jemand für „Sekten“ ist, ist ergegen die Gesellschaft und damit Teil der sektiererischen Ver schwörung. Da „Sekten“ jedoch auch manipulativeFähigkeiten haben, muss dies noch nicht einmal mit Bewusstsein derjenigen Personen geschehen, die eine „Sekte“ ver teidigt, insofern ist jede Verteidigung einer „Sekte“ ein Indiz für Manipulation und damit ein Indiz für die Infiltrierung durch „Sekten“.

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Hierzu zählen auch die Themen in den Eigeninteressen und Interpretationen verschiedener Akteure, die vielfach auf der Ebene konkreter Vorwürfe verblieben. Die Inkonsistenzen der Debatten entstanden nicht zuletzt durch diese Themenvielfalt, welche unter anderem die vorliegende Untersuchung und die Hierarchisierung ihrer Inhalte für deren Verstehen notwendig machte.

Exkurs 2: „Irrationalität“ und konstruierte Rationalität Überraschend harsche Reaktionen und verschiedene Argumentationen, die jeder empirischen Grundlage entbehrten, sich kaum in die republikanische Vision der Linken integrieren ließen und bis zu Verschwörungstheorien reichten, veranlassten unter anderem Susan Palmer zur Thematisierung der „Irrationalität“ der französischen „Anti-Sekten“-Agenda. Ergänzend wird folgend deshalb das Konzept „Irrationalität“ vor dem Hintergrund des gewählten Forschungsansatzes besprochen. „Irrationalität“, im Gegensatz zu „Rationalität“, wurde hier als analytische Kategorie weitgehend ausgeschlossen, da auch rationale Weltbilder als konstruiert aufgefasst werden.715 In einer früheren Arbeit mit ähnlichem Ansatz wurden Glaubensvorstellungen und Praktiken aus dem „New Age“-Spektrum in Deutschland716 dann als „irrational“ bezeichnet, wenn zueinander inkonsistente oder sich widersprechende Handlungslegitimationen und Begründungen für verschiedene Vorstellungen und Praktiken von derselben Person geäußert wurden. „Irrationalität“ (in ausdrücklichen Anführungszeichen) bezog sich dann auf die Inkonsistenz des Gesamtbildes, welches für moderne Weltbilder, geprägt von multiplen Kontingenz-Erfahrungen, allerdings typisch ist und diese aus der Außenperspektive schwer logisch nachvollziehbar machen kann. Sie dient weder als Bewertung noch als analytische Kategorie, sondern bezeichnet die signifikante Abweichung von einer idealtypisch rationalen Lebenseinstellung im Sinne Max Webers. Inwiefern könnten nun die französischen „Sektendebatten“ als „irrational“ bezeichnet werden? In Bezug auf die ersten Reaktionen in der Zivilbevölkerung kann „Irrationalität“ vielleicht mit Baubérots Diagnose „diffuser Angst“, die bis hin zu tätlichen Übergriffen auf NRB führte, gleichgesetzt werden. Diese Angst stützte sich gerade in der Anfangsphase mehr oder weniger auf durch die Medien verbreiteten Gerüchte, die immer wieder durch „Sekten“ verursachte, leidvolle Erfahrungen präsentierten. Diese Angst war „irrational“, da sie auf partiell falschen

715 Vgl. Koenig, Institutional Change, 2008, S. 67. 716 Königstedt, praktische Lebensführung, 2008, S. 125-127.

252 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « und fehlenden Informationen basierte, was zu diesem Zeitpunkt jedoch nur so bewertet werden kann, weil nun bekannt ist, dass überwiegend Gerüchte verbreitet wurden. Handeln oder Argumentationen könnten hier aus dieser Perspektive dann als „irrational“ (in ausdrücklichen Anführungszeichen) bezeichnet werden, wenn Handlungen und auch deren Begründungen nicht nachvollzogen werden können. „Irrationalität“ wird hier entsprechend relativ zu anderen Weltbildern und nicht absolut aufgefasst und deutet bei der Anwendung lediglich auf mangelndes Verstehen (bei den sich Äußernden oder bei denen, die die Äußerungen nachzuvollziehen versuchen) hin. Als Konsequenz für die vorliegende Studie wurden einige spekulativ verhandelte Themen, wie die verschworene Involvierung der Freimaurer aufseiten der „Sekten“, nicht weiter verfolgt, wenn deren Relevanz aufgrund fehlender Belege und seltenen Erwähnungen bezweifelt werden konnte. Eine Bewertung derartiger Vermutungen wurde jedoch prinzipiell ohne Prüfung nicht vorgenommen, sondern diese aus der Untersuchung ausgeklammert. Einige der randständigen, widersprüchlichen und diffusen Äußerungen wurden als „Moral Panics“, als Indizien für panikartige Reaktionen interpretiert, bei denen schnell Erklärungen gesucht werden um der beängstigten Unbestimmtheit einer Entwicklung rational habhaft zu werden.

