Formatierte Weltkultur?: Zur Theorie und Praxis globalen Unterhaltungsfernsehens 9783839433010

Global dialog as utopia? By means of the transfer of TV shows into German and Arabic media cultures, this volume looks i

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Formatierte Weltkultur?: Zur Theorie und Praxis globalen Unterhaltungsfernsehens
 9783839433010

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
1. Einleitung: Unterhaltungskommunikation und Fernsehen in globaler Perspektive
1.1 Formatiertes Fernsehen im 21. Jahrhundert
1.2 Unterhaltungskommunikation und Fernsehformate in der Kultur- und Kommunikationswissenschaft
1.3 Forschungsleitende Fragen
1.4 Aufbau der Arbeit
2. Theoretische Rahmung
2.1 Medien- und kommunikationswissenschaftliche Theorieangebote
2.1.1 »Re-Kodierung« und Bedeutungstransfer: Theoretische Reflexionen zum Kommunikationsmodell von Stuart Hall
2.1.2 Produzenten als »kulturelle Gatekeeper« grenzüberschreitender Medienkommunikation
2.1.3 Rezipienten als »kulturelle Agenten« grenzüberschreitender Medienkommunikation
2.2 Kulturwissenschaftliche Theorieangebote
2.2.1 Die zentrale Bedeutung von »Kultur«
2.2.2 Populäre Kultur, Unterhaltungskommunikation und »kulturelle Öffentlichkeit«: Die gesellschaftliche Relevanz von Unterhaltung
2.2.3 Transkulturalität als Kennzeichen heutiger Gesellschaften
2.2.4 Hybridisierungstheorien kultureller und medialer Globalisierung
2.2.5 »Kulturelle Nähe« im Text-Rezipienten-Verhältnis
2.3 Globalisierungstheoretische Grundlagen
2.3.1 Theorieansätze globaler Medienkommunikation
2.3.2 Revisionistische Debatten globaler Medienkommunikation
2.3.3 Alternative Theorieangebote kultureller Globalisierung: »Glokalisierung«, kulturanthropologische Ansätze und Perspektiven der transkulturellen Medienkulturanalyse
2.4 Theoriematrix: Grenzüberschreitende Unterhaltungskommunikation am Beispiel von Fernsehformaten | 1683. Analysedesign
3. Analysedesign
3.1 Methodische Grundlagen, Vorgehen und Feldzugang
3.1.1 Inhaltsanalyse
3.1.2 Gruppendiskussionsverfahren
3.1.3 Experteninterviews
3.2 Auswahl der Fallbeispiele
3.2.1 Formate: WHO WANTS TO BE A MILLIONAIRE und GOT TALENT
3.2.2 Regionen: Deutschland und Ägypten
4. Kreislauf der Unterhaltungskommunikation: Fernsehformate in Deutschland und Ägypten
4.1 »Glokale Texte«: Die Formatversionen im Vergleich
4.1.1 Die Quizshows WER WIRD MILLIONÄR und MAN SAYARBAH AL-MALYOON im Vergleich
4.1.1.1 (Trans-)Kulturelles (Un-)Wissen?: Analyse der Inhaltsdimension
4.1.1.2 Lehrer, Schüler und Statisten: Analyse der Figuren
4.1.1.3 Hollywood im Spielformat: Analyse der televisuellen Gestaltung
4.1.1.4 »Quizshow« oder »Bildungsquiz«? Der feine Unterschied in Narrations- und Deutungsangeboten
4.1.1.5 Gesellschaftliche Nachwirkungen zwischen Bildungsauftrag und Identitätsbildung: Kontextanalyse der MILLIONÄR-Versionen
4.1.2 Die Castingshows DAS SUPERTALENT und ARABS GOT TALENT im Vergleich
4.1.2.1 (Trans-)Kulturelles (Anti-)Talent? Analyse der Inhaltsdimension
4.1.2.2 »Der Superstar im Zeitalter seiner medialen Reproduzierbarkeit«: Analyse der Figuren
4.1.2.3 Inszenierung der Superlative: Analyse der televisuellen Gestaltung
4.1.2.4 Zwischen »Können« und »Sein«: Narrations- und Deutungsangebote
4.1.2.5 Fernsehen zwischen »Qualität« und »Trash«: Kontextanalyse der GOT TALENT-Versionen
4.1.3 Zwischenfazit: »Globale Spiele, lokale Siege«? Multidimensionale Glokalisierung in Fernsehformaten
4.2 »Lokale Interpreten«: Die Rezeption von Unterhaltungsformaten im Vergleich
4.2.1 (Trans-)Kulturelle Anschlussdiskurse
4.2.1.1 Authentizitätsdiskurs
4.2.1.2 Normativer Diskurs
4.2.1.3 Identitätsdiskurs
4.2.1.4 Wissensdiskurs
4.2.2 (Trans-)Kulturelle Rezeptionshaltungen: »Skeptische« Rezipienten glokaler Fernsehunterhaltung
4.2.3 (Trans-)Kulturelle Referenzen: Wissensrahmen der Rezipienten
4.2.3.1 Intertextuelle Referenzen
4.2.3.2 Intermediale Referenzen
4.2.3.3 Alltagsweltliche Referenzen
4.2.4 Exkurs: Fernsehgespräche und Anschlussdiskurse im Vergleich
4.2.5 Exkurs: Zur Konstruktion der »Authentizität des Fremden«
4.2.6 Zwischenfazit: (Trans-)Kulturelle Interpretationssynchronisation?
4.3 »Globale Gatekeeper«: Innenperspektiven der Produktion im Vergleich
4.3.1 Strukturelle und institutionelle Rahmenbedingungen des Formattransfers in Deutschland und der arabischen Welt
4.3.2 Individuelle Lesarten der Unterhaltungsproduzenten
4.3.2.1 Produzenten-Lesarten von MILLIONÄR: Unterhaltung versus Bildung im Quizformat
4.3.2.2 Produzenten-Lesarten von GOT TALENT: Emotionalisierung versus Emanzipation im Castingformat
4.3.3 Zwischenfazit: (Trans-)Kulturelle Produktionsgemeinschaften
5. Zusammenführung und Fazit
5.1 Muster grenzüberschreitender Unterhaltungskommunikation am Beispiel des Formattransfers in Deutschland und Ägypten
5.2 Die Antinomie von Glokalisierung und Globalisierung: Ein theoretischer Ausblick zum Verhältnis von Globalisierung und transkultureller Unterhaltungskommunikation
5.2.1 Unterhaltungskommunikation als Wegbereiter einer diskursiven Weltkultur?
5.2.2 Unterhaltungskommunikation als Wegbereiter eines »kulturellen Kosmopolitismus«?
Literaturverzeichnis
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Hinweise zur Transkription und Schreibweise des Datenmaterials
Leitfaden der Gruppendiskussionen
Leitfragen der Experteninterviews

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Anne Grüne Formatierte Weltkultur?

Edition Medienwissenschaft

Anne Grüne (Dr. phil.), geb. 1983, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Habilitandin am Seminar für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Erfurt. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Alltagskultur und Lebensweltkommunikation, Wissensgesellschaft, Medien und Globalisierung.

Anne Grüne

Formatierte Weltkultur? Zur Theorie und Praxis globalen Unterhaltungsfernsehens

Bei der vorliegenden Schrift handelt es sich um eine Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Danksagung | 9

1.

Einleitung: Unterhaltungskommunikation und Fernsehen in globaler Perspektive | 11

1.1

Formatiertes Fernsehen im 21. Jahrhundert | 21

1.2

Unterhaltungskommunikation und Fernsehformate in der Kultur- und Kommunikationswissenschaft | 37

1.3

Forschungsleitende Fragen | 48

1.4

Aufbau der Arbeit | 52

2.

Theoretische Rahmung | 55

2.1

Medien- und kommunikationswissenschaftliche Theorieangebote | 56

2.1.1

»Re-Kodierung« und Bedeutungstransfer: Theoretische Reflexionen zum Kommunikationsmodell von Stuart Hall | 57

2.1.2

Produzenten als »kulturelle Gatekeeper« grenzüberschreitender Medienkommunikation | 77

2.1.3

Rezipienten als »kulturelle Agenten« grenzüberschreitender Medienkommunikation | 85

2.2

Kulturwissenschaftliche Theorieangebote | 102

2.2.1

Die zentrale Bedeutung von »Kultur« | 103

2.2.2

Populäre Kultur, Unterhaltungskommunikation und »kulturelle Öffentlichkeit«: Die gesellschaftliche Relevanz von Unterhaltung | 113

2.2.3

Transkulturalität als Kennzeichen heutiger Gesellschaften | 120

2.2.4

Hybridisierungstheorien kultureller und medialer Globalisierung | 129

2.2.5

»Kulturelle Nähe« im Text-Rezipienten-Verhältnis | 137

2.3

Globalisierungstheoretische Grundlagen | 147

2.3.1

Theorieansätze globaler Medienkommunikation | 151

2.3.2

Revisionistische Debatten globaler Medienkommunikation | 154

2.3.3

Alternative Theorieangebote kultureller Globalisierung: »Glokalisierung«, kulturanthropologische Ansätze und Perspektiven der transkulturellen Medienkulturanalyse | 159

2.4

Theoriematrix: Grenzüberschreitende Unterhaltungskommunikation am Beispiel von Fernsehformaten | 168

3.

Analysedesign | 175

3.1

Methodische Grundlagen, Vorgehen und Feldzugang | 178

3.1.1

Inhaltsanalyse | 180

3.1.2

Gruppendiskussionsverfahren | 187

3.1.3

Experteninterviews | 199

3.2

Auswahl der Fallbeispiele | 203

3.2.1

Formate: WHO WANTS TO BE A MILLIONAIRE und GOT TALENT | 203

3.2.2

Regionen: Deutschland und Ägypten | 209

4.

Kreislauf der Unterhaltungskommunikation: Fernsehformate in Deutschland und Ägypten | 213

4.1

»Glokale Texte«: Die Formatversionen im Vergleich | 214

4.1.1

Die Quizshows WER WIRD MILLIONÄR und

MAN SAYARBAH AL-MALYOON im Vergleich | 214 4.1.1.1 (Trans-)Kulturelles (Un-)Wissen?: Analyse der Inhaltsdimension | 217 4.1.1.2 Lehrer, Schüler und Statisten: Analyse der Figuren | 232 4.1.1.3 Hollywood im Spielformat: Analyse der televisuellen Gestaltung | 247 4.1.1.4 »Quizshow« oder »Bildungsquiz«? Der feine Unterschied in Narrations- und Deutungsangeboten | 251 4.1.1.5 Gesellschaftliche Nachwirkungen zwischen Bildungsauftrag und Identitätsbildung: Kontextanalyse der MILLIONÄR-Versionen | 258 4.1.2

Die Castingshows DAS SUPERTALENT und ARABS GOT TALENT im Vergleich | 264

4.1.2.1 (Trans-)Kulturelles (Anti-)Talent? Analyse der Inhaltsdimension | 266 4.1.2.2 »Der Superstar im Zeitalter seiner medialen Reproduzierbarkeit«: Analyse der Figuren | 276 4.1.2.3 Inszenierung der Superlative: Analyse der televisuellen Gestaltung | 293 4.1.2.4 Zwischen »Können« und »Sein«: Narrations- und Deutungsangebote | 296 4.1.2.5 Fernsehen zwischen »Qualität« und »Trash«: Kontextanalyse der GOT TALENT-Versionen | 300 4.1.3

Zwischenfazit: »Globale Spiele, lokale Siege«? Multidimensionale Glokalisierung in Fernsehformaten | 302

4.2

»Lokale Interpreten«: Die Rezeption von Unterhaltungsformaten im Vergleich | 310

4.2.1

(Trans-)Kulturelle Anschlussdiskurse | 312

4.2.1.1 Authentizitätsdiskurs | 324 4.2.1.2 Normativer Diskurs | 334 4.2.1.3 Identitätsdiskurs | 341 4.2.1.4 Wissensdiskurs | 352

4.2.2

(Trans-)Kulturelle Rezeptionshaltungen: »Skeptische« Rezipienten glokaler Fernsehunterhaltung | 353

4.2.3

(Trans-)Kulturelle Referenzen: Wissensrahmen der Rezipienten | 360

4.2.3.1 Intertextuelle Referenzen | 360 4.2.3.2 Intermediale Referenzen | 363 4.2.3.3 Alltagsweltliche Referenzen | 364 4.2.4

Exkurs: Fernsehgespräche und Anschlussdiskurse im Vergleich | 367

4.2.5

Exkurs: Zur Konstruktion der »Authentizität des Fremden« | 371

4.2.6

Zwischenfazit: (Trans-)Kulturelle Interpretationssynchronisation? | 375

4.3

»Globale Gatekeeper«: Innenperspektiven der Produktion im Vergleich | 381

4.3.1

Strukturelle und institutionelle Rahmenbedingungen des Formattransfers in Deutschland und der arabischen Welt | 383

4.3.2

Individuelle Lesarten der Unterhaltungsproduzenten | 402

4.3.2.1 Produzenten-Lesarten von MILLIONÄR: Unterhaltung versus Bildung im Quizformat | 407 4.3.2.2 Produzenten-Lesarten von GOT TALENT: Emotionalisierung versus Emanzipation im Castingformat | 413 4.3.3

Zwischenfazit: (Trans-)Kulturelle Produktionsgemeinschaften | 418

5.

Zusammenführung und Fazit | 421

5.1

Muster grenzüberschreitender Unterhaltungskommunikation am Beispiel des Formattransfers in Deutschland und Ägypten | 421

5.2

Die Antinomie von Glokalisierung und Globalisierung: Ein theoretischer Ausblick zum Verhältnis von Globalisierung und transkultureller Unterhaltungskommunikation | 429

5.2.1

Unterhaltungskommunikation als Wegbereiter einer diskursiven Weltkultur? | 433

5.2.2

Unterhaltungskommunikation als Wegbereiter eines »kulturellen Kosmopolitismus«? | 442

Literaturverzeichnis | 445 Anhang

| 471

Abkürzungsverzeichnis | 471 Abbildungsverzeichnis | 472 Tabellenverzeichnis | 473 Hinweise zur Transkription und Schreibweise des Datenmaterials | 474 Leitfaden der Gruppendiskussionen | 475 Leitfragen der Experteninterviews | 477

Danksagung

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um meine Dissertation über die Globalisierung von Unterhaltungskommunikation, die ich an der Universität Erfurt eingereicht und auf der Grundlage der beiden ausführlichen Gutachten von Prof. Dr. Kai Hafez und Prof. Dr. Joachim R. Höflich leicht bearbeitet habe. Dass ich die Herausforderung eines deutsch-ägyptischen Vergleichs von Unterhaltungskultur angenommen habe, geht auch auf wichtige Impulse meiner früheren Dozenten am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig, insbesondere von Prof. Dr. Gunnar Otte, zurück. Mein außerordentlicher Dank geht aber an Prof. Dr. Kai Hafez, der das Projekt von Anfang an unterstützt und mich immer fordernd, kritisch und zugleich mit großer akademischer Anerkennung beraten hat. Seine fachliche, strukturelle wie kollegiale Unterstützung im akademischen Alltag gab mir die nötige Bestärkung, die es in der Evolution aufwendiger Forschungsprojekte neben der universitären Lehre und Administration von Zeit zu Zeit braucht. Ich danke ihm für den wertvollen intellektuellen Austausch und die wissenschaftliche wie persönliche Sensibilisierung für Fragen nach einem verantwortungsvollen und anerkennenden grenzüberschreitenden Dialog sowie einem kosmopolitischen Bewusstsein in einer Zeit, in der die öffentliche Wahrnehmung der arabischen beziehungsweise islamisch geprägten Welt nach wie vor von negativen Stereotypen und Ressentiments geprägt ist. Dass diese arabische Welt natürlich komplexer, lebendiger und mitunter der eigenen Lebenswelt viel ähnlicher ist, als es die politische Auslandsberichterstattung oft glauben macht, konnte ich selbst während meines Forschungsaufenthalts in Kairo erleben. Dank der finanziellen Unterstützung der Universität Erfurt und der ideellen Bereitschaft vieler Ägypterinnen und Ägypter, mir zu helfen, konnte ich wichtige Untersuchungen für meine Rezeptionsstudie durchführen und meinen eigenen Wissenshorizont in interessanten Gesprächen und Beobachtungen erweitern. Ganz besonders danke ich in diesem Zusammenhang Dr. Hanan Badr und ihrer Familie, die mich vor und während meines Forschungsaufenthalts in Ägypten mit zahlreichen Ratschlägen versorgt hat. Dem English Department der Cairo University, vor

10 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ?

allem Prof. Randa Aboubakr, Walid El-Hamamsy und Prof. Loubna Youssef, gebührt mein Dank für eine herzliche und unbürokratische Unterstützung meiner Forschung ebenso wie Tarik Bary und Omar, die mich mit ägyptischen Schülerinnen und Schülern in Kontakt bringen konnten. Auch in Deutschland war der Feldzugang eine Herausforderung und ich danke den Schülerinnen und Schülern, Studentinnen und Studenten, die sich bereit erklärt haben, mit mir über Unterhaltungssendungen zu diskutieren. Frau Prof. Dr. Carola Richter und Frau Prof. Dr. Stefanie Averbeck-Lietz haben mich dankenswerterweise bei der Suche nach Teilnehmern und der Durchführung der Studie unterstützt und ich danke auch den kooperierenden Lehrerinnen und Lehrern, Schulleiterinnen und Schulleitern, die an dieser Stelle aus Gründen der Anonymität nicht namentlich genannt werden. Darüber hinaus ist auch den vielen Akteuren der Fernsehbranche sowie den Kandidatinnen und Kandidaten der Sendungen zu danken, die sich die Zeit für meine Fragen genommen haben. Marco Schein und Franziska Galek haben mich über viele Wochen bei der digitalen Aufnahme der Sendungen unterstützt. Rachid Chouhaj, Vicky Feghali, Wael Zayed, Haki Iman und Afifa el-Bayed haben mir darüber hinaus durch ihre Übersetzungshilfe ermöglicht, die arabischen Formatadaptionen zu verstehen. Neben der konkreten Hilfe in den unterschiedlichen Untersuchungsabschnitten, möchte ich auch denen danken, die mich inhaltlich und emotional durch dieses Projekt begleitet haben. In diesem Zusammenhang gilt allen Doktorandinnen und Doktoranden von Prof. Dr. Kai Hafez ein Dankeschön für den angenehmen Erfahrungsaustausch und das produktive Mitdenken. Ganz besonders danke ich meiner Kollegin Sabrina Schmidt für den loyalen, inspirierenden und beruhigenden Austausch im Forschungs- und Universitätsalltag. Alexandra Bendixen und Anke Hofmann waren nicht nur meine ersten kritischen Leserinnen, sondern ebenso wie Tabea Mager, Julie Janković und Anke Engel auch Freunde, die die Promotionsphase geduldig mit mir geteilt haben. Dies gilt ebenso für meine Familie, auf deren vielfältige Unterstützung ich zählen konnte. Ein großes Danke vor allem an meine Eltern Karen und Gerald Kretzschmar für all den Einsatz und uneingeschränkten Rückhalt, Danke auch an Sabine und Wolfgang Grüne. Ein besonderer Dank gilt Matthias Grüne, der das aufbauende und bereichernde Back-up in dieser Zeit lieferte. Und Anton, Dir danke ich für Deine Neugier am reichen Leben jenseits der globalen Unterhaltungskultur, das ich mit Dir entdecken konnte und die mir die Lust am »erklärenden Verstehen« der Welt neu perspektiviert hat.

Leipzig, im März 2016

1. Einleitung: Unterhaltungskommunikation und Fernsehen in globaler Perspektive

Unterhaltungsangebote definieren die Grenzen unserer Kommunikationsräume neu, da sie nationale und kulturelle Demarkationen durch ihren weltweiten Erfolg scheinbar auflösen. Diese Feststellung ist unentbehrlich, um eine Arbeit über Globalisierung, Kultur und Fernsehen zu beginnen. Die Produkte der Unterhaltungsund Kulturindustrie, die heute weltweit zirkulieren, sind zu einem beliebten Bezugspunkt in den internationalen Debatten um die kulturelle Dimension der Globalisierung geworden. In diesem Zusammenhang spricht Stuart Hall sogar von einer neuen Medien- und Informationsrevolution, durch die »Kultur zunehmend produziert, verbreitet und ausgetauscht werden« könne, was wiederum die »Struktur spätmoderner Gesellschaften«, die Verteilung materieller und menschlicher Ressourcen, die Konstruktion kultureller Identitäten und die Entwicklung der globalen Ordnung stärker denn je beeinflusse.1 Ähnlich sehen Andreas Hepp oder Friedrich Krotz heutige Kulturen bereits soweit transformiert, dass sie ohne die Bedeutungsressourcen der Medien kaum mehr vorstellbar seien.2 Ob Annahmen einer engen Verzahnung oder gar Konvergenz von Medien- und Kulturentwicklung allerdings am Beispiel vielschichtiger gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen bestätigt werden können, bleibt zu untersuchen.

1

Hall, Stuart (2002): Die Zentralität von Kultur. Anmerkungen über die kulturelle Revolution unserer Zeit. In: Hepp, Andreas; Löffelholz, Martin (Hg.): Grundlagentexte zur transkulturellen Kommunikation. Konstanz: UVK, S. 95ff.

2

Hepp, Andreas (2013): Medienkultur. Die Kultur mediatisierter Welten. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; Krotz, Friedrich (2011): Die Mediatisierung kommunikativen Handelns. Der Wandel von Alltag und sozialen Beziehungen, Kultur und Gesellschaft durch Medien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 33ff.; Ders. (2007): Mediatisierung. Fallstudien zum Wandel von Kommunikation. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 30ff.

12 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ?

Zweifel sind vor allem angebracht, wenn es um die Konstitution eines globalen kulturellen Gleichklangs geht, der durch die weltweite Verbreitung von Unterhaltung entstehen könnte. Denn die Frage, in welchem Ausmaß globale Unterhaltung tatsächlich alltägliche lokale Lebenswelten prägt, welche konkreten gesellschaftlichen Implikationen den zirkulierenden alltagskulturellen Ressourcen innewohnen, blieb von denen, die durch westliche Medien geprägte Homogenisierungstendenzen befürchteten, in den meisten Fällen unbeantwortet. Stattdessen haben inzwischen revisionistische Arbeiten auf die Grenzen und Schwächen der kulturellen und medialen Globalisierungsthesen hingewiesen. Die Globalisierung der Medien ist, wie Kai Hafez zu bedenken gibt, in den meisten Fällen eher Mythos geblieben denn Realität geworden.3 Beispielsweise ist eine wirklich universale Qualität wohl nach wie vor eher wenigen grenzüberschreitenden Medien- und Kulturangeboten vorbehalten. Dabei sind selbst die offensichtlichsten Beispiele wie Hollywoodfilme oder Popmusik bei genauerem Hinsehen von hybriden kreativen Bezügen durchdrungen und lassen damit eine Bilanz westlich geprägter Standardisierung weitaus komplexer erscheinen, als es etwa Thesen einer sogenannten »Amerikanisierung« häufig vorgeben. Natürlich haben Technik und Ökonomie in den letzten Jahrzehnten Strukturen der weltweiten Integration geschaffen – gleichzeitig aber haben sie auch Ausgrenzungen und Differenzen verstärkt. Nicht jeder4 hat Zugang zu den scheinbar globalen Ressourcen, nicht jedes Produkt kann beliebig zirkulieren, und globale Partizipation bleibt häufig eine Utopie. Vor allem aber haben inzwischen zahlreiche Studien auf die Bedeutung der lokalen Nutzung und Aneignung hingewiesen. Einzelne global verfügbare Medienangebote lassen demnach theoretisch diverse lokale Deutungsmuster und Umgangsweisen zu. Welche Form und welche Bedeutung hat also eigentlich die »kulturelle Begegnung« in der Verpackung medialer Unterhaltung? Selbst Revisionisten wie Hafez erkennen an, dass Unterhaltung vielleicht die eigentliche und wirksamste Domäne einer kulturellen Globalisierung ist.5 Kulturelle Begegnungen in Form von Unterhaltungskommunikation zielen dabei nicht allein auf einen Austausch, in dem die Kreativität des einen zur Unterhaltung des anderen wird. Gerade in den scheinbar leichten Genres wie der Populärmusik oder den populärkulturellen Angeboten in Film und Fernsehen kommt es immer häufiger zu Mischungen von kreativen Ausdrucksformen. Lady Gaga etwa verarbeitet Anspielungen auf arabische Oud-Klänge in ihren Songs, die ursprünglich afro-amerikanische Ghetto-Subkultur Hip-Hop findet Adaptionen im Rap der arabischen Rebel3

Hafez, Kai (2005): Mythos Globalisierung. Warum die Medien nicht grenzenlos sind.

4

Mit der Nennung der männlichen Bezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders

5

Ebd., S. 115ff.

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.

U NTERHALTUNGSKOMMUNIKATION UND F ERNSEHEN IN GLOBALER P ERSPEKTIVE | 13

lion und von Bollywood inspirierte Szenen haben inzwischen auch Eingang in die Bilderwelten Hollywoods gefunden. Kulturelle Globalisierung erscheint dann vor allem als Hybridisierung und nicht als bloße Standardisierung von Kreativität. Insofern ist die mediale öffentliche Alltagskommunikation im 21. Jahrhundert vor allem von Prozessen des Vermischens, des Transzendierens und des Wechselwirkens gekennzeichnet. Viele Phänomene gehen »durch Kulturen hindurch«,6 wie das Beispiel von internationalen Fankulturen illustriert oder die internationale Rezeption von globalen Medienevents wie einer Fußball-WM. Diese Überlegungen zum Zusammenhang von Globalisierungsdynamiken, Medienkommunikation und Kultur sind bei weitem nicht neu. Homogenisierung, Heterogenisierung und Hybridisierung bilden die etablierte Trias der »kulturellen Szenarien« unter dem Einfluss der Globalisierung von Medienkommunikation. Die Frage nach der Art kultureller Wandlungsprozesse wird die theoretische Hintergrundfolie der Arbeit sein, die mit dem Fernsehen ein klassisches Unterhaltungsmedium in den Mittelpunkt der Diskussion um globale Medienkommunikation rückt. Durch seine – zumindest theoretische – globale Reichweite galt das Fernsehen mit seinen international zirkulierenden Nachrichten- und Unterhaltungsangeboten wie CNN oder DALLAS lange als Dreh- und Angelpunkt für Diskussionen um die kulturellen Folgen der Globalisierung. Durch Digitalisierung, immer neue mobile Kommunikationsmöglichkeiten, durch Tendenzen der Medienkonvergenz und der Popularität von Sozialen Medien im Internet eröffnen sich allerdings längst völlig neue Möglichkeiten und Untersuchungsgegenstände medienvermittelter kultureller Begegnungen. Gerade aufgrund der hohen Entwicklungsdynamik und der Vernetzung von Medienumgebungen mag es daher nicht verwundern, wenn heute die Relevanz und Aktualität von Einzelmedienforschung in Frage gestellt wird. Allerdings muss die Betrachtung spezifischer Entwicklungen eines klassischen Massenmediums wie dem Fernsehen nicht bedeuten, dass generelle Entwicklungen der Medien ignoriert werden. Häufig sind gerade partielle Entwicklungen von Einzelmedien als Reaktion oder Symptom umfassender gesellschaftlicher, technischer und medialer Veränderungen zu bewerten und somit kaum als isolierte Phänomene zu verstehen. Die vorliegende Arbeit wird mit international gehandelten Fernsehformaten eine solche spezifische Entwicklung der Unterhaltungsproduktion im Fernsehen zum Gegenstand haben. Der Transfer von Fernsehformaten ist seit den 1990er Jahren zu einem international sichtbaren Modus der Unterhaltungsproduktion geworden. Lizenzierte, also formal konventionalisierte Konzepte, Ästhetiken und Rahmenerzählungen werden weltweit vertrieben und in unterschiedlichsten Fernsehmärkten mit mehr oder weniger offensichtlichen Eingriffen als adaptierte Versionen reproduziert. So werden 6

Hepp, Andreas; Löffelholz, Martin (2002): Transkulturelle Kommunikation. In: Dies. (Hg.): Grundlagentexte zur transkulturellen Kommunikation. Konstanz: UVK, S. 14.

14 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ?

in zahlreichen Regionen der Welt neben Millionären auch Superstars und Tänzer im Spielformat gesucht, es werden Modelkarrieren geebnet und selbst private Lebensbereiche von der Erziehung bis hin zur Ehetauglichkeit werden öffentlich auf ihre jeweilige gesellschaftliche (Moral)Konformität geprüft.7 Die weltweiten Programme ähneln sich dabei frappierend, ohne jedoch identisch zu sein; ihr Verkauf zielt strategisch auf die lokale Adaption. Diese äußert sich aber nicht nur auf der Ebene stilistischer Modifikationen. Auch Moderatoren und Publika verleihen den Versionen einen eigenen Charakter und unterschiedliche öffentliche Anschlussdiskurse zeugen von der Standortgebundenheit der Produktion und Rezeption von Formatvarianten. Fernsehunterhaltung kann dann mitunter Anstoß kollektiver Diskussionen über Sexualmoral sein oder zum Anlass einer Bestandsaufnahme nationaler Identität werden. Beispielsweise hat Marwan Kraidy in seinen Auseinandersetzungen um Castingshows wie STAR ACADEMY die gespaltenen öffentlichen Diskurse um Repräsentationen von Wertvorstellungen und Lebensstilorientierungen durch die Sendung innerhalb der arabischen Welt dargestellt.8 Auch wenn damit nicht per se ein Zusammenhang zwischen gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozessen und Unterhaltungsfernsehen konstatiert werden soll und kann, so illustriert allein dieses Beispiel die nachhaltige Relevanz des Fernsehens für die Untersuchung kultureller Globalisierungsprozesse. Denn in Formaten spiegelt sich die zuvor genannte Trias von Homogenisierung, Heterogenisierung und Hybridisierung auf multidimensionale Weise: Die Produkte sind glokale Formen der Fernsehunterhaltung. Obwohl die Konzepte (Formate) global standardisiert sind, bleiben die Produkte (Sendungsvarianten) lokal gebunden und als solche schwer exportierbar. Als Form der globalen Kommunikation stimulieren Formate also vielmehr die lokale Produktion: »Global television formats, more than any other model of media globalization, contain the core paradox of globalization’s relation to intense ›localization‹ and the tension between homogenization and difference involved in economic and cultural globalization processes – first identified in key writings by Roland Robertson and Stuart Hall among others.«9 7

Vgl. Formate wie WHO WANTS TO BE A MILLIONAIRE, POP IDOL, SO YOU THINK YOU

8

Kraidy, Marwan (2010): Reality Television and Arab Politics. Contention in Public

CAN DANCE, PROJECT RUNAWAY, SUPER NANNY, WIFE SWAP oder BIG BROTHER. Life. Cambridge: Cambridge University Press; Ders. (2007): Idioms of Contention: Star Academy in Lebanon and Kuwait. In: Sakr, Naomi (Hg.): Arab Media and Political Renewal. Community, Legitimacy and Public Life. London: Tauris, S. 44-55; Ders. (2006): Popular Culture as a Political Barometer: Lebanese-Syrian Relations and Superstar. Transnational Broadcasting Studies 16. 9

Oren, Tasha; Shahaf, Sharon (2012): Introduction: Television Formats – a Global Framework for TV Studies. In: Dies. (Hg.): Global Television Formats. Circulating Culture, Producing Identity. New York [u.a.]: Routledge, S. 3.

U NTERHALTUNGSKOMMUNIKATION UND F ERNSEHEN IN GLOBALER P ERSPEKTIVE | 15

Der Rückgriff auf bereits vorhandene kulturelle Ressourcen in der kreativen Produktion ist indes kein neues Phänomen des 21. Jahrhunderts. Der Austausch kultureller Formen ist eng verknüpft mit der Kulturgeschichte des Menschen – angefangen von der Entdeckung fremder Welten, religiöser Missionierungsversuche und Synkretismen, frühen Handelsbeziehungen über zahlreiche Adaptionsstrategien in der Malerei und Literatur bis hin zur populären Musikgeschichte, die ohne stilistische Mixturen kaum denkbar wäre. Dennoch, die Sichtbarkeit und Möglichkeit kulturellen Austauschs hat durch virtuelle Kontaktmöglichkeiten zugenommen. Internet-Plattformen wie YOUTUBE oder FACEBOOK können heute schnell zur Intensivierung der gesellschaftlichen Präsenz von Fernsehangeboten beitragen und möglicherweise deren grenzüberschreitendes Potenzial noch steigern. Doch welche gesellschaftlichen Wirkungen gehen von grenzüberschreitenden Prozessen und sogenannten glokalen Produkten aus? Die gesellschaftlichen Prägkräften des Fernsehens wiederum bestimmen die wissenschaftlichen Diskurse seit das Medium einen zentralen Stellenwert in modernen Gesellschaften eingenommen hat.10 Das »Fernsehzeitalter« hat durchaus tiefenstrukturelle Spuren sowohl in gesellschaftlichen Systemen als auch individuellen Lebenswelten hinterlassen. Beispielsweise sind die Fernsehnachrichten lange die entscheidende Instanz eines nationalen Informationsabgleichs gewesen und das Fernsehprogramm strukturierte die alltäglichen Routinen der Menschen. Auch wenn sich der Fernsehbildschirm inzwischen funktional durch seine Verknüpfbarkeit mit Internet-, Spiel- und Musikangeboten gewandelt hat, gehört er nach wie vor zur Einrichtung und prägt nicht selten auch die gesamte Wohnraumästhetik vieler Haushalte. Das Fernsehen liefert darüber hinaus mit seinen Werbeangeboten Impulse für das individuelle und kollektive Konsumverhalten und nicht zuletzt sind die Programmangebote nach wie vor Gegenstand und Aufhänger vieler Alltagsunterhaltungen, wobei sowohl die Themenagenden der Nachrichten als auch die Gewinner der letzten Castingsendung gemeint sind. Gerade durch diese alltägliche Präsenz bleiben die Inhalte des Fernsehens eine gesellschaftlich relevante Ressource für Deutungsangebote der sozialen Welt. Das Fernsehen ist damit ein kaum wegzudenkendes Medium unserer Alltagswirklichkeit, auch wenn seine Bedeutung in heutigen Medienumgebungen vor dem Hintergrund struktureller und technischer Veränderungen neu definiert werden muss. Denn De- und Re-Regulierungen des Fernsehens sorgen zweifelsohne für neue Rahmenbedingungen. Die neuen (Unterhaltungs-)Medien haben den Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Nutzer erhöht. Die Digitalisierung hilft, den Konsum zu individualisieren und diesen vom li10

Vgl. nachfolgend insbesondere die Ausführungen in Engell, Lorenz (2012): Fernsehtheorie zur Einführung. Hamburg: Junius sowie in Plake, Klaus (2004): Handbuch Fernsehforschung. Befunde und Perspektiven. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

16 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ?

nearen Fernsehprogramm zu entkoppeln und nicht zuletzt stellen technologische Neuerungen wie etwa mobile Endgeräte die Fernsehforschung vor neue Herausforderungen, da sie die Angebote des Fernsehens auch in vorher fernsehfreien Räumen zugänglich machen und damit Rezeptionssituationen, Nutzungsformen und Formate des Fernsehens möglicherweise grundlegend verändern. Diese Entwicklungen lassen einige Fernsehforscher längst von einer »Post-Broadcast-Ära« sprechen.11 Aber obwohl sich das Medium in einer Transformationsphase befindet, in der viel über seine zukünftige Rolle spekuliert wird, lässt sich dennoch mit einiger Sicherheit sagen, dass das Fernsehen auch im frühen 21. Jahrhundert das meistgenutzte Unterhaltungsmedium für einen Großteil der Weltbevölkerung ist.12 Die Rolle, die die Angebote des Fernsehens für gesellschaftliche Entwicklungen oder den gesellschaftlichen Zusammenhalt spielen, die Beziehung zwischen Fernsehen und Gesellschaft also, wurde innerhalb fernseh- und medienwissenschaftlicher Auseinandersetzungen von jeher intensiv diskutiert. Auch wenn, wie manche Kritiker anmerken, die Theoretisierung des Fernsehens vor allem durch Inkonsistenz und das Fehlen einer Gesamttheorie gekennzeichnet sei,13 so lassen sich doch grobe Richtungen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung formulieren. In den frühen Jahren der Fernsehforschung etwa wurde die Bedeutung des Mediums für die nationale Gemeinschaftsbildung hervorgehoben. Während hier noch die potenzielle homogenisierende Wirkung für nationale Rezeptionsgemeinschaften im Vordergrund stand, gelangte später auch der Zusammenhang zwischen Fernsehen und Identitätsbildung heterogener gesellschaftlicher Gruppen in den Blick. Hall beispielsweise verwies in seinen Vorlesungen auf die Macht televisueller Repräsenta11

Fiske, John; Hartley, John (2003): Reading Television. 2. Aufl. London, New York: Routledge, S. XIV; Turner, Graeme; Tay, Jinna (Hg.) (2009): Television Studies After TV. Understanding Television in the Post-Broadcast Era. London, New York: Routledge.

12

Die weltweite Sehdauer liegt bei durchschnittlich zwei bis vier Stunden pro Tag. Vgl. bspw. Straubhaar, Joseph (2007): World Television. From Global to Local. Los Angeles: Sage; Hasebrink, Uwe (2007): Medienrezeption. In: Thomass, Barbara (Hg.): Mediensysteme im internationalen Vergleich. Konstanz: UVK, S. 145-162. Im Zeitraum der Entstehung dieser Arbeit ist der Fernsehkonsum in Europa nach Angaben der RTL Group, des IP Networks und Eurodata TV sogar von durchschnittlich 3,76 (226 Min.) auf knapp 4 Stunden (235 Min.) täglich gestiegen. IP Network; RTL Group (2013): Television International Key Facts 2013, S. 16.

13

Für Engell liegen die Gründe für die Theoriearmut in der Schnelllebigkeit des Mediums und der dementsprechenden »historischen Halbwertszeit fernsehtheoretischer Ansätze«. Ein weiterer Grund ist für ihn aber auch eine akademische Attitüde, die Fernsehen lange als Trivialität betrachtet und ihm eine Interessenlosigkeit entgegengebracht habe. Ders. (2012): Fernsehtheorie zur Einführung, S. 23.

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tion in Hinblick auf die Stereotypisierung gesellschaftlich marginalisierter Gruppen und Marie Gillespie hat die Bedeutung von Fernsehangeboten für die Aushandlung kultureller Identität in Diaspora-Gemeinschaften nachgezeichnet.14 Die individuellen Nutzungsmöglichkeiten der Fernsehangebote verschieben heute die Perspektiven auf wieder kleinere Publikumssegmente. Neben den eher identitätsbezogenen Funktionen weist die Geschichte der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Fernsehen auch eine kritische Tradition auf, die gerade die Unterhaltungsangebote des Fernsehens problematisiert, da dort manipulative Wirkungsweisen vermutet werden.15 Doch ganz gleich, ob das Fernsehen in theoretischen Perspektivierungen als konstitutiv für utopische oder dystopische Gesellschaftsentwicklungen betrachtet wurde, Einigkeit besteht weitestgehend darüber, dass das Fernsehen als Massenmedium mit seinen Unterhaltungs- und Informationsangeboten eine ernstzunehmende Ressource kollektiver Erfahrung, Deutung und Orientierung und somit eine Instanz der kulturellen Realität von Gruppen, Gemeinschaften und Gesellschaften darstellt. Umso bedeutender werden diese Debatten, wenn die Inhalte, Produktionsorte und Rezeptionskontexte des Fernsehens nicht mehr auf einen begrenzten nationalen Raum beschränkt sind, sondern verschiedene Mediensysteme, territoriale und kulturelle Grenzen überwinden. Die mediensystemische Überlagerung der aktuellen Produktions- und Organisationsstrukturen im Unterhaltungsbereich wie auch die Zirkulation von unterhaltenden Inhalten lässt vielschichtige transnationale und transkulturelle Medienräume entstehen, die aufgrund der globalen, transnationalen, nationalen und lokalen Bezüge nicht leicht zu entschlüsseln sind. Die Akzeleration des Formathandels in den letzten drei Jahrzehnten hat hier zu einer sichtbaren Verschmelzung der internationalen Produktionskultur im Fernsehsektor und zu einer Synchronisierung weltweiter Unterhaltungserfolge geführt. Einige Autoren sehen in der Ausbreitung globaler Formate gar eine der größten Wenden der Fernsehentwicklung, die zudem geeignet sei, die traditionelle Fernsehforschung nachhaltig zu erschüttern.16 Zumindest macht das Phänomen des globalen Formattransfers deutlich, dass die Suche nach neuen und differenzierten Modellen der Fernsehforschung erforderlich ist. Hier werden Theorieansätze nötig, die den gesellschaftlichen Zusammenhang des Fernsehens im Kontext von grenzüberschreitenden Prozessen verorten können und die die vielschichtigen Dimensionen der kulturellen Ressourcen, 14

Hall, Stuart; Jhully, Sut (1997): Representation and the Media. Northampton: Media Education Foundation; Gillespie, Marie (1995): Television, Ethnicity, and Cultural Change. London [u.a.]: Routledge.

15

Vgl. hierzu bspw. die Polemiken von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Pierre Bourdieu oder Neil Postman.

16

Oren, Tasha; Shahaf, Sharon (Hg.) (2012): Global Television Formats. Circulating Culture, Producing Identity. New York [u.a.]: Routledge.

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die in Fernsehinhalten ebenso wie in deren Nutzung und Produktion aktiviert werden, angemessen reflektieren. Denn mit der teilweisen Übernahme und Adaption von Sendungsvorlagen wird die Frage des möglichen Einflusses der Fernsehrezeption auf die Alltagswelt von Menschen komplexer, indem sie die übergeordnete Frage des Einflusses »fremder« kultureller Ressourcen oder Handlungspraktiken auf die Fernsehproduktion und -aneignung aufwirft. Insofern stellen unterhaltende Fernsehformate ein geeignetes Untersuchungsobjekt dar, um die vielschichtigen Globalisierungs- und Lokalisierungsdynamiken des Fernsehens genauer zu analysieren. Auf medienökonomischer Ebene lässt sich am Beispiel des Formatfernsehens die Herausbildung transnationaler Konzerne, die internationale Integration von Produktionsketten und die globale Vermarktung von Unterhaltungs-»Marken« nachvollziehen. In diesem Sinne veranschaulichen Fernsehformate zentrale Dynamiken der ökonomischen Globalisierung. Eine indische oder arabische Version der britischen Quizsendung WHO WANTS TO BE A MILLIONAIRE kann hier schnell zum Beispiel für »Glokalisierung« herangezogen werden, was aber zunächst lediglich eine marktwirtschaftliche Strategie bezeichnet. Der Slogan »Think globally, act locally«, der beispielsweise durch das transnationale Unternehmen SONY bekannt wurde, bezeichnet das Marketingprinzip hinter globalen populären Marken, nämlich die zunehmende Orientierung globaler Unternehmen an lokaler Expertise. Erst später hat der Begriff als zentrales Theorem in der Globalisierungsliteratur eine Bedeutungserweiterung erfahren, die in der Arbeit noch ausführlich diskutiert wird. Denn an Fernsehformaten lässt sich nicht nur die ökonomische Dimension der Verschmelzung des »Globalen« und »Lokalen« nachvollziehen, sondern in ihnen mischen sich eben auch diverse kulturelle Bestandteile durch Adaptionsstrategien. Die kulturelle Dimension medialer Globalisierung, die in dieser Arbeit im Zentrum stehen wird, hat dann nach den Bedeutungen des vermeintlich »Globalen« und »Lokalen« zu fragen. Wenn Fernsehformate als Modell medialer Globalisierung betrachtet werden und wenn angenommen wird, dass sie das Kernparadox des Zusammenhangs von »Globalisierung« und »Lokalisierung« und die Spannung zwischen »Homogenisierung« und »Differenz« illustrieren, wie es in einem jüngeren Sammelband zum Thema auf den Punkt gebracht ist,17 dann müssen diese Zusammenhänge offengelegt werden. Wie genau gestalten sich die lokalen Reformulierungen der Sendungskonzepte, die zumeist westlicher Provenienz sind? Welche Formen nimmt der kulturelle Austausch in populären Unterhaltungsangeboten an? Lässt sich von inhaltlichen und ästhetischen Unterschieden bereits auf kulturelle Grenzen und damit Grenzen der Globalisierung schließen? Zu klären sind somit die kulturellen Implikationen synchronisierter Marktstrategien. Der weltweite Konsum von Unterhaltungskonzepten lässt dabei noch keine Rückschlüsse auf synchrone 17

Ebd, S. 3 ff.

U NTERHALTUNGSKOMMUNIKATION UND F ERNSEHEN IN GLOBALER P ERSPEKTIVE | 19

Rezeptionsbedingungen, Interpretationen und kulturelle Wirkungen zu. Möglicherweise liegen sogar Unterhaltungsformen zugrunde, die per se archetypisch sind und nur jeweils nuanciert mit lokalen Traditionen re-kombiniert werden. Im konkreten Fall ist daher zu klären, in welchem Verhältnis die Formatierung beziehungsweise Adaption von Fernsehunterhaltung Prozesse der kulturellen Homogenisierung, Hybridisierung oder Heterogenisierung hervorbringt. Das heißt, dass untersucht werden muss, wo es zur Übernahme von Unterhaltungspraktiken kommt und wann Umdeutungen im lokalen Kontext wirksam werden. Mitunter liegt die kulturelle Bedeutung der globalen Zirkulation auch gar nicht im eigentlichen Produkt und seiner kollektiven Rezeption, sondern in Impulsen für lokale Kreativität, die sich in einer Veränderung der lokalen Produktions- beziehungsweise Fernsehlandschaft spiegelt. Insofern erscheint es sinnvoll zu fragen, auf welchen gesellschaftlichen Ebenen die Logik des Formathandels verortet werden kann und in welchen gesellschaftlichen Zonen sie eine mögliche Wirkung entfalten. Das zentrale Anliegen der Arbeit ist es, am Beispiel formatierter Fernsehunterhaltung konkrete Formen transkultureller Medienkommunikation herauszuarbeiten und die lokalen Bedeutungen von grenzüberschreitender Medienkommunikation theoretisch zu reflektieren. Damit sind auch Fragen nach Bedingungen und Möglichkeiten von »Weltkultur« aufzugreifen und klassische Theoreme der kulturellen Globalisierungsdiskussion einer kritischen Revision zu unterziehen, so dass am Ende ein Beitrag zur theoretischen Systematisierung der komplexen Zusammenhänge, Wirkungsebenen und -weisen grenzüberschreitender Medienkommunikation geleistet werden kann. Die Arbeit wird in einem ersten Schritt die Entwicklung des Formathandels und in einem weiteren Schritt die bisherige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Unterhaltungsformaten nachzeichnen und den Gegenstand formatierter Fernsehunterhaltung theoretisch verorten. Wie bereits angedeutet wurde, lässt sich eine theoretische Grundlage für die Untersuchung von Formaten aus drei wissenschaftlichen Diskursen herleiten: Erstens liegt hier im engeren Sinne ein kommunikations- und medientheoretischer Zugang zugrunde, der helfen wird, die Akteure und Prozesse der Medienkommunikation zu konzeptualisieren. Zweitens wählt die Arbeit einen kulturtheoretischen Zugang, der die alltagsrelevante Dimension von Unterhaltung reflektiert. Die grenzüberschreitende Dimension von Fernsehformaten wird drittens vor dem Hintergrund globalisierungstheoretischer Meta-Diskurse eingeordnet. Es wird davon ausgegangen, dass Dynamiken der Grenzüberschreitung im Formattransfer sowohl auf der Inhaltsebene der Formate als auch auf der Ebene ihrer (Re-)Produktion und Rezeption wirksam werden. Daher ist es nötig, den gesamten Produkttransfer von der (Re-)Produktion bis hin zur Rezeption zu rekonstruieren, um Aussagen darüber treffen zu können, ob die weltweit zirkulierende Fernsehunterhaltung eher globalen Gleichklang herstellt oder die Wirksamkeit lokaler kultureller Residuen untermauert. Als konkrete Anwendungsbeispiele werden zwei der

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weltweit erfolgreichsten Unterhaltungsformate der vergangenen Jahre – MILLIONÄR sowie GOT TALENT18 – gewählt. Die Arbeit rekonstruiert den Import der beiden Formate in die deutsche und arabische Fernsehlandschaft, um so die Integration gleicher Unterhaltungskonzepte in möglichst entfernte lokale Kontexte vergleichen zu können. Die jeweiligen Adaptionen WER WIRD MILLIONÄR und MAN SAYARBAH AL-MALYOON sowie DAS SUPERTALENT und ARABS GOT TALENT wurden in ähnlichen Zeiträumen zwischen 2010 und 2011 ausgestrahlt und haben vergleichbare Erfolge als »Leuchtturm«-Produktionen ihrer ausstrahlenden Sender RTL und MBC1 beziehungsweise MBC 4 erzielt. Die Sendungen liefern damit ein Beispiel für die Wiederholung populärkultureller Muster in unterschiedlichen Fernseh- beziehungsweise Medienkulturen, wobei deren konkrete lokale Ausgestaltung zu untersuchen ist. Auf Basis eines konstruktivistischen Kulturverständnisses, das einen akteurszentrierten Zusammenhang der Bedeutungs- und Praxisdimension von Kultur reflektiert, versucht die Arbeit zugleich, essenzialistische Pauschalisierungen über die Verfasstheit deutscher und arabischer Produktions- und Rezeptionskulturen zu vermeiden. Ein Mehrebenenmodell der Untersuchung wird die individuellen Perzeptionen von Produzenten und Rezipienten (mikroanalytische Ebene), die institutionellen Strukturen organisierter Akteure wie der Sender und Produktionsunternehmen (mesoanalytische Ebene) als auch tiefenstrukturelle Aspekte der politischen, historischen, sozio-kulturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen der betreffenden Fernsehkulturen (makroanalytische Ebene) verbinden. Konkret wurden für den transkulturellen Vergleich insgesamt 65 Stunden (52 Episoden) der betreffenden lokalen Adaptionen der beiden Unterhaltungsshows als Datenmaterial ausgewählt, gesichtet und im Rahmen einer qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet und interpretiert. Darüber hinaus wurden 19 beteiligte Akteure (Produzenten, Medienexperten, Kandidaten, Moderatoren) beider Fernsehlandschaften für die Rekonstruktion und Kontextualisierung der Produktionskontexte interviewt. 24 Gruppendiskussionen mit insgesamt 101 Teilnehmern (vorwiegend Schüler und Studenten), die in Deutschland und Ägypten zum Zweck dieser Arbeit durchgeführt wurden, bildeten daneben die Datengrundlage für eine qualitative 18

Im Folgenden bezeichnen die Kurzformen MILLIONÄR und GOT TALENT die jeweiligen Formate. Für eine klare Unterscheidung zwischen dem allgemeinen Format und den konkreten Formatadaption werden die deutschen und arabischen Versionen der beiden untersuchten Formate mit den jeweils vollständigen adaptierten Sendungstiteln genannt, d.h. WER WIRD MILLIONÄR und MAN SAYARBAH AL-MALYOON sowie DAS SUPERTALENT

und ARABS GOT TALENT. Bezüglich des letzten Sendungstitels wird sich für eine

Schreibweise ohne Apostroph entschieden. Die öffentliche Verwendung des Titels ist hier nicht einheitlich, sondern variiert hinsichtlich der Apostroph-Setzung bei ARABS bzw. ARAB’S GOT TALENT.

U NTERHALTUNGSKOMMUNIKATION UND F ERNSEHEN IN GLOBALER P ERSPEKTIVE | 21

Analyse der lokalen Rezeptionsmuster und Deutungen global verfügbarer Formate. Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, den theoretischen Debatten um die weltweite Zirkulation populärkultureller Medienangebote und insbesondere der Frage nach der konkreten Artikulation transkultureller Unterhaltungskommunikation Erkenntnisse aus umfangreichen und in diesem Maße bisher nicht triangulierten empirischen Daten zuzuführen. Diese sind geeignet, die globalisierungstheoretischen Diskurse um die vielgestaltigen Spannungen zwischen globalen und lokalen Dynamiken zu stimulieren.

1.1 F ORMATIERTES F ERNSEHEN IM 21. J AHRHUNDERT In einem der jüngsten Sammelbände zum Thema misst Tasha Oren dem »globalen Fernsehformat« einen symptomatischen Status für Fernsehen im 21. Jahrhundert bei und argumentiert, dass Formate die grundlegende Logik des Fernsehens inkorporiert hätten: »[I]t has come to typify what television is in our contemporary moment.«19 Die Autorin zielt damit vor allem auf zwei zentrale Eigenschaften des Fernsehens. Zum einen sei ein dichotomes Charakteristikum des Fernsehens, dass es gleichzeitig »Kreativität« und »formelhafte Regularität« erzeuge. Textuelle Innovation spiele sich also immer im Rahmen ritualisierter und vorhersehbarer televisueller Konventionen ab. Die Qualität des Fernsehformats, kreative Reproduktionen zuzulassen und gleichzeitig ein Regelsystem für eine wiedererkennbare Produktion zu liefern, illustriere genau diese essenzielle modulare Produktionslogik. Das zweite Charakteristikum betrifft die Vorstellung, dass Fernsehen einen kulturellen Referenzrahmen schafft, der sich durch Globalisierungsdynamiken der Kulturproduktion längst von territorialen Einheiten gelöst habe. In diesem Zusammenhang sei, so die Autorin, die Bedeutung des Fernsehens gerade für Prozesse der Identitätskonstruktion neu zu bestimmen: »In terms of its functionality and the dynamic feedback loop it generates between convention and innovation, locality and the (mediated) world, the global tv format is now television in its purest form.«20 Formatierung und Adaption sind demnach die beiden zentralen Kulturtechniken, die Fernsehformaten zugrunde liegen. Durch die Formatierung werden festgelegte Prinzipien der Darstellung standardisiert. Durch einen Prozess der Adaption wird die Programmvorlage ihrer Umwelt angepasst. Die Kombination dieser Techniken erlaubt es, dass nicht nur bereits fertiggestellte Programme international verkauft werden, sondern auch Sendungskonzepte zum Gegenstand des Handels wer19

Oren, Tasha (2012): Reiterational Texts and Global Imagination: Television Strikes Back. In: Dies.; Shahaf, Sharon (Hg.): Global Television Formats. Circulating Culture, Producing Identity. New York [u.a.]: Routledge, S. 366.

20

Ebd., S. 379.

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den können. Mögliche Eingriffe, um ein Programm weiter verwerten zu können, beschränken sich beim Formathandel nicht auf die Ebene der sprachlichen Zeichen wie im Fall von Untertitelungen oder Synchronisation, sondern sie schließen auch visuelle, konzeptuelle oder narrative Veränderungen mit ein, solange sie die Wiedererkennbarkeit gemäß einer Vertragsgrundlage gewährleisten. Theoretisch kann damit jedes Sendungskonzept, egal, ob es fiktionalen oder nicht-fiktionalen Genres zuzuordnen ist, zum Format werden – von Nachrichtenformen über Comedy- und Spielshows bis hin zur Fernsehserie.21 Insbesondere Angebote des sogenannten »Reality-Fernsehens« werden mitunter mit Fernsehformaten gleichgesetzt.22 Zwar existiert ein Zusammenhang zwischen dem Aufkommen des »Reality-TV« und der Verbreitung von Fernsehformaten, da gerade das Format BIG BROTHER in den 1990er Jahren nicht nur international zirkulierte, sondern auch einen Boom neuer Realityshows einleitete. Aber nicht jede »Reality-TV«-Show ist ein Format und vice versa. Oren schlägt indes eine geeignete Klassifizierung von Formaten anhand der jeweils transferierten Kernbestandteile vor. Sind Narrationen und Charaktere zentrales Charakteristikum des Formats, spricht sie von »narrative-based formats«, Spielshows bezeichnet sie als »procedure-based formats« und nicht-fiktionale Formate, die die Berichterstattung zu realweltlichen Ereignissen zum Gegenstand haben, nennt sie »indexical formats«.23 Allerdings schließt die letztgenannte Form jede Art der Übernahme von televisuellen Konventionen mit ein und beschränkt sich nicht auf ein einzelnes verkauftes Produkt.24 Dies hieße dann, dass beispielsweise auch die gesamte Nachrichtenaufbereitung von AL-JAZEERA als Adaption internationaler Nachrichtenkonventionen gefasst werden könnte ebenso wie Formen der 21

Die Unterscheidung zwischen »Format« und »Genre« bleibt in der Fernsehwissenschaft nicht trennscharf, wobei die Begriffsverwendung des Formats in dieser Arbeit das »Format« dem »Genre« unterordnet, da unterschiedlichste Formate dem gleichen Genre angehören können.

22

Bspw. bei Hill, Annette (2005): Reality TV. Audiences and Popular Factual Television. London [u.a.]: Routledge; Dies. (2007): Restyling Factual TV. Audiences and News, Documentary and Reality Genres. London [u.a.]: Routledge oder Hetsroni, Amir (Hg.) (2010): Reality Television. Merging the Global and the Local. New York: Nova Science Publishers.

23

Oren, Tasha (2012): Reiterational Texts and Global Imagination, S. 368. Ähnlich wird auch im deutschen Fernsehen zwischen Serien-, Nachrichten- und Showformaten sowie fiktionalen Sendungen, Informations- und Unterhaltungssendungen unterschieden. Etwa in Heinkelein, Marc (2004): Der Schutz der Urheber von Fernsehshows und Fernsehshowformaten. Baden-Baden: Nomos, S. 17; Faulstich, Werner (2008): Grundkurs Fernsehanalyse. Paderborn: Fink oder Hickethier, Knut (2007): Film- und Fernsehanalyse. 4 Aufl. Stuttgart: Metzler.

24

Oren, Tasha (2012): Reiterational Texts and Global Imagination, S. 368.

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weltweiten Sportberichterstattung. Eine Differenzierung zwischen der Adaptionen auf Programm- und Sendungsebene ist dann nur schwer möglich, wobei eine solche Unterscheidung sinnvoll erscheint. Denn eine Koorientierung an globalen Standards auf der Programmebene muss nicht zwangsläufig auch Ähnlichkeiten auf Sendungs- und Inhaltsebene beinhalten. Die Globalisierungsforschung hat im Bereich der politischen Kommunikation bereits gezeigt, dass Themen, Agenden und Frames der Nachrichtenberichterstattung trotz einer Angleichung journalistischer Professionsstile stark domestiziert bleiben.25 Dies trifft ebenso für Spielshows zu, die zwar überall auf der Welt zu finden sind, sich aber in Länge, Inhalt und Ausführung im internationalen Vergleich stark unterscheiden können.26 Die Aufrechterhaltung einer Unterscheidung zwischen Produktionsstilen der Programmgestaltung und konkreter Sendungskonzepte erscheint daher sinnvoll. Die Frage nach der globalen Wirksamkeit von Form und Inhalt – von Medium oder Message – bleibt analytisch jedoch sowohl bei der Adaption ganzer Programmstile als auch der Adaption einzelner Sendungen bestehen. Die Verwendung des Begriffs »Format« in dieser Arbeit folgt einer engen Definition, die sich auf die lokale Reproduktion konkreter Sendungen und nicht auf die Übernahme allgemeiner Konventionen ganzer Sendungsgattungen bezieht. Dabei stehen Spielshows im Vordergrund, die heute neben Serienkonzepten den Großteil der gehandelten Fernsehformate darstellen.27 Ein eindeutiger wissenschaftlicher Konsens über die Definition des Begriffs »Format« in Bezug auf international gehandelte Sendungskonzepte besteht indes nicht. Das mag an den verschiedenen Verwendungen des Terminus liegen, der im Kontext der Medienproduktion für unterschiedlichste Klassifikationen genutzt wird: von genormten Formaten in der Druckindustrie über die sogenannten »Formatradios« bis hin zum Fernsehen, wo Formate auf Programm-, Sender-, wie auch auf Sendungsebene eine bestimmte thematische, reichweitenorientierte oder wirtschaftliche Profilgebung beschreiben können.28 Formatierung als Produktionsstrategie

25

Hafez, Kai (2005): Mythos Globalisierung; Ders. (2002b): Die politische Dimension der Auslandsberichterstattung. Bd. 2. Baden-Baden: Nomos.

26

Cooper-Chen, Anne (1994): Games in the Global Village. A 50-Nation Study of Entertainment Television. Bowling Green: Bowling Green State University Popular Press.

27

Jäger, Elfi; Behrens, Sonja (Hg.) (2009): FRAPA Report 2009. TV Formats to the

28

Unter Formatradios sind die in den 1950er Jahren im US-amerikanischen Rundfunk ent-

World: FRAPA – Format Recognition and Protection Association e.V. standenen musikalischen oder inhaltlichen Profile wie »Contemporary Hit Radio« oder »Klassik« zu verstehen, die konkrete Zielgruppen ansprechen sollen. Hans-BredowInstitut (2006): Medien von A bis Z. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 144ff.; vgl. zu unterschiedlichen Verwendungen des Formats-Begriffs auch Türsch-

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kann sich mithin auch auf die Etablierung eines Star-Systems beziehen, auf die Verwendung von Genres und auf serielle Produktionen, die allesamt wiedererkennbare Muster für die Rezipienten schaffen.29 Erste konkrete Definitionsvorschläge für Fernsehformate zielten vor allem auf deren »modulare Bauweise«, also auf die Kombination aus veränderlichen und unveränderlichen Elementen einer Sendung.30 In der deutschen Rechtsprechung beispielsweise gilt als Format »die Gesamtheit der verwendeten Gestaltungselemente« in einer Fernsehshow31, und Albert Moran, einer der ersten, der sich mit Fernsehformaten wissenschaftlich beschäftigte, definiert diese als »that set of invariable elements in a program out of which the variable elements of an individual episode are produced.«32 Doch auch serielle Programmangebote, die nur in einem Fernsehmarkt ausgestrahlt werden, besitzen eine wiedererkennbare Grundstruktur und jeweils veränderliche Episoden. Ein Definitionsproblem entsteht hier durch die Unklarheit darüber, in welchem Stadium der Produktion ein Sendungskonzept zum Format wird. Schließt also das Format obligatorisch das umgesetzte Erscheinungsbild einer Sendung ein oder genügt bereits die papierne Konzeptidee? Definitionen, die das Format mit einem Sprachwerk gleichsetzen, favorisieren letztere Version.33 Medienrechtlich hingegen ist das bereits umgesetzte Erscheinungsbild als Erkennung der schöpferischen Qualität des Produkts von zentraler Bedeutung.34 Da das mann, Jörg; Wagner, Birgit (2011): TV global. Erfolgreiche Fernseh-Formate im internationalen Vergleich. Bielefeld: Transcript. 29

Hesmondhalgh, David (2007): The Cultural Industries. 2. Aufl. Los Angeles [u.a.]: Sage, S. 23; vgl. auch Ryan, Bill (1992): Making Capital from Culture. The Corporate Form of Capitalist Cultural Production. Berlin, New York: Walter de Gruyter.

30

Litten, Rüdiger (1997): Der Schutz von Fernsehshow- und Fernsehserienformaten. Eine Untersuchung anhand des deutschen, englischen und US-amerikanischen Rechts. München: Beck, S. 3. Vgl. auch Holzporz’ juristische Definition des Spielformats, in der das »formlose[s] Leitbild« und die »wechselnden Besonderheiten der Einzelsendungen« eine Synthese eingehen. Holzporz, Stefan (2002): Der rechtliche Schutz des Fernsehshowkonzepts. Münster: Lit, S. 14.

31

Ebd., S. 11.

32

Moran, Albert (1998): Copycat Television. Globalisation, Program Formats and Cultur-

33

Die Definition des »International Dictionary of Broadcasting and Film« betont bspw.

al Identity. Luton: University of Luton Press, S. 13. die in Schriftform vorliegende Idee. Formate sind demnach: »(1) scripted elements of program concept, an established pattern of presentation«. Bognár, Desi K. (1995): International Dictionary of Broadcasting and Film. Boston [u.a.]: Focal Press, S. 89. 34

Hallenberger schlägt, diese Definitionen integrierend, vor, dass Fernsehformat »[...] erstens allgemein bereits in Sendungsform vorliegende serielle Fernsehproduktionen bezeichnet, konkret bezieht sich der Begriff zweitens auf die unveränderlichen Elemente

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»format package« und das damit verbundene Know-how ebenso ein Vertragsbestandteil beim Lizenzkauf eines Formats ist wie das »paper format«, ist es sinnvoll, von einem Format erst nach Vorlage einer produzierten Sendung zu sprechen.35 Gemäß dieser definitorischen Unterscheidung lassen sich die einzelnen Formatbestandteile entlang ihrer Entstehungskette wie folgt veranschaulichen: Abbildung 1: Kernbestandteile des Fernsehformats

Paper Format

TV Programme Format

TV Programme Format Package

Formatkonzept

Realisierung des Konzepts

Lizenzbestandteile



Grundidee



Drehbuch



Televisuelle Umsetzung unterschiedlicher Programmkomponenten (Figuren, Story, Setting, Licht, Kamera, Schnitt etc.)

Weiterentwicklung

Pilotfilm



Formatkonzept (formale Regelung durch Format-Bibel)



Hintergrundwissen (Wissen aus Realisierung des Formats, etwa Castingplan, Produktionsplan, Budgetplan, Sendungshistorie)



Beratung

Akkumulation von Produktionswissen

Format-Bibel

Formatlizenz

Quelle: Eigene Darstellung nach Schmitt, Bison und Fey (2005, S. 48)

Entscheidender aber als die Frage nach der Form ist die Frage nach dem Inhalt der Vertragsbestandteile des Formathandels. Denn hier interessiert, in welcher Weise lokale Produktionen und Reproduktionen einander beeinflussen. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass viele Definitionsangebote das Fernsehformat unabhängig von seinem grenzüberschreitenden Potenzial erfassen. Dabei ist gerade die Reproduktion und Adaption von Formaten in unterschiedlichen Mediensystemen von Relevanz. Da Formatierungen und Adaptionen theoretisch auch innerhalb von nationalen Mediensystemen möglich sind, ist es notwendig, auf die grenzüberschreitende Dimension in einer Arbeitsdefinition des Fernsehformats zu verweisen.

serieller Produktion – also auf alles, was einzelne Folgen als Episoden der Gesamtproduktion erkennbar macht.« Hallenberger, Gerd (2005): Vergleichende Fernsehproduktund Programmforschung. In: Hepp, Andreas (Hg.): Globalisierung der Medienkommunikation. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 169. 35

Heinkelein, Marc (2004): Der Schutz der Urheber von Fernsehshows, S. 15; Schmitt, Daniel; Bisson, Guy; Fey, Alexander (Hg.) (2005): The Global Trade in Television Formats. Market Research Report. London; Moran, Albert; Malbon, Justin (2006): Understanding the Global TV Format. Bristol [u.a.]: Intellect, S. 23f.

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Wenn Fernsehformate wissenschaftlich oder populärwissenschaftlich diskutiert werden, dann sind zumeist diejenigen Formate gemeint, die in andere Fernsehlandschaften diffundiert sind. Jean Chalabys Definition des Formats als »a show that can generate a distinctive narrative and is licensed outside its country of origin in order to be adapted to local audiences«36, integriert die Möglichkeit der grenzüberschreitenden Adaption. Wesentlich ist hier, dass Formate »inhärent transnational«37 sind. Die Terminologie »transnational« allerdings ist nur eingeschränkt zutreffend, da zwar die meisten Formate in nationalen Medienlandschaften adaptiert werden, es aber inzwischen auch eine Reihe von regionalen Adaptionen gibt. Hierzu zählen Formate, die beispielsweise für ein breites arabisches Publikum von transnationalen Satellitensendern reproduziert wurden, Format-Varianten für ausgewählte Regionen wie die maghrebinische Version von MILLIONÄR oder Formate, die für bestimmte Sprachgemeinschaften innerhalb von Nationen adaptiert wurden. Als Arbeitsdefinition für den Untersuchungsgegenstand in dieser Arbeit soll daher gelten, dass unter Fernsehformaten jene unterhaltungsbetonten Programmangebote verstanden werden, die für die Reproduktion in weiteren regionalen, nationalen oder lokalen Fernsehlandschaften lizenziert wurden. Die Reproduktion des Formats erlaubt im Rahmen vorgegebener Freiräume die audiovisuelle, narrative und konzeptuelle Adaption der Vorlage. Die gestalterischen Freiräume, die im Lizenzhandel vorgesehen sind, deuten an, dass Formate nicht allein als ökonomische Waren betrachtet werden können. Sie sind zugleich kulturelle Artefakte. Dieses dichotome Charakteristikum des Fernsehformats als Kulturware schlägt sich auch nieder, wenn es unter juristischen Gesichtspunkten betrachtet wird. Denn rechtlich ist der Formathandel ein Lizenzgeschäft, das die Weiterveräußerung von Formaten regelt, also die spezifischen Nutzungsrechte einer zeitlich und inhaltlich begrenzten Verwendung eines urheberrechtlich geschützten Werkes.38 Allerdings bereitet gerade die Bestimmung dessen, was urheberrechtlich zu schützen ist, Probleme. Eine zugrundeliegende Idee kann allein nicht Gegenstand eines Schutzrechtes sein, ebenso wenig eine Methode des

36

Chalaby, Jean K. (2011): The Making of an Entertainment Revolution: How the TV Format Trade Became a Global Industry. In: European Journal of Communication 26 (4), S. 296; vgl. auch Ders. (2012): At the Origin of a Global Industry: The TV Format Trade as an Anglo-American Invention. In: Media, Culture and Society 34 (1), S. 37.

37

Ebd., S. 295.

38

Koch-Gombert, Dominik (2005): Fernsehformate und Formatfernsehen. TV-Angebotsentwicklung in Deutschland zwischen Programmgeschichte und Marketingstrategie. München: Meidenbauer, S. 177.

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Schaffens beziehungsweise eine Technik der Darstellung.39 Ein Urheberrecht kann nur bei einem Werk mit individueller geistiger Schöpfung wirksam werden.40 In der juristischen Anerkennung einer schöpferischen Individualität des Formats wird somit auch implizit seine kulturelle Bedeutung konstatiert. In einer solchen juristischen Lesart wäre die Formatadaption dementsprechend als kreative Wiederholung und Abwandlung einer kulturellen Ausdrucksform zu verstehen. Dem entspricht ebenso, dass gerade das Wissen um die Produktionsmuster und deren Umwelten (Zielgruppen, Merchandising-Möglichkeiten etc.) durch eine Lizenz erkauft wird. Es handelt sich also nicht allein um den Kauf einer veränderbaren Ware, sondern ebenso um einen Transfer von Wissen über kreative Darstellungsmöglichkeiten. Eine rein medienökonomische Definition von Fernsehformaten würde hingegen zentrale Erklärungsdimensionen ausschließen. Moran behandelt das Format beispielsweise als eine eher ökonomische Technik. Auch wenn er anmerkt, dass Formate zwar keine »handfesten Produkte« seien, orientiert sich deren Kontextualisierung dennoch stark am Franchising-Geschäft.41 Auch Knut Hickethiers Definitionsvorschlag reduziert das Format auf ein wirtschaftliches Prinzip, bei dem die Form der Funktion folgt: »Gegenüber dem tradierten Formverständnis geht das Verständnis des ›Formats‹ von einem radikalen Marktbegriff aus. Es kennt im Gegensatz zum Genre keine historischen Formentraditionen, sondern sieht alle Elemente nur unter dem Aspekt ihrer aktuellen Verwertbarkeit. 39

Lausen, Matthias (1998): Der Rechtsschutz von Sendeformaten. Baden-Baden: Nomos, S. 28. Lausens Darlegung bezieht sich auf den deutschen Rechtsdiskurs, da es trotz Bestrebungen zur Vereinheitlichung der Gesetzeslage keine international vergleichende Darstellung zur juristischen Behandlung von Formaten gibt. Grundsätzlich muss es um den juristischen Schutz des Ideengebers gehen, da dieser ein Format nicht ohne Produzenten realisieren kann, der sich dann wiederum die Idee des Formats selbst zu Eigen machen könnte. Ebenso erlaubt die Veröffentlichung einer Sendung als quasi-öffentliches Gut die ungehinderte Nachahmung durch Dritte. Nachahmungsfreiheit ist jedoch Bestandteil der Wirtschaftsfreiheit des Grundgesetzes. Demgegenüber würde ein absolutes Verwertungsmonopol auf Seiten des Ideengebers zu einer Monopolstellung führen und Innovationen erschweren. Das Urheber- und Geschmacksmusterrecht kann nur greifen, wenn die kreative Idee eines Formats als besondere Leistung gilt und damit durch ein Schutzrecht gegenüber Nachahmung zu bewahren ist. Vgl. auch Litten, Rüdiger (1997): Der Schutz von Fernsehshow- und Fernsehserienformaten, S. 8f.

40

Lausen argumentiert weiter: »Die erforderliche Individualität [für das Inkrafttreten des Schutzrechtes] ergibt sich dabei aus der Gesamtschau aller formatbildenden Elemente.« Ebd., S. 55; vgl. auch Holzporz, Stefan (2002): Der rechtliche Schutz des Fernsehshowkonzepts, S. 48ff.

41

Moran, Albert; Malbon, Justin (2006): Understanding The Global TV Format, S. 15.

28 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ? [...] Es zielt auf eine kontinuierliche und damit serielle Produktion und eine ständige Anpassung an erkennbare Veränderungen des Publikumsgeschmacks. Formatierung bedeutet vor allem auch die Schaffung gleichbleibender Standards in der seriellen oder sequentiellen Produktion.«42

Als Eigenschaft von Kulturgütern wird vor allem die Unsicherheit über den Erfolg und die Aufnahme von eingeführten kreativen Produkten benannt.43 Diese Unsicherheit wird zum Problem, wenn Kulturgüter im Kreislauf unternehmerischer Produktion bestehen müssen. Formatierung wird dann zum Imperativ einer Kulturproduktion, die marktfähige Waren für einen schwer voraussagbaren Kulturmarkt produzieren will,44 da Formatierung im Sinne einer Standardisierung im oben zitierten Sinn ein Mittel zur Verringerung der Gefahr eines Misserfolgs ist. Was schon erprobt und bekannt ist, kann besser finanziell kalkuliert werden als eine Innovation. Eine Eigenentwicklung hingegen ist häufig weitaus teurer als die Produktionskosten eines Formats, das zumindest theoretisch durch seinen Erfolg im Ursprungskontext auf vergleichbare Einschaltquoten und Werbeeinnahmen im Reproduktionskontext hoffen lässt. Da Formate hauptsächlich serielle Produktionen sind, ist auch eine schnelle Amortisierung der Kosten wahrscheinlich. Die Show- und Realityformate haben darüber hinaus häufig den Vorteil, dass die Kosten für Schauspieler und Stars reduziert werden können und dass sich durch die Partizipationsmöglichkeiten von Zuschauern in Casting-basierten Formaten zusätzliche Einnahmequellen durch Televoting und cross-mediale Anschlussproduktionen und Merchandising erzielen lassen. Gewissermaßen folgt der Formathandel also einem kapitalistischen Prinzip der Kulturproduktion und versucht, Sendungsangebote zu optimieren.45 Diese Vorteile des Formathandels werden insbesondere in heutigen Medienumgebungen attraktiv, in denen sich das Fernsehen mit zunehmenden ökonomischen Problemen konfrontiert sieht. Als Faktoren einer solchen Krise werden insbesondere der Einbruch von Werbeeinnahmen durch die »Internetblase«, gestiegene Produktionskosten, ein größerer Wettbewerb und der damit gestiegene Bedarf an einer lokalen Programmproduktion bei gleichzeitig sinkender Nachfrage und sinkenden Einnahmen aus Importen angeführt – mit Andrea Esser ausgedrückt: als »die alten Geschäftsmodelle un-

42

Hickethier, Knut (2007): Film- und Fernsehanalyse, S. 205f.

43

Caves, Richard E. (2002): Creative Industries. Contracts Between Art and Commerce. Cambridge [u.a.]: Harvard University Press, S. 3; Hesmondhalgh, David (2007): The Cultural Industries, S. 17ff.

44

Ryan, Bill (1992): Making Capital from Culture, S. 154.

45

Mikos, Lothar (2008): Film- und Fernsehanalyse. 2. Aufl. Konstanz: UVK, S. 269.

U NTERHALTUNGSKOMMUNIKATION UND F ERNSEHEN IN GLOBALER P ERSPEKTIVE | 29

zureichend geworden« waren, wurde der Formathandel attraktiv.46 Die Grundlogik des Formathandel, so ließe sich demnach argumentieren, liegt zunächst in der Kapitalisierung erfolgreicher Marken und weniger in kreativen Impulsen für die Unterhaltungsindustrien. Die plausiblen medienökonomischen Vorteile legen nahe, dass sich Formate, wollen sie international erfolgreich weiterverwertet werden, vor allem an ihrer Anpassungsfähigkeit an lokale Fernsehlandschaften messen lassen müssen. An dieser Stelle wird nun aber die Eindimensionalität ökonomischer Erklärungsperspektiven deutlich. Denn wie John Fiske bezüglich allgemeiner Medienproduktion konstatiert: »What is exchanged and circulated here is not wealth but meanings, pleasures, and social identities.«47 Formatierung im Fernsehen standardisiert demnach nicht nur erfolgreiche Produktionsweisen und -muster, sondern auch kreative Ideen und Symbole. Sie objektiviert Kultur und unterwirft sie dabei Gesetzen der Wiederholung, auch wenn das Ausmaß und die Wirkungsweisen dieser Formatierung weitestgehend ungeklärt sind. Theoretisch aber scheint Formatierung in diesem Sinne eine geeignete Voraussetzung für die Tradierung bestimmter kultureller Darstellungsmuster zu sein. Genau darin besteht nun ein zentraler Anknüpfungspunkt für Fragen der kulturellen Globalisierungsdynamiken. Dabei sind Fernsehformate keine marginalen Beispiele globaler Medienkommunikation, bedenkt man sowohl die Beschleunigung des Formathandels in den letzten Jahren als auch die Erfolgsquoten verschiedener Sendungen. Der Handel mit erfolgreichen Programmkonzepten ist im weltweiten Maßstab vor allem in den letzten drei Jahrzehnten sichtbar geworden, in denen Formate wie BIG BROTHER oder MILLIONÄR zu weit verbreiteten Fernsehphänomenen wurden. BIG BROTHER zählt bislang weltweit 740 Millionen Zuschauer.48 Manche Autoren sprechen sogar von einer »Formatrevolution«, die seit den 1990er Jahren eingesetzt habe. 49 Einzelne Clips von Castingsendungen haben überdies millionenfache Klicks auf YOUTUBE generieren können. Auch wenn es keine Gesamterhebung des Formathandels gibt, so lassen sich aus vorhandenen empirischen Zusammenstellungen zumindest einige Anhaltspunkte für die Dynamik und das Wachstum des Formathandels ableiten. Demnach ist der Anteil an vertriebenen Formaten innerhalb von vier Jahren etwa um das Doppelte gestiegen, von insgesamt 259 im Jahr 2005 auf 445 Formate im

46

Esser, Andrea (2010): Formatiertes Fernsehen. In: Media Perspektiven 11, S. 506; vgl. auch Dies. (2010): Television Formats: Primetime Staple, Global Market. In: Popular Communication 8 (4), S. 273-292.

47

Fiske, John (2007): Television Culture. London: Routledge, S. 311.

48

Moran, Albert; Aveyard, Karina (2014): The Place of Television Programme Formats.

49

Chalaby, Jean K. (2012): At the Origin of a Global Industry.

In: Continuum 28 (1), S. 18-27.

30 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ?

Jahr 2009.50 Der Umsatz betrug 2009 damit immerhin 9,3 Milliarden Euro. Einige ausschnitthafte Studien lassen darüber hinaus vermuten, dass Formate zumindest aus Produktionsperspektive inzwischen eine gewachsene Rolle in der PrimetimeProduktion einiger ausgewählter Fernsehlandschaften spielen.51 Einen sicheren empirischen Beleg für die Bedeutung von Fernsehformaten in Deutschland liefern etwa die jährlichen »International Key Facts«, die von der RTL Group und dem IP Network zusammengestellt werden. Demnach waren 2013 unter den 20 meistgesehenen Programmen der werberelevanten Zielgruppe neben Sportveranstaltungen und Filmen mit DEUTSCHLAND SUCHT DEN SUPERSTAR und ICH BIN EIN STAR, HOLT MICH HIER RAUS auch zwei erfolgreiche RTL-Formate vertreten. Adaptierte Formate

50

Jäger, Elfi; Behrens, Sonja (Hg.) (2009): FRAPA Report 2009.

51

Esser, Andrea (2010): Formatiertes Fernsehen; Dies. (2010): Television Formats. Esser hat den Anteil formatierter Programme in der Primetime der fünf größten US-amerikanischen und deutschen Sender erhoben. In den USA ließen sich demnach zwischen September 2007 und Juni 2008 insgesamt 47 ausgestrahlte Formate finden, die wiederum 33 Prozent der gesamten Sendezeit in der Primetime (3,365 Sendestunden) füllten. Da jedoch Nutzerreichweiten oder Anteile am Zuschauermarkt nicht mit in die Studie einflossen, liefern die Daten nur einen quantitativen Eindruck aus Produktionsperspektive. Interessant ist dennoch, dass auf den fünf US-amerikanischen Sendern 47 der 218 berücksichtigten Sendungen internationale Formattitel waren. Das entspricht immerhin 21,6 Prozent aller ausgestrahlten Sendungen in der US-Primetime, wobei die USA medienhistorisch nicht vom Programmimport abhängig waren. Allerdings werden auch originäre US-Formate wie AMERICA’S NEXT TOPMODEL aufgelistet, die eigentlich lokale Eigenentwicklung sind. Eine Bilanzierung der Bedeutung der Formatierung ist daher auf dieser Grundlage noch nicht zu leisten. Dies muss auch zu Teilen für eine vergleichende Datensammlung der deutschen Primetime gelten, in der in den Jahren 2008 und 2009 insgesamt 70 unterschiedliche Formate während der Primetime auf den fünf größten deutschen Sendern liefen, was einem ähnlichen Durchschnitt von 33 Prozent der Sendezeit entspricht. Dabei war ein großer Unterschied zwischen öffentlich-rechtlichen und privatwirtschaftlichen Sendern zu beobachten. Esser liefert hier Angaben zur Sehbeteiligung mit, die insgesamt eine starke Resonanz bei den Zuschauern verdeutlichen. An Aussagekraft büßt die Darstellung aber dadurch ein, dass sie nicht zwischen unterhaltenden und informativen Genres unterscheidet. So ist bspw. anzunehmen, dass die hohe Sehbeteiligung bei Nicht-Formaten in den öffentlich-rechtlichen Sendern auf die Nachrichtenangebote in der Primetime zurückzuführen ist und damit kaum ein Vergleich mit der Sehbeteiligung von Formaten möglich ist, die zumeist unterhaltende Angebote sind. Insgesamt aber lässt sich trotz Unsicherheiten der Datenlage die große Bedeutung der Formatierung im Fernsehen hier erkennen.

U NTERHALTUNGSKOMMUNIKATION UND F ERNSEHEN IN GLOBALER P ERSPEKTIVE | 31

zählen außerdem zu den reichweitenstärksten Programmen der Zuschauer von RTL, SAT.1 und PRO7.52 Indes sind Kopien und Adaptionen schon immer gängige Formen der Produktbeschaffung in den Medien gewesen. Die Filmindustrie beispielsweise lebt seit jeher von der Adaption narrativer und dramatischer Textvorlagen. Das Fernsehen selbst bediente sich in den ersten Jahren vielfach an Spielshows aus dem Hörfunk, die dann in das neue Medium überführt wurden. Folgt man Jérôme Bourdon, dann reicht der erste systematische internationale Formattransfer sogar bis ins 19. Jahrhundert zurück. Damals ließen sich die europäischen Herausgeber der neu entstandenen Massenpresse in Paris und London bereits von US-amerikanischen Vorlagen inspirieren.53 Als formative Phase des internationalen Fernsehformathandels allerdings lässt sich der Zeitraum zwischen den 1920er und 1970er Jahren bezeichnen. Kopiert wurden in dieser Zeit vor allem Quiz- und Spielshow-Ideen aus dem US-amerikanischen Fernsehen in Großbritannien, Deutschland, den Niederlanden, seit den 1950er Jahren auch in Australien und Südamerika.54 In Europa importierte zunächst vor allem Großbritannien aufgrund der sprachlichen Nähe und einem gut entwickelten Fernsehsektor Formate aus den USA. Als eines der ersten Formate gilt die einmalig ausgestrahlte BBC-Show IGNORANCE IS BLISS, die auf eine US-amerikanische Sendung zurückgeht, die sich IT PAYS TO BE IGNORANT nannte und 1942 im New Yorker Fernsehen lief und für deren Übernahme die BBC auch einen finanziellen Ausgleich zahlte.55 WHAT’S MY LINE hingegen gilt als erstes importiertes Format, das auch regelmäßig auf Sendung ging. Die Sendung war seit 1950 auf CBS TV in den USA zu sehen und wurde im Juli 1951 von der BBC ausgestrahlt. Mit frühen Reproduktionen in Deutschland, Brasilien, Kanada, Australien, Südkorea, Spanien, Venezuela und weiteren Neuauflagen in Tschechien oder Indonesien ist das Rateformat ein erster weltweiter Erfolg. Allerdings folgte der Handel mit Ideen in dieser Zeit noch keinen standardisierten Regeln und justiziablen Lizenzen. Vielmehr regelten bilaterale Absprachen über finanzielle Entschädigungen die Weiterverwendung, wenngleich der Vertrag zwischen der BBC und dem Erfinder von WHAT’S MY LINE 52

IP Network; RTL Group (2013): Television International Key Facts 2013.

53

Bourdon, Jérôme (2012): From Discrete Adaptations to Hard Copies. The Rise of Formats in European Television. In: Oren, Tasha; Shahaf, Sharon (Hg.): Global Television Formats. Circulating Culture, Producing Identity. New York [u.a.]: Routledge, S. 113.

54

Moran, Albert (1998): Copycat Television, S. 18; vgl. auch Bourdon, Jérôme (2012): From Discrete Adaptations to Hard Copies; Waisbord, Silvio (2004): McTV. Understanding the Global Popularity of TV Formats. In: Television and New Media 2004 (5), S. 359-363; Koch-Gombert, Dominik (2005): Fernsehformate und Formatfernsehen; Chalaby, Jean K. (2012): At the Origin of a Global Industry.

55

Chalaby, Jean K. (2012): At the Origin of a Global Industry.

32 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ?

als Urdokument des Formathandels gelten kann.56 Der Formathandel kann im Rückblick insofern wohl als angloamerikanische Erfindung betrachtet werden, insofern die ersten Deals zwischen den USA und Großbritannien abgeschlossen wurden und sich die meisten etablierenden europäischen Sender zunächst von den dortigen Angeboten inspirieren ließen.57 Andererseits muss auch berücksichtigt werden, dass der Austausch kreativer Ideen in anderen Regionen der Welt im englischsprachigen Diskurs kaum beachtet wurde. Beispielsweise ist durchaus vorstellbar, dass auch innerhalb der arabischen und iberoamerikanischen Fernsehlandschaft lokale Programmideen bereits vor dem formalisierten Formathandel auf Basis bilateraler Beziehungen weiterveräußert wurden. Die umfassenden Deregulierungs- und Kommerzialisierungsdynamiken in europäischen und später auch außereuropäischen Fernsehlandschaften bedingten jedoch den enormen Anstieg des Imports US-amerikanischer Spielfilme, Serien und Sendungen seit den 1970er Jahren. Viele der neu entstandenen privaten Rundfunksender hatten Programmplätze zu füllen und bedienten sich am Bestand des USamerikanischen Fernsehrepertoires.58 Die Einflussnahme der USA auf die kommerzielle Umgestaltung europäischer Rundfunksysteme in der Nachkriegszeit hatte die Herausbildung von Strukturen für die Übernahme von unterhaltenden Inhalten begünstigt. Die Kommerzialisierung und die damit verbundene Nachfrage nach günstigen Angeboten beeinflusste insbesondere die Formalisierungstendenzen des Formathandels, der seit den 1980er Jahren zunehmend zur systematischen Produktionspolitik wurde.59 Die Erfolgsformate WHEEL OF FORTUNE, das 1975 in den USA konzipiert worden war, und THE PRICE IS RIGHT, das bereits seit 1956 in den USA ausgestrahlt wurde, wurden erstmals mit Lizenzvorgaben international verkauft. Auch SALE OF THE CENTURY wurde 1969 auf NBC in den USA ausgestrahlt und in den 1980er Jahren nach Australien, Hong Kong, Großbritannien, Neuseeland und in den 1990er Jahren nach Deutschland, Griechenland, Paraguay und nach Indonesien verkauft.60 Neben den US-amerikanischen Spielshows begannen in den 1970er Jahren auch zunehmend fiktionale Serien grenzüberschreitend zu zirkulieren. Lateinamerikanische Telenovelas wurden zu dieser Zeit bereits in etwa 50 Ländern ausgestrahlt und später dann auch weltweit adaptiert. Die australische Firma GRUNDY

56

Ebd.

57

Ebd.; Bourdon, Jérôme (2012): From Discrete Adaptations to Hard Copies; Moran, Albert (2013): Global Television Formats: Genesis and Growth. In: Critical Studies in Television: The International Journal of Television Studies 8 (2), S. 1-19.

58

Koch-Gombert, Dominik (2005): Fernsehformate und Formatfernsehen, S. 186; Bour-

59

Ebd.; Moran, Albert (1998): Copycat Television, S. 18.

60

Ebd., S. 80.

don, Jérôme (2012): From Discrete Adaptations to Hard Copies.

U NTERHALTUNGSKOMMUNIKATION UND F ERNSEHEN IN GLOBALER P ERSPEKTIVE | 33

vermarktete in den 1970er Jahren ebenfalls die erfolgreichen Serien THE RESTLESS YEARS, EASTENDERS und SONS AND DAUGHTERS in internationalen Adaptionen. Die Firma GRUNDY in Australien wie auch die Firma FREMANTLE CORPORATION, die in den USA als erstes Unternehmen zur internationalen Distribution von Serien- und Formatangeboten gegründet worden war, waren mit den oben genannten Erfolgsformaten die Akteure der ersten Stunde des Formathandels in den späten 1970er und 1980er Jahren. Auf dem sich zunehmend etablierenden Formatmarkt kam es seit den 1980er Jahren allerdings zu mehrfachen Verschiebungen hinsichtlich der Akteurskonstellationen. Während in den formativen Jahren des Fernsehens Formatvorlagen vor allem aus den USA kamen, entstanden seit den 1990er Jahren auch im nördlichen Europa neue, marktkräftige Produktionsunternehmen und in der Folge etablierte sich Europa zu einem ernst zu nehmenden Markt für Unterhaltungsformate. Der Trend ging so weit, dass Europa schließlich zum Zentrum des Formathandels wurde.61 Besonders das transnationale Produktionsunternehmen ENDEMOL aus den Niederlanden verzeichnete große Erfolge, nicht zuletzt durch das Format BIG BROTHER, das einen weltweiten Reality-Boom auslöste. Aber auch die britische Firma ACTION TIME und die BBC in Großbritannien erkannten die Vorteile der Lizenzierung von Sendungsformaten früh. Großbritannien ist bis heute einer der führenden Formatexporteure. Transnational agierende Produktionsunternehmen wie FREMANTLE MEDIA,62 ENDEMOL oder BANIJAI spezialisierten sich auf die Formatentwicklung und richteten internationale Workshops sowie »Think Tanks« zur Formatproduktion ein. Es kamen sukzessive auch Unternehmen auf den Markt, die sich nur auf die Formatdistribution spezialisierten. Darüber hinaus sind mit TV GLOBO und TELEVISA auch die lateinamerikanischen Unternehmen mit dem Verkauf von Telenovelas zu wichtigen Akteuren des Formatmarktes avanciert. Es lässt sich zusammenfassend sagen, dass der Formatmarkt deutliche Tendenzen der Institutionalisierung und Ausdifferenzierung aufweist und sich dessen Regulierungssystem konsolidiert hat. Mit den Worten von Moran: »Formats are registered for copyright purposes, format libraries are bought and sold, licence fees are paid, legal threats are continually made and court actions launched.«63 Ferner reflektiert sich die Formatbranche innerhalb des Unterhaltungsfernsehens zunehmend selbst und es ist zur Gründung von Institutionen der Selbstkontrolle gekommen. Dazu zählt die gestiegene Aufmerksamkeit für Fernsehformate auf

61

Moran, Albert (2013): Global Television Formats: Genesis and Growth.

62

Die FREMANTLE CORPORATION wurde in mehreren Fusionierungs- und Verkaufsprozessen Teil der UFA und im Jahr 2000 Teil der RTL Group und benannte sich dann in FREMANTLE MEDIA um.

63

Moran, Albert (1998): Copycat Television, S. 17.

34 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ?

den internationalen Fernsehmessen und in damit verbundenen Fachpublikationen.64 Neben den Messeveranstaltungen wurde 2003 auch ein internationales Verständigungsforum für die Branche eingerichtet, die sogenannte FRAPA (Format Registration And Protection Association). Es handelt sich dabei um eine Art inoffizielles Patentamt, das mithin als Mediator in urheberrechtlichen Disputen um Formate auftritt und die internationale Anerkennung von Formaten als einzigartiges intellektuelles Eigentum vorantreibt.65 Die Vereinheitlichungsbestrebungen auf juristischer Ebene gründen letztlich aber nicht in Bestrebungen nach einer kulturellen Vereinheitlichung, sondern in der Sicherstellung des finanziellen Gewinns, der sich durch eine Weiternutzung ergibt. Vielfach hingewiesen wird in der Literatur diesbezüglich auf die Produktionskultur in China, wo unlizenzierte Kopien von Formaten aufgrund eines anderen Umgangs mit intellektuellem Eigentum üblich seien.66 Neben einer deutlichen Institutionalisierung lassen die Entwicklungen der Formatbranche auch eine zunehmende Professionalisierung erkennen. Hierzu zählt die Einrichtung von Preisverleihungen67 und Akademien. Beispielsweise wurde 2007 eine »Entertainment Master Class« eingerichtet, deren verschiedene Module Nachwuchsproduzenten einladen, institutionelle Kontakte aufzubauen und Erfahrungen des Formathandels auszutauschen. Eine solche Plattform für die internationale Ausbildung befördert auch die zunehmende internationale Integration und Expansion des Formathandels. Wenngleich Großbritannien, die USA, die Niederlande und Argentinien nach wie vor die größten Formatexporteure sind, spricht vieles dafür, dass die internationale Diffusion von Formaten disperser geworden ist und die beteiligten Akteure inzwischen so dynamisch agieren, dass die Bestimmung von deutlichen Zentren und Peripherien der Formatproduktion beziehungsweise die Unterscheidung zwischen Formatexporteuren und -importeuren nicht mehr einfach vorzunehmen ist. Beispielsweise galten Deutschland, Italien und Spanien in einer ersten Un64

2004 fand das erste »Formats Forum« in Monte Carlo statt, mehrtägige Fachprogramme wie die »MIPFormats« finden sich regelmäßig auf den internationalen Fachmessen.

65

Moran, Albert; Malbon, Justin (2006): Understanding The Global TV Format; The For-

66

Cooper-Chen, Anne (1994): Games in the Global Village, S. 145; vgl. auch Moran, Al-

mat Recognition And Protection Association (2014). http://www.frapa.org/. bert; Keane, Michael (2004): Television Across Asia. Television Industries, Programme Formats and Globalization. London: RoutledgeCurzon; Dies. (2006): Copycat TV and New Trade Routes in Asia and the Pacific. In: Harvey, Sylvia (Hg.): Trading Culture. Global Traffic and Local Cultures in Film and Television. Eastleigh: John Libbey, S. 105-117. 67

Bspw. wurden die »FRAPA Format Awards« 2003 auf dem Monte Carlo TV Festival und 2005 beim »Television Rose d’Or« Festival in Luzern verliehen. Gemeinsam mit C21MEDIA wird der Preis seit 2007 auf der »MIPCOM« in Frankreich verliehen. http://www.frapa.org/.

U NTERHALTUNGSKOMMUNIKATION UND F ERNSEHEN IN GLOBALER P ERSPEKTIVE | 35

tersuchung des Formathandels noch als Formatimporteure.68 In einer Erhebung, die nur vier Jahre später vorgenommen wurde, verzeichnen diese Länder bereits nennenswerte Erfolge als Formatexporteure.69 Japan, Israel und auch Produktionsunternehmen aus der arabischen Welt sind neue Akteure auf dem Formatmarkt.70 Die Zunahme an Heterogenität des Formatmarktes lässt sich dementsprechend ebenso an den beteiligten Produktionsunternehmen ablesen. Neben zentralen »global players«, wie der britischen Firma FREMANTLE MEDIA oder dem niederländischen ENDEMOL, nehmen auch zunehmend kleinere und neuere Firmen am internationalen Wettbewerb teil, wie etwa die transnationalen Unternehmen EYEWORKS und ALL3MEDIA.71 Doch nicht nur endogene strukturelle Entwicklungen des Formathandels verändern die Produktionslandschaft, auch exogene Globalisierungsdynamiken im Bereich der Informationstechnologien haben einen maßgeblichen Einfluss auf die Heterogenisierung der Strukturen, da sie Mittel zur Verfügung stellen, durch die sich die Dynamik des Transfers erhöht. Während die Spielshows vor den 1990er Jahren meist mehrere Jahre für ihre internationale Verbreitung brauchten, werden die Lizenzen heute innerhalb kürzester Zeit nach Ausstrahlungsdatum verkauft und Formate reproduziert. Als 1999 beispielsweise BIG BROTHER erfolgreich auf Sendung gegangen war, sollen nur wenige Wochen später viele Sender anderer Länder an den Rechten interessiert gewesen sein.72 Gerade die Digitalisierung erlaubt heute den ungehinderten und synchronen Zugriff auf Formatausstrahlungen, so dass sich die Zeit zwischen Ursprungs- und Nachfolgeproduktionen enorm verkürzt hat.73 Diese Beschleunigung des Formathandels und die damit einhergehende Synchronität der Formatproduktion und ihres Konsums zeichnen die aktuelle Entwicklung des Formatmarkts aus. Eine Ausdifferenzierung ist auch auf der Ebene der Genres zu erkennen. Denn während sich der Formathandel zunächst hauptsächlich auf Spielshows beschränkte, wurden sukzessive auch fiktionale Serien zum Format, ebenso »Telenovelas« und seit den 1990ern »non-scripted Reality-TV« bis hin zu »Lifestyle-« und 68

Schmitt, Daniel; Bisson, Guy; Fey, Alexander (Hg.): The Global Trade in Television

69

Jäger, Elfi; Behrens, Sonja (Hg.) (2009): FRAPA Report 2009.

70

Ebd.; vgl. auch Esser, Andrea (2010): Television Formats.

71

Moran, Albert (2013): Global Television Formats: Genesis and Growth, S. 12.

72

Kirsch, Thomas (2001): Und die Welt schaut zu. Der internationale Siegeszug von ›Big

Formats.

Brother‹. In: Böhme-Dürr, Karin (Hg.): Hundert Tage Aufmerksamkeit. Das Zusammenspiel von Medien, Menschen und Märkten bei ›Big Brother‹. Konstanz: UVK, S. 279-312. 73

Dies wurde auch in Interviews von Experten der Formatbranche, die im Rahmen dieser Arbeit durchgeführt wurden, bestätigt.

36 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ?

»Makeover-Formaten« im Bereich des »scripted Reality-TV«. Die Formatierung hat insofern inzwischen nahezu alle Gattungen der fiktionalen und nicht-fiktionalen televisuellen Darstellung erreicht.74 Darüber hinaus ist zu beobachten, dass in manchen Fernsehmärkten Formate sowohl in Originalversion als auch in einer lokal adaptierten Version gesendet werden.75 NEXT TOP MODEL, AMERICA’S GOT TALENT und AMERICAN IDOL beispielsweise haben inzwischen auch ein Publikum außerhalb ihres ursprünglichen Ausstrahlungsgebietes gefunden. Auch wenn die tatsächliche Reichweite beim internationalen Publikum fraglich bleibt, so ist diese jüngere Entwicklung zumindest ein Zeichen für die Komplexität der Verbreitungswege von Formaten und auch dafür, dass selbst »Reality-TV« ein Export-Potenzial hat. Hinsichtlich der Sichtbarkeit der internationalen Verbreitung von Formaten auf der Repräsentationsebene ist festzustellen, dass eine Verwandtschaft mit den Ursprungsformaten oder anderen Versionen nicht mehr grundsätzlich vertuscht wird, wie es bisher üblich war.76 Ein Beispiel ist hier die Bewerbung zu ARABS GOT TALENT, die ganz gezielt auf den internationalen Anschluss an die Erfolgsformate AMERICA’S GOT TALENT und BRITAIN’S GOT TALENT aufmerksam machte. Ähnlich argumentiert Oren auch am Beispiel der israelischen Version von SO YOU THINK YOU CAN DANCE, die sich ebenso als Teil eines internationalen Booms des Formats präsentiert habe.77 Der stark verdichtete historische Abriss der Entwicklung des Formathandels und die vorhandenen empirischen Daten müssen sich die Kritik gefallen lassen, dass sie vor allem eine Branchengeschichte aus euro-amerikanischer Perspektive schreiben. Ganze Regionen wie die arabische Welt werden aus den Studien ausgeschlossen und spezifische regionale Entwicklungen des Formattauschs beispielsweise in Asien werden nicht erfasst. Ein detaillierter Rückblick auf die jeweilige Entwicklung des Formatfernsehens in den untersuchten nationalen und transnationalen Fernsehlandschaften (Deutschland und arabische Welt) werden im weiteren Verlauf der Studie die Überblicksdarstellung ergänzen. Hier sollte zunächst gezeigt werden, dass Formatfernsehen zu einem ernst zu nehmenden Phänomen der internationalen Fernsehproduktion avanciert ist. In seinem Ausmaß ist der Formathandel damit durchaus als ein grenzüberschreitendes globales Phänomen zu werten. Das Produktionsmuster der Formatierung ist dementsprechend längst zu einer universalen Produktionspraxis geworden. Die Beantwortung der Frage, ob dies allerdings auch zu einer Standardisierung von Kreativität und Kultur geführt hat, ist Aufgabe 74

Hallenberger, Gerd (2002): Fernsehformate und internationaler Formathandel. In: HansBredow-Institut (Hg.): Internationales Handbuch Medien 2002-2003. 26. Aufl. BadenBaden: Nomos, S. 130-137.

75

Moran, Albert; Aveyard, Karina (2014): The Place of Television Programme.

76

Moran, Albert (2013): Global Television Formats: Genesis and Growth.

77

Oren, Tasha (2012): Reiterational Texts and Global Imagination.

U NTERHALTUNGSKOMMUNIKATION UND F ERNSEHEN IN GLOBALER P ERSPEKTIVE | 37

wissenschaftlicher Beobachtung. Das nachfolgende Kapitel beschäftigt sich daher weiterführend mit der wissenschaftlichen Auseinandersetzung des Phänomens der Fernsehformate.

1.2 U NTERHALTUNGSKOMMUNIKATION UND F ERNSEHFORMATE IN DER K ULTUR - UND K OMMUNIKATIONSWISSENSCHAFT Fernsehformate werden in wissenschaftlichen Zusammenhängen gern als geeignetes Anschauungsbeispiel für die Komplexität grenzüberschreitender Medienkommunikation angeführt. Die dargestellte Entwicklung des Phänomens macht dies schnell plausibel: Die weltweite Verbreitung gleicher Konzepte ist enorm angestiegen und gemessen an ihrem Erfolg sind es heute vor allem adaptierte Formate, die die meisten Zuschauer vor den Fernsehern versammeln können. Formate überschreiten Grenzen und reproduzieren selbige zugleich, da in den Adaptionen scheinbar nationale und lokale symbolische Repertoires integriert werden. Selten kommen wissenschaftliche Diskussionen über Formate daher ohne den Verweis auf die Theoreme der Glokalisierung oder Hybridisierung aus. Erstaunlicherweise aber ist eine kohärente Theoriearbeit zu Fernsehformaten bisher nur in Ansätzen geleistet worden. Dabei hat das akademische Interesse am Gegenstand innerhalb der letzten zehn Jahre durchaus zugenommen. Das lässt sich etwa an der gewachsenen Zahl von Publikationen ablesen, ebenso an der Präsenz des Themas auf wissenschaftlichen Tagungen.78 Auch gibt es erste Autoren, die »Fernsehformat-Forschung« inzwischen als einen eigenen Teilbereich der Medien- und Kommunikationsforschung ansehen.79 Aufgrund der geringen Konsolidierung der Formatforschung muss aber wohl eher von einem kommunikationswissenschaftlichen Diskursfeld als von einem institutionalisierten Disziplinbereich ausgegangen werden. In der inhaltlichen Ausrichtung der Forschung ist dabei in jüngerer Zeit eine Verschiebung von eher praxisorientierten Darstellungen hin zu kulturtheoretisch orientierten Analysen von Fernsehformaten zu erkennen. Während in den ersten Pu-

78

Zu interdisziplinären Tagungen, auf denen Beiträge zu Fernsehformaten vertreten waren, zählen beispielhaft die internationalen Konferenzen des Netzwerks »Media Across Borders«, die von der Universität Roehampton London ausgerichtet wurden, die IAMCR (International Association for Media and Communication Research) 2013 mit einem eigens für Formate ausgerichteten Panel, ein Online-Workshop von Albert Moran und Pia Jensen sowie der WOCMES (World Congress of Middle East Studies) 2014 in Ankara.

79

Oren, Tasha; Shahaf, Sharon (2012): Introduction: Television Formats.

38 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ?

blikationen des Medienwissenschaftlers Moran Formate vor allem vor dem Hintergrund ihrer Programmgeschichte und ihrer Institutionalisierung dargestellt wurden,80 diskutieren aktuellere Fallstudien eher ausgewählte theoretische Teilaspekte wie inhaltliche Unterschiede, Repräsentationsstragien und Identifikationsangebote. Systematische und vor allem integrative Arbeiten, die über anwendungsbezogene Aufarbeitungen des Formathandels oder über entwurfartige theoriegeleitete komparative Fallstudien hinausgehen, sind jedoch weiterhin rar. Allein der jüngste Sammelband ist Zeugnis für die zwar wachsende, aber zugleich hochgradig fragmentierte Forschung zum Thema.81 Im Folgenden wird der Forschungsbereich zu Fernsehformaten daher grob systematisiert, indem unterschiedliche Perspektiven und theoretische Grundlagen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung geordnet werden. Mit der Arbeit von Katja Lantzsch liegt eine thematisch einschlägige Monographie im deutschsprachigen Raum vor, die den Formathandel aus organisationssoziologischer Perspektive aufarbeitet. Durch den Fokus auf die institutionellen Strukturen werden jedoch kaum kulturtheoretische Überlegungen zum Inhalt oder zur Bedeutung der Formate angestellt.82 Ein weiterer Sammelband zur Unterhaltungsproduktion von Lantzsch und Altmeppen verfolgt ebenso eine stark branchenorientierte Darstellung, die sich in die bereits angesprochenen Aufarbeitungen des Formathandels aus Institutionenperspektive bei Moran einreiht.83 Timothy Havens sowie Denise Bielby und Lee Harrington wählen in ihren Untersuchungen des globalen Fernsehmarkts ebenso einen marktorientierten Zugang, arbeiten aber bereits stärker die Gatekeeper-Funktion der Unterhaltungsproduzenten zwischen globalen und lokalen Marktanforderungen sowie Einflussfaktoren, Wirkungsweisen und Dynamiken der Produzentenpraktiken heraus. Hier gerät dann verstärkt die soziale und kulturelle

80

Moran, Albert (2009): New Flows in Global TV. Bristol [u.a.]: Intellect; vgl. auch Ders.; Malbon, Justin (2006): Understanding The Global TV Format. Letztgenannte Publikation richtet sich bspw. explizit an ein breites, nicht allein akademisches Publikum: »It can be read by the general public and by the TV industry alike for insight and detail as to just how this particular kind of television works.« Ebd., S. 12.

81

Oren, Tasha; Shahaf, Sharon (Hg.) (2012): Global Television Formats; vgl. auch Grüne, Anne (2013): Review: Global Television Formats. Understanding Television Across Borders. In: Global Media Journal (German Edition) 3 (2).

82

Lantzsch, Katja (2008): Der internationale Fernsehformathandel. Akteure, Strategien,

83

Lantzsch, Katja; Altmeppen, Klaus-Dieter; Will, Andreas (Hg.) (2010): Handbuch Un-

Strukturen, Organisationsformen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. terhaltungsproduktion. Beschaffung und Produktion von Fernsehunterhaltung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

U NTERHALTUNGSKOMMUNIKATION UND F ERNSEHEN IN GLOBALER P ERSPEKTIVE | 39

Dimension des Handels mit kreativen Produkten in den Blick.84 Der Formathandel spielt jedoch in beiden Monographien nur eine untergeordnete Rolle, da auch die Zirkulation unveränderter Film- und Fernsehangebote untersucht wird, was aber letztlich eine andere Form der Unterhaltungsproduktion darstellt. Ein weiterer Bereich sind Kontextanalysen, die die Entwicklung des Formathandels, die Entwicklung von »Formatgeschichten« oder die Entwicklung von Genres und Formaten in unterschiedlichen Regionen der Welt herausgearbeitet haben und dabei insbesondere lokale Dynamiken der Ausbildung narrativer Darstellungskonventionen untersucht haben. Hierzu können Arbeiten zur Entwicklung der lateinamerikanischen »Telenovela« gezählt werden,85 ebenso zum Einfluss des Formatfernsehens auf asiatische Fernsehlandschaften86 oder zu gesellschaftlichen Implikationen des Formatfernsehens in der arabischen Welt.87 In diesen Beispielen stehen weniger einzelne Formate und deren Inhalte im Vordergrund als vielmehr die öffentlichen Anschlussdiskurse über Formate. Neben den produktions- und marktorientierten Analysen sowie den Darstellungen von Entwicklungsdynamiken in unterschiedlichen Regionen lässt sich dann ein weiteres Feld definieren, das sich aus diversen inhaltsanalytischen Untersuchungen 84

Havens, Timothy (2006): Global Television Marketplace. London: BFI; Bielby, Denise; Harrington, Lee (2008): Global TV. Exporting Television and Culture in the World Market. New York: New York University Press.

85

Straubhaar, Joseph; La Pastina, Antonio (2005): Multiple Proximities Between Television Genres and Audiences. The Schism Between Telenovelas’ Global Distribution and Local Consumption. In: Gazette: The International Journal for Communication Studies 67 (3), S. 271-288; Biltereyst, Daniel; Meers, Phillip (2000): The International Telenovela Debate and the Contra-Flow Arguments: a Reappraisal. In: Media, Culture and Society 22 (4), S. 339-413.

86

Moran, Albert; Keane, Michael (2004): Television Across Asia; Keane, Michael (2002): As a Hundred Television Formats Bloom, a Thousand Television Stations Contend. In: Journal of Contemporary China 11 (30), S. 5-16; Ders.; Fung, Anthony; Moran, Albert (2007): New Television, Globalisation, and the East Asian Cultural Imagination. Hong Kong: Hong Kong University Press.

87

Kraidy, Marwan (2010): Reality Television and Arab Politics; Ders. (2008): Reality TV and Multiple Arab Modernities: A Theoretical Exploration. In: Middle East Journal of Culture and Communication 1 (1), S. 49-59; Ders. (2006): Die Politisierung des Unterhaltungsfernsehens in der arabischen Welt. Der Fall Superstar. In: Televizion 19 (2); Kraidy, Marwan; Khalil, Joe (2009): Arab Television Industries. Basingstoke: Palgrave Macmillan; Khalil, Joe (2005): Inside Arab Reality Television: Development, Definition and Demystification. In: Transnational Broadcasting Studies 1 (2), S. 51-68; Lynch, Mark (2005): ›Reality is Not Enough‹: The Politics of Arab Reality TV. In: Transnational Broadcasting Studies 1 (2), S. 29-45.

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von Formaten zusammensetzt, in denen vor allem die Textebene im Fokus steht. Die größte wissenschaftliche Aufmerksamkeit wurde hier den erfolgreichsten Formaten, darunter POP IDOL, WHO WANTS TO BE A MILLIONAIRE, BIG BROTHER, LET’S DANCE, THE OFFICE und UGLY BETTY zuteil. In den inhaltlichen Analysen werden sowohl einzelne nationale Formate88 als auch mehrere nationale Formatversionen verglichen.89 Das »Lokale« der Adaptionen wird dabei in vielen Fällen im »Nationalen« gesucht – etwa in nationalen Repräsentationen und nationalen Identifikationsangeboten. Dabei mag die Repräsentation von nationalen Musikbeständen in Castingshows oder die Verwendung der nationalen Farben noch plausibel erscheinen, wenn aber Narrationen, Werte und kollektive Orientierungen vermeintlicher Nationalkulturen verglichen werden, laufen Studien Gefahr, die Prämisse tatsächlich kollektiv wirksamer Nationalkulturen überzubewerten. Der Fokus auf die Aktualisierung nationaler Identitäten im Fernsehformat etwa90 setzt immer schon voraus, 88

Baltruschat, Doris (2009): Reality TV Formats: The Case of Canadian Idol. In: Canadian Journal of Communication 34 (1), S. 41-59; Coutas, Penelope (2006): Fame, Fortune, Fantasi: Indonesian Idol and the New Celebrity. In: Asian Journal of Communication 16 (4), S. 371-392.

89

Vgl. etwa die zahlreichen Fallstudien in Oren, Tasha; Shahaf, Sharon (Hg.) (2012): Global Television Formats; Moran, Albert (Hg.) (2009): TV Formats Worldwide. Localizing Global Programs. Bristol: Intellect; Zwaan, Koos; Bruin, Joost de (Hg.) (2012): Adapting Idols. Authenticity, Identity and Performance in a Global Television Format. Farnham [u.a.]: Ashgat; vgl. auch Beeden, Alexandra; Bruin Joost de (2010): The Office. Articulations of National Identity in Television Format Adaptation. In: Television and New Media 11 (1), S. 3-19; Frau-Meigs, Divina (2006): Big Brother and Reality TV in Europe. Towards a Theory of Situated Acculturation by the Media. In: European Journal of Communication 21 (1), S. 33-56; Jacobs, Sean (2007): Big Brother, Africa is Watching. In: Media, Culture and Society 29 (6), S. 851-868; Jensen, Pia (2007): Television Format Adaptation in Transnational Perspective – an Australian and Danish Case Study. Aarhus University. http://imv.au.dk/~piamj/TV_Format_Adaptation.pdf; Mikos, Lothar; Perrotta, Marta (2012): Traveling Style: Aesthetic Differences and Similarities in National Adaptations of Yo Soy Betty, la Fea. In: International Journal of Cultural Studies 15 (1), S. 81-97; Rulyova, Natalia (2007): Domesticating the Western Format on Russian TV: Subversive Glocalisation in the Game Show Pole Chudes (The Field of Miracles). In: Europe-Asia Studies 59 (8), S. 1367-1386; Mathijs, Ernest; Jones, Janet (Hg.) (2004): Big Brother International. Formats, Critics and Publics. London: Wallflower Press.

90

Vgl. etwa in Beeden, Alexandra; Bruin Joost de (2010): The Office; Bruin Joost de (2012): NZ Idol. Nation Building through Format Adaptation. In: Oren, Tasha; Shahaf, Sharon (Hg.): Global Television Formats. Circulating Culture, Producing Identity. New York [u.a.]: Routledge, S. 223-242; Sharp, Sharon (2012): Global Franchising,

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dass es klare nationale Codes, Narrationen, Symboliken und Spezifika gibt, die von einem imaginierten nationalen Publikum kollektiv abrufbar sind. Es ist aber viel eher zu vermuten, dass die Produktionen zwar national ausgestrahlt werden, aber vor allem auf bestimmte Publikumssegmente zielen und eine nationale Identität nicht intentional ansprechen. Wie Pia Jensen richtig bemerkt, können beispielsweise mediensystemische Variablen weit mehr Einfluss auf die Erscheinung der Formate haben.91 Formate können insofern zwar bestimmte Dimensionen nationaler Kultur widerspiegeln, es ist aber zu vermuten, dass das Format eher das Image eines bestimmten Senders abbildet und sich der kollektive Erfahrungshintergrund der Rezipienten nicht primär aus der nationalen Gesellschaft, sondern viel eher aus spezifischen Rezeptionsgemeinschaften ableitet. Inhaltsanalytisch orientierte Studien sehen sich darüber hinaus auch mit dem Problem konfrontiert, dass sie letztlich nur reduktionistische Erklärungsangebote für die Wirkungs- und Aneignungsweisen von Fernsehformaten zu liefern im Stande sind. Vor allem wenn Unterschiede der Formatversionen auf allgemeine kulturelle Unterschiede zurückgeführt werden, wird Kultur oder Nationalkultur schnell zur undefinierten »Kübelvariable«92, was mitunter scheinkorrelative Erklärungen begünstigt. Wenn beispielsweise die Abwesenheit eines Studiopublikums in der dänischen Version von GLÜCKSRAD als nationalkulturelles Spezifikum gewertet wird, dann wird ausgeblendet, dass sich dieser Unterschied auch allein durch die Tatsache erklären kann, dass die Firma NORDISK FILM keine ausreichende Studiogröße für Gender, and Genre. The Case of Domestic Reality Television. In: Oren, Tasha; Shahaf, Sharon (Hg.): Global Television Formats. Circulating Culture, Producing Identity. New York [u.a.]: Routledge, S. 346-365; Livio, Oren (2010): Performing the Nation: A Cross-Cultural Comparison of Idol Shows in Four Countries. In: Hetsroni, Amir (Hg.): Reality Television. Merging the Global and the Local. New York: Nova Science Publishers, S. 163-187; Volcic, Zala; Andrejevic, Mark (2010): Slovene Reality Television: The Commercial Re-Inscription of the National. In: Hetsroni, Amir (Hg.): Reality Television. Merging the Global and the Local. New York: Nova Science Publishers, S. 7994. Auch Moran spricht davon, dass die nationalen Adaptionen von Serien auch die Nation wiederspiegeln: »The Australian-ness, Dutch-ness and German-ness of these artefacts are always both obvious and banal, and also subtle and elusive, conservative and petrified yet progressive and challenging.« Moran, Albert (1998): Copycat Television, S. 140. 91

Jensen, Pia (2009): How National Media Systems Shape the Localization of Formats: A Transnational Case Study of The Block and Nerds FC in Australia and Denmark. In: Moran, Albert (Hg.): TV Formats Worldwide. Localizing Global Programs. Bristol: Intellect, S. 165-186.

92

Rippl, Susanne; Seipel, Christian (2008): Methoden kulturvergleichender Sozialforschung. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 153.

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ein Studiopublikum zur Verfügung stellen konnte.93 Wenn weiterhin typische nationale Stereotype konstatiert werden94 oder kulturelle Werte (etwa ein amerikanisches Wettbewerbsethos) als Erklärung für den Erfolg nationaler oder lokaler Varianten von Formaten dienen,95 werden mithin kulturalistische Stereotype manifestiert. Ähnlich kritisch müssen auch Interpretationen reflektiert werden, die wiederum von Ähnlichkeiten der Sendungsvarianten auf kulturelle Standardisierungseffekte schließen. Amir Hetsroni beispielsweise untersucht die Wertschätzung von Wissenskategorien in sieben Versionen von MILLIONÄR und sieht hierin eine Tendenz zur Verwestlichung bestätigt: »[T]he cultural differences detected this time seem minimal. For instance, in all the seven countries academic knowledge yields higher prices than everyday knowledge. Worldwide acceptance of Western standards for knowledge hierarchy is another indication of increasing globalization.«96

Dabei werden jedoch drei grundsätzliche Fragen nicht beantwortet: Erstens, warum die hier postulierte Wissenshierarchie »westlich« zu nennen ist. Zweitens, ob die Wissensklassifikation nach Fiske, auf die Hetsroni Bezug nimmt (Allgemeinwissen und akademisches Wissen), auch den jeweiligen lokalen Zuschreibungen entspricht, 93

Skovmand, Michael (1992): Barbarous TV International: Syndicated Wheels of Fortune. In: Ders.; Schrøder, Kim (Hg.): Media Cultures. Reappraising Transnational Media. London, New York: Routledge, S. 84-103.

94

Bspw. finden sich bei Skovmand nationale Stereotype in der Beschreibung des Sets von GLÜCKSRAD-Versionen. Das US-amerikanische Set sei überbordend bunt, »[it] spells gaudy, glittery vulgarity«, das deutsche sei hingegen nüchtern und praktisch, mit stahlgrauem Hintergrund. Die skandinavische Version präsentiere sich in blauen und pinkfarbenen Pastelltönen, das dänische Set mit kindlich bunten Kreisen und Treppen. Ebd., S. 97.

95

Ein Beispiel ist eine Studie zu »Makeover-Formaten«, in der von einer »Germanic culture group« gesprochen wird, deren Adaptionen vor diesem Hintergrund mit der »anderen« US-amerikanischern Version verglichen wird. Franco, Judith (2008): Extreme Makeover. The Politics of Gender, Class and Cultural Identity. In: Television and New Media 9 (6), S. 471-486. Ähnlich zieht Hetsroni einen amerikanischen Wettbewerbsethos oder das islamische Recht zur Erklärung der Adaptionen von Sendungstiteln heran. Da diese Zusammenhänge aber nicht genauer expliziert werden, bleiben sie letztlich nur die Interpretation des Autors. Hetsroni, Amir (2004): The Millionaire Project: A Cross-Cultural Analysis of Quiz Shows from the United States, Russia, Poland, Norway, Finland, Israel, and Saudi Arabia. In: Mass Communication and Society 7 (2), S. 133-156.

96

Ebd., S. 153.

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und drittens, ob dieses akademische Wissen nicht auch bereits vor Ausstrahlung und damit unabhängig von der Sendung in den untersuchten Kontexten als wertvoll erachtet wurde. Hier wird also ein Wandlungseffekt allein aus Ähnlichkeiten abgeleitet, der aber bereits aus vorgelagerten Prozessen der Universalisierung oder Standardisierung hervorgegangen sein könnte, etwa durch Prüfungs- und Schulsysteme im Zuge des Kolonialismus oder auch durch autochthone Deutungsprozesse. Gerade strukturelle und historische Bedingungen finden nicht immer die nötige Berücksichtigung. Dazu zählen erneut auch ganz greifbare Rahmenbedingungen wie Einflussfaktoren der ausstrahlenden Sender oder die Berücksichtigung möglicher Zielgruppenspezifika, die die Ausgestaltung und Form der Reproduktion mitunter mehr als allgemeine nationalkulturelle Unterschiede zu beeinflussen vermögen. Wenngleich die Arbeiten aus dem aktuellen Korpus der inhaltsanalytischen Untersuchungen von Fernsehformaten wertvolle fernsehanalytische Erkenntnisse zur Beschaffenheit von Sendungsversionen liefern, bleibt deren Erklärungskraft für die Theoretisierung von Globalisierungsprozessen populärer Kultur oft hinter den deskriptiven Erkenntnissen zurück. Dies liegt vor allem wohl daran, dass bisher viel zu selten geklärt wurde, ob und wie nationale oder kulturelle Symboliken in den Formatversionen tatsächlich auch von Rezipienten erkannt und angeeignet werden. Als Desiderat der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Fernsehformaten muss daher der Mangel an Rezeptions- beziehungsweise Publikumsstudien gelten. Denn wie die Angebote von unterschiedlichen Rezipienten konkret wahrgenommen, genutzt, interpretiert und weiterverarbeitet werden, ist bislang kaum untersucht. Vereinzelte Studien haben zwar die Rezeption von einzelnen nationalen Formaten im Kontext der Untersuchung von Medienwirkungen oder der adoleszenten Mediensozialisation vorgenommen,97 vergleichend sind bislang allerdings allein zwei kurze Fachzeitschriftenbeiträge bekannt. In diesen wird aus Studien zur Rezeption von Castingshows durch irische und österreichische Jugendliche 98 als auch zu US-amerikanischen und deutschen weiblichen Fans von TOP MODEL99 zitiert, die 97

Sylvester, Anna-Laura; Trepte, Sabine; Scherer, Helmut (2004): Erfolgsfaktoren von Quiz-Shows am Beispiel von Wer wird Millionär? und Das Quiz mit Jörg Pilawa. In: Rössler, Patrick; Scherer, Helmut; Schlütz, Daniela (Hg.): Nutzung von Medienspielen – Spiele der Mediennutzer. München: Fischer, S. 107-133; Mikos, Lothar (2010): Real Life Formate. In: Schicha, Christian; Brosda, Carsten (Hg.): Handbuch Medienethik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 431-441.

98

Klaus, Elisabeth; O’Connor, Barbara (2010): Aushandlungsprozesse im Alltag: Jugendliche Fans von Castingshows. In: Röser, Jutta (Hg.): Alltag in den Medien – Medien im Alltag. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 48-72.

99

Stehling, Miriam (2013): From Localisation to Translocalisation: Audience Readings of the Television Format Top Model. In: Critical Studies in Television: The International Journal of Television Studies 8 (2), S. 36-53.

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erste Annäherungen in diesem Bereich aufzeigen. Gleichwohl handelt es sich in beiden Fällen um Rezipienten, die alle in westlichen Kontexten verortet sind. Dies entspricht dem Eindruck, dass das »globale Fernsehformat« in den meisten Studien doch eher ein »westliches« Phänomen bleibt. Denn in der Mehrzahl sind es originär westliche Formate, die untersucht werden und viele der vergleichenden Studien setzen Formatversion aus westlichen Kontexten in den Vergleich. Hinsichtlich der theoretischen Rückbezüge, die den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Fernsehformaten zugrunde liegen, lässt sich feststellen, dass vor allem auf zwei übergeordnete wissenschaftliche Diskurse verwiesen wird. Zum einen werden Fernsehformate zumeist im Zusammenhang mit kulturellen Globalisierungsphänomenen kontextualisiert, zum anderen zielt die Untersuchung von Formaten auch auf einen Diskurszusammenhang über die gesellschaftliche und kulturelle Relevanz von Unterhaltungsangeboten der Medien im Allgemeinen. Dass Formate bereits inhärent eine grenzüberschreitende Qualität besitzen, macht sie zu einem geeigneten Gegenstand für die Analyse der Globalisierung von Unterhaltung. Unterhaltungskommunikation diente bisher in besonderer Weise zur Beweisführungen einer kulturellen Logik der Globalisierung. Denn Unterhaltung scheint dabei leichter als Information kulturelle und nationale Grenzen zu überqueren.100 Gemessen am hohen Umsatz und der Sichtbarkeit von Hollywoodfilmen, Fernseh- und Spielangeboten scheint die Unterhaltungsindustrie die Konsumwünsche weiter Teile der Weltbevölkerung zu harmonisieren. Die Ableitung von einer Kausalität des Konsums und seiner kulturellen Wirksamkeit liegt zumindest nahe und macht plausibel, warum gerade populärkulturelle Produkte zu Anknüpfungspunkten für Fragen umfassender kultureller Wandlungsprozesse im Zuge der Globalisierung geworden sind. Die Zusammenhänge bei formatierter Kreativität sind indes weitaus komplexer. Einerseits können Lokalisierungsprozesse im internationalen Austausch von Sendungsangeboten als Beispiel für die Grenzen einer kulturell homogenisierenden Globalisierung gelesen werden, andererseits setzen Formate Standardisierungen der Produktionsbedingungen voraus und die Dominanz westlicher Formate ist wohl nach wie vor kaum zu bestreiten. Dennoch erscheint die nationale beziehungsweise lokale Dimension der Formate essenziell, wodurch Formate einen nicht leicht zu fassenden Modus der internationalen Zirkulation von Inhalten darstellen, der analytisch zwischen den herkömmlichen »one-way« oder »contra-flows«101 globaler Medienkommunikation anzusiedeln ist. Während die einen eher die kultu100 Hafez, Kai (2005): Mythos Globalisierung, S. 115ff.; vgl. auch Hasebrink, Uwe; Herzog, Anja (2004): Mediennutzung im internationalen Vergleich. In: Hans-Bredow-Institut (Hg.): Medien. Internationales Handbuch. 27. Aufl. Baden-Baden: Nomos, S. 152. 101 Thussu, Daya Kishan (2010): Mapping Global Media Flow and Contra-Flow. In: Ders. (Hg.): International Communication. A Reader. London, New York: Routledge, S. 221-238.

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relle Ökonomie des Formathandels betonen und darauf hinweisen, dass letztlich auch die hergestellte kulturelle Differenz in Formatversionen in erster Linie eine ökonomische Strategie und kein politisches Projekt sei,102 sehen andere Formate als kulturelle Arenen, »where tensions among local, regional, national and global identities are articulated and experienced in new, inter-mediated ways.«103 Damit ist bereits auf den zweiten Diskursbereich verwiesen, die Frage nämlich, welche Bedeutung Unterhaltung überhaupt zukommt. Die Kategorie der Medienunterhaltung ist allerdings in der deutschen Kultur-, Kommunikations- und Medienwissenschaft lange nur am Rande behandelt und erst seit jüngerer Zeit als relevanter Gegenstand erkannt worden. Auch wenn Unterhaltung durchaus zum häufigeren Gegenstand in der Kommunikationswissenschaft geworden ist, gibt es beispielsweise bis heute keinen konsolidierten Bereich der Unterhaltungskommunikation innerhalb der DGPuK (Deutsche Gesellschaft für Kommunikationswissenschaft). 104 Die aktuelle Unterhaltungsforschung ist darüber hinaus im deutschsprachigen Raum von Partikulartheorien geprägt, die vor allem die Erlebnis- und Wirkungsdimension von Unterhaltungsangeboten in den Blick nehmen wie Gratifikationen, Rezeptionsqualitäten und Rezeptionserlebnisse.105 Während im deutschen Wissenschaftskontext der Fokus auf die Erlebnisdimension von Unterhaltung gelegt wird, leitet sich die angloamerikanische Unterhaltungsforschung stärker aus einer Tradition der Orientierung auf Unterhaltungskultur ab.106 Es ist hier insbesondere den Arbeiten aus dem Umfeld der Cultural Studies zu verdanken, dass mit einem grundlegenden Bedeutungswandel des Kulturbegriffs das Gegensatzpaar »Hochkultur« 102 Waisbord, Silvio (2004): McTV. 103 Oren, Tasha; Shahaf, Sharon (Hg.) (2012): Global Television Formats, S. 4. 104 Die Verzögerung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Unterhaltung wird mitunter auch mit der Tradition eines elitären Kultur- und Wissenschaftsverständnisses erklärt, das seit der Polemik der Frankfurter Schule an Unterhaltung noch nachwirkt. Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W. (2003): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 105 Vgl. zusammenfassende Überblicke in Bosshart, Louis (2006): Theorien der Medienunterhaltung. Aus dem Nichts zur Fülle. In: Frizzoni, Brigitte; Tomkowiak, Ingrid (Hg.): Unterhaltung. Konzepte – Formen – Wirkungen. Zürich: Chronos, S. 17-30; Faulstich, Werner (2006): ›Unterhaltung‹ als Schlüsselkategorie von Kulturwissenschaft: Begriffe, Probleme, Stand der Forschung, Positionsbestimmung. In: Faulstich, Werner; Knop, Karin (Hg.): Unterhaltungskultur. München: Fink, S. 7-20; Wünsch, Carsten (2002): Unterhaltungstheorien. Ein systematischer Überblick. In: Früh, Werner; Schulze, AnneKatrin; Ders. (Hg.): Unterhaltung durch das Fernsehen. Eine molare Theorie. Konstanz: UVK, S. 15-48. 106 Fiske, John (1989): Understanding Popular Culture. Boston: Unwin Hyman; Ders. (2007): Television Culture.

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und »Populärkultur« aufgelöst wurde. Damit gerieten früher als in Deutschland alltagskulturelle Unterhaltungsangebote und vor allem ihre soziale Relevanz in den wissenschaftlichen Fokus. Unterhaltung erhält in diesen Zugangsweisen immer eine soziale Bedeutung, die entgegen der Annahmen manipulativer Qualitäten in der Produktion vor allem die subversiven und damit immer politischen Qualitäten der Aneignung für die Rezipienten von Unterhaltungsangeboten berücksichtigt. Die perzeptiven und sozialpsychologischen Prozesse treten in dieser Tradition hinter die Erforschung der Zusammenhänge zwischen der Produktion, den Inhalten und Repräsentationen sowie den Aneignungsweisen zurück. Es ist diese Konzeptualisierung von Unterhaltung als sinngebende und gesellschaftsrelevante Alltagskultur, die auch für die folgende vergleichende Analyse von Fernsehformaten präferiert wird. Gerade im Spiel – folgt man philosophischen Spieltheoretikern, die Urform aller Kultur107 – werden Deutungsmöglichkeiten der Welt aufgegriffen und konstituiert sich Gemeinschaft. Deutungsprozesse hingegen drängen wiederum Fragen nach der Entstehung und Verteilung von Deutungsmacht im Kommunikationsprozess auf. Die Verknüpfung der beiden Diskurse um Globalisierung und Unterhaltung als gesellschaftlich relevanter Medienkommunikation ergibt sich dann genau an der Stelle, an der nach Deutungen, Deutungsverschiebungen und Deutungshoheit gefragt wird. Denn wie »global« oder »lokal« sich formatierte Fernsehunterhaltung gestaltet, hängt nicht allein davon ab, wie ähnlich möglicherweise die inhaltlichen Angebote sind, sondern ebenso von den Produktions- und Aneignungspraktiken. Der weltweite Erfolg einiger Fernsehformate spricht bereits für ein universales Unterhaltungserleben; ob der internationale Formathandel aber tatsächlich auch zum »giant cultural vacuum cleaner« wird, der ständig Ideen aus der gesamten Welt in sich versammelt, wie es Silvio Waisbord zuspitzt,108 bleibt zu untersuchen. Dabei ist zu klären, welche Formatbestandteile eigentlich Träger kultureller Bedeutung sind, die standardisiert, hybrid oder different erscheinen mögen. Hat also die Standardisierung televisueller Konventionen und Darstellungsmuster auch eine Standardisierung der televisuellen Texte und ihrer Bedeutung zur Folge? Ist das Format autonom gegenüber dem Inhalt? Folgt der Inhalt der Funktion oder umgekehrt? Kurzum: ist das Medium hier bereits die Message?109

107 Huizinga, Johan (1991): Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. 22. Aufl. Reinbek: Rowohlt. 108 Waisbord, Silvio (2004): McTV, S. 378. 109 Dies soll durchaus als Rekurs auf McLuhans Aussage »the medium is the message« verstanden werden. Auch wenn Formate keine völlig neuen Medien im Sinne technischer Kommunikationsmittel darstellen, so liefern sie doch mehr als nur den Inhalt. Das Format ist die Verpackung des Inhalts, die aber sowohl Produktionspraktiken als auch Sehgewohnheiten verändern kann und ebenso selbst Träger von Bedeutung ist. McLu-

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Ein entscheidender Punkt in der theoretischen Auseinandersetzung mit Fernsehformaten liegt dann auch in dem Verhältnis zwischen Ursprungs- und Nachfolgeversionen von formatierten Sendungen. Denn das Verhältnis zwischen Formatierung und Adaption entscheidet letztlich über die Konsequenzen kulturellen Austauschs. In älteren Auseinandersetzungen lässt sich eine Tendenz feststellen, die das Ursprungsformat privilegiert. Die Erstversion wird dabei häufig als die globale Referenz angesehen und Reproduktionen als deren lokale Ausprägungen. Gerade in der Zuschreibung globaler und lokaler Bestandteile wird dabei häufig vergessen, dass zwar die erste Produktion eines Formats eine Vorlage schafft und ihr damit zweifelsohne eine internationale Orientierungsfunktion zukommt, dass diese Vorlage aber ebenso eine lokale Produktion und nicht sui generis global ist. Es ist somit eine vereinfachte Dichotomie, den Standardisierungen globalen Status und den Variationen einen lokalen zuzurechnen. Die spezifische Mixtur einer jeden Formatreproduktion verlangt nach einer eigenen Analyse. Ähnlich hat Vincius Navarro kritisiert, dass in theoretischen Auseinandersetzungen um Fernsehformate vor allem deren Anpassungsfähigkeit an lokale Kontexte diskutiert und damit von einer Autonomie der Ursprungsversion ausgegangen werde.110 Auch er verlangt, dass jede Adaption als eigenständige Produktion verstanden werden müsse, in der kulturelle Symbolik nicht lediglich hinzugefügt oder ausgetauscht, sondern das gesamte bestehende Programm re-interpretiert, aktualisiert und damit im lokalen Kontext völlig neu definiert werde. Eine entsprechende Kritik findet sich auch bei Kraidy und Murphy, die argumentieren, dass gerade die polyzentrischen Eigenschaften des Formathandels und damit die »Translokalität« des Formattransfers bisher zu selten berücksichtigt wurden.111 Tatsächlich zeigt der Werdegang einiger international erfolgreicher Formate, dass sich die lokalen Reproduktionen auch wechselseitig beeinflussen und regionale Eigengesetzlichkeiten der Zirkulation entstehen lassen können. Die Telenovela YO SOY BETTY, LA FEA beispielsweise hat eine Reproduktion in mehreren Zyklen durchlaufen.112 Nach einer ersten Phase der internationalen

han, Marshall; Fiore, Quentin; Agel, Jerome (2001): The Medium is the Message. An Inventory of Effects. Corte Madera: Gingko Press. 110 Navarro, Vinicius (2012): More than Copycat Television. Format Adaptation as Performance. In: Oren, Tasha; Shahaf, Sharon (Hg.): Global Television Formats. Circulating Culture, Producing Identity. New York [u.a.]: Routledge, S. 23-38. 111 Kraidy, Marwan; Murphy, Patrick (2008): Shifting Geertz: Toward a Theory of Translocalism in Global Communication Studies. In: Communication Theory 18 (3), S. 335355. 112 Moran, Albert (2009): New Flows in Global TV; vgl. auch Mikos, Lothar; Perrotta, Marta (2012): Traveling Style; Miller, Jade (2010): Ugly Betty Goes Global: Global Networks of Localized Content in the Telenovela Industry. In: Global Media and Com-

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Reproduktion wurden in einer weiteren wiederum diese Reproduktionen weiter lizenziert. So orientieren sich einige europäische Versionen nicht an dem kolumbianischen Original, sondern an der deutschen Adaption VERLIEBT IN BERLIN. Der formale Status der Reproduktion änderte sich in diesem Beispiel in den der Vorlage. Die globale Verbreitung eines Sendungskonzepts schließt also eine Ausdifferenzierung entlang regionaler Fernsehregionen nicht aus und verkompliziert schnell die Gegenüberstellung globaler Vorlagen und lokaler Adaptionen. Darüber hinaus wird auch die beispielhafte Analyse der Formate MILLIONÄR und GOT TALENT zeigen, dass unterschiedliche Versionen der Shows als relevante Vorlagen für Reproduktionen Pate stehen können. Erst die Summe und, mehr noch, die synchrone Bedeutung der Reproduktionen entscheidet also letztlich über die globale Bedeutung des Formats. Ob sich hierin allerdings in erster Linie Globalität ausdrückt oder ob und inwieweit die Zirkulation eines Konzepts auch zu einer Globalisierung auf der Bewusstseinsebene und zu kulturellem Wandel führt, bleibt zu untersuchen. Denn wie in der theoretischen Auseinandersetzung noch zu zeigen sein wird, sind synchrone kulturelle Wandlungsprozesse noch nicht gleichzusetzen mit einer kulturellen Globalisierung.

1.3 F ORSCHUNGSLEITENDE F RAGEN Geht man davon aus, dass die offensichtliche ökonomische Handlungslogik des Formathandels ebenso einer kulturellen Logik der Zirkulation von Bedeutung entspricht, dann stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen Unterhaltungskonzepte grenzüberschreitende Erfolge haben können, welchen Mustern sie folgen und welche gesellschaftliche Bedeutung ihnen dabei zukommt. Was sind die Trieb- und was sind die Prägkräfte von Unterhaltungsangeboten, die nicht nur Fernsehsysteme und -märkte miteinander verbinden, sondern auch Fernsehkulturen? Diese Fragen wurden bereits im Zusammenhang mit dem Theorem der Glokalisierung eingeführt, das von zirkulierenden Fernsehformaten illustriert wird. Denn sie lassen Unterhaltungskonzepte global diffundieren und scheinen dabei zugleich lokale symbolische Repertoires zu reproduzieren. Es handelt sich demnach um eine Grenzüberschreitung bei einer gleichzeitigen Aufrechterhaltung von Grenzen. Hier deutet sich bereits eine Schwierigkeit der Forschung grenzüberschreitender Medienkommunikation an: Sie muss die Entitäten und Grenzen auch analytisch bestimmen, die durch den Transfer von Fernsehformaten transzendiert und/oder aufrechterhalten werden. Insofern müssen die Annahmen über den Zusammenhang zwischen Fernsehforma-

munication 6 (2), S. 198-217; McCabe, Janet; Akass, Kim (Hg.) (2013): TV’s Betty Goes Global. From Telenovela to International Brand. London, New York: I.B. Tauris.

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ten und Globalisierungsdynamiken analytisch wie empirisch qualifiziert werden. Das Forschungsvorhaben verfolgt dementsprechend zwei zentrale Anliegen. Erstens soll der Transfer von Fernsehformaten zwischen unterschiedlichen Fernsehlandschaften auf einer phänomenologischen Ebene umfassend rekonstruiert werden. Sowohl das Medienangebot als auch die Prozesse der (Re-)Produktion und Rezeption beziehungsweise Aneignung müssen untersucht werden, um Aussagen darüber treffen zu können, welche Bestandteile und Bedeutungen eigentlich transferiert werden. Mit dem Einbezug der gesamten Verwertungskette kultureller Güter – Produktion, Zirkulation, Rezeption – im Untersuchungsaufbau nimmt sich die Arbeit eines Forschungsdesiderats an, das von Kraidy auf den Punkt gebracht wurde: »Rarely have studies analyzed the links between production, message and reception, an important endeavor.«113 Die zusätzliche vergleichende Perspektive eines solchen Transfers in unterschiedliche Kontexte begründet sich mit dem globalisierungstheoretischen Erkenntnisinteresse der Arbeit. Denn nur über einen Vergleich unterschiedlicher Formatversionen, beteiligter Akteure und rahmender Kontexte können auch Ableitungen über grenzüberschreitende Bedingungen und Muster des Formattransfers getroffen werden. Die umfangreiche empirische Rekonstruktion soll daher helfen, über das bloße Konstatieren von »Glokalisierung« hinauszugehen und die Dimensionen kultureller Globalisierung und Re-Lokalisierung in weltweiten Unterhaltungsangeboten auch zu »vermessen«.114 Auf Grundlage der empirischen Daten kann dann eine theoretische Einordnung des zeitgenössischen Transfers von Unterhaltungskultur vorgenommen werden. Das zweite Ziel der Arbeit ist es somit, am Beispiel der Formatierung und Zirkulation von Kreativität in Fernsehangeboten einen Beitrag für ein theoretisches Erklärungsmodell zu leisten, das geeignet ist, die Diskurse um die Relevanz medialer Unterhaltungskultur für kulturelle Globalisierungsdynamiken weiterzuentwickeln. Ausgangspunkt für die theoretische Weiterentwicklung sind zwei Prämissen, die die Fernsehforschung in den letzten Jahren nachhaltig geprägt haben und die in der Arbeit aktualisiert werden. Erstens wird angenommen, dass die grenzüberschreitende Zirkulation von Medienangeboten grundsätzlich einer interpretationsoffenen Dynamik unterliegt, sodass nicht von der Produktion und Rezeption stabiler Botschaften ausgegangen werden kann. Zweitens spielen kulturtheoretische Ansätze eine bedeutsame Rolle, die bipolare Konstruktionen gesellschaftlicher Entwicklungen (Stichwort: Globalisierung versus Lokalisierung, Homogenisierung versus Heterogenisierung, Tradition versus Moderne) dekonstruieren und auf die Bedeutsamkeit von Dynamiken hinweisen, in denen Entwicklungen sich mitunter überlagern und 113 Kraidy, Marwan (2005): Hybridity, or the Cultural Logic of Globalization. Philadelphia: Temple University Press, S. 5. 114 Dies entspricht der Forderung von Kai Hafez in Ders. (2005): Mythos Globalisierung, S. 26.

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wechselseitig beeinflussen (Stichwort: Glokalisierung, Hybridisierung). Diese Ansätze haben sich bereits seit mehreren Jahrzehnten etablieren können. Allerdings unterliegen Theoretisierungen der lokalen Resistenz, der »glokalen« oder hybriden Mischung auch der Gefahr, ihr Erklärungspotenzial auf eine allgemeine Vielschichtigkeit kultureller Entwicklungen zu beschränken und Diskurse so stagnieren zu lassen. Dies darf nicht als Forderung nach einem Zurück zu essenzialistischen Betrachtungen kultureller Dynamiken missverstanden werden, soll aber die Notwendigkeit der nuancierten theoretischen Weiterentwicklung jener Mischkategorien des Hybriden, Kreolen und Transkulturellen deutlich machen, die inzwischen zu populären Semantiken geworden sind. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ergibt sich der folgende anwendungsorientierte Fragenkatalog, der die vorliegende Arbeit strukturiert. Die theoretische Herleitung der Fragen wird in den folgenden Kapiteln an den geeigneten Stellen weiter differenziert. 1. Theoretische Kontextualisierung: Lässt der grenzüberschreitende Transfer von formatierten Unterhaltungskonzepten von einem gesellschaftlichen Referenzsystem in ein anderes Tendenzen kultureller Globalisierung, Hybridisierung oder Lokalisierung erkennen?  Lässt die Formatierung von Unterhaltungskonzepten Raum für die Reproduktion lokaler kultureller Praktiken oder unterliegt der Formattransfer einer globalen Synchronisationsdynamik von Hoch- und/oder Alltagskultur? In welcher Art und Weise stehen globale und lokale kulturelle Muster miteinander in Beziehung?  Auf welchen Ebenen der Produktion, Rezeption und des Inhalts der Formate lassen sich (trans-)kulturelle Muster erkennen, die eine Bilanzierung zur Globalisierung von Unterhaltungskommunikation zulassen? 2. Rekonstruktion der Inhaltsebene: Welche Ähnlichkeiten und Unterschiede lassen sich im Vergleich der televisuellen und inhaltlichen Gestaltung unterschiedlicher Formatvarianten nachvollziehen und in welchem Zusammenhang stehen diese zu den jeweiligen gesellschaftlichen Referenzsystemen?  Welche kreativen Freiräume werden in der Adaption der Formate genutzt und welche Elemente unterliegen einer Standardisierung oder Konventionalisierung der Unterhaltungsproduktion im Fernsehen?  In welchem Verhältnis stehen Prozesse globaler Standardisierung von Unterhaltungskonzepten und televisuellen Konventionen und Prozesse der Reproduktion lokaler symbolischer Repertoires in den lokalen Formatvarianten?

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 Besitzen die adaptiven Eingriffe der Reproduktion ein bedeutungsveränderndes Potenzial?  In welchem Verhältnis stehen kreative Umdeutungen und gesellschaftliche Referenzsysteme, in denen die Formatvarianten ausgestrahlt werden? 3. Rekonstruktion und Exploration der Rezeptionsebene: Wie werden die Formatvarianten von Zuschauern in unterschiedlichen Fernsehlandschaften rezipiert und interpretiert und in welchem Zusammenhang stehen diese Interpretationen zu den jeweiligen gesellschaftlichen Referenzsystemen?  Welche inhaltlichen Diskurse und Deutungsmuster werden in der Anschlusskommunikation von Rezipienten der Formatversionen entwickelt?  Welche Rezeptionshaltungen nehmen die Rezipienten ein und in welche Wissensrahmen sind die interpretativen Aushandlungen eingebettet?  Lassen sich durch die identifizierten Anschlussdiskurse Aussagen über die lokale oder grenzüberschreitende Konstitution individueller und kollektiver Interpretationsmuster treffen? 4. Rekonstruktion und Exploration der Produktionsebene: Welchen Einfluss haben die kontextuellen Entstehungsbedingungen auf die Reproduktionsentscheidung und die spezifische Erscheinung der Formatvarianten?  Welche Akteure haben Einfluss auf den Prozess der kreativen Aneignung von standardisierten Formatkonzepten?  Welchen institutionellen Produktionsstrukturen und -routinen folgt die Reproduktion in unterschiedlichen Fernsehlandschaften?  Welche inhaltlichen Diskurse und Deutungsmuster und welche Wissensrahmen werden von individuellen Produzenten entwickelt?  Lassen sich durch die diskursiven Produktionspraktiken Aussagen über die lokale oder grenzüberschreitende Konstitution von Produktionskulturen treffen? 5. Empirische Kontextualisierung: Wie verhalten sich die Diskurse der Produktion und Rezeption zueinander sowie zu den symbolischen Angeboten der Formatversionen?