G ESAMTAUSWERTUNG Der Gewinn der durchgeführten Untersuchung für die Klärung der Forschungsfragen nach den Ursachen und Hintergründen, sowie der Genese der der französischen „Sektenkonflikte“ kann nun wie folgt in verschiedenen Antwortkategorien bilanziert werden.

Die frühe Entwicklung Der Beginn der Konflikte um NRB ist in die 1970er Jahre, etwas zeitversetzt zur vermehrten Entstehung kleiner, innovativer religiöser Gemeinschaften zu datieren. Bemerkt wurde ihre Präsenz zunächst lokal und im direkten Kontakt, in Familien deren Angehörige, und von katholischen Priestern, deren Gemeindemitglieder sich vereinzelt hierhin orientierten. Dies ging häufig mit Änderungen in Meinungen und Verhaltensweisen einher, was zu Konflikten mit nahen Angehörigen und einer Vernachlässigung bis zur Abwendung von bisherigen Kontakten und

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gegebenenfalls der kirchlichen Gemeinde führen konnte. Hierüber sind wenig präzise Informationen vorhanden. Die Konflikte wuchsen jedoch an und wurden spätestens durch die Selbstorganisation besorgter Bürger in „Anti-Kult-Bewegungen“ deutlich sichtbar. Diese wandten sich an die Medien, die das Thema nicht zuletzt im eigenen (Markt-)Interesse aufgriffen. Aus der Verbindung des Expertenstatus der AKB und der medialen Aufbereitung, Überzeichnung und Multiplizierung von aus einzig dieser Quelle stammenden Informationen, wurde sukzessive die Angst vor den sogenannten „Sekten“ in der Öffentlichkeit und damit zunehmend zivile Proteste gegen diese geschürt. Bereits in diesem Rahmen wurde ein politisches Framing der Debatten vorgenommen, das Thema aber erst Anfang der 1990er Jahre von Regierungsseite durch Vertreter der sich zu diesem Zeitpunkt im Abstieg befindenden Parti Socialiste aufgegriffen. Hierzu führten zunehmende zivile Aggressionen gegen Mitglieder Neuer Religiöser Bewegungen, die politischen Handlungsbedarf anzeigten. Etwas später, zwischen 1992 und 1994, ereigneten sich die kollektiven Tode bei den Sonnentemplern, die der Situation eine zusätzliche Brisanz verliehen.

Wie und warum konnte sich die „Anti-Sekten“-Agenda als Gesetz durchsetzen? Die Materialauswertung wurde mit dem GGR aus dem Jahr 1994/95 begonnen. Eine explizite Übernahme der öffentlichen Konnotation von les sectes in die politischen Debatten über eine Gesetzesverschärfung gegen „Sekten wurde nachgewiesen, die, zusammen mit einigen häufig im Zusammenhang angesprochenen Themen, während der gesamten Debatten explizit, in der Gesetzgebung implizit beibehalten wurde. Als Wortführer säkularistischer und neo-republikanischer Argumentation wurden Politiker des linken Spektrums, vor allem der Parti Socialiste, die mit Politkern des rechten Spektrums, vor allem der UMP kooperierten, identifiziert. Das mit „Sekten“ verbundene Themenspektrum wurde im Parlament extrem erweitert und die Gefahr, wie oben dargelegt, als jeden und gesamt Frankreich betreffend dargestellt. Innerhalb der republikanischen Staatsphilosophie wurde das „Sektenproblem“ als den abstraktesten Prinzipien und alle grundlegenden Werte der Republik diametral entgegengesetzt und diese von innen zersetzend aufbereitet. Auf diese Weise die Relevanz der „Anti-Sekten“-Agenda auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner der verschiedenen Fraktionen im Parlament und den Grundlagen der Gesetzgebung plausibilisiert und so zumindest rhetorisch nach allen Seiten und auf allen Ebenen anschlussfähig gemacht.