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1.4 AUFBAU

DER

ARBEIT

Die Arbeit verfolgt einen interdisziplinären Zugang an der Schnittstelle von Kulturund Kommunikationswissenschaft und integriert drei Theoriekomplexe, die mit Globalisierungs-, Kultur- und Kommunikations- beziehungsweise Medientheorie grob umrissen sind. Eine kulturvergleichende Perspektive bestimmt dabei die forschungsleitenden Fragen dieser Arbeit. Den theoretischen Kern bildet ein medienund kommunikationswissenschaftlicher Theoriekomplex, der zum Ziel hat, die unterschiedlichen Akteure, Strukturen und Handlungsabfolgen des Formattransfers innerhalb eines Kommunikationsmodells darzulegen (Kapitel 2.1). Als Ausgangspunkt wird dafür auf einen klassischen Ansatz von Hall zurückgegriffen und dessen Modell des Kodierens/Dekodierens weiterentwickelt.115 In der theoretischen Reflexion werden ergänzende Bausteine aus der Fernsehtheorie und der Rezeptionstheorie aufgenommen, ebenso wie Anregungen aus der internationalen politischen Kommunikation und der Organisationssoziologie der Medien. Mit der zentralen Referenz auf Hall ist bereits die Grundlage für eine dezidiert kulturtheoretische Perspektive auf Massenkommunikationsphänomene gelegt. Es wird darauf aufbauend die Nutzbarkeit weiterer Analysen und Theorieansätze diskutiert, die insbesondere aus den Cultural Studies hervorgegangen sind und inzwischen in die Kommunikations- und Medienforschung eingegangen sind. Hierzu zählt etwa die Tatsache, dass sich Unterhaltungskommunikation im Rückgriff auf die Ansätze der Cultural Studies besser in zirkulären Modellen, einem »Kreislauf der (Medien-)Kultur« etwa, denn in linearen Transmissionsmodellen konzeptualisieren lässt. Damit ist beispielsweise gemeint, dass die im Alltag entfaltete Bedeutung von Unterhaltungskultur eine dynamische Struktur und keine manifeste Form aufweist und deren Konstitution auf unterschiedliche gesellschaftliche Akteure verteilt ist. In diesem Zusammenhang wird schließlich auch auf Theorien der Unterhaltung und der populären Kultur eingegangen, die für das Verständnis der Eigenlogik von Unterhaltungskultur notwendig sind (Kapitel 2.2). Der kommunikationswissenschaftliche Grundansatz wird also durch einen kulturwissenschaftlichen Theoriekomplex informiert und durch einen globalisierungstheoretischen Wissenschaftsdiskurs erweitert, wobei deren Abgrenzung nicht ganz trennscharf ist. Denn es sind insbesondere die Theoretisierungen von kulturellen Grenzen und Differenzen, die in zunehmendem Maße auf den wissenschaftlichen Diskurs um Globalisierung und deren kulturelle Folgen Einfluss nehmen. Andreas Reckwitz hat beispielsweise darauf hingewiesen, dass jedem 115 Hall, Stuart (2004): Kodieren/Dekodieren. In: Ders.; Koivisto, Juha (Hg.): Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. Hamburg: Argument-Verlag, S. 6680; Ders. (1980): Encoding/Decoding. In: Ders. et al. (Hg.): Culture, Media, Language. Working Papers in Cultural Studies, 1972-79. London [u.a.]: Centre for Contemporary Cultural Studies, University of Birmingham, S. 128-138.

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sogenannten Kulturvergleich stets eine bestimmte Vorstellung kultureller Differenz implizit sei, die sich geradezu zum »Brennpunkt« wissenschaftlicher Globalisierungsdiskurse entwickelt habe.116 Er macht deutlich, wie die spezifische Konstruktion von kulturellen Grenzen Antworten auf Fragen nach kulturellen Wandlungsprozessen bereits vorzeichnet. Gerade wenn kulturelle Wandlungsprozesse im globalen Maßstab erklärt und bilanziert werden wollen, stoßen Annahmen der Annäherung oder Abgrenzung stabil gedachter Nationalkulturen schnell an ihre theoretischen Grenzen und offenbaren eine »Verallgemeinerungsfalle«, die dem Kulturbegriff scheinbar innewohnt (vgl. hierzu insbesondere Kapitel 2.2.3 und 2.2.4). Abgesehen von einem sensiblen Umgang mit der »kulturellen Problematik« versucht die Arbeit insbesondere revisionistische und kritische Stimmen der Globalisierungsdebatte zu berücksichtigen, die etwa auf die Ungleichzeitigkeit und Asymmetrie von Globalisierungsdynamiken im Bereich der Medienkommunikation hingewiesen und damit nicht weniger als die Existenz von »globaler Medienkommunikation« überhaupt in Frage gestellt haben (Kapitel 2.3). Differenzierungen zwischen lokalen, regionalen, nationalen, internationalen und globalen Phänomenen der Medienkommunikation, Fragen nach unterschiedlich stark partizipierenden Akteuren und nach den historischen Bedingungen regionaler, geo-kultureller und lokaler Rahmenbedingungen sind in der Debatte um die Globalisierung von Medienkommunikation zwingend notwendig geworden. Im Zentrum der globalisierungstheoretischen und kulturtheoretischen Grundlagen der Arbeit steht die Auseinandersetzung mit den Theoremen der Hybridisierung (Kapitel 2.2.4) und Glokalisierung (Kapitel 2.3.3), die hier am Anwendungsbeispiel operationalisiert werden sollen. Nachdem die theoretischen Überlegungen in einer anwendungsorientierten Matrix zusammengeführt werden (Kapitel 2.4), wird das Analysedesign der Untersuchung dargelegt (Kapitel 3). Hierzu zählen sowohl Angaben über die Auswahlmechanismen der Untersuchungsbeispiele, methodische Vorüberlegungen zu den qualitativen Teilstudien der Arbeit, Anmerkungen zu den Auswertungsverfahren wie auch eine kritische Reflexion der methodischen Probleme, mit denen die kulturvergleichenden qualitativen Fallstudien in dieser Arbeit konfrontiert waren. Im vierten Kapitel werden schließlich die Ergebnisse der Untersuchungseinheiten entlang der Systematik der Fragestellungen vorgestellt und diskutiert. Die Darstellung orientiert sich damit auch an der Chronologie der Untersuchungsschritte, die dieser Arbeit zugrunde lagen. Der erste Schritt wird die Darstellung der Inhaltsanalyse der beiden Formate und damit die Herausarbeitung lokaler kreativer Adaptionen in den Formatvarianten sein (Kapitel 4.1). Hier wird sich zeigen, dass selbst 116 Reckwitz, Andreas (2005): Kulturelle Differenzen aus praxeologischer Perspektive. Kulturelle Globalisierung jenseits von Modernisierungstheorie und Kulturessentialismus. In: Srubar, Ilja (Hg.): Kulturen vergleichen. Sozial- und kulturwissenschaftliche Grundlagen und Kontroversen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 93.

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scheinbar kleine Eingriffe in bestehende Formatkonzepte inhaltliche Veränderungen erzielen können und dass die Ausnutzung kreativer Freiräume variiert. Außerdem wird die Diskussion der inhaltsanalytischen Vergleichsdimensionen zwar zu differenzierten Aussagen über Art und Umfang von Lokalisierungsstrategien führen, sie wird aber zugleich auch die Grenzen einer theoretischen Erklärung und Einordnung der lokalen und transkulturellen Muster der Unterhaltung auf Grundlage von Textanalysen aufzeigen. Als Weiterführung dient die Darstellung und Ergebnisanalyse der kulturvergleichenden Gruppendiskussionen im Kapitel 4.2, das die Deutungs- und Wissensrahmen ausgewählter lokaler Rezipienten offenlegt. Eine Systematisierung lokaler inhaltlicher Anschlussdiskurse einerseits, übergeordneter thematischer Diskurse und wissensabhängiger Referenzrahmen andererseits werden hier notwendige Erkenntnisse für eine Verortung lokaler und globaler Rezeptionsdimensionen von Unterhaltung liefern. Dem gegenübergestellt werden im Kapitel 4.3 die Lesarten der Produzenten der Formatvarianten. Durch die Aussagen der Experten und die begleitenden externen und kontextuellen Validierungen lassen sich schließlich ergänzende Annahmen über die wirksamen Produktionsmechanismen grenzüberschreitender Unterhaltung ableiten. Das Abschlusskapitel (Kapitel 5) dient dann der Zusammenführung der mehrdimensionalen Vergleiche sowie der theoretischen Reflexion im Sinne einer weiterführenden wissenschaftlichen Diskussion.

Grenzüberschreitende Medien-, respektive Unterhaltungskommunikation

Theoriekomplex: Kultur Fernsehtheorie Rezeptionstheorie

Theorien kultureller Identität

Theoriekomplex: Medienkommunikation

Theoriekomplex: Globalisierung

Kreislauf der (Medien-)Kultur Modell der Kodierung/Dekodierung Repräsentationstheorien

Theoreme der Transkulturalität, Hybridisierung, und Glokalisierung

Transnationale/ -kulturelle Fernsehformate

Quelle: Eigene Darstellung

Untersuchungsbereich 1:

Text / Formatversionen

Untersuchungsbereich 3:

Untersuchungsbereich 2:

Produktion

Rezeption

Transkultureller Vergleich

Theorien Populärer Kultur Unterhaltungstheorie

Untersuchungsperspektive

Untersuchungsgegenstand

Theoretischer Rahmen

Abbildung 2: Aufbau der Arbeit

2. Theoretische Rahmung

Das folgende Kapitel erläutert die interdisziplinäre theoretische Basis, auf der die Untersuchung globalen Unterhaltungsfernsehens aufbaut. Ziel ist dabei, die zentralen Fragen, die sich im Kontext des weltweiten Transfers von Fernsehunterhaltung stellen, herzuleiten und einer angestrebten Bilanzierung der möglichen kulturellen Prägkräfte globaler Unterhaltung ein theoretisches Gerüst zu geben. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, die Position und Rolle der hier untersuchten Akteure (Produzenten und Rezipienten) zu klären, Funktion und Charakteristik des Kommunikats zu durchdenken und die Interaktionsprozesse zwischen Fernsehformat, Fernsehproduktion und Fernsehrezeption zu modellieren. Darüber hinaus müssen die Rahmenbedingungen konzeptualisiert werden, innerhalb derer Fernsehformate entstehen, reproduziert und rezipiert werden. Die Auseinandersetzung mit den kulturellen Kontexten als auch den weltweiten Raumbeziehungen nehmen in diesem Zusammenhang eine zentrale Stellung ein. Der Gegenstand und das Forschungsinteresse erfordern zunächst eine medienund kommunikationswissenschaftliche Modellierung, denn Produktions- und Rezeptionssituationen und das Verhältnis zwischen Medienangebot und Medienrezeption beziehungsweise -aneignung stehen im Fokus der Untersuchung. Einen Ausgangspunkt liefert hierfür die Auseinandersetzung mit zirkulären Kommunikationsmodellen, die gerade die Wechselverhältnisse zwischen Texten und Akteuren in den Vordergrund stellen. Insbesondere Halls Überlegungen zu rekursiven Interpretationsvorgängen im Rezeptionsprozess werden hier nutzbar gemacht und durch eine gattungs- und genrebasierte Differenzierung sowie durch die Integration kulturund globalisierungstheoretischer Perspektiven weiterentwickelt. Die Auseinandersetzung mit kulturtheoretischen Diskursen wird dort notwendig, wo kollektive Einflüsse auf den Rezeptionsprozess und die gesellschaftliche Bedeutung von Unterhaltung beziehungsweise Populärkultur geklärt werden. Wie eingangs schon deutlich wurde, wird hier von einer grundsätzlichen kulturellen Einbettung der Unterhaltungsproduktion und -rezeption ausgegangen: Fernsehformate sind populärkulturelle Ressourcen, die auf unterschiedliche lokale Kommunikati-

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onskulturen treffen. Dass »Kultur« hier keineswegs als Synonym für nationale oder überregionale Großgemeinschaften steht, wird im Verlauf der theoretischen Einführung genauer erläutert. Die kommunikations- und kulturtheoretischen Grundlagen müssen schließlich konsequent auf globale Zusammenhänge übertragen werden, wenn grenzüberschreitende Prozesse der Unterhaltungskommunikation untersucht werden. Zentrale Debatten um eine Medienglobalisierung werden im dritten Teil des folgenden Theoriekapitels skizziert und wichtige theoretische Weiterentwicklungen im Bereich der kulturellen Globalisierung reflektiert. So werden zusammenfassend grundlegende Kommunikationsprozesse in ihrer Abhängigkeit zu Prozessen kollektiver Sinngebungspraktiken und zu Globalisierungsdynamiken diskutiert. Die Zusammenführung der wichtigsten kulturwissenschaftlichen und medien- und kommunikationswissenschaftlichen Theoriebausteine mit den globalisierungstheoretischen Auseinandersetzungen schließt das Kapitel ab und bereitet die Basis für die Entwicklung eines Analysedesigns.

2.1 M EDIEN - UND K OMMUNIKATIONSWISSENSCHAFTLICHE T HEORIEANGEBOTE Im Kern hat die vorliegende Arbeit einen multidimensionalen Kommunikationsprozess zum Gegenstand, der massenmedial vermittelt wird und sich in vier grundlegende Bestandteile gliedern lässt: Ein a) Medienangebot wird b) in einer bestimmten Medienumgebung produziert, c) rezipiert und schließlich in einer anderen Medienumgebung d) reproduziert. Das Medienangebot ist hier ein Fernsehformat, das sich vorwiegend über den traditionellen Kommunikationskanal des Fernsehens an ein disperses Massenpublikum richtet und damit als ein Phänomen der massenmedialen Unterhaltungskommunikation zu verstehen ist. Ein in einer Sendung konkretisiertes Fernsehformat ist demnach eine alltagskulturelle Ressource, die – und das ist eine vorangestellte Prämisse dieser Arbeit – durch ihren Konsum nicht allein ein potenzielles und messbares Vergnügen generiert, sondern zugleich Sinnangebote liefert. Wie im Folgenden gezeigt wird, ist die Bedeutung jedoch nicht als manifeste Botschaft in das Format eingeschrieben. Vielmehr handelt es sich um polyseme Texte, deren konkrete Bedeutung erst im jeweiligen Rezeptions- und Aneignungskontext realisiert wird. Daraus ergeben sich drei zentrale Herausforderungen an die theoretische Matrix: Erstens müssen die allgemeinen Entstehungsbedingungen und die Prozesse der Rezeption und Aneignung eines unterhaltungsorientierten Medienangebots, muss also ein Kreislauf der Medienkommunikation konzeptualisiert werden. Zweitens muss dieser Kreislauf so ausgerichtet sein, dass er die Diffusion des Medienange-

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bots in eine weitere Medienumgebung im Sinne einer weiteren Fernsehlandschaft integriert. Es muss also eine reproduktive Ebene kommunikativer Zusammenhänge herausgearbeitet werden. Diesbezüglich ist es drittens notwendig, die konkrete Beschaffenheit des Fernsehformats zu berücksichtigen, so dass möglicherweise entstehende Verschiebungen ästhetischer und kultureller Elemente bei der Reproduktion erfasst werden. 2.1.1 »Re-Kodierung« und Bedeutungstransfer: Theoretische Reflexionen zum Kommunikationsmodell von Stuart Hall Stuart Hall ist einer der wichtigsten Vertreter der Cultural Studies und derjenige Theoretiker, der die Rezeptions- und Aneignungsforschung der Kommunikationswissenschaft maßgeblich beeinflusst hat. So hat er in den 1980er Jahren ein grundlegendes Kommunikationsmodell der Ver- und Entschlüsselung der Bedeutung televisueller Texte entwickelt, dessen theoretische Grundüberlegungen bis heute nicht an Attraktivität eingebüßt haben und das auch hier als Ansatzpunkt für eine Theoretisierung der Kommunikationsbeziehungen im konkreten Fall grenzüberschreitender Fernsehformate dienen wird.117 Halls Ausgangspunkt ist eine Übertragung von Marx’ Grundriss der Güterproduktion auf den Vorgang der Bedeutungskonstruktion in Massenkommunikationsprozessen, die es ihm erlaubt, den Kreislauf von Kommunikationsprozessen nicht als linearen Ablauf zwischen dem Senden und Empfangen einer Botschaft, sondern als kontinuierlichen zirkulären Vorgang der Bedeutungskonstruktion zu konzipieren. So determiniert nach Hall die Produktion nicht die Rezeption, sondern beide sind unabhängige, wenn auch determinierte Schritte der Herstellung von Bedeutung innerhalb eines strukturellen Zusammenhangs. Das heißt, dass eben nicht allein der Produktionsprozess Bedeutungen von Medienangeboten festschreibt, die dann durch den Rezipienten bloß reaktiv aktualisiert werden und eine stabile Wirkung entfalten, sondern die lebensweltlichen Rezeptionssituationen und Aneignungsweisen des Publikums haben ebenso entscheidenden Einfluss darauf, welche Bedeutung ein Medienangebot erhält. Gleichzeitig ist die Rezeption nicht gänzlich unabhängig von Medienangeboten und dessen Medienumgebung wie auch die Produktion sich auf ein potenzielles Publikum bezieht und aus einem lebensweltlichen Zusammenhang heraus Themen und Ereignisse mit diesem teilt. Folglich konstituieren beide Praktiken, die der Kodierung wie auch der Dekodierung, das Fernsehprogramm gleichermaßen. Für die Bedeutungsherstellung eines Fernsehprogramms 117 Hall, Stuart (1980): Encoding/Decoding. Im Folgenden stützt sich die Darstellung für eine bessere Lesbarkeit auf die deutsche Übersetzung von Bettina Suppelt: Hall, Stuart (2004): Kodieren/Dekodieren.

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sind nach Hall also Produktion und Rezeption notwendige Momente des Kreislaufs, die sich aber nicht nach einer bestimmten Abfolge gegenseitig bedingen oder gewährleisten. Poonam Pillai sieht hierin bereits Halls Artikulationstheorie vorgedacht, welche das Zustandekommen von Diskursen unter spezifischen sozialen und historischen Bedingungen und deren Aneignung durch unterschiedliche historische Subjekte erklärt.118 Zu einer paradigmatischen Wende führt zweifelsohne die Annahme, dass sich die Bedeutung des Medientextes nicht prioritär aus der Produktion ergibt oder im Text allein manifestiert, sondern der Rezipient selbst an der Bedeutungskonstruktion beteiligt ist. Dieses Verständnis bricht mit den bis dahin traditionellen Ansätzen der Medienwirkungsforschung119 oder medienpsychologischen Ansätzen der selektiven Medienwahrnehmung und erweitert den nutzenorientierten »Uses and Gratification«-Ansatz. Auch wenn dessen Anhänger120 eindimensionale Wirkungen der Medien durch die Anerkennung eines grundsätzlich selektiven Rezeptionsverhaltens entkräften und ebenso von aktiven Rezipienten ausgehen, die sich selbstbestimmt den Medien zuwenden, so engt dennoch der individualpsychologische Fokus auf Bedürfnisse und Erwartungen der Mediennutzung die Perspektive ein, die bei Hall dann eine wichtige Erweiterung erfährt, wenn dieser die Frage stellt, wie die Inhalte der Medienangebote auch abseits der Bedürfnisorientierung gesellschaftlich relevante Bedeutung erhalten. Insofern kann Halls Auseinandersetzung vor allem für die Kommunikationswissenschaft als ein zentraler Angelpunkt des Paradigmas des aktiven Rezipienten gelten.121 Das Problem einer theoretischen Beliebigkeit der Bedeutungszuweisung durch den Rezipienten umgeht Hall, indem er mithilfe zeichentheoretischer Grundüberlegungen die strukturellen Rahmen, also die »formalen Regeln von Diskurs und Spra118 Pillai, Poonam (1992): Rereading Stuart Hall’s Encoding/Decoding Model. In: Communication Theory 2 (3), S. 224f. 119 In der klassischen Medienwirkungsforschung werden Modelle zugrunde gelegt, die von mehr oder weniger linearen Prozessen der Rezeption ausgehen, die sich an die Produktion eines Programms anschließen und durch dessen Eigenschaften determiniert sind. Selbst weiterentwickelte Ansätze, wie etwa von Paul Lazarsfeld, die eine Abschwächung direkter Effekte von Massenmedien auf Rezipienten durch Meinungsführer (twobzw. multi-step-flow of communication) oder individuelle Wahrnehmungsprozesse (selektive Wahrnehmung) relativieren, stellen letztlich zwar den Wirkungsverlauf, nicht jedoch die Wirkungsperspektive selbst in Frage. 120 Bspw. Philip Palmgreen, Denis McQuail, Jay Blumler, Elihu Katz. 121 Diese Einordnung bezieht sich auf einen medien- und kommunikationswissenschaftlichen Diskurs. Die Eigenständigkeit der Leser gegenüber ihren Textangeboten ist daneben auch in literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen diskutiert worden, die hier nur vereinzelt in relevanten Zusammenhängen Beachtung finden.

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che«122 dieser aktiven Sinngebungspraktiken, mit einbezieht. Die Vieldeutigkeit eines Textes, die John Fiske beispielsweise stärker anerkennt,123 erfährt bei Hall deutliche Einschränkungen und ist hier als eine strukturelle Polysemie zu verstehen. Sowohl die Produktion und Zirkulation als auch die Distribution von Medienangeboten an unterschiedliche Öffentlichkeiten denkt Hall in diskursiven Formen. Das heißt, dass die Prozesse der Produktion von Bedeutung von den verschiedensten Ideologien und Vorstellungen, von angewandtem und institutionellem Wissen und gesellschaftlichen Konventionen gerahmt sind. Ein Medientext wird mithin durch die Codeoperationen beziehungsweise -regeln, die im Produktionskontext wirksam werden, zum sinntragenden Diskurs, der wiederum entlang ebensolcher Rahmenbedingungen im Rezeptionsprozess dekodiert, übersetzt und so »in gesellschaftliche Praktiken umgewandelt werden«124 muss, um letztlich einen gesellschaftlichen beziehungsweise politischen Gebrauchswert zu erlangen: »Es ist diese Reihe von dekodierten Bedeutungen, die ›eine Wirkung haben‹, die beeinflussen, unterhalten, instruieren oder überzeugen, und das mit äußerst komplexen, die Wahrnehmung und das Verhalten betreffenden kognitiven, emotionalen oder ideologischen Konsequenzen.«125 Die Äquivalenzverhältnisse einer solchen symbolischen Austauschbeziehung zwischen Produzenten und Rezipienten sind nun für eine Untersuchung von adaptierten Fernsehprogrammen in unterschiedlichen regionalen Kontexten von besonderem Interesse. Denn gerade in Hinblick auf die Entstehungszusammenhänge der Bedeutungsebenen televisueller Zeichen wird von Hall die Wichtigkeit eines kulturellen Referenzsystems hervorgehoben.126 Sinngebung finde immer in Bezug zu ei-

122 Hall, Stuart (2004): Kodieren/Dekodieren, S. 69. 123 Fiske, John (2007): Television Culture. 124 Hall, Stuart (2004): Kodieren/Dekodieren, S. 66f. 125 Ebd., S. 69. 126 Ebd., S. 73f. Im losen Anschluss an Hall, Hepp, an Breidenbach und Zukrigl wird in der Arbeit der Begriff des gesellschaftlichen Referenzsystems zur Beschreibung der jeweiligen regionalen, nationalen, lokalen oder globalen Kontexte verwendet. Referenzsysteme ergeben sich aus den raum-zeitlichen Rahmen, innerhalb derer gesellschaftliche Akteure primär alltägliche Erfahrungen sammeln und über den sie miteinander verbunden sind, deren Codes sie teilen. Da dies nicht zwangsläufig der nationale Kontext sein muss und geteilte Alltagsbezüge auch über das Lokale hinausreichen und sich überlagern können, bietet sich der Terminus des Referenzsystems an, da er keine klaren Grenzen (territorial, politisch, kulturell) vordefiniert. Vgl. auch Hepp, Andreas (2011): Kommunikationsnetzwerke und kulturelle Verdichtungen: Theoretische und methodologische Überlegungen. In: Fuhse, Jan; Stegbauer, Christian (Hg.): Kultur und mediale Kommunikation in sozialen Netzwerken. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaf-

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ner gesellschaftlichen Wirklichkeit und deren Ordnungs- und Repräsentationssystemen statt. Codes regulieren den Zusammenhang zwischen Vorstellungen und Zeichen und stabilisieren dementsprechend Bedeutungszuweisungen innerhalb bestimmter Kulturen.127 Diesen Prozess des gesellschaftlichen Verweisungszusammenhangs zwischen fiktiven oder realen Objekten, mentalen Konzepten und Zeichen hat Hall in seinen Überlegungen als »work of representation« ausformuliert. Demnach sind Kognition, Sozialisation und Kommunikation diejenigen Bestandteile, die uns zu kulturellen Subjekten werden lassen. Er entwickelt das Konzept der Repräsentation im Rahmen eines konstruktivistischen Ansatzes weiter, indem er die soziale und kulturelle Dimension in der Herstellung von Bedeutung betont: »In the constructionist perspective, representation involves making meaning by forging links between three different orders of things: what we might broadly call the world of things, people, events and experiences; the conceptual world – the mental concepts we carry around our heads; and the signs, arranged into languages, which ›stand for‹ or communicate these concepts. Now, if you have to make a link between systems which are not the same, and fix these at least for a time so that other people know what, in one system, corresponds to what in another system, then there must be something which allows us to translate between them – telling us what word to use for what concept, and so on. Hence the notion of codes [Herv. i.O.].«128

Kultur ist nach Hall also als Repräsentationssystem zu begreifen, in dem auf Grundlage einer gemeinsamen Sprache mentale Konzepte und Bedeutungen kommunikativ teil- und verhandelbar sind.129 Gerade die Aushandlung des analytischen Zusammenhangs unterliegt aber ständigen Veränderungen. Durch fortlaufende Prozesse der Auswahl und Festlegung von Bedeutungen130, durch ideologische Prozesse ten, S. 13-29; Breidenbach, Joana; Zukrigl, Ina (1998): Tanz der Kulturen. Kulturelle Identität in einer globalisierten Welt. München: Kunstmann. 127 Hall, Stuart (2013): The Work of Representation. In: Ders.; Evans, Jessica; Nixon, Sean (Hg.): Representation. Culture Representation and Signifying Practice. 2. Aufl. London [u.a.]: Sage, S. 7. 128 Ebd., S. 45. 129 Vgl. auch Hall, Stuart; Jhally Sut (1997): Representation and the Media. 130 Hall bezieht seinen zeichentheoretischen Ideologiebegriff v. a. aus der Auseinandersetzung mit Marx und Althusser. Ideologie ist bei Hall demnach nicht nur politische Weltanschauung, sondern findet sich auf allen Ebenen des Alltagslebens, in denen Gruppen mithilfe von Sprache Bedeutung verhandeln und Orientierungsrahmen herausbilden: »Unter Ideologie verstehe ich die mentalen Rahmen – die Sprachen, Konzepte, Kategorien, Denkbilder und Vorstellungssysteme –, die verschiedene Klassen und soziale Gruppen entwickeln, um der Funktionsweise der Gesellschaft einen Sinn zu geben, sie

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also, entstehen dominante kulturelle Ordnungen; es bildet sich dementsprechend eine »Struktur des dominanten Diskurses«.131 In einem analytischen Verständnis aktivieren die Codes, verstanden als soziale Konventionen, bestimmte konnotative Bedeutungen der Zeichen. Sie legen also die Beziehung des Zeichens zu einzelnen sozialen Bedeutungen, Praktiken und Bräuchen innerhalb einer Gesellschaft beziehungsweise Kultur nahe und konstruieren damit eine sogenannte bevorzugte Bedeutung (»preferred meaning«).132 Halls Kulturanalyse ist, wie auch Rainer Winter ar-

zu definieren, auszugestalten, verständlich zu machen. Das Ideologieproblem betrifft deshalb die Art und Weise, in der verschiedenartige Ideen die Köpfe der Massen ergreifen und dadurch zur ›materiellen Gewalt‹ werden. In dieser mehr politischen Perspektive hilft uns die Ideologietheorie, zu analysieren, wie ein bestimmter Set von Ideen die gesellschaftliche Denkweise eines historischen Blocks – in Gramscis Sinne – dominiert und damit dazu beiträgt, solch einen Block von innen her zu vereinheitlichen und seine Herrschaft und Führerschaft über Gesellschaft als ganze aufrecht zu erhalten. Es hat insbesondere etwas mit den Konzepten und Sprachen des praktischen Denkens zu tun, das eine bestimmte Form von Macht und Herrschaft stabilisiert oder das die Volksmassen an ihren untergeordneten Platz in der Gesellschaftsformation anpaßt und sie mit ihm versöhnt. […] Heutzutage hat er [der Ideologiebegriff] einen viel weiteren, mehr deskriptiven und weniger systematischen Bezug als in klassischen marxistischen Texten. Wir benutzen ihn heute, um auf alle organisierten Formen gesellschaftlichen Denkens zu verweisen. […] Wir meinen damit sowohl das praktische als auch theoretische Wissen, das die Leute dazu befähigt, sich die Gesellschaft ›auszugestalten‹, und in dessen Kategorien und Diskursen wir unsere objektive Positionierung in den gesellschaftlichen Verhältnissen ›ausleben‹ und ›erfahren‹.« Hall, Stuart (1984): Ideologie und Ökonomie – Marxismus ohne Gewähr. In: Ders.; Haug, Wolfgang; Pietilä, Veikko (Hg.): Die Camera Obscura der Ideologie. Philosophie – Ökonomie – Wissenschaft; 3 Bereichsstudien. Berlin: Argument-Verlag, S. 99f.; vgl. auch Winter, Rainer (2006): Stuart Hall: Die Erfindung der Cultural Studies. In: Moebius, Stephan; Quadflieg, Dirk (Hg.): Kultur: Theorien der Gegenwart. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 384f. sowie Hepp, Andreas (2010): Cultural Studies und Medienanalyse. Eine Einführung. 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 33f.. 131 Hall, Stuart (2004): Kodieren/Dekodieren, S. 74. Daran anschließend müssen hier auch Halls Ausführungen zur Entstehung gesellschaftlicher Deutungshoheit durch Machtstrukturen mitgedacht werden, in denen er gerade im Zusammenhang mit Minderheitsdiskursen nachzeichnet, wie bestimmte gesellschaftliche Gruppen es schaffen, ihre präferierten Deutungen kollektiv durchzusetzen. Hall, Stuart (1996): Who Needs Identity? In: Ders.; du Gay, Paul (Hg.): Questions of Cultural Identity. London [u.a.]: Sage, S. 1-17. 132 Hall, Stuart (2004): Kodieren/Dekodieren, S. 74.

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gumentiert, damit immer zugleich auch Ideologieanalyse. 133 Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Prozess nach Hall schließlich den Medien zu, da sie eine Bedeutungszirkulation weit über die Grenzen interpersonaler Kommunikationsbeziehungen hinaus ermöglichen und über audiovisuelle Repräsentationsprozesse mehrfache Strategien der Bedeutungszuweisung qua Auswahl und Interpretation von Bedeutungszusammenhängen auf der Ebene von Tönen, Bildern und Texten verfolgen können. Das zeichentheoretische Basismodell wird bei Hall also in ein allgemeineres Kulturmodell transferiert, indem der Zusammenhang von Bedeutung und lexikalischen Zeichen erweitert wird. Denn Hall geht es im Kontext der kulturellen Gebundenheit von Codes gerade um die Bedeutung, die auf größeren Analyseeinheiten beruht, etwa »narratives, statements, groups of images, whole discourses which operate across a variety of texts, areas of knowledge about a subject which have acquired widespread authority.«134 Die kulturellen Codes bilden in Halls Modell dann die Projektionsfläche für die Konzeptualisierung unterschiedlicher idealtypischer Lesarten, welche das Spektrum der Symmetrie zwischen der Kodierung und Dekodierung beschreiben. Hall unterscheidet hier zwischen einer dominant-hegemonialen beziehungsweise favorisierten, einer ausgehandelten und einer oppositionellen Leseposition, gibt jedoch selbst zu bedenken, dass es sich dabei um keine empirischen Positionen oder gar soziologische Beschreibungen handele, sondern um hypothetische Positionen, zwischen denen Zuschauer theoretisch auch ständig wechseln können. 135 Es liegt in Halls Worten also »keine notwendige Korrespondenz«136 zwischen Kodierung und Dekodierung eines televisuellen Diskurses vor. Ebenso muss die Dekodierung der Rezipienten nicht durchgehend stabil sein. 133 Winter, Rainer (2006): Stuart Hall, S. 386. 134 Hall, Stuart (2013): The Work of Representation, S. 27. 135 Hall, Stuart et al. (2004): Reflektionen über das Kodieren/Dekodieren Modell. Ein Interview mit Stuart Hall. In: Ders.; Koivisto, Juha (Hg.): Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. Hamburg: Argument-Verlag, S. 84, 96. Nicht immer haben kritische Reaktionen auf die hypothetischen Lesepositionen diese von Hall selbst getroffene Einschränkung ausreichend gewürdigt. Kritik an der Reduktion der eigentlichen Diversität möglicher Lesepositionen etwa erscheint hinfällig, wenn man Halls Idealtypen lediglich als zentrale Markierungen eines Spektrums von Lesarten versteht. Denkt man auch Halls dynamisches Verständnis von kultureller Identität mit, dann wird umso deutlicher, dass Lesepositionen keine unveränderliche Größe sind, sondern auch ständigen Aushandlungsprozessen unterliegen. Vgl. zu kritischen Positionen bspw. Wren-Lewis, Justin (1983): The Encoding/Decoding Model: Criticisms and Redevelopments for Research on Decoding. In: Media, Culture and Society 5 (2), S. 179-197. 136 Hall, Stuart (2004): Kodieren/Dekodieren, S. 77.

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Die möglichen Asymmetrien im Äquivalenzverhältnis zwischen Kodierer und Dekodierer potenzieren sich theoretisch vor allem dann, wenn die Subjekte Angehörige unterschiedlicher Kulturen sind, wie im Falle von exportierten Unterhaltungsangeboten: »There is no guarantee that every object in one culture will have an equivalent meaning in another, precisely because cultures differ, sometimes radically, from one another in their codes – the ways they carve up, classify and assign meaning to the world.«137 Die Herausforderung dieser eher rudimentären theoretischen Modellierung liegt nun gerade in den folgenden empirisch zu beantwortenden Fragen: Welche konkreten Kodier- und Dekodier-Positionen in Halls beschriebenem Spektrum nehmen bestimmte Akteure in bestimmten Teilen eines Fernsehprogramms ein (Bedeutungsgenerierung)? In welcher Form lässt sich ein Äquivalenzverhältnis zwischen den beiden bedeutungsgebenden Praktiken (Kodieren/Dekodieren) im Kommunikationskreislauf erkennen (Bedeutungstransfer)? Welche Zusammenhänge sind zwischen den identifizierbaren Bedeutungen und dem entsprechenden gesellschaftlichen Referenzsystem, in dem sie hervorgebracht werden, erkennbar (lokale Wissensrahmen)? Bevor aber eine Übertragung des Modells auf einen grenzüberschreitenden Bedeutungstransfer geleistet werden kann, sind zunächst einige Unschärfen des bisher beschriebenen Modells zu erörtern. So setzt erstens die Positionierung des Rezipienten gegenüber dem Medientext eine Bestimmung der dominanten Bedeutung voraus, die vorzunehmen jedoch methodisch problematisch ist, was bereits vielfach diskutiert wurde.138 In diesem Zusammenhang kritisiert etwa Pillai, dass Halls Modell eine absolute Äquivalenz zwischen der bevorzugten Dekodierung und der dominant-hegemonialen Kodierung mittels der Verwendung der gleichen dominanten Codes nahelege. In einer solchen Konzeptualisierung würde die dominante Ideologie im Zuge der Kodierung im Medientext schlicht reproduziert werden.139 So entstehe eine problematische analytische Gleichsetzung der dominanten Ideologie be137 Hall, Stuart (2013): The Work of Representation, S. 45. 138 Gemeint ist die Problematik, dass die bevorzugte Bedeutung eines Textes nur über Lesarten zu ermitteln ist – nämlich entweder der Forscher oder der Zuschauer –, wenn davon ausgegangen wird, dass sie keine Qualität des Textes an sich ist. Tatsächlich spricht sich Hall hier selbst für das Analyserisiko des hermeneutischen Versuchs aus, da die Dekodierung des Publikums auch eine oppositionelle sein könne und keine Sicherheit darüber bestehe, dass selbst dann die vermeintlich verborgene dominante Bedeutungen, gegen die sich in der Eigeninterpretation gewendet wird, die intendierte ist. Hall, Stuart et al. (2004): Reflektionen über das Kodieren/Dekodieren Modell, S. 96f. 139 Pillai, Poonam (1992): Rereading Stuart Hall's Encoding/Decoding Model, S. 22; vgl. auch die Kritik von Schrøder, Kim (2000): Making Sense of Audience Discourses: Towards a Multidimensional Model of Mass Media Reception. In: European Journal of Cultural Studies 3 (2), S. 236.

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ziehungsweise deren wirksamer Codes mit der dominanten Bedeutung des Textes. Zu fragen ist gemäß Pillais Kritik somit, wie ein Text zu verstehen wäre, dessen bevorzugte Bedeutung sich gegen die dominanten Bedeutungszuschreibungen wendet, also selbst oppositionell ist und neue Lesarten ermöglicht, was angesichts der potenziellen Autonomie der Medienmacher gegenüber der gesellschaftlichen Deutungshoheit durchaus denkbar ist.140 Ebenso aber muss auch keine zwingende Korrespondenz zwischen der Kodierung und den wirksamen dominanten Ideologien bestehen. Hall schließt seinen Aufsatz mit der Bemerkung, dass der politische Moment seines Modells in der »›Politik des Bezeichnens‹, dem Kampf im Diskurs« liege, also genau an dem Ort markiert sei, »an dem Ereignisse, die normalerweise in ausgehandelter Form bezeichnet und dekodiert werden, eine oppositionelle Lesart zugeschrieben wird.«141 Hier wird deutlich, dass der ausgehandelte Modus der Bedeutungszuschreibung nicht allein eine Option des Dekodierungsvorgangs ist. Allerdings schränkt Hall zuvor selbst ein, dass er nicht auf den äußerst komplexen Zusammenhang eingehen könne, »wie Rundfunkarbeiter sowohl mit ›relativ autonomen‹, eigenständigen Codes arbeiten, gleichermaßen aber auch in der Lage sind (nicht gänzlich widerspruchsfrei), die hegemoniale Bedeutung von Ereignissen zu reproduzieren.«142 So bleibt zu fragen, wie eine hegemoniale Bedeutung eines Ereignisses reproduziert werden kann, wenn diese erst vermittelt werden muss, wie Hall selbst sagt: »Zuerst muss das Ereignis zu einer Geschichte werden, bevor es zum kommunikativen Ereignis werden kann.«143 Das heißt, dass die konkrete Art und Weise, wie sich die Struktur des dominanten (oder auch subversiven) Diskurses in die Kodierungs- und Dekodierungspositionen einschreibt, weiter theoretisiert werden muss. Es gilt allerdings als eine Kritik an den Arbeiten der Cultural Studies insgesamt, dass gerade die machtgeprägten Prozesse der Legitimierung von bestimmten Bedeutungen und Diskursen, also die Herstellung dominanter gesellschaftlicher Repräsentationsregime, kaum methodisch kontrolliert analysiert und sich beispielsweise die Möglichkeiten der kritischen Diskursanalyse zu selten zunutze gemacht wurden.144

140 Ein Beispiel wären hier Filme oder Sendungen, die gezielt mit gesellschaftlich verankerten Stereotypen brechen oder sich bewusst gegen konventionelle Codes entscheiden und diese avantgardistisch dekonstruieren. 141 Hall, Stuart (2004): Kodieren/Dekodieren, S. 80. 142 Ebd., S. 78. 143 Ebd., S. 67. 144 Zum Zusammenhang von Cultural Studies und Diskursanalyse vgl. bspw. die Überlegungen von Keller, Reiner (2008): Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, insb. S. 166ff.

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Diese Überlegung hängt auch mit einer weiteren Unschärfe zusammen, die hier kurz thematisiert werden soll. So visualisiert das Modell von Hall, das inzwischen in zahlreichen Publikationen zu finden ist, nur den konkreten Sinngebungsprozess des Fernsehtextes, nicht jedoch den »unteren« Teil des Kreislaufs, also die Wechselwirkung zwischen Produzenten und Rezipienten. Hall sagt hierzu selbst: »Ich habe einen Fehler gemacht, als ich das verdammte Diagramm nur mit der oberen Hälfte gemalt habe. Wenn man einen Kreislauf beschreibt, dann sollte man auch einen Kreis malen. Ich müsste zeigen, wie das Dekodieren sich in Praktiken und Diskursen niederschlägt, die ein Reporter wieder aufgreift. Der Reporter bezieht sich auf eine bereits mit Bedeutungen versehene Welt, um selbst neue Bedeutungen zu erzeugen.«145

Es bleibt also die Aufgabe, die »Signifikation im Allgemeinen«146 mit der Signifikation im Fernsehdiskurs in Beziehung zu setzen. Analytisch trennt Hall zwischen einem ununterbrochenen Prozess der Bedeutungsproduktion in der politischen und sozial-kulturellen Welt und eben jener spezifischen Praxis der Herstellung von Fernsehprogrammen, die gewissermaßen einen Teil der erstgenannten analytischen Ebene darstellt.147 Im Kommunikationsakt einer Fernsehsendung stehen somit Produzenten und Rezipienten in einer direkten wechselseitigen Beziehung (wenngleich es sich dabei meistens um eine indirekte Interaktion handelt); eine indirekte Beziehung (die wiederum eine direkte Interaktion sein kann) nehmen Produzenten und Rezipienten durch die gemeinsame Teilhabe an der kulturellen Welt beziehungsweise als soziale Akteure ein. Die Verbindung der beiden analytischen Ebenen spielt sich also zwischen dem oberen und unteren Teil des Kreislaufs ab und manifestiert sich im Verhältnis zwischen Medientext, den Repräsentationsstrategien und den Referenzen auf gesellschaftliche Kontextelemente, die von Diskursen über Personen bis hin zu Themen reichen können. In Halls Modell aber wird eigentlich noch davon ausgegangen, dass dieser gesellschaftliche Referenzrahmen von Kodierer und Dekodierer geteilt wird. Allein Halls Beispiele der Nachrichten legen diesen Eindruck nahe. Bei der Rezeption von Satellitenprogrammen, dem Transfer von Unterhaltungssendungen oder -formaten sind Kodierer und Dekodierer der Sendungsangebote aber nicht mehr Teil eines gemeinsamen lokalen Erfahrungsraums und nur bedingt Teil eines gemeinsamen gesellschaftlichen Referenzrahmens. Denn wenngleich Themen oder archetypische Narrationen auch grenzüberschreitend existieren, so kann heute wohl nach wie vor davon ausgegangen werden, dass die Zuschauer nur eingeschränkt Zugriff auf entfernte lokale Diskurse, Themen und Personen außerhalb ihrer eigenen Alltagswelt haben. Auch wenn vereinzelt beispiels145 Hall, Stuart et al. (2004): Reflektionen über das Kodieren/Dekodieren Modell, S. 90. 146 Hall selbst bezieht sich in dieser Aussage auf Althusser, Ebd., S. 88f. 147 Ebd.

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weise globale Stars natürlich gleichermaßen parasoziale Beziehungspartner für Jugendliche in unterschiedlichsten Teilen der Welt sind oder Themenagenden der Nachrichten Ähnlichkeiten aufweisen können, so bleibt die Aneignung abhängig von den lokalen Lebenswelten. Das heißt, auch wenn partiell gleiche Elemente in den gesellschaftlichen Referenzrahmen verfügbar sein können, sind es andere nach wie vor nicht. Insofern ist es entscheidend, die für die Interpretation und Aneignung von Inhalten notwendigen und aktiven Wissensrahmen herauszufiltern. Auf welche gesellschaftlich zirkulierenden Diskurse, Personen und Themen wird in der (De-)Kodierung von Inhalten zurückgegriffen? Und welches Veränderungspotenzial liegt in der multiplen lokalen Aneignung gleicher Inhalte? Auch Justin Wren-Lewis zielt in seiner Auseinandersetzung mit Halls Modell auf die Problematik der Verbindung der beiden Bedeutungsebenen ab und kritisiert die implizite Nachrangigkeit der Signifikation im Fernsehdiskurs gegenüber der allgemeinen Signifikation innerhalb (anderer) kultureller Prozesse: »Television is seen as reproducing meanings (or not), rather than producing them [Herv. i.O.].«148 Das grundlegende Problem wird also erneut darin gesehen, dass die professionellen Codes des Fernsehens im Modell die bereits bezeichnete Welt des hegemonialen Codes reproduzieren (oder nicht), jedoch keine eigenständige Bedeutung erzeugen. Auch wenn sich an dieser Stelle sicher eine vertiefte Auseinandersetzung mit den zeichentheoretischen Differenzierungen anempfiehlt, so lässt sich aber bereits in Rückgriff auf Hall selbst argumentieren, dass es gerade sein Anliegen ist, den Text als sinntragenden Diskurs zu konzeptualisieren, dessen Kodierungs- und Dekodierungsvorgänge eben nicht völlig autonom betrachtet werden dürfen. Erst eine Sinngebung und Überführung in gesellschaftliche Praktiken im Zuge der Dekodierung macht den Text bedeutsam. Dementsprechend macht es gerade dieses zirkuläre Verständnis von Kommunikation theoretisch möglich, dass durch die interpretativen Aushandlungen während der Rezeption auch neue Bedeutungen entstehen können. Es muss also schlussfolgernd in Halls Kreislauf das Abbildungsverhältnis beziehungsweise der Zusammenhang zwischen dem Text und dem gesellschaftlichen Kontext konkreter theoretisiert und veranschaulicht werden. Um dies zu erreichen, gelangt eine dritte Unklarheit des Modells in den Blick. Denn Hall geht zunächst nur von der spezifischen Praxis zur Herstellung einer Fernsehnachricht aus und fragt, wie Ereignisse mithilfe audiovisueller Konventionen im televisuellen Diskurs bezeichnet werden, wie also »ein Ereignis zur Geschichte wird.«149 Was aber ist »das Ereignis« bei einer fiktionalen Sendung oder bei einer Spielshow? Eine Nachricht scheint auf den ersten Blick einen historischen Tatbestand im Rahmen des televisuellen Diskurses zu bezeichnen, wohingegen eine 148 Wren-Lewis, Justin (1983): The Encoding/Decoding Model: Criticism and Redevelopments, S. 181. 149 Hall, Stuart (2004): Kodieren/Dekodieren, S. 67.

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fiktionale Narration ein solches Ereignis erst schafft. Auch der Spielshow, um die es in dieser Arbeit geht, liegt ein generatives Moment zugrunde, indem sie aus der Eigenwirklichkeit des Fernsehens hervorgeht und gesellschaftliche Spiel- und Erzählkonventionen mit einschließt. Die letztgenannten Beispiele würden dann auch Wren-Lewis’ Lesart widersprechen, weil das Verhältnis zwischen den Bedeutungsebenen hier theoretisch auch umgekehrt werden kann. Die genrespezifischen Unterschiede von Fernsehprogrammen scheinen demnach einen Einfluss auf das Verhältnis zwischen Text und Referenzsystem zu haben. Im einen Fall werden konkrete gesellschaftliche Ereignisse im Fernsehdiskurs distribuiert, im anderen werden abstrakte gesellschaftliche Diskurs-, Themen- und Praxiselemente aufgenommen und im Fernsehdiskurs zu einem medialen Ereignis quasi neu zusammengefügt und distribuiert. Der »Modus des symbolischen Austauschs«150 ist dementsprechend nicht nur im Prozess der Kodierung und Dekodierung verschieden, sondern verändert sich auch durch die Natur des kommunikativen Ereignisses. Diese Ereignisse sind mit Hall aber dennoch immer als sozial konstruiert zu denken. Auch wenn er die Existenz einer natürlichen Welt nicht in Abrede stellt, existiert für ihn keine bedeutungsvolle Welt außerhalb von Diskursen und damit nicht außerhalb menschlicher Konstruktionen. Gerade das konstruktivistische Denken hat die Beziehung zwischen der äußeren Realität der Welt und der sozialen Realität des Menschen vielfach problematisiert und auf eben jenen Konstruktionscharakter menschlicher Weltwahrnehmung hingewiesen.151 Aber zumindest kann ein Unterschied dahingehend formuliert werden, dass es Texte gibt, die eher kreativen und andere, die eher rekreativen Charakter haben. So unterliegt zwar die Zirkulation einer Nachricht auch der spezifischen Auswahl der visuellen Codes und der Deutungsrahmen durch die sozialen Akteure, die am Kodierungsprozess beteiligt sind, das Material aber ist bereits vorhanden und auch anderen sozialen Akteuren außerhalb der Produktionsinstitution zugänglich. Verschiedene Redaktionen können somit auch ein und dasselbe Ereignis aufgreifen und in einen größeren gesellschaftlichen Diskussionszusammenhang stellen. Der kreative Eingriff liegt in diesem Fall in der Sinngebung eines Ereignisses. Die Nachricht greift direkt Teile des Ereignisses auf (Bilder, Aussagen, Narrationen stehen für das Ereignis) und die Auswahl beziehungsweise das »Framing« der Elemente legt bestimmte Deutungsrahmen (»Frames«) nahe. Zwar operieren weder die inhaltsorientierten Arbeiten der Cultural Studies mit Framing-Konzepten noch greifen die kommunikationswissenschaftlichen Framing-Konzepte auf Halls Überlegungen zurück, tatsächlich aber ähneln sich an dieser Stelle die makro-

150 Ebd., S. 67. 151 Bspw. bei Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas (1997): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 5. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer.

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und zeichentheoretischen Annahmen von Hall und die methodologischen Analysen der Framing-Forschung innerhalb der politischen Kommunikation.152 Anders aber als bei der Nachricht kreiert die Spielshow das Ereignis selbst. Das Material ist dann auch nicht anderen sozialen Akteuren zugänglich. Das wiederum verändert auch die Intertextualität des Sendungsangebots, da in diesem Fall das Deutungsangebot nicht mit dem außermedialen Ereignis zusammenfällt und so die »Autorschaft« allein beim ausstrahlenden Sender liegt, der das Ereignis schafft und damit zugleich eine Deutungshoheit besitzt. Gleichzeitig aber werden Bezüge zu Konzepten, Diskursen und der Alltagsrealität in Spielshows hergestellt, beispielsweise Spiel- und Evaluationssysteme, die in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen, etwa der Schule, Bedeutung haben. Bei Spielshows verschmelzen die von Hall bestimmten Signifikationsebenen insofern, als sie zugleich Bestandteile medialer wie außermedialer Diskurse sind. Auch wenn es Halls Anliegen ist, den privilegierten Status der Produktion zu relativieren (ohne jedoch abzuerkennen, dass hier der Kreislauf beginnt, da die Nachricht beziehungsweise der Fernsehtext an diesem Punkt konstruiert wird153), so weisen die genannten Unterschiede der Produktion doch unterschiedliche Positionen zu. Neben diesem allgemeinen Unterschied der Genres, die sich in ihrem Bezug auf gesellschaftliche Ereignisse und ihrer Autorschaft begründen, haben auch die funktionalen Unterschiede bestimmter Darstellungsformen einen Einfluss auf den Kommunikationsprozess. Die Nachricht etwa hat eine klare Informationsfunktion. Der Produzent nimmt daher die Rolle eines Rekodierers ein, der ein Ereignis dekodiert und in eine televisuelle Form transponiert. Journalisten und Medienmacher sind in diesem Beispiel zunächst selbst Rezipienten, verhandeln Bedeutung und werden dann im nächsten Schritt zu Produzenten.154 Ihre Lesart der Ereignisse, die Anwendung mentaler Konzepte und Codeoperationen, ist dann auch im Rahmen der spezifischen Problemdefinitionen, Ursachenbestimmungen, Bewertungen und Lösungs-

152 Vgl. bspw. Entman, Robert M. (2004): Projections of Power. Framing News, Public Opinion, and U.S. Foreign Policy. Chicago: University of Chicago Press; Ders. (1993): Framing: Toward Clarification of a Fractured Paradigm. In: Journal of Communication 43 (4), S. 51-58; Scheufele, Bertram (2003): Frames – Framing – Framing-Effekte. Theoretische und methodische Grundlegung des Framing-Ansatzes sowie empirische Befunde zur Nachrichtenproduktion. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag; Dahinden, Urs (2006): Framing. Eine integrative Theorie der Massenkommunikation. Konstanz: UVK. 153 Hall, Stuart (2004): Kodieren/Dekodieren, S. 68. 154 Hafez hat diese Funktion der doppelten Kodierleistung von Journalisten auch ähnlich für den Bereich der Auslandsberichterstattung diskutiert. Hafez, Kai (2002a): Die politische Dimension der Auslandsberichterstattung. Bd. 1. Baden-Baden: Nomos, S. 165.

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vorschläge zu entschlüsseln.155 Neben den theoretisch wirkmächtigen individuellen und redaktionellen Interpretationsleistungen liefern hier die professionellen Codes der Fernsehnachricht, die beispielsweise in Nachrichtenwerten, Darstellungsformen und medienethischen Standards wie der ausgewogenen Berichterstattung und Neutralität fixiert sind, einen standardisierten Rahmen, innerhalb dessen sich die – gleichwohl polysemische – inhaltliche Deutung vollzieht. Nachrichten erlauben polyseme Deutungen, die Darstellung folgt aber zumeist eher standardisierten Konventionen der Nachrichtenpräsentation. Die professionellen Codes der Spielshow unterliegen variableren Darstellungskonventionen. Die Unterhaltungsproduktion folgt anderen Gesetzen als die Nachrichtenproduktion, da sie zuspitzen, überhöhen, ironisieren und weitere Formen der Emotionalisierung für sich nutzen kann. Bedeutungsproduktion im Rahmen von Unterhaltung vollzieht sich somit in einem anderen Modus als im Rahmen von Information. Dabei geht es nicht darum, eine grundsätzliche Dichotomie zwischen Information und Unterhaltung neu zu errichten, die angesichts zahlreicher Hybridformate im Bereich des »Edutainment«, des »Politainment« und auch des Reality-TV zunehmend verschwimmt. Auch das Verdienst der jüngeren kommunikationswissenschaftlichen Forschung, das Genre der Unterhaltung zunehmend berücksichtigt und dessen Bedeutung anerkannt zu haben,156 soll nicht geschmälert werden. Die Trennung ist keine Frage der Faktizität und des Realitätsbezugs, auch keine Frage der Qualität. Sowohl Unterhaltung als auch Information, fiktive wie nicht-fiktive Darstellungen sind gleichermaßen bedeutsam für unsere Wahrnehmung der Welt. Aber ein Unterschied kann durchaus in den Darstellungskonventionen, den professionellen Codes und den damit verbundenen konventionalisierten Erwartungen an die unterschiedlichen Gattungen bestehen. Auf der Ebene der kulturellen Formatierung erscheint es aber – anders als es der Großteil der Forschung sieht – sinnvoll, die von den Sendeanstalten getroffene Unterscheidung zwischen Unterhaltung und Information aufrecht zu erhalten. Vielfach ist kritisiert worden, dass Unterhaltung keine Eigenschaft des Textes sei, also eigentlich keine Produktkategorie, sondern in erster Linie ein Rezeptionsphänomen.157 Unterhaltung wird mithin als (Makro-)Emotion konzeptualisiert.158 155 Vgl. hierzu Entmans Definition von Framing in: Ders. (1993): Framing: Toward Clarification, S. 52. 156 Scholl, Armin; Renger, Rudi; Blöbaum, Bernd (Hg.) (2007): Journalismus und Unterhaltung. Theoretische Ansätze und empirische Befunde. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 157 Bosshart, Louis (2007): Information und/oder Unterhaltung? In: Scholl, Armin; Renger, Rudi; Blöbaum, Bernd (Hg.): Journalismus und Unterhaltung. Theoretische Ansätze und empirische Befunde. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 17- 29; Ders. (2006): Theorien der Medienunterhaltung.

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Der Bedeutungszusammenhang spielt dabei eine untergeordnete Rolle gegenüber Erlebnisfaktoren wie der Entspannung oder Spannung, dem Vergnügen und der Ablenkung sowie ihren potenziellen sozialen Integrations- und Orientierungsleistungen. Werner Früh hat im Kontext der deutschen Kommunikationswissenschaft versucht, der fragmentierten Unterhaltungsforschung, die bisher keinen definitorischen Konsens hervorgebracht hat, mit der triadisch-dynamischen Unterhaltungstheorie einen Theorierahmen zu verleihen, der modular genutzt werden kann.159 Indem jedoch Unterhaltung als Kategorie des Erlebens konzipiert wird, das sich theoretisch durch jedes Angebot einstellen kann, wird nicht nur der Rezeptionsakt priorisiert, sondern es werden gleichzeitig auch die bedeutungsgenerierenden Informationsverarbeitungsprozesse marginalisiert. Wenn Früh sagt, dass während der simultanen, kontinuierlichen und rezeptionsbegleitenden Bedeutungselaboration Bewertungen stattfänden und dieser »simultane Verbund denotativer Bedeutungen und Bewertungen […] dann in der Regel zu Emotionen« führe,160 dann bleiben die Bedeutungen Basis der Emotionen. Wenn aber die Informationsverarbeitung eine Grundlage für die Herausbildung von Emotionen ist, dann muss Unterhaltung gegenstandsabhängig sein, weil sie Informationsträger ist. Die Art der Informationen und vor allem die Art ihrer Verarbeitung im Dekodierungsprozess bleibt in informationsorientierten und unterhaltungsorientierten Gattungen aber verschieden, wenngleich sich die Anteile von Informations- und Unterhaltungsorientierung in unterschiedlichsten Kombinationen mischen können und wenngleich sich ein Unterhaltungserleben, das sich im triadischen Fitting nach Früh einstellt, grundsätzlich bei allen Angeboten erreicht werden kann. Die Unterschiede lassen sich durchaus nachvollziehen, beispielsweise in der Länge der Informationssequenzen: Nachrichten erzählen kurze und mehrere Geschichten in zügigen Sequenzen, das Serienformat hingegen etabliert eine Narration über längere Sequenzen, so dass hier etwa dichte und weniger dichte Narrationen angeboten werden, die dem Rezipienten unterschiedliche Zeiten der Bedeutungszuweisung ermöglichen. Die Spielshow wiederum erfordert durch eine stärkere interaktive Ansprache und die Möglichkeit des Mitratens und Wählens einen höheren Eigenanteil des Rezipienten an der Bedeutungsgebung. Das benötigte Kontextwissen wiederum ist in informationsorientierten Angeboten ungleich höher als in unterhaltungsorientierten Angeboten. Darüber hinaus fallen auch prä-rezep158 Früh, Werner; Schulze, Anne-Katrin; Wünsch, Carsten (Hg.) (2002): Unterhaltung durch das Fernsehen. Eine molare Theorie. Konstanz: UVK. 159 Ebd.; vgl. auch Früh, Werner (2003): Triadisch-dynamische Unterhaltungstheorie (TDU). In: Ders.; Stiehler, Hans-Jörg (Hg.): Theorie der Unterhaltung. Ein interdisziplinärer Diskurs. Köln: Halem, S. 27-57. 160 Früh, Werner; Wünsch, Carsten (2007): Unterhaltung. In: Scholl, Armin; Renger, Rudi; Blöbaum, Bernd (Hg.): Journalismus und Unterhaltung. Theoretische Ansätze und empirische Befunde. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 42.

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torisch ausgebildete Bedeutungen, Bewertungen und Emotionen bei informierenden Inhalten möglicherweise mehr ins Gewicht. Nachrichten zielen direkt auf eine Informationsvermittlung. In Unterhaltung vermitteln sich Informationen eher indirekt und durch mitunter diverse realweltliche Akteure. Auch wenn inhaltliche Diskurse durch das Unterhaltungsangebot generiert werden, sind sie nicht zwangsläufig Ziel der Spiele. Die Suggestion eines manifesten Bedeutungsgehalts und die Existenz einer bestimmten Abfolge von Informationen sind zusammenfassend in der Nachricht größer als in unterhaltenden Angeboten. Wenn also die Produktkategorie Unterhaltung/Information ausgeklammert wird, wie bei Hall als auch bei Früh, dann wird auch die Variable der Aufmerksamkeit nicht berücksichtigt, die für die Zuwendung zum Programmangebot aufgebracht wird beziehungsweise werden muss. Es ist jedoch anzunehmen, dass diese wiederum Einfluss auf die Interpretation und entsprechend auf das Erleben hat, folgt man der Gratifikationsforschung und den Annahmen selektiver Medienwahrnehmung. Die »Kulturtechnik Unterhaltung«161 ist damit nicht so sehr in der Makro-Emotion zu finden, sondern vielmehr im Erkennen und bei der Herausbildung gesellschaftlicher Konstruktionen von Darstellungs- und Vermittlungsprinzipien sowie bei der Ausdifferenzierung möglicher Narrationsangebote. Die Kategorien Unterhaltung und Information sind ja gewissermaßen selbst kulturell kodiert – die dominanten professionellen und kulturellen Codes, nach denen Medienangebote organisiert sind, liefern in der Medienumgebung eines bestimmten Referenzsystems auch einen gemeinsamen Erfahrungszusammenhang von Produzenten und Rezipienten. Gattung und Genre prägen also die televisuellen Konventionen, die Hall bereits als Einflussfaktoren auf den Prozess der Produktion beziehungsweise Kodierung bestimmt hat. Genres werden in der Fernsehtheorie als narrative Grundmuster (Erzählmuster, Themen und Motive) und Konventionen beschrieben, »auf die sich die einzelnen in den Filmen und Fernsehsendungen konkretisierten Geschichten beziehen lassen.«162 Die Ähnlichkeit der thematischen und formalen Merkmale ist ausschlaggebend für ein Genre, Gattungen hingegen klassifizieren die konkreten Medienangebote »nach verschiedenen Verwendungs- und Darstellungsformen.«163 Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass Genres dynamische Kategorien sind, die sich immer wieder neu bilden, verändern und verschwinden können, da sie in historische und gesellschaftliche Zusammenhänge eingebettet sind. Außerdem schaffen Genres 161 Schmidt, Siegfried J. (2003): Unterhaltung gibt es nicht. Unterhalten Sie sich gut! Einige philosophische Anmerkungen zum Thema. In: Früh, Werner; Stiehler, Hans-Jörg (Hg.): Theorie der Unterhaltung. Ein interdisziplinärer Diskurs. Köln: Halem, S. 326ff. 162 Hickethier, Knut (2007): Film- und Fernsehanalyse, S. 199; vgl. auch Mikos, Lothar (2008): Film- und Fernsehanalyse, S. 262ff. 163 Ebd., S. 263.

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einen »kommunikativen Vertrag«164 zwischen Rezipienten und Produzenten, indem sie durch wiederkehrende ästhetische und inhaltliche Darstellungsmuster Erfahrung und Erwartung auf beiden Seiten strukturieren. Diese Konventionen strukturieren und reduzieren somit auch die theoretische Polysemie der Medientexte. Denn ein Nachrichten-, Comedy- oder Serienformat legt bereits bestimmte Deutungsmuster qua Genre nahe – etwa die Deutung der Nachricht vor dem Hintergrund des eigenen Erfahrungswissens, die Comedyinhalte vor dem Hintergrund der ironischen Doppeldeutigkeit oder das Serienformat vor dem Hintergrund der märchenhaften Erzählung. Gerade bei Spielformaten lässt sich der bloße Inhalt nicht von diesem Rahmen entkoppeln, der den Modus der Sinngebung vorstrukturiert. So wie in Paul Watzlawicks Axiom die Beziehungsebene immer die Inhaltsebene mitbestimmt,165 so ist auch in der massenmedial vermittelten Unterhaltungskommunikation die Inhaltsebene nicht von ihrer televisuellen »Verpackung« zu trennen. Diese Analogie ist gleichwohl nicht ganz treffend, sie deutet aber an, dass die Interpretation nicht nur auf Grundlage der tatsächlichen Inhalte, sondern auch auf Grundlage der rahmenden genrespezifischen Konventionen erfolgt, die gleichermaßen von Produzenten und Rezipienten geteilt und erkannt werden müssen. Allein aufgrund dieser gesellschaftlichen Verständigungsfunktion, die das Genre erfüllt, hat es wenig Sinn, Unterhaltung als reines Rezeptionsphänomen zu charakterisieren. Unterhaltung ist für alle eine Chiffre für eine bestimmte Art und Weise der Bezugnahme auf kulturelle und realweltliche Bezüge, für eine bestimmte Verwendung von professionellen und televisuellen Konventionen und ein weniger kohärentes Sinnangebot im Gegensatz zu Informationsformaten. Diese Überlegungen sind nun für die Zirkulation von Formatkonzepten insofern relevant, da sie erlauben, die Lokalisierungsmechanismen auf zwei Ebenen, der Ebene der Darstellungskonventionen wie auch auf der Ebene der Inhalte, zu verorten. Außerdem verändert sich der Kommunikationskreislauf durch den Transfer von Formaten grundlegend. Denn im Kreislauf des Ursprungsformats wird ein Ereignis erzeugt, das bestimmte kulturelle und gesellschaftliche Bezüge herstellt. Durch den Transfer wird diese Ursprungsversion mit all ihren möglichen kulturellen Referenzen jedoch wiederum selbst als mediale Ressource in einen anderen kulturellen Referenzraum überführt. Zumindest für die Reproduzenten, die zunächst Rezipienten sind, wird das Format selbst zum (medialen) Ereignis, das es im Zuge der Reproduktion umzudeuten gilt. Hier kommt es dann zur Erweiterung beziehungsweise Umstrukturierung des kulturellen Referenzsystems, da nun sowohl Bezüge beibehalten werden (etwa eine Spielhandlung) als auch ausgetauscht werden (beispiels164 Ebd., S. 265; vgl. auch Casetti, Francesco (2001): Filmgenres, Verständigungsvorgänge und kommunikativer Vertrag. In: Montage AV 10 (2), S. 155-173. 165 Watzlawick, Paul; Beavin, Janet; Jackson, Don (1969): Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern [u.a.]: Huber.

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wiese das Personal). Damit verschieben sich auch die Akteursrollen. Während die Produzenten des Ursprungsformats als kulturelle Produzenten das Ereignis quasi erfinden, sind die Reproduzenten in jedem weiteren Format »kulturelle Gatekeeper«, da sie ein bereits bestehendes (Medien-)Ereignis auswählen und im Sinne des Hall’schen Modells rekodieren. Es ist dann erstens zu fragen, welche professionellen Codes, also televisuellen Konventionen und zweitens welche kulturellen Codes transferiert oder grenzüberschreitend geteilt werden. Letztlich verschiebt sich auf der Ebene der kulturellen Codes auch der Wirklichkeitsbezug des Fernsehens, indem sich der Impuls zum Format zunächst in einem relativ unbestimmten gesellschaftlich-kulturellen Referenzraum befindet, um dann zu einem eindeutig medial erzeugten Impuls zu werden, wobei die Medienangebote dann vor allem Bezug auf sich selbst nehmen. Genau an dieser Stelle setzen auch Medien- und Fernsehtheorien an, welche das Abbildverhältnis zwischen Fernsehen und Wirklichkeit diskutieren. So formulierte beispielsweise Umberto Eco den Gedanken, dass das Fernsehen in eine neue Phase eingetreten sei, sich von einem Paläo- zum Neo-Fernsehen entwickelt habe, in dem der Wirklichkeitsbezug der Fernsehbilder nicht mehr auf eine äußere Wirklichkeit, sondern immer mehr auf die Fernsehbilder selbst hin ausgerichtet sei: 166 »La caractéristique principale de la Néo-TV, c’est le fait qu’elle parle moins en moins du monde extérieur (ce que la Paléo-TV faisait ou feignait de faire). Elle parle d’elle-même et du contact qu’elle est en train d’établir avec son public.«167

Francesco Casetti und Roger Odin haben argumentiert, dass sich die Strukturmerkmale des Fernsehens verschoben hätten, seit dieses mehr und mehr partizipative (Stichwort Talkshows) und nicht mehr pädagogische Formen etabliere, in der die Alltagswelt der Zuschauer in das Fernsehen integriert und somit Fernsehen mehr zum tatsächlichen Lebensraum würde. Alltäglicher und televisueller Raum vermischen sich: »Das Neo-Fernsehen ist kein Bildungsraum mehr, sondern ein Raum des sozialen Zusammenseins [Herv. i.O.].«168 John Caldwell hat dann auf die Bedeutung der Televisualität, also der ästhetisch-stilistischen Entwicklung des Fernsehens hingewiesen, die den visuellen Stil in den Vordergrund rücken würden. Der Stil werde zunehmend zum eigentlichen Text der Sendungen. Grundsätzlich wird 166 Eco, Umberto (1987): La Guerre du Faux. Paris: Librairie Générale Française, S. 196f.; vgl. auch Engell, Lorenz (2012): Fernsehtheorie zur Einführung, S. 44ff. 167 Eco, Umberto (1987): La Guerre du Faux, S. 197. 168 Casetti, Francesco; Odin, Roger (2001): Vom Paläo- zum Neo-Fernsehen. Ein semiopragmatischer Ansatz. In: Adelmann, Ralf et al. (Hg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz: UVK, S. 315; vgl. auch Engell, Lorenz (2012): Fernsehtheorie zur Einführung, S. 44ff.

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somit auch in dieser theoretischen Annäherung eine Eigenbezüglichkeit des Fernsehens durch die Dynamik der Technologien der Darstellung wichtiger.169 Es lassen sich hier eine Reihe weiterer theoretischer Überlegungen anführen, die die Hervorbringung und nicht die Darstellung der Wirklichkeit durch das Fernsehen zum Gegenstand haben. Hier wäre beispielsweise erneut Eco zu nennen, der den Begriff der Hyperrealität einführt und eine Ununterscheidbarkeit von Fernsehbild und Wirklichkeit postuliert. Oder der französische Medientheoretiker Jean Baudrillard, der ebenso behauptet hat, dass die Medienbilder nicht mehr repräsentieren, sondern nur noch simulieren würden.170 Diese Überlegungen nehmen eine gesellschaftskritische Perspektive ein, keine systematisch-analytische. Dennoch verweisen sie auf das angesprochene Grundproblem, nämlich letztlich auf die Frage, was eigentlich in einer Spielshow repräsentiert wird, wenn es sich nicht um außermediale Ereignisse handelt. Zusammenfassend wird deutlich, dass das Kommunikationsmodell von Hall um einen gesellschaftlichen Kontext, also die zweite beschriebene Signifikationsebene, erweitert werden muss und ebenso der Unterschied zwischen den realweltlichen Bezügen in informierenden und unterhaltenden Sendungen Anerkennung finden sollte. Es ergeben sich unter Berücksichtigung dieser Überlegungen dann zwei Kommunikationskreisläufe, die, basierend auf Hall, in den folgenden Darstellungen weiterentwickelt und moduliert werden:

169 Engell, Lorenz (2012): Fernsehtheorie zur Einführung, S. 44ff.; vgl. auch Caldwell, John T. (2001): Televisualität. In: Adelmann, Ralf et al. (Hg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz: UVK, S. 165-202; Caldwell, John T. (1995): Televisuality. Style, Crisis, and Authority in American Television. New Brunswick: Rutgers University Press. 170 Baudrillard, Jean; Kurzawa, Lothar; Schaefer, Volker (1978): Agonie des Realen. Berlin: Merve, insb. S. 44ff.; Baudrillard, Jean (1994): Simulacra and Simulation. Ann Arbor: University of Michigan Press, insb. S. 79ff.; vgl. auch Blask, Falko (2013): Jean Baudrillard zur Einführung. 4. Aufl. Hamburg: Junius; Engell, Lorenz (2012): Fernsehtheorie zur Einführung, S. 62ff.

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Abbildung 3: Kommunikationskreislauf – rekreativer Modus der Bedeutungsproduktion bei informationsbetonten Genres Äquivalenzverhältnis 1: (A)symmetrie zwischen den Lesarten von Produzenten und Rezipienten

Mediensystem Ebene der Bedeutungsproduktion im Fernsehprogramm

Text als sinntragender Diskurs

Produktion

Dekodierung

Rezeption gesellschaftliche und individuelle Einflussfaktoren

gesellschaftliche und individuelle Einflussfaktoren

Kodierung Dekodierung

Ereignis

Kodierung Dekodierung

Personen Bilder Themen Narrationen Diskurse etc.

Äquivalenzverhältnis 2: Relation zwischen Medientext und Referenzsystem

Kodierung

gesellschaftliches/kulturelles Referenzsystem Ebene der ununterbrochenen Bedeutungsproduktion

Quelle: Eigene Darstellung und Erweiterung des Modells von Hall (1980)

Hier wird Halls Modell nun visuell um den unteren Teil des Kreislaufs erweitert. Außerdem werden die zwei Äquivalenzverhältnisse illustriert, die bei Hall dazu dienen, einfache Transfervorstellungen von der Bedeutung von Medientexten abzulösen und stattdessen ein zirkuläres Modell einzuführen. Dies betrifft das bereits dargestellte Äquivalenzverhältnis zwischen Bedeutungsstrukturen der Produktion und Rezeption wie auch das Verhältnis zwischen Textangebot und alltagsweltlichen Referenzen. Dadurch wird noch einmal deutlich, dass sich Produzenten und Rezipienten immer auf Ausschnitte einer Alltagswelt beziehen, die bereits mit Bedeutung versehen ist. Diese Bedeutungen können sich aber durch die diskursive Verarbeitung der Medienprodukte wiederum verschieben.171 Anders gestaltet sich das Modell hingegen bei unterhaltenden, fiktiven oder spielerischen Medienangeboten, da 171 Folgt man hier bspw. Annahmen über zunehmend mediatisierte Alltagswelten, dann wäre die Ebene der ununterbrochenen Bedeutungsproduktion primär von Bedeutungsangeboten der Medientexte durchdrungen. Krotz, Friedrich (2007): Mediatisierung.

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sich das Verhältnis zwischen Medientext und raum-zeitlichem gesellschaftlichen Referenzsystem verändert. Der Modus der Produktion ist hier kein rekreativer, sondern primär ein kreativer Prozess. Gerade Reality-Spielformate, die eine performative Qualität besitzen, werden dann gewissermaßen selbst zum Bestandteil des Referenzsystems, wie in Kapitel 2.1.3 noch genauer erläutert wird: Abbildung 4: Kommunikationskreislauf – kreativer Modus der Bedeutungsproduktion bei Unterhaltungsangeboten Äquivalenzverhältnis 1: (A)symmetrie zwischen den Lesarten von Produzenten und Rezipienten

Mediensystem Ebene der Bedeutungsproduktion im Fernsehprogramm

Produktion

Text als sinntragender Diskurs

Dekodierung

Rezeption gesellschaftliche

gesellschaftliche und individuelle Einflussfaktoren

Kodierung Dekodierung

Intertextuelle Impulse Personen Bilder Themen Narrationen Diskurse Spielpraktiken

und individuelle Kodierung Einflussfaktoren Dekodierung

Text als Medienereignis Personen Bilder Themen Narrationen Diskurse Spielpraktiken

Äquivalenzverhältnis 2: Relation zwischen Medientext und Referenzsystem

Kodierung

gesellschaftliches/kulturelles Referenzsystem Ebene der ununterbrochenen Bedeutungsproduktion

Quelle: Eigene Darstellung und Erweiterung des Modells von Hall (1980)

Neben der Erweiterung des Modells um die Ebene des gesellschaftlichen Referenzsystems und den damit verbundenen re/kreativen Modi des Äquivalenzverhältnisses bedarf es weiterhin einer Präzisierung der Einflussdimensionen auf den Produktions- und Rezeptionsprozess, um Halls metatheoretischen Ansatz der zentralen Stellung und Erklärungskraft kultureller Codes sozialtheoretisch zu untermauern. Daher sollen die maßgeblichen kulturellen Akteure – Rezipienten und Produzenten – und der Kontext ihres Handelns nachfolgend aus kommunikationstheoretischer Perspektive reflektiert werden.

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2.1.2 Produzenten als »kulturelle Gatekeeper« grenzüberschreitender Medienkommunikation Hall schreibt selbst, dass es »die institutionellen Strukturen des Rundfunks mit ihren Produktionspraktiken und Sendeanstalten, ihren Beziehungen und technischen Infrastrukturen«172 seien, die den Produktionsprozess beeinflussen. Er führt weiter aus, dass die Produktion durch bestimmte Bedeutungen und Vorstellungen beeinflusst sei, genauer vom »angewandten Wissen aus den Produktionsroutinen, von historisch bestimmten technischen Fertigkeiten, professionellen Ideologien, von institutionellem Wissen, Definitionen und Annahmen, von den Einschätzungen des Publikums etc.«173 Diese Aufzählung nimmt sich reichlich willkürlich aus und das »etc.« zeigt klar die Unvollständigkeit derselben an. Nicht genauer theoretisiert bleibt in Halls Kommunikationsmodell damit einerseits, wie bereits angemerkt, in welchem Verhältnis der einzelne Produzent zu diesen institutionellen Strukturen der Medienproduktion steht. Zudem bedarf es eines analytischen Fundaments, um zu klären, wie die Themen, die Agenden, die Vorstellungen vom Publikum und das Wissen aus anderen Quellen mit den Produktionsstrukturen zusammenhängen. Hafez spricht im Bereich der Auslandsberichterstattung beispielsweise von einer primären und sekundären Kanalisierung der Dekodierungen im Kodierungsprozess, die durch die Journalisten selbst wie auch durch professionelle Determinanten realisiert werden. Der Zusammenhang zwischen den latenten individuellen Kodierungsleistungen der Journalisten und den professionellen manifesten Coderealisierungen bleiben nach Hafez allerdings offen. 174 Dies lässt sich ganz ähnlich auf den konkreten Fall des Formattransfers übertragen, da hier seitens der Medienmacher ebenso eine Dekodierungs- wie auch eine Kodierungsleistung erbracht wird. Am Produktionskontext haben gemäß einer rudimentären sozialtheoretischen Unterscheidung individuelle (Mikroebene) und organisierte Akteure (Mesoebene) teil, die jedoch in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen und in nationalen oder grenzüberschreitenden Netzwerken organisiert sind. Zu den organisierten Akteuren zählen in erster Linie die Sendeanstalten, die als Programmanbieter über die zu produzierenden oder zu beschaffenden Sendungen entscheiden und die Programme ausstrahlen. Die Autorschaft liegt somit letztlich immer bei dem ausstrahlenden Sender, da entweder Produzenten oder Kreative der Sendeanstalten selbst Autoren eines eigenproduzierten Formats sein können oder aber der Sender als Auftraggeber an ein Produktionsunternehmen die leitende Redaktion stellt. Die Produktionsunternehmen zeichnen für die Umsetzung eines Pro172 Hall, Stuart (2004): Kodieren/Dekodieren, S. 68. 173 Ebd. 174 Hafez, Kai (2002a): Die politische Dimension der Auslandsberichterstattung. Bd. 1, S. 165.

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gramms verantwortlich. Juristisch gesprochen handelt es sich um ein Tauschgeschäft zwischen Lizenznehmern und Lizenzgebern, wobei sowohl Sender als auch Produktionsunternehmen in diesen beiden Rollen agieren können. Es ist in der Formatbranche dabei üblich, dass die individuellen Akteure (Redakteure, Produzenten, technische und kreative Dienstleister) Arbeitserfahrungen in beiden Unternehmenskontexten gesammelt haben.175 Hinsichtlich der Autorschaft ist jedoch auch denkbar, dass ein individueller Akteur, der nicht in einem Verhältnis zu den Unternehmen steht, eine Formatidee anbietet, die im Rahmen der Programmentwicklung dann für eine Umsetzung ausgewählt wird. Im Distributionsschritt der Verwertungskette eines Formats schließlich können weitere intermediäre Akteure hinzukommen, etwa Agenturen und individuelle Spezialisten für die Marktbeobachtung, Lizenzhändler und Akteure mit beratender Funktion wie Juristen oder Consultants. Entscheidend für die Reproduktion eines Formats sind die sogenannten »Flying Producer«. Dies sind Mitarbeiter der lizenzgebenden Organisation, die die Reproduktion vor Ort begutachten und für die Wahrung der Lizenzvereinbarungen verantwortlich zeichnen. Da Formate zwischen unterschiedlichen Fernsehlandschaft transferiert werden, können die Akteure neben ihrer funktionalen Rolle weiterhin auch hinsichtlich ihrer Verankerung in Mediensystemen sowie in gesellschaftlichen und kulturellen Referenzsystemen in jeweils interne und externe Akteure klassifiziert werden, wobei diese Unterscheidung als relatives Kontinuum zu verstehen ist. Ein nationaler Sender ist in seiner Funktion als Auftraggeber für eine Formatproduktion aus Perspektive des betreffenden Mediensystems als interner Akteur zu werten, »Flying Producers« hingegen als externe Akteure. Ein transnationales Produktionsunternehmen nimmt eine mittlere Position ein, die individuellen Akteure, die in den betreffenden lokalen Dependancen arbeiten, sind hingegen interne Akteure. In einem Überblick lassen sich die Akteure in der Verwertungskette des Formathandels wie folgt darstellen:176

175 Lantzsch, Katja; Will, Andreas (2008): Der internationale Fernsehformathandel, S. 236. 176 Ebd.

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Abbildung 5: Beteiligte Akteure am Formathandel

Entwicklung

Produktion

intern

Akteure

extern

Verwertungskette

Organisierte Akteure: Sender, Agenturen, Produktionsunternehmen Individuelle Akteure: Autoren Organisierte Akteure: Sender (Auftraggeber oder Produzenten) Produktionsunternehmen Individuelle Akteure: Produzenten, Technische Dienstleister

Entwicklung Ausstrahlung

Distribution

Organisierter Akteur: Sender

Organisierte Akteure: Lizenzinhaber (Sender oder Produktionsunternehmen) Individuelle Akteure: Formathändler, Produzenten, Juristen, Consultants, Marktbeobachter

Organisierte Akteure: Sender (Auftraggeber oder Produzenten) Produktionsunternehmen Individuelle Akteure: Produzenten, Technische Dienstleister, Flying Producer

Distribution

Reproduktion

Organisierter Akteur: Sender

Fernsehlandschaft 2: gesellschaftliches/ kulturelles Referenzsystem / Mediensystem

Fernsehlandschaft 1: gesellschaftliches/ kulturelles Referenzsystem / Mediensystem

Verwertungskette

Ausstrahlung

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Lantzsch (2010)

Für die strukturelle Einordnung des Produktionskontexts im Formattransfer sind zwei Charakteristika zu bedenken. Erstens handelt es sich bei den Sendeanstalten und Produktionsunternehmen um korporative Akteure, das heißt, dass die Unternehmen nach einem Top-Down-Prinzip organisiert sind. Dies hat zur Folge, dass die Produktion beziehungsweise Reproduktion eines Formats zumeist auf wenige Entscheidungsträger zurückgeht. Zweitens basieren die Produktions-, Distributionsund Lizenznetzwerke in großem Maße auf persönlichen Kontakten und zeichnen sich durch eine hohe (interkulturelle) Interaktionsdichte der Akteure aus. Für diese stellen Markt- und Produktionswissen entscheidende Ressourcen für den sozialen Kontakt dar.177 Die Distributionsbeziehungen strukturieren sich somit nicht allein über funktionale Rollen, sondern, wie Havens argumentiert, insbesondere über gegenseitiges Vertrauen und Erfahrungswissen.178 Erklären lässt sich dies durch das hohe Risiko von Innovationen in den kreativen Industrien und durch eine hohe Un177 Ebd., S. 237. 178 Havens, Timothy (2010): The Business and Cultural Functions of Global Television Fairs. In: Lantzsch, Katja; Altmeppen, Klaus-Dieter; Will, Andreas (Hg.): Handbuch Unterhaltungsproduktion. Beschaffung und Produktion von Fernsehunterhaltung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 195-208.

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sicherheit über Erfolgsfaktoren. Inhaltliche Nachahmung, aber auch die nachhaltige Zusammenarbeit mit Kollegen aus etablierten Beziehungen oder die Orientierung an Akteuren mit hoher Reputation sind daher Strategien, um die Risikofaktoren besser kalkulierbar zu machen.179 Eine intensive und insbesondere internationale Netzwerkbindung der Akteure auf dem Formatmarkt wird durch globale, regionale und genrebasierte Messen befördert, auf denen sich die Mitglieder der Branche mehrmals jährlich treffen.180 Ein internationaler Austausch findet beispielsweise auf der NATPE (National Association of Television Program Executives), der MIPCOM (Marché International des Contenus Audiovisuels) oder der MIPTV (Marché International des Programmes de Télévision) in Cannes statt, auf der es seit 2012 auch einen eigenen Programmableger, die MIPFormats gibt. Im Jahr 2014 nahmen hier etwa 900 Teilnehmer aus insgesamt 55 Ländern und aus 67 Unternehmen teil, wobei 327 Käufer gezählt wurden.181 Darüber hinaus gibt es regionale Messen, wie die sogenannte DISCOP in Europa oder Afrika und es gibt extra ausgewiesene Veranstaltungen für einzelne Genre. Die Messen dienen zwar in erster Linie dem Verkauf, können aber auch als »kulturelle Foren« theoretisiert werden. Timothy Havens misst ihnen eine große Bedeutung für die Vergemeinschaftung der Branche zu: »It is important to note that, while the functions that sales fairs serve are business-related, they are thoroughly cultural in nature, meaning that they are symbolic activities designed to express identities and foster community. While certain features of the fairs foster a shared business community, such as the general availability of giveaways for anyone in attendance, other features work to construct different sub-communities with varying degrees of visibility and power, including the power to define what kinds of television culture are seen as capable of crossing national boundaries.«182

179 Ähnliche Beobachtungen wurden auch in der Filmbranche und anderen Kulturindustrien gemacht, in denen sich der Kern der maßgeblichen Produzenten aus einem kleinen etablierten Netzwerk mächtiger Akteure zusammensetzt, das periphere Akteure jedoch nach selbstdefinierten Partizipationsstrukturen integriert. Peterson, Richard; Anand, Narasimhan (2004): The Production of Culture Perspective. In: Annual Review of Sociology 30 (1), S. 311-334; vgl. auch Bielby, Denise; Harrington, Lee (2004): Managing Culture Matters: Genre, Aesthetic Elements and the International Market for Exported Television. In: Poetics 32 (1), S. 73-98. 180 Havens, Timothy (2006): Global Television Marketplace; Ders. (2010): The Business and Cultural Functions of Global Television Fairs. 181 Reed Exhibitions (2014): Mipformats. http://www.mipformats.com/ (18.10.2014). 182 Havens, Timothy (2010): The Business and Cultural Functions of Global Television Fairs, S. 207.

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Die professionellen manifesten Coderealisierungen im Rahmen der Produktionskultur sind im Formathandel also nicht mehr mit nationalen oder regionalen Produktionssystemen gleichzusetzen. Die professionellen Ideologien im Sinne Halls sind so nicht mehr an die geteilten kulturellen Kontexte von Produzenten und Rezipienten gebunden. Von Interesse für Prozesse der Globalisierung- und (Re-)Lokalisierung ist daher die Frage, wie sich ein Verhältnis zwischen den strukturellen internationalen Netzwerken der Formatproduktion und dem routinierten Alltagshandeln im lokalen Produktionskontext in der konkreten Produktion realisiert. Die Überlagerung zweier Bezugssysteme hat Havens selbst bereits beschrieben: »My main argument is that the business-people who populate the global television marketplace function as gatekeepers, mediating between the economic imperatives of transnational media conglomerates and the fickle viewing pleasures of audiences worldwide. What is more, in order to study how this crucial mediating function works, we need to understand both the political-economic structures of global television and the culture worlds of the businesspeople who operate within its constraints.«183

Wenngleich es richtig ist, zwischen strukturell-ökonomischen und alltagskulturellen Rahmenbedingungen der Produktion zu unterscheiden, so erscheint es angesichts der vorangegangenen Überlegungen allerdings nicht plausibel, das Referenzsystem transnationaler Medienunternehmen allein an eine ökonomische Ebene und die lokale Rezeption an eine kulturelle Dimension zu knüpfen, denn auch die transnationalen Unternehmen sind kulturelle Akteure. Diese organisierten Akteure in der professionellen Sphäre und die in ihnen wirksamen Hierarchien können häufig nicht nur eine sogenannte »Corporate Identity«, sondern auch eine kulturelle Identität entwickeln, was dazu führt, dass Handlungsentscheidungen von Individuen nicht autonom gedacht werden dürfen. Insofern handelt es sich dann nicht nur um eine Unterscheidung von latenten Kodierungsleistungen der individuellen Akteure und professionellen Kodierungsoperationen der organisierten Akteure, sondern die individuellen Akteure selbst sind sowohl Träger einer privaten kulturellen Identität als auch Träger einer bestimmten beruflichen Funktionsrolle. Diese Dichotomie von Persönlichkeit und Systemrolle wurde bereits im Kontext des Verhältnisses zwischen Journalismus und gesellschaftlicher Umwelt von Manfred Rühl systemtheoretisch formuliert.184 Demnach muss analytisch, nicht »dinglich-materiell«,185 zwischen unterschiedlichen Systembezügen der Kommunikation 183 Havens, Timothy (2006): Global Television Marketplace, S. 1. 184 Rühl, Manfred (1980): Journalismus und Gesellschaft. Bestandsaufnahme und Theorienentwurf. Mainz: Hase Koehler, S. 345ff.; vgl. auch Hafez, Kai (2002a): Die politische Dimension der Auslandsberichterstattung, Bd. 1, S. 124ff. 185 Rühl, Manfred (1980): Journalismus und Gesellschaft, S. 356.

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unterschieden werden, die einerseits persönlich-psychisch und andererseits sozialjournalistisch sein können, wobei am Beispiel des Journalisten eine wechselseitige Beeinflussung von Systemrolle und Persönlichkeit mitgedacht ist. Hierin unterscheidet sich auch die Position der Produzenten von denen der Rezipienten. Während die Produzenten kreative Arbeit im Rahmen eines Funktionssystems leisten und auch vor diesem Hintergrund die externen Angebote rezipieren, die sie später möglicherweise adaptieren, so ist davon auszugehen, dass die Rezipienten hingegen ihre Dekodierungsleistungen allein in privaten Räumen und damit in der Medienumwelt erbringen. Insofern nehmen Produzenten und Rezipienten zwar gleichzeitig an einem gesellschaftlichen Kontext teil und gestalten diesen durch ihre Sinngebungspraktiken, aber sie haben unterschiedliche Positionsrollen inne, die theoretisch Auswirkungen auf ihre Dekodierungsleistung haben. Diese Überlegung lässt sich folglich anhand der Frage illustrieren, ob sich Programmmacher auch privat jene Sendungen anschauen, für die sie als Funktionsträger verantwortlich zeichnen. Es bleibt somit theoretisch unscharf, ob eine Adaptionsleistung in einem Format entweder aus beruflicher Erfahrung resultiert oder aber aus persönlicher Affektion. Auch an dieser Stelle lässt sich dann noch einmal mit Rühl fragen, in welchem Ausmaß die analytische Trennung des Journalismus beziehungsweise der Produktion in soziale und personale Systeme empirisch zutrifft. 186 Unberührt von dieser Frage bleiben die Produzenten aber kulturelle Interpreten beziehungsweise Gatekeeper: Sie übersetzen einerseits die symbolischen Referenzen in den externen Medienangeboten und reagieren andererseits auch auf neue Technologien und allgemeine Entwicklungen im Mediensektor.187 In Fortführung dieser Überlegungen lässt sich nun verdichtend eine Kategorisierung möglicher Einflussdimensionen der Formatproduktion herausarbeiten, wobei insbesondere der Reproduktionskontext beziehungsweise das Moment der Distribution von Interesse für den globalisierungstheoretischen Hintergrund der Arbeit ist.188 Neben dem Rahmen, der durch das makroanalytische Referenzsystem gesetzt wird (politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen, historischer Kontext) lassen sich auf einer analytischen Mesoebene der Unterhaltungsproduktion zunächst materielle Bedingungen der Produktionssysteme ausmachen, die einen Einfluss auf die Gestaltung der Fernsehsendungen haben. Hierzu zählen in erster Linie finanzielle, technische und infrastrukturelle Gegebenheiten der betreffenden lokalen Pro186 Ebd., S. 355. 187 Newcomb, Horace; Hirsch, Paul (1984): Television as a Cultural Forum. Implications for Research. In: Rowland, Willard; Watkins, Bruce (Hg.): Interpreting Television. Current Research Perspectives. Beverly Hills: Sage, S. 60f. 188 Vgl. zu den nachfolgenden Ausführungen auch eine ähnliche Systematisierungen in Straubhaar, Joseph (2007): World Television sowie in Peterson, Richard; Anand, Narasimhan (2004): The Production of Culture Perspective.

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duktionskontexte. Formate müssen im Rahmen bestimmter Budgets realisierbar sein und sie müssen durch die Lizenzvereinbarungen Professionalisierungsanforderungen auf der Ebene der technischen Möglichkeiten und der Berufsbilder genügen. Eine Formatreproduktion setzt also möglicherweise ähnliche Produktionsstandards und damit eine vorgelagerte Modernisierung oder Synchronisierung von Produktionsstrukturen und -praktiken voraus. Formatiertes Fernsehen wäre dann eher als Konsequenz denn als Impuls von Globalisierungsdynamiken zu bilanzieren. Die genannten Grundvoraussetzungen sind schließlich nicht unabhängig von der Struktur des Marktes und der Organisation der Unternehmen zu bewerten. Gerade die Marktorientierung von Sendeanstalten kann zwischen öffentlich-rechtlicher und kommerzieller Ausrichtung divergieren. Produktionen sind somit auch unter Bedingungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Funktionsanforderungen zu realisieren, die wiederum durch politische und ökonomische Regulierungssysteme strukturiert sind. Eine Besonderheit der Organisation von kreativen Industrien sieht Richard Peterson weiterhin darin, dass es sich um einen Wettbewerb, eine »competitiveness managed by oligopolistic control fostering diversity without innovation« handele, dessen Konsequenzen für die Kulturprodukte wie auch für die Kreativarbeiter noch nicht hinreichend erforscht seien.189 Darüber hinaus hat Peterson darauf aufmerksam gemacht, dass auch Beschäftigungs- und Karrieresysteme innerhalb von kreativen Industrien die Produktion beeinflussen.190 Berufsbilder, Funktionen, Ausbildungssysteme, Arbeitsmodelle und Organisationsstrukturen begrenzen den Fundus an kreativem Personal, das in den Produktionskontexten arbeitet. Dabei kann es entscheidenden Einfluss auf die Herausbildung von institutionellen Routinen und institutionellem Wissen haben, ob Arbeitnehmer häufig den Arbeitgeber und Standort wechseln, ob sie bestimmten Alterskohorten angehören oder welche kollektiven beruflichen Laufbahneffekte die Mitarbeiter geprägt haben. Denn diese Erfahrungen strukturieren letztlich die möglichen professionellen Kodierleistungen. Ein entscheidender Faktor, den auch Hall benennt, ist schließlich das kulturelle Wissen um kollektive Rezeptionsroutinen, also die Fähigkeit zur kulturellen Präfiguration191 des potenziellen Publikums, das letztendlich durch seinen Konsum über Erfolg oder Misserfolg einer jeden Produktion in wettbewerbsorientierten Systemen entscheidet. Gillespie weist nun richtig darauf hin, dass das Publikum aber nicht als autonome oder gar natürliche Einheit existiert, die den Produzenten gegenübersteht, sondern vielmehr eine imaginierte Masse sei, die seitens der Produzenten in Ziel189 Ebd., S. 318. 190 Ebd. 191 Straubhaar nutzt den Begriff der »kulturellen Präfiguration« in Rückgriff auf die Arbeiten Paul Ricoeurs, der in »Zeit und Narrativ Mimesis I« ein grundlegendes Vorverständnis expliziert. Straubhaar, Joseph (2007): World Television, S. 143.

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gruppen klassifiziert und somit erst produziert wird: »They come into being around specific media technologies and texts (or genres) at particular social and historical moments and they need to be understood in relation to these dynamics.«192 Insofern richten sich die Produzenten nach einem Publikum, das sie gleichsam selbst kreieren.193 Dabei können die Muster, nach denen das Publikum strukturiert wird, prägend für das Programm sein. Denn selbst wenn sich ein Programm als nationale Version darstellt – von GERMANY’S NEXT TOPMODEL über AMERICAN IDOL bis hin zu BRITAIN’S GOT TALENT – so kann das angesprochene Publikum dennoch primär eine spezifische Gruppe der nationalen Gesellschaft sein und weniger eine nationale denn eine peer-group-spezifische Identifikation ermöglichen. Die Inhalte von GERMANY’S NEXT TOPMODEL sind dann möglicherweise auch vorrangig auf die von den Produzenten antizipierten adoleszenten Wünsche und Lebenswelten orientiert denn auf die Repräsentation nationaler Identität: eine Nuance, die in inhaltsanalytischen Untersuchungen zur nationalen Identitätspolitik in Formaten zu selten berücksichtigt wird. Neben der Antizipation des Publikums spielt schließlich auch die Dimension der intertextuellen Bezüge eine Rolle, die Produzenten in die Formatproduktion einbringen. Damit ist vor allem der Aspekt des Genres angesprochen beziehungsweise dessen gestalterische Reproduktion. Denn Genres entstehen in einem diskursiven Prozess der Anerkennungsmechanismen durch Produzenten und Rezipienten, wie bereits zuvor beschrieben wurde. Sie haben somit einen vor-prägenden Effekt auf die Rezeption und können trotz universaler Verbreitung lokale Varianten entwickeln, die bei der Rezeption grenzüberschreitender Medienangebote bedacht werden müssen. Schließlich muss neben den mesoanalytischen Kategorien auch die analytische Mikroebene bedacht werden. Wie bereits erwähnt, vollziehen sich die Interpretationsleistungen der Produzenten im Rahmen zweier gesellschaftlicher Funktionsrollen, deren Wechselwirkung oft komplexen Prozessen unterliegt, die nicht zwangsläufig zu synchronen Interpretationen führen müssen. Inwieweit aber beispielsweise Wertdefinitionen (Makroebene) auf diesem Wege nachhaltige Spuren in den Formatrealisierungen hinterlassen, bleibt fraglich. Interessant ist aber, ob und inwieweit sich die Formatierung in Impulse für eine Eigenkreativität umwandeln lässt. Joseph Straubhaar etwa macht sich im Zusammenhang mit den einschränkenden und zugleich ermöglichenden Strukturen der Produktionskontexte Annahmen von Giddens’ »Strukturationstheorie« zunutze, die eine Rekursivität gesellschaftlicher

192 Gillespie, Marie (2005): Introduction. In: Dies. (Hg.): Media Audiences. Maidenhead: Open University Press, S. 1. 193 Das Publikum erscheint dann, um erneut auf systemtheoretische Ansätze zu rekurrieren, als disperse Systemumwelt.

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Strukturen und kulturell handelnder Akteure ausformuliert. Auch wenn Strukturen Akteure in ihrem Handeln begrenzen, stellen sie zugleich Ressourcen dar, mit denen Akteure diese Strukturen wieder verändern können.194 Insofern bieten die Ressourcen, die eine Adaption erfolgreicher Produkte möglicherweise durch fehlende lokale Innovationsstrukturen notwendig machen, gleichzeitigt die Möglichkeit, dass Freiräume für Ideen und Nachahmungen entstehen. Die bisher diskutierten Einflussfaktoren lassen sich nun in folgendem Modell zusammenführen und erweitern und systematisieren erneut die Variablen, die Hall artikuliert hat: Abbildung 6: Einflussdimensionen auf den Reproduktionsprozess Einflüsse des (Re)Produzenten auf das Format

Einflüsse auf (Re)Produzenten

Makroebene

Kulturelles Referenzsystem Wirtschaftliche/ politische Rahmenbedingungen Historischer Kontext Marktanforderungen Strukturelle Dimension: Organisationsstruktur Beschäftigungs- und Karrieresystem Akteursnetzwerk

Mesoebene

Materielle Dimension: Finanzielle Kapazitäten Technische Ressourcen Professionalisierung

Definitionen von …

(Re)Produzenten

Symbolische Dimension: Senderprofil Genrekonvention Berufliche Rollenmodelle

Format

Rezipient

Vorstellungen von …

Funktionsrolle: berufliche Sozialisation Mikroebene

soziale Position und kulturelle Identität (Erfahrung, Wissen, Bildung, Einstellung etc.)

Quelle: Eigene Darstellung

2.1.3 Rezipienten als »kulturelle Agenten« grenzüberschreitender Medienkommunikation Ganz ähnlich muss nun auch die Konzeptualisierung des Rezipienten konkretisiert werden, vor dem Hintergrund des wichtigen Hinweises von Hall, dass die Lesart nicht zwangsläufig mit der sozialen Position korreliert.195 Dafür ist es hilfreich, auf den Korpus der kommunikationswissenschaftlichen Rezeptionstheorie zurückzugreifen. Dass der Rezipient überhaupt einen aktiven Anteil an der Herstellung von

194 Straubhaar, Joseph (2007): World Television. 195 Hall, Stuart et al. (2004): Reflektionen über das Kodieren/Dekodieren Modell, S. 102f.

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Bedeutungen eines Textangebots hat, ist dabei keine ganz neue Erkenntnis von Hall. Entsprechende theoretische Entwicklungen finden sich beispielsweise auch in benachbarten Disziplinen wie der Literatur- und Filmwissenschaft. Bereits in den 1970er Jahren stellte auch Eco fest, dass Bedeutungen nur in Interaktion zwischen Text und Leser hergestellt werden könnten.196 Ähnliche Gedanken formulierte auch der Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser in seinen rezeptionsästhetischen Auseinandersetzungen. Er geht davon aus, dass die Bedeutung eines Textes erst im Leseakt hergestellt werde, da jeder Text Leerstellen aufweise und daher grundsätzlich produzierbar sei – allerdings im Rahmen einer Appellstruktur der Texte, die wiederum darauf angelegt sei, dass die möglichen Interpretationen eingegrenzt würden, indem der Text bereits auf einen impliziten Leser hin ausgerichtet sei, das mögliche Textverständnis des Lesers also antizipiere. Die Aktualisierung des Sinnpotenzials eines Textes bleibt dabei aber dennoch eine individuelle oder allenfalls gruppenspezifische Handlung.197 Ebenso wurde auch in der Filmtheorie, wie beispielsweise von David Bordwell, darauf hingewiesen, dass nicht allein der Film Bedeutung vermittle, sondern der Zuschauer aktiv an der Deutung mitarbeite: »[D]er Zuschauer erkennt aufgrund bestimmter Bedingungen in ihm Bedeutung [Herv. i.O.].«198 In der Kommunikationswissenschaft schließlich haben vor allem Arbeiten im Bereich der Mediennutzungsansätze seit den 1970er Jahren zu einer zunehmenden Abkehr von medienzentrierten Modellen und einer Verschiebung hin zur rezipientenorientierten und differenzierten Konzeptualisierung des Text-Leser-Verhältnis-

196 Eco, Umberto (1998): Lector in Fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. 3. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag; vgl. auch Livingstone, Sonia (1996): Die Rezeption von Unterhaltungsangeboten: Zum Stand der Publikumsforschung. In: Hasebrink, Uwe; Krotz, Friedrich (Hg.): Die Zuschauer als Fernsehregisseure? Zum Verständnis individueller Nutzungs- und Rezeptionsmuster. Baden-Baden: Nomos, S. 163-177. 197 Iser, Wolfgang (1970): Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanz: Universitätsverlag. In der Fernsehrezeptionsforschung finden sich Verweise auf Isers Modell u.a. in Livingstone, Sonia (2005): Media Audiences, Interpreters and Users. In: Gillespie, Marie (Hg.): Media Audiences. Maidenhead: Open University Press, S. 9-50 oder in der Einführung des Sammelbands zur Rezeption und Produktion von Soap Operas in Allen, Robert C. (1995): To Be Continued … Soap Operas Around the World. London, New York: Routledge. 198 Bordwell, David (1986): Narration in the Fiction Film. London: Routledge, S. 29ff.; vgl. auch Hickethier, Knut (2007): Film- und Fernsehanalyse, S. 107.

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ses beigetragen.199 Karsten Renckstorf beispielsweise hat in den späten 1970er Jahren neue Perspektiven der Massenkommunikationsforschung verhandelt und dabei versucht, Annahmen des Symbolischen Interaktionismus (basierend auf George H. Mead) und der Gratifikationsforschung zu verknüpfen. Beide Traditionen gehen von einer grundsätzlichen Aktivität der Handelnden aus, was als zentrale Gemeinsamkeit in Abgrenzung zur Vorstellung passiver Rezipienten in der Medienwirkungsforschung hervorgebracht wird. Allerdings hat Krotz richtigerweise auf die Unterschiedlichkeit der Konzepte hingewiesen, da die Aktivität in der sozialwissenschaftlichen Tradition des Symbolischen Interaktionismus auf die Interpretationsleistung, bei der Nutzen- und Gratifikationsforschung aber auf den Selektionsvorgang bezogen ist.200 Immerhin aber kommt Renckstorf das Verdienst zu, bereits früh auf den alltäglichen Modus des Medienhandelns aufmerksam gemacht zu haben, der es in seinen Worten naheliegend erscheinen lasse, »Konzepte zur Erfassung, Beschreibung und Erklärung des alltäglichen Lebensvollzugs – des Alltagshandelns und -wissens – auch zur Analyse des Verhältnisses von Medien-Aussagen und Zuschauer-Handeln heranzuziehen.«201 Als ein weiterer Versuch einer alternativen Konzeptualisierung des Rezeptionsvorgangs muss auch der in den späten 1980er Jahren von Früh entwickelte dynamisch-transaktionale Ansatz der Medienwirkungen berücksichtigt werden, der auf die Integration und nicht auf die Reduktion komplexer Einflussvariablen auf den Rezeptionsprozess abzielt.202 Neben diesen Perspektivwechseln in der deutschen

199 Burkart, Roland (2002): Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder. 4. Aufl. Wien [u.a.]: Böhlau, S. 220ff.; vgl. auch Schenk, Michael (2007): Medienwirkungsforschung. 3. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 651ff. 200 Krotz, Friedrich (2001): Der Symbolische Interaktionismus und die Kommunikationsforschung. Zum hoffnungsvollen Stand einer schwierigen Beziehung. In: Rössler, Patrick; Hasebrink, Uwe; Jäckel, Michael (Hg.): Theoretische Perspektiven der Rezeptionsforschung. München: Fischer, S. 73f. 201 Renckstorf, Karsten (1992): Neue Perspektiven in der Massenkommunikationsforschung. Beiträge zur Begründung eines alternativen Forschungsansatzes. In: Burkart, Roland (Hg.): Wirkungen der Massenkommunikation. Theoretische Ansätze und empirische Ergebnisse. 3. Aufl. Wien: Braumüller, S. 59. 202 Früh, Werner; Schönbach, Klaus (1992): Der dynamisch-transaktionale Ansatz. Ein neues Paradigma der Medienwirkungen. In: Burkart, Roland (Hg.): Wirkungen der Massenkommunikation. Theoretische Ansätze und empirische Ergebnisse. 3. Aufl. Wien: Braumüller, S. 86-100; vgl. auch Früh, Werner (1991): Medienwirkungen: das dynamisch-transaktionale Modell. Theorie und empirische Forschung. Opladen: Westdeutscher Verlag; Ders. (2001): Der dynamisch-transaktionale Ansatz. Ein integratives Paradigma für Medienrezeption und Medienwirkungen. In: Rössler, Patrick; Hasebrink,

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Kommunikationswissenschaft müssen schließlich die vorausgegangenen Entwicklungen in der angloamerikanischen Kommunikationsforschung mitgedacht werden. Hier haben etwa Jay Blumler, Michael Gurevitch und Denise McQuail sowie Elihu Katz und Paul Lazarsfeld maßgebliche Theorie- und Methodenarbeit im Bereich der selektiven Mediennutzung beziehungsweise der Einstellungsforschung geleistet, wichtige Kontextfaktoren und Mechanismen der Rezeption weiterentwickelt und das Bild eines passiven homogenen Massenpublikums grundlegend verändert. Im Vordergrund all dieser Bemühungen aber stehen vor allem Prozesse der individuellen Rezeption. Eine dezidiert gesellschaftliche Kontextualisierung wird erst mit dem Aufkommen der Cultural Studies zum zentralen Diskussionsgegenstand. In diesem Umfeld wird die Auseinandersetzung mit sozialen und kulturellen Bedingungen von Rezeption und Aneignung maßgeblich vorangetrieben. So sind es gerade die Prozesse der gruppenspezifischen Herstellung von Bedeutung und ihr Wechselverhältnis zu gesellschaftlich wirksamen Diskursmustern, die hier interessieren. Es handelt sich dabei zugleich um jene Kontextbedingungen der Rezeption, die in der von Hall skizzierten Text-Leser-Beziehung nur rudimentär ausgeführt werden, die im Folgenden aber weiterentwickelt werden sollen. Dies gilt ebenso für die daraus resultierenden idealtypischen Lesarten, die Hall entwirft. Hinsichtlich der Lesarten, die Rezipienten entwickeln können, beschränkt sich Hall auf drei Idealtypen, wobei das Kontinuum möglicher Lesarten theoretisch weitaus mehr Nuancierungen zuließe. Der Rückgriff auf diese drei Idealtypen engt dann mitunter auch die Erkenntnispotenziale durch ihre präskriptive Kraft ein. Rezeptionsforscher haben diesbezüglich zu Recht angemahnt, dass gerade diese Idealtypen nur schwer in konkrete Forschung zu überführen seien und dementsprechend weiterer Theoretisierungsanstrengungen bedürften.203 Ein Problem liegt konkret darin, dass sich die Lesarten in Halls Konzeption immer zu einem hegemonialen Diskurs verhalten. Es ist jedoch schwer, die bevorzugten beziehungsweise dominanten Bedeutungen im Text mit Sicherheit nachzuweisen. Wren-Lewis argumentiert sogar, dass sich Lesarten gar nicht aus dem Text, sondern nur empirisch aus den tatsächlichen Interpretationen des Publikums ableiten lassen.204 Eine bevorzugte Lesart ließe sich demnach allein aus den aggregierten Lesarten der Rezipienten als Ei-

Uwe; Jäckel, Michael (Hg.): Theoretische Perspektiven der Rezeptionsforschung. München: Fischer, S. 11-34. 203 Livingstone, Sonia (1996): Die Rezeption von Unterhaltungsangeboten, S. 168; vgl. auch Michelle, Carolyn (2007): Modes of Reception: A Consolidated Analytical Framework. In: The Communication Review 10 (3), S. 181-222; Schrøder, Kim (2000): Making Sense of Audience Discourses. 204 Wren-Lewis, Justin (1983): The Encoding/Decoding Model: Criticism and Redevelopments.

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genschaft des Publikums begründen.205 Weiterhin bleibt auch fraglich, ob Interpretationsabweichungen, sofern sie bestimmbar sind, tatsächlich als subversiv gewertet werden können und wie sich dieses subversive Potenzial auch in der alltagsweltlichen Aneignung umsetzt. An dieser Stelle treten erneut Genre-Unterschiede zutage, die zuvor bereits angesprochen wurden. In Formen der politischen Berichterstattungen mögen sich beispielsweise unterschiedliche Positionen der Zustimmung, Ablehnung oder Bewertung einzelner Interpretationsangebote politischer Entscheidungen oder öffentlicher Ereignisse noch relativ deutlich nachzeichnen lassen. Bei unterhaltenden Formen hingegen wird dies schwieriger. Was meint eine bevorzugte Lesart, wenn sie sich auf Spielhandlungen bezieht, in der weder die Autorschaft noch eine stringente Erzählung oder eine explizite Botschaft ausgemacht werden können? Auch Serienformate mögen zwar eine Rahmennarration haben, aber Teilnarrationen mit ganz anderen Themensetzungen, Handlungen und Einstellungen von Charakteren können hier vielfach abweichen. Eine Dekodierung der Gesamtnarration muss demnach nicht mit der Dekodierung einzelner Bestandteile der Sendungen korrelieren. Der Aushandlungsprozess der Dekodierung ist also mehrfach geschichtet und bezieht sich sowohl auf die Einzelteile wie auch auf die Gesamtaussage des Textes. Rezeptionspositionen und -modi sind indes in unterschiedlichen Varianten diskutiert und weiterentwickelt worden. Folgt man David Morley und Carolyn Michelle, dann lässt sich die Forschung diesbezüglich nach drei groben Tendenzen unterscheiden.206 Erstens wird hier eine Tradition soziologischer Kategorisierung sichtbar, innerhalb der die Rezeption prioritär mit sozialen Variablen (sozioökonomische Lage, Geschlecht, ethnische und religiöse Zugehörigkeit, Alter, politische Orientierung) der Rezipienten verknüpft wird. Als prominente Studie in diesem Zusammenhang gilt Morleys Untersuchung der Rezeption des britischen Magazins NATIONWIDE.207 Daneben gibt es eine Reihe von Untersuchungen, die auf die Relevanz einer kulturellen Kategorie abzielen, also etwa die kulturelle Herkunft von Rezipienten als Einflussgröße diskutieren.208 Die klassische Studie von Tamar Liebes und Elihu Katz zur Rezeption der US-amerikanischen Soap DALLAS von israelischen, 205 Das allerdings würde die Text-Leser-Beziehung zugleich atheoretisch machen. 206 Morley, David (2006): Unanswered Questions in Audience Research. In: The Communication Review 9 (2), S. 101-121; Michelle, Carolyn (2007): Modes of Reception, S. 184. 207 Morley, David (1980): The Nationwide Audience. Structure and Decoding. London: British Film Institute; vgl. auch Ders.; Brunsdon, Charlotte (1999): The Nationwide Television Studies. London, New York: Routledge. 208 Eine klare Abgrenzung zwischen kulturellen Kontextvariablen und denen der sozialen Position oder der ethnischen Milieus der Rezipienten wird in der Kategorisierung allerdings nicht näher erläutert.

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US-amerikanischen und japanischen Rezipienten unterschiedlicher Ethnien gilt hier als ein herausragendes Beispiel.209 Auch Studien zur Mediennutzung von Migranten oder Diaspora-Gemeinschaften basieren letztlich auf einer vorausgegangenen Differenzierung von Rezipienten nach deren kultureller beziehungsweise ethnischer Herkunft. Zu einer dritten Forschungstradition lassen sich schließlich jene Studien zusammenführen, die die textuelle Dimension in den Vordergrund stellen, also dem Zusammenhang zwischen Medienframes und Rezipientenframes nachgehen beziehungsweise der Frage, wie sehr eigentlich das Textangebot selbst Einfluss auf die Coderealisation, die Lesart hat. Letzteres lässt sich wiederum an Isers Vorstellung des impliziten Lesers rückbinden, der eine Interpretation immer unter bestimmten Bedingungen vornimmt, die der Text selbst mitbringt. Mit diesen drei Kategorien sind zugleich Dimensionen möglicher konkreter Einflussfaktoren beschrieben – der soziale und kulturelle Kontext auf der einen Seite und das Textangebot auf der anderen Seite. Ungeklärt ist aber, ob und zu welchen Teilen diese potenziellen Einflusskategorien wirklich Einfluss auf die Interpretation haben. Zuerst soll daher das theoretische Verhältnis zwischen Rezipienten und Textangebot genauer reflektiert werden, indem erneut auf die Genre-Klassifikation eingegangen wird. In Rückgriff auf die Fernsehtheorie wurde bereits beschrieben, dass Genres eine Form der »kommunikativen Verabredung«210 zwischen Produzenten und Rezipienten sind. Es kann also davon ausgegangen werden, dass Genres auf der Grundlage von tradierten Konventionen inhärente Rezeptionsvorgaben machen und dadurch die polysemische Anlage von Medientexten einschränken.211 Das Erkennen der Genres setzt jedoch eine Kenntnis sowohl der inhaltlichen als auch der ästhetischen Konventionen voraus. Zentral ist folglich die Mediensozialisation der Rezipienten, in der die Rezeptionserfahrungen zur Herausbildung eines Erfahrungswissens von Genre-Konventionen führen. Diese Rezeptionserfahrungen wiederum können individuell stark voneinander abweichen, sie können von gruppenbezogenen Mustern geprägt sein und das gesamte Selektionsverhalten nachhaltig beeinflussen. Es ist also davon auszugehen, dass das Wissen um bestimmte Genre- und Darstellungskonventionen durch das konkrete Medienrepertoire auf rekursive Weise generiert wird. Das Medienrepertoire wiederum gründet in erster Linie auf den Ressourcen der lokalen Medienumgebung. Uwe Hasebrink und Jutta Popp haben in diesem Zusammenhang einen Ansatz der Mediennutzungsforschung eingefordert und angedacht, der nicht nur soziale, habituelle oder psychologische Motivationen und da209 Liebes, Tamar; Katz, Elihu (2005): The Export of Meaning. Cross-Cultural Readings of Dallas. 2. Aufl. Cambridge: Polity. 210 Casetti, Francesco (2001): Filmgenres, Verständigungsvorgänge und kommunikativer Vertrag; vgl. auch Hügel, Hans-Otto (1993): Ästhetische Zweideutigkeit der Unterhaltung. Eine Skizze ihrer Theorie. In: Montage AV 2 (1), S. 119-141. 211 Vgl. auch Livingstone, Sonia (1996): Die Rezeption von Unterhaltungsangeboten.

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raus abgeleitete Gratifikationen für die Mediennutzung berücksichtigt, wie es etwa in Ansätzen der »Uses & Gratifikation«-Forschung oder in Milieustudien zur Fernsehnutzung der Fall ist, sondern der auch die übergreifenden Muster der Medienselektion erfasst.212 Auch wenn in der folgenden Untersuchung dieser Arbeit nicht die Gründe der Zuwendung zu einem Fernsehangebot im Fokus stehen, sondern die Erfahrungs-, Deutungs- und Aneignungsmuster während und nach der Zuwendung, so lässt sich dennoch mit der Berücksichtigung individueller und kollektiver Medienrepertoires eine Schnittstelle zwischen theoretischen Ansätzen der Mediennutzung und denen der Medienaneignung beschreiben. Denn das Wissen um Genres und Konventionen kann potenziell Einfluss auf die Dekodierungsleistungen haben. Innerhalb der Fernsehforschung wurde diesbezüglich immer wieder herausgestellt und diskutiert, dass die Fernsehproduktion ganz besonders auf Prinzipien der Wiederholung, Kombination und des Rückgriffs auf vorhandene Schemata basiert.213 Genres und Konventionen sind also nur durch ihre ständige Reproduktion aufrechtzuerhalten oder durch innovative Eingriffe zu verändern – ein Prozess, an dem sowohl die Produzenten als auch die Rezipienten teilhaben, wenn sich Genres, wie Hickethier vorschlägt, als narrative Grundmuster definieren lassen, die wiederum durch historisch-pragmatische Zusammenhänge bestimmt sind, in denen sich Produzenten und Rezipienten befinden.214 Kurz: Mediales Erfahrungswissen basiert auf Mustern der Mediennutzung, die durch den individuellen und kollektiven Rückgriff auf zeitlich und zumeist auch räumlich gebundene Ressourcen an Medienangeboten mit entsprechenden Darstellungskonventionen entstehen. Damit ist nicht nur auf die Bedeutsamkeit der lokalen Medienumgebung verwiesen, sondern gleichzeitig auf die Kategorie der Medienkompetenz. Aus einem medienpädagogischen Verständnis heraus kann Medienkompetenz an institutionell vermitteltes Wissen über die Funktionsweisen der Medien und eine souveräne und selbstreflexive Kenntnis und Nutzung derselben gebunden werden.215 Im Sinne eines erweiterten 212 Hasebrink, Uwe; Popp, Jutta (2006): Media Repertoires as a Result of Selective Media Use. A Conceptual Approach to the Analysis of Patterns of Exposure. In: Communications 31 (3), S. 369-387. 213 Oren, Tasha (2012): Reiterational Texts and Global Imagination; Engell, Lorenz (2012): Fernsehtheorie zur Einführung. 214 Hickethier, Knut (2007): Film- und Fernsehanalyse, S. 199. 215 Der Begriff der Medienkompetenz oder »media literacy« wird in wissenschaftlichen Diskursen nicht einheitlich definiert. Livingstone argumentiert, dass dies mit einer mangelnden Übereinstimmung über die Ziele von Medienkompetenz zusammenhänge. Zentrale Aspekte sind dabei, ein kritisches Bewusstseins gegenüber dem Medienumfeld und die Befähigung zur souveränen Teilhabe an demselben zu entwickeln. In diesem Zusammenhang kann für die deutsche Tradition die auf Baacke zurückgreifende, knappe Definition von Trepte herangezogen werden: »Medienkompetenz (auch: media literacy)

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Verständnisses kann dazu jedoch auch das implizite Erfahrungswissen um Produktionskonventionen gezählt werden, das durch die wiederholende Nutzung herausgebildet wird.216 beinhaltet die Fähigkeit, Medien kritisch, selbstbestimmt und verantwortlich nutzen, verstehen, bewerten und gestalten zu können.« Trepte, Sabine (2008): Medienkompetenz. In: Krämer, Nicole (Hg.): Medienpsychologie. Schlüsselbegriffe und Konzepte. Stuttgart: Kohlhammer, S. 102. In etwas ausführlicherer, aber mit ähnlicher Zielrichtung definieren Theunert und Schorb Medienkompetenz ebenso in Anlehnung an Baacke: »Kommunikative Kompetenz bezieht sich auf die interaktiven Daseinsformen des Menschen in personalen und gesellschaftlichen Kontexten. Sie impliziert die umfassende Fähigkeit zur gleichberechtigten Teilhabe an gesellschaftlicher Kommunikation. Medienkompetenz bezieht sich auf die Verbindung der Lebensvollzüge mit medialen Welten und meint die Fähigkeit, die Medien, die gesellschaftliche Kommunikation unterstützen, steuern und tragen, erstens zu begreifen, zweitens verantwortlich mit ihnen umzugehen und drittens sie selbstbestimmt zu nutzen. Kommunikative Kompetenz repräsentiert mithin die übergreifende Zieldimension, die auch in medienpädagogischen Prozessen zur Geltung zu bringen ist. Medienkompetenz ist die spezifisch medienpädagogische Zieldimension und steht für das Fähigkeitsbündel, sich die Medien und die Formen medial basierter Kommunikation anzueignen und sich ihrer selbstbestimmt zu bedienen.« Theunert, Helga; Schorb, Bernd (2010): Sozialisation, Medienaneignung und Medienkompetenz in der mediatisierten Gesellschaft. In: Hartmann, Maren; Hepp, Andreas (Hg.): Die Mediatisierung der Alltagswelt. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 251f. Die deutsche Diskussion bleibt damit stark an der individuellen Dimension und Voraussetzung für Medienkompetenz orientiert. Livingstone et al. hingegen argumentieren für ein erweitertes soziokulturelles Verständnis von Medienkompetenz, das gleichzeitig normative gesellschaftliche Diskurse in Bezug auf Medien mitdenkt und stärker die kollektive Dimension der Bedeutungsherstellung und Aneignung von Medientexten einbezieht. Livingstone, Sonia et al. (2013): Situating Media Literacy in the Changing Media Environment. Critical Insights from European Research on Audiences. In: Carpentier, Nico; Schrøder, Kim; Hallett, Lawrie (Hg.): Audience Transformations. Shifting Audience Positions in Late Modernity. New York [u.a.]: Routledge. 216 Mikos trifft in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen theoretischem und praktischem Medienwissen, wobei er letzteres auf die Kenntnis von Medienangeboten, -konventionen und -genres und ersteres auf die kognitive Fähigkeit der Einordnung dieser Medienangebote bezieht. Allerdings können die gewählten Attribute verwirren, da sich praktisches Medienwissen hier allein aus der Praxis der Mediennutzung ableitet, aber keine handlungstheoretische Fundierung hat. Viel eher verbergen sich dahinter die Dimensionen implizites und explizites Medienwissens, da hier ein nicht explizierbares, aber vorhandenes Erfahrungswissen um Medienangebote und deren Charakteristika von einem expliziten und artikulierbaren medienkritischen Wissen abgegrenzt wird. Im

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Diese Überlegungen sind gerade für die vergleichende Analyse von Kommunikationskulturen und möglichen Interpretationsgemeinschaften relevant, da man mit Hall davon ausgehen muss, dass die Dekodierung eine wissensabhängige Praxis der Rezipienten darstellt, in der die Kennerschaft der lokal spezifischen televisuellen Konventionen einen Teil des notwendigen Wissensvorrats darstellt. Wie Katz und Liebes in ihrer Studie feststellen konnten, haben gerade die spezifischen Darstellungskonventionen dazu geführt, dass DALLAS in Japan wenig erfolgreich war. 217 Es muss also immer auch gefragt werden, in welcher Weise Hintergrundwissen über Genres und Konventionen in der Interpretation aktiviert wird, inwieweit es abhängig ist von kulturellen Referenzsystemen und in welcher Form es Einfluss auf die konkrete Dekodierleistung hat. Die notwendige Kennerschaft von Darstellungskonventionen führt schließlich zurück zur Frage nach dem Einfluss von Form und Funktion von Medientexten auf den Kommunikationskreislauf. In Halls Überlegungen tritt die Form des Textes fast vollkommen hinter den Inhalt beziehungsweise die Bedeutung zurück. Sie wird unter dem Stichwort der professionellen Codes verhandelt und damit auf ihre technisch-praktische Komponente reduziert, die durch ihre scheinbare Neutralität sogar dazu neige, hegemoniale Deutungen zu befördern.218 Dabei wird als zusätzliche Einschränkung wiederum nur auf die Nachricht eingegangen und nicht auf die reiche ästhetische Sprache des Fernsehfilms, der Fernsehserie oder der Fernsehshow. An dieser Stelle erweist sich die Kritik des Medienwissenschaftlers Hans-Otto Hügel an den Ansätzen der Cultural Studies als guter Ausgangspunkt für eine theoretische Justierung des Modells. Denn Hügel bemängelt gerade die Missachtung der ästhetischen Funktion von Unterhaltung als Malus derjenigen Ansätze, die allein die soziale Relevanz der Rezeption betonen. Er wendet sich damit, ähnlich wie auch Morley,219 gegen eine Überbewertung der Souveränität der Rezipienten bei der Bedeutungsproduktion der Texte, wie sie vor allem Fiske 220 oder zuvor Eco221 propagiert haben: Grunde entsprechen Mikos’ Kategorien aber den hier angeführten Überlegungen, die eine Anerkennung des impliziten Erfahrungswissens anstreben. Mikos, Lothar (2010): Vergnügen, Identität und Lernen. Informelles Lernen mit populären Fernsehformaten. In: Bachmair, Ben (Hg.): Medienbildung in neuen Kulturräumen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 213-225. 217 Liebes, Tamar; Katz, Elihu (2005): The Export of Meaning, S. 130f. 218 Hall, Stuart (2004): Kodieren/Dekodieren, S. 78. 219 Morley, David (2006): Unanswered Questions in Audience Research. 220 Fiske, John (1990): Reading the Popular. London, New York: Routledge. Wie im folgenden Kapitel noch ausführlicher dargestellt wird, geht Fiske in Rückgriff auf Hall von einer strukturellen Dualität kapitalistisch geprägter moderner Sozialsysteme aus, die aus einem sog. »power-bloc« und den »people« bestehe, also relativ homogenen kontrollie-

94 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ? »Der Rezipient produziert nicht beliebig aus seiner sozialen oder gar aus seiner psychischen Befindlichkeit heraus die Bedeutung des Textes, sondern realisiert etwas, das Text und Kontext strukturiert anbieten. ›Texte der Populären Kultur sind‹ nicht – jedenfalls nicht in erster Linie, wie Fiske meint – ›voller Lücken, Widersprüche und Unzulänglichkeiten‹ […]«.222

Stattdessen gibt Hügel zu bedenken, dass es auch andere Formen des »Sich-Einlassens« auf Texte gebe, die sich durch die spezifische ästhetische Beschaffenheit von Texten ergeben.223 Gerade Unterhaltungsangebote würden einen ambivalenten Reiz besitzen, indem sie ästhetisch zweideutig seien: Die sinnliche Formensprache mache sie einerseits ästhetisch, zweideutig seien sie, da sie »in der Schwebe von Ernst und Unernst« verharrten.224 Hügel greift hier ähnlich wie die fernsehtheoretischen Auseinandersetzungen um Genres auf die implizite kommunikative »Verabredung« zwischen Produzenten und Rezipienten zurück, in der sich seiner Argumentation zufolge beide Seiten auf die Aufrechterhaltung einer Illusion einigen. Beim Auftritt eines Zauberers etwa, so Hügel, sei allen Beteiligten bewusst, dass der Zauberer nicht wirklich oder ernsthaft zaubern könne, doch würde man jegliche Zauberei im Vorfeld dechiffrieren, so wäre es mit dem Zauber sofort vorbei. Dieses Beispiel lässt sich auf Angebote medialer Unterhaltung übertragen: Hinterfragt der Rezipient einer Fernsehserie den realen Gehalt einer Erzählung oder den konstruierten und imaginierten Charakter einer Figur, wäre ein kognitives und emotionales Medienerleben wohl kaum denkbar. Die Fiktion muss gewissermaßen erst anerkannt werden, damit sie bewertet und erlebt werden kann, andernfalls käme es zu Verwirrungen. Bei Spielshows mag dieser Vergleich auf den ersten Blick schwerer herzustellen sein, doch auch hier gilt, dass am Spiel letztlich nur teilhaben kann, renden und dominierenden sozialen Kräften, und einer Pluralität an heterogenen, kontrollierten und untergeordneten sozialen Massen. Populäre Kultur entstehe immer in Beziehung zu den dominierenden Strukturen, die die Ressourcen bereitstelle und zeichne sich durch den Widerstand aus, mit dem sie angeeignet werde: »Semiotic resistance results from the desire of the subordinate to exert control over the meanings of their lives, a control that is typically denied them in their material social condition.« Ebd., S. 10. Damit ist das Vergnügen an populären Texten in erster Linie als ein rein soziales und politisches definiert. 221 Eco, Umberto (1998): Lector in Fabula. 222 Hügel, Hans-Otto (2002): Zugangsweisen zur Populären Kultur. Zu ihrer ästhetischen Begründung und zu ihrer Erforschung. In: Göttlich, Udo; Albrecht, Clemens; Gebhardt, Winfried (Hg.): Populäre Kultur als repräsentative Kultur. Die Herausforderung der Cultural Studies. Köln: Halem, S. 60f. 223 Ebd.; vgl. auch Ders. (Hg.) (2003): Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen. Stuttgart: Metzler. 224 Hügel, Hans-Otto (1993): Ästhetische Zweideutigkeit der Unterhaltung, S. 128.

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wer die Spielregeln anerkennt. Erst im Rahmen dieser Anerkennung eines außeralltäglichen Spielevents kann dann das Spiel theoretisch auf den Rezipienten wirken.225 Sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption muss nach Hügel also immer zugleich eine ernste und eine unernste Haltung eingenommen werden: »In dem Moment, in dem der Zuschauer sich für eine der beiden Möglichkeiten entscheiden muß, kippt die Unterhaltung entweder in Zerstreuung, oder sie schlägt in Ernst um.«226 Das ästhetische Urteilsvermögen227, also das Erkennen von ästhetischen und televisuellen Konventionen, beschreibt somit ebenso eine zentrale Dimension im Rezeptionsprozess. Eng damit verbunden ist schließlich auch die Intensität der Rezeption und das Aufmerksamkeitspotenzial, das der Entschlüsselung der Medienangebote entgegengebracht wird.228 Unterhaltung zeichnet sich nach Hügel nicht nur durch ihre Zweideutigkeit aus, sie ist auch leichter als Kunst – und Unterhaltungssendungen letztlich leichter als Nachrichtensendungen im Fernsehen – zu rezipieren, da sie jedes Maß der konzentrierten Zuwendung erlaubt.229 Sie setzt keine Ernsthaftigkeit in der Zuwendung voraus und zwingt auch keine Verstehensleistung auf; es geht in erster Linie um eine Teilhabe an »medial vermittelten Ereignissen und Artefakten [Herv. i.O.]«,230 nicht um deren intellektuelle Aneignung. Dies schließt insofern an die unterhaltungstheoretischen Auseinandersetzungen an, als hier erneut deutlich wird, dass die Rezeptionsvoraussetzungen je nach informations- oder unterhaltungsorien225 In meiner Interpretation beziehen sich diese Überlegungen Hügels nicht auf die tatsächlichen alltagsweltlichen Konsequenzen der Rezeption, sondern eher auf die grundsätzlichen Bedingungen erfolgreicher Rezeption. 226 Hügel, Hans-Otto (1993): Ästhetische Zweideutigkeit der Unterhaltung, S. 128. 227 Ähnlich wie Hügel fordert auch Schrøder die Anerkennung einer ästhetischen Dimension der Rezeption, die er mit »Discrimination« umschreibt. Schrøder, Kim (2000): Making Sense of Audience Discourses. 228 Schrøder verweist in seiner Konzeptualisierung der Rezeptionsbedingungen auf eine Studie von Barker und Brooks zur Filmrezeption von Jugendlichen, die darin schlussfolgern, dass es einen großen Unterschied für die Aushandlung der Bedeutung und der Evaluation des eigenen Vergnügens darstelle, mit welchen Motivationen und welchem »Investment« die Zuschauer rezipierten. Barker, Martin; Brooks, Kate (1998): On Looking into Bourdieu’s Black Box. In: Dickinson, Roger; Harindranath, Ramaswami; Linné, Olga (Hg.): Approaches to Audiences. A Reader. London [u.a.]: Oxford University Press, S. 218-232; Schrøder, Kim (2000): Making Sense of Audience Discourses, S. 244. 229 Hügel, Hans-Otto (2002): Zugangsweisen zur Populären Kultur, S. 74; vgl. auch Ders. (1993): Ästhetische Zweideutigkeit der Unterhaltung, S. 130. 230 Hügel, Hans-Otto (2002): Zugangsweisen zur Populären Kultur, S. 66.

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tierten Gattungen relevante Unterschiede aufweisen und die Intensität der Rezeption bedingen können. Die Intensität der Zuwendung hängt letztlich auch mit der Motivation zusammen, einer Grundvoraussetzung zur Rezeption,231 so dass die Mediennutzungsdimension nicht gänzlich von der Dimension der Bedeutungszuweisung losgelöst betrachtet werden kann.232 Das Wissen der Zuschauer darum, dass es sich bei einem Programm um ein Castingformat handelt, kann somit theoretisch zur Folge haben, dass die Zuwendung mit geringer Aufmerksamkeit erfolgt, Rezeptionsanteile durch Nebenaktivitäten verloren gehen und eine Interpretation nur im Kontext der Konventionen von Castingformaten vorgenommen wird, einzelne Sequenzen aber ignoriert und einer Deutung gar nicht erst zugeführt werden. Wenn Hall sagt, dass eine Wirkung hingegen nur durch Sinngebung erfolgen kann, dann ist also zu differenzieren, dass auch die prä-rezeptiv vorhandene Evaluation und Sinngebung eines Genres durch die beiläufige Rezeption einer Sendung dieses Genres aktualisiert und auf die rezipierten Ausschnitte übertragen werden kann. Diese diskursiven Repertoires können darüber hinaus durch Effekte interpersonaler Kommunikationsprozesse beeinflusst sein, indem öffentliche Diskurse oder Meinungsführer der peer-group die Genre-Einordnung mitstrukturieren. Für eine Übertragung auf die grenzüberschreitenden Mechanismen von Fernsehformaten sind die genannten Dimensionen der Rezeptionsmotivation und -intensität allerdings weniger essenziell, da sie eher situative denn dispositive Einflüsse auf die Deutung des Sendungsinhalts darstellen. Das heißt, dass sich Motivation und Aufmerksamkeit der Rezeption im Untersuchungsaufbau stabilisieren lassen233, die sozio-kulturellen Kontextbedingungen und das Medienwissen der Rezipienten sind hingegen unveränderliche unabhängige Variablen des Interpretationsprozesses. Bezüglich der Einbeziehung einer ästhetischen Urteilsdimension und unterschiedlicher Rezeptionsmodi, die ein erster Ausgangspunkt der Überlegungen waren, sind 231 Schrøder, Kim (2000): Making Sense of Audience Discourses, S. 244f. 232 Grundsätzlich muss aber bei der Erklärung des grenzüberschreitenden Erfolgs eines Formats zwischen der Dimension der Bedürfnisbefriedigung und der Dimension der Bedeutungszuschreibung unterschieden werden, die trotz der hier benannten Schnittstelle getrennte Untersuchungsperspektiven bedienen. So lässt sich zwar erheben, welche Textangebote geeignet sind, universelle Massenmedienbedürfnisse zu befriedigen. Eine solche Untersuchung würde aber noch nicht erklären, warum bestimmte Bedürfnisse befriedigt werden, ob diese auch der entscheidende Grund für die Rezeption sind und in welchem Zusammenhang sie zur inhaltlichen Bedeutungen des jeweiligen Programms stehen. 233 Bspw. dadurch, dass Rezipienten freiwillig an einer Rezeptionsstudie oder – wie hier – einer Gruppendiskussion teilnehmen (Motivation), dass während der gemeinsamen Rezeption externe Einflüsse verringert werden und eine gezielte Auseinandersetzung quasi experimentell angeregt wird (Aufmerksamkeit).

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Hügels Hinweise jedoch insofern erschöpft, als dass weder die ästhetische Dimension von ihm konkretisiert wird, noch die Rezeptionsmodi in theoretischen Kategorien weiterverfolgt werden. Anknüpfen lassen sich an dieser Stelle aber weitere Befunde aus der kommunikationswissenschaftlichen Rezeptionsforschung, die versuchen, Modi der Rezeption zu klassifizieren.234 In der bereits erwähnten Studie des grenzüberschreitenden Bedeutungstransfers von Katz und Liebes zur US-amerikanischen Serie DALLAS greifen die Autoren auf die Kategorien einer referenziellen und einer kritischen Rezeptionshaltung zurück.235 Der Unterschied zwischen diesen Positionen besteht darin, dass in einer referenziellen Lesart die Inhalte des Fernsehangebots mit dem wirklichen Leben in Beziehung gesetzt werden, während mit einer kritischen Lesart eine distanzierte und analytische Zuwendung gemeint ist, die die Formensprache und den Produktionskontext des Angebots fokussiert und dadurch eine Distanz zum Dargestellten aufbaut oder aufrechterhält. In ganz ähnlicher Weise hat auch Ien Ang für die Rezeption von Fans fiktionaler Fernsehserien zwei Rezeptionsmodi in Hinblick auf das erzeugte Vergnügen bei der Rezeption bestimmt: Einen »affective mode of pleasure, which is based on taking melodrama seriously« und im Gegensatz dazu einen Rezeptionsmodus, den sie mit »ironic pleasure« beschreibt.236 Hierunter ist eine distanzierte Rezeptionsposition zu verstehen, in der eine intellektuelle Distanz zum Text aufgebaut wird. Interessant ist nun, dass diese Distanz nicht mit einer kritischen Lesehaltung und Vergnügungslosigkeit einhergehen muss. Ganz im Gegen234 Die medienpsychologische Rezeptionsforschung wird in diesem Zusammenhang nur am Rande reflektiert, da sie auf die individuellen informationsverarbeitenden Rezeptionsprozesse und das Erleben abzielt und weniger auf die tatsächlichen Inhalte, die von den Rezipienten interpretiert werden. So haben sich bspw. Suckfüll oder Vorderer ebenso mit Rezeptionsmodalitäten auseinandergesetzt, allerdings in Hinblick auf ihre Zusammenhänge mit der Rezeptionsmotivation, -selektion und -gratifikation. Da in der vorliegenden Arbeit aber die diskursiven Praktiken und nicht die Gratifikationen oder Wirkungen im Rezeptionsprozess das Forschungsinteresse darstellen, erscheint eine Integration dieser Ansätze an dieser Stelle nicht zielführend – gleichwohl wäre es interessant, Erkenntnisse medienpsychologischer und kulturtheoretischer Rezeptionsforschung an anderer Stelle in Beziehung zu setzen. Suckfüll, Monika (2004): Rezeptionsmodalitäten. Ein integratives Konstrukt für die Medienwirkungsforschung. München: Fischer; vgl. auch Krämer, Nicole (Hg.) (2008): Medienpsychologie. Schlüsselbegriffe und Konzepte. Stuttgart: Kohlhammer. 235 Liebes, Tamar; Katz, Elihu (2005): The Export of Meaning. 236 Ang, Ien (2007): Television Fictions Around the World: Melodrama and Irony in Global Perspective. In: Critical Studies in Television 2 (2), S. 22; vgl. auch Dies. (1989): Watching Dallas. Soap Opera and the Melodramatic Imagination. London, New York: Routledge, S. 96ff.

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teil, so Ang, finde in diesem Modus der Rezeption durchaus ein Vergnügen mit dem gleichzeitigen Bewusstsein der »supposedly ›low‹ quality« des Programms statt.237 Daraus wird ersichtlich, dass die inhaltliche Deutung theoretisch von einer allgemeinen Bewertung des Medienangebots losgelöst sein kann. Ähnlich hat auch Livingstone auf die entsprechende umgekehrte Problematik aufmerksam gemacht, wonach auch die Kritik an einem Text nicht mit einer Distanz zu demselben gleichzusetzen sei.238 Schlussfolgernd aus diesen Überlegungen ist es sinnvoll, die Interpretationsdimension von einer Evaluationsdimension der Textarbeit zu trennen. Hall nimmt diese analytische Trennung nicht explizit vor, sondern setzt indirekt die Evaluation mit der inhaltlichen Positionierung zum Textangebot gleich. Oppositionelles Lesen ist bei ihm als im politischen Sinne ablehnendes Lesen zu verstehen. Schrøder hat in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, zwischen einem »subjektiven« und »objektiven« Level der Positionierung zum Text zu unterscheiden. Damit soll der Unterschied zwischen der dominanten Bedeutung, die die Rezipienten selbst wahrnehmen und sich dementsprechend dazu positionieren, und der dominanten Bedeutung, die im Forschungsprozess identifiziert und der gegenüber die Leseposition der Rezipienten eingeordnet werden können, beschrieben werden.239 Auch wenn die Differenzierung zwischen subjektiver Positionierung und objektiver Evaluation hinsichtlich der eingeschriebenen normativen Priorisierung problematisch ist, so ist der Hinweis wichtig, dass zwischen den Lesarten der Rezipienten und denen der Forscher unterschieden werden muss. Die intersubjektive Nachvollziehbarkeit, die Schrøder unter Objektivität fasst, ist dann zwar durch die methodisch strukturierte und intensive Arbeit des Forschers zu erklären, die Interpretationsleistung unterschiedlicher Rezipienten aber muss analytisch gleichberechtigt bleiben, wenn eine strukturelle Polysemie der Textangebote aufrechterhalten werden soll. Die Trennung zwischen einer ästhetischen beziehungsweise evaluativen Distanz und einem inhaltlichen Äquivalenzverhältnis von kodierter und dekodierter Bedeutung, wie sie aus Angs induktiver Kategorienbildung240 abgeleitet werden kann, macht ersichtlich, dass es eine Dimension der affektiven Zuwendung zum Text gibt, die in Halls Modell keine Berücksichtigung findet, da jegliche Wirkmächtigkeit ausschließlich an die Sinngebung gekoppelt bleibt. Ähnlich wird auch bei Fiske Vergnügen immer als sozialer und politischer Akt verstanden. 241 Eine Art »interesseloses Wohlgefallen« an einer Ästhetik des Fernsehens, um es mit einer Kategorie 237 Ang, Ien (2007): Television Fictions Around the World, S. 22. 238 Livingstone, Sonia (1996): Die Rezeption von Unterhaltungsangeboten. 239 Schrøder, Kim (2000): Making Sense of Audience Discourses, S. 248. 240 Ang leitet die Rezeptionsmodi aus ihrer Analyse von Dallas-Fans ab. Auch in Katz und Liebes’ Studie werden die Kategorien aus dem empirischen Material abgeleitet. 241 Fiske, John (1990): Reading the Popular.

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Kants zugespitzt auszudrücken,242 ist in den Ansätzen der Cultural Studies nicht theoretisiert worden, in der kommunikationswissenschaftlichen Unterhaltungsforschung wiederum ist das Medienerleben nahezu ausschließliches Interesse. Damit bleiben die Zusammenhänge zwischen Verständnis-, Interpretations- und Erlebnisstrukturen vorerst theoretisch unbeantwortet. Neben Interpretation und Affektion werden bei Hall auch die Kategorien der Kognition und Interpretation nicht deutlich unterschieden. Dies lässt sich jedoch mithilfe der zeichentheoretischen Differenzierung von Denotation und Konnotation erklären. Hall wendet sich explizit gegen die strikte Trennung dieser beiden Zeicheneigenschaften, da sie gemäß seiner Argumentation nur analytisch aufrechtzuerhalten seien.243 Die Möglichkeit also, dass Zeichen im Diskurs allein ihre Hauptbedeutung trügen, hält er für unwahrscheinlich. Celeste Condit hingegen argumentiert, dass gerade die Hauptbedeutungen von Texten häufig konsensuell durch die Rezipienten hergestellt und eher die Evaluationen differieren würden. Am Beispiel studentischer Abtreibungsbefürworter und -gegner konnte sie zeigen, dass die grundlegende Handlung und Aussage einer Episode (denotative Ebene), in der Abtreibung thematisiert wurde, von beiden Studenten übereinstimmend dekodiert wurde. Dennoch differierten die Lesarten zu großen Teilen entlang der Einstellungen der beiden Studenten.244 Die Ebene der inhaltlichen Evaluation der Aussage und des Figurenhandelns und nicht die inhaltliche Dekodierung entschied demnach über die Asymmetrie der Rezipienten-Lesarten. Condit argumentiert daher, dass »Polyvalenz« das geeignetere Textcharakteristikum als »Polysemie« sei: »Polyvalence occurs when audience members share understandings of the denotations of a text but disagree about the valuation of those denotations to such a degree that they produce notably different interpretations. In this case, it is not a multiplicity or instability of textual meanings but rather a difference in audience evaluations of shared denotations that best accounts for […] discrepant interpretations.«245

Diese unterschiedlichen Verortungen der polysemischen Struktur von Texten – auf Ebene der Denotation oder Konnotation – lässt sich schließlich auch auf die Unge242 Kant, Immanuel (2004): Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe Bd. 10. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 115ff. 243 Hall, Stuart (2004): Kodieren/Dekodieren, S. 72f. 244 Condit, Celeste (1989): The Rhetorical Limits of Polysemy. In: Critical Studies in Mass Communication 6 (2), S. 105ff. 245 Ebd., S. 106f. Schrøder geht von einer ähnlichen Trennung der denotativen und konnotativen Ebene aus und kritisiert, dass der polyseme Charakter von Textbedeutungen bei Hall nur auf Ebene der konnotativen, nicht jedoch der denotativen Zeichen anerkannt werde. Schrøder, Kim (2000): Making Sense of Audience Discourses, S. 236.

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nauigkeit zurückführen, dass selten unterschieden wird, auf welche Bestandteile der Fernsehtexte sich die Interpretation seitens der Rezipienten eigentlich bezieht. Hall hatte bereits die Möglichkeit offen gelassen, dass unterschiedliche Teile des Textes auch unterschiedlich dekodiert werden. Folglich ist wahrscheinlich, dass die Interpretation einzelner Textbausteine von der allgemeinen Interpretation des Gesamttextes abweichen kann.246 Die Metabotschaft, die im Aufbau, dem Konzept, der rahmenden Narration oder dem allgemeinen Spielaufbau des Formats begründet liegen kann, muss also theoretisch nicht mit den identifizierten Botschaften einzelner Episodensequenzen identisch sein. Ähnlich kann auch die Interpretation und Evaluation der Charaktere eines Formats von der des Formatkonzepts abweichen. Neben der Repräsentationsebene (professionelle Codes) setzt sich somit auch die Inhaltsebene des Angebots (kulturelle Codes) aus unterschiedlichen Bestandteilen zusammen. Weiterführen lässt sich dieser Gedanke auch in Richtung der fernsehtheoretischen Auseinandersetzungen um die Frage, ob sich einzelne Fernsehangebote überhaupt isoliert untersuchen lassen. Denn es besteht kein Konsens darüber, wie sehr sich etwa das Zapping, also die bruchstückhafte Nutzung von Fernsehtexten, der spezifische Ablauf im Fernsehprogramm oder die Intertextualität 247 von Programmen theoretisch auf die Perzeption der Zuschauer auswirken. 248 Neben vorgelagerten bedeutungserweiternden intertextuellen Bezügen, die Figuren, Charaktere, Regisseure oder Sendungen an sich aufweisen können,249 lassen sich auch die Möglichkeiten der gezielten Erweiterungen von Formatnarrationen anführen, also weiterführende cross-mediale Angebote, die das eigentliche Format aufgreifen und Nebennarrationen entwickeln, die zwar nicht zwingend konstitutiv für die »Hauptnarration« sind, jedoch einzig auf diese referieren. Diese Überlegung trifft vor allem 246 Morley, David (2006): Unanswered Questions in Audience Research, S. 108. 247 Als Funktionen von Intertextualität können nach Mikos die Bedeutungserweiterung und die »Einbindung von Texten in den Wissenshorizont der Kultur« gezählt werden. Mikos, Lothar (2008): Film- und Fernsehanalyse, S. 274. Fiske unterscheidet weiterhin eine »horizontale« und eine »vertikale Intertextualität«. Während letztere Zusammenhänge zwischen dem Primärtext und weiteren Anschlusstexten (Medienkritik, gesellschaftliche Diskurse) meint, bezieht sich erstere auf die konkreten Verweise und Anleihen, die über Genres, Figuren oder den Inhalt hergestellt werden. Fiske, John (2007): Television Culture, S. 108ff. 248 Williams hat den sequentiellen Charakter des Fernsehprogramms wie auch die Fernseherfahrung als »flow« beschrieben. Williams, Raymond (2001): Programmstruktur als Sequenz oder flow. In: Adelmann, Ralf et al. (Hg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz: UVK, S. 33-43. 249 Bspw. können Moderatoren von Sendungen bereits mit Eigenschaften besetzt sein, Formate können inhaltliche und ästhetische Reminiszenzen an frühere Formate aufweisen. Vgl. auch Mikos, Lothar (2008): Film- und Fernsehanalyse.