254 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « Der praktischen Umsetzung der Agenda in juristische Mittel standen jedoch Hindernisse entgegen, da Religionsfreiheit und Nichtdiskriminierung gewahrt werden mussten. Der Prozess zog sich entsprechend über mehrere Jahre und mehrere Gesetzesvorschläge hin, bis sie schließlich in den Rechtsbestand integriert werden konnte. Moderate, und wenig für die betroffenen Gruppen engagierte, Opposition zur Radikaliät der Forderungen kam von liberaler Seite, von wo aus auf die Wahrung der genannten Grundlegenden Freiheiten bestanden wurde. So wurde die „Anti-Sekten“-Agenda zwar dahingehend modifiziert, jedoch gelang es der anderen Seite diese in ihren Zielen weitestgehend in den bestehenden Rechtsrahmen einzupassen und durchzusetzen. Das Themenspektrum, das letztendlich ins APG einging, war im Vergleich zu den Debatten deutlich reduziert und fokussierte die pragmatische Unterbindung konkreter Strafhandlungen. Ein Großteil der übernommenen Straftatbestände und weiteren Bestimmungen reflektiert tatsächliche, aber generalisierte Vorkommnisse, unbelegte Vorwürfe gegen und Gerüchte über les sectes sowie die Ergebnisse der offiziellen Beobachtung des alternativ-religiösen Feldes. Die aus dem Prozess ebenfalls resultierende, abstrakte Definition des neu geschaffenen Straftatbestandes der sujétion psychologique, die eben nicht bestimmte Gruppen diskriminieren sollte, löste Befürchtungen aus, sie könne auch auf traditionelle Religionsgemeinschaften und Parteien angewendet werden. Aus diesem Grund distanzierten sich die Kirche und einige andere im Zuge Verhandlungen von der Agenda, die sie sie zum Teil ursprünglich mitangestoßen hatten.

Was kann in diesem Zusammenhang als „Ursache“ bezeichnet werden? Als für den Beginn und den Verlauf der französischen „Sekten“-Konflikte ursächlich angeführt werden können auf der Basis der vorliegenden Untersuchung erstens empirische Anlässe oder Auslöser, die Irritationen, Ängste und Interessenkonflikte hervorriefen. Diese allein hätten jedoch kaum zu Reaktionen in im hier dargestellten Ausmaß geführt. Zweitens, ist das hier nicht direkt untersuchte Engagement ziviler Akteure in Kooperation mit den Medien zu nennen, das die Angst und den Widerstand in der Bevölkerung schürte und somit das Ausmaß der Konflikte weit über den empirischen Anlass hinaus hob. Drittens konnte über die Anschlussfähigkeit der öffentlich und im Parlament verhandelten abstrakteren Themen und das Framing des wahrgenommenen Problems der zentralen Frage auch nach, potenziell kulturellen, Hintergründen der französischen „Sektenkonflikte“ systematisch nachgegangen werden.

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In die zentrale Legitimationsstrategie über die (neo-)republikanische Staatsphilosophie vor allem die inner-parlamentarische Kooperation bis hin zum Gesetz, wurden fast alle aktuellen schwierigen Themen mit dem „Sektenproblem“ in Verbindung gebracht und so die Gefahr als allgegenwärtig und für jeden relevant dargestellt. Deutlich wurde die eigene (nationale) Identität nach außen (gegenüber den USA und Europa) und nach innen gegen den „inneren Feind“, die gegenwärtigen „Sekten“, konturiert. Das Konzept des „inneren Feindes“ ist eine seit zweihundert Jahren relevante Metakategorie, die eng mit dem Gründungsmythos der Republik verbunden ist. Die Idee der Republik wurde im Zuge der Revolution gegen ein Feindbild (Adel und Klerus) durchgesetzt und besteht bis heute aus sehr unterschiedlichen politischen Positionen, die vor allem gegen ein gemeinsames Feindbild politisch gemeinsam handlungsfähig sind und nicht zuletzt aus diesem Teil der Geschichte das Gefühl der Zusammengehörigkeit beziehen können. In politisch und wirtschaftlich unsicheren Zeiten (wie der späten Ära Mitterand) wurden die als „Sekten“ bezeichneten NRB nicht zuletzt zum Zwecke der eigenen politischen Stabilisierung in diese traditionellen politischen Spannungszone manövriert, ohne dass diese sich hätten wehren können. Dies konnte nicht zuletzt durch den fehlenden staatlichen Schutz von Minderheiten relativ ungehindert getan werden. In Frankreich gibt es weder konzeptionell gesellschaftlich, noch im religiösen oder politischen Feld Raum, der nicht historisch gewachsen und nach mehr oder weniger langen Aushandlungskämpfen bereits von anderen Akteuren eingenommen worden ist. Dieser Raum wird von jenen verteidigt und kleine, bereits stigmatisierte Gruppen wie viele NRB haben oft weder Mittel noch „Personal“, einen solchen Aushandlungskampf langfristig erfolgreich durchzustehen oder sich auch nur zügig einzunischen. Durch vorher erfolgte Stigmatisierung wird ihnen zusätzlich erschwert, auf anderem Wege Toleranz und Kooperationsbereitschaft zu erreichen.717 Der in Kapitel 6 untersuchte Verlauf der Konflikte bis heute zeigte zwar insgesamt eine Schwächung der „Sekten“-Gegner und einige Erfolge der Gruppen sich innerhalb des religiösen „Bedürfnismarktes“ einzunischen. Dennoch bleibt MIVILUDES finanziert und die „Anti-Sekten“-Agenda wird weiter 717 Siehe hierzu: Seiwert, Wilde Religionen. (China), 2011. Der hier beschriebene Prozess der „Aushandlung“ des sozialen und politischen Ortes, in dem säkularistische Akteure und die katholische Kirche im pacte laïque ein friedliches und stabiles Miteinander fanden, kann mit Seiwert als „Domestizierung von Religion“auch auf die Konflikte mit den NRB übertragen werden. NRB wären demnach weder in ihrem Handlungsbe reich noch -ort „domestiziert“, ein Prozess der bis zu seinem möglichen Abschluss mehr oder weniger konflikthaft ausgetragen werden würde, jedoch ebenso in anderen Ländern zu beobachten sei und damit von Seiwert eine gewisse „Normalität“ zuge schrieben bekommt.

256 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « vorangetrieben – erst kürzlich schlossen MIVILUDES und La Mutualité Française718 eine Vereinbarung, „sektiererische Aktivitäten“ im Gesundheitssektor zu beobachten,719 so dass der weitere Verlauf der Konflikte noch immer im Auge zu behalten ist. Die empirischen Ursachen der französischen „Sektenkonflikte“ bestehen zum einen im Auftreten Neuer Religiöser Bewegungen zu einem bestimmten Zeitpunkt und können unter alltagskulturelle, soziale wirtschaftliche und „lebensweltideologische Grenzziehungen“ subsumiert werden. Die Debatte um die manipulation mentale steht dabei zwischen einem kulturellen Wandel im Sinne der Annahme, dass der Mensch psychisch verletzlich ist und der besprochenen „Psychologisierung der Alltagskultur“,die für psychologische Themen sehr offen war. Dieser Themenkomplex unterscheidet sich von den anderen beiden genannten dadurch, dass es hierbei weder um NRB unterstellte kriminelle Absichten im engeren Sinne noch um die Konstruktion eines Feindbildes handelt. Stattdessen geht es an dieser Stelle um reale gesellschaftliche Konfliktzonen, sei es die Konkurrenz zu anderen gesellschaftlichen Akteuren720 in bestimmten Sektoren oder im Bereich alltagsrelevanter Werte. NRB können im Hinblick auf eine in der Bevölkerung bestehende Nachfrage auf alternative Erklärungsansätze als Indikatoren eines allgemeineren kulturellen Wandels verstanden werden, an dem sie aktiv partizipierten. Dabei forderten sie traditionalistische und säkulare Weltbilder, und, als religiöse Akteure im therapeutischen Sektor, wissenschaftliche Positionen und gesellschaftliche Grenzen zwischen „religiös“ und „säkular“ heraus. Durch diese Konfrontation entstanden Konflikte bereits auf der Ebene der „Meinung“ – vor allem im Bereich alternativer Medizin und Lebenswandel –, die sich tatsächlich auf NRB und nicht auf 718 Dachverband von Krankenversicherungen (basieren auf dem Solidarprinzip), siehe Webseite, URL: http://www.mutualite.fr/La-Mutualite-)UDQFDLVH]XOHW]WHLQJHsehen am 20.12.2013. 719 Siehe deren Homepage, URL: http://www.mutualite.fr/Lactualite/Kiosque/Communi ques-de-presse/La-Mutualite-Francaise-et-la-Miviludes-signent-une-conventio-cadre -pour-informer-sur-les-risques-de-de-rives-sectaires-dans-le-domaine-de-la-sante, URL: http://www.lefigaro.fr/actualitefrance/2013/12/03/0101620131203ARTFIG0 0228-sectes-les-mutuelles-vont-etre-sensibilisees-aux-derives-dans-le-monde-de-lasante.php]XOHW]Weingesehen am 20.12.2013. 720 Garay (Religious Tolerance, 2011, S. 183 f.) schreibt zum Beispiel davon, dass auch in Frankreich verschiedene NRB dem sozialen Druck entgegen versuchten, über Wohltätigkeitsarbeit eine gewisse soziale Akzeptanz zu sichern und damit zunächst vor allem auf Widerstand vonseiten der Kirchen trafen (vgl. auch Beckford, Control, 1981, S. 258 f.).