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auf die zahlreichen wettbewerbsbasierten Spielshows zu, die häufig durch eine Anzahl weiterer Sendungsformate ergänzt werden, die Zusammenfassungen präsentieren oder zusätzliche Portraits einzelner Kandidaten anbieten, etwa in Magazinformaten zur Show. Im Fall von Quizsendungen könnte ähnliches für Online-Spielangebote angeführt werden, die die Spielwelt von der televisuellen Wirklichkeitsdimension in eine Alltagsdimension transferieren, so dass der Rezipient zwischen einer interaktiven und einer aktiven Rezeption wechseln kann. Aus diesen theoretischen Überlegungen zum Einfluss der Texte auf die Rezeption lässt sich vorerst schlussfolgern, dass a) zwischen unterschiedlichen Inhaltsebenen unterschieden werden muss, die im Rahmen der Rezeption interpretiert werden (etwa Metabotschaften der gesamten Sendung, einzelne Spielhandlungen, Sendungssequenzen oder Figuren/Charaktere), b) daneben auch die Repräsentationsebene der Sendungen (ästhetische, televisuelle beziehungsweise professionelle Konventionen) einen Einfluss auf die Rezeption/Interpretation haben kann, c) der Rezeptionsmodus auf einem Kontinuum zwischen Nähe (referenzieller Bezugnahme) und Distanz (ästhetisches Urteilsvermögen) variieren kann, d) der Rezeptionsmodus aber nicht zwangsläufig mit der inhaltlichen Interpretation und Evaluation korreliert, die wiederum als getrennte Bestandteile zu behandeln sind und e) das Erkennen von Darstellungskonventionen, Genre und intertextuellen Bezügen im Zuge der Mediensozialisation ausgebildet wird, auf kollektiven und individuellen Medienrepertoires basiert und schließlich Einfluss auf den angelegten Deutungsrahmen der Rezipienten haben kann. Um die hier skizzierte multidimensionale Matrix der Zuwendung und Interpretation zu Fernsehangeboten weiter zu elaborieren, müssen nun neben den Texteigenschaften auch die eingangs angesprochenen sozialen und kulturellen Dispositionen und deren Einfluss auf die diskursiven Repertoires, die den Rezipienten für ihre Deutungen zur Verfügung stehen, berücksichtigt werden. Das Verhältnis zwischen der kulturellen Alltagswelt der Zuschauer und den Medienangeboten ist gerade vor dem Hintergrund des transkulturellen Erfolgs von Fernsehformaten notwendig zu erhellen, da sich daran zwei theoretische Fragen anschließen. Zum einen sind die lokalen Referenzen im Fernsehtext zu benennen, die im Zuge der Adaption eine Anschlussfähigkeit für die Deutung im lokalen Kontext erhöhen. Denn wie Hall in seiner Theorie der Repräsentation ausgeführt hat, erlauben die gelernten konventionellen Codes die Teilhabe kultureller Subjekte an Repräsentationssystemen einer Kultur. Zum anderen ist zu fragen, wie sich die Entstehung kollektiver Interpretationsmuster theoretisch konzeptualisieren lässt. Es geht also um die Zusammenhänge zwischen kulturellen Referenzen und den Interpretationen der Rezipienten vor dem Hintergrund ihrer Verortung in kulturellen Referenzsystemen, also ihrem Erfahrungshintergrund und vor allem ihrer kulturellen Identität. Diese Dimension des Rezeptionsprozesses bedarf einer grundsätzlichen Definition des zugrunde gelegten Kulturverständnisses und des Konzepts der kulturellen Identität, die theoretisch zur

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Herausbildung bestimmter Interpretationsmuster führt. Das folgende Kapitel zum kulturtheoretischen Komplex der Arbeit wird daher die Fragen des Verhältnisses zwischen Rezipienten, Text und kulturellem Kontext aufgreifen, vertiefen und am Beispiel von Straubhaars’ Theorieangebot zur »kulturellen Nähe« respektive Distanz im Rezeptionsprozess spezifizieren (vgl. Kapitel 2.2.5). Da die kulturwissenschaftliche Grundlage jedoch eine umfangreichere theoretische Herleitung erfordert, sollen hier zunächst die bisher diskutierten Einflussfaktoren zusammengeführt und in dem folgenden Modell dargestellt werden: Abbildung 7: Einflussdimensionen auf den Rezeptionsprozess Situative Einflussfaktoren

Dispositive Einflussfaktoren

makrogesellschaftliche Dispositionen

kulturelles/gesellschaftliches Referenzsystem

Textuelle Einflussfaktoren

Rezeptionsmotivation/ Rezeptionsintensität spezifische Textbedingungen

Lokale, historische Kontextbedingungen

Inhalt

gesellschaftliche diskursive Repertoires/Wissensrahmen

Rezeptionsmodus Distanz/Nähe

sozio-demographische Lage Erfahrungsräume

sozio-kulturelle Dispositionen

gemeinschaftliche diskursive Repertoires/Wissensrahmen

kulturelles Kapital/ Lebensstilvariablen

Rezipient

Interpretation und Evaluation

individuelle Dispositionen

Ästhetik

Text / Sendung

Genre

intertextuelle Bezüge

Textsequenzen

Rezeptionsverständnis Kognition/Verständnis

individuelle diskursive Repertoires/Wissensrahmen

kulturelle Identität Kognitionsdimensionen individuelle Mediensozialisation mediales Erfahrungswissen

Narration

Rezeptionserleben Affektion/Emotion

Charaktere lokale Medienumgebung

Quelle: Eigene Darstellung

2.2 K ULTURWISSENSCHAFTLICHE T HEORIEANGEBOTE Die kulturtheoretische Perspektive der Arbeit basiert auf drei Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte. Erstens wird vor dem Hintergrund des Cultural Turn die zentrale Bedeutung einer kulturellen Dimension menschlicher Kommunikation und Interaktion anerkannt. Zweitens bauen die theoretischen Überlegungen auf einem Kulturverständnis auf, das gerade Symbole und Praktiken der alltäglichen Lebenswelt berücksichtigt. Insbesondere die Arbeiten aus dem Umfeld der Cultural Studies haben dazu beigetragen, das Gegensatzpaar von Hoch- und Populärkultur zu relativieren und damit Phänomenen der Unterhaltungskommunikation mehr Relevanz zu geben. Unterhaltung hat also eine gesellschaftliche Bedeutung, die abseits von normativen Diskussionen über deren ästhetische Qualität zu suchen ist. Drittens findet ein Kulturverständnis Berücksichtigung, das im Kontext globaler kultureller Zusammenhänge die analytische Vermengung des Kulturbegriffs mit territorialen

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politischen Entitäten dekonstruiert. Auch wenn anerkannt wird, dass Schnittflächen zwischen kulturellen und nationalen Räumen bestehen können, werden hier vor allem Ansätze berücksichtigt, die sich von der begrifflichen Engführung von Nation und Kultur und einem damit verbundenen »Container-Denken« gelöst haben und kulturelle Differenzen abseits nationaler Zuschreibungen konzeptualisieren. Reckwitz sieht gerade im Konzept kultureller Differenz den eigentlichen Brennpunkt sozialtheoretischer Debatten um den Kulturbegriff, die vor allem seit den 1970er Jahren intensiver geführt werden.250 Diese Diskussionen sind im Zusammenhang des Vergleichs von Fernsehformaten ebenso relevant, da in den folgenden Studien immer wieder die Frage interessiert, entlang welcher Dimensionen kulturelle Differenzen und Diskontinuitäten in der Produktion, Repräsentation und Aneignung von Formaten sichtbar werden. Theoreme der Transkulturalität und der Hybridisierung bieten geeignete Anknüpfungspunkte für die Diskussion von Unterhaltungsformaten, in denen die Komplexität der zum Teil gleichzeitigen assimilativen, kreativen und reproduktiven Dynamiken der grenzüberschreitenden Verbreitung von kulturellen Ressourcen und Praktiken auf den Punkt gebracht scheint. Der Kulturphilosoph Wolfgang Welsch merkt in einer Fußnote an, dass »[d]ie ›Realität‹ von Kultur […] immer auch eine Folge unserer Konzepte von Kultur [ist]. Daher sollte man Kulturbegriffe nicht leichtfertig, sondern verantwortungsvoll verwenden.«251 Im Folgenden wird Kultur zwar nicht sui generis hergeleitet, es sollen aber die angedeuteten theoretischen Perspektiven umrissen und deren Relevanz für das Erkenntnisinteresse der Arbeit herausgearbeitet werden. 2.2.1 Die zentrale Bedeutung von »Kultur« Hall hat in einem kurzen Aufsatz postuliert, dass wir eine doppelte »Kulturrevolution« im 21. Jahrhundert erleben.252 Damit meint er zum einen Transformationen gesellschaftlicher und individueller Alltagsrealität, die zunehmend von kulturellen Entwicklungen geformt werden. Die Medien und Informationssysteme und die gewachsene Bedeutung der Kulturindustrien macht Hall dafür verantwortlich, dass »Kultur zunehmend produziert, verbreitet, und ausgetauscht werden kann«,253 wodurch lokale Identitäten erodieren und Lebensstile geprägt werden. Zum anderen bezieht sich die Revolution auch auf eine epistemologische Transformation von Kultur. Hall meint damit den grundlegenden Paradigmenwechsel in den Sozial- und 250 Reckwitz, Andreas (2005): Kulturelle Differenzen aus praxeologischer Perspektive, S. 93ff. 251 Welsch, Wolfgang (2011): Immer nur der Mensch? Entwürfe zu einer anderen Anthropologie. Berlin: Akademie Verlag, S. 306. 252 Hall, Stuart (2002): Die Zentralität von Kultur. 253 Ebd., S. 95f.

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Geisteswissenschaften, den sogenannten »Cultural Turn«, der zu einer wiedererstarkten Berücksichtigung der Sinndimension in Erklärungen der sozialen Welt beigetragen hat.254 Seit den 1970er Jahren vollziehen sich multidimensionale Umorientierungen in den Gesellschaftswissenschaften, denen gemeinsam ist, dass sie »Kultur« zum Hauptgegenstand und nicht zum Epiphänomen oder zur abhängigen Variable machen. Das heißt, dass kollektive Sinnzuweisungen, Identitätsformationen, symbolische Ordnungen und Alltagspraktiken unterschiedlicher sozialer Gruppen und Milieus zunehmend Gegenstände des gesellschaftswissenschaftlichen Forschungsinteresses geworden sind. Damit einher geht auch eine Veränderung des Begriffsapparats, der nach Doris Bachmann-Medick Begriffe wie »Grenze«, »Diskontinuität« oder »Differenz« favorisiert und der auch in dieser Arbeit sichtbar wird.255 Weitere Veränderungen finden sich durch die Ablösung positivistischer Erklärungsmuster auch auf methodologischer Ebene. Eine interpretatorische Wende wurde insbesondere in der Kulturanthropologie eingeleitet, die ein bedeutungsorientiertes, sozialkonstruktivistisches und semiotisches Kulturverständnis verfolgte. Clifford Geertz gilt als herausragender Vertreter und Protagonist dieses interpretativen Paradigmas, das er selbst wie folgt zusammenfasst: »Der Kulturbegriff, den ich vertrete und dessen Nützlichkeit ich in den folgenden Aufsätzen zeigen möchte, ist wesentlich ein semiotischer. Ich meine mit Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Beziehungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als diese Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutung sucht. Mir geht es

254 Vgl. für die folgenden Ausführungen und einen Überblick über den Cultural Turn Bachmann-Medick, Doris (2010): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. 4. Aufl. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag oder Reckwitz, Andreas (1999): Praxis – Autopoiesis – Text. Drei Versionen des Cultural Turn in der Sozialtheorie. In: Ders.; Sievert, Holger (Hg.): Interpretation, Konstruktion, Kultur. Ein Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften. Opladen [u.a.]: Westdeutscher Verlag, S. 19-49. Die Diskussionen darum, ob es sich im Kern um einen umfassenden Turn im Singular handelt (wie es in den meisten Überblicksdarstellungen der Fall ist), um mehrere Turns im Plural (wie Bachmann-Medick argumentiert) oder aber weniger um Turns denn um die Herausbildung und Ausdifferenzierung von neuen »Studies« (wie Moebius argumentiert, Moebius, Stephan (Hg.) (2012): Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies. Bielefeld: Transcript), sollen an dieser Stelle ausgespart bleiben, da es sich dabei eher um wissenschaftstheoretische und genealogische Fragen der Bezeichnung umfassender Verschiebungen in den Gesellschaftswissenschaften handelt, die hier von eher nachrangigem Interesse sind. 255 Bachmann-Medick, Doris (2010): Cultural Turns, S. 19.

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um Erläuterungen, um das Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen, die zunächst rätselhaft erscheinen.«256

Damit wird die Interpretationsleistung des Forschers herausgestellt, der in seinen Analysen von Kulturphänomenen neue Instrumentarien benötigt, um dieses »Bedeutungsgewebe« zu entschlüsseln und zugänglich zu machen. Zentral ist die Annahme, dass Kultur, so Geertz, keine Instanz ist, »der gesellschaftliche Ereignisse, Verhaltensweisen, Institutionen oder Prozesse kausal zugeordnet werden könnten. Sie ist ein Kontext, ein Rahmen, in dem sie verständlich – nämlich dicht – beschreibbar«257 ist. Menschliche Verhaltensmuster werden hier also mithilfe entschlüsselter Sinnsysteme erklärbar. Reckwitz benennt nun drei Traditionen der jüngeren sinnorientierten Sozialtheorie, die sich danach unterscheiden, wo sie Differenzen von Sinnsystemen analytisch verorten.258 Erstens gebe es (ältere) mentalistische Konzepte, die Sinnkonstruktionen in mentalen und geistigen Dimensionen suchen.259 Zweitens zählt er neben Geertz auch die französischen Poststrukturalisten Michel Foucault und Jaques Derridas ebenso wie den Sprachphilosophen Roland Barthes zur textualistischen Tradition, in der Kultur als Text und Symbolsequenz konzeptualisiert und damit kulturelle Differenzen auf der Text- und Diskursebene verortet werden. Als zu deterministisch wurde die Metapher des Textes allerdings kritisiert, da sich handelnde Akteure in diesem Verständnis bloß zu den Texten »verhalten« würden, was wiederum den gleichzeitigen Annahmen komplexer kultureller Lebensrealitäten nicht gerecht werde.260 Gerade für die Analyse kultureller Differenzen in Zeiten zunehmender grenzüberschreitender Kommunikation und Interaktion empfiehlt sich daher nach Reckwitz schließlich die dritte Tradition, die eine (neuere) praxeologische Konzeption von Kultur auszeichnet. Kultur wird dabei nicht primär als Text verstanden, dessen Zeichensysteme zu untersuchen sind, sondern das kulturell kodierte Wissen spiegelt sich vielmehr in den wahrnehmbaren Alltagsroutinen und sozialen 256 Geertz, Clifford (1994): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. 3. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 9. 257 Ebd., S. 21. 258 Reckwitz, Andreas (2005): Kulturelle Differenzen aus praxeologischer Perspektive, S. 97f.; vgl. auch Ders. (2008): Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie. Bielefeld: Transcript; Ders. (2006): Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist: Velbrück. 259 Hierzu zählt Reckwitz die sozialphänomenologische Kulturtheorie von Alfred Schütz oder Edmund Husserl, ebenso Lévi-Strauss’ Strukturalismus. 260 Kumoll, Karsten (2006): Clifford Geertz (*1926). Von der ›dichten Beschreibung‹ zur Heterogenität kultureller Systeme. In: Hofmann, Martin Ludwig (Hg.): Culture Club II. Klassiker der Kulturtheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 280f.

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Praktiken gesellschaftlicher Akteure.261 Damit rückt der Prozess- und Handlungscharakter von Kultur in den Mittelpunkt des Interesses; Kultur wird demnach in erster Linie »praktiziert«:262 »Es [Kultur als Praxis] bezeichnet ein Programm, das den praktischen Einsatz statt die vorgefertigten kognitiven Bedeutungs- und Sinnstrukturen von Kultur analysiert. Es zielt auf die Pragmatik von Kultur; auf Praxiszusammenhänge, in die das Kulturelle unweigerlich verwickelt ist, in denen es zum Ausdruck kommt, seine Verfestigungen und seinen Wandel erfährt. Die praktischen Verhältnisse des sozialen Lebens lassen Kultur erst zu ihrer Wirkung gelangen. Damit treten Fragen nach der praktischen Hereinnahme, des konkreten Vollzugs und der Reproduktion von Kultur, aber auch Fragen nach ihrer ungleichen Verteilung und Handhabung in den Vordergrund [Herv. i.O.].«263

Reckwitz sieht die Grundlage dieses praxeologischen Verständnisses von Kultur in Bourdieus Theorie der Praxis, die davon ausgeht, dass Interpretationsmuster und kulturelle Codes inkorporiert sind. Kulturelle Differenzen sind dann in unterschiedlichen kollektiv verstehbaren sozialen Praktiken zu suchen.264 Reckwitz’ Systematisierung und Argumentation ist für die Konzeptualisierung der Analyse von grenzüberschreitenden Fernsehformaten insofern relevant, als dass das praxistheoretische Verständnis von Kultur ermöglicht, »kulturelle Differenzen nicht als Unterschiede zwischen Entitäten wahrzunehmen, sondern sie in der – teils routinisierten, teils konflikthaften – aktiven interpretativen Aneignung unterschiedlicher, einander ›überlagender‹ Sinn- und Aktivitätselemente, die ganz verschiedener räumlicher und zeitlicher Herkunft sein können, zu suchen.«265 Damit ist der Fokus auf Unterschiede ebenso wie Ähnlichkeiten von bestimmten Rezeptions- und Produktionsmustern gerichtet, die nicht als prinzipielle Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen homogenen (National-)Kulturen zu generalisieren sind.266 Schließlich nimmt 261 Reckwitz: »Eine Praktik stellt sich in diesem Sinne als ein körperlich verankerter Komplex von implizit sinnhaft organisierten, routinisierten Verhaltensweisen dar, der in der öffentlichen Performanz auch als intelligibel wahrgenommen werden kann«. Reckwitz, Andreas (2008): Unscharfe Grenzen, S. 44. 262 Vgl. auch Hörning, Karl; Reuter, Julia (Hg.) (2004): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld: Transcript. 263 Hörning, Karl; Reuter, Julia (2004): Doing Culture: Kultur als Praxis. In: Dies. (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld: Transcript, S. 10. 264 Reckwitz, Andreas (2005): Kulturelle Differenzen aus praxeologischer Perspektive, S. 98f. 265 Ebd., S. 100f. 266 Ebd., S. 108.

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dieses Verständnis auch stärker die »pragmatischen Gemeinsamkeiten« in den Blick. Denn gerade in der kulturellen Interaktion und Kommunikation komme es nicht so sehr auf ein hermeneutisches Verstehen anderer Menschen oder Kulturen an, wie Welsch es formuliert, »sondern auf Schnittmengen im Fundus der Selbstverständlichkeiten.«267 Tatsächlich ist auch für die hier interessierenden Formen des kulturellen Transfers durch Fernsehunterhaltung nicht so sehr entscheidend, ob und wie symbolische Ressourcen in ihrem Herkunftskontext tatsächlich verstanden werden, sondern vielmehr die Frage nach Ausmaß und Form der Anschlussfähigkeit der Reproduktionsund Rezeptionspraktiken. Das heißt, dass hier von Interesse ist, welche bestimmten Muster der Texte und welche Muster der Deutungen sich bei der Adaption von Unterhaltungskonzepten in unterschiedlichen kulturellen Referenzsystemen überlagern beziehungsweise synchron sind und weniger der Vergleich mit Bedeutungszuweisungen dieser Medienangebote im ursprünglichen Referenzsystem. Es ist daher eine Prämisse für den angestrebten Vergleich der Fernsehformatreproduktion und -rezeption, dass wissensabhängige soziale Praktiken in unterschiedlichen Produktionsund Akteurskontexten untersucht und danach befragt werden, welche Ähnlichkeiten und Unterschiede durch ihre Rekonstruktion wahrnehmbar werden und welche kulturellen Elemente und Muster sie referenzieren und reproduzieren. Folgt man grob den Ausführungen von Reckwitz, können die gesellschaftlichen Referenzsysteme theoretisch auch variierende Elemente aus wiederum unterschiedlichen Räumen und Zeiten beinhalten und sind nicht an feststehende, homogene Ideensysteme gekoppelt, wie im Folgenden noch an der Auseinandersetzung von Hybridisierungstheorien gezeigt wird.268 Eine Fokussierung auf eine Praxis-Dimension von Kultur verhindert dann, Differenzen bestimmter kultureller Artefakte (Medienangebote) oder Handlungen (Rezeptionsmuster) a priori auf Differenzen von kollektiv wirksamen Sinnsystemen zurückzuführen. Das heißt aber nicht, dass Prägkräfte historisch gewachsener Sinnstrukturen oder Wissensordnungen gänzlich negiert werden. Vielmehr versuchen praxeologische Ansätze den Blick darauf zu richten, dass kulturelle Muster sich erst in den sozialen Praktiken äußern und wirksam werden. Dies schließt erneut an Hall an, demzufolge Sinn- und Wissensorientierung zwar durch den Produktionsprozess den Medientexten eingeschrieben werden, aber letztlich erst durch ihre »Verwendung«, durch ihre Aneignung, weiter tradiert werden. Die Modellierung bei Hall lässt sowohl die Veränderung als auch die Tradierung von 267 Welsch, Wolfgang (2005): Auf dem Weg zu transkulturellen Gesellschaften. In: Allolio-Näcke, Lars; Kalscheuer, Britta; Manzeschke, Arne (Hg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt am Main, New York: Campus, S. 335. 268 Reckwitz, Andreas (2005): Kulturelle Differenzen aus praxeologischer Perspektive, S. 94.

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Deutungsmustern in der diskursiven Aushandlung der Rezipienten zu. Theoretisch können also auch lokale Traditionslinien kultureller Deutung aufrechterhalten werden, sie können sich aber ebenso in kurzer oder längerer Zeit wandeln. Gesellschaftliche Strukturen und Diskurse sowie kollektives Handeln sind also rekursiv gekoppelt: »Praxis ist als Scharnier zwischen dem Subjekt und den Strukturen angelegt und setzt sich damit von zweckorientierten und normorientierten Handlungstheorien gleichermaßen ab. […] In ihr sind Erfahrungen, Erkenntnisse und Wissen eingelagert, manchmal sogar regelrecht einverleibt. Doch die Erfahrungen, die Erkenntnisse und das Wissen werden in der Praxis immer wieder neu eingebracht, erlebt und mobilisiert.«269

Das rekursive Verhältnis lässt sich auch vereinfachend so beschreiben, dass durch bestimmte Produktionspraktiken Sinnmuster in konkreten Texten materialisiert und in den Aneignungspraktiken auf bestimmte, wissensabhängige Art und Weise wirksam werden. Dies erinnert dann zugleich auch wieder an Halls zirkuläres Kommunikationsmodell. Es kann insofern argumentiert werden, dass in der Verknüpfung von gesellschaftlicher Diskursmacht und individuellen sowie kollektiven Aneignungspraktiken die Zusammenführung eines Text- und Praxisverständnisses von Kultur zu erkennen ist. Die Loslösung von homogenen und stabilen Sinnsystemen in praxeologischen Ansätzen ermöglicht dann auch die Erklärung von innergesellschaftlichen kulturellen Disparitäten. So kann es beispielsweise sein, dass Praktiken von subkulturellen Gruppen, etwa Jugendlichen oder bestimmten Fankulturen, eine hohe gesellschaftsübergreifende Anschlussfähigkeit aufweisen, jedoch stärkere Differenzen mit anderen Gruppen innerhalb des eigenen gesellschaftlichen Kontexts existieren. Dieser Gedanke greift bereits Konzeptualisierungen kultureller Hybridität und Transkulturalität auf, die in den folgenden Kapiteln noch detaillierter vorgestellt und eingearbeitet werden. Festzuhalten bleibt im Anschluss an die gegenwärtigen kulturtheoretischen Diskurse also, dass der Gegenstand des Kulturvergleichs zwischen einer deutschen und arabischen Reproduktion und Rezeption von Fernsehunterhaltung nicht die »Nationalkultur Deutschland« und der »Kulturraum Arabische Welt« sein kann, sondern es sind die institutionellen und kollektiven Praktiken ausgewählter Akteure, die in diesen Kontexten lokalisiert sind. Aus diesen Überlegungen lässt sich nochmals zuspitzen, dass Kultur hier nicht auf Völker oder nationale Gesellschaften appliziert wird, sondern sich auf subkulturelle Formationen, also etwa Gemeinschaften oder Gruppen und deren Deutungsmuster und soziale Praktiken bezieht. Inwieweit sich in den Produktions- und Rezeptionspraktiken dann mögliche

269 Hörning, Karl H.; Reuter, Julia (2004): Doing Culture: Kultur als Praxis, S. 13.

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kulturelle Tiefenstrukturen abbilden, bleibt eine hermeneutische Herausforderung am konkreten Beispiel. Einen großen Anteil am Cultural Turn hat das Forschungsumfeld der Cultural Studies. Durch deren Arbeiten geriet insbesondere die alltags- und subkulturelle Dimension und damit die Vielfalt der Kultur innerhalb von Gesellschaften verstärkt in den Blick. Auch wenn Jürgen Kramer die Cultural Studies in einem Lexikonbeitrag noch als »Disziplin in statu nascendi« beschreibt,270 so ist vielleicht nicht deren Institutionalisierung, wohl aber deren internationale wie interdisziplinäre Präsenz doch deutlich zu erkennen und lässt ein solches Urteil eigentlich nicht mehr zu. Etabliert haben sich die Cultural Studies in Großbritannien mit der Gründung des Centre for Contemporary Cultural Studies an der University of Birmingham bereits in den 1960er Jahren.271 Dass die Cultural Studies als ein offenes, interdisziplinäres und politisch interventionistisches »Projekt« zu verstehen sind – wie es in den genannten Einführungstexten heißt – und weniger als eine institutionalisierte Schule oder eine Disziplin mit einem kohärenten Theoriegebäude, erklärt allerdings auch, dass das Kulturverständnis innerhalb der Cultural Studies nicht einheitlich ist. Es lässt sich aber argumentieren, dass die vorwiegende Zugangsweise zu Kultur im Umfeld der Cultural Studies im Sinne des oben genannten Überblicks vor allem an der Schnittstelle von text- und praxisorientierten Texten anzusiedeln ist. Besonders Raymond Williams’ Definition von Kultur als der Gesamtheit einer menschlichen Lebensweise272 ist zur vielzitierten Paraphrase geworden, die zunächst auf sämtliche Formen bedeutungsstiftenden Handelns abzielt. Bedeutungen und Werte finden sich nach Williams nicht nur in künstlerischen Ausdrucksformen widergespiegelt und sie werden auch nicht nur in institutioneller Erziehung herausgebildet, sondern das alltägliche Handeln aller gesellschaftlichen Subjekte ist Ausdruck von Kultur. Kulturleistungen sind damit nicht mehr allein Anliegen einer mi270 Kramer, Jürgen (2008): Cultural Studies. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 4. Aufl. Stuttgart: J.B. Metzler, S. 109. 271 Vgl. zur Geschichte der Cultural Studies u.a. Bromley, Roger (1999): Cultural Studies gestern und heute. In: Bromley, Roger; Kreuzner, Gabriele (Hg.): Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung. Lüneburg: zu Klampen, S. 9-24; Mikos, Lothar (2008): Cultural Studies im deutschsprachigen Raum. In: Hepp, Andreas; Winter, Rainer (Hg.): Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse. 4. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 177-192; Hepp, Andreas; Krotz, Friedrich; Thomas, Tanja (Hg.) (2009): Schlüsselwerke der Cultural Studies. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; Hepp, Andreas (2010): Cultural Studies und Medienanalyse. 272 Williams, Raymond (1977): Culture and Society, 1780-1950. Harmondsworth, New York: Penguin, S. xvif.

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noritären Elitenkultur, die über gesellschaftliche Deutungsmacht verfügt. 273 Wie Hall formuliert, wird der Kulturbegriff damit bei Williams »demokratisiert und sozialisiert« – so gilt beispielsweise die Kunst, als Idealbeispiel der Hochkultur, »nur noch als eine, wenn auch besondere, Form eines allgemeinen gesellschaftlichen Prozesses: der Sinnstiftung und der allmählichen Ausbildung eines ›gemeinsamen‹ Bedeutungsfundus, einer gemeinsamen Kultur.«274 Williams entwickelte diesen Kulturbegriff nochmals weiter und bringt ihn schließlich auf die Formel, dass Kultur ein Bedeutungssystem sei. 275 Hier trifft er sich auch mit Halls Verständnis. Für Hall ist Kultur »die Summe der verschiedenen Klassifikationssysteme und diskursiven Formationen, […] die Sprache verwendet, um den Dingen Bedeutung zu verleihen. Schon der Begriff ›Diskurs‹ verweist auf Äußerungen in einem beliebigen Sprachbereich, die gleichzeitig eine Sprache über ein Themengebiet ermöglichen und eine Form, Spezialwissen über das Thema zu produzieren. Der Begriff verweist sowohl auf die Produktion von Wissen durch Sprache und Repräsentation als auch auf die Art und Weise, wie dieses Wissen institutionalisiert wird und damit soziale Praktiken formt und ins Spiel bringt. Der Cultural Turn überträgt diese sprachbezogene Erkenntnis auf das allgemeine soziale Leben [Herv. i.O.].«276

273 Göttlich, Udo (2009): Raymond Williams: Materialität und Kultur. In: Hepp, Andreas; Krotz, Friedrich; Thomas, Tanja (Hg.): Schlüsselwerke der Cultural Studies. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 94-103. 274 Hall, Stuart (1999): Cultural Studies: Zwei Paradigmen. In: Bromley, Roger; Kreuzner, Gabriele (Hg.): Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung. Lüneburg: zu Klampen, S. 116. 275 In seiner Auseinandersetzung mit kulturalistischen und strukturalistischen Paradigmen innerhalb der Cultural Studies bringt Hall den Kulturbegriff Williams’, der der kulturalistischen Schule zuzurechnen ist, auf den Punkt: »Auf unterschiedliche Weise faßt es [das dominante Paradigma der Cultural Studies] Kultur als eng mit sämtlichen gesellschaftlichen Praktiken verknüpft auf, die wiederum als eine gemeinsame Form menschlichen Tätigseins begriffen werden: als sinnliche menschliche Praxis, jenes Tätigsein, durch das Männer und Frauen Geschichte machen. […] Dieser Ansatz nimmt eine doppelte Bedeutung von ›Kultur‹ vor: Zum einen als die Bedeutungen und Werte, die unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und Klassen auf der Grundlage gegebener historischer Bedingungen und Verhältnisse hervorbringen und mit deren Hilfe sie ihre Existenzbedingungen ›bewältigen‹ und auf sie reagieren; zum anderen als Gesamtheit der gelebten Traditionen und Praktiken, mittels derer diese ›Übereinkunft‹ ausgedrückt und verkörpert wird.« Ebd., S. 122f. 276 Hall, Stuart (2002): Die Zentralität von Kultur, S. 108.

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Durch die Abhängigkeit sämtlicher sozialer Prozesse von Bedeutung und deren Einbettung in diskursive Praktiken begründet sich letztlich auch die »Zentralität von Kultur« bei Hall. Bedeutung ist bei ihm die kulturelle beziehungsweise diskursive Existenzgrundlage für soziale Praktiken, ohne dabei abzusprechen, dass auch politische oder ökonomische Strukturen gleichzeitig beeinflussend auf Kultur wirken.277 Kollektive Praxisformen drücken sich nach Hall und seinen Kollegen durch Muster des Erfahrens und Interpretierens aus, die durch soziale und materielle Rahmenbedingungen geprägt sind und die ihrerseits wiederum Objektivierungen von »Bedeutungslandschaften« sind, wie das folgende Zitat zusammenfasst: »We understand the word ›culture‹ to refer to that level at which social groups develop distinct patterns of life, and give expressive form to their social and material life-experience. Culture is the way, the forms, in which groups ›handle‹ the raw material of their social and material existence. […]. A culture includes the ›maps of meaning‹ which make things intelligible to its members. These ›maps of meaning‹ are not simply carried around in the head: they are objectivated in the patterns of social organization and relationship through which the individual becomes a ›social individual‹. Culture is the way the social relations of a group are structured and shaped: but it is also the way those shapes are experienced, understood and interpreted [Herv. i.O.].«278

Um nun die unterschiedlichen kulturellen Muster, die sich sowohl in Strukturen, Handlungen und Texten wiederfinden und deren Bedingungen in der konkreten Kultur- beziehungsweise Medienanalyse operationalisieren zu können,279 bietet es sich an, auf Vorschläge zurückzugreifen, die Kultur in Kreislaufmodellen illustrieren. Dadurch wird es möglich, die Artikulationsmomente – die Hervorbringung, Darstellung und Aneignung von Kultur- und Medienproduktion – analytisch getrennt zu untersuchen. Alltagskulturelle Phänomene, wozu die Unterhaltungskommunikation hier gezählt wird, stellen sich dann an diesen drei Momenten jeweils unterschiedlich dar. Alltagskultur wird in diesem Sinne also nicht einfach transmittiert, wie Hepp zusammenfassend anmerkt,280 sondern sie artikuliert sich in unterschiedlichen Stadien und aus unterschiedlichen Akteursperspektiven dann je auf spezifische Art und Weise. Diese Kreislaufmodelle innerhalb der Cultural Studies 277 Ebd. 278 Clark, John et al. (2006): Subcultures, Cultures and Class. In: Hall, Stuart; Jefferson, Tony (Hg.): Resistance through Rituals. Youth Subcultures in Post-War Britain. 2. Aufl. London [u.a.]: Routledge, S. 4. 279 Hepp, Andreas (2013): Medienkultur. 280 Hepp, Andreas (2009): Richard Johnson: Kreislauf der Kultur. In: Ders.; Krotz, Friedrich; Thomas, Tanja (Hg.): Schlüsselwerke der Cultural Studies. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 252.

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sind als Weiterentwicklungen und Erweiterungen von Halls Encoding/Decoding Modell zu verstehen, das eingangs ausführlich besprochen wurde. Richard Johnsons Entwicklung des Kulturkreislaufs erweitert die Konzeptualisierung Halls beispielsweise auf alle kulturellen Erscheinungen. Zu seiner Matrix zählen dann die Produktion von Kultur ebenso wie die Produkte als bedeutungstragende Texte, wie deren Lesarten und die gelebten Kulturen.281 Gelebte Kulturen meint bei Johnson so viel wie die lokalen kulturellen Denk- und Handlungsweisen, die im Kontext von sozialen Strukturen praktiziert werden. Diese verschiedenen Artikulationsmomente im sogenannten »circuit of culture« sind dann auch aus unterschiedlichen Forschungsperspektiven und mit je angemessenen Methoden zu untersuchen, die jeweils alleinstehend für sich Berechtigung haben, jedoch die anderen Momente mitdenken sollten. Insofern kann das Modell eher als Illustration und Integration der unterschiedlichen Theorieperspektiven auf Kultur verstanden werden.282 Gleichzeitig werden auf diese Weise unterschiedliche Modelle konkreter Forschung zusammengefasst, nämlich produktionsbasierte, textbasierte und alltagskulturelle Studien.283 Wenngleich die Dimensionen miteinander verbunden gedacht werden, erklärt sich ihre relative Unabhängigkeit bei Johnson dadurch, dass die Untersuchung eines Moments der Kultur keine umfassenden Rückschlüsse auf die Ausprägung anderer Momente zulasse: »All cultural products, for example, re-quire to be produced, but the conditions of their production cannot be inferred by scrutinising them as ›texts‹. Similarly all cultural products are ›read‹ by persons […], but we cannot predict these uses from our own analysis, or, indeed, from the conditions of production.«284

Neben den grundlegenden Momenten kultureller Erscheinungen wird der Kreislauf zusätzlich durch analytische Formdimensionen gerahmt, die Kultur an den unterschiedlichen Momenten annehmen kann. Johnson unterscheidet hier öffentliche Formen von Kultur und jene, die auf Privatheit zielen, ebenso wie konkret und lokal erfahrbare oder abstrakte und universale, also durch wirksame Repräsentationsstrategien vermittelte. Wenn sich diese Formdimensionen wandeln, beispielsweise vom Privaten in das Öffentliche, dann muss nach Johnson untersucht werden, ob eman281 Johnson, Richard (1986-87): What is Cultural Studies Anyway? In: Social Text 16, S. 38-80; vgl. auch Hepp, Andreas (2009): Richard Johnson. 282 Vgl. auch Hepp, Andreas (2010): Medienkultur kritisch erforschen: Cultural Studies und Medienanalyse. In: Wohlrab-Sahr, Monika (Hg.): Kultursoziologie. Paradigmen – Methoden – Fragestellungen.

Wiesbaden:

VS Verlag für Sozialwissenschaften,

S. 227-249. 283 Johnson, Richard (1986-87): What is Cultural Studies Anyway?, S. 72. 284 Ebd., S. 46.

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zipierende oder dominierende Tendenzen im Repräsentationsprozess überwiegen, da die Transformationsprozesse selbst immer machtgeprägt seien.285 Diese kurze Skizze zeigt, dass es sich bei Johnsons Kreislauf vor allem um eine heuristische Zusammenführung unterschiedlicher gesellschaftlicher Zonen, in denen sich Kultur in wiederum unterschiedlichen Praxisformen äußert, handelt. Ähnliche Artikulationsebenen von Kultur haben im Anschluss an Johnson auch Paul du Gay und Hall definiert. Das Kreislaufmodell wird dabei um die Artikulationsmomente der Identität und Regulation erweitert und für die Momente des Textes und der Rezeption werden die Termini Repräsentation und Konsumtion gewählt.286 Während Identität und Regulation bei Johnson eher Kontextbedingungen sind, werden sie hier zu Artikulationsmomenten der Kultur. Eine konkrete Überführung dieser Zirkulationsmodelle auf kommunikations- und medienwissenschaftliche Gegenstände findet sich bei Hepp, der auf Grundlage dieser Kulturvorstellungen einen Kreislauf der Medienkultur weiterentwickelt und präzisiert hat.287 Bevor dieser aber en détail vorgestellt wird (vgl. Kapitel 2.3.5), ist zunächst festzuhalten, dass das Analysedesign der vorliegenden Arbeit aus diesen grundlegenden Konzeptualisierungen von Kultur abgeleitet wird. Entsprechend werden die unterschiedlichen Momente des Formattransfers mit den angemessenen methodischen Verfahren getrennt analysiert und dargestellt (vgl. Kapitel 3). Gleichzeitig wird am Ende versucht, die unterschiedlichen Momente im transkulturellen Vergleich in Beziehung zueinander zu setzen. Neben den Kreislaufmodellen liefert schließlich noch eine weitere Dimension des Kulturverständnisses der Cultural Studies einen Ausgangsimpuls für die theoretische Konzeptualisierung der Arbeit, die im Folgenden besprochen wird. Es handelt sich dabei um die theoretischen Ansätze zu populärer Kultur, die eine andere Perspektivierung massenmedial vermittelter Kommunikation erlaubt als es etwa der Terminus der »Massenkultur« tut. 2.2.2 Populäre Kultur, Unterhaltungskommunikation und »kulturelle Öffentlichkeit«: Die gesellschaftliche Relevanz von Unterhaltung Der Rückgriff auf Kulturkonzepte der Cultural Studies und Reflexionen eines jüngeren kulturtheoretischen Diskurses bedeutet, den Fokus auf die Bedeutungs- und Praxisdimension kultureller Phänomene zu richten. Fernsehunterhaltung wird somit 285 Ebd., S. 52f. 286 Du Gay, Paul (Hg.) (1997): Production of Culture, Cultures of Production. London [u.a.]: Sage. 287 Hepp, Andreas (2004): Netzwerke der Medien. Medienkulturen und Globalisierung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

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als kulturelle Praxis konzeptualisiert. Fernsehen stellt nach diesem Verständnis nicht nur konsumierbare Programme bereit, es stiftet ebenso Vergnügen und ist Träger von Bedeutung. Fiske hat die finanzielle und die kulturelle Ökonomie des Fernsehens als einen doppelten Kreislauf theoretisiert.288 Während in der ökonomischen Kulturproduktion das Publikum nur Konsument von Produkten sei und selbst zum Produkt für die Werbeindustrie werde, kehre sich seine Rolle in der kulturellen Ökonomie um: »But in the cultural economy the audience rejects its role as commodity and becomes a producer, a producer of meanings and pleasures […]«.289 Fiske hat bereits 1978 gemeinsam mit John Hartley eine umfassende Monographie der Fernsehforschung verfasst, in der Fernsehen explizit kulturtheoretisch fundiert wird.290 Fernsehen ist dem Verständnis der Autoren nach ein Medium, durch das Gesellschaften mit sich selbst im Gespräch bleiben können. Durch das Fernsehen werden Inhalte verbreitet und verhandelt und ein Publikum kann imaginiert werden. Vor allem aber beziehen sich die Autoren in diesem Gedanken auf Halls Kommunikationsmodell, in dem die vermittelten Botschaften des Fernsehens nie direkt durch die Produzenten geschaffen, sondern aus dem Areal der verfügbaren Bedeutungen, Themen, Agenden und Ereignisse ausgewählt werden. Damit wird Fernsehen zu einem Ort der kulturell abhängigen Bedeutungs(re)produktion: »What makes television an interesting object of study is that its programmes (together with all the sense-making that goes on around them, both informal and institutional) constitute a gigantic empirical archive of human sense-making, there for the taking, twenty-four/seven. Reading Television was devoted to the idea that the analysis of this treasure of instantaneous archaeology was open to the very people of whose culture it was an evidential trace [Herv. i.O.].«291

Auch Horace Newcomb und Paul Hirsch haben schon 1984 die kulturelle Rolle des Fernsehens hervorgehoben. In Anlehnung an den Anthropologen Victor Turner gehen sie davon aus, dass die Selbstbeobachtung zeitgenössischer Gesellschaften hauptsächlich durch das Medium Fernsehen geleistet wird. Es schafft demnach, ähnlich wie rituelle Prozesse in traditionalen Gesellschaften, einen Ort für kulturelle Reflexivität. Durch die gemeinschaftsstiftende Funktion wie auch eine Beobachterfunktion sei Fernsehen daher als »kulturelles Forum« zu theoretisieren, in dem ge-

288 Fiske, John (2007): Television Culture; Fiske, John (2013): Moments of Television: Neither the Text nor the Audience. In: Seiter, Ellen et al. (Hg.): Remote Control. Television, Audiences, and Cultural Power. London [u.a.]: Routledge, S. 56-78. 289 Ebd., S. 59. 290 Fiske, John; Hartley, John (1978): Reading Television. London: Methuen. 291 Fiske, John; Hartley, John (2003): Reading Television, S. xviii.

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sellschaftliche Bedeutungen zur Diskussion gestellt werden. 292 Lothar Mikos geht sogar so weit, das Fernsehen als das kulturelle und soziale Gedächtnis einer Gesellschaft zu bezeichnen.293 Ähnlich hat Andreas Dörner darauf hingewiesen, dass nicht nur Museen, Bibliotheken oder ähnliche öffentliche Erinnerungsinstitutionen ein kulturelles Gedächtnis der Gesellschaft verwalten, sondern dass auch Filme und Fernsehserien die Aufgabe der »Traditionsinszenierung« übernehmen. Im fiktiven Umgang mit den dargestellten Alltagsproblemen in Film und Fernsehen äußern sich nach Dörner Traditionslinien politischer Kultur, die auch in Unterhaltungsangeboten lebendig gehalten werden.294 Will man allerdings die Bedeutung des Fernsehens tatsächlich mit den Theoretisierungen eines kulturellen Gedächtnisses von Gesellschaften verknüpfen,295 dann ist zumindest anzuzweifeln, ob Fernsehen als ein geeigneter Speicherort gesellschaftlicher Erfahrung betrachtet werden kann, bedenkt man den alltäglichen, kurzweiligen »flow« der diversen inhaltlichen Angebote. Als zentrales gesellschaftliches Kommunikationsforum stellt Fernsehen wohl eher die Ressourcen für ein kommunikatives Gedächtnis der Gesellschaft bereit, indem es in seinen Programmen in erster Linie Themen der jeweiligen Gegenwartsgesellschaft fiktional wie nicht-fiktional verarbeitet oder sogar anstößt und damit zur Diskussion stellt. Es sind schließlich gerade die Unterhaltungsangebote des Fernsehens, die für jeden Rezipienten leicht zugänglich sind und damit vielen ermöglichen, an diesen Diskursen teilzuhaben. Auch wenn populäre Kultur, wie Fiske sagt, Massenware ist, die gewissermaßen die ökonomischen Interessen von Eliten einer Konsumgesellschaft befriedigt, so ist sie dennoch gleichzeitig »konflikthaft«.296 Damit meint er, dass die Texte der populären Kultur einerseits leicht verständlich sind, andererseits gerade dadurch aber ein spielerisches Potenzial eröffnen, indem sie entgegen der favorisierten Bedeutungen »gelesen« werden können, indem ihre Bedeutung

292 Newcomb, Horace; Hirsch, Paul (1984): Television as a Cultural Forum. 293 Mikos, Lothar (2002): Fernsehkultur: Vermittler zwischen Lebenswelten. In: Haller, Michael (Hg.): Die Kultur der Medien. Untersuchungen zum Rollen- und Funktionswandel des Kulturjournalismus in der Mediengesellschaft. Münster [u.a.]: Lit, S. 102. 294 Dörner, Andreas (2000): Politische Identität in Unterhaltungsöffentlichkeiten. Zur Transformation des Politischen in der medialen Erlebnisgesellschaft. In: Hettlage, Robert; Vogt, Ludgera (Hg.): Identitäten in der modernen Welt. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 171f. 295 Vgl. zur Theoretisierung des kulturellen Gedächtnisses u.a. Assmann, Jan (2007): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 6. Aufl. München: Beck; Assmann, Aleida (2007): Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München: Beck. 296 Fiske, John (1990): Reading the Popular, S. 1-3.

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verdreht werden kann und indem sie ein »evasives Vergnügen«, also übertriebene und karnevaleske Reaktionen ermöglichen, die enthemmen können.297 Die Offenheit der Bedeutung von Unterhaltung beziehungsweise populärer Kultur führt auch dazu, dass die gesellschaftliche Einordnung ihrer konkreten Produkte einem ständigen Wandel unterworfen ist. Das, was heute in Subkulturen populär ist, kann morgen bereits im Mainstream Geltung besitzen.298 Die ursprüngliche Hochkultur kann also zum Bestand von populärer Unterhaltung werden (wenn in Unterhaltungsformaten Opernarien gesungen werden) und auch die Populärkultur kann später unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen und als Reaktion auf eine Rezeptionsgeschichte zur Hochkultur werden (Andy Warhols Bilder von HollywoodSymbolen). Solche Transformationen machen dann die Wandlungsdynamik gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse besonders deutlich und zeigen, wie die Lebensweltkommunikation auch in Systeme rückwirken kann. Die Frage nach der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung von Unterhaltung liegt auch Arbeiten zugrunde, die dem bisher wenig beachteten Zusammenhang von Unterhaltung und Öffentlichkeit nachgegangen sind. Dabei geht es darum, die politische Dimension der Unterhaltung herauszuarbeiten. So diskutiert beispielsweise Udo Göttlich die Denkfigur der »Unterhaltungsöffentlichkeit«, um die Bedeutung der Unterhaltung für gesellschaftliche Kommunikation zu unterstreichen. Unterhaltung mache demnach in ihren Inhalten politisch relevante gesellschaftliche Entwicklungen und Deutungen sichtbar und stifte einen ernst zu nehmenden öffentlichen Diskursraum für die gesellschaftliche Aushandlung von Werten, Orientierungen und Willensbildung.299 Unterhaltung erfüllt in diesem Sinne klassische Funktionen von Öffentlichkeit, nämlich Inhalte und Meinungen zu thematisieren, zu verarbeiten und einer Anwendung (Herausbildung von Einstellungen) zuzuführen. 300 Jonathan Gray hat außerdem zu bedenken gegeben, dass es möglicherweise gerade die affektive Macht der Unterhaltung und weniger die rationale Deliberation sei, die 297 Fiske, John (1989): Understanding Popular Culture, insb. Kapitel 3 und 4. 298 Vgl. auch Albrecht, Clemens (2002): Wie Kultur repräsentativ wird: Die Politik der Cultural Studies. In: Göttlich, Udo; Ders.; Gebhardt, Winfried (Hg.): Populäre Kultur als repräsentative Kultur. Die Herausforderung der Cultural Studies. Köln: Halem, S. 16-32. 299 Göttlich, Udo (2009): Auf dem Weg zur Unterhaltungsöffentlichkeit? Aktuelle Herausforderungen des Öffentlichkeitswandels in der Medienkultur. In: Ders.; Porombka, Stephan (Hg.): Die Zweideutigkeit der Unterhaltung. Zugangsweisen zur populären Kultur. Köln: Halem, S. 206. 300 Gerhards, Jürgen; Neidhardt, Friedhelm (1990): Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. http://www.polsoz.fuberlin.de/soziologie/arbeitsbereiche/makrosoziologie/mitarbeiter/lehrstuhlinhaber/datei en/GerhardsNeidhardt-1990.pdf (21.11.2014).

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Menschen aktiv an gesellschaftsrelevanten und politischen Themen teilhaben lassen: »Certainly, to many critics […], the news has failed so miserably to welcome and empower its audience members, and hence is largely responsible for what many observers see as a crisis in citizenship, whereby more people vote in television reality shows such as American Idol or Big Brother than in national elections. […] Popular culture, in other words, succeeds here where official ›Politics‹ does not, discussing issues of dire importance to the students, making them care, and speaking in a language that they understand and to which they can relate. As […] already discussed, such are the affective powers of good television entertainment. But if popular culture and entertainment can do this, then perhaps they are at least well equipped as is the news to discuss politics, and to construct public spheres, if not sometimes moreso [Herv. i.O.].«301

Dass scheinbar unpolitische Unterhaltung Teil der politischen Kultur sein könne, meint auch Dörner. Der Autor argumentiert, dass Unterhaltung Bilder des Politischen und des Sozialen bereitstelle und damit zum Ort gesellschaftlicher Anerkennungs- und Integrationsprozesse würde.302 Die massenmediale Öffentlichkeit sei durch eine Dominanz des Entertainments »in weiten Teilen zur Unterhaltungsöffentlichkeit geworden.«303 Entlang einer normativen Definition demokratischer Öffentlichkeit arbeitet er dann positive Charakteristika einer Unterhaltungsöffentlichkeit heraus. So würde Unterhaltung in kulturell und sozial stark differenzierten und fragmentierten Gesellschaften einen gemeinsamen Verständigungshorizont liefern und damit die »Funktion eines Interdiskurses« einnehmen.304 Damit ist gemeint, dass Filme, Serien oder Shows Menschen unterschiedlichster sozialer Milieus und Bildungsvoraussetzungen erreichen. Am Beispiel von Politikern, die explizit Bezug auf Unterhaltungsangebote genommen haben, illustriert Dörner diese Funktion des Interdiskurses: politische Themen, die sonst zu stark an die Kenntnis von Spezialwissen gekoppelt seien, würden durch die Referenz für weite Teile des Fernsehpublikums anschlussfähig gemacht. Diese Annahme lässt sich leicht auf die Formate übertragen, die in dieser Arbeit untersucht werden. Denn aufgrund der großen Zuschauerreichweiten beider Formate kann durchaus davon ausgegangen werden, dass die Shows in hohem Maße milieu- und altersübergreifend rezipiert wurden. Für den arabischen Raum sind schließlich auch Beispiele bekannt, in denen die Semantiken

301 Gray, Jonathan (2008): Television Entertainment. New York [u.a.]: Routledge, S. 133. 302 Dörner, Andreas (2000): Politische Kultur und Medienunterhaltung. Zur Inszenierung politischer Identitäten in der amerikanischen Film- und Fernsehwelt. Konstanz: UVK. 303 Dörner, Andreas (2000): Politische Identität in Unterhaltungsöffentlichkeiten, S. 162. 304 Ebd., S. 167.

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des »Votings« aus Castingshows als lakonische Meinungsäußerungen Eingang in politische Auseinandersetzungen gefunden haben.305 Weiterhin argumentiert Dörner ähnlich wie Gray und Göttlich, dass durch Unterhaltung auch öffentliche Themen gesetzt und diskutiert würden, für die selten eine Spezialkenntnis erforderlich und damit eine leichte Anschlussfähigkeit gegeben sei. Unterhaltung erfüllt damit die Anforderung einer Laienorientierung beziehungsweise einer Laienkommunikation in der medialen Öffentlichkeit, wie sie etwa von Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt formuliert wurde. 306 Neben einer breiten Anschlussfähigkeit erlauben Unterhaltungsangebote schließlich auch direkte Formen öffentlicher Anschlusskommunikation, die von Leserbriefen bis hin zur Bildung aktiver sozialer Interessengruppen reichen können, wie Dörner richtig bemerkt.307 Insofern lässt sich im Anschluss an die Autoren argumentieren, dass Unterhaltung auch die Konsonanzbildung einer öffentlichen Meinung maßgeblich unterstützt. Beispielsweise, so Dörner, fänden sich gerade in populären Sendungen wie der LINDENSTRAßE oder dem TATORT Themen, die bestimmte gesellschaftliche Orientierungsrahmen nahelegen.308 An diesen Referenzen lässt sich zeigen, wie Unterhaltung soziale Realität kreieren kann. Denn die fiktionalen Unterhaltungsangebote, die Dörner als Beispiel dienen, verarbeiten theoretisch nicht nur einen bereits vorhandenen gesellschaftlichen »Zeitgeist«, sondern sie liefern mitunter auch maßgebliche Impulse für die Herausbildung eines solchen. Anhand gesellschaftlicher Tabuthemen lässt sich dies besonders gut illustrieren – so war es die fiktionale Bildwelt der Serie LINDENSTRAßE, in der sich ein homosexuelles Paar erstmals öffentlich vor einem großen Publikum geküsst hat, was im Nachgang der Ausstrahlung vielfach diskutiert wurde. Durch das Realitätsfernsehen, in denen Privatpersonen die eigentlichen handlungstreibenden Akteure sind, hat sich die Möglichkeit der Themensetzung sogar noch erweitert.309 Gruppen und Individuen können sich hier theoretisch zunehmend selbst repräsentieren und persönliche Themen einbringen. Über Personalisierungsstrategien können dann auch Prozesse der Meinungsorientierung innerhalb von Unterhaltungsangeboten angestoßen werden. Auch wenn der Zusammenhang zwischen politischer Partizipation und der Artikulation individueller Meinungen, persönlicher Geschichten oder der eigenen Kreativität in Fernsehshows bisher noch nicht syste305 Kraidy, Marwan (2010): Reality Television and Arab Politics. 306 Gerhards, Jürgen; Neidhardt, Friedhelm (1990): Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit, S. 17. 307 Dörner, Andreas (2000): Politische Identität in Unterhaltungsöffentlichkeiten, S. 168. 308 Ebd., S. 170f. 309 Vgl. auch Klaus, Elisabeth; Lünenborg, Margreth (2004): Cultural Citizenship. Ein kommunikationswissenschaftliches Konzept zur Bestimmung kultureller Teilhabe in der Mediengesellschaft. Medien und Kommunikationswissenschaft 52 (2), S. 206.

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matisch geklärt wurden, lassen sich zumindest Potenziale eines alternativen Zugangs zu Öffentlichkeitsstrukturen im Unterhaltungsformat finden. Auf jeden Fall ist anzunehmen, dass über die öffentliche Wahrnehmung einer Sendung wie MILLIONÄR auch sichtbar und verhandelbar wird, wie eine Gesellschaft mit Wissen umgeht, wie sich Gruppen und Individuen in Bezug auf ihr Wissen oder Unwissen verhalten und welcher »Zeitgeist« sich in den Wissensordnungen wie in den Wünschen spiegelt, die mit hohen Gewinnsummen erzielt werden sollen. Das Quiz kann damit weit mehr sein als die in ein öffentliches Spiel übertragene Prüfungssituation. Auch eine Castingshow wie GOT TALENT bietet eine Plattform für individuelle künstlerische Ausdrucksformen und liefert theoretisch den Stoff für inhaltliche Anschlusskommunikationen über Leistungsprinzipien, künstlerische Qualität, den Umgang mit Schicksalsschlägen oder öffentliche Aufmerksamkeit. Im Anschluss an diese angedeuteten Auseinandersetzungen um die politische Bedeutung von Unterhaltung soll für die Analyse von Fernsehformaten gelten, dass diese als Ressourcen populärer Kultur konzeptualisiert werden, deren gesellschaftliche Relevanz aus ihren Repräsentationen sowie ihren verschiedenen Rezeptionsund Aneignungsformen hervorgeht. Über die diskursive Aneignung der Themen und Repräsentationsmuster der Formate können Rezipienten einen gesellschaftlichen »Zeitgeist« erkennen, sie können sich zu ihm verhalten und so schließlich öffentliche Meinung bilden. Zudem kann die Rezeption auf die Produktion zurückwirken, den Mainstream der Populärkultur verändern oder ihn sogar stilbildend zur Hochkultur werden lassen. Erst eine solche sozialrelevante Fundierung von Unterhaltung macht eine grundlegende Diskussion ihrer möglichen kulturellen Prägkräfte möglich. Mit Hall, Fiske und Hartley wurde gezeigt, dass die Kommunikate keine autonomen Bilderund Erzählwelten hervorbringen, sondern dass diese immer mit Elementen gesellschaftlicher Realität resonieren. Selbst wenn Unterhaltung mediale Ereignisse kreiert, heißt das nicht, dass die Fernsehrealität unabhängig von der gesellschaftlichen Realität existiert. Mediale Spielformen und -inhalte haben lebensweltliche Entsprechungen und auch die Doppelrolle von Privatpersonen, die in Reality- und Spielformaten zu Rezipienten wie auch Produzenten werden, illustriert die Verwobenheit. Das Wechselverhältnis zwischen Fernseh- und Alltagsrealität lässt sich vor allem in den Codeoperationen innerhalb der Produktion sichtbar machen. Zu identifizieren sind daher die gesellschaftlichen Referenzen in den Unterhaltungsangeboten. Die Frage lautet dann, welche Elemente gesellschaftlicher Realität in den Formaten konstruiert, transportiert und adaptiert werden. Dafür muss aber auch geklärt werden, wie diese gesellschaftlichen und kulturellen Referenzen, auf die sich Unterhaltung bezieht, beschaffen sind und in welchen gesellschaftlichen Zusammenhängen sie auftreten. Eine theoretische wie empirische Herausforderung ist, dass Unterhaltungsprodukte kapitalistischer Kulturindustrien in unterschiedliche Referenzsysteme diffun-

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dieren und damit lokale Überlagerungen und Adaptionen der kulturellen und gesellschaftlichen Referenzen begünstigen. Die Vorstellung einer eindimensionalen Resonanz lokaler Fernseh- und Alltagsrealität ist am Beispiel populärer Unterhaltung kaum mehr ausreichend, denn, wie Thomas Hecken formuliert, »ihre nicht selten internationale und oft dem zeitlichen, modischen Wechsel unterworfene Wirklichkeit lässt die Idee einer Kultur, die beständigen regionalen, nationalen oder ethnischen Prägungen entspringt, schwerlich zu.«310 Von besonderem Interesse für grenzüberschreitende Unterhaltungsformate ist somit die Frage, ob Themen und Themenbehandlungen in den Formatkonzepten weltweit zu einer Konsonanzbildung in Produktion und öffentlicher Wahrnehmung führen und ob und wie diese in die jeweiligen kulturellen Referenzsysteme rückwirkt. Zur Annäherung an diese Fragen werden sich die folgenden Kapitel mit den kulturtheoretischen Konzepten der Transkulturalität und Hybridisierung auseinandersetzen, die Annahmen über stabile Kultursysteme dekonstruieren und dadurch ein Verständnis des Transfers von Unterhaltung ermöglichen, das über das Modell einer einfachen Transmission kultureller Produkte zwischen Nationalkulturen hinausgeht. 2.2.3 Transkulturalität als Kennzeichen heutiger Gesellschaften Der Begriff der »Transkulturation« wurde 1940 von Fernando Ortiz eingeführt, der ihn für die Beschreibung der gesellschaftlichen Transformationen Kubas im Zuge der Entwicklung der Zucker- und Tabakindustrie verwendet.311 Ortiz sucht nach ei310 Hecken, Thomas (2007): Einleitung. In: Ders. (Hg.): Theorien der Populärkultur. Dreißig Positionen von Schiller bis zu den Cultural Studies. Bielefeld: Transcript, S. 7. 311 Ortiz, Fernando (1995): Cuban Counterpoint, Tobacco and Sugar. Durham: Duke University Press. Ortiz schreibt dazu selbst: »With the reader’s permission, especially if he happens to be interested in ethnographic and sociological questions, I am going to take the liberty of employing for the first time the term transculturation, fully aware of the fact that it is a neologism. And I venture to suggest that it might be adopted in sociological terminology, to a great extent at least, as a substitute for the term acculturation, whose use is now spreading. Acculturation is used to describe the process of transition from one culture to another, and its manifold social repercussion. But transculturation is a more fitting term. I have chosen the word transculturation to express the highly varied phenomena that have come about in Cuba as a result of the extremely complex transmutations of culture that have taken place here, and without a knowledge of which it is impossible to understand the evolution of the Cuban folk, either in the economic or in the institutional, legal, ethical, religious, artistic, linguistic, psychological, sexual, or other aspects of its life [Herv. i.O.].« Ebd., S. 97f. Zur Geschichte des Begriffs vgl. auch Hildebrandt, Mathias (2005): Von der Transkulturalität zur Transdifferenz. In: Allolio-

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nem geeigneteren soziologischen Terminus für kulturelle Wandlungsprozesse, die er mit dem damals gängigen Begriff der Akkulturation nicht adäquat erfasst sah. Denn in seiner Argumentation sind kulturelle Angleichungsprozesse häufig ebenso mit Vorgängen der »Dekulturation« beziehungsweise Entwurzelung und der Entstehung völlig neuer kultureller Phänomene, einer »Neokulturalisierung«, verbunden: »I am of the opinion that the word transculturation better expresses the different phases of the process of transition from one culture to another because this does not consist merely in acquiring another culture, which is what the English word acculturation really implies, but the process also necessarily involves the loss or uprooting of a previous culture, which could be defined as a deculturation. In addition it carries the idea of the consequent creation of new cultural phenomena, which could be called neoculturation. In the end, as the school of Malinowski’s followers maintains, the result of every union of cultures is similar to that of the reproductive process between individuals: the offspring always has something of both parents but is always different from each of them [Herv. i.O.].«312

Nachdem der Begriff vor allem im spanischen und englischsprachigen Raum in literaturwissenschaftlichen Analysen eine Weiterentwicklung erfuhr, ist er erst im Kontext der Rezeption von Welschs Überlegungen zur Transkulturalität wieder aufgegriffen worden.313 Mit dem Begriff der Transkulturalität will Welsch der heutigen Verfasstheit von Kulturen gerecht werden.314 Er wendet sich mit dem Konzept vor allem gegen sogenannte »Kugelvorstellungen von Kultur«, die in der deutschen Theorietradition insbesondere auf Herder zurückgehen. Während in einem bürgerlich-normativen Kulturverständnis des 18. Jahrhunderts noch universale Differenzen zwischen kultivierter, moralischer Lebensweise und dem Nicht-Kultivierten, der Zivilisation getroffen wurden, führte Herder einen holistischen Kulturbegriff Näcke, Lars; Kalscheuer, Britta; Manzeschke, Arne (Hg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt am Main, New York: Campus, S. 342-352. 312 Ortiz, Fernando (1995): Cuban Counterpoint, S. 102f. 313 Hildebrandt, Mathias (2005): Von der Transkulturalität zur Transdifferenz. 314 Welsch, Wolfgang (2012): Was ist eigentlich Transkulturalität? In: Kimmich, Dorothee; Shahadat, Schamma (Hg.): Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität. Bielefeld: Transcript, S. 25-40; vgl. auch Ders. (2011): Immer nur der Mensch; Ders. (2010): Was ist eigentlich Transkulturalität? In: Darowska, Lucyna; Lüttenberg, Thomas; Machold, Claudia (Hg.): Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität. Bielefeld: Transcript, S. 39-66; Ders. (2005): Auf dem Weg zu transkulturellen Gesellschaften; Ders. (1999): Transculturality: The Puzzling Form of Cultures Today. In: Featherstone, Mike; Lash, Scott (Hg.): Spaces of Culture. City, Nation, World. London [u.a.]: Sage, S. 194-213.

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ein, der davon ausging, dass es unterschiedliche menschliche Lebensformen gebe, die sich in verschiedenen Völkern finden lassen. Kultur bezieht sich damit auf homogene Kollektive, die sich aus historischen Traditionen ableiten lassen und geographisch verortbar sind – sich also innerhalb von stabilen räumlichen, zeitlichen und gemeinschaftlichen Grenzen befinden. Welsch kritisiert an diesem holistischen Kulturverständnis die Vermischung von einer inhaltlichen und einer »extensionalen« Bedeutung von Kultur.315 Damit ist gemeint, dass bestimmte kulturelle Praktiken, Routinen oder Deutungsmuster bestimmten geographischen, nationalen oder ethnischen Gruppen beziehungsweise Gesellschaften zugeordnet werden und sich diese dadurch als scheinbar homogene soziale Gebilde darstellen. Diese Kritik von Welsch findet sich ähnlich auch bei Jan Nederveen Pieterse, in der dieser zwischen einem ortsgebundenen, innenorientierten und einem translokalen, nach außen hin orientierten Kulturverständnis unterscheidet. 316 Zwar greift der Autor nicht auf Herder und dessen genealogische Herleitung im Begriffsverständnis des späten Romantizismus des 19. Jahrhundert zurück, seine Darstellung eines ortsgebundenen beziehungsweise territorialen Kulturverständnisses deckt sich aber mit den Anmerkungen Welschs. Denn auch Pieterse bezieht eben dieses Kulturverständnis auf eine territoriale Einheit und geht von der Existenz eines einheitsbildenden »Kerns« der Kultur aus, der in lokalen Lernprozessen innerhalb von Gesellschaften weitergegeben werde. Die Gleichsetzung von Kultur schließt dabei nicht nur Nationalkultur, sondern auch kulturelle Großräume wie den »Westen« oder eine »arabische Kultur« mit ein. Kultur allein als soziales Erbe einer Gesellschaft anzusehen, ist jedoch problematisch, da Vorstellungen, Auffassungen, Werte, Normen und Sinnsysteme dann theoretisch auch von allen Mitgliedern einer Gesellschaft gleichermaßen geteilt werden müssten. Große Debatten um essenzialistische Kulturkonzepte sind in den 1990er Jahren durch Samuel P. Huntingtons Thesen vom »Kampf der Zivilisationen«, die die Unvereinbarkeit von in sich abgeschlossenen westlichen und islamischen Makrokultu315 Welsch, Wolfgang (2010): Was ist eigentlich Transkulturalität? 316 Nederveen Pieterse, Jan (1998): Der Melange-Effekt. Globalisierung im Plural. In: Beck, Ulrich (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 114ff.; vgl. auch Ders. (2009): Globalization and Culture. Global Mélange. 2. Aufl. Lanham: Rowman and Littlefield. Andreas Hepp nutzt diese Systematisierung von Nederveen Pieterse als Grundlage für sein Translokalitätskonzept, das er als zentrale Analysekategorie für heutige Medienkulturen entwickelt. Hepp, Andreas (2004): Netzwerke der Medien, S. 163ff.; vgl. auch Ders. (2008): Kulturtheorie in der Kommunikations- und Medienwissenschaft. In: Winter, Carsten; Ders.; Krotz, Friedrich (Hg.): Theorien der Kommunikations- und Medienwissenschaft. Grundlegende Diskussionen, Forschungsfelder und Theorieentwicklungen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 113-138.

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ren postulierten,317 wieder virulent geworden. Zugleich haben sie die gefährliche imaginative Kraft einer kollektiven Identifikation mit kulturellen Ideologien deutlich gemacht.318 Diese sind also keineswegs Phänomene vergangener Epochen. Auch in gegenwärtigen Debatten um Multi- oder Interkulturalität erkennt Welsch Nachwirkungen dieser Kulturvorstellung.319 In diesen Diskursen stehen zwar Fragen nach kultureller Vielfalt innerhalb von Gesellschaften oder dem Dialog zwischen Gesellschaften im Vordergrund, doch auch das Modell einer »friedliche[n] Koexistenz statt Kulturkampf«320, wie es Hafez formuliert, erhält ein essenzialistisches Verständnis von Partikularkulturen im Sinne abgrenzbarer Entitäten aufrecht.321 Selbst in normativ-pragmatischen Forderungen nach kultureller Diversität, die etwa in kulturprotektionistischen politischen Maßnahmen zum Tragen kommen, ist implizit die Vorstellung von kulturellen Einheiten enthalten, die homogen und nach außen hin abgrenzbar erscheinen. Um nun eine komplexe Durchmischung kultureller Symbole, Sinnhorizonte und Praktiken anzuerkennen und damit nicht weni317 Huntington, Samuel P. (1993): The Clash of Civilizations? In: Foreign Affairs 72 (3), S. 22-49; Ders. (1997): The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York: Simon and Schuster. 318 Hafez, Kai (1997): Einleitung: Der Islam und der Westen – Kampf der Zivilisationen? In: Ders. (Hg.): Der Islam und der Westen. Anstiftung zum Dialog. Frankfurt am Main: Fischer, S. 19; vgl. auch Meyer, Thomas (1997): Identitäts-Wahn. Die Politisierung des kulturellen Unterschieds. Berlin: Aufbau-Verlag. 319 Welsch, Wolfgang (2005): Auf dem Weg zu transkulturellen Gesellschaften, S. 319ff. 320 Hafez, Kai (2002a): Die politische Dimension der Auslandsberichterstattung. Bd. 1, S. 167. 321 In einer solchen Lesart kritisiert auch Mark Terkessidis die aktuellen Integrationsdebatten in Deutschland: »Im Gegensatz zu den Lippenbekenntnissen und der allgegenwärtigen Rhetorik der Postmoderne lassen sich die Ideen von Johann Gottfried Herder implizit aus allen Debatten heraus hören: Kulturen gelten in Deutschland immer noch als von voneinander unabhängige, kugelförmige Gebilde, wobei die äußerlich sichtbaren Merkmale von Personen (Aussehen, Kleidung, Gebräuche etc.) als Verkörperungen einer unsichtbaren substanziellen kulturellen Gemeinsamkeit – einer Identität – erscheinen.« Er bezieht sich etwa auf das Kopftuchverbot einer muslimischen Lehrerin in BadenWürttemberg durch Annette Schavan, die der jungen Frau das Lehren verweigerte und damit erneut statische Vorstellungen des »Eigenen« und »Fremden« reproduzierte: »Tatsächlich projiziert die Ministerin hier offenbar die eigene Intoleranz auf die ›Fremde‹: Sie begründet diese Intoleranz mit der Gefährdung der Toleranz durch das Kopftuch.« Terkessidis, Mark (2008): Globale Kultur in Deutschland: Der lange Abschied von der Fremdheit. In: Hepp, Andreas; Winter, Rainer (Hg.): Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse. 4. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 311, 319.

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ger als die Möglichkeit dynamischer kultureller Wandlungsprozesse, ist eine Dekonstruktion essenzialistischer und territorialer Kulturbegriffe nötig. Welsch fordert, dass man nicht nur davon sprechen solle, »dass heutige Gesellschaften unterschiedliche kulturelle Modelle in sich befassen (›cultural diversity‹)«, sondern man solle »das Augenmerk darauf richten, dass die Individuen heute durch mehrere kulturelle Muster geprägt sind, unterschiedliche kulturelle Elemente in sich tragen.«322 In diesen Formulierungen Welschs ist allerdings nicht immer klar, ob er allein die Konzeptualisierung von Kultur als homogene Nationalkultur kritisiert oder aber davon ausgeht, dass »ältere« Kulturen auch tatsächlich empirisch homogener waren. Denn obwohl er durchaus eine grundsätzlich bestehende Transkulturalität anerkennt, betont er, dass ihr Ausmaß von neuer Qualität sei, die sowohl Gesamtgesellschaften wie auch Individuen beeinflusse. Auf der gesellschaftlichen Makroebene führt er Prozesse der Migration, der Waren und Informationszirkulation an, die zu einer Auflösung der Eigen- und Fremd-Differenz geführt hätten, da »die kulturellen Gehalte anderer Länder tendenziell zu Binnengehalten geworden« seien.323 Die gesellschaftliche Transkulturalität bedingt dann auch die individuelle Transkulturalität, die sich nach Welsch nicht mehr nur an gesellschaftlich vorgegebenen monokulturellen Schemata orientieren muss, sondern »patchwork-Identitäten« ermöglicht.324 Identität basiert demnach auf multiplen Referenzen,325 die heute an unterschiedlichsten Orten der Welt in sogenannten ähnlichen »Identitätsnetzen« auftreten können, ohne die Existenz anderer Identitätsformen zu negieren: »›Transkulturalität‹ will, dem Doppelsinn des lateinischen trans- entsprechend, darauf hinweisen, dass die heutige Verfassung der Kulturen jenseits der alten (der vermeintlich kugelhaften) Verfassung liegt und dass dies eben insofern der Fall ist, als die kulturellen Determinanten heute quer durch die Kulturen hindurchgehen, so dass diese nicht mehr durch klare Abgrenzung, sondern durch Verflechtungen und Gemeinsamkeiten gekennzeichnet sind. Es geht mir um ein Kulturkonzept, das auf die Verhältnisse des 21. Jh. zugeschnitten ist. Das neue Leitbild sollte nicht das von Kugeln, sondern das von Geflechten sein [Herv. i.O.].«326

Allerdings erscheint die Annahme von grundsätzlichen Verflechtungen zu absolut, da sie die Möglichkeit gleichzeitiger aber unvernetzter kultureller Dynamiken unbeachtet lässt. Darüber hinaus bleibt im Unklaren, wie sich die Wechselwirkungen zwischen externer (gesellschaftlicher) und interner (individueller) Transkulturalität 322 Welsch, Wolfgang (2012): Was ist eigentlich Transkulturalität?, S. 31. 323 Welsch, Wolfgang (2010): Was ist eigentlich Transkulturalität?, S. 43. 324 Welsch, Wolfgang (2005): Auf dem Weg zu transkulturellen Gesellschaften, S. 333; vgl. auch Ders. (2010): Was ist eigentlich Transkulturalität? 325 Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 2.2.5. 326 Welsch, Wolfgang (2010): Was ist eigentlich Transkulturalität?, S. 42.