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„Sekten“ als Abstraktum bezogen. Letzteres wurde hier vor allem im Zusammenhang mit einer Form des Counseling (das Nachfolgekonzept zur „Seelsorge“) angesprochen, in Bezug auf das in Frankreich nicht nur NRB, sondern auch traditionelle Religionen mit staatlichen und nicht-religiösen Vorstellungen in Konflikt geraten. Die rege gesellschaftliche Partizipation von Religionsgemeinschaften im Format von Wohltätigkeitsarbeit und in im Prinzip jedem Bereich ideell motivierten sozialen Engagements, kann dann problematisch werden, wenn der Verdacht entsteht, hierüber würde zu starker Einfluss auf Einzelpersonen ausgeübt.721 In diesen Bereichen kann es tatsächlich zu weltanschaulichen Konflikten auch mit den Staat kommen, der grundsätzlich religiös neutral sein soll, sich aber positiv laizistisch definiert. Die im Zuge der Versuche der Neujustierung des legitimen Wirkungsbereichs von „Religion“ (und welcher) entstanden Spannungen zwischen der Gesellschaft auf der einen, „Sekten“, NRB und anerkannter Religion auf der anderen Seite. Diese können, wie die Konflikte die auf einer Einpassung des Themas in den Gründungsmythos der Republik, in auch in Bezug auf das, was als legitime oder illegitime „Religion“ verstanden wird, als „kulturell bedingt“ bezeichnet werden. Die quantitativ geringfügigen empirischen Auslöser der gesamten Debatten gerieten mit deren Ausweitung sehr in den Hintergrund, wurden von der dystopischen Präsentation des Themas in den 1990er Jahren weitestgehend verdeckt und erfüllten auch wissenschaftliche Beobachter auf den ersten Blick bis zu einem gewissen Grad mit Unverständnis. Neben der Auswertung bisher nicht einbezogener parlamentarischer Quellen und der Analyse der Entwicklung der Konflikte nach Erlass des Gesetzes ist ein wichtiger Beitrag dieser Studie, dass die miteinander verwobenen verschiedenen argumentativen Ebenen wieder voneinander getrennt, zueinander ins Verhältnis gesetzt und so der Verlauf der Konflikte, auch an deren Höhepunkten, nachvollziehbar gemacht werden konnte.

Nachsatz: Ein außerhalb der hier hauptsächlich besprochen liegender, in jedem Fall aber zu nennender, „kultureller Konflikt“ ergibt sich über den Umgang mit „Religion“ zwischen den USA und Frankreich. Die USA kritisierten Frankreich für sein Vorgehen gegen „Sekten“722 und halten selbst einen grundsätzlich pluralistischen und liberaleren Ansatz hoch, insofern die Zivilgesellschaft in den USA, bei gleichzei-

721 Vgl. ebd. 722 Vgl. Kapitel 2.

258 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « tiger Neutralität des Staates, nennenswert über die Zugehörigkeit zu Denominationen organisiert ist. Dies resultiert jedoch zwar nicht in einer gänzlichen Gleichbehandlung aller und einer Nicht-Verfolgung bestimmter Gruppen, räumt „Religion“ jedoch generell einen größeren Wirkungsraum und gesellschaftliche Geltung ein.723 Ein amerikanischer Botschafter habe sich bei einer Gelegenheit sogar sehr selbstbewusst dafür ausgesprochen, die US-amerikanische Version des Umgangs mit Religion in die französischen Lehrpläne zu integrieren und erregte damit in Frankreich großen Unmut, der an bereits bestehende Diskussionen um den „kulturellen Imperialismus“ der USA und die „McDonaldisierung“ der Alltagskultur anschloss.724 J.-P. Brard reagierte auf diese Vorwürfe vonseiten der USA mit der Betonung ihrer nur partikularen Geltung als Meinung lediglich der Amerikaner: „[...] CҲest outre-Atlantique seulement que certains, prétendument au nom de la liberté, critiquent notre fermeté“.725 Die radikalen Vertreter französischer Lai]LWlWZHLFKHQKLHUYRQLKUHU3RVLWLRQQLFKWDEGLH86$ZXUGHQ]XDQGHUHQ*HOH genheiten in den parlamentarische Debatten wiederum selbst als „infiltriert“ bezeichnet und damit auf die Seite der „Sekten“ gestellt. Grundlegend für diesen Konflikt sind unterschiedliche Interpretationen des Prinzips der „Religionsfreiheit“ und staatlicher Neutralität in religiösen Angelegenheiten, die beide mit dem Gründungsmythos, der Konzeption des Staates und der Zivilgesellschaft der jeweiligen Nation verbunden sind.

723 Für Fallbeispiele zu polizeilichen Razzien in religiösen Kommunen in den USA auch jenseits der Waco-Tragödie siehe Wright, Richardson, Saints, 2011. 724 Palmer, Heretics, 2011, S. 196. 725 AN: Compte Rendu PHOHFWXUH YJODXFK3DOPHUHeretics, 2011, S. 195-197.

10. Abschließende Bemerkungen und Ausblick

Mit der nun vorerst abgeschlossenen Untersuchung konnte das Ziel, die Entwicklung, sowie die Ursachen und Hintergründe der französischen „Sektenkonflikte“ systematischer und vollständiger als bisher zu erfassen, erreicht werden. Zudem wurde mit ihr auch eine Analyse bisher wenig oder nicht beachteter Quellen sowie eine des Zeitraums nach dem Erlass des APG zum gesamten Forschungsstand beigetragen. Mit einer mehrstufigen intertextuellen Inhaltsanalyse der parlamentarischen Debatten und der Rechtsquellen wurde die Übernahme des „Sektenbegriffs“ in seinen Bedeutungen aus den öffentlichen Debatten in die Gesetzgebung, dessen thematische Auffächerung und unter anderem seine vertikale Rationalisierung im Sinne der neo-republikanischen Agenda nachgewiesen. Die rhetorischen Legitimierungen der Agenda fokussierten dabei im Kern 1. eine erneute Konstruktion der seit der französischen Revolution konstanten Aushandlungskonflikte zwischen der republikanisch-laizistischen Konzeption von Individuum und Gesellschaft (beziehungsweise „Nation“) und deren Geltungsansprüchen gegenüber potenziell konkurrierenden Entwürfen und 2. das Individuum als Konstituente staatlicher Souveränität, welche die Bedeutung des Vorwurfs der manipulation mentale im französischen Kontext erklärt. Es konnte 3. festgestellt werden, dass einige französische Politiker an diesem Thema eine Abgrenzung nach außen und eine Selbstpositionierung vornahmen, was eine (konstruierte) Konnotation der Konflikte als „kulturell“ zusätzlich unterstreicht. Jenseits dieser, für einen Großteil der Bürger verständlichen, zentralen Legitimierung der „Anti-Sekten“-Agenda wurden les sectes ungenau definiert und mit fast allen aktuellen problematische Themen in Verbindung gebracht, worüber die Breite der Anschlussfähigkeit des Themas in der Bevölkerung und im Parlament erklärt. Abgesehen von der politischen Konstruktion des „Sektenproblems“ konnten reale Konflikte, in welche die als „Sekten“ eingestuften NRB mit ihrer Gastgesellschaft