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gestalten, wie Transkulturalität und Hybridisierungsdynamiken konzeptuell abgegrenzt werden und wie generell die transkulturelle Verfassung im globalen Maßstab gedacht wird, etwa in Abhängigkeit zu unterschiedlichsten Wissens-, Entwicklungsund Interdependenzstrukturen. Auch wenn also theoretischen Fäden bei Welsch noch unverbunden bleiben, liefern sie wichtige Anregungen für die Analyse von kulturellen Entwicklungen im Kontext von Globalisierung. Erstens werden die neuen Möglichkeiten transkultureller Identitätsbildung nicht von Machtdisparitäten und ökonomischen Abhängigkeiten freigesprochen: »Es ist keineswegs so, dass die Individuen die Elemente ihres Identitätsfächers gleichsam frei wählen und zusammenstellen könnten. Sie unterliegen vielmehr mannigfachen Einschränkungen und äußerem Druck. Das ist teilweise im Globalisierungsdiskurs, vor allem jedoch im postkolonialen, postfeministischen und generell im Minoritätendiskurs […] untersucht und dargestellt worden.« 327

Damit wird eine Perspektive gewählt, die auch Ungleichzeitigkeiten und Ungleichverteilungen kultureller Anschlussfähigkeit einbezieht. Beispielsweise erfordert die grenzüberschreitende Kommunikation bestimmte Voraussetzungen (Technik, Sprache, Bildung usw.)328 und Warenmärkte entwickeln Eigengesetzlichkeiten, die dazu beitragen, welche Produkte und Praktiken anschlussfähig gemacht werden oder nicht. So ist die Durchdringung des deutschen Fernsehens mit US-amerikanischen Angeboten, um ein Beispiel zu nennen, vermutlich weitaus höher als andersherum. Neben der Anerkennung von Ungleichverteilungen ist das Konzept der Transkulturalität von Welsch zweitens ein umfassendes, das sich nicht nur auf populäre Kulturerzeugnisse beschränkt, sondern sämtliche Dimensionen gesellschaftlicher Systeme und Praktiken einbezieht.329 Drittens lässt Welsch schließlich die Zielrichtung transkultureller Veränderungen und damit die Form des kulturellen Wandels bewusst offen. Er grenzt zwar Transkulturalität von Globalisierung im Sinne der Vereinheitlichung ab, globale Standardisierungsprozesse können aber dennoch parallel oder quer zu Prozessen ablaufen, die neue Differenzen herausbilden:330 Dabei werden neue kulturelle Bestandteile nach Welsch »vielfach in regionale Kulturprofile eingebunden und können dabei eine beträchtliche Umwandlung erfahren, die manchmal sogar zur verwandelten Wiederbelebung lokaler Traditionen führt.«331 Hafez hat dies im Zusammenhang der Globalisierung von Medienkommunikation ganz ähnlich formuliert: »Manches, was wie eine Globalisierung von Kultur er327 Ebd., S. 53. 328 Hafez, Kai (2005): Mythos Globalisierung, S. 19ff. 329 Welsch, Wolfgang (2010): Was ist eigentlich Transkulturalität? 330 Welsch, Wolfgang (2005): Auf dem Weg zu transkulturellen Gesellschaften, S. 338ff. 331 Ebd., S. 340.

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scheint, ist in Wirklichkeit eher ein Prozess der Modernisierung von Traditionskulturen. Das scheinbar globale ›Andere‹ ist das moderne ›Selbst‹.«332 Die Differenz wäre dann auch im binnenorientierten diachronen Vergleich kultureller Artikulationen oder sozialer Praktiken zu suchen und nicht allein in synchronen Vergleichsdimensionen. Wie Welsch in einer weiteren Abhandlung konstatiert, hat sich also historisch gesehen die Differenzierungsachse verschoben: »Die Differenzen kommen nicht mehr durch das Nebeneinander klar abgegrenzter Kulturen zustande, sondern bilden sich im Durcheinander und Miteinander unterschiedlicher Lebensformen. Die Differenzierungsmechanik ist komplexer geworden. Sie folgt nicht mehr geographischen oder nationalen Vorgaben, sondern kulturellen Austauschprozessen. Sie ist gewissermaßen genuin kulturell geworden.«333

Hier stellt sich allerdings erneut die Frage, auf welche zeitlichen und räumlichen Dimensionen Welsch seine Beobachtungen bezieht. Gleichwohl wird in diesem Zitat nochmals deutlich, dass sich kulturelle Wandlungsprozesse in der Perspektive der Transkulturalität nicht in generalisierten Entwicklungen essenzialistisch gedachter Nationalkulturen vollziehen. Kultureller Austausch findet auf verschiedenen gesellschaftlichen Dimensionen statt und bringt daher auch unterschiedlichste kulturelle Identitätsformationen hervor, was aber nicht ausschließt, dass auch die nationale, geographische oder ethnische Identifikation eine relevante Dimension darstellen kann. Es geht um die Substanz, nicht um das Bewusstsein, deren Transkulturalität behauptet wird. Dies ist nicht loszulösen von den wissenschaftlichen Diskursen um Globalisierung, in denen die Frage nach der Bestimmung von kulturellen Gemeinsamkeiten und gemeinschafts- wie gesellschaftsstiftenden Prozessen eine herausgehobene Stellung einnimmt. So hat sich auch der Kulturanthropologe und Globalisierungstheoretiker Arjun Appadurai in seinen Arbeiten über den Einfluss von Globalisierung, Migration und Massenkommunikation auf das moderne Individuum gegen eine solche Gleichsetzung von kulturellen, geographischen und nationalen Unterschieden gerichtet.334 Er kritisiert, dass solche Vorstellungen von Kultur nur die verbindenden Ähnlichkeiten in den Blick nehmen und Unterschiede zwischen Gruppenmitgliedern ausblenden. 332 Hafez, Kai (2005): Mythos Globalisierung, S. 116. 333 Welsch, Wolfgang (1994): Transkulturalität – die veränderte Verfassung heutiger Kultren. In: Via Regia Blätter für internationale kulturelle Kommunikation 20. http://www. via-regia.org/bibliothek/pdf/heft20/welsch_transkulti.pdf (30.05.2014). 334 Appadurai, Arjun (1996): Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis [u.a.]: University of Minnesota Press; vgl. auch Rubio, Felipe (2010): Arjun Appadurai. In: Midell, Matthias; Engel, Ulf (Hg.): Theoretiker der Globalisierung. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, S. 41-53.

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Dabei lassen sich jedoch kulturelle Unterschiede auf unterschiedlichsten Ebenen konstruieren. Um also auch die heuristische Dimension der Differenz hervorzuheben, schlägt Appadurai daher vor, anstelle des Substantivs »Kultur« das Adjektiv »kulturell« zu bevorzugen: »Stressing the dimensionality of culture rather than its substantiality permits our thinking of culture less as a property of individuals and groups and more as a heuristic device that we can use to talk about difference.«335 Überlegungen zu einer prinzipiellen Multidimensionalität kultureller Identität werden auch von Hall geteilt und lassen sich an das praxeologische Kulturverständnis rückbinden, das konkrete wissensabhängige Praktiken fokussiert. Nach Ansicht Halls haben postmoderne gesellschaftliche Wandlungsprozesse unter dem Einfluss der Globalisierung kulturelle Referenzen verschoben, wobei er von einer nach wie vor bestehenden imaginativen Prägkraft nationaler Identitätsvorstellungen ausgeht.336 Mechanismen zur Konstruktion einer nationalen Identität wirken qua Repräsentationstechniken und durch Strukturen kultureller Macht, die bestimmte Mythen nationaler Einheitlichkeit (Stichwort: Erinnerungskultur, Erbe und Herkunft) präsent halten. Hall entwirft nun (ergebnisoffene) Szenarien, in denen nationale Identität durch den Einfluss von Migration und Massenkommunikation entweder erodiert und hybride Identitäten hervorbringt oder durch eine Rückbesinnung aufrechterhalten und gar verstärkt wird. Insgesamt diskutiert auch Hall die Konstruiertheit der scheinbaren Einheitlichkeit nationaler Kulturen mit einer ähnlich kritischen Zielrichtung wie Welsch, Pieterse und Appadurai. In diesem Zusammenhang muss als weiterer Referenzautor schließlich der Kulturwissenschaftler Néstor García Canclini angeführt werden, der sich wie die zuvor genannten Autoren gegen eindimensionale Erklärungen gesellschaftlicher Entwicklung wendet. Appadurai und García Canclini untersuchen beide die Komplexität kultureller Entwicklungen am Beispiel alltagskultureller Praktiken. Gerade diese Alltagskulturen sind nach García Canclini als »hybride Kulturen« zu begreifen, die verschiedene Muster aus unterschiedlichen Zeiten in sich aufnehmen und mischen. Drei Hauptprozesse zeichnen demnach heutige kulturelle Formationen aus: Erstens, eine »Dekollektivierung« kultureller Systeme, was bei García Canclini den Verlust bestehender Kanons meint: »The agony of collections is the clearest symptom of how the classifications that used to distinguish the cultured from the popular, and both from the massive, are disappearing. Cultures no longer are grouped in fixed and stable wholes, and therefore the possibility disappears of being cultured by knowing the repertory of ›the great works‹, or of being popular because one 335 Ebd., S. 13. 336 Hall, Stuart (1992): The Question of Cultural Identity. In: Ders. (Hg.): Understanding Modern Societies. An Introduction. Cambridge: Polity in association with The Open University, S. 274-325.

128 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ? manages the meaning of the objects and messages produced by a more or less closed community (an ethnic group, a neighborhood, a class).«337

Zweitens sei damit auch eine »Deterritorialisierung symbolischer Prozesse« verbunden, die eine Gleichsetzung kultureller, sozialer und territorialer Erscheinungen, wie oben mit Welsch beschrieben, auflöse. Drittens gebe es eine neue Form der Konstruktion kultureller Identitäten, die »unreine« Genre durch einen Wandel symbolischer Bedeutungsproduktion entstehen lassen, die alte Grenzen kultureller Distinktion überschreiten würde. 338 Auch wenn die Gleichsetzung kultureller Praxis und nationaler Identität hinreichend kritisiert wurde, ist dies nicht mit einer Negation der institutionellen Bedeutung der Nation auf der Identitätsebene gleichzusetzen. Für die Analyse von Fernsehformaten sind diese Überlegungen deshalb wichtig, weil einerseits die Produktvarianten zumeist innerhalb nationaler Mediensysteme reproduziert werden und sich mitunter auch als nationale Reproduktionen ausgeben. Das Publikum teilt dann zwar den Zugang zu einem weitestgehend national zur Verfügung gestellten Medienangebot, was jedoch andererseits nicht bedeutet, dass es im Sinne alter Kulturvorstellungen als homogene Einheit existiert. Die kulturelle Verfasstheit von Gesellschaften, die auch die kulturelle Verfasstheit eines Zielpublikums mit einschließt, muss also vor dem Hintergrund von transkulturellen Entwicklungen reflektiert werden. Wenn in dem hier angestrebten Vergleich der Rezeption und Aneignung von Formaten nach Ähnlichkeiten und Unterschieden gesucht wird, dann werden die hier vorgetragenen theoretischen Ansätze insofern berücksichtigt, als mögliche Differenzen und Ähnlichkeiten der Aneignungsmuster nicht a priori auf nationale Lokalisierungsprozesse zurückgeführt werden, da diesen keine alleinige kulturelle Integrationsfähigkeit zugeschrieben werden kann. Die ausgewählten Rezipienten teilen zwar jeweils bestimmte Erfahrungshorizonte einer nationalen sozialen Realität, sie werden aber nicht als Repräsentanten einer nationalen Kultur konzeptualisiert. Sie sind vielmehr Subjekte, die an verschiedenen Vergemeinschaftungsformen (z.B. peer-groups, Fankulturen, Familien) teilhaben, die sich eben nicht primär durch nationale Orientierungsrahmen konstituieren. Bindekräfte können theoretisch ebenso durch die Teilhabe an lokalen, regionalen oder globalen Erfahrungsräumen entwickelt werden.

337 García Canclini, Néstor (2005): Hybrid Cultures. Strategies for Entering and Leaving Modernity. Minneapolis: University of Minnesota Press, S. 224. 338 García Canclini, Néstor (2005): Hybrid Cultures; vgl. auch Hepp, Andreas (2009): Néstor García Canclini: Hybridisierung, Deterritorialisierung und ›Cultural Citizenship‹. In: Ders.; Krotz, Friedrich; Thomas, Tanja (Hg.): Schlüsselwerke der Cultural Studies. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 165-175.

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Zwischen dem gesamtgesellschaftlichen Referenzsystem und kulturellen Einflüssen auf der Ebene von Gemeinschaften muss also analytisch unterschieden werden. Wenn im Fortgang der Arbeit von »deutschen« und »ägyptischen« Gruppen gesprochen wird, dann ist dies ein sprachliches Hilfsmittel zur klaren Kennzeichnung einer Differenz, die sich aber nur auf die systemische Verortung der Akteure bezieht und eben nicht mit einem exklusiven kulturellen Zugehörigkeitsattribut verwechselt werden darf. Transkulturalität ist dann empirisch anhand der konkreten Interpretationsmuster zu bestimmen. Damit ist noch einmal betont, dass Transkulturalität begrifflich eine bestimmte Erscheinungsform von Mustern kultureller Produkte, Praktiken oder Identitäten fasst. Der Begriff der Hybridisierung kann hingegen helfen, den Prozesscharakter kultureller Mischverhältnisse weiter zu theoretisieren, die in der vorliegenden Arbeit am Beispiel von Fernsehformaten nachvollzogen werden. 2.2.4 Hybridisierungstheorien kultureller und medialer Globalisierung Neben Transkulturalität hat vor allem der Begriff der Hybridisierung zunehmend Eingang in die wissenschaftlichen Debatten über mediale und kulturelle Globalisierungsprozesse gefunden.339 Zu zentralen Referenzautoren zählen etwa Nederveen Pieterse, der Globalisierung als eine Form der Hybridbildung diskutiert, 340 Kraidy, der Hybridisierung als zentrale Logik der Globalisierung versteht, 341 und García Canclini, der auf einer meta-wissenschaftlichen Ebene in dem Begriff gar die Veränderung einer ganzen Disziplin gespiegelt sieht. Letzterer argumentiert, dass Hybridisierung das grundlegende Verständnis von Kultur und Identität innerhalb der Cultural Studies verändert habe.342 339 Im Folgenden wird v. a. auf diejenigen theoretischen Arbeiten eingegangen, die sich mit Zusammenhängen zwischen Hybridisierung und Globalisierung auseinandersetzen und Anknüpfungspunkte für mediale Prozesse zulassen. Hybridisierung bzw. Hybridität ist gleichwohl auch zu einer allgemeinen »Signatur der Zeit« avanciert, wie es Schneider formuliert. Schneider, Irmela (2000): Hybridisierung als Signatur der Zeit. In: Robertson-Trotha, Caroline von; Winter, Carsten (Hg.): Kulturwandel und Globalisierung. Baden-Baden: Nomos, S. 175-187. Zur interdisziplinären Rezeption vgl. auch Ha, Kien N. (2005): Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus. Bielefeld: Transcript. 340 Nederveen Pieterse, Jan (1994): Globalisation as Hybridisation. In: International Sociology 9 (2), S. 161-184; vgl. auch Ders. (1998): Der Melange-Effekt; Ders. (2009): Globalization and Culture. 341 Kraidy, Marwan (2005): Hybridity, or the Cultural Logic of Globalization. 342 García Canclini, Néstor (2005): Hybrid Cultures.

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Allerdings ist die Nützlichkeit dieses Terminus durchaus umstritten, da er unterschiedliche theoretische Perspektiven vereint, oft unscharf bleibt und bereits verschiedene Synonyme zu kulturellen Erscheinungen existieren, die aus Vermischungsprinzipien hervorgegangen sind. In der Geschichtswissenschaft und Anthropologie beispielsweise beschreibt der Begriff »Mestizaje« die Integration ethnischer Differenz durch Mischehen zwischen Ureinwohnern und den Nachkommen der spanischen und portugiesischen Kolonisatoren in Lateinamerika, »Métissage« wird ebenso im rassistischen Sinne als Bezeichnung für »Rassenmischung« im 19. Jahrhundert verwendet, »Synkretismus« beschreibt die Vermischung religiöser Weltbilder, »Fusion« meint die Mischung von Musikstilen und »Kreolisierung« ist der linguistische Terminus für die Durchkreuzung und Neuentstehung von Sprachen.343 Zu Recht fragt daher García Canclini: »Can practices as varied as interracial marriages, the combination of African ancestors, indigenous figures and Catholic saints in Brazilian Umbanda, and advertising collages of historical monuments with beverages and sports cars be organized under just one term?«344 Gleichzeitig bietet García Canclini eine Typologie an, die die eben genannten, disziplingeschichtlich älteren Ansätze kultureller Vermischungsdynamiken als Formen »traditioneller Hybridisierung« von derjenigen »Hybridisierung« abgrenzt, die insbesondere den kulturellen Kontakt »(post-)moderner« Akteure einschließt. Damit meint er vor allem die Kulturindustrie mit ihren Verbreitungstechnologien, die im Zuge der Globalisierung Möglichkeiten kultureller Vermischung in Produkten, in Kommunikation und Konsumstilen maßgeblich erweitert und intensiviert haben.345 Heuristischen Nutzen erhält der Begriff nach García Canclini dann, wenn er sich nicht bloß deskriptiv auf Charakteristika von Produkten oder Subjekten richtet, sondern auf die Prozesse der Hybridisierung und damit auf die Bedingungen und Formen einer Verschmelzung sozialer Strukturen und Praktiken: »I understand for hybridization sociocultural processes in which discrete structures or practices, previously existing in separate form, are combined to generate new structures, objects, and

343 Vgl. zur Etymologie des Begriffs auch zusammenfassende Darstellungen in Ha, Kien N. (2005): Hype um Hybridität; Kraidy, Marwan (2005): Hybridity, or the Cultural Logic of Globalization; García Canclini, Néstor (2005): Hybrid Cultures; Allolio-Näcke, Lars; Kalscheuer, Britta; Manzeschke, Arne (Hg.) (2005): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt am Main, New York: Campus; Nederveen Pieterse, Jan (2009): Globalization and Culture. 344 García Canclini, Néstor (2005): Hybrid Cultures, S. xxv. 345 Ebd., S. xxxivf.; vgl. auch die ähnliche Differenzierung zwischen »neuer« und »alter« Hybridität in Nederveen Pieterse, Jan (2009): Globalization and Culture, S. 89.

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practices. In turn, it bears noting that the so-called discrete structures were a result of prior hybridizations and therefore cannot be considered pure points of origin.«346

Der Nachgedanke in dieser Definition verweist auf die Tautologie des Hybridisierungs-Begriffs, der auch zum Gegenstand von Kritik an Hybridisierungstheorien geworden ist.347 Denn worin liegt die Qualität von Hybridisierungsprozessen, wenn sie wiederum auf vorangegangenen Hybridisierungsprozessen beruhen? Nederveen Pieterse argumentiert, dass die Theorie der Hybridbildung gerade durch ihre Anerkennung der hybriden Quellen einer jeden kulturellen Erscheinung »als eine Kritik des Essentialismus« bedeutsam sei, nach innen gerichtete Kulturverständnisse relativiere und durch die Notwendigkeit einer differenzierteren historischen Analyse des Kulturkontakts alternative Geschichtsschreibungen ermögliche. 348 Ein tabula rasa ähnlicher Zustand von Kultur ist also nicht vorgesehen, ebenso wenig eine Linearität oder gar Wiederholbarkeit kultureller Entwicklung. Der Begriff zeigt also die Dynamik kultureller Entwicklung an, ohne die Frage nach dem Ursprung von Mischungsteilen wirklich zu beantworten. Überlegungen zu hybriden kulturellen Entwicklungen konkretisieren sich beispielsweise in García Canclinis Darstellung einer »hybriden Geschichte« Lateinamerikas, die deutlich macht, wie verschiedene Formen von Alltagskultur zwischen traditionellen und modernen Bezügen mäandern und so unterschiedliche »Modernen« hervorbringen.349 Tatsächlich liegt also in der Tautologie auch die Chance, die Entstehung hybrider Kulturen nicht mit reduktionistischen Vorstellungen kultureller Mischformen zu verwechseln, die sich auf scheinbare authentische, autochthone, und abgeschlossene kulturelle Quellen rückbinden lassen. Das heißt aber nicht, dass Hybridisierung ohne kulturelle Differenz auskommt. Entscheidend sind vielmehr Richtung und Ausmaß von Hybridisierung, wie García Canclini bemerkt: »The emphasis on hybridization […] demonstrates the risk of de346 García Canclini, Néstor (2005): Hybrid Cultures, S. xxv. 347 Vgl. auch die Zusammenfassung kritischer Positionen in Nederveen Pieterse, Jan (2005): Hybridität, na und? In: Allolio-Näcke, Lars; Kalscheuer, Britta; Manzeschke, Arne (Hg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt am Main, New York: Campus, S. 396-430. 348 Nederveen Pieterse, Jan (1998): Der Melange-Effekt, S. 119. Ungeachtet seiner antiessenzialistischen Hinweise definiert Nederveen Pieterse Hybridisierung dann selbst jedoch wieder in essenzialistischen Kategorien, wenn er sagt: »Cultural hybridization refers to the mixing of Asian, African, American, European cultures: hybridization is the making of global culture as a global mélange.« Nederveen Pieterse, Jan (2009): Globalization and Culture, S. 77. 349 García Canclini, Néstor (2005): Hybrid Cultures, S. 44ff.; vgl. auch Hepp, Andreas (2009): Néstor García Canclini.

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limiting local, self-contained identities or those that attempt to assert themselves as radically opposed to national society or globalization.«350 Dieser Hinweis ist für die theoretische Grundlage dieser Arbeit von besonderer Bedeutung, da letztlich auch eine Gegenüberstellung lokaler und globaler kultureller Ressourcen und Praktiken im Kern essenzialistische Kategorien schafft. Zumindest eine präskriptive Zuweisung globaler und lokaler Charakteristika, wie sie in einigen Formatstudien zu finden ist, führt dann zu einer Verengung des erkenntnistheoretischen Potenzials – denn gemäß der hier vorgestellten Hybridisierungstheorien kann es nicht um eine Unterscheidung zwischen lokalen und globalen Elementen von Kultur gehen. Damit ist nicht nur die Anerkennung einer Verschränkung globaler und lokaler Kultur gemeint, wie sie Robertson in seinem Theorem der »Glokalisierung« andeutet, sondern eine grundsätzliche Differenzierung dieser Kategorien, woraus sich letztlich die empirische Herausforderung dieser Arbeit ergibt. Diese Überlegungen decken sich schließlich auch mit der Kritik von Kraidy, der beobachtet, dass das »Lokale« gerade im Rahmen von Studien der Kommunikationswissenschaft häufig mit kultureller Authentizität konnotiert werde.351 Ein weiteres Potenzial des prozessualen Verständnisses von Hybridisierung, das für die theoretischen Vorüberlegungen dieser Arbeit relevant ist, ist die kritische Reflexion der Entstehungsbedingungen von Hybridisierungsprozessen. Eine kritische Perspektive liegt in der Tradition der postkolonialen Schule begründet, in der asymmetrische Machtverhältnisse in hierarchischen (post-)kolonialen Ordnungssystemen zur Ausgangsbasis von Theorien hybrider Identitätsbildung gemacht wurden. Insbesondere Homi K. Bhabha hat sich damit auseinander gesetzt, wie dominante koloniale Diskurse auf subversive Art und Weise in Identitätspolitiken der Kolonialisierten hybridisieren.352 Dabei bleiben aber auch die Kolonisatoren nicht unberührt von kulturellen Übersetzungsleistungen. In Bhabas Theorie des »Dritten Raums« findet diese Wechselseitigkeit der kulturellen Hybridisierung dann ihre Ausformulierung. Was hier zählt, ist die Annahme, dass Hybridisierung immer auch eine Aushandlung ungleichzeitiger und ungleichgewichteter Bestandteile bleibt. An solche Überlegungen anschließend fordert García Canclini, auch Praktiken und Identitäten mitzudenken, die aus Hybridisierungsprozessen ausgeschlossen werden. Diese

350 García Canclini, Néstor (2005): Hybrid Cultures, S. xxviii. 351 Kraidy, Marwan (2005): Hybridity, or the Cultural Logic of Globalization, S. 142. 352 Bhabha, Homi K. (2004): The Location of Culture. London, New York: Routledge; Ders. (1996): Culture’s In-Between. In: Hall, Stuart; du Gay, Paul (Hg.): Questions of Cultural Identity. London [u.a.]: Sage, S. 53-60; Bhabha, Homi K.; Menke, Kathrina; Babka, Anna (2012): Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung. Wien: Turia und Kant; vgl. auch zusammenfassend Kerner, Ina (2010): Postkoloniale Theorien zur Einführung. Hamburg: Junius.

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Prozesse nennt er »restricted hybridization«.353 Auf eine ähnliche Grundüberlegung zielt schließlich auch ein Kontinuum der Hybridbildungen, das Nederveen Pieterse vorschlägt.354 Er meint, dass zwischen assimilatorischen und destabilisierenden Prozessen unterschieden werden könne, je nachdem wie stark kulturelle Logiken reproduziert, verändert oder aufrecht erhalten würden. Damit ist auf die Ausgewogenheit der relativen Machtverteilung innerhalb hybrider Strukturen verwiesen, 355 die letztlich eine Bestimmung dominanter und marginalisierter Anteile in hybriden Phänomenen möglich macht. Aus diesen Hinweisen leitet sich auch die Notwendigkeit der inhaltsanalytischen Untersuchung von Repräsentationsmustern in Formatvarianten ab. Denn Lokalisierung, also die Anpassung an lokale Umwelten, kann schließlich auch die Priorisierung bestimmter lokaler Deutungsmuster oder Personengruppen beinhalten. Das »Lokale« im Fernsehformat ist damit nicht per se gegeben, sondern wird erst im Reproduktionsprozess konstruiert. Hinter dieser Konstruktion von Lokalität und Globalität können dann auch Differenzen einer globalen beziehungsweise lokalen Orientierung von Produzenten und Rezipienten zum Vorschein kommen. Was an solchen theoretischen Annäherungen deutlich wird, ist, dass die kulturelle Logik der Hybridisierung mit politischen Handlungsmöglichkeiten verknüpft wird. So fragt beispielsweise García Canclini nach dem Demokratisierungspotenzial bei der Herausbildung hybrider Repertoires. Er unterscheidet diesbezüglich eine »endogene« (lokale) Hybridisierung von einer »heteronomen« Hybridisierung. Letztere ist als Kritik an strategischen Hybridisierungsprozessen der modernen Kulturindustrien zu verstehen. Wenige transnationale Akteure entscheiden über die Art der kulturellen Kombinationen in Gütern und Botschaften. 356 Dies verweist erneut auf die Bedeutung der Kulturproduzenten, deren gesellschaftliche Position und deren Einflussvermögen im Zusammenhang mit den Übersetzungs- und Adaptionsprozessen zu reflektieren ist. Das heißt auch, mögliche versteckte Machtverhältnisse zu identifizieren, die nach García Canclini hybride Kulturen kennzeichnen. Ältere Vorstellungen kultureller Machtverhältnisse, in denen das (globale) Zentrum Macht über die Peripherie ausübt, werden seiner Argumentation nach der Realität multipler Akteure, die an der Konstruktion hybrider Kultur beteiligt sind, nicht mehr gerecht: »The classic paradigms with which domination was explained are incapable of taking into account the dissemination of the centers, the multipolarity of

353 García Canclini, Néstor (2005): Hybrid Cultures, S. xxxvii. 354 Nederveen Pieterse, Jan (1998): Der Melange-Effekt, S. 107; Ders. (2009): Globalization and Culture, S. 73. 355 Ebd., S. 108. 356 García Canclini, Néstor (2005): Hybrid Cultures, S. xif.

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social initiatives, the plurality of references – taken from diverse territories – with which artists, artisans, and the mass media assemble their works.«357 Ähnliche Überlegungen hat auch Kraidy angestellt. Jeder kulturelle Mix sei ungleich, da er nicht nur auf Prozessen kultureller Hybridität, sondern auch auf kausalen Verbindungen zu ökonomischen wie politischen Machtverhältnissen basiere, die ihrerseits auch komplex miteinander verwoben seien. 358 Diese kritischen Perspektiven erinnern nicht zuletzt auch an Gayatri Spivaks Frage nach subalternen sozialen Subjekten, denen die Artikulation und Selbstrepräsentation vollends verweigert wird.359 Hybridisierung ist also zusammenfassend keine einfache Formel für harmonisierende kulturelle Vermischungen. Ein solches Verständnis liefe Gefahr, ungleiche Mischverhältnisse unter dem Deckmantel einer einträchtigen Verschmelzung zu missachten und gar zu legitimieren.360 Um hybridisierungstheoretische Ansätze nun für die Frage nach den kulturellen Dynamiken im Formattransfer nutzbar zu machen, müssen die Kategorien und Prozesse der Grenzüberschreitung und kulturellen Neukombination geordnet werden. Dabei ist zunächst eine Unterscheidung zwischen einer professionellen Hybridisierung, die sich auf die Entstehung konkreter kultureller Güter bezieht, und einer übergeordneten kulturellen Hybridisierung hilfreich, die auf alltägliche identitäre Prozesse abzielt. Eine solche Unterscheidung folgt wiederum der Logik Halls, nach der zwischen professionellen Codes und kulturellen Codes unterschieden werden kann, die zwar nicht unabhängig voneinander existieren, aber eine sinnvolle analytische Trennung darstellen. Für die weitere Systematisierung können auch Hybridisierungstheorien aus der Sprachwissenschaft fruchtbar gemacht werden. So hat Kraidy beispielsweise Mikhail Bakhtins Überlegungen zu linguistischen Hybridisierungsdynamiken einbezogen.361 Dieser hat am Beispiel der Entstehung von Sprache eine Differenzierung zwischen einer »intentionalen«, also künstlich herbeigeführten Hybridisierung und einer »organischen«, eher unbewussten Hybridisierung vorgenommen, wobei letztere als Resultat fortlaufender Kulturkontakte gedacht wird.362 Eine intentionale Hybridisierung wird sich dementsprechend vor allem in der konkreten Kulturproduktion äußern, nicht-intentionale Hybridisierung hingegen ist eher ein sich unmerklich 357 Ebd., S. 258ff. 358 Kraidy, Marwan (2005): Hybridity, or the Cultural Logic of Globalization, S. 148ff. 359 Spivak, Gayatri Chakravorty (2008): Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien: Turia und Kant. 360 Vgl. hierzu die kritische Auseinandersetzung in Ha, Kien N. (2005): Hype um Hybridität, S. 85ff; vgl. auch Kraidy, Marwan (2005): Hybridity, or the Cultural Logic of Globalization; Kerner, Ina (2010): Postkoloniale Theorien zur Einführung. 361 Kraidy, Marwan (2005): Hybridity, or the Cultural Logic of Globalization. 362 Ha, Kien N. (2005): Hype um Hybridität.

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vollziehender Prozess der gesellschaftlichen Aushandlung von Bedeutungen. Mithilfe von García Canclinis Typologie einer »endogenen« und »heteronomen« Hybridisierung lässt sich schließlich eine Akteursdimension der Hybridisierungsvorgänge integrieren. Diese Unterscheidung soll hier vereinfacht entlang von unabhängigen und abhängigen Akteuren vorgenommen werden, da dies für die vorliegende Forschungsarbeit von Interesse ist. Konkret lässt sich diese Differenzierung am Beispiel intentionaler Hybridisierungsprozesse erläutern: Wenn beispielsweise das kreative Potenzial lokaler Kulturproduzenten in multinationalen Produktionsunternehmen nicht anerkannt oder marginalisiert wird, wäre dies eine Form der abhängigen Hybridisierung; wenn aber lokale Kulturproduzenten kreative Freiheiten nutzen können, agieren sie als unabhängige Akteure. Das sagt aber wiederum noch nichts über die Form der Kreativität aus, da auch unabhängige Akteure letztlich globalen Standards folgen können. Diese analytische Hintergrundfolie kann aber dazu dienen, den Einflussbereich transnationaler Produktionsunternehmen auf lokale Reproduktionsprozesse zu systematisieren. Ungeachtet der Frage nach der empirischen Operationalisierbarkeit dieser Kategorien lässt sich zumindest festhalten, dass es unterschiedliche gesellschaftliche Zonen gibt, in denen Hybridisierungsdynamiken wirksam werden. Hybridisierungsprozesse in der Kulturproduktion betreffen dabei also nur eine gesellschaftliche Sphäre, in der es zur kulturellen Mélange kommt. Allerdings wurden kreative Neuerfindungen in der Kulturindustrie in der jüngeren Rezeption, wie etwa bei Ha, als »spätkapitalistische Verwertungslogik« kritisiert, da symbolische Repertoires vor dem Hintergrund ihres kapitalistischen Nutzwertes funktionalisiert würden.363 Die Anerkennung von multidimensionalen Hybridisierungsprozessen öffnet schließlich auch den Blick für Interdependenzen kultureller Entwicklung. So steht die Hybridisierung innerhalb der Kulturproduktion in Beziehung zu Hybridisierungsprozessen in anderen gesellschaftlichen Bereichen (beispielsweise in Organisations- oder Wirtschaftssystemen364). In dieser Hinsicht treffen sich hybridisierungstheoretische Überlegungen auch mit der systemtheoretischen Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung von Systeminterdependenzen bei der Bewertung gesellschaftlicher Wandlungsprozesse.365 Diese bilden schließlich nicht nur abhängige Symmetrien aus, sondern führen auch zu asynchronen Entwicklungen. Beispielsweise können Interdependenzen zwischen ökonomischer Logik und Kulturproduktion zu Koorientierungen lokaler Medienproduzenten führen, die aber wiede363 Ebd.; vgl. auch Müller, Gesine; Ueckmann, Natascha (2012): Einleitung: Kreolisierung als weltweites Kulturmodell? In: Dies. (Hg.): Kreolisierung Revisited. Debatten um ein weltweites Kulturkonzept. Bielefeld: Transcript, S. 14. 364 Vgl. zur strukturellen Hybridisierung Nederveen Pieterse, Jan (2009): Globalization and Culture, S. 64ff. 365 Hafez, Kai (2005): Mythos Globalisierung, S. 35ff.

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rum nicht automatisch mit anderen gesellschaftlichen Bereichen wie der Rezeption in lokalen Lebenswelten, korrelieren müssen, da in lokalen Kulturen unterschiedliche Spielarten kultureller Identitäten enthalten sein können, wie zuvor argumentiert wurde. Verschiedene gesellschaftliche Teilsysteme unterliegen internen wie auch externen Wandlungskräften, die dann ihrerseits durch transnationale Verbindungen wieder auf nationale Mediensysteme und kulturelle Kommunikationsprozesse verändernd einwirken. Übertragen auf den Transfer von Fernsehformaten können die Formate selbst als hybride populäre Kulturgüter konzeptualisiert werden. In einem Prozess intentionaler Hybridisierung (Adaption) wird durch abhängige und unabhängige Akteure (transnationale Medienunternehmen, Produzenten) auf verschiedene symbolische Ressourcen zurückgegriffen (lokale kulturelle und professionelle Codes), die an unterschiedlichen Orten, zu unterschiedlichen Zeiten und innerhalb unterschiedlicher Gemeinschaften entstanden sein können. Dazu zählen etwa Genres, televisuelle Konventionen, stilistische Muster, narrative Strukturen, Figuren oder Spiel- und Handlungskonventionen. Die Reproduktion eines Formats folgt also intentional der Funktion, durch eine Neukombination der kulturellen Referenzen im Fernsehtext kulturelle Anschlussfähigkeit herzustellen. Ob diese Anschlussfähigkeit gelingt, hängt jedoch von den kulturellen Identitäten der Rezipienten ab, die ihrerseits durch nicht-intentionale Hybridisierungsprozesse geprägt sein können. Hier wird dann nochmals deutlich, dass die Rezeptions- und Produktionspraktiken mit anderen voroder nachgelagerten Hybridisierungsdynamiken korrelieren können. Veränderungen der Organisationsprinzipien des Mediensystems (etwa nationale und internationale Wettbewerbsstrukturen) oder transkulturelle Lebensstilorientierungen in der Alltagswelt (etwa bestimmte global kopierte Moden von Musikstilen oder Ausdrucksformen) müssen dann in Beziehung zu den transkulturellen Mustern im hybriden Fernsehformat gesetzt werden. Hybridisierungsdynamiken auf gesellschaftlicher Ebene, innerhalb der Kulturindustrien (Produktion) und in der Lebenswelt der Zuschauer (Rezeption) schlagen sich im Sinne Halls alle qua kultureller Codes im Fernsehformat nieder, können durch dieses sogar beeinflusst sein oder sich aber auch disparat dazu verhalten. Für die Theoretisierung der kulturellen Dimension des Formathandels eignet sich das Konzept der Hybridisierung insofern, als dass mit ihm die Dynamiken der Formatierung und Adaption von Kreativität differenziert bestimmt werden können. Das Kommunikat im Formattransfer ist immer ein hybrides Kulturprodukt, das sich durch ein bestimmtes Verhältnis von kreativen Übernahmen und Veränderungen auszeichnet. Deren Bedeutung aber liegt in den Produktions- und Rezeptionspraktiken, die ihrerseits von Hybridisierungsprozessen gekennzeichnet sind, die das Potenzial haben, transkulturell geteilte Muster auszubilden. Der vorwiegend intentionale Charakter der Kulturproduktion trifft auf nicht-intentionale Hybridisierungs-

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prozesse in alltagskulturellen Praktiken und Identitäten von Individuen und Gemeinschaften. Das Verhältnis zwischen der individuellen und kollektiven kulturellen Identität von Rezipienten und Produzenten und den kulturellen Referenzen in Medienangeboten ist schließlich entscheidend für die Analyse von Fernsehformaten. Denn nach Hall, um auf den theoretischen Ausgangspunkt zurückzukommen, entstehen Symmetrie- beziehungsweise Asymmetriebeziehungen zwischen dem Kodierungs- und Dekodierungsvorgang durch geteilte kulturelle Codes. Es bleibt also zu fragen, welche Hybridisierungsstrategien im Formattransfer mit den spezifischen kulturellen Erfahrungs- und Wissensvorräten der lokalen Rezipienten resonieren. Das Verhältnis eines Nähe- und Distanzschemas zwischen Medienangeboten und Rezipienten wird daher im folgenden Kapitel aufgegriffen. Zuvor aber lassen sich die bisherigen Auseinandersetzungen um kulturelle Hybridisierungsprozesse dahingehend zusammenfassen, dass Homogenisierung oder Heterogenisierung am Beispiel des Formattransfers nicht als mögliche Effekte kulturellen Austauschs betrachtet werden, sondern es handelt sich dabei vielmehr um jeweils dominante oder marginale Dynamiken innerhalb des kulturellen Austauschs. Auch synchrone Prozesse wie Standardisierung oder Lokalisierung sind dann nicht Konsequenz, sondern Muster der untersuchten kulturellen Produktion, der Hybridisierungsprozesse schon aufgrund ihrer Grenzüberschreitung innewohnen. Insofern wäre auch die Formel: »nicht Homogenisierung oder Heterogenisierung, sondern Hybridisierung«, wie sie oft in einführender Literatur zu Globalisierungstheorien dargestellt wird, eine Verkürzung. Denn Hybridisierung kann, wie gezeigt wurde, durchaus homogenisierende und heterogenisierende Tendenzen vereinen. 2.2.5 »Kulturelle Nähe« im Text-Rezipienten-Verhältnis Im Folgenden wird nun – um das Verhältnis zwischen Fernsehtext und kulturellem Kontext der Rezipienten weiter theoretisch zu ergründen – ein Theorieangebot von Straubhaar aufgegriffen, das geeignet ist, den notwendigen Lokalisierungs- beziehungsweise Hybridisierungsstrategien im Formattransfer eine weitere wichtige theoretische Grundlage zu geben und die Erörterung der Einflussfaktoren auf den Rezeptionsprozess (vgl. Kapitel 2.1.3) zu vervollständigen. Basierend auf dem Paradigma eines aktiven Publikums, das an der Auswahl und Sinngebung im Prozess der Medienrezeption maßgeblichen Eigenanteil hat, hat Straubhaar seit den späten 1990er Jahren das Konzept der »kulturellen Nähe« im Zusammenhang mit der Suche nach einer Erklärung für den Erfolg von exportierten Fernsehprogrammen dis-

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kutiert.366 Allerdings bezieht sich die Kategorie der Nähe nicht primär auf eine bestimmte (ökonomisch, politische, kulturelle) Nähe zwischen zwei nationalen Referenzsystemen, wie es in verschiedenen Ansätzen der Nachrichtenwerttheorie formuliert ist,367 sondern sie beschreibt bei Straubhaar das Verhältnis zwischen Textangebot (und damit indirekt den Kodierungen der Produzenten) und Rezipienten. Nähe entsteht durch die kulturellen Referenzierungen im Text, die von Rezipienten leicht erkannt und angeeignet werden können. Dies schließt allerdings die Existenz transkultureller Muster nicht aus, die eine kulturelle Nähe von Medienangeboten in verschiedenen Referenzsystemen erzeugen. Straubhaar erörtert aber zunächst die Vorliebe von Zuschauern für nationale und regionale Fernsehprogramme, die er mittels kultureller Ähnlichkeiten erklärt: 368 »We argue that audience preferences are indeed formed as part of the overall trend toward cultural proximity within both national and cultural-linguistic boundaries.«369 Die Argumentation gründet dabei auf drei empirischen Beobachtungen zum Mediennutzungsverhalten in Brasilien. Einerseits wurden zunehmend Genres in die Prime-Time integriert, die im spezifischen nationalen historischen Kontext entstanden sind, wie etwa die Telenovela, Musik-, Comedy- und Varietyshows. Zum anderen sind diese nationalen Produktionen deutlich beliebter beim lokalen Publikum als importierte Unterhaltungsprogramme. Gleichzeitig hat mit der Zunahme an nationalen Produktionen der Zuschaueranteil US-amerikanischer Angebote frappierend abgenommen.370 Dieses Rezipientenverhalten ist aber nicht homogen, sondern die Zuwendung zu importierten, nationalen und regionalen Angeboten variiert stark nach Klassenunterschieden. So hat Straubhaar beobachtet, dass gerade die Eliten des Landes mehr an importierten Programmen interessiert gewesen sind, wohingegen die untere Mittelschicht na366 Straubhaar, Joseph (2007): World Television; vgl. auch Ders. (1991): Beyond Media Imperialism: Asymmetrical Interdependence and Cultural Proximity. In: Critical Studies in Mass Communication 8 (1), S. 39-59; Ders. (2003): Choosing National TV: Cultural Capital, Language, and Cultural Proximity in Brazil. In: Elasmar, Michael (Hg.): The Impact of International Television. A Paradigm Shift. Mahwah: Erlbaum, S. 77-107; Straubhaar, Joseph; La Pastina, Antonio (2005): Multiple Proximities Between Television Genres. 367 Vgl. hierzu bspw. die Nachrichtenwerttheorie von Schulz in Schulz, Winfried (1976): Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse der aktuellen Berichterstattung. Freiburg, München: Alber; vgl. auch Hafez, Kai (2002a): Die politische Dimension der Auslandsberichterstattung. Bd. 1, S. 68f. 368 Die Präferenz für nationale Programmangebote scheint nach den bisherigen Untersuchungen ein universales Mediennutzungsverhalten zu sein. Hasebrink, Uwe (2007): Medienrezeption, S. 157. 369 Straubhaar, Joseph (2007): World Television, S. 198. 370 Straubhaar, Joseph (1991): Beyond Media Imperialism, S. 30f.

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tional und regional produzierte Programme bevorzugt. Empirische Daten aus der Dominikanischen Republik deuten außerdem darauf hin, dass, wenn keine nationalen Programme vorhanden waren, eher Produktionen aus dem betreffenden geolinguistischen Kontext bevorzugt wurden als andere ausländische Programmangebote. Daraus schlussfolgert Straubhaar, dass das Erfolgspotenzial eines Programms mit der kulturellen Anschlussfähigkeit an seine Rezipienten zusammenzuhängen scheint. Allerdings ist es erforderlich, die Kategorie »kulturelle Nähe« genauer zu theoretisieren, da sie als essenzielle Qualität eines Programms noch keine analytische Erklärungskraft besitzt. In seinen Ausführungen nimmt Straubhaar daher bereits selbst die Kritik vorweg, die der allgemein vagen Kategorie »kultureller Nähe« innewohnt371 und benennt mit »genre proximity, value proximity, and thematic proximity«372 drei konkretere Subkategorien. Gemeint sind damit die Affinität zu bestimmten historisch vertrauten Genres, geteilte Wertorientierungen und historische Erfahrungsgemeinschaften, die die Anschlussfähigkeit von Medienangeboten erklären können. Damit findet sich hier erneut der Hinweis auf die Relevanz einer Genre-Kenntnis durch Produzenten und Rezipienten, die zuvor bereits diskutiert wurde. Analytisch entsteht nach Straubhaar kulturelle Nähe (oder Ferne) durch ein Zusammenspiel aus kultureller Identität und kulturellem Kapital des Publikums. Somit leitet Straubhaar sein Konzept auch aus den kultursoziologischen Annahmen von Bourdieu ab, der in seiner Sozialtheorie die soziale Position gesellschaftlicher Klassen im sozialen Raum mithilfe der Kategorien Kapitalstruktur, Kapitalvolumen und deren Kombination im Zeitverlauf (soziale Laufbahn) erklärt hat. 373 Dieser Raum sozialer Positionen beziehungsweise Klassenlagen, die die Verfügung über Kapital widerspiegelt, objektiviert sich nach Bourdieu durch einen (Klassen-)Habitus in einem »Raum der Lebensstile«. Habitus meint dabei kollektive Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, die bestimmte Praxisformen hervorbringen und klassifizieren. Diese Praxisformen äußern sich in beobachtbaren Lebensstilen, 374 371 Straubhaar, Joseph (2007): World Television, S. 196. Straubhaar verweist hier selbst bereits auf Kritik, die u.a. Iwabuchi an dem Konzept geäußert hat. Iwabuchi, Kōichi (2002): Recentering Globalization. Popular Culture and Japanese Transnationalism. Durham: Duke University Press. 372 Straubhaar, Joseph (2007): World Television, S. 197. 373 Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, vgl. darin insb. die Darstellung des sozialen Raums, S. 212. 374 Bourdieu: »[…] der Habitus ist Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und Klassifikationssystem (principium divisionis) dieser Formen. In der Beziehung dieser beiden den Habitus definierenden Leistungen: der Hervorbringung klassifizierbarer Praxisformen und Werke zum einen, der Unterscheidung und Bewertung

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wobei die Klassifizierung ständigen Aushandlungen und Anerkennungskonflikten unterliegt und somit einer gesellschaftlichen Distinktionslogik folgt. Hinsichtlich der grundlegenden Kapitalien hat Bourdieu neben dem ökonomischen (Eigentum und Vermögen) und dem sozialen Kapital (Netzwerke von Beziehungen) die Kategorie des kulturellen Kapitals integriert, das sich aus inkorporierten (Wissen), objektivierten (Besitz von Kulturgütern) und institutionalisierten (Titel, Zeugnisse) Kapitalbestandteilen zusammensetzt und zum Teil mit symbolischem Kapital gleichzusetzen ist. Für Straubhaar basiert kulturelle Nähe damit zwar auf kulturellem Kapital, ist aber »more of a disposition or a tendency toward the use of cultural capital in a certain way. Forms of cultural capital […] can lead them [the people] toward or away from cultural proximity, the tendency to prefer media products from their own culture or the most similar culture.«375 Kulturelles Kapital, das sich aus Ressourcen wie Bildung, Familien- und Ausbildungshintergrund, Mobilitätserfahrung und Religion zusammensetzt, strukturiert demnach die Medienwahl der Mediennutzer.376 Letztlich lassen sich hier auch Ähnlichkeiten mit Ansätzen aus der kultursoziologischen Milieu- und Lebensstilforschung finden, in der nicht mehr allein die soziodemographische Lage, sondern vor allem Lebensstilorientierungen berücksichtigt werden, die ihrerseits auch mit dem Mediennutzungsverhalten korrelieren können.377 Straubhaar verwendet den Begriff des kulturellen Kapitals unspezifischer als es Bourdieu tut, indem er den ausgeprägten Lebensstil nicht als stabile Kategorie versteht, sondern meint, dass kulturelles Kapital in je unterschiedlichen Subkulturen unterschiedlich ausgeprägt und aktiviert sein kann, was wiederum multiple Lebensstile denkbar macht.378 Mehrdimensional ist für Straubhaar auch kulturelle Identität, die sich aus ebenso vielschichtigen Zugehörigkeitsmustern zusammensetzt. Der theoretische Zusammenhang zwischen kulturellem Kapital und kultureller Nähe bleibt in Straubhaars Ausführungen jedoch eher unscharf. Angenommen werden kann allerdings, dass kulturelles Kapital zumindest eine strukturierende Ebene kultureller Identität darstellt, zu der aber weitere individuelle Gruppenzugehörigkeiten gehören, so dass trotz kollektiver Tendenzen, individuelle Varianzen entstehen können. Kulturelles Kapital stellt mithin also einen bestimder Formen und Produkte (Geschmack) zum anderen, konstituiert sich die repräsentierte soziale Welt, mit anderen Worten der Raum der Lebensstile.« Ebd., S. 277ff. 375 Straubhaar, Joseph (2007): World Television, S. 203f. 376 Ebd., S. 197. 377 Vgl. bspw. die Arbeiten der Sinus-Milieu-Studien oder Schulze, Gerhard (1993): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. 4. Aufl. Frankfurt am Main; New York: Campus. 378 Straubhaar, Joseph (2007): World Television, S. 230.

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menden Teil der kulturellen Identität dar, die ihrerseits die kulturelle Nähe oder Distanz zwischen Medientext und Rezipienten beeinflusst. Die Mehrdimensionalität kultureller Nähe erklärt sich damit auch über die Vielschichtigkeit kultureller Identität. Straubhaar erkennt an, dass sich die kulturelle Identität vieler Menschen durch unterschiedlichste überlagerte Identitätsbezüge konstituiert, also beispielsweise durch verschiedene räumlich definierte Zugehörigkeiten zu nationalen, regionalen oder lokalen Gemeinschaften oder auch zu kulturell definierten Sprach- oder Religionsgemeinschaften. Diese Identitätsbezüge unterliegen wiederum einer ständigen dynamischen Veränderung. Die Annahme unterschiedlicher Dimensionen kultureller Identität hat den analytischen Vorteil, dass kulturelle Nähe so nicht allein auf nationale Kulturunterschiede zurückgeführt werden kann. Abgesehen von einer Ebene der kollektiven nationalen Identität, wie sie beispielsweise Hall beschrieben hat, können in der Beziehung zwischen Medienangebot und Zuschauer somit auch subkulturelle Identitätsdimensionen, die auf der Zugehörigkeit zu ethnischen Gruppen, Fankulturen oder auch der sexuellen Identität basieren, für die Herstellung kultureller Nähe relevant sein.379 Dass die kulturelle Identität der meisten Menschen von unterschiedlichsten Zugehörigkeitsdimensionen geprägt wird, ist dabei ein wichtiger Hinweis von Straubhaar.380 Allerdings muss auch diese Form hybrider Überlagerung noch weiter differenziert werden, da beispielsweise die faktische beziehungsweise analytisch beobachtbare von der gefühlten beziehungsweise bewusst wahrgenommenen kulturellen Zugehörigkeit der Subjekte abweichen kann. Übertragen auf die Analyse kultureller Bezüge in Fernsehformaten muss demnach nicht nur eine Matrix multidimensionaler kultureller Referenzen diskutiert werden, sondern die Analyse muss ebenso zwischen faktischer und gefühlter kultureller Zugehörigkeit unterscheiden. Die identitäre Multidimensionalität birgt schließlich ein heuristisches Problem in sich. Wenn nämlich angenommen wird, dass Akteure theoretisch jeweils unterschiedliche »Identitätsschichten« für ihre Verständnis- und Deutungsrahmen aktivieren und Identitätsbezüge zudem an Komplexität gewinnen (wie am Beispiel der relevanten Referenzsysteme, die gleichzeitig sowohl nationale, überregionale oder lokale Bezüge beinhalten können), dann muss folglich auch die vermittelnde Instanz, nämlich die kulturelle Identität, erheblich variieren. Insofern bleibt für die Untersuchung des Zusammenhangs von Rezeption, kulturellem Kontext und dem Medienangebot das Problem bestehen, dass der Zusammenhang einer potenziellen Vielschichtigkeit kultureller Identität und der Herausbildung von kollektiven Zuwendungs- und Deutungsmustern theoretisch uneindeutig ist. Es kann also nicht geklärt werden, ob die Variablen, die eine bestimmte kollektive Erscheinung definieren (beispielsweise Ethnie, Religionszugehörigkeit oder Bildungshintergrund), auch 379 Ebd., S. 198. 380 Ebd., vgl. auch Kapitel 2.2.5.

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jene abhängigen Variablen sind, die eine ähnliche oder unterschiedliche Lesart entstehen lassen. So bleibt beispielsweise auch in den Ergebnissen der DALLAS-Studie von Katz und Liebes offen, ob die unterschiedlichen inhaltlichen Anschlussdiskurse tatsächlich auf ethnische Unterschiede zurückzuführen sind oder nicht viel eher schichtspezifische Varianzen offenlegen. Die Frage nach der jeweils relevanten »aktiven« Dimension kultureller Identität im Text-Leser-Verhältnis bleibt damit allein eine empirische Größe, die von Fall zu Fall rekonstruiert werden muss. Auch wenn Straubhaar in seinen Langzeitstudien zahlreiche Interviews führt und eben solche Rekonstruktionen singulärer Akteure zur Verfügung stellt, sind derlei Untersuchungen bisher eher eine Ausnahme im Bereich der grenzüberschreitenden Kommunikationsforschung. Unabhängig von diesen Unschärfen in der Theoretisierung »kultureller Nähe« im Text-Leser-Verhältnis können die vorangegangenen Erörterungen zunächst in folgender Visualisierung zusammengeführt werden: Abbildung 8: Modell der »kulturellen Nähe« im Text-Rezipienten-Verhältnis Kulturelle Ferne Kulturelle Identität Alter, Geschlecht, Ethnizität, Sozialisation, Erfahrungswissen

Kulturelle Referenzen Bilder, Töne, Themen, Inhalte, Diskurse, Personen, Meinungen, etc.

Medienangebot

Kulturelle Nähe

Rezipient

Lebensstil

Habitus

Sichtbare Praxisform

Wahrnehmungs-, Denk-, und Handlungsschemata

Kulturelles Kapital Wissen (Reisen, Medien, Bildung), Besitz von Kulturgütern, Zeugnisse, Bildungs- und Familienhintergrund

Kulturelle Ferne

Quelle: Eigene Darstellung nach Straubhaar (2007) und Bourdieu (1987)

Zur Erklärung der weltweiten Diffusion von Unterhaltungsformaten wird trotz der analytischen Unsicherheiten dennoch häufig auf das Konzept zurückgegriffen. Lokalisierung bei Formatadaptionen wäre demnach als eine Strategie zur Herstellung kultureller Nähe im Kreislauf der internationalen Kommodifizierung von Unterhaltungsangeboten zu verstehen. In dem Moment, in dem Formatierungspraktiken die Integration verschiedener lokaler, regionaler oder nationaler Repräsentationen in bestehende Showkonzepte erlauben und vor allem notwendig erscheinen lassen, liegt es nahe, am Beispiel der Fernsehformate die Grenzen kultureller Globalisierung zu erkennen. Formatierung lässt sich so auch als Anerkennung und Antwort der Kulturindustrie auf die Autonomie und Resistenz lokaler Rezeptionskulturen le-

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sen.381 Der Erfolg lokaler Varianten international zirkulierender Unterhaltungsshows unterstreicht in dieser Lesart gewissermaßen die »weichen«, lebensweltlichen Grenzen der systemischen Globalisierung. Neben der Lokalisierung von Medienangeboten kann aber ebenso die Delokalisierung382 von Kulturprodukten zur Herstellung kultureller Nähe dienen. Kōichi Iwabuchi hat am Beispiel japanischer Kulturprodukte Strategien beschrieben, die einen antizipierten »cultural discount« beheben und damit »cultural odorless« Produkte schaffen würden.383 Nicht nur kulturelle Nähe, die von einer Entsprechung der kulturellen Identität von Rezipienten und den kulturellen Referenzen im Medienangebot ausgeht, würde demnach zu einer leichteren Anschlussfähigkeit führen, sondern auch die Herstellung kultureller Neutralität. Darüber hinaus ist schließlich auch denkbar, dass eine empfundene kulturelle Ferne gerade aufgrund einer exotischen Qualität beziehungsweise ihrer »Andersartigkeit« die Medienwahl positiv beeinflussen kann384, auch wenn Straubhaars Beobachtungen eher eine Tendenz zu kultureller Nähe in der Mediennutzung nahelegen. Wie konkret die in die Fernsehangebote integrierten lokalen Bezüge tatsächlich mit den kulturellen Vorstellungen, Deutungsschemata, dem Erfahrungswissen und den Werten von Rezipienten korrelieren, bleibt aber Spekulation, solange Rezipienten nicht selbst befragt werden. Straubhaar hat seine theoretischen Grundüberlegungen auf Tiefeninterviews übertragen, die er mit Rezipienten über deren Mediennutzung führte. Seine Ergebnisse bestätigen in erster Linie die Bedeutsamkeit des lokalen Lebensweltkontexts der Rezipienten. Vor allem lokale Lebenswelten seien dabei der dominanteste Bezugspunkt kultureller Identität gewesen. Darüber hinaus zeigten sich die Dimensionen der Klassen- und Alterszugehörigkeit als bedeutsame Indikatoren für die Mediennutzung: »[C]lass and age seem to be directly related to general preferences for global, regional, national, or local culture.«385 Aufgrund der Korrelation klassenspezifischer Unterschiede mit der Zuwendung zu und Deutung von Medienangeboten in Brasilien, folgert Straubhaar, dass nationale Spezifika nach wie vor eine große Relevanz für die Medienrezeption besitzen und fasst dies wie folgt zusammen:

381 Vgl. auch Kraidy, Marwan; Murphy, Patrick (2008): Shifting Geertz. 382 Straubhaar, Joseph (2007): World Television, S. 170f. 383 Iwabuchi, Kōichi (2010): Taking ›Japanization‹ Seriously: Cultural Globalization Reconsidered. In: Thussu, Daya Kishan (Hg.): International Communication. A Reader. London, New York: Routledge, S. 410-433. 384 Straubhaar, Joseph (2007): World Television, S. 27. 385 Ebd., S. 206. Straubhaar schlägt daher auch die Erweiterung des Bourdieuschen Kanons kultureller Kapitalien um die sozial konstruierten Dimensionen der Ethnizität, des Alters und des Geschlechts vor.

144 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ? »[L]ocal culture can be a significant mediator of national, regional, or global television viewing. However, this local process is also informed by previous exposure to television, to education, to travel and language learning, to advertising, to other media such as books and newspapers, and to a variety of personal experiences, all of this creating the cultural capital that mediates television viewing. This creates both a personal and shared cultural prefiguration. Much of that cultural exposure, especially to television programming, advertising, and education, is most often framed by a national process, guided in many nations by explicit state policy.«386

Darüber hinaus bleibt aber zu fragen, ob und wie langfristige Einflüsse der rekursiven Zusammenhänge von Mediennutzung und kulturellem Kapital beziehungsweise kultureller Identität die Wahrnehmung kultureller Nähe verändern. Straubhaar argumentiert schließlich weiter, dass kulturelle Nähe auch unabhängig von deren kulturellen Referenzen aufgrund von Gewöhnungseffekten entstehen könne. So verweist er auf viele Fernsehlandschaften weltweit, die lange auf den Import ausländischen Materials angewiesen waren, nachdem es durch Deregulierungsund Kommerzialisierungsdynamiken zu einem neuen Bedarf an Programm gekommen war, das selten aus lokalen Produktionsmöglichkeiten gewonnen werden konnte. Die historische und strategische Position der US-amerikanischen Film- und Fernsehproduktion habe so schließlich dazu geführt, dass über einen langen Zeitraum weltweit eine Vertrautheit mit US-amerikanischem Film- und Fernsehen, dessen Erzählstilen und Aufnahmetechniken, entstehen konnte, was sich dementsprechend in einer empfundenen kulturellen Nähe zweiten Grades bemerkbar machen kann.387 Diese Überlegung führt auch zu kulturellen Referenzierungen, die ohnehin weltweit anschlussfähig sind. Besonders weitreichende Anschlussfähigkeit besitzen beispielsweise bestimmte universale Werte, Bilder, Archetypen und Themen. Straubhaar verweist konkret auf serielle Narrationsstrukturen, die in fast allen Kulturen zu finden sind; Arvind Singhal und Kant Udornpim diskutieren den weltweit Erfolg der japanischen Serie OSHIN ebenso damit, dass archetypische Charaktere wie bestimmte Helden- und Mutterfiguren schlichtweg von allen Menschen erkannt werden können.388 Diese eher kulturanthropologischen Argumentationen gehen damit indirekt von einer Strukturgleichheit menschlicher Sozialerfahrung aus, die die 386 Ebd., S. 255. 387 Ebd., S. 200. Allerdings ist in den meisten Diskussionen um »global Americana« zu selten gefragt worden, warum und was in den Artefakten eigentlich als typisch US-amerikanische Identifikationsangebote angesehen werden kann. 388 Singhal, Arvind; Udornpim, Kant (1997): Cultural Shareability, Archetypes and Television Soaps: ›Oshindrome‹ in Thailand. In: International Communication Gazette 59 (3), S. 171-188.

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weltweite Kenntnis bestimmter Rollenmodelle oder Bindungskonflikte erklärt. Das heißt, dass die Perzeption von Archetypen auf einer individuellen Ebene zwar durchaus flexibel sein kann, auf einer kollektiven Ebene aber einer universal geteilten Struktur folgt.389 Diese analytische Differenzierung schließt sich an die Unterscheidung der Dekodierung allgemeiner Inhalte und deren unterschiedlichen Bewertung an, die in der medien-und kommunikationswissenschaftlichen Auseinandersetzung unter dem Stichwort Polyvalenz diskutiert wurde. Hier geht es darum, dass beispielsweise die Moral oder Tugend einer Heldengeschichte zwar unterschiedlich dekodiert und bewertet werden kann, der Held und die sich um ihn rankende Geschichte aber weltweit auf ähnliche Weise als solche erkannt wird. Die Differenz der Wahrnehmung einer Metabotschaft der Heldengeschichte wird somit auch zwischen Makrokulturen geringer sein als die Deutung dieser Heldengeschichte unterschiedlicher Subkulturen.390 Neben den bisher diskutierten Varianten kultureller Vertrautheit führt Straubhaar schließlich noch eine »desired proximity with modernity«391 an. Damit ist gemeint, dass Programme vor allem aufgrund ihrer Metabotschaft rezipiert werden, mit denen sich Rezipienten identifizieren wollen. Dies unterstreicht, dass Medienangebote nicht nur Identifikation ermöglichen, sondern auch identifikationsstiftend wirken. Die Identifikation von Fankulturen mit popkulturellen Objekten – wie beispielsweise die Cosplayer, 392 die Charaktere japanischer ANIME darstellen –, lassen sich nur schwerlich mit einer Nähe zu realweltlichen kulturellen Referenzen erklären, sondern eher durch die Metabotschaften, auf die sich die Mitglieder einer Fankultur weitestgehend geeinigt haben. An diesem Beispiel zeigt sich erneut die Notwendigkeit einer Unterscheidung unterschiedlicher Elemente im Fernsehtext, die neben einer Metabotschaft auch Charaktere, einzelne Narrationen oder Erzählsequenzen differenziert. Diese Bestandteile können nicht nur unterschiedliche Lesarten innerhalb des Fernsehtextes erzeugen, sondern sie können gemäß der hier diskutierten kulturellen Symmetrien auch variierende Grade kultureller Nähe beim Zuschauer vermitteln. Selbst wenn sich also eine kulturelle Nähe mit den Charakteren einer Serie einstellt, kann gleichzeitig ein kulturelles Dissonanzverhältnis beispielsweise zum Setting, in dem diese Charaktere handeln, bestehen. Der deutsche Vorabendkrimi kann kulturelle Vertrautheit mit dem Genre erzeugen, der Hintergrund eines ermittelten Verbrechens möglicherweise nicht. Neben den drei von Straubhaar beschriebenen Nähe-Dimensionen (zu Thema, Genre und zu übergeordneten Wert389 Ebd., S. 174. 390 Vgl. auch die Konzeptualisierung von Hafez in Hafez, Kai (2002a): Die politische Dimension der Auslandsberichterstattung, Bd. 1, S. 166f. 391 Straubhaar, Joseph (2007): World Television, S. 200. 392 Als »Cosplayer« werden die Anhänger einer japanischen Verkleidungskultur bezeichnet, die insbesondere ANIME oder MANGA-Charaktere darstellen.

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vorstellungen) können somit auch Handlungen, Charaktere, Settings und Narrationen Quellen für den kulturellen Bezug für die Rezipienten sein. Überträgt man nun die Überlegungen Straubhaars auf die Annahmen Halls, dann drückt kulturelle Nähe letztlich das aus, was Hall in seinem Schema als Äquivalenz der Codes zwischen Produzenten und Rezipienten formuliert hat. Indem Straubhaar jedoch ganz explizit Bourdieus Konzeptualisierung des kulturellen Kapitals aufnimmt, entsteht ein theoretischer Gegensatz zu Hall. Denn während letzterer darauf hingewiesen hat, dass Lesarten eines Medienangebots nicht direkt mit sozialen Klassen korrelieren, legt Bourdieus Theorie zumindest eine große Nähe zwischen der Verortung von Akteuren im Raum der Lebensstile und ihrer Position im sozialen Raum nahe. Die Theoretisierung eines Klassenhabitus, der sich in kollektiven Lebensstilen realisiert, würde somit eher von zwar umkämpften, aber doch existenten kollektiven Wahrnehmungs- und Deutungsmustern ausgehen, die folglich durch einen starken Sozialisationseffekt direkt an die Kapitaldispositionen gekoppelt sind. Diese Beobachtung findet Straubhaar in seinen Ergebnissen bestätigt. Allerdings bleibt die theoretische Erklärung an der Stelle ungenau, an der der Autor dem Zusammenhang zwischen kultureller Identität und kulturellem Kapital nicht weiter nachgeht und überdies weitere Termini wie kulturelles Wissen, lokale Kultur oder Subkultur ohne weitere Klärung zum Teil synonym verwendet. Eine Vielschichtigkeit kultureller Identität erlaubt theoretisch eine große Flexibilität hinsichtlich der wahrgenommenen kulturellen Nähe. Kulturelles Kapital hingegen legt, trotz der Anerkennung dynamischer Wandlungsprozesse, eher einen stabilen Klassenhabitus nahe. Es wird insofern zwar differenziert dargelegt, dass die kulturelle Identität einen komplexen Unterbau hat, der einfache Entsprechungen von Fernsehangebot mit dem sozial oder kulturell bedingten Geschmack der Rezipienten hinterfragt. Allerdings bleibt unklar, wie sich unterschiedliche habituell ausgebildete Ebenen kultureller Identität zueinander verhalten. Fiske hat darüber hinaus in kritischer Lesart von Bourdieu vorgeschlagen, dass dem kulturellen Kapital eigentlich auch ein populärkulturelles Pendant gegenüber gestellt werden müsste, da aus seiner Sicht das kulturelle Kapital, so wie es Bourdieu beschreibt, die Macht des Bürgertums aufrecht erhalte, da es bürgerliche Wertzuschreibungen von Bildung, Hochkultur und Distinguiertheit reproduziere. Gerade die (relative) Freiheit von Rezipienten in der Aneignung gesellschaftlicher Bedeutungen lässt jedoch soziale Umdeutungen zu: populärkulturelles Kapital »puts bourgoise culture under constant pressure.«393 Allerdings trifft dies nur auf Situ393 Fiske, John (2013): Moments of Television, S. 60; vgl. auch Sieprath, Norbert (2004): Medienaneignung als blinder Fleck der Systemtheorie. In: Hörning, Karl; Reuter, Julia (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld: Transcript, S. 210; Müller, Eggo (1993): Pleasure and Resistance. John Fiskes Beitrag zur Populärkulturtheorie. In: Montage AV 2 (1), S. 52-66.

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ationen zu, in denen dieselben kulturellen Ressourcen (Bilder, Filme, Fernsehen) von Mitgliedern unterschiedlicher sozialer Lagen der Gesellschaft genutzt werden, die Lebensstilforschung und Bourdieu zeigen hingegen, dass gerade die differente Nutzung unterschiedlicher Ressourcen (Ernste Musik versus Volksmusik o.ä.) bestimmte differente Lebensstile ausprägt. Dennoch ist der Einwand Fiskes insofern fruchtbar, als er nochmals deutlich macht, dass die Bedeutung kulturellen Kapitals an sich selbst abhängig ist von gesellschaftlicher Deutungsmacht. Für einen Kulturvergleich empfiehlt sich daher ein problemsensibler Umgang mit der Kategorie des kulturellen Kapitals, da beispielsweise der Umgang mit traditionellen kulturellen Riten oder mit tradierten Wissensbeständen in verschiedenen nationalen oder regionalen Referenzsystemen verschieden bewertet werden kann. Die Anerkennung der Existenz hybrider Lebensstile und kultureller Praktiken in einem lokalen Referenzsystem und die Anerkennung einer möglichen Differenz von analytisch sichtbarer und subjektiv empfundener Identität bei lokalen Akteuren sind zentrale Anforderungen, die in den makrotheoretischen Globalisierungsdebatten um die Wirkung globaler Medien nur selten reflektiert wurden. Um Prozesse der Hybridisierung oder Phänomene der Glokalisierung bestimmen zu können, bedarf es nicht nur der Klärung von Kulturverständnissen, sondern ebenso der Klärung grenzüberschreitender Prozesse von Kultur und Kommunikation. Es gilt daher im abschließenden Theoriekapitel, einige der zentralen Debatten der Globalisierungstheorie aufzugreifen und diese mit den bisherigen Ausführungen zu Kulturkonzeptionen und Kommunikationstheorien zu verknüpfen, um so eine Theoriematrix zu erarbeiten, in der medien-, kultur- und globalisierungstheoretische Annahmen integriert sind. Der Rückgriff auf das Kommunikationsmodell Halls stellt hierfür erneut einen Ausgangspunkt der Auseinandersetzung dar.

2.3 G LOBALISIERUNGSTHEORETISCHE G RUNDLAGEN Die zirkulären Modelle der Kulturkommunikation, die im Rahmen der Kulturtheorie entwickelt worden sind, liefern zwar ein grundlegendes Verständnis für die Komplexität der Konstitution alltagskultureller Bedeutungen, sie theoretisieren jedoch grenzüberschreitende Prozesse der Kommunikation nur bedingt. So geht auch Halls Kommunikationsmodell implizit davon aus, dass die Kommunikationsteilnehmer einen gesellschaftlichen, mediensystemischen und kulturellen Raum teilen. Sie bilden also eine Diskursgemeinschaft. Das raum-zeitliche Referenzsystem ist also im Grunde stabil gedacht. Dafür spricht zum einen Halls Referenz auf Nachrichtenformen, die nach wie vor hauptsächlich in nationalen Mediensystemen produziert und rezipiert werden. Dafür spricht aber auch, dass er Produzenten und Rezipienten als rekursiv verbunden betrachtet, da sich theoretisch die Medienwirkung

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in einer Überführung in gesellschaftliche Praktiken äußert, die dann wieder – im Bereich der allgemeinen realweltlichen Bedeutungsproduktion – von Produzenten aufgegriffen werden. Dafür aber müssen Produzenten und Rezipienten an einer gemeinsamen Alltagsrealität beziehungsweise einem zeitlich-räumlichen Referenzsystem teilhaben (vgl. auch Kapitel 2.1). Hier deuten sich also bereits Schwierigkeiten an, dass Modell für Prozesse der Globalisierung nutzbar zu machen. Gerade die rückwirkenden Zusammenhänge zwischen räumlich, zeitlich und kulturell entgrenzten Produzenten und Publika müssen also genauer diskutiert werden. Tatsächlich haben sich die Möglichkeiten der grenzüberschreitenden massenmedialen Kommunikation, in der Produktions- und Rezeptionskontexte nicht mehr an identische gesellschaftliche und mediale Referenzräume gebunden sind, längst verändert, seit Hall sein Modell entwickelt hat. Produktion und Rezeption populärkultureller Angebote können heute an völlig unterschiedliche nationale und kulturelle Entitäten gebunden sein, was die Frage der Sinnstiftung in neuem Licht erscheinen lässt, ohne dass a priori klar ist, welchen Einfluss dies auf lokale Deutungsprozesse nimmt. Es lässt sich zumindest argumentieren, dass sich der Horizont von Lebenswelten erweitert, wenn immer mehr Menschen auf dieselben populärkulturellen Ressourcen zurückgreifen und damit ihre Alltagserfahrungen angleichen. Wenn gleichzeitig Unterhaltungsangebote ebenso wie Nachrichten Orientierungen für Alltagsdeutungen und die Herausbildung kultureller Praktiken liefern (vgl. Kapitel 2.2.2), dann wird klar, warum der sichtbare Erfolg von Angeboten USamerikanischer und europäischer Provenienz weltweit, von Hollywood bis Fast Food, immer wieder zum Topos der »Amerikanisierung« oder »Verwestlichung« der Welt geworden ist. Allerdings würde ein solches Verständnis theoretisch den oberen Teil des Hall’schen Kreislaufs, also die Sinngebung im Kontext von Medienangeboten, privilegieren. Menschen weltweit können zwar auf gleiche Ressourcen in ihrer Freizeitgestaltung zurückgreifen, aber andere bleiben vermutlich stärker an lokale Kontexte gebunden. Und selbst wenn gleiche Medien rezipiert werden, ist dies nicht mit einer vollständigen Integration ferner Lebenswelten in den eigenen Alltag verbunden. Studien haben beispielsweise gezeigt, dass innergesellschaftliche Diskurse eines fernen Referenzsystems selbst in der Auslandsberichterstattung häufig unerwähnt bleiben und nicht in eigene Referenzsysteme transferiert werden. 394 Außerdem wird in der oben genannten Überlegung die notwendige Übersetzung oder Rekombination von Codes vernachlässigt, die bei Hall eine differenzstiftende Funktion besitzen. Die »Übersetzungskosten« sind häufig unterschiedlich: die 394 Vgl. hierzu Hafez’ Analyse zur deutschen Berichterstattung der Rushdie-Affäre, die zeigt, dass die öffentliche Meinung in islamischen Ländern nur bruchstückhaft und verkürzt von deutschen Journalisten zur Kenntnis genommen wurde. Hafez, Kai (2002b): Die politische Dimension der Auslandsberichterstattung, Bd. 2, S. 240ff.

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Übersetzungsleistung von Musik und Bildern erscheint beispielsweise weitaus geringer als die von Texten, Themen oder Handlungsmustern. Hafez weist diesbezüglich darauf hin, dass Konnektivität auch abhängig von der Art der Botschaft ist, die übermittelt wird: »Music, image, text – behind this sequence hides a kind of magic formula of globalization.«395 Erkennt man die variierenden Übersetzungsleistungen unterschiedlicher symbolischer Elemente an, wird plausibel, warum gerade die audiovisuellen Gestaltungselemente in Fernsehformaten die unveränderlichen Elemente des Formats darstellen, die Inhaltsebene aber – damit sind sowohl Narrationen, Handlungen als auch Sprachsysteme gemeint – Lokalisierungsanpassungen erfordert. Transferleistungen finden innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen statt und werden von unterschiedlichen Akteuren, die ihrerseits in diversen gesellschaftlichen Räumen situiert sind, begleitet. Komplexe Bedingungen beeinflussen den Übersetzungsprozess auf je zu untersuchende Weise. Die Frage nach dem Ausmaß und der Richtung grenzüberschreitender Medienkommunikation benötigt daher eine Systematisierung der Akteure, Prozesse und Räume. Passend konstatiert dazu Straubhaar für das Fernsehen: »Television in our world is an increasingly complex system with global, transnational, translocal, national, regional, metropolitan, and local spaces, dynamics, players and flows.«396 Im Rahmen der Globalisierungsdiskussion397 hat 395 Hafez, Kai (2014): How Global Is the Internet? Reflections on Economic, Cultural, and Political Dimensions of the Networked ›Global Village‹. In: Fortner, Robert; Fackler, Mark (Hg.): The Handbook of Media and Mass Communication Theory. Bd. 2. Chichester: Wiley, S. 647. 396 Straubhaar, Joseph (2007): World Television, S 1; vgl. auch Ders. (1997): Distinguishing the Global, Regional and National Levels of World Television. In: Sreberny-Mohammadi, Annabelle (Hg.): Media in Global Context. A Reader. London [u.a.]: Arnold, S. 284-298. 397 Trotz zahlreicher Definitionsversuche des Begriffs »Globalisierung«, der seit den 1990er Jahren wissenschaftliche und öffentliche Diskurse bestimmt, besteht nach wie vor Verwirrung über diesen Begriff. Obwohl weder ein Konsens über die Periodisierung von Globalisierung, die mit ihr verbundenen gesellschaftlichen Wirkungszusammenhänge noch über die tatsächlichen Wirkungsweisen besteht, wird in den meisten Fällen davon ausgegangen, dass unsere aktuellen inner- und zwischengesellschaftlichen Entwicklungen unter dem Einfluss der Globalisierung stehen. Allerdings muss die Erklärung der komplexen Kausalitäten von Globalisierung und gesellschaftlichen Wandlungsdimensionen wohl als ungeklärte Aufgaben der Globalisierungstheorie angesehen werden. Vgl. zur Periodisierung von Globalisierung bspw. Osterhammel, Jürgen; Petersson, Niels (2003): Geschichte der Globalisierung. München: Beck oder Nederveen Pieterse, Jan (2009): Globalization and Culture. Beide Publikationen verweisen auf die weltweite Dimension kultureller Austauschprozesse seit dem 15. Jahrhunderts. Zu ein-

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Hafez außerdem argumentiert, dass es notwendig ist, zwischen verschiedenen sozialtheoretischen Ebenen zu differenzieren, um Aussagen über die Konnektivitäts-, Wandlungs- und Interdependenzdimension398 vermeintlich globaler Medienkommunikation treffen zu können. Denn Globalisierung von Medienkommunikation mag sich aus makrotheoretischer Sicht anders darstellen als aus mikrotheoretischer. Die Dominanz profitorientierter Kulturproduktion, westlicher Produkte und Unternehmen muss nicht zwangsläufig auch eine Entsprechung auf der Ebene der kulturellen Praktiken einzelner Rezipienten finden. Reduktionistische Perspektiven aber haben die Debatte um Wandlungsprozesse globaler Medienkommunikation nachhaltig geprägt.399 Die Frage nach der »Globalisierung der Medien« bezog sich in weiten Teilen der internationalen Kommunikationswissenschaft nicht auf mikroanalytische Fragestellungen, sondern war und ist vor allem auf die Interaktionsverhältnisse von Mediensystemen gerichtet. Nicht die Globalisierung von Kommunikationspraktiken ist dann Gegenstand der Diskussionen, sondern vielmehr die Zirkulation von Kapital, von Organisationen, Angeboten und Strukturen. Im Folgenden beschränkt sich die Darstellung auf einige zentrale Themen und Argumentationen in der Diskussion um kulturelle Dynamiken der Medienglobalisierung, um vor allem neuere Diskursfelder, die auch mikroanalytische Perspektiven einnehmen, für die Konzeptualisierung der Studie nutzbar zu machen.

führenden Darstellungen des Globalisierungsdiskurses vgl. neben Held, David et al. (Hg.) (1999): Global Transformations: Politics, Economics and Culture. Cambridge: Polity Press; Ders; McGrew, Anthony (Hg.) (2003): The Global Transformations Reader. An Introduction to the Globalization Debate. 2. Aufl. Cambridge: Polity auch die sozialtheoretische Diskussion von Ampuja, Marko (2012): Theorizing Globalization. A Critique of the Mediatization of Social Theory. Leiden [u.a.]: Brill oder die globalgeschichtlich orientierte Einführung von Middell, Matthias; Engel, Ulf (Hg.) (2010): Theoretiker der Globalisierung. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag. 398 Hafez, Kai (2005): Mythos Globalisierung, S. 17ff. 399 Auf die grundlegenden Strömungen der Globalisierungsdebatte, die Held, McGrew, Goldblatt und Perraton in Rückgriff auf die Debatten der 1990er Jahre systematisiert haben, wird hier nicht weiter eingegangen, da die metawissenschaftliche Analyse von »Hyperglobalisten«, »Skeptikern« und »Transformationalisten« zu viele Aspekte politischer und ökonomischer Globalisierung einbezieht, die für eine Untersuchung globaler Unterhaltungskommunikation unnötig erscheint. Held, David et al. (Hg.) (1999): Global Transformations: Politics, Economics and Culture.

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2.3.1 Theorieansätze globaler Medienkommunikation Die Anhänger der prominent gewordenen Homogenisierungsthese berufen sich vor allem auf Beobachtungen zur Verbreitung von Konsumgütern und Produktionsstrukturen westlicher Provenienz, die durch umfassende, wiederum westlich geprägte, gesellschaftliche Transformationen (Stichworte sind Kapitalismus, Kommerzialisierung, Liberalisierung) begünstigt werden. Unter einer eher technozentrischen Perspektive auf die internationale Medienkommunikation haben bereits seit Mitte der 1960er Jahre vor allem die Kritiker einer neoliberalen Politik die Ungleichverteilung des Medienkapitals, der Informationsvermittlung, ihrer zugrundeliegenden Struktur sowie die asymmetrische Zirkulation von Medienangeboten konstatiert. Westliche Industrienationen genießen nach diesen Beobachtungen eindeutig Wettbewerbsvorteile, um ihre Stellung als Hauptakteure der internationalen Infrastruktur zu behaupten, was sich beispielsweise in der Durchsetzungskraft einiger zentraler westlicher Prinzipien äußert, etwa der Idee des »free flow of information«400 oder der zunehmend kapitalistischen Logik der Mediensysteme. Die wirtschaftliche Dominanz US-basierter transnationaler Unternehmen lässt sich kaum leugnen – die umsatzstärksten Unternehmen haben ihren Hauptsitz in den USA (AOL-TIME WARNER, DISNEY, NEWS CORP.).401 Auch gemessen am Umfang des Exports audio-visueller Medien kann von einem US-amerikanischen »dominant flow«402 gesprochen werden. Im ökonomischen Bereich zeichnet sich durch die Herausbildung eines globalen Medienkapitalismus und transnationaler Medienkonglomerate auf den ersten Blick ein globales Mediensystem ab. 403 Die Ideologie des (Medien-)Kapitalismus wird dann bei Edward Herman und Robert McChesney gleichsam zur kulturellen Ideologie erhoben: 400 Die Debatten im Rahmen der NWICO-Kampagne der 1970er/80er Jahre sind hier vielzitierte Beispiele hegemonialer und gegenhegemonialer Diskurse. 401 Thussu, Daya Kishan (2010): Mapping Global Media Flow, S. 221. 402 Ebd. Auch die von der UNESCO im Rahmen der NWICO-Verhandlungen in Auftrag gegeben Studien zeigen eine deutliche Dominanz US-amerikanischer Produkte. Vgl. Nordenstreng, Kaarle; Varis, Tapio (1975): Television Traffic, a One-Way Street? A Survey and Analysis of the International Flow of Television Programme Material. 2. Aufl. Paris: Unesco; Varis, Tapio (1985): International Flow of Television Programmes. Paris: Unesco. 403 Herman, Edward; McChesney, Robert (1997): The Global Media. The New Missionaries of Corporate Capitalism. London, Washington, D.C.: Cassell; Dies. (2003): The Rise of the Global Media. In: Parks, Lisa; Kumar, Shanti (Hg.): Planet TV. A Global Television Reader. New York: New York University Press, S. 21-39; McChesney, Robert (2010): The Media System Goes Global. In: Thussu, Daya Kishan (Hg.): International Communication. A Reader. London, New York: Routledge, S. 188-220.

152 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ? »The global media are the missionaries of our age, promoting the virtues of commercialism and the market loudly and incessantly through their profit-driven and advertising-supported enterprises and programming. […] In communication, this has meant the simple denial of the formerly important issue of whether the media had social, moral, and political obligations beyond the pursuit of profit.«404

Fernsehformate reihen sich in einer solchen Lesart als perfekte Beispiele einer medienökonomischen Profitstrategie ein. Empirische Beobachtungen wie diese dienen häufig als Grundlage oder Ausgangspunkt405 für die Entwicklung der Theoreme des »kulturellen Imperialismus« beziehungsweise des »Medienimperialismus«.406 Aus der Dominanz im Mediensektor wird eine vermeintliche kulturelle Hegemonie abgeleitet, die durch die strukturelle Abhängigkeit der Staaten der »Dritten Welt« von denen der »Westlichen Welt« entsteht.407 Politischen und ökonomischen Entwicklungen werden dementsprechend kulturelle Effekte nachgeordnet. Den theoretischen Skizzen eines Medien- und Kulturimperialismus liegen weiterhin Annahmen einer starken Medienwirkung zugrunde, der eine kulturverändernde Kraft zugesprochen wird, wie es ähnlich auch in Modernisierungs-, Dependenz-, und Entwick-

404 Herman, Edward; McChesney, Robert (2003): The Rise of the Global, S. 35. 405 Chopra, Rohit (2011): Introduction. Media, Culture, and Identity in the Time of the Global. In: Gajjala, Radhika; Chopra, Rohit (Hg.): Global Media, Culture, and Identity. Theory, Cases, and Approaches. New York [u.a.]: Routledge, S. 1-16. 406 Schiller definiert »kulturellen Imperialismus« als »[T]he sum of the processes by which a society is brought into the modern world system and how its dominating stratum is attracted, pressured, forced, and sometimes bribed into shaping social institutions to correspond to, or even to promote, the values and structures of the dominant centre of the system.« Schiller, Herbert (1976): Communication and Cultural Domination. White Plains: International Arts and Sciences Press, S. 9. »Medienimperialismus« definiert Boyd-Barrett: »The processes whereby the ownership, structure, distribution or content of the media in any one country are singly or together subject to substantial external pressures from the media interests of any other country or countries, without proportionate reciprocation of influence by the country so affected.« Boyd-Barrett, Oliver (2010): Media Imperialism Reformulated. In: Thussu, Daya Kishan (Hg.): International Communication. A Reader. London, New York: Routledge, S. 145. Vgl. zum Diskurs des kulturellen Imperialismus auch die Darstellung in Tomlinson, John (1991): Cultural Imperialism. A Critical Introduction. Baltimore: Johns Hopkins University Press. 407 Vgl. bspw. die Arbeiten von Daniel Lerner, Everett Rogers, Shrinivas Melkote, Wilbur Schramm.

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lungstheorien der Fall ist.408 Ein reziproker Einfluss der beteiligten Mediensysteme oder eine kommunikative Interaktion wird hier ausgeschlossen. Das Ausmaß eines kulturellen Einflusses auf die sogenannte »westliche Welt« hingegen ist bis heute mit einem Fragezeichen versehen. Es scheint, als bliebe die Globalisierung wohl eher Monolog als Dialog. Denn auch wenn Bollywood in Europa und den USA zu einem Begriff geworden ist, sind es kaum indische Produktionen, die hier die Box-Office-Hits anführen. Dies gilt auch für andere Konsumgüter jenseits der Massenmedien. Die Mode im Westen ist weitestgehend von den internationalen Zentren der »westlichen Welt« inspiriert. Auch wenn Stoffmuster ihre kreativen Anleihen in Asien oder Afrika haben, so ist dennoch kaum ein Sari oder Kaftan in westlichen Innenstädten zu finden. Die Verbreitung von diversen einheimischen Küchen in einem multikulturellen Restaurantangebot ist ebenso ein Phänomen internationaler Metropolen. Und ein Schnitzel mit Sauerkraut bleibt selbst im internationalen Stadtteil Zamalek in Kairo eher die Ausnahme und umgekehrt findet man das ägyptische Leibgericht Kuschari (‫ )كشری‬wohl nur selten in den gastronomischen Angeboten deutscher Restaurants. Sushi hingegen ist hier zum beliebten Alltagssnack avanciert, wird aber kaum als traditionelle Eigenkreation anerkannt, sondern doch eher als japanischer Import. Die Differenz wird aufrechterhalten, allein der Radius der Verfügbarkeit wird hier erweitert. Ob aber der Konsum von Sushi zu einer Vervielfältigung bekannter Geschmacksrichtungen beim einzelnen Konsumenten führt oder bereits kulturelle Mischungen hervorbringt, bleibt offen, ebenso, ob sich Konsumenten dieser Mischung dann auch bewusst sind. Studien zur Verbreitung von Fast-Food-Ketten außerhalb der USA haben zeigen können, dass MCDONALDS durchaus Standards in Restaurants verändert hat, dass die Nutzung des Schnellrestaurants aber an lokale Bedürfnisse angeglichen wird.409 Gesamtgesellschaftliche Wandlungsdynamiken des Austauschs alltagskultureller Konsumgüter (Medien, Fasst-Food, Mode usw.) sind komplex und ihre Einordnung erfordert mehr als die normative Kritik an potenziellen Homogenisierungsszenarien. Neben den Annahmen kultureller Homogenisierung, gehen Vertreter einer kulturellen Heterogenisierung davon aus, dass unter den Bedingungen global dominierender westlicher Massenmedien, Kulturprodukte und Organisationsprinzipien eine Resistenz oder gar Stärkung indigener und partikularer Kulturen aktiviert wird.410 Die meisten dieser Arbeiten beschränken sich auf Abhängigkeiten und Entwicklungen zwischen Systemen, Nationen oder größeren Kulturräumen, die als stabile und 408 Vgl. bspw. Lerner, Daniel (1958): The Passing of Traditional Society. Glencoe: Free Press. 409 Watson, James L. (Hg.) (1998): Golden Arches East. McDonald’s in East Asia. Stanford: Stanford University Press. 410 Vgl. bspw. Barber, Benjamin (2001): Coca-Cola und Heiliger Krieg. Der grundlegende Konflikt unserer Zeit. Bern [u.a.]: Scherz.

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homogene Entitäten gedacht werden. Solche Grenzziehungen bieten dann auch die Hintergrundfolie für Abgrenzung und Partikularisierung. Gerade die Konzeptualisierungen des Medienimperialismus laufen auf eine Gegenüberstellung des »Fremden« und »Eigenen« hinaus, ein Drittes scheint da nicht gegeben. Für beide Sichtweisen gilt, dass sie externe Einflüsse und interne Wandlungsprozesse in ein einseitiges Verhältnis setzen, ohne der Dominanz einzelner Unternehmen und ihrer Produkte eine Untersuchung der tatsächlichen Aufnahme- oder Transformationsmechanismen gegenüberzustellen. Utopische wie dystopische Prognosen eines Kulturwandels durch Massenkommunikation werden hingegen selten der alltagsweltlichen Pluralität in unterschiedlichsten Teilen der Welt gerecht. Vielfach kritisiert wurde daher die eingeschränkte Methodologie dieser Ansätze. Allerdings sind die globalen Ströme des Kapitals und der Warenwelten und selbst die Migrationsströme zwischen Systemen auch weit einfacher zu erfassen als eine potenzielle Globalisierung von Ideen, Bedeutungen, Sinnsystemen und kulturellen Praktiken in den entsprechenden Lebenswelten. Dass eine Bilanzierung hier schwerer fällt, liegt auf der Hand. 2.3.2 Revisionistische Debatten globaler Medienkommunikation In der Folge sind zahlreiche revisionistische Arbeiten entstanden, die eindimensionale Wandlungstheorien durch eine Globalisierung der Medienkommunikation auf mehreren Ebenen in Frage gestellt haben. Erstens stellt sich die Entwicklung der weltweiten Mediensysteme weitaus komplexer dar, als es das Postulat eines globalen Mediensystems erwarten lässt. Auf vielschichtige interne Dynamiken unterschiedlicher Mediensysteme zielen in diesem Zusammenhang die Arbeiten von John Sinclair und seinen Kollegen.411 Die Autoren stellen zwar global wirksame Entwicklungen seit den 1970er Jahren in Rechnung – neue Handelsfreiheiten und Wettbewerbsstrukturen, technologische Innovationen wie die Satellitenübertragung, industrielle Veränderungen durch die Einführung privatwirtschaftlicher Organisationsprinzipien der Medien und damit verbundener Bedarf an Programmmaterial – und erkennen auch an, dass diese zu Veränderungen in globalen audiovisuellen Landschaften geführt haben. Allerdings ist es ihr Verdienst, auf die Überlappungen von globalen, regionalen, nationalen und lokalen Medienräumen hinzuweisen. Neben einem globalen Mediensystem heben sie vor allem die Bedeutung geo-linguistischer Räume und deren Eigendynamiken hervor:412 411 Sinclair, John; Cunningham, Stuart; Jacka, Elisabeth (Hg.) (1996): New Patterns in Global Television. Peripheral Vision. Oxford: Oxford University Press. 412 Ähnlich hat Hafez die große Bedeutung regionaler Medienentwicklungen gegenüber globalen Fernsehangeboten für politische Transformationsprozesse diskutiert: Hafez, Kai (2005): Globalization, Regionalization, and Democratization: The Interaction of

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»The world is divided in a series of regions, each with its own internal dynamic, besides its link to the global scale. […] Although primarily based on geographical realities, these regions are also defined by common cultural, linguistic and historical connections which transcend physical space. […] In this new vision, global, regional, national, and even local circuits of programme exchange overlap and interact in a multi-faceted way, no doubt with a great variety of cultural effects, which are impossible to conceptualize within the more concentric perspective appropriate to previous decades.«413

Entwicklungen verlaufen demnach ebenso entlang nationaler, supranationaler (beispielsweise europäischer oder arabischer) oder auch geo-linguistischer (beispielsweise iberoamerikanischer) Bezugsräume. Auch in asiatischen, arabischen und südamerikanischen Märkten bilden sich Medienzentren aus, entstehen dynamische Entwicklungen und zirkulieren Unterhaltungsangebote quer zu den weltweit verfügbaren US-Angeboten. Populärkulturelle Austauschbeziehungen sind innerhalb von nicht-westlichen Regionen der Welt eine ernstzunehmende Größe. Die Zirkulation von türkischen Fernsehserien in der arabischen Welt, von südkoreanischen Serien in Japan, der Erfolg von lateinamerikanischen Telenovelas in Russland oder indischen Filmen in Nigeria sind dabei nur einige Beispiele, die auf periphere Austauschrouten abseits der westlichen Zentren aufmerksam machen.414 Ähnliche Befunde lassen sich hierzu ergänzend auch für globale Migrationsströme anführen, die von einigen Autoren parallel zu den zirkulierenden Bildern der Medien als Zentrifugalkräfte kultureller Globalisierung angeführt werden.415 Aktuelle Daten deuten darauf hin, dass neben der wachsenden Einwanderung nach Europa und in die USA vor allem intra-regionale Migrationsbewegungen dominieren, so dass die weltweite Migration keine rein transatlantische ist, sondern geo-kulturelle Dynamiken ebenso prägend sind.416 Neben den strukturellen Dynamiken und dem internen Austausch von Medienangeboten in geo-kulturellen Regionen haben sich auch eigenständige regionale Three Paradigms in the Field of Mass Media. In: Hackett, Robert; Zhao, Yuezhi (Hg.): Democratizing Global Media. One World, Many Struggles. Lanham: Rowman and Littlefield, S. 145-163. 413 Sinclair, John; Cunningham, Stuart; Jacka, Elisabeth (Hg.) (1996): New Patterns in Global Television. 414 Vgl. auch Inda, Jonathan; Rosaldo, Renato (2008): Tracking Global Flows. In: Dies. (Hg.): The Anthropology of Globalization. A Reader. 2. Aufl. Malden [u.a.]: Blackwell, S. 3-46. 415 Vgl. bspw. Appadurai, Arjun (1996): Modernity at Large. 416 Vgl. jüngere komparative Darstellungen der Migrationsströme in Abel, Guy; Sander, Nikola (2014): Quantifying Global International Migration Flows. In: Science 343 (6178), S. 1520-1522.

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Entwicklungen wie die »Nollywood«-Filmindustrie in Westafrika – gemessen an der Produktionskapazität immerhin die zweitgrößte Filmindustrie nach Bollywood weltweit – als informelle Ökonomien abseits der westlich dominierten Medienmärkte etablieren können.417 Diese können als Beispiel dafür gelten, dass das »globale Mediensystem« doch bei Weitem exklusiver ist, als es das Attribut kenntlich macht. Die skizzierten Perspektiven helfen, einfache Gegenüberstellungen von Zentren und Peripherien abzulösen beziehungsweise weiter zu differenzieren. Aber nicht nur die Eigendynamik geo-kultureller Medienräumen, auch der Einflussspielraum nationaler Akteure muss zweitens gegenüber der scheinbaren Wirkungsmacht transnationaler Medienkonglomerate beurteilt werden.418 Denn nationale oder internationale Medien- und Kulturpolitik kann, wie das Beispiel Europa zeigt, über Subventionsmaßnahmen, Quotierungen und die gezielte Förderung von Co-Produktionen durchaus die Richtung der Produktionskraft kreativer Industrien mitbestimmen. Nationalstaaten sind, wenn auch unter veränderten Rahmenbedingungen eines globalen Wettbewerbs, nach wie vor wichtige Gatekeeper, indem sie durch wirtschaftliche und politische Regulierungen beispielsweise den Im- und Export von Kulturprodukten beeinflussen können.419 Endogene kulturpolitische Impulse können dann auch exogene regionale Entwicklungen anregen, wie etwa in den späten 1990er Jahren ein staatlich verordnetes Wachstum der Unterhaltungsindustrie in Südkorea zu einer »Koreanischen Welle« in weiten Teilen Asiens führte, wo sich südkoreanische Medien- und Unterhaltungsangebote großer Beliebtheit erfreuten.420 Darüber hinaus argumentiert Straubhaar auf Grundlage seiner Untersuchungen zur lateinamerikanischen Telenovela, wie schon erwähnt wurde, dass nach wie vor das nationale Fernsehen und die Angebote nationaler Märkte der dominante Rahmen für die Fernsehrealität der meisten Zuschauer seien.421 Aus Sicht der Produktion ist auch erneut auf die Möglichkeiten des politischen Drucks auf transnationale Medienkonzerne hinzuweisen, der Grenzen globaler Medienkommunikation aufzeigt. Abhängigkeiten nationaler Fernsehindustrien von internationalen Märkten ist schließlich von je spezifischen innergesellschaftlichen Verhältnissen abhängig, von Konflikten zwischen lokalen und transnational orientierten Eliten der Länder, von unternehmerischen Interessen, von der Werbeindust417 Lobato, Ramon (2010): Creative Industries and Informal Economies. Lessons from Nollywood. In: International Journal of Cultural Studies 13 (4), S. 337-354; Barrot, Pierre (2008): Nollywood. The Video Phenomenon in Nigeria. Oxford: Currey [u.a.]. 418 Hafez, Kai (2005): Mythos Globalisierung. 419 Straubhaar, Joseph (2007): World Television, S. 69. 420 Kim, Youna (2007): The Rising East Asian ›Wave‹: Korean Media Go Global. In: Thussu, Daya Kishan (Hg.): Media on the Move. Global Flow and Contra-Flow. London [u.a.]: Routledge, S. 135-153. 421 Straubhaar, Joseph (2007): World Television.

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rie, von Beziehungen zwischen privaten Medienunternehmen und staatlichen Eliten oder einzelnen Interessen politischer Entscheidungsträger. Straubhaar schlägt in Weiterentwicklung der Dependenztheorie von Johan Galtung vor, von »asymmetrischen Interdependenzbeziehungen« auszugehen, die sich aus den historischen Dynamiken einzelner Staaten und Industrien herleiten und ein multidimensionales Bild von Abhängigkeiten ergeben.422 Demgegenüber sollte bedacht werden, dass auch autoritäre Kräfte in Schwellen- und Entwicklungsländern durch Prozesse des lokalen Framings globaler Nachrichtenstoffe ausländischen Satellitenangeboten nach wie vor ein Gegengewicht verleihen können: Was Hafez hier für den Bereich der Nachrichten- und Auslandsberichterstattung herausarbeitet, kann theoretisch genauso für Unterhaltung gelten.423 Denn auch die Strategen der Unterhaltungsabteilungen entscheiden, welche Sendungen als Import-Material erkennbar bleiben, welche Sendungen adaptiert und welche lokalen Produktionen dem internationalen Angebot entgegengestellt werden. Auch wenn die Entscheidung über Programmplätze von medienökonomischer Profitorientierung dominiert sein mag, obliegt die Unterhaltungsproduktion den redaktionellen Entscheidungen der Sender, die mitunter sehr viel stärker von Binnenstrukturen als von globalen Trends abhängig sein können. Der Wettbewerb um Zuschauerzahlen findet beispielsweise in erster Linie zwischen nationalen und lokalen Sendern statt und ist weniger auf einen globalen Markt hin ausgerichtet. Drittens kann auch die mangelnde Reziprozität medialen Austauschs zumindest zu Teilen differenziert werden, wenn die Zirkulation von Unterhaltungsangeboten nicht westlicher Provenienz genauer untersucht wird. Daya Thussu spricht in diesem Zusammenhang von »contra« beziehungsweise »subalterne flows«,424 die den einseitigen Blick auf westliche Absatzmärkte erweitern. Die lateinamerikanischen Telenovelas, Bollywood-Filme, deren Filmästhetik auch in Filmen westlicher Regisseure aufgenommen wurden (z.B. SLUMDOG MILLIONAIRE, BEND IT LIKE BECKHAM) oder japanische populärkulturelle Angebote wie ANIME oder POKÉMON können als Beispiele einer nicht amerikanischen globalen Popkultur angeführt werden. Allerdings ist es in diesem Zusammenhang wiederum wichtig, kritische Arbeiten zur Kenntnis zu nehmen, die angemerkt haben, dass der weltweite Erfolg nichtwestlicher Angebote in seiner Reichweite beschränkt ist. So sind entsprechenden Studien zufolge Telenovelas in Europa beispielsweise nur ein marginaler Bestand-

422 Straubhaar, Joseph (1991): Beyond Media Imperialism. 423 Hafez, Kai (2000): Medien – Kommunikation – Kultur: Irrwege und Perspektiven der Globalisierungsdebatte. In: Tetzlaff, Rainer (Hg.): Weltkulturen unter Globalisierungsdruck. Erfahrungen und Antworten aus den Kontinenten. Bonn: J.H.W. Dietz, S. 93-117. 424 Thussu, Daya Kishan (2010): Mapping Global Media Flow, S. 221.

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teil des gesamten Programmangebots425 und auch die Bollywood-Begeisterung ist in der westlichen Welt wohl doch eher eine nachrangige Entwicklung innerhalb der Diaspora-Gemeinschaften. Insofern muss immer auch geprüft werden, ob die entsprechenden Beispiele eines contra-flows kurzfristige Modetrends, Nischenphänomene oder nachhaltige Veränderungen lokaler Kulturlandschaften sind. Viertens ist bereits mehrfach auf notwendige Regionalisierungs- und Lokalisierungstendenzen in Produkttransfers hingewiesen worden, die im Kontext dieser Arbeit einen Schwerpunkt bilden. Hier wird also nicht der bloße Im- und Export von Kulturgütern diskutiert, sondern es geht um die Frage, inwieweit Produkte einer Anpassung bedürfen, um in anderen Referenzsystemen erfolgreich zu sein. Beispiele, die unterschiedliche Anpassungsmuster in den Blick nehmen, weisen darauf hin, dass Anpassungsstrategien häufig anscheinend unumgänglich sind, um Produkte in anderen Märkten zu platzieren. So mussten etwa transnationale Medienunternehmen ihre Angebote an regionale Kontexte anpassen, um erfolgreich zu sein. Die Geschichte der Zirkulation einzelner Genres zeigt, dass diese auch lokale Varianten ausbildeten, wie etwa die Telenovela, die ursprünglich auch an US-amerikanische Daily-Soaps erinnerte.426 Die Etablierung von US-amerikanischen Networks in Lateinamerika, von MTV in Europa oder STAR TV in Asien wurde von notwendigen Adaptionsstrategien auf Senderebene begleitet.427 Fernsehformate sind in diesem Sinne ein herausragendes Beispiel für notwendige Lokalisierungsprozesse. Allerdings ist an dieser Stelle der Hinweis von Hafez zu berücksichtigen, dass Globalisierung häufig mit »Modernisierung« verwechselt werde, wenn etwa ignoriert wird, dass die lokale Umsetzung externer Impulse nicht automatisch auch eine potenzielle »Re-Exportierbarkeit« einschließt. Symbolische Mischverhältnisse in kulturindustriellen Produkten sind zwar überall auf der Welt zu beobachten, ihre Ausstrahlung bleibt aber oft lokal begrenzt.428 Um nun die Logik und Wirkung von Lokalisierungsprozessen genauer identifizieren zu können ist es hilfreich, weitere alternative Ansätze zur kulturellen Globalisierung aufzugreifen, die abseits von ma425 Biltereyst, Daniel; Meers, Phillip (2000): The International Telenovela Debate. 426 Straubhaar, Joseph (2007): World Television. 427 Straubhaar, Joseph; Duarte, Liz (2005): Adapting US Transnational Television Channels to a Complex World: From Cultural Imperialism to Localization to Hybridization. In: Chalaby, Jean K. (Hg.): Transnational Television Worldwide. Towards a New Media Order. London: Tauris, S. 216-249; vgl. auch Roe, Keith; Meyer, Gust de (2001): One Planet – One Music? MTV and Globalization. In: Gebesmair, Andreas (Hg.): Global Repertoires. Popular Music Within and Beyond the Transnational Music Industry. Aldershot [u.a.]: Ashgate, S. 33-44; Thussu, Daya Kishan (2005): The Transnationalization of Television: The Indian Experience. In: Chalaby, Jean K. (Hg.): Transnational Television Worldwide. Towards a New Media Order. London: Tauris, S. 156-172. 428 Hafez, Kai (2005): Mythos Globalisierung, S. 226.

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kroanalytischen Interdependenzen eine Theoriebildung auf der Ebene der Mikroanalyse kultureller Globalisierung zulassen. 2.3.3 Alternative Theorieangebote kultureller Globalisierung: »Glokalisierung«, kulturanthropologische Ansätze und Perspektiven der transkulturellen Medienkulturanalyse Im Folgenden werden vor allem drei theoretische Perspektiven skizziert, welche die Debatten um die kulturellen Folgen globaler Entwicklungen befruchtet haben, weil sie der Komplexität kultureller Erscheinungen Rechnung tragen. Ausgangspunkt ist das von Roland Robertson geprägte Theorem der »Glokalisierung«, das der kulturellen Dimension der Globalisierungsdebatte mehr Aufmerksamkeit schenkt und geeignet ist, die Dichotomie kultureller Homogenisierung und Heterogenisierung aufzulösen. Dies ist auch ein Anliegen Arjun Appadurais, den interessiert, wie sich Globalisierung für den Einzelnen gestaltet und aus einer Mikroperspektive theoretisieren lässt. Die Aneignung globaler Medienprodukte ist schließlich auch ein zentraler Ausgangspunkt in Andreas Hepps Ansatz der Medienkulturforschung, der wiederum die Brücke zu Stuart Halls Kommunikationskreislauf schlägt, mit dem die theoretischen Überlegungen begonnen wurden. Zum locus classicus ist der Begriff der »Glokalisierung« inzwischen in der kulturellen Globalisierungsdebatte geworden. Das Theorem ist schließlich mit einer einfachen Formel in den wissenschaftlichen Diskurs eingegangen: Glokalisierung beschreibt die gegenseitige Durchdringung des Globalen und Lokalen und hebt damit die Antipolarität der Begriffe auf. Robertson erklärt damit die Auseinandersetzung um globale Homogenisierung versus Heterogenisierung damit bereits vor etwa zwanzig Jahren für obsolet: »Nicht entweder Homogenisierung oder Heterogenisierung steht zur Debatte, sondern die Art und Weise, in der diese beiden Entwicklungen über weite Strecken des späten 20. Jahrhunderts zu charakteristischen Eigenschaften des modernen Lebens geworden sind. Aus dieser Perspektive entsteht das Problem, die Formen auszubuchstabieren, in denen sich homogenisierende und heterogenisierende Tendenzen wechselseitig durchdringen.«429

429 Robertson, Roland (1998): Glokalisierung: Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit. In: Beck, Ulrich (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 196; vgl. auch Ders. (1995): Glocalization: Time-Space and Homogeneity-Heterogeneity. In: Featherstone, Mike; Lash, Scott; Ders. (Hg.): Global Modernities. London [u.a.]: Sage, S. 25-44. Da es sich um eine exakte Übersetzung der Artikel handelt, wird hier für die bessere Lesbarkeit auf das deutsche Direktzitat zurückgegriffen.

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Damit wendet er sich gegen Vorstellungen, die Globalisierungstendenzen lokale Identität und Kultur gegenüberstellen und das Lokale zum Ort des Widerstands gegen globale Trends erheben.430 Stattdessen argumentiert Robertson, dass das Lokale immer schon auf einer über-lokalen Ebene gestaltet wurde und wird und betont damit eine grundsätzliche Translokalität der gesellschaftlichen Entwicklung, die nicht in der einfachen Vorstellung zu fassen ist, in der auf eine globale Aktion eine lokale Reaktion folge.431 Hier grenzt sich Robertson auch von Giddens’ Globalisierungstheorie ab, in der er eine solche Kausalitätsbeziehung wiedergespiegelt sieht und die er für eine zu starke Betonung der institutionellen Perspektive auf die Ausbreitung der westlichen Moderne kritisiert. Was bei Giddens fehlt, sei eine explizite Anerkennung der Kultur als eigenständige Dimension von Globalisierung: »Yet he fails not merely to display the complexities of contemporary institutions, he almost completely neglects the significance of culture […]«.432 Robertson fordert also, dass wir »viel subtiler mit der Dynamik der Produktion und Reproduktion von Differenz und im weitesten Sinne von Lokalität umgehen« müssen.433 Ein kommunikativer Zusammenschluss von Kulturen sei eben nicht als Homogenisierung zu werten, sondern als eine Form des Verbundenseins im Sinne einer Einheit. Als Beispiele für derartige Zusammenhänge nennt er die weltweit anwachsenden Diskurse des Lokalen, der Gemeinschaft oder der Heimat, die gewissermaßen ein globales Bewusstsein der Produktion von (lokaler) Heimat stiften. Daneben führt er auch die weltweite Ähnlichkeit von Staaten hinsichtlich ihrer Organisation oder globale Regelungen zum Umgang mit Identitäten einheimischer Völker, etwa der Vereinten Nationen, an. Anschaulich wird diese Vorstellung aber auch am Beispiel der Kulturproduzenten, für die Formen der Lokalisierung zur Marketingstrategie werden. Das Lokale existiert jedoch nach Robertson nicht an sich. Produkte werden nicht einfach auf diese Entitäten zugeschnitten, sondern sie werden konstruiert. Es findet somit auch eine »Erfindung von Lokalität«434 statt. So schlussfolgert Robertson, dass wir auf jeden Fall in einer Welt leben, »die die alltägliche Verflechtung des Ökonomischen und des Kulturellen zunehmend anerkennt.«435

430 Robertson, Roland (1998): Glokalisierung, S. 205f. 431 Ebd., S. 195. 432 Robertson, Roland (2000): Globalization. Social Theory and Global Culture. London: Sage, S. 144; vgl. auch Dürrschmidt, Jörg (2006): Roland Robertson: Kultur im Spannungsfeld der Glokalisierung. In: Moebius, Stephan; Quadflieg, Dirk (Hg.): Kultur: Theorien der Gegenwart. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 737. 433 Robertson, Roland (1998): Glokalisierung, S. 199. 434 Ebd., S. 208. 435 Ebd., S. 201.

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Robertson weist dem Kulturellen eine zentrale Bedeutung zu. Allerdings bleibt er letztlich vage, wenn nach einer konkreten Bestimmung des Kulturellen, der Kultur und letztlich auch der Lokalität gefragt wird. Was etwa »kulturelle Botschaften«, eine »globale Kultur« 436 oder eine »kulturelle Idee«437 meint, wird nur angedeutet. Robertson formuliert zwar, dass das Globale und das Lokale in ihrer abstrakten Form das Universale und Partikulare meinen und er fordert eine stärkere Einbeziehung der zeitlichen und räumlichen Dimensionen bei der Theoretisierung dieser Entitäten sowie ihrer wechselseitigen Beziehung. Welche konkreten Phänomene jedoch darunter verstanden werden, bleibt weitestgehend undefiniert. Robertsons Lesart der Zentralität von Kultur zielt vor allem auf eine globale Bewusstseinsdimension, wie in seiner vielzitierten Definition deutlich wird: »Globalization as a concept refers both to the compression of the world and the intensification of consciousness of the world as a whole.«438 Die möglichen Differenzen zwischen faktischen kulturellen Annäherungen und den Prozessen der individuellen wie kollektiven Identitätswahrnehmung werden von Robertson allerdings übergangen.439 Bewusstsein bleibt bei Robertson eine undefinierte Form der Globalität. So kritisiert auch Fredrik Jameson, dass der Autor eher ein utopisches Szenario entwerfe, welches die Spannungsverhältnisse weltweiter Entwicklungen zu wenig anerkennt: »Robertson is intent on offering something like a utopian vision of ›globality‹, of some new global ethic and consciousness in the world today, rather than a structural account of the forms globalization takes in the various realms of the political, the economic, and the cultural.«440 In Robertsons Vorstellungen von Globalität und Glokalisierung sind auch kritische Differenzierungen und Machtverhältnisse in den kulturellen Mischungsszenarien nicht enthalten, die im Kontext von Hybridisierungstheorien diskutiert wurden (vgl. Kapitel 2.2.4). Dennoch ist es durchaus ein Verdienst Robertsons, die Dimension der Bewusstseins- beziehungsweise Sinnhorizonte in die Globalisierungstheorie eingeführt zu haben. Damit schafft er zumindest eine kultursensible Grundlage 436 Ebd., S. 213. 437 Ebd., S. 207. 438 Ebd., S. 8. 439 Hafez hat diese Asymmetrien empfundener und faktischer Kulturdeutungen in Zusammenhang mit der von Huntington angestoßenen Debatte um den Zusammenprall (Clash) der Zivilisationen oder aber auch am Beispiel der deutschen Presseberichterstattung über die Rushdie-Affäre thematisiert, wo identitäre Essenzialisierungen gegenüber differenzierten Beobachtungen »kulturinterner Differenzen und kulturübergreifender Ähnlichkeiten« überwogen. Hafez, Kai (2002b): Die politische Dimension der Auslandsberichterstattung, Bd. 2, S. 255; Ders. (1997): Einleitung: Der Islam und der Westen. 440 Jameson, Fredrik (1999): Preface. In: Ders.; Miyoshi, Masao (Hg.): The Cultures of Globalization. 3. Aufl. Durham: Duke University Press, S. xii.

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für die weiterführende Theoretisierung der mikrotheoretischen, symbolischen Ebene von Globalisierungsdynamiken und wendet sich gegen eine Tradition soziologischer Bewertungen, die hauptsächlich auf makrotheoretische Analysen abzielt.441 Nationalstaaten oder supra-nationale Staatenbünde mögen zwar an sich existieren, sie gewinnen jedoch nur an Bedeutung, wenn sich ein kollektives Bewusstsein ihrer selbst auch in konkreten Handlungen von Individuen äußert. Dürrschmidt konkretisiert diese Vorstellung, indem er meint, dass die Komprimierung der Welt als Ganzes bei Robertson eben gerade nicht als materielle und infrastrukturelle Verknüpfung gedacht sei, sondern es seien bei Robertson die Akteure, die »ihre Existenz und ihr Handeln zunehmend mit Bezug aufeinander und in Bezug auf die Welt als Ganze und auch widersprüchlich interpretieren.«442 Wie sich diese bewusste Bezugnahme allerdings im konkreten Alltagsvollzug äußert, bleibt zu klären. So ist Robertsons Theoriegebäude auch vielfach wegen seines Abstraktionsniveaus kritisiert worden443 und es verwundert kaum, dass das Theorem der »Glokalisierung« in den anschließenden Debatten um kulturelle Globalisierungsprozesse häufig mehr als allgemeine Denkfigur denn als Theoriebasis dient. Auch die vorliegende Arbeit nimmt die Metapher der Glokalisierung zum Ausgangsimpuls – denn dem Untersuchungsgegenstand ist die beschriebene wechselseitige Konstitution des Globalen und Lokalen immanent. Allerdings ist die Herausforderung, sowohl eine genauere Definition des Globalen und Lokalen anzustreben als auch das »Glokale« in seiner konkreten Form zu operationalisieren. Alternative und differenzierte Theorieangebote zum wechselseitigen Verhältnis des Globalen und Lokalen finden sich schließlich auch im Bereich der Kulturanthropologie. Appadurai hat hier ebenfalls einen grundlegenden Beitrag zu einem Aufbrechen der Dichotomie kultureller Homogenisierung und Heterogenisierung geleistet. Er lenkt den Blick insbesondere auf die lokal wirksamen Mikronarrative in Film, Fernsehen und Musik, die den linearen nationalstaatlichen Dynamiken der entwicklungs- und modernisierungstheoretischen Forschung entgegenstehen. 444 Sein Augenmerk verschiebt sich damit hin zur alltäglichen kulturellen Praxis individueller und kollektiver Akteure, was ihm ermöglicht, domestizierte Lebensweisen zu untersuchen. Dabei stellt Appadurai einen Zusammenhang zwischen einer zunehmenden Enträumlichung von Objekten, Personen, Bildern und Diskursen und der »sozialen, räumlichen und kulturellen Entstehung von Gruppenidentitäten« her.445 Er geht davon aus, dass die elektronischen Verbreitungsmöglichkeiten der 441 Robertson, Roland (1998): Glokalisierung, S. 193. 442 Dürrschmidt, Jörg (2006): Roland Robertson, S. 737. 443 Ebd. 444 Appadurai, Arjun (1996): Modernity at Large, S. 9f. 445 Appadurai, Arjun (1998): Globale ethnische Räume. In: Beck, Ulrich (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 11.

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Medien- und Migrationsprozesse als »Zentrifugalkräfte« kultureller Globalisierung einen entscheidenden Einfluss darauf haben, dass die Erfahrungen, die Menschen in ihren lokalen Lebenswelten machen, heute stärker auf deterritorialisierte imaginierte Ressourcen zurückgreifen.446 Immer mehr Menschen generieren also Vorstellungswelten ihres Lebens, die nicht mehr ohne grenzüberschreitende Referenzen auskommen. Diese Imaginationen muss die Ethnologie nach Appadurai folglich auch bei der Analyse lokaler Praktiken berücksichtigen: »[I]magination has become an organized field of social practice, a form of work […] and a form of negotiation between sites of agency (›individuals‹) and globally defined fields of possibility. […] The imagination is now central to all forms of agency, is itself a social fact, and is the key component of the new global order.«447

Appadurai bezieht sich dabei auf Benedict Andersons Idee der »imagined community«448, die von einer Bindungskraft der Großgemeinschaften wie Nationen ausgeht. Appadurai plädiert daher für eine kosmopolitische Ethnographie, die nicht nur dem Lokalen nachgeht, sondern auch das »globale Imaginäre« aufzuspüren versucht.449 Lokale Vorstellungswelten gehen wiederum auf die jeweiligen Wahrnehmungen und Rahmenbedingungen unterschiedlicher Dimensionen globaler kultureller Ordnungen zurück. Diese dimensionale Ordnung der Globalisierung versucht Appadurai mithilfe der Metapher von »Landschaften« zu beschreiben. Demnach treten globale Beziehungen in Form von verschiedenen »flows« in Erscheinung, die Überlagerungen und Disparitäten der Zusammenhänge von Ökonomie, Kultur und Politik hervorbringen:450 Globaler Austausch »occurs in and through the growing disjunctures between ethnoscapes, technoscapes, financescapes, mediascapes, ideoscapes.«451 Ethnoscapes bezeichnet die Dimension demographischer Globalisierung, also der Zirkulation von Personen(-gruppen), beispielsweise von Touristen, Migranten und Flüchtlingen. Unter technoscapes fasst er die Zirkulation von Produktions- und Informationstechnologien und unter financescapes die weltweiten Kapitalströme. Außerdem bezieht er die Bildwelten von Medien sowie ideologische Vorstellungen als relevante Dimensionen mit ein. Mediascapes beziehen sich dabei 446 Appadurai, Arjun (1996): Modernity at Large, S. 52. 447 Appadurai, Arjun (2003): Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy. In: Braziel, Jana; Mannur, Anita (Hg.): Theorizing Diaspora. A Reader. Malden: Blackwell, S. 30. 448 Anderson, Benedict (2006): Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London, New York: Verso. 449 Appadurai, Arjun (1998): Globale ethnische Räume. 450 Appadurai, Arjun (1996): Modernity at Large, S. 33f. 451 Ebd.; Ders. (2003): Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy, S. 35.

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auf die medialen technischen wie inhaltlichen Ressourcen, die den Menschen zur Verfügung stehen. Ideoscapes hingegen sind politische Ideologien beziehungsweise deren Gegenentwürfe, die sowohl von Staaten als auch nicht-staatlichen Bewegungen oder Gruppen getragen werden. Diese Dimensionen sind dann die Grundbausteine für historisch situierte imaginierte Welten und die Herausbildung von Gruppenidentitäten.452 Gerade die lokale Aneignung von Bildern und Vorstellungen, die über nationale und kulturelle Grenzen hinweg verbreitet sind, bleibt für Appadurai dabei ein grundsätzlich gestaltbarer Prozess der lokalen Akteure: »T-shirts, billboards, and graffiti as well as rap music, street dancing, and slum housing all show that images of the media are quickly moved into local repertoires of irony, anger, humor, and resistance. [… And] where there is consumption there is pleasure, and where there is pleasure there is agency.«453

Globalisierung kann in einem solchen Verständnis nicht kulturelle Homogenisierung meinen. Vielmehr entfalten sich globale Prozesse in bereits bestehenden lokalen Kontexten, die selbst politisierte und tradierte Geschichten aufweisen. Appadurai sieht damit in den Akteuren das Potenzial, dominante Vorstellungswelten zu unterwandern und zu transformieren. In dieser Überlegung findet sich auch Halls Frage der Verteilung gesellschaftlicher Deutungshoheit wieder, die hier allerdings auf der Ebene eines globalen Referenzrahmens neu gestellt wird. Das Verhältnis von Kontinuität und Wandel kultureller Globalisierung ist komplex und wird im lokalen Kontext unterschiedlich gestaltet, so dass widersprüchliche Entwicklungen in und innerhalb von geo-kulturellen Räumen entstehen. Der Einbezug lokaler Aneignungsprozesse auf Akteursebene und grundlegender Hybridisierungsprozesse in die Globalisierungstheorie erscheinen hier als notwendige konzeptuelle Ergänzungen für die Analysen globaler Beziehungen auf der Ebene von Mediensystemen.454 Abschließend sollen nun noch jene Perspektiven gewürdigt werden, die ganz dezidiert die Integration von Medienanalyse und Kulturtheorie vorangetrieben haben. Konkret haben die kulturtheoretisch orientierten Globalisierungsansätze vor allem Eingang im Bereich der transkulturellen Kommunikationsforschung gefunden. Hepp zählt zu der Gruppe Wissenschaftler, die die Ansätze der Cultural Studies für die deutsche Medien- und Kommunikationswissenschaft umfassend aufgearbeitet haben und für die Analyse grenzüberschreitender Prozesse der Medienkommunika452 Appadurai, Arjun (1996): Modernity at Large, S. 33f. 453 Ebd., S. 7. 454 Theoretisch haben die bereits diskutierten Cultural Studies und postkoloniale Denktraditionen dazu beigetragen, die Dimension lokaler Aneignung und Hybridisierung in globalisierungstheoretische Fragestellungen einzubeziehen.

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tion nutzbar zu machen suchen.455 Hepp erachtet in Auseinandersetzung mit den Cultural Studies sogar eine kulturtheoretische Fundierung des Faches als unumgänglich.456 In seinen Theoretisierungen versucht er insbesondere die Konzepte der »Translokalität« und »Transkulturalität« sowie der »Deterritorialisierung« für die Medienanalyse457 fruchtbar zu machen. Translokalität ist dabei die zentrale Analysekategorie, mit der er aktuelle Medienkulturen fasst. Der Begriff soll beschreiben, dass sich die Bedeutungsproduktion heute nach wie vor in lokalen Zusammenhängen vollzieht, wobei zahlreiche Konnektivitäten dazu führen, dass diese Zusammenhänge durch mediatisierte quasi-Interaktion zunehmend über das Lokale hinaus verweisen. Medienkulturen sind nach Hepp also vor allem »translokale Phänomene«.458 Die Grundlage für seine Überlegungen liefert die Vorstellung eines Kreislaufs der Medienkultur, den er im Anschluss an Hall, Johnson und du Gay entwickelt. Medienkultur vermittelt sich demnach durch die drei Artikulationsebenen der Produktion (Hervorbringung von Medienprodukten), Repräsentation (Darstellung von Medienkultur in Kulturprodukten) und Aneignung (das aktive Sich-Zu-Eigen-Machen).459 Diese Artikulationen werden von Regulierungsvorgängen und Identifikationsprozessen begleitet. Beschreibbar werden Medienkulturen über »Verdichtungen von Kommunikationsprozessen«.460 Mit Verdichtung meint Hepp eine Menge an kulturellen Mustern, die in bestimmten sozialen Gebilden, von Fankulturen bis hin zu Nationen in Erscheinung treten, was wiederum bedeutet, dass sich verschiedene Medienkulturen überlagern können.461 Medienkulturen sind darüber hinaus deterritorial, weil ihre Bedeutungsmuster und Klassifikationssysteme eben nicht an Terri455 Hepp, Andreas (2010): Cultural Studies und Medienanalyse; vgl. auch Ders.; Winter, Rainer (Hg.) (2008): Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse. 4. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; Ders.; Krotz, Friedrich; Thomas, Tanja (Hg.) (2009): Schlüsselwerke der Cultural Studies; Ders. et al. (Hg.) (2006): Konnektivität, Netzwerk und Fluss. Konzepte gegenwärtiger Medien-, Kommunikations- und Kulturtheorie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 456 Hepp, Andreas (2008): Kulturtheorie in der Kommunikations- und Medienwissenschaft. 457 Der Medienbegriff bezieht sich bei Hepp auf die technischen Kommunikationsmedien, durch die bedeutsame Inhalte zirkulieren. Er verortet sich selbst in einer sozialkonstruktivistischen Tradition. 458 Hepp, Andreas (2008): Kulturtheorie in der Kommunikations- und Medienwissenschaft, S. 114. 459 Hepp, Andreas (2004): Netzwerke der Medien, S. 186ff.; vgl. auch Ders. (2008): Kulturtheorie in der Kommunikations- und Medienwissenschaft; Ders. (2009): Richard Johnson; Ders. (2010): Medienkultur kritisch erforschen. 460 Hepp, Andreas (2010): Medienkultur kritisch erforschen, S. 235. 461 Hepp, Andreas (2011): Medienkultur, S. 73.

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torien gekoppelt sind und sie damit potenziell transkulturelle Verbindungen stiften. Diese Konzeptualisierung ist als Hepps Versuch zu werten, eine kritische Medienanalyse abseits von »Container-Vorstellungen« zu ermöglichen und den Blick für die vielen translokalen Konnektivitäten des Alltags zu schärfen. Denn weder eine vermeintliche Nationalkultur noch das Mediensystem sind identisch mit Medienkultur.462 Charakterisieren lassen sich nach Hepp Medienkulturen weiterhin dadurch, dass sie Kulturen »umfassend mediatisierter Welten« sind; es sind diejenigen Kulturen, »deren primäre Bedeutungsressourcen mittels technischer Kommunikationsmedien vermittelt werden und die durch diese Prozesse auf unterschiedliche, je zu bestimmende Weisen ›geprägt‹ werden«.463 Damit schließt Hepp an Krotz’ Konzept der »Mediatisierung« an, das eine Wandlungsdimension moderner Gesellschaften beschreibt, deren soziale und kulturelle Ordnungen zunehmend von Medienkommunikation durchdrungen sind. Gemäß dieser Argumentation Hepps sind Kulturen jenseits der Medien nur noch schwer denkbar: »Entsprechend sind Medienkulturen nicht einfach Kulturen, die durch Mediatisierung im Sinne einer zunehmenden quantitativen Verbreitung und qualitativen Prägung von Kultur durch Prozesse der Medienkommunikation gekennzeichnet sind. Zusätzlich kann man sagen, dass beides in Medienkulturen so weit geht, dass in ihnen ›die Medien‹ als diejenigen Instanzen konstruiert werden, deren Bedeutungsressourcen als primär gelten – kurz: das Zentrum (mit-) bilde.«464

Undeutlich bleibt jedoch, wie sich Medienkulturen von »anderen Kulturen« abgrenzen, da Hepp in seiner Definition von Medienkultur diese mit dem Begriff der Kultur selbst definiert. Damit ist nicht klar, in welchem Verhältnis nicht-mediatisierte Kulturen und Medienkulturen zueinander stehen, ob sie getrennt oder quer zueinander existieren können. Subkulturelle Gruppen und Gemeinschaften mögen beispielsweise durch mediatisierte Konnektivitäten transkulturelle Prägung besitzen, sie konstituieren sich aber möglicherweise vor allem durch den regelmäßigen privaten Kontakt in nicht-mediatisierten Encounter-Öffentlichkeiten, wobei die Rolle der primären Bedeutungsressourcen der Medien in der alltagweltlichen Bedeutungsproduktion zu klären bliebe.

462 Vgl. auch die Forderung nach transkultureller Medienforschung in Hepp, Andreas; Couldray, Nick (2009): What Should Comparative Media Research Be Comparing? Towards a Transcultural Approach to ›Media Cultures‹. In: Thussu, Daya Kishan (Hg.): Internationalizing Media Studies. London [u.a.]: Routledge, S. 32-47. 463 Hepp, Andreas (2011): Medienkultur, S. 64. 464 Ebd.

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Hier deuten sich in Hepps umfangreichem Analyse- und Begriffsapparat mögliche Probleme einer Operationalisierung an. Es werden zwar wichtige Perspektiven geschärft, eine kohärente Kommunikationstheorie, die die vielgestaltigen Kommunikationsbeziehungen systematisiert, wird aber nicht angeboten. Auf Varianzen kommunikativer Handlungen wird vor dem Hintegrund eines grundlegenden Wandels der Medienkommunikation zwar verwiesen, die eingenommene Perspektive fokussiert aber vor allem auf symbolische Interaktionsprozesse von Gruppen und Gemeinschaften. Wie sich die translokalen Medienkulturen aber zu größeren sozialen Einheiten wie Gesellschaften verhalten, wird nicht umfangreich erklärt. An dieser Stelle wäre eine Erweiterung durch öffentlichkeitstheoretische Ansätze denkbar. Denn die kommunikative Verarbeitung mediatisierter Sinnangebote kann auf der Encounter-Ebene andere Gestalt annehmen als in der Medienöffentlichkeit. Es wäre dann zu fragen, in welchem Verhältnis kommunikative Konnektivitäten in kleinen Lebenswelten zu den Kommunikationsbeziehungen von Gesellschaften stehen. Auch der Zusammenhang zwischen der Mediatisierung von Medienkulturen und globaler Medienkommunikation ist eher allgemein modelliert. Wenn Hepp konstatiert, dass die »heutigen Medienkulturen gerade aufgrund ihrer Mediatisierung durch eine Globalisierung der Medienkommunikation gekennzeichnet«465 sind, dann setzt dies eine Globalisierung von Medienkommunikation bereits voraus. Anzuzweifeln ist allerdings, ob diese »weltweite Zunahme von Kommunikationsbeziehung [Herv. i.O.]« beziehungsweise die weltweit »gesteigerte, kommunikative Konnektivität«, wie Hepp die Globalisierung von Medienkommunikation definiert466, für unterschiedliche Sozialbeziehungen gleichermaßen gilt. Gerade am Beispiel politischer Diskursgemeinschaften zeigt sich etwa eine mangelnde Verbindung nationaler Öffentlichkeiten. Die globale, selbst die europäische Öffentlichkeit bleibt angesichts einer nach wie vor dominierenden lokalen Themenverarbeitung und einer mangelnden grenzüberschreitenden Dialogfähigkeit eher Mythos denn Realität.467 Nicht zuletzt ist auch das Konzept der »Kulturen mediatisierter Welten« selbst an Beobachtungen einer Nahwelt gebunden. Denn Hepp gesteht zu, dass Aussagen über generelle Wandlungsprozesse »zumindest für die letzten Jahrzehnte in Europa«468 Geltung besitzen, was bereits indirekt die Frage nach der Veränderung von Kommunikationsbeziehungen jenseits Europas enthält. Hepps Arbeiten liefern aber abseits offener Fragen wichtige Anregungen für die vorliegende Analyse, da sie die Komplexität grenzüberschreitender Phänomene deutlich machen und den Fokus auf transkulturelle Muster im Lokalen legen:

465 Ebd., S. 67. 466 Hepp, Andreas (2004): Netzwerke der Medien, S. 129. 467 Vgl. bspw. Hafez, Kai (2005): Mythos Globalisierung. 468 Ebd., S. 63.

168 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ? »So sind es die elektronischen Medien (Film, Radio, Fernsehen und Internet) gewesen, durch die Bedeutungsproduktion zumindest teilweise von Territorialität entkoppelt wurde. Mit ihnen ist es möglich, einzelne Medienprodukte als Ressourcen oder Materialien der Generierung von Bedeutung an einer Lokalität zu produzieren, während diese Inhalte über komplexe Distributionsprozesse an gänzlich anderen Lokalitäten repräsentiert und angeeignet werden können.«469

Unterhaltung ist gerade im oben genannten Sinn ein »Kernbereich medialer Globalisierung«470. Fernsehformate liefern in diesem Verständnis grenzüberschreitend Rohstoffe für die lokale Bedeutungsproduktion. Die Grundüberlegung der transkulturellen Medienanalyse ist daher ein geeigneter Ausgangspunkt für die Untersuchung des komplexen Kreislaufs der Produktion, Distribution und Aneignung von Formaten, die noch dazu rekodiert werden. Die folgende Untersuchung versucht schließlich, diesen Kreislauf exemplarisch empirisch einzufangen. Bevor jedoch das konkrete Analysedesign vorgestellt wird, sollen im Folgenden die Theoriebausteine zusammengefasst werden.

2.4 T HEORIEMATRIX : G RENZÜBERSCHREITENDE U NTERHALTUNGSKOMMUNIKATION AM B EISPIEL VON F ERNSEHFORMATEN Aus den bisher angestellten theoretischen Überlegungen lassen sich die folgenden theoretischen Bausteine formulieren, die die Grundlage für die anwendungsorientierte Theoriematrix bilden, auf der die Studie aufbaut: 1. Der grenzüberschreitende Transfer von Fernsehformaten beinhaltet eine Adaptionsleistung im Rahmen vereinbarter kreativer Freiheiten, die dazu geeignet ist, sowohl televisuelle als auch inhaltliche Veränderungen am ursprünglichen Fernsehformat vorzunehmen und dieses für die Rezeption in den jeweiligen lokalen Referenzsystemen anschlussfähig zu machen (vgl. Kapitel 1). Die Adaptionsleistungen sind im Rückgriff auf Halls Kommunikationsmodell als UmKodierungen der lokalen Produzenten zu verstehen. Diese Kulturdeutungen wiederum vollziehen sich im Kontext von organisatorischen Routinen und Ressourcen (Funktionsrolle der Produzenten) sowie von individuellen und soziokulturellen Dispositionen der Produzenten (Persönlichkeit der Produzenten).

469 Hepp, Andreas (2008): Kulturtheorie in der Kommunikations- und Medienwissenschaft, S. 127. 470 Hafez, Kai (2005): Mythos Globalisierung, S. 115ff.

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Der Reproduktion eines Formats liegt dementsprechend immer eine interkulturelle Übersetzungsleistung durch die Produzenten zugrunde, die die Sendung als mediales Ereignis eines anderen Referenzsystems entdecken, deuten und adaptierten (vgl. Kapitel 2.1.2). 2. Es wurde weiterhin herausgearbeitet, dass die Produktion von Nachrichten und die Produktion von Unterhaltung unterschiedlichen Modi der Produktion folgt, die sich vor allem in der Art und Weise der Referenzierung auf gesellschaftlich respektive kulturell verfügbare Ressourcen illustrieren lässt (vgl. Kapitel 2.1.1). Während über die Nachricht gesellschaftliche Ereignisse in einem rekreativen Modus in bedeutungsvolle Texte übertragen werden, verarbeitet die Unterhaltungssendung in einem kreativen Modus unterschiedlichste Diskurse, Personen, Narrationen und Spielpraktiken, die Bestandteile des gesellschaftlichen Referenzsystems sind, zu einem »neuen« Text. Indem Unterhaltungssendungen im Rahmen lokaler Deutungsmuster Ereignisse der Fernsehrealität kreieren, werden sie wiederum selbst zur bedeutungsvollen Ressource in dem betreffenden lokalen Referenzsystem. Dieser Vorgang kann als rekursiver Prozess der Bedeutungsproduktion verstanden werden, womit erneut im Anschluss an Hall gemeint ist, dass sich die Bedeutungsproduktion im Fernsehprogramm und die ununterbrochene gesellschaftliche Bedeutungsproduktion wechselseitig durchdringen und immer aufeinander bezogen sind. Aus dieser Konzeption lässt sich auch die grundlegende gesellschaftliche Bedeutung von Fernsehangeboten ableiten, die eine zentrale Ressource gesellschaftlicher Bedeutungsproduktion sind, indem sie Themen unterschiedlichster gesellschaftlicher Akteure aufnehmen und/oder herstellen, öffentlich machen und somit kollektive Anschlussdiskurse ermöglichen (vgl. Kapitel 2.2.2). Anders als bei einem ursprünglichen Format, wird das mediale Ereignis beziehungsweise der mediale Text bei der Formatadaption jedoch nicht allein durch die lokale Produktion kreiert. Vielmehr wird das Ereignis an sich im interkulturellen Transfer reproduziert, nur die lokale Variante wird im Rahmen der interkulturellen Übersetzung im oben beschriebenen Sinn kreiert. 3. Die Bedeutung der unterschiedlichen medialen Angebote/Texte wird also nicht allein durch die (De-)Kodierung im Produktionsprozess hergestellt, sondern ebenso durch die aktiven Rezeptions- und Interpretationsleistungen der lokalen Rezipienten, die sich die Medienangebote vor dem Hintergrund ihrer individuellen und sozialen Dispositionen (kulturelle Identität, kulturelles Kapital, Lebensweltkontext) aneignen (vgl. Kapitel 2.1.3). Das Genre der Medientexte hat dabei zunächst keinen generellen Einfluss auf die Bedeutungsgebung. Es wird, wie oben bereits beschrieben, davon ausgegangen, dass alle medialen Texte Grundlage (alltags-)kultureller Verständigungsprozesse sind. Dabei kann es je-

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doch zu unterschiedlichen Graden der Symmetrie und Asymmetrie zwischen Produzenten- und Rezipientenlesarten kommen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die kulturelle Nähe zwischen Produzenten/Texten und Rezipienten einen Einfluss auf die Symmetriebeziehung der Deutungen hat. Diese kann wiederum auf unterschiedlichen Variablen eines gemeinsamen Erfahrungshintergrunds (beispielsweise Genrekenntnis, Sprachkenntnis oder Lebensstilvariablen) von Rezipienten und Produzenten beruhen (vgl. Kapitel 2.2.5). Die bloße gemeinsame Verortung in einem gesellschaftlichen Referenzsystem kann diese kulturelle Nähe jedoch nicht allein erklären, da theoretisch Symmetriebeziehungen zwischen Produzenten/Texten und Rezipienten unterschiedlicher gesellschaftlicher Referenzsysteme (beispielsweise bei transkulturellen Fankulturen) und Asymmetriebeziehungen zwischen Produzenten/Texten und Rezipienten gleicher gesellschaftlicher Referenzsysteme (beispielsweise bei Generationsunterschieden der Mediennutzung) auftreten können. 4. Diese konzeptuellen Überlegungen führen schließlich zu der zentralen kulturtheoretischen Fundierung der Arbeit, die Kulturen nicht mit statischen, homogenen Nationalkulturen gleichsetzt, sondern vielmehr vielfältige kollektive Identitätsbildungsprozesse anerkennt, die entlang von makro- wie auch mikrokulturellen Entitäten (Gesellschaften, Gemeinschaften, Gruppen) verlaufen und die sich theoretisch überlagern. Das hier zugrunde liegende Kulturverständnis macht also nicht stabile mentale Sinnsysteme von Großgruppen zum Angelpunkt der Bestimmung von Kultur, sondern es wird in der Tradition der neueren Kulturtheorie davon ausgegangen, dass sich Kultur in den alltäglichen und außeralltäglichen wissensabhängigen Praktiken organisierter und individueller Akteure (re-)konstituiert (vgl. Kapitel 2.2.1). 5. Die kulturelle Bedeutung von Formatversionen ist dementsprechend nicht allein in den Medienangeboten selbst hinterlegt und daraus ableitbar, sondern sie wird durch die Produktions- und Rezeptionspraktiken aktiv vermittelt. Formatversionen sind demnach immer zu Teilen bedeutungsoffen und bekommen erst im Prozess der Rezeption und Aneignung durch verschiedene gesellschaftliche Akteure Bedeutung zugewiesen. Dieser Vorgang ist wiederum nicht mit einer Beliebigkeit von Deutungsmöglichkeiten zu verwechseln. Denn es ist zu berücksichtigen, dass die wissensabhängigen Produktions- und Rezeptionspraktiken durchaus auch Mechanismen der dynamischen gesellschaftlichen Aushandlung von Deutungshoheit unterliegen. Es muss also gleichzeitig bedacht werden, dass innerhalb gesellschaftlicher Referenzsysteme bestimmte Erfahrungszusammenhänge der Akteure existieren und gesellschaftliche Wissensbestände tradiert werden, wodurch spezifische lokale Diskurskulturen hervorgebracht werden können. Nur sind diese Traditionslinien kultureller Deutungsmuster weit fragi-

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ler und deutlich unabhängiger von territorialen, historischen oder politischen Ordnungssystemen als es essenzialistische Kulturvorstellungen glauben machen. Hinzu kommt, dass durch die gewachsenen Möglichkeiten von sozialer, räumlicher und virtueller Mobilität sowie durch den Austausch von Gütern und Zeichensystemen insbesondere in der mediatisierten (Massen-)Kommunikation davon auszugehen ist, dass Gegenwartsgesellschaften ebenso wie kulturelle Gemeinschaften von einem hybriden und dynamischen Charakter gekennzeichnet sind und transkulturelle Muster von Praktiken und Deutungen entstehen (vgl. Kapitel 2.2.3 und 2.2.4 sowie 2.3.3). Der Transfer von Fernsehformaten vollzieht sich demnach nicht zwischen zwei geschlossenen Einheiten, sondern die Praktiken der lokalen Akteure sind möglicherweise bereits von transkulturellen Mustern geprägt. Gleichwohl ist der Transfer der Fernsehformate insofern national zu nennen, als dass er auf Produktionsebene meistens von national oder regional organisierten Mediensystemen und auf der Rezeptionsebene von sprachlich getrennten, ebenfalls zumeist nationalstaatlichen Öffentlichkeiten beeinflusst wird. 6. Um die konkrete Reproduktion beziehungsweise Adaption von Unterhaltungsformaten zu theoretisieren, wurde außerdem auf Hybridisierungstheorien zurückgegriffen. Unter Einbezug der dort angestellten Überlegungen (vgl. Kapitel 2.2.4) folgt der Adaptionsprozess von Fernsehformaten unterschiedlichen Hybridisierungsprozessen: Einerseits ist von einer intentionalen Hybridisierung im kreativen Produktionsprozess auszugehen, der aber andererseits auf kulturelle Identitäten der Rezipienten trifft, die von nicht-intentionalen kulturellen beziehungsweise identitären Hybridisierungsprozessen geprägt sind. Beide Formen der Hybridisierung sind wiederum nicht mit harmonischen Mischungsverhältnissen zu verwechseln, da bei der Analyse und Bewertung von hybriden Praktiken immer auch potenzielle Ungleichgewichte zu berücksichtigen sind. Zu fragen ist dann beispielsweise, welche Akteure in welchem Umfang Einfluss auf intentionale Hybridisierung haben und unter welchen Rahmenbedingungen nicht-intentionale Hybridisierung erfolgen. So können Hybridisierungsprozesse letztlich auf einem Kontinuum zwischen kultureller Assimilation (beispielswiese Übernahme von Darstellungs- und Handlungskonventionen) oder Reproduktion (beispielsweise Rückbesinnung auf traditionelle Wissensordnungen) verlaufen. Theoretisch können Formatversionen also transkulturelle Elemente auf der Ebene ihrer Produktion oder Rezeption wie auch auf Textebene enthalten; die Mischungsverhältnisse intentionaler Hybridisierung und das Verhältnis von Übernahme, Umdeutung oder Rückbezug innerhalb nicht-intentionaler Hybridisierungsprozesse muss aber in verschiedenen lokalen Adaptionskontexten keineswegs synchron verlaufen.

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7. Eine solche kulturtheoretische Argumentation hilft schließlich, Annahmen über den Zusammenhang kultureller Entwicklung und Phänomenen der Medienglobalisierung, insbesondere auf einer mikroanalytischen Ebene, zu differenzieren (vgl. Kapitel 2.3). Die Medienglobalisierung hat sich bereits dort als Mythos erwiesen, wo ihr homogenisierende und weltweite Integrationswirkungen attestiert wurden. Ebenso erscheint aber auch die Vorstellung ungebrochener lokaler Kulturtraditionen fraglich, insbesondere wenn man die weltweite Diffusion bestimmter jugend-, alltags- oder hochkultureller Praktiken beobachtet. Im Theorem der »Glokalisierung« wurde daher versucht, den Antagonismus von Globalisierung und Lokalisierung aufzulösen (vgl. Kapitel 2.3.3.1). Dies geschieht jedoch zugunsten einer undifferenzierten Vorstellung von Mischverhältnissen. Wenn aber Globalisierung als eine Form des weltweiten Auftretens transkultureller Produktions- oder Rezeptionspraktiken verstanden wird (denn andernfalls würde sie sich nicht von einer weltweiten Assimilation unterscheiden), dann wird schnell klar, dass die aufgrund von Hybridisierungsprozessen entstandene Transkulturalität von Produkten oder Praktiken in unterschiedlichen lokalen Kontexten nie identisch sein kann. Insofern ist es der Kern des globalisierungstheoretischen Interesses am grenzüberschreitenden Transfer von Fernsehformaten, herauszufinden, auf welchen Ebenen und in welchem Ausmaß weltweit anschlussfähige transkulturelle Muster durch die Zirkulation und Übersetzung von Bedeutung entstehen. 8. Konzeptuell ist dann das Wandlungspotenzial grenzüberschreitender Unterhaltung auf zwei Ebenen zu suchen. Erstens liegt dem Transfer von Fernsehformaten ein interkulturelles Wandlungspotenzial zugrunde, da sich die lokale Rezeption nicht direkt auf den Ursprungstext zurückbezieht, sondern auf eine bereits übersetzte, hybride Variante desselben. Zweitens beinhaltet der Transfer von Fernsehformaten ein transkulturelles Wandlungspotenzial, da wiederum die Produktvarianten in unterschiedlichen Referenzsystemen reproduziert und adaptiert werden und dementsprechend zu einer Vervielfältigung bestimmter televisueller und/oder kultureller Codes beitragen können. Diese transkulturellen Muster gilt es, wie oben beschrieben, empirisch zu identifizieren. Die Theoriebausteine werden im folgenden Modell des grenzüberschreitenden Transfers von Fernsehformaten visualisiert, das sich an Halls Kommunikationskreislauf orientiert. Dieser Kreislauf wird hier vervielfältigt, da Produktion und Rezeption von Fernsehformaten in unterschiedlichen gesellschaftlichen Referenzsystemen verortet sind.

Quelle: Eigene Darstellung

Dekodierung

Rezeption

Dekodierung

fortlaufende kulturelle Hybridisierungsprozesse

gesellschaftliches/kulturelles Referenzsystem U

Kodierung

Produktion

Kodierung

Ursprungsformat U

Mediensystem U

fortlaufende kulturelle Hybridisierungsprozesse

1.) lokale Produktion: transkulturelle Koorientierung

Rezeption Dekodierung

Produktion Kodierung

3.) lokale Rezeption: nicht-intentionale Hybridisierung

gesellschaftliches/kulturelles Referenzsystem B

Dekodierung

Rezeption

Produktion Kodierung

Dekodierung

Kodierung

Formatadaption B

Mediensystem B

2.) lokale Adaption: intentionale Hybridisierung

gesellschaftliches/kulturelles Referenzsystem A

Dekodierung

Kodierung

Formatadaption A

Mediensystem A

4.) interkulturelles Wandlungspotenzial

5.) transkulturelles Wandlungspotenzial

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Abbildung 9: Modell der grenzüberschreitenden Unterhaltungskommunikation fortlaufende kulturelle Hybridisierungsprozesse

3. Analysedesign

Wie in der theoretischen Grundlegung der Arbeit gezeigt wurde, liegt die Herausforderung transkultureller Kommunikationsforschung in der Kontextualisierung des Verhältnisses zwischen Medientext, dessen Produktionsbedingungen und den Lesarten der Rezipienten, die ihrerseits Teil eines bestimmten gesellschaftlichen Referenzsystems sind. Das Analysedesign zur Untersuchung von Fernsehformaten erfasst daher die drei Untersuchungsbereiche Medienangebot, Produktion und Rezeption. Die grenzüberschreitende Zirkulation der Bedeutung einer formatierten Unterhaltungssendung lässt sich jedoch nicht isoliert durch diesen grundlegenden Kreislauf analysieren, sondern sie bedarf zusätzlich eines Vergleichs der unterschiedlichen Fernsehlandschaften und Referenzsysteme, in denen die Formate adaptiert wurden. Denn erst die Analyse kultureller Referenzen in den Veränderungen der Texte, in den Bedeutungszuweisungen der Produzenten und Rezipienten macht Muster transkultureller Unterhaltungskommunikation sichtbar. Zu Beginn werden die Formatversionen einer inhaltsanalytischen Untersuchung unterzogen. Dabei ist es das Ziel, die ästhetische und inhaltliche Beschaffenheit der Formatadaptionen mit dem Anspruch intersubjektiver Nachvollziehbarkeit zu identifizieren. Dieser systematischen Analyse der Texte werden dann Ergebnisse einer explorativen Rezeptionsstudie in den beiden Vergleichskontexten gegenübergestellt, in denen vor allem die Muster kollektiver Interpretationen interessieren. Die Anschlusskommunikation ausgewählter Rezipienten in Deutschland und Ägypten erlaubt es, die wissenschaftliche Lesart der Forscherin um eine alltägliche Lesart lokaler Akteure zu ergänzen. Dabei dienen die Interpretationen der Zuschauergruppen nicht zur Prüfung oder Validierung inhaltsanalytischer Ergebnisse. Das heißt, dass die Inhaltsanalyse nicht der Ausgangspunkt für die Gruppendiskussionen ist. Sie liefert Erkenntnisse über die inhaltliche Dimension, nicht jedoch über die gesellschaftliche Sinngebung. Letztere lässt sich nur durch Anschlussdiskurse lokaler Rezeption interpretieren. Der dritte Untersuchungsschritt ist schließlich die Rekonstruktion der lokalen Produktionszusammenhänge, der sich analytisch in eine Akteurs- und eine Institutionsebene trennen lässt. Lesarten und Interpretationen von

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verantwortlichen Fernsehmachern werden die Formatanalyse ergänzen und Aufschluss darüber geben, welche Konventionen der Unterhaltungsproduktion und welche individuellen Deutungen zur Kodierung der Formate beigetragen haben. Eingebettet werden diese drei Untersuchungsschritte in eine Kontextanalyse der betreffenden Medienlandschaften, die gesellschaftliche Tiefenstrukturen und Rahmenbedingungen an gegebener Stelle in der Interpretation berücksichtigt. Dazu zählen etwa öffentliche Diskurse, politische Regulierungssysteme und Charakteristika der sozialen Strukturen und kulturellen Traditionen der gesellschaftlichen Referenzsysteme. Aus diesen Überlegungen wird ersichtlich, dass der Analyse ein sozialtheoretisches Mehrebenenmodell zugrunde liegt. Es werden sowohl makroanalytische Einflussgrößen des gesellschaftlichen und mediensystemischen Kontextes in die Analyse einbezogen (Produktions- und Rezeptionsbedingungen), als auch Strukturen und Handlungen der organisierten Akteure (Produktionsstudios, Sender) wie auch der individuellen Akteure (Rezipienten, Produzenten). Zum methodischen Design und Vorgehen werden die folgenden Kapitel detaillierten Aufschluss geben. Im Anschluss daran werden die Entscheidungen für die Fallbeispiele nachvollziehbar erläutert. Zunächst wird dargelegt, warum die beiden Formate WHO WANTS TO BE A MILLIONAIRE und GOT TALENT für die Fallanalyse ausgewählt wurden und nach welchen Kriterien sich die Entscheidung gerichtet hat. Anschließend wird erklärt, warum ein deutsch-ägyptischer Vergleich beziehungsweise ein deutsch-arabischer Vergleich angestrebt wurde. Zur Orientierung wird der theoretische und empirische Forschungsaufbau der Arbeit im Modell zusammengeführt und der Darstellung vorangestellt:

Quelle: Eigene Darstellung

Analysemodell:

Erkenntnisinteresse:

Methode:

Empirische Analyseebenen:

Produktionsstrukturen/-routinen d. Produktionsunternehmen, Deutungen lokaler Programmacher

televisuelle Konventionen, Inhalte und symbolische Repertoires lokaler Formatadaptionen

Rezeption U Reproduktion B

Kommunikationskreislauf B

Kommunikationskreislauf A

Reproduktion A

Rezeption B

Rezeption A

Lokales gesell. Referenzsystem B

Lokales Mediensystem B

Formatadaption B

Formatadaption A

Lokales Mediensystem A

KommunikaUrsprungstionskreislauf U Format

Produktion U

Lokales Mediensystem U

transkulturelles Wandlungspotential

Lokales gesell. Referenzsystem A

interkulturelles Wandlungspotential

Gruppendiskussionsverfahren

Experteninterviews

Inhaltsanalyse kollektive Interpretationsmuster, Wissens- und Deutungsrahmen lokaler Rezipienten

Medienrezeption/ Dekodierung

Medienproduktion/ De-/Re-Kodierung

Medieninhalte

Gesellschaftliche Strukturen (ökonomische, linguistische, politische, religiöse, soziale) und deren Einfluss auf das Mediensystem und Marktstrukturen kulturelle Tiefenstrukturen Zeitgeists/Moden Öffentliche Diskurse

Organisierte Akteure technische und institutionelle Infrastruktur Regelungen Konventionen Wertorientierungen



• •

Individuelle Akteure Diskursive Praktiken, Wertorientierungen Sozial-kultureller Hintergrund/ Erfahrungshintergrund

Mikroebene:

• • •

• •

Mesoebene:

• • •



Makroebene:

Kontextanalyse

 Beschaffenheit globaler bzw. transkultureller Unterhaltungskommunikation?

 Zeichen- und Bedeutungstransfer in Formatadaptionen sowie deren Rezeption und Produktion

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Abbildung 10: Analysedesign

Potenziell globales bzw. transkulturelles Referenzsystem

Lokales gesell. Referenzsystem U

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3.1 M ETHODISCHE G RUNDLAGEN , V ORGEHEN UND F ELDZUGANG Der methodische Zugang der vorliegenden Formatanalyse orientiert sich grundlegend an den Postulaten der qualitativen Sozialforschung.471 Das komparative Verfahren und die Triangulation472 von Datenquellen, Methoden und Untersuchungsperspektiven auf das Phänomen transkultureller Unterhaltungskommunikation ist im Zusammenhang kommunikationswissenschaftlicher Arbeiten innovativ; 473 die Arbeit erhebt einen explorativen Anspruch. Die Entscheidung für qualitative Erhebungs- und Auswertungsverfahren leitet sich aus diesem explorativen Erkenntnisinteresse ab, das nicht auf die Prüfung theoretischer Hypothesen abzielt, sondern auf theoriegenerierende empirische Rekonstruktionen und Interpretationen des komplexen Vorgangs grenzüberschreitender Bedeutungsvermittlung. Es stehen also kollektive Handlungs- und Deutungsmuster im Zentrum, denen mit einer Offenheit im Forschungsprozess begegnet werden soll.474 Ein besonderer Wert wird auf die Subjektorientierung gelegt. Die (trans-) kulturelle Bedeutung formatierter Fernsehunterhaltung wird also nicht nur auf der Grundlage der Formatvarianten analysiert, sondern auch mithilfe der Interpretationen, die lokale Produzenten und Rezipienten selbst herstellen. Insofern liefern die selbst entwickelten Aussagen und Darstellungen der Akteure eine entscheidende Datengrundlage für die Analyse des untersuchten Bedeutungstransfers. Das heißt, 471 Mayring, Philipp (2002): Einführung in die qualitative Sozialforschung. Eine Anleitung zu qualitativem Denken. 5. Aufl. Weinheim: Beltz. 472 Das Vorgehen entspricht Flicks Definition der Triangulation. In seiner umfangreichen Aufarbeitung der Methodentriangulation in den Sozialwissenschaften heißt es, dass zur Triangulation sowohl die Verwendung verschiedener Theorieansätze, unterschiedlicher Methoden als auch die »Kombination unterschiedlicher Datensorten« zähle und ein gleichberechtigter Einsatz der unterschiedlichen Zugänge mit dem Ziel eines Erkenntniszuwachses anzustreben sei. Flick, Uwe (2011): Triangulation. Eine Einführung. 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 12. 473 Innovativ ist der Zugang vor dem Hintergrund der kommunikationswissenschaftlichen Forschung, in der nach wie vor qualitative Forschungsdesigns seltener gewählt werden. Vgl. hierzu bspw. Meyen, Michael et al. (2011): Qualitative Forschung in der Kommunikationswissenschaft. Eine praxisorientierte Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; Wagner, Hans; Schönhagen, Philomen (2009): Qualitative Methoden in der Kommunikationswissenschaft. Ein Lehr- und Studienbuch. Baden-Baden: Nomos, S. 333. 474 Lamnek, Siegfried (2010): Qualitative Sozialforschung. Lehrbuch. 5. Aufl. Weinheim, Basel: Beltz, S. 19f.; Mayring, Philipp (2002): Einführung in die qualitative Sozialforschung, S. 27f.

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dass hier entsprechend einer langen Traditionslinie von der Phänomenologie Schützs über die Ethnomethodologie Garfinkels davon ausgegangen wird, dass die wissenschaftliche Analyse immer eine Form des Fremdverstehens ist, das die alltäglichen Interpretationen von gesellschaftlichen Akteuren durch wissenschaftliche Rekonstruktion nachvollziehbar macht.475 Die Analyse beinhaltet darüber hinaus aber auch die Untersuchung geteilter Deutungen und Sinnhorizonte der Akteure. Es wird dabei nicht nur der »subjektive Sinn« lokaler Interpretationen analysiert (wie im Fall von Produzenteninterviews), sondern auch der »soziale Sinn«, wenn in Anschlussdiskussionen von Rezipienten nach bestimmten inhaltlichen Deutungsmustern und den dahinterliegenden diskursiven Strukturen gesucht wird.476 Eine solche Analyse und Interpretation erfordert eine deskriptive Grundlage und macht einen Feldzugang notwendig, der in dieser Arbeit im Rahmen zweier Fallanalysen – die Rekonstruktion des Formattransfers und dessen Bedeutungszuweisung durch lokale Akteure in Deutschland und Ägypten – realisiert wird. Die Fallanalysen werden zusätzlich mit einer Dokumentenanalyse der Formatvarianten kombiniert. Aufgrund der Einzelfallbezogenheit und des interpretativen Zugangs wurden qualitative Forschungszuschnitte häufig wegen mangelnder Repräsentativität, Zuverlässigkeit, Gültigkeit oder Überprüfbarkeit kritisiert. Es ist jedoch eine Grundlage qualitativer Ansätze, eben nicht kontextfreie Sozialforschung zu sein. Aglaja Przyborski und Monika Wohlrab-Sahr argumentieren vielmehr, dass hier gerade den »unterschiedlichen Relevanzsystemen von Forschern und Erforschten systematisch und in kontrollierter Weise Rechnung getragen« wird.477 Eine bloße Übertragung der Gütekriterien quantitativer Sozialforschung erscheint daher kaum sinnvoll.478 Gleichwohl muss nach gemeinsamen Standards gefragt werden, wie die Autoren richtig vermerken. Qualitative Forschung ist aufgrund einer bestehenden Gegenstandsnähe valide. Darüber hinaus baut die Analyse auf den »alltäglichen Struk475 Methodologisch wird die Rekonstruktion des Forschers als »Konstruktion zweiten Grades« beschrieben. Giddens bezeichnet den Prozess der Interpretation des bereits Interpretierten auch als »doppelte Hermeneutik«. Giddens, Anthony (1997): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. 3. Aufl. Frankfurt am Main, New York: Campus, S. 338; Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. 4. Aufl. München: Oldenbourg, S. 12ff. 476 Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung, S. 12ff.; vgl. auch Mruck, Katja; Mey, Günter (2005): Qualitative Forschung: zur Einführung in einen prosperierenden Wissenschaftszweig. In: Historical Social Research 30 (1), S. 7f. 477 Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung, S. 22. 478 Mayring, Philipp (2002): Einführung in die qualitative Sozialforschung, S. 140.

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turen beziehungsweise Standards der Verständigung auf«.479 Diese alltäglichen Standards sind dann auch Antwort für die Frage nach der Reliabilität und Replizierbarkeit qualitativer Studien. Denn gerade in der Auswertung von Diskussionen oder Interviews werden eben nicht allein die besprochenen Themen fallübergreifend verglichen, sondern auch die Art und Weise ihrer Hervorbringungen, Entwicklung und ihre zugrundeliegenden Strukturen. Eine intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse wird durch die Formalisierung und Dokumentation der regelgeleiteten Erhebungs- und Auswertungsverfahren ermöglicht. Hierzu zählt nicht nur die Offenlegung der Erhebungsinstrumente und die angemessene Dokumentation des Verfahrens, sondern auch die kritische Reflexion des Einflusses bestimmter Interaktionsbesonderheiten, Kontextmuster oder Störfaktoren. So wurde beispielsweise immer versucht, auch das Verhältnis zwischen der Forscherin und den Beforschten in die Analyse einzubeziehen. Wie außerdem gezeigt wurde, liegt der Analyse eine umfangreiche metatheoretische Fundierung zugrunde, die der Forschung einen notwendigen Begriffs- und Orientierungsrahmen zur Theoriebildung verleiht. Die Generalisierbarkeit von Ergebnissen qualitativer Sozialforschung leitet sich schließlich nicht aus einem numerischen Schluss von Repräsentativität ab, sondern aus einem theoretischen Schluss, der durch Vergleiche von Typen und Strukturen des Datenmaterials erzielt wird.480 Im Bewusstsein der Anforderungen an eine im oben zusammengefassten Sinn nachvollziehbare und adäquate Kommunikationsforschung werden im Folgenden die Erhebungs- und Auswertungsverfahren, wie sie in der Arbeit angewendet werden, offengelegt und erläutert. 3.1.1 Inhaltsanalyse »The starting-point of any study of television must be with what is actually there on the screen.«481 Diesem Credo von Fiske und Hartley folgend, ist der erste Schritt der Untersuchung eine Inhaltsanalyse. Da es im Formathandel zu Lokalisierungsbeziehungsweise Hybridisierungsstrategien kommt, ist es geradezu zwingend, dem Vergleich von Fernsehformaten eine Inhaltsanalyse zugrunde zu legen, um die inhaltlichen und televisuellen Ähnlichkeiten und Unterschiede in den Formatangeboten zu ermitteln. Auch wenn die Bedeutung nicht allein im Fernsehtext selbst liegen kann, sondern durch Prozesse der Kodierung und Dekodierung erschlossen werden muss, so hat die theoretische Auseinandersetzung auch gezeigt, dass der Text keiner absoluten Polysemie unterliegt, sondern ein konkretes Sinnangebot darstellt. Dieses

479 Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung, S. 23f. 480 Die hier zusammengefassten Standards qualitativer Forschung folgen primär den Ausführungen Przyborskis und Wohlrab-Sahrs. Ebd., S. 23ff. 481 Fiske, John; Hartley, John (2003): Reading Television, S. 31.

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ist durch inhaltliche Schwerpunktsetzungen, ästhetische Darstellungskonventionen wie auch durch Repräsentationsstrategien geprägt. Gezeigt wurde weiterhin, dass theoretisch davon auszugehen ist, dass gerade in Unterhaltungsangeboten grundsätzlich leicht zu erschließende Metabotschaften existieren, die einzelnen Inhalten und dramaturgischen Sequenzen übergeordnet sind. Das Erkenntnisinteresse zielt dementsprechend nicht nur auf die Dekodierung der offensichtlichen Sendungsinhalte, sondern auch auf die Strukturen ihrer Gestaltung und die damit verbundenen Bedeutungsebenen und Sinnpotenziale,482 was im folgenden Fragekomplex zusammengefasst ist: 1. Welche Ähnlichkeiten und Unterschiede lassen sich im Vergleich der televisuellen und inhaltlichen Gestaltung unterschiedlicher Formatvarianten feststellen? Es ist davon auszugehen, dass sich die unterschiedlichen lokalen Versionen der Formate aufgrund der vorgeschriebenen Erhaltung bestimmter televisueller Muster in hohem Grade ähneln. Allerdings steht von vorneherein weder fest, welche Elemente qua Formatbibel geschützt und von lokalen Umformulierungen ausgeschlossen sind, noch, welche der möglichen kreativen Freiräume tatsächlich genutzt werden. Das heißt, dass zwar Richtlinien der einzuhaltenden Muster formuliert werden, die »symbolischen Leerstellen« des Formats aber dennoch undefiniert bleiben. Die spezifische ästhetische und inhaltliche Beschaffenheit der Formate wird daher zunächst offengelegt, um so Standardisierungen, Konventionen aber auch kreative Freiheiten in den Unterhaltungsproduktionen abzuleiten. 2. Haben mögliche Unterschiede in der televisuellen Gestaltung des Sendungskonzepts Einfluss auf die Sinnebene der Formatversionen? In der Formatindustrie wird von einer Anpassungsfähigkeit von Formatkonzepten an lokale Kontexte durch den Prozess der Adaption ausgegangen. Durch die Inhaltsanalyse soll beantwortet werden, ob Veränderungen der Akteure, Inhalte und der Gestaltung auch mit einer Verschiebung der Bedeutung einhergehen. So mag der Austausch der Figuren (Moderatoren, Teilnehmer, Jurymitglieder) zwar die sichtbarste Form kultureller Lokalisierung sein, wenn angenommen wird, dass lokale Subjekte Sprache und kulturelle Handlungsmuster und -formen verkörpern. Inwieweit jedoch mögliche Repräsentationsstrategien und Spielregeln das Figurenhandeln und Rollenzuschreibungen überformen oder unterhöhlen, ist zu klären, um das Verhältnis lokaler und globaler kultureller Muster, die in den adaptierten Sendungen sichtbar werden, zu bestimmen. Es geht also auch um das Verhältnis zwischen globaler Standardisierung von inhaltli-

482 Hickethier, Knut (2007): Film- und Fernsehanalyse, S. 33.

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chen und televisuellen Konventionen und der Reproduktion lokaler symbolischer Repertoires in den lokalen Formatvarianten. 3. Auf welchen Ebenen verorten sich kreative Freiräume im Formattransfer und in welchem Zusammenhang stehen diese zu den jeweiligen gesellschaftlichen Referenzsystemen beziehungsweise auf welche kulturellen Repertoires beziehen sie sich? Aus den vorangegangenen Untersuchungen soll also abgeleitet werden, auf welchen Ebenen der Textstruktur reproduktive, hybride oder assimilative Reproduktionsprozesse erkennbar sind. Das bedeutet letztlich, dass die loci der kulturellen Referenzen zu bestimmen sind. Anhand dieser Erkenntnisinteressen wird deutlich, dass hier kein manifester Inhalt bestimmt werden kann, sondern dass die Analyse nach einem Verfahren verlangt, mit dem sich die verschiedenen Bedeutungsebenen der Fernsehtexte herausarbeiten lassen.483 Die hier durchgeführte qualitative Inhaltsanalyse grenzt sich in ihrem methodologischen Grundverständnissen von Früh oder Klaus Merten ab. Für Früh ist die Inhaltsanalyse eine empirische Methode »zur systematischen, intersubjektiv nachvollziehbaren Beschreibung inhaltlicher und formaler Merkmale von Mitteilungen; meist zum Zwecke einer darauf aufbauenden, interpretativen und/oder durch Zusatzkriterien gestützten Inferenz«.484 Der entscheidende methodologische Unterschied ist aber, dass es sich gerade nicht um Mitteilungen handelt, die durch die Analyse beschrieben und interpretiert werden. Im Theoriekapitel wurde ausführlich gezeigt, dass nicht von feststehenden Bedeutungseinheiten, also Mitteilungen, ausgegangen werden kann, die im Kommunikationsprozess weitergegeben werden, sondern es handelt sich um strukturierte polyseme Botschaften. Diese Einschränkung gilt ebenso für die Definition von Merten, für den Inhaltsanalyse »eine Methode zur Erhebung sozialer Wirklichkeit [ist], bei der von Merkmalen eines manifesten Textes auf Merkmale eines nicht-manifesten Kontextes geschlossen wird«.485 Die hier durchgeführte qualitative Inhaltsanalyse orientiert sich an den von Philipp Mayring beschriebenen Grundoperationen der qualitativen Inhaltsanalyse. 486 Wohlrab-Sahr und Przyborski kritisieren zwar, dass die Inhaltsanalyse für die Re-

483 Vgl. auch Mikos, Lothar (2008): Film- und Fernsehanalyse, S. 111. 484 Früh, Werner (2011): Inhaltsanalyse. Theorie und Praxis. 7. Aufl. Konstanz: UVK, S. 27. 485 Merten, Klaus (1995): Inhaltsanalyse. Einführung in Theorie, Methode und Praxis. 2. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 95. 486 Mayring, Philipp (2010): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 11. Aufl. Weinheim: Beltz.

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konstruktion von impliziten Sinnstrukturen weniger geeignet sei,487 aber da es im ersten Schritt der Inhaltsanalyse um eine basale Analyse sämtlicher Ähnlichkeiten und Unterschiede des Sendungsangebots und nicht um eine Feinanalyse bestimmter Gesprächssequenzen gehen soll, wird der Nutzen der Inhaltsanalyse als groß bewertet. Denn es ist zu erwarten, dass mithilfe des inhaltsanalytischen Vorgehens eine sinnvolle Klassifikation für den kulturellen Vergleich der Sendungen gefunden werden kann. Auf der Grundlage des Filmmaterials selbst und Transkriptionen ausgewählter Episoden488 wurde das Material entlang eines Kategoriensystems analysiert, das durch einen wechselseitigen Prozess der Induktion und Deduktion hergeleitet wurde. Für die Systematisierung, die theoriegeleitet erfolgte, wurde auf klassische Dimensionen der Film- und Fernsehanalyse zurückgegriffen, die nachfolgend vorgestellt werden.489 Grundsätzlich zielt die Analyse auf die Interpretation von Interaktions- und Narrationsmustern des Medienangebots. Neben der Strukturierung wurden schließlich auch einzelne Elemente der Texte mithilfe einer engen und weiten Kontextanalyse ausgelegt. Das konkrete methodische Vorgehen gliedert sich in zwei zentrale Arbeitsschritte. Erstens werden die Formatversionen deskriptiv dargestellt. In der Terminologie der Fernsehanalyse wird also ein fernsehanalytischer Befund490 angefertigt. Zweitens wurden die Formatversionen entlang der folgenden fernsehanalytischen Kategorien untersucht: 1. Inhalt und Thema Die Analyse des Inhalts der Sendungen bezieht sich sowohl auf ein engeres als auch auf ein weiteres Inhaltsverständnis. Das weitere Verständnis meint die Spielbeziehungsweise Wettbewerbsanlage und damit den gesamten erzählerischen Rahmen, in den die Spiele eingebettet sind. Dies setzt voraus, Spielsendungen in Analogie zu fiktionalen Geschichten als Erzählungen zu verstehen. Entsprechend Mikos’ Argumentation handelt es sich auch in Fernsehshows um die inszenierte Dar487 Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung, S. 189. 488 Für die Analyse der arabischen Sendungsvarianten wurde die Autorin von mehreren arabischen Muttersprachlern unterstützt, die deutsche Übersetzungen zu den Sendungen anfertigten. Eine sprachliche Barriere wurde dadurch aufgehoben, allerdings handelt es sich um einen doppelten Übersetzungsvorgang, bei dem Sinnabweichungen möglich und nicht vollständig kontrollierbar sind. 489 Hier wurde sich v.a. an Mikos’ Einführung in die Film- und Fernsehanalyse sowie an Faulstichs Grundkurs Filmanalyse orientiert. Mikos, Lothar (2008): Film- und Fernsehanalyse; Faulstich, Werner; Strobel, Ricarda (2013). Grundkurs Filmanalyse. 3. Aufl. Paderborn: Fink. 490 Hickethier, Knut (2007): Film- und Fernsehanalyse, S. 35.

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stellung verketteter Situationen, in denen sich Ereignisse und menschliche Handlungen realisierten.491 Doch auch wenn die Institution Fernsehen gewissermaßen als Erzähler agiert und Geschichten mit einem Anfang, einer Entwicklung und einem Ende etabliert, so ist dennoch nicht von einer klassischen Narration auszugehen, da die beteiligten Akteure eigenständig in die Erzählung eingreifen können. Anzunehmen ist nur, dass die inszenatorische Einflussnahme auf Erzählstrukturen einen einigermaßen kohärenten Rahmen der Erzählung schafft, aus dem sich bestimmte Deutungsrahmen ableiten lassen.492 Daher ist nicht allein das inhaltliche Angebot einer einzelnen Episode entscheidend, sondern wiederkehrende Erzählstrukturen, in die die beiden untersuchten Wettbewerbe/Spiele eingebettet sind. Aufgrund des seriellen Aufbaus der Sendungen und dem hohen Grad an Wiedererkennbarkeit kann außerdem davon ausgegangen werden, dass sich die rahmenden Erzählstrategien einer kleineren Stichprobe auf alle Episoden der gesamten Staffel erstrecken. Aus den wiederkehrenden televisuellen Erzählstrategien, die den Inhalt formen, wird dann in einem weiteren Abstraktionsschritt ein »Thema«, also die verallgemeinerbare Grundbotschaft der Sendung493 herausgearbeitet. Dazu zählt im Sinne eines engeren Inhaltsbegriffes, den konkreten Inhalt der Wettbewerbe zu analysieren. Bei MILLIONÄR geht es um Wissen, bei GOT TALENT um Talent. Es wird daher untersucht, welche Bedeutungszuweisungen diese beiden inhaltlichen Kategorien in den Sendungen erhalten, um zu klären, ob die inhaltlichen Sujets der Sendungen einem Bedeutungstransfer unterliegen. Ein erster Schritt, um sich dem Inhalt der Sendung MILLIONÄR methodisch zu nähern, ist eine Analyse des Wissens, das abgefragt wird und damit in der Sendung transportiert und reproduziert wird. Hier bietet sich eine Häufigkeitsanalyse der Themengebiete der Fragen an, so dass an dieser Stelle ein quantifizierendes Verfahren einbezogen wird. Die Wissenskategorien wurden dabei induktiv aus dem vorhandenen Material abgeleitet. Das heißt, dass die Analyse nicht ex ante entlang grundsätzlicher Unterscheidungen von Wissensformen (beispielsweise Alltagswissen, kanonisches Wissen, wissenschaftliches Wissen) vorgenommen wurde. Stattdessen wurden zunächst allein die inhaltlichen Bereiche des abgefragten Wissens 491 Mikos, Lothar (2008): Film- und Fernsehanalyse, S. 47. 492 Meyen et al. sehen im Framing-Konzept den Link zu inhaltsanalytischen Verfahren der Kommunikationswissenschaft. Frames, als organisierende Ideen, seien das, wonach qualitative Inhaltsanalysen suchen. Allerdings ist diese Analogie kaum aufrecht zu erhalten, wenn nicht Meinungs- oder Informationsbeiträge Gegenstand der Sendungen sind, sondern unterhaltende Angebote. Entmans klassische Definition von Framing ist bspw. schwer auf komplexe Unterhaltungsangebote übertragbar, denn Problemdefinition und Lösungsvorschläge lassen sich hier kaum ermitteln. Meyen, Michael et al. (2011): Qualitative Forschung in der Kommunikationswissenschaft, S. 140. 493 Hickethier, Knut (2007): Film- und Fernsehanalyse, S. 111.

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definiert, um möglichen Differenzen in der Bewertung und Wahrnehmung von Wissensklassifikationen Rechnung zu tragen. Erst nach der Strukturierung der extrahierten Themengebiete wurden übergeordnete Klassifizierungen abgeleitet und mögliche Aussagen über die Art des Wissens, das durch die Sendung gesellschaftlich zirkuliert, diskutiert. Neben der Themenorientierung wurden auch die geo-kulturellen beziehungsweise geopolitischen Bezüge des Wissens erfasst. Dieser Analyseschritt knüpft insbesondere an die Theoretisierung einer »kulturellen Nähe« zwischen Fernsehtext und Publikum an. Erhoben wurde konkret, inwieweit die Inhalte der Fragen an geo-kulturelle (regionale, lokale, globale) beziehungsweise geopolitische (nationale, internationale) Referenzsysteme gebunden sind. Entsprechende Ankerbeispiele werden im Auswertungsteil der Arbeit (Kapitel 4) erläutert. Schließlich wurde bei der Untersuchung der Fragen deutlich, dass sich das Wissen auf historisch unterschiedlich verortete Wissensbestände bezieht, so dass auch die zeitlichen Bezüge494 des erfragten Wissens ermittelt wurden. Diese Kategorie machte Rückschlüsse auf notwendige Aneignungsformen, Lernstrukturen und das benötigte Bildungskapital möglich, die für die Beantwortung der Fragen nach überzeitlich kanonisiertem Wissen oder aktuell zirkulierenden Wissensbeständen benötigt wird. Insgesamt wurden alle Fragen aus 24 verfügbaren Episoden der 2010 ausgestrahlten MILLIONÄR-Versionen ausgewertet.495 Auch wenn mit den je 12 Stunden Sendematerial nur ein Ausschnitt aller Fragen der Grundgesamtheit der Sendungsstaffeln erfasst wird, lässt sich argumentieren, dass die aufgefundenen Tendenzen der Stichprobe dennoch aussagekräftig sind, da a) die Sendung von einem stark standardisierten Ablauf gekennzeichnet ist, der keine inhaltlichen Überraschungen zulässt, b) die Produktionsteams stabil bleiben, die Fragen aller Sendungen also von denselben Personen der Produktionsfirma und des Senders erstellt und ausgewählt werden, so dass große Varianzen der inhaltlichen Orientierung der Fragen innerhalb 494 Die differenzierteren Unterkategorien berücksichtigen, dass auch historische Narrationen und Ordnungsmuster kontextgebunden sind. Gerade das postkoloniale Denken hat einen problemsensiblen Umgang mit globalgeschichtlichen Narrationen befördert und dazu beigetragen, multiple Geschichtsschreibungen zu reflektieren. Eine Einordnung in kulturgeschichtliche Epochen wurde daher vermieden, wie später noch ausführlich dargelegt wird. 495 212 Fragen entfallen auf die zwölf Episoden der deutschen Auswahl und 259 Fragen auf die Auswahl der zwölf arabischen Episoden. Diese Differenz erklärt sich durch die Anzahl der Teilnehmer und die Dynamik des Spiels, die im arabischen Format durch die feste Struktur (je Sendung treten immer drei Kandidaten auf) höher ist als in der deutschen Version, in der es auch vorkommen kann, dass nur ein Kandidat in einer Sendung auftritt oder sein Spiel in der darauffolgenden Episode fortsetzt.

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einer Staffel nicht zu erwarten stehen, c) mehrere Episoden am Stück aufgezeichnet werden, so dass von einer Homogenität im Produktionsprozess ausgegangen werden kann, und d) auch im Sinne einer Gleichberechtigung der Kandidaten und einer Wiedererkennbarkeit für die Zuschauer zu Hause plausibel ist, dass der Charakter der Fragestellungen und -inhalte innerhalb einer Staffel möglichst wenig variiert. Analog zu den Kategorien des Wissens wurden im Fall des Formats GOT TALENT die Kategorien der dargebotenen Talente induktiv erhoben, um mögliche Unterschiede oder Ähnlichkeiten zu ermitteln. Die Varianten der künstlerischen Ausdrucksformen wurden in einem zweiten Schritt nach ihrem Modus496 und ihrer primären kulturellen Referenz497 analysiert, um wiederum Fragen nach den kulturellen Bezügen der Inhaltsebene des Fernsehangebots erörtern zu können. Die Herleitung dieser induktiv herausgearbeiteten Kategorien wird im Auswertungskapitel ausführlich erläutert. Ebenso wird die Datenbasis der Untersuchung noch ausführlicher diskutiert. Berücksichtigt wurden für die Untersuchung der Talente alle 121 respektive 125 präsentierten Kandidaten der gesamten vierten beziehungsweise ersten Staffel von SUPERTALENT und ARABS GOT TALENT, die 2010 und 2011 in den untersuchten Regionen ausgestrahlt wurden. 2. Figuren und Akteure Für eine Inhaltsanalyse von Spielsendungen, in denen die beteiligten Akteure handlungsleitende Funktionen innehaben, ist deren Analyse zentral. Die Ausgestaltung der medialen Funktionsrollen der Moderatoren, Jurymitglieder, Teilnehmer und des Studiopublikums wird hier also näher bestimmt. Vor dem Hintergrund der Reproduktion in lokalen Kontexten ist interessant, in welche sozialen Handlungsrollen diese stabilen medialen Funktionsrollen überführt498 und welche spezifischen Akteurskonstellationen und -interaktionen etabliert werden. Grundlage für die qualitative Analyse der Akteure waren jeweils fünf Stunden Sendematerial der beiden Versionen von MILLIONÄR sowie jeweils fünf Stunden Sendematerial der beiden 496 Der Modus der künstlerischen Darbietungen bezieht sich auf die Frage, welchen kreativen Eigenanteil die künstlerischen Ausdrucksformen der Privatpersonen, die sich in der Sendung als Kandidaten auf der Bühne öffentlich präsentieren, aufweisen. Unterschieden wurde dabei induktiv zwischen einem reproduktiven, hybriden und assimilativen Modus der Darbietung, deren Herleitung ausführlich im Kapitel 4.1.2.1 erläutert wird. 497 Die Referenz der künstlerischen Darbietungen bezieht sich wiederum auf die Frage, in welchen Referenzsystemen die kreativen Praktiken eine Anschlussfähigkeit besitzen, inwieweit also die Ausdrucksformen bekannt sind und auch praktiziert werden. Eine Ausdifferenzierung und Herleitung dieser Kategorie erfolgt ebenso an gegebener Stelle im Kapitel 4.1.2.1. 498 Zu medialen Funktions- und sozialen Handlungsrollen vgl. Mikos, Lothar (2008): Filmund Fernsehanalyse, S. 170ff.

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GOT TALENT-Versionen. Es wurden jeweils die gleichen Episoden der beiden Sendungen ausgewählt, wobei die Auswahl der MILLIONÄR-Episoden durch einen eingeschränkten Zugang zu arabischen Episoden bedingt war, was aber, wie oben bereits diskutiert, nicht als essenzielle Einschränkung oder Verzerrung der Datengrundlage zu werten ist. 3. Fernsehästhetik / Gestaltung Schließlich gehören zu den Bausteinen der Fernsehanalyse die gestalterischen Elemente, die die Art und Weise der Darstellung der dargebotenen Spiele bestimmen. Um die Inhaltsanalyse abzurunden, ist es bei Fernsehtexten notwendig, die Modalitäten und die Verkettung der Repräsentation beziehungsweise des Erzählten zu untersuchen.499 Sehr ausführlich sind die ästhetischen Erzählstrategien in der filmtheoretischen Literatur diskutiert worden. Auch wenn kritisiert wird, dass die Fernsehanalyse in ihrer methodischen Aufarbeitung lange der Filmanalyse nachstand, 500 so ist es dennoch nützlich, für die Fernsehanalyse auch auf diese umfangreiche filmanalytische Arbeit zurückzugreifen. Allerdings kann es nicht Aufgabe der Arbeit sein, detaillierte Analysen etwa der filmischen Szene-Einstellungen der gesamten Sendungen zu liefern. Dennoch werden die filmischen beziehungsweise fernsehtheoretischen Kategorien wie die Einblendungen, Kameraeinstellungen und -perspektiven, der Montage, also der dynamischen Verknüpfung der Einstellungen und mögliche digitale Bearbeitungen, die Ausstattung sowie Bild und Tongebung berücksichtigt und im Rahmen ihrer Bedeutung für die zuvor genannten Aspekte der hier angestrebten Fernsehanalyse einbezogen. 3.1.2 Gruppendiskussionsverfahren Anders als die inhaltsanalytische Untersuchung unterschiedlicher Formatvarianten kann die Analyse der lokalen Rezeption nicht an zahlreiche Vorstudien anschließen. Denn die Untersuchung der Rezeption und Aneignung ist insbesondere in Bezug auf grenzüberschreitende Unterhaltungsangebote ein entscheidendes Forschungsdesiderat. Dies verwundert insofern, als dass in der internationalen Kommunikationswissenschaft gerade in den letzten Jahren eine Hinwendung zur Publikumsforschung zu beobachten ist.501 Wie bereits in den theoretischen Einführungen darge499 Ebd., vgl. auch Faulstich, Werner; Strobel, Ricarda (2013). Grundkurs Filmanalyse. 500 Hickethier, Knut (1994): Methodische Probleme der Fernsehanalyse. In: Ders. (Hg.): Aspekte der Fernsehanalyse. Methoden und Modelle. Münster: Lit, S. 10-28. 501 Livingstone, Sonia (1996): Die Rezeption von Unterhaltungsangeboten; vgl. auch Ang, Ien (1999): Kultur und Kommunikation. Auf dem Weg zu einer ethnographischen Kritik des Medienkonsums im transnationalen Mediensystem. In: Bromley, Roger; Kreuzner, Gabriele (Hg.): Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung. Lüneburg: zu

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stellt wurde, haben der Einfluss der Cultural Studies und die ethnographische beziehungsweise interpretatorische Wende in den Kultur- und Sozialwissenschaften zu neuen Konzeptualisierungen des Publikums geführt, die diesem eine kreative und produktive Eigenleistung in der Medienrezeption und -aneignung zuschreiben. Gleichzeitig fand dadurch eine Erweiterung der methodischen Zugänge statt, die von quantitativen über qualitative Analysen bis hin zu medienethnographischen Verfahren wie der teilnehmenden Beobachtung reichen. Auch das Gruppendiskussionsverfahren wurde in diesen Zusammenhängen wiederbelebt. 502 Der methodische Ansatz zur Erforschung der Interpretationen der Rezipienten folgt somit einer Tradition der kritischen Rezeptionsforschung und orientiert sich an den wenigen kulturvergleichenden Rezeptionsstudien, die ebenfalls an kollektiven Prozessen der Bedeutungsproduktion interessiert sind. Das konkrete Erkenntnisinteresse basiert auf folgenden Fragen, die im Fortgang der Arbeit noch weiter erläutert werden: 1. Wie werden die Formatvarianten von Zuschauern in unterschiedlichen Fernsehlandschaften rezipiert und interpretiert und in welchem Zusammenhang stehen diese Interpretationen mit den jeweiligen gesellschaftlichen Referenzsystemen?  



Welche inhaltlichen Diskurse und Deutungsmuster werden in der Anschlusskommunikation von Rezipienten der Formatversionen entwickelt? Welche Rezeptionsmodi beziehungsweise -haltungen nehmen die Rezipienten ein und in welche Wissensrahmen sind die interpretativen Aushandlungen eingebettet? Lassen sich durch die identifizierten Anschlussdiskurse Aussagen über die lokale oder grenzüberschreitende Konstitution individueller und kollektiver Interpretationsmuster treffen?

Aus diesem Erkenntnisinteresse lassen sich zentrale Prämissen für die Rezeptionsstudie ableiten. Erstens werden nicht Prozesse der Zuwendung, der Auswahl, der Perzeption oder des emotionalen Erlebens bei der Rezeption der Formatvarianten erfasst, sondern vor allem die postrezeptive Anschlusskommunikation, in der sich die Rezipienten mit den Sendeinhalten auseinandersetzen.503 Zweitens sind hier kolKlampen, S. 317-340; Jensen, Klaus; Rosengren, Karl (1990): Five Traditions in Search of the Audience. In: European Journal of Communication 5 (2), S. 207-238. 502 Gillespie, Marie (1995): Television, Ethnicity, and Cultural Change; Livingstone, Sonia (1996): Die Rezeption von Unterhaltungsangeboten; Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung. 503 Livingston problematisiert in diesem Zusammenhang, dass sich empirisch nicht rückverfolgen lasse, welche kognitiven Prozesse (Wahrnehmungs- Selektions- und Gedächt-

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lektive Deutungsmuster und weniger individuelle Interpretationen von Interesse. Das heißt, dass die Sinngebung im Kontext kollektiver Aushandlungen untersucht und in unterschiedlichen Akteursfeldern verglichen wird. Die Wahl des Gruppendiskussionsverfahrens bietet daher eine geeignete Operationalisierungsmöglichkeit eines Erkenntnisinteresses an gruppenspezifischen Interpretationen. Dabei ist zentral, dass die methodologische Grundlage der Gruppendiskussion hier nicht der Tradition der Marktforschung folgt, in der die Fokusgruppen-Diskussion ihren Ursprung hat, sondern der Tradition der rekonstruktiven Sozialforschung.504 Ein entscheidender Unterschied liegt in der Konzeption des Zusammenhangs von individuellen und kollektiven Meinungen. Rekonstruktive Verfahren grenzen sich von der in der Marktforschung gängigen Vorstellung ab, dass in Gruppendiskussionen individuelle Meinungen artikuliert und miteinander verglichen werden können. Vielmehr gehen Vertreter der rekonstruktiven Verfahren davon aus, dass sich in den Diskussionen Gruppenmeinungen konstituieren.505 Damit wird zugleich die Kritik an der Authentizität von Einzelmeinungen in Diskussionen hinfällig. Denn geäußerte individuelle Meinungen werden per se vor dem Hintergrund ihrer Einbettung in einen gruppenbezogenen Kommunikationsprozess betrachtet, wenn gerade die gruppendynamischen Deutungsprozesse im Fokus stehen. Diese Gruppenmeinung ist wiederum nicht allein das Resultat der jeweiligen Diskussion. So hat Werner Mangold gezeigt, wie sich informelle Gruppenmeinungen bereits in der Alltagskommunikation der Gruppe und unter Einfluss von spezifischen Mechanismen der Gruppenkontrolle (Stichwort: Meinungsführer) herausbilden.506 Auch nisprozesse) den verbalisierten Interpretationsleistungen vorgelagert seien. Livingstone, Sonia (1996): Die Rezeption von Unterhaltungsangeboten, S. 167. Ohne kognitionspsychologische Dynamiken negieren und kulturtheoretische priorisieren zu wollen, steht hier die verbalisierte Gruppenmeinung im Zentrum und nicht die Rekonstruktion der psychosozialen Dispositionen, die zweifelsohne ein anderes Forschungsdesign erfordern würde. 504 Zu unterschiedlichen Konzeptionen der Gruppendiskussion vgl. Lamnek, Siegfried (2005): Gruppendiskussion. Theorie und Praxis. 2. Aufl. Weinheim: Beltz; Kühn, Thomas; Koschel, Kay-Volker (2011): Gruppendiskussionen. Ein Praxis-Handbuch. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung. 505 Bohnsack, Ralf (2003): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 5. Aufl. Opladen: Leske und Budrich; Mangold, Werner (1960): Gegenstand und Methode des Gruppendiskussionsverfahrens. Aus der Arbeit des Instituts für Sozialforschung. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt; Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung; Wagner, Hans; Schönhagen, Philomen (2009): Qualitative Methoden in der Kommunikationswissenschaft. 506 Mangold, Werner (1960): Gegenstand und Methode des Gruppendiskussionsverfahrens.

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Ralf Bohnsacks Konzeption der Gruppendiskussion geht davon aus, dass gemeinsame Orientierungen, die sich in Diskussionen zeigen, nicht bloß ein zufälliges Ergebnis der zeitlichen und situativen Kontextbedingungen einer spezifischen Gruppendiskussion sind.507 Es wird also angenommen, dass sich die Gruppenmeinung bereits in vorgelagerten Kommunikationssituationen und durch bestimmte soziale Rahmenbedingungen manifestiert hat, die sich in der Gruppendiskussion »nur« aktualisiert. Bohnsack hat in Anknüpfung an Mangolds Auseinandersetzungen zur Gruppenmeinung die Wissenssoziologie von Karl Mannheim für das Gruppendiskussionsverfahren fruchtbar gemacht. Mannheim hat den Begriff des »konjunktiven Erfahrungsraums« eingeführt, der beschreibt, dass kollektives Verstehen aufgrund von geteilten Wissens- und Bedeutungsstrukturen – der sogenannten Konjunktion – entsteht.508 Das heißt, dass auch Mitglieder von Gruppen, die sich einander nicht persönlich kennen, durch geteilte Erfahrungsräume, denen sie beispielsweise qua Geschlecht, Bildung oder Generation angehören, kollektive Orientierungen in gemeinsamen Gesprächen entwickeln können.509 Grundlage hierfür sind die historisch geteilten Wissensbestände und deren Entstehungsstrukturen, also größere Erfahrungszusammenhänge, die über die situative Gruppendiskussion hinausreichen. 510 Diese methodologische Überlegung ist für die Gruppendiskussion relevant, da sie kontextuelle Prämissen für das kommunikative Handeln der Gruppe setzt: In Gruppendiskussionen werden aktuelle Gruppenmeinungen sichtbar, denen theoretisch gemeinsame Erfahrungszusammenhänge zugrunde liegen.511 Auf stabile Erfahrungszusammenhänge wurde auch für das gruppenförmige Setting der hier vorgestellten Publikumsstudie geachtet, für das Realgruppen ausgewählt wurden. Die 507 Bohnsack, Ralf (2003): Rekonstruktive Sozialforschung, S. 105ff. 508 Mannheim, Karl (1980): Strukturen des Denkens. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 509 Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung, S. 91f. 510 Vgl. auch Lamnek, Siegfried (2005): Gruppendiskussion, S. 61f. 511 Wagner, Hans; Schönhagen, Philomen (2009): Qualitative Methoden in der Kommunikationswissenschaft, S. 285. Wohlrab-Sahr und Przyborski haben einen Zusammenhang von Realgruppen und selbstläufigen Erzählungen in Gruppendiskussionen abgeleitet. Homologe Gruppen sind demnach Repräsentanten makrosozialer Einheiten, die geteilte Erfahrungsschichtungen aufweisen, die sich in der kommunikativen Aushandlung zwischen den Teilnehmern zu kollektiven Orientierungen verdichten. Dort, wo Erlebnisschichten miteinander geteilt werden, lasse sich konjunktives Verstehen rekonstruieren. Entscheidender als tatsächliche gemeinsame Erfahrungen sei die Strukturidentität von Erfahrungen. Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung, S. 92. Diese Strukturidentität der Erfahrung lässt sich bei allen teilnehmenden Gruppen annehmen – zwar teilen nicht alle Gruppen auch gemeinsame Rezeptionserlebnisse, aber sie teilen alle Bildungserfahrungen und soziale Räume.

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Teilnehmer kannten sich also bereits aus anderen Interaktionszusammenhängen und teilten bestimmte Alltagserfahrungen miteinander. Die Gruppendiskussion in Realgruppen ist darüber hinaus auch geeignet, Rezeptionserfahrungen möglichst alltagsnah zu simulieren. Grundsätzlich werden Unterhaltungsangebote selten völlig autonom rezipiert, sondern eher in Gemeinschaft, also in selbstgewählten peer-groups oder Familiensettings. Selbst wenn Angebote allein rezipiert werden, werden sie oft in Alltagsgesprächen mit Freunden, Familienmitgliedern oder Kollegen wieder aufgegriffen.512 Es muss also angenommen werden, dass die Bedeutung von Fernsehangeboten zu einem maßgeblichen Teil in der alltäglichen Anschlusskommunikation mit Bekannten verhandelt wird. Diese Überlegung schließt auch an die theoretischen Ausarbeitungen an, in der die Zusammenhänge zwischen Rezipienten und Sendungsangeboten diskutiert und die Sozialität des Menschen bereits hervorgehoben wurde. Gruppenzugehörigkeiten prägen Identität, Habitus und Alltagshandlungen von Menschen. Die Gruppendiskussion ist damit auch als alltagsnahe Methode zu bewerten.513 Die in dieser Arbeit durchgeführten Gruppendiskussionen können eine Alltagsnähe der Deutung von Medienangeboten allerdings nur andeuten. Sie wurden einerseits quasi-experimentell inszeniert, vom Forschungsinteresse der Arbeit initiiert und fanden andererseits nicht in gewöhnlichen Rezeptionssituationen statt. Dennoch wurde versucht, die alltäglichen situativen Rahmen der kommunikativen Herstellung von Bedeutung nachzustellen, etwa durch die Bekanntheit der Teilnehmer oder die Zurücknahme der Moderation.514 Eine stabile Gruppengröße war demgegenüber eine untergeordnete Priorität der Gruppenauswahl, da das Interesse an einer Teilnahme und die damit verbundene Wahrscheinlichkeit der Entstehung selbstläufiger Diskussionen als wichtiger einge512 Dies entspricht auch dem Agenda-Setting-Ansatz der Kommunikationswissenschaft, der besagt, dass Massenmedien häufig die Themen setzen, über die in unterschiedlichen Öffentlichkeiten bis zum Stammtisch gesprochen wird. Der Einfluss auf die Bewertung der Themen allerdings liegt eher in der Gruppenkommunikation. Sie beeinflussen also nicht unbedingt was wir denken, sondern worüber wir nachdenken. Vgl. zusammenfassend Burkart, Roland (2002): Kommunikationswissenschaft, S. 248ff. 513 Zur Anforderung an die Moderation vgl. u.a. Kühn, Thomas; Koschel, Kay-Volker (2011): Gruppendiskussionen, S. 139ff.; Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung, S. 67ff. 514 Höijer hat kritisiert, dass die Interpretationen, die von Gruppen in der Alltagskommunikation geleistet werden, selten mit den elaborierten Interpretationsleistungen einer Gruppendiskussion zu vergleichen seien. Es wird aber vermutet, dass dieser Unterschied nur im Artikulationsumfang besteht. Höijer, Brigitta (1990): Studying Viewers’ Reception of Televsion Programmes: Theoretical and Methodological Considerations. In: European Journal of Communication 5 (1), S. 29-56.

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schätzt wurde. Es wurde dennoch auf eine relative Stabilität geachtet, indem gemäß der soziologischen Definition einer Gruppe mindestens drei Teilnehmer an der Gruppendiskussion partizipieren sollten. Die Gruppengröße erscheint darüber hinaus auch angesichts gruppenspezifischer Gesprächsdynamiken ohnehin nur einen geringen Einfluss auf Diskussionsverläufe zu haben. Auch im Rahmen einer kritischen methodischen Reflexion hat sich das Vorgehen als praktikabel erwiesen. Die leicht variierende Gruppenstärke kann nicht als deutlich verzerrende Variable gewertet werden, da sowohl meinungsstarke und dominierende Gesprächsteilnehmer unabhängig von der Größe der Gruppen in allen Diskussionen zu finden waren als auch schüchterne Teilnehmer mit geringerem Gesprächsanteil. Ebenso hingen auch Erfolg und Dauer selbstläufiger Diskussionssequenzen nicht von der Gruppengröße ab.515 Darüber hinaus lässt sich argumentieren, dass auch in alltäglichen Rezeptionssituationen Gruppenzusammensetzungen variieren können und oft selbstgewählt sind. Entscheidender als die Gruppengröße sind die zugrunde gelegten makrosoziologischen Variablen, durch die sich die Homologie der Gruppen definieren lässt. Da Bedeutungszuweisungen von Gruppen miteinander verglichen werden sollen, die im jeweiligen gesellschaftlichen Referenzsystem der Formatversionen lokalisiert sind, ist bereits eine erste Variable definiert. Ähnlich wie ethnische Unterschiede bei Liebes und Katz zentrale Unterscheidungskriterien sind, kennzeichnen in dieser Arbeit die nationale Zugehörigkeit sowie die Zugehörigkeit zu den betreffenden Sprachgemeinschaften die Gruppen. Für die deutschen Formatversionen wurden entsprechend deutsche Rezipienten, für die arabischen Formatversionen wurden ägyptische Rezipienten befragt (vgl. dazu ausführlicher Kapitel 3.2.2). Um jedoch zwischen den nationalen Erfahrungsrahmen eine Vergleichbarkeit der Gruppen herzustellen, wurde eine zusätzliche Homogenität der Gruppen durch die Variablen Alter und Bildungsstatus angestrebt. Eine regelmäßige Zuwendung zu den Programmen selbst konnte keine verbindliche Variable im Vorfeld der Rekrutierung von Diskussionsteilnehmern sein, da keine geeigneten Möglichkeiten einer repräsentativen Vorerhebung insbesondere für das ägyptische Publikum bestanden. Auch waren Daten zu den Zielgruppen der Nutzer auf deutscher, nicht jedoch auf ägyptischer Seite vorhanden und der Zugang zu bestimmten Nutzergruppen (Fans, regelmäßige oder gelegentliche Nutzer) konnte nicht sichergestellt werden. Daher wurden Nutzungsgewohnheiten in einem Fragebogen erfasst und als unabhängige Variable in die Interpretation der Ergebnisse einbezogen. 515 Insgesamt verlief die Etablierung einer Diskussion nur in einer deutschen und einer ägyptischen Schülergruppe durch die Schüchternheit der Teilnehmer etwas schleppend. Trotz des kürzeren Diskussionsverlaufs und kürzerer Gesprächsanteile wurden aber auch hier inhaltliche Deutungen sichtbar.

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Trotz der Unsicherheiten des Feldzugangs wurde entschieden, sich an potenziellen Zielgruppen der Sendungen zu orientieren. Da die institutionelle Einbindung von Teilnehmern den Zugang in beiden Feldkontexten erleichtert und die Ergebnisse vergleichbar macht, wurden schließlich Schüler im Alter zwischen 13 und 17 Jahren sowie Studenten sozialwissenschaftlicher Fächer als exemplarische Publikumsgruppen definiert. Es wurden Schüler und Studenten aus unterschiedlichen Institutionen und Standorten eingeladen, um nicht nur Gruppen identischer Erfahrungsräume einzubeziehen und innergesellschaftliche Vergleichsmöglichkeiten zu erhalten. Die Diskussionen wurden in alltäglichen institutionellen oder selbstgewählten Settings der Gruppen durchgeführt und aufgezeichnet.516 Die Suche nach Teilnehmern wurde durch eine doppelte Strategie des empirischen und theoretischen Samplings vorgenommen. Das heißt, dass zunächst vergleichbare Gruppen gesucht und später durch ein theoretisches Sampling erweitert wurden. Die studentischen Teilnehmer konnten alle über institutionelle Kontakte akquiriert werden; bei den Schülergruppen war es hingegen aufgrund der mangelnden Kooperation seitens der Schulen in beiden Forschungsfeldern nötig, auch auf zusätzliche soziale und persönliche Netzwerke in einem Schneeballsystem zurückzugreifen, was in der Analyse eine besonders sensible Reflexion des Bias und des jeweils spezifischen Erfahrungshintergrunds der Gruppen notwendig machte. Der Ablauf der Rezeptionsstudie soll im Folgenden noch detaillierter vorgestellt werden. Er orientierte sich konkret an drei Untersuchungseinheiten: Den ersten Teil des Gruppendiskussionsverfahrens stellte die gemeinsame Rezeption eines 30-minütigen Ausschnitts einer Episode des Formats dar. Der Eingangsstimulus und Grundreiz517 wurde für alle Teilnehmer der Diskussionen stabil gehalten. Für Versionen von GOT TALENT wurden hierfür die ersten 30 Minuten der ersten Episode beider Staffeln ausgewählt, für die Versionen von MILLIONÄR hingegen die elfte Episode der untersuchten Staffel, da das arabische Format mit einer Spezialepisode mit Prominenten eröffnet wurde und für die Untersuchung möglichst Beispiele ausgewählt werden sollten, die repräsentativ für die gesamte Staffel sind. Anders als in der bereits erwähnten Studie von Liebes und Katz518 wurde sich hier für die Stabili516 Die Diskussionen fanden in den deutschen Städten in Räumlichkeiten der Universitäten und Schulen statt, in Kairo u.a. in einer Sprachschule in Nasr City, in Studentenwohnheimen in Zamalek, auf dem Campus der American University of Cairo und Cairo University sowie in den beliebten Cafés Cilantro und Costa. Die ägyptischen Studienteilnehmer kamen u.a. aus den Stadteilen Ma’adi, Mohandessin, Nasr City und Heliopolis. 517 Wagner, Hans; Schönhagen, Philomen (2009): Qualitative Methoden in der Kommunikationswissenschaft, S. 293. 518 In Liebes und Katz’ Studie wurde zwar eine Episode von DALLAS im heimischen Setting und im aktuellen Fernsehprogramm rezipiert, was jedoch zur Folge hatte, dass sich die Gruppendiskussionen auf unterschiedliche Episoden bezogen. Dieser Ungleichheit

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tät des Eingangsstimulus entschieden, um eine bessere Vergleichbarkeit der Diskussionen und des Aufmerksamkeitspotenzials herzustellen. Im Verlauf der Rezeption wurden durch die Forscherin in der Rolle der teilnehmenden Beobachterin Notizen zum Rezeptionsverhalten gemacht, die anschließend exemplarisch in die Analyse einbezogen wurden.519 Im zweiten und wichtigsten Teil des Gruppendiskussionsverfahrens wurde mithilfe teilstandardisierter Leitfragen eine Anschlusskommunikation an die gemeinsam gesehenen Sendungen induziert. Dabei war es das Ziel, selbstläufige Diskussionen der Gruppenteilnehmer untereinander anzuregen. Um sicherzustellen, dass der Diskussionsraum von den Teilnehmern selbst gefüllt und gestaltet werden konnte, wurde eine größtmögliche Zurückhaltung der Forscherin im Gespräch sowie eine offene Formulierung der Fragen im Sinne einer möglichst geringen Beeinflussung der Deutung angestrebt. Es ist eine besondere Herausforderung des Kulturvergleichs, den Diskurs zwischen Diskussionsleiterin und Gruppe möglichst vergleichbar zu halten und andererseits den Gruppen die Möglichkeit zur Entwicklung eines eigenständigen Diskurses zu geben.520 Die Leitfragen (siehe Anhang) richteten sich daher nach übergeordneten Erkenntnisdimensionen, so dass die Gruppen über dieselben Aspekte der Sendungen diskutierten ohne dass ihnen dabei eine inhaltliche Zielrichtung vorgegeben wurde. Die theoretisch hergeleiteten Erkenntnisdimensionen sollen im Folgenden kurz erläutert werden: Das Kernanliegen der kulturvergleichenden Rezeptionsanalyse ist die Analyse der inhaltlichen Anschlussdiskurse. Bewährt hat sich in Rezeptionsstudien die Bitte um Nacherzählung dessen, was gemeinsam rezipiert wurde. Diese Einstiegsfrage wurde auch hier repliziert und um die Frage ergänzt, was den Teilnehmern während der Rezeption durch den Kopf gegangen ist. Diese assoziative Frage zielte darauf ab, erste Deutungsangebote der Gruppe vor der Diskussion einzufangen, um mögliche diskursive Veränderungen oder Stabilisierungen im Diskussionsverlauf nachwird innerhalb der Studie nicht umfassend Rechnung getragen, da die Gesamtnarration der Serie zugrunde gelegt wird, nicht aber auf mögliche dramaturgische Besonderheiten oder Wendungen in den einzelnen Episoden eingegangen wird, die wiederum einen Einfluss auf die Deutung der Gesamtnarration haben können. Liebes, Tamar; Katz, Elihu (2005): The Export of Meaning. 519 Transkripte wurden zu diesem Teil der Analyse nur exemplarisch angefertigt, da der notwendige Aufwand einer Transkription der überlagernden Tonspuren von Diskussion und Sendung in Bezug auf den explorativen Anspruch und die nachgeordnete Bedeutung des Grundreizes für den Untersuchungsaufbau nicht angemessen erschien. Im Rahmen der Auswertung wurde an geeigneter Stelle auf die angefertigten Notizen und das Rohmaterial der Audio- und Videoaufzeichnungen zurückgegriffen. 520 Zur Durchführung von Gruppendiskussionen vgl. auch Przyborski, Aglaja; WohlrabSahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung.

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vollziehen zu können. Es wurde darauf geachtet, dass Gesprächssequenzen von den Teilnehmern selbst zu Ende geführt wurden, um sicherzustellen, dass alle latent verfügbaren Deutungen artikuliert werden. Impulsfragen zu wahrgenommenen Botschaften beziehungsweise offen zugrundeliegenden Bedeutungen der Sendung zielten auf eine direkte Interpretationsaufforderung. Neben dem konkreten Inhalt des Sendungsausschnitts (Rekonstruktionsfrage) und dem allgemeinen Bedeutungsspektrum der Sendung (Frage nach Assoziationen und Botschaften) wurde auch explizit nach Einschätzungen der beteiligten Akteure der Sendung gefragt (Beispielsweise: »Wie findet ihr denn den Moderator?«), um die Aussagen der Rezipienten mit den Figurenanalysen der Inhaltsanalyse abgleichen zu können. Im Anschluss an die theoretische Auseinandersetzung um die Art und Weise der Zuwendung zu den Fernsehformaten werden neben den inhaltlichen Interpretationen auch die Rezeptionsmodi untersucht, um den Zusammenhang zwischen allgemeiner Zuwendung und inhaltlicher Auseinandersetzung zu erhellen. Zuwendungsmuster, die im Kapitel 2.1.3 theoretisch eingeführt wurden, ließen sich als implizite Aussagen aus den generierten Daten ableiten. Es wurden aber unterstützend auch direkte Fragen zur persönlichen Zuwendung gestellt: Etwa, ob sich Rezipienten durch die Sendung angesprochen fühlten oder Elemente ihrer alltäglichen Umwelt und Kultur darin wiederfanden. In diesem Zusammenhang wurden auch Hinweise auf mögliche Rezeptionsbedürfnisse und Gratifikationspotenziale der Formatversionen berücksichtigt, da davon ausgegangen werden kann, dass die Gründe der Zuwendung zu einer Sendung auch Einfluss auf die Art und Weise der Zuwendung haben können. Um die inhaltlichen Anschlussdiskurse vor allem vor dem Hintergrund ihrer Kontextgebundenheit einschätzen zu können, wird schließlich rekonstruiert, auf welches Wissen die Diskussionsteilnehmer in ihrer Diskussion über die Sendung zurückgreifen. Induktiv konnten hier Bezüge zu alltagsweltlichen und inter- wie intramedialen Diskursen herausgefiltert werden. Zusätzlich aber wurde um eine Einordnung der Sendung im Vergleich zu anderen Sendungen der Fernsehlandschaft gebeten (»Ist die Sendung eurer Meinung nach typisch für deutsches Fernsehen oder ist sie eher eine Ausnahme?«) und es wurde nach der Einschätzung der ästhetischen Darstellung gefragt (»Wie würdet ihr denn die ganze Aufmachung der Sendung beschreiben?«), um konkrete Eckpunkte der Vergleichbarkeit herzustellen. Die Gruppenteilnehmer wurden schließlich im dritten Untersuchungsschritt gebeten, einen Fragebogen auszufüllen. Da die Deutung des Fernsehangebots nicht jedoch die alltägliche Handlungspraxis selbst Fokus der Analyse ist,521 letztere aber eine erklärende Variable für die Interpretation sein kann, wurde zusätzlich eine standardisierte Fragebogenerhebung durchgeführt, um das alltägliche Fernsehnut521 Vgl. bspw. Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung, S. 94; Schrøder, Kim (2000): Making Sense of Audience Discourses.

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zungsverhalten in die Auswertung der Gruppendeutungen einbeziehen zu können. Gefragt wurde nach dem Umfang der Fernsehnutzung, nach individuellen Fernsehrepertoires, nach grundsätzlichen Einstellungen zum Medium Fernsehen sowie nach der Vertrautheit mit den untersuchten und weiteren Fernsehformaten, die im Untersuchungszeitraum verfügbar waren. Die Auswertung dieser Angaben ist gleichzeitig ein Instrument der internen Validierung und liefert Zusatzinformationen für die Explikation der Wissensrahmen und Erfahrungszusammenhänge, in die die Gruppeninterpretationen eingebettet sind. Die Gruppendiskussionen wurden digital aufgezeichnet522, was in der Forschungspraxis keinen deutlichen Einfluss auf die Diskussionssituation hatte. Es gilt für die Diskussion vermutlich das, was Angela Keppler für das Realitätsfernehen formuliert hat: »Die ›Ablenkung‹ durch die reale Situation ist auf Dauer größer als die Ablenkung durch die Aufzeichnung.«523 Für die Auswertung wurde das Datenmaterial mehrfach nachgehört und transkribiert, wobei leicht bereinigende Basistranskripte angefertigt wurden. Da kollektive inhaltliche Orientierungen im Vordergrund stehen und nicht Dynamiken der Gruppenkommunikation selbst, wurde auf aufwendige Feintranskripte verzichtet. Für die Bearbeitung des umfangreichen Textmaterials wurden erneut mehrere Analyseschritte einer qualitativen Inhaltsanalyse vorgenommen. 524 Zunächst wurde das Material entlang der drei Ebenen (Anschlussdiskurse, Rezeptionsmodi, Wissensrahmen) systematisch analysiert. Durch mehrere typisierende Strukturierungen und Explikationen konkreter Schlüsselstellen konnte das deduktive Raster um induktive Kategorien erweitert und präzisiert werden. Anhand des Textmaterials wurde eine Unterscheidung zwischen übergeordneten inhaltlichen Diskursen, Deutungsrahmen und Themenorientierungen getroffen und Dimensionen des kommunizierten Erfahrungswissens wurden erweitert. In mehrfachen Vergleichen der Gruppendiskurse konnten schließlich Typisierungen von Interpretationsgruppen vorgenommen werden. Auch wenn sich im Auswertungsverfahren an Mayring orientiert wurde, besteht eine Nähe zur formulierenden und reflektierenden Interpretation, wie sie in der dokumentarischen Methode angewendet wird. Denn die formulierende Interpretation entspricht der ersten Strukturierung, die den immanenten Sinngehalt des Gesagten konzentriert darstellen will, die reflektierende Interpretation schließlich widmet sich

522 Die ägyptischen Gruppen haben nur einer digitalen Tonaufnahme zugestimmt. Als primäre Grundlage wurde daher für alle Diskussionen die Audioaufnahme genutzt, in den deutschen Beispielen wurde nur ergänzend auf die Videoaufnahmen zurückgegriffen. 523 Keppler, Angela (1994): Wirklicher als die Wirklichkeit. Das neue Realitätsprinzip der Fernsehunterhaltung. Frankfurt am Main: Fischer, S. 22. 524 Mayring, Philipp (2010): Qualitative Inhaltsanalyse.

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dem dokumentarischen Sinngehalt, was in der Explikation ausgewählter Diskussionspassagen versucht wurde.525 Trotz der Vorteile einer Gruppendiskussion für die Analyse von Gruppenmeinungen müssen für die theoretische Reflexion der Ergebnisse einige methodische Anmerkungen gemacht werden. So muss erstens beachtet werden, dass die Diskussionen unterschiedlichen Übersetzungsvorgängen unterlagen. Während in den deutschen Gesprächen alle Teilnehmer ihre Muttersprache sprechen konnten, haben Forscherin und lokale Akteure im ägyptischen Kontext auf eine Fremdsprache zurückgreifen müssen, so dass leichte Verzerrungseffekte in Hinblick auf die Artikulationsdichte zu erkennen sind.526 Besondere Berücksichtigung muss in der vorliegenden Untersuchung zweitens die Interaktion zwischen Forscherin und Beforschten finden. Denn aufgrund der unterschiedlichen kulturellen Settings variiert auch die Rolle der Forscherin gegenüber den Diskussionsteilnehmern. So war eine intuitive Orientierung an der Forscherin im Interaktionsprozess zu erkennen, die mithin als »Wissenschaftlerin«, als »Fremde« oder »Autoritätsperson« wahrgenommen wurde. Kritische Deutungen wurden so möglicherweise durch Effekte der antizipierten sozialen Erwünschtheit befördert. Es wurde in der Analyse daher immer auch auf den Diskurs der Forscherin mit den Untersuchten und nicht nur auf den Diskurs der Untersuchten untereinander geachtet.527

525 Bohnsack, Ralf (2003): Rekonstruktive Sozialforschung, S. 134ff.; Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung, S. 298f. 526 Missverständnisse des Fremdverstehens im Zuge der Fremdsprache lassen sich nicht vollständig kontrollieren. Es wurde aber versucht, Kernaussagen zu erfassen und in den Vordergrund der Analyse zu stellen und sprachliche Besonderheiten von Wortverwendungen kontextsensibel einzubeziehen. 527 Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung, S. 96f. Im Untersuchungsdesign ist keine ethnographische Beobachtung der Alltagskontexte der Rezipienten integriert. Allerdings wurden mittelfristige Beobachtungen durch einen Forschungsaufenthalt in Kairo/Ägypten und bei Felduntersuchungen in Deutschland berücksichtigt und sekundäre Quellen über den allgemeinen Kontext der Fernsehnutzung in Ägypten und Deutschland einbezogen.

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Tabelle 1: Übersicht über die realisierten Gruppendiskussionen Teilnehmer: 101 (55 deutsche, 46 ägyptische Teilnehmer), Dauer ca. 70-120 Min./Diskussion Bz.

Gruppenkontext

Datum

Ort

WER WIRD MILLIONÄR – RTL D03

6 SchülerInnen (Gymnasium)

16.01.2012

Region Hannover

D08

3 StudentInnen (FUB)

04.05.2012

Berlin

D11

4 StudentInnen (UE)

10.12.2013

Erfurt

D05

3 Studenten (UE)

12.12.2013

Erfurt

MAN SAYARBAH AL-MALYOON – MBC 1 Ä02

3 StudentInnen (CU + Familie)

22.09.2012

Kairo Heliopolis

Ä07

3 StudentInnen (AUC)

29.09.2012

Kairo

Ä09

3 StudentInnen (AUC)

30.09.2012

Kairo New Cairo/AUC

Ä10

4 StudentInnen (CU + Freunde)

01.10.2012

Kairo Zamalek

DAS SUPERTALENT – RTL D01

3 StudentInnen (UL)

05.01.2012

Leipzig

D02

6 SchülerInnen (Gymnasium)

16.01.2012

Region Hannover

D04

5 SchülerInnen (Gymnasium)

09.03.2012

Region Hannover

D06

4 ausländische, arab. Studenten (UL)

20.04.2012

Leipzig

D07

7 SchülerInnen (Realschule)

25.04.2012

Region Hannover

D09

7 SchülerInnen (Gymnasium)

27.06.2012

Leipzig

D10

4 StudentInnen (FUB)

02.05.2013

Berlin

D12

3 StudentInnen (UE)

10.12.2013

Erfurt

ARABS GOT TALENT – MBC 4 Ä01

3 StudentInnen (AUC)

22.09.2012

Kairo Zamalek

Ä03

4 ausländische, arab. StudentInnen (DAAD)

23.09.2012

Kairo Zamalek

Ä04

4 StudentInnen (CU)

25.09.2012

Kairo Dokki

Ä05

5 StudentInnen (CU + Freunde)

29.09.2012

Kairo Maadi

Ä06

6 SchülerInnen (Freunde int. Schulen)

29.09.2012

Kairo Nasr City

Ä08

3 Schüler/Freunde/Familie (int. Schulen)

30.09.2012

Kairo Zamalek

Ä11

4 StudentInnen (CU)

02.10.2012

Kairo Dokki

Ä12

4 Schülerinnen/Freunde (div. int. Schulen)

03.10.2012

Kairo Mohandessin

* Legende: AUC = American University in Cairo, CU = Cairo University, UE = Universität Erfurt, FUB = Freie Universität Berlin, UL = Universität Leipzig, DAAD = Deutscher Akademischer Austauschdienst

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3.1.3 Experteninterviews Der dritte Analysebaustein bezieht sich auf die Produktionskontexte der Formatadaptionen. Das Erkenntnisinteresse gliedert sich dabei analytisch in eine mikroanalytische Ebene, also die individuellen Deutungen der Fernsehmacher, und in eine mesoanalytische Ebene, also Produktionsroutinen innerhalb der Unternehmen und Fernsehlandschaften. Wie in der theoretischen Herleitung aufgezeigt wurde, sind die Fernsehmacher als »kulturelle Gatekeeper« zu verstehen, die in einer Doppelrolle agieren; sie dekodieren selbst die internationalen Formatangebote und rekodieren das Angebot im Zuge seiner Reproduktion. Für die Analyse des Bedeutungstransfers sind schließlich zwei Vergleichsdimensionen relevant: Einerseits ist im Rückgriff auf Hall zu klären, wie sich die Äquivalenzverhältnisse der Kodierung und Dekodierung zwischen lokalen Produzenten und lokalen Rezipienten verhalten. Das heißt, die Lokalisierungsstrategien auf Seiten der Produktion werden mit denen auf Seiten der Rezeption verglichen. Andererseits sind aber ebenso die (trans-)kulturellen Deutungsrahmen und Interpretationen unterschiedlicher Produzenten von Bedeutung, um Aussagen über die Synchronität und Ähnlichkeit von Gatekeeperund Adaptations-Mechanismen in unterschiedlichen lokalen Produktionskontexten treffen zu können. Aus diesen Überlegungen ergeben sich die folgenden forschungsleitenden Fragen für diesen Untersuchungsschritt: 1. Welchen Einfluss haben Produktionsbedingungen auf die Reproduktionsentscheidung und die spezifische Erscheinung der Formatvarianten?    

Welche Akteure haben Einfluss auf den Prozess der kreativen Aneignung von standardisierten Formatkonzepten? Welchen institutionellen Produktionsstrukturen und -routinen folgt die Reproduktion in unterschiedlichen Fernsehlandschaften? Welche inhaltlichen Diskurse und Deutungsmuster werden von individuellen Produzenten in Bezug auf die Formate entwickelt? Lassen sich durch die diskursiven Produktionspraktiken Aussagen über die Konstitution lokaler oder grenzüberschreitender Produktionskulturen treffen?

Um Aussagen über die Produktionspraktiken und -routinen sowie individuelle Deutungen der Produzenten treffen zu können, wurden qualitative, problemzentrierte Interviews528 mit den Akteuren durchgeführt. Hauptsächlich handelt es sich bei den sogenannten Experten um Akteure, die selbst Teil des Handlungsfeldes »Formathandel« waren und Verantwortung im Zusammenhang mit dem Kauf oder der Reproduktion der Formatversionen trugen und damit über ein bestimmtes Rollenwis528 Mayring, Philipp (2002): Einführung in die qualitative Sozialforschung, S. 67f.

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sen verfügten.529 Hinzu kamen wenige Interviews, die mit Akteuren geführt wurden, die zwar außerhalb des konkreten Handlungskontextes standen