260 | FRANKREICH UND SEINE »SEKTEN « gerieten und geraten herausgestellt werden, ein Rahmen, in dem sich vor allem Werte- und Interessenkonflikte zeigten, die jedoch in ihrem tatsächlichen Ausmaß und ihrer Brisanz sehr weit hinter den gemachten Anschuldigungen zurückstehen. Dennoch kann an ihrem Beispiel ein Konflikt zwischen positiv definierten säkularen Weltbildern und „Religion“ konstatiert werden, welche entgegen der verfassungsmäßig auferlegten Selbstbeschränkung zur Neutralität in religiösen Angelegenheiten vor allem dann hervortritt, wenn traditionelle Arrangements geteilter Zuständigkeiten und zugewiesener Einflussbereiche infrage gestellt werden. Zusätzlich wurden tiefere zusammenhängende Einblicke in die Prozesse der Genese der Konflikte, von katholischer Kritik über ihre Medialisierung und einer Panik in der Bevölkerung bis hin zu einer Politisierung und Säkularisierung der Regulierungsbestrebungen, die im Kampf gegen „Sekten“ eine zunehmend religionsfeindliche Tendenz hervorbrachten, ermöglicht. Damit wurde seit Beginn der 1990er Jahre auf das säkularistische politische Lager als Herkunft der treibenden Kräfte hinter diesen Prozessen hingewiesen und einzig deren Motivation, das Thema aufzugreifen, bleibt zumindest partiell unbestimmt. Einerseits wurde anfänglich auf das Drängen der medial angestachelten Bevölkerung reagiert und gerade im Rahmen des Programmwechsels und der Anfang der 1990er Jahre schwachen Position der Parti Socialiste erscheint deren Engagement als ideologisch und politisch konsistent. Andererseits wird das Thema nun seit fast 20 Jahren mit einer Persistenz verfolgt, bei der zwischen ideologischer Überzeugung und der Sicherung der eigenen Positionen nicht mehr unterschieden werden kann, zumal die Agenda seit dem Jahr 1996 staatliche Förderung genießt und das öffentliche Interesse merklich zurück gegangen ist. Die Annahme, dass die wahrgenommene monolithische Opposition gegen „Sekten“ in Frankreich nicht a priori gegeben war, sondern, wie die entsprechende Gesetzgebung, als Ergebnis von Framing- und Aushandlungsprozessen zu verstehen ist, konnte bestätig werden. Auf dem Höhepunkt der Konflikte erschien sie lediglich sehr homogen, denn liberalere Positionen wurden der „Anti-Sekten“Agenda mit ungleich weniger Nachdruck, wenn auch nicht wirkungslos, entgegengestellt. Die Konstellation „Anti-Sekten“-Akteure und betroffene NRB wurde als Opposition zweier Akteursgruppen aufgezeigt, die vor allem auf rechtlicher Ebene als zwei verschiedene pressure groups ihre Konflikte miteinander austragen, (in Bezug auf die NRB noch immer stark benachteiligt sind). Die gewählte Forschungsperspektive könnte zwar keine geschlossenen, alles Aspekte erklärende Lösung hervorbringen, erwies sich jedoch als die, die die Konflikte sehr differenzierter und systematischer erklären konnte als dies bisher geschehen ist. Die „Ursachen und Hintergründe der französischen „Sektenkonflikte“ sind

A BSCHLIESSENDE B EMERKUNGEN

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schlussfolglich als Zusammenspiel von tatsächlichen Vorfällen und deren medialer Präsentation, von engagierten ideologischen Akteuren, solchen mit anderen Eigeninteressen und der Einpassung der Konflikte in für eine Mehrheit der Bevölkerung plausible und relevante Argumentationen zu verstehen. Die Ausgestaltung und der Verlauf der Konflikte – die Wahl der Themen, die konkrete Umsetzung der Agenda und damit letztendlich auch die Konsequenzen für die NRB – ist dabei durch zu großen Teilen institutionell, kulturell, aber auch durch das Verhalten anderer Akteure mitbestimmt und so in verschiedener Hinsicht Frankreich-spezifisch, aber weder durch eine zentralistische Regierung, exakte Prinzipien oder eine a priori existente Einheitsmeinung determiniert. Dies bedeutet nicht, dass es keine Verantwortlichen gäbe, denn der Kontext, in dem sich die Akteure bewegen, ist flexibel und wird durch respektive Aushandlungsprozesse mitgestaltet, innerhalb derer Engagement und Unterlassungen eine Rolle spielen. Deshalb soll an dieser Stelle nicht versäumt werden, die festgestellte Einschränkung der Religionsfreiheit über die Klauseln härterer Strafen für Individuen, die als Mitglieder mutmaßlicher „Sekten“ eingestuft werden, zu kritisieren. Auch wenn das Gesetz bis jetzt selten angewandt wurde, bleibt seine symbolische Wirkung bestehen. Diese, in Verbindung mit unscharfen juristischen Definitionen lassen einen interpretativen Spielraum für Entscheidungen, die als willkürlich getroffen empfunden werden können und der in Abwesenheit von klaren Grenzen hieraus resultierende diffuse Druck und Zwang zur vorsichtigen Selbstregulierung ist selbst ein Machtmittel, das in scharfem Gegensatz zu der von den „Sekten“-Gegnern selbst geforderten Freiheit von geistiger Unterdrückung steht. Abschließend kann als zentrales Ergebnis festgehalten werden, dass NRB als les sectes in Frankreich negativ integriert wurden und damit die Funktion der „aneckenden“ sozialen Kategorie zu der sich eine (traditionelle) Interpretation französischer Gemeinschaft abgrenzen kann,726 erfüllen. Dies erklärt die Persistenz des Aktionismus gegen sie zum Teil, ein Aspekt der während der öffentlichen Hochphase, in der ganz Frankreich gegen „Sekten“ eingenommen schien, kaum hervortrat. Erst mit der hier aufgezeigten Schwächung der Hegemonie der „AntiSekten“-Position in der Öffentlichkeit, des damit einhergehenden Rückgangs der öffentlichen Stimmen, die sich in diesem Sinne äußern und einer balancierteren Medienberichterstattung wurden deren radikaler Kern, aber auch einige weitere, substanziellere Konfliktthemen im Zusammenhang mit Neuen religiösen Bewegungen deutlicher sichtbar.

726 Siehe Kapitel 4, in dem les sectes als group holder des „Anti-Sekten-Aggregats“ be stimmt wurden.

ABBILDUNGEN Akteurzentrierte Feldskizze | 42 Untersuchungsaufbau | 88 Das „Picard-Netzwerk“ | 96 Skizze zum Bedeutungsspektrum des französischen Sektenbegriffs im Verhältnis zum Begriff „Neue Religiöse Bewegungen“ | 151 Abb. 5: Schema möglicher Legitimationsbezüge von Handlungen und Agenden | 204 Abb. 6: Übersicht: Interessengeleitete Akteure und für diese relevante Themen | 207 Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4:

T ABELLEN Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4:

Schema formale Inhaltsanalyse 1: Bezeichnungen und Fundorte, Beispiel GGR und CCMM | 114 Schema formale Inhaltsanalyse 2: Spezifizierungen der Funde (Beispiel) | 116 Kriterien einer „Sekte“ im Gest-Guyard-Report | 118 Schema der Funde von mit „Sekten“ verbundenen Themen auf der Objektebene | 203

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Dieses Buch enstand mit freundlicher Unterstützung des Religionswissenschaftlichen Instituts der Universität Leipzig. Es basiert auf der Dissertationsschrift: Königstedt, Christiane: Religiöser Nonkonformismus und Laizität – Kulturelle Konflikte um Religion am Beispiel der Guerres des Sectes in Frankreich, angenommen von und verteidigt vor der Fakultär für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften der Universität Leipzig am 5. November 2014 (Gutachter: Prof. Dr. em. Hubert Seiwert und Prof. Dr. Monika Wohlrab-Sahr). Die Arbeit entstand unter Förderung durch das DFG-Graduiertenkolleg: „Religiöser Nonkonformismus und kulturelle Dynamik“ an der Universität Leipzig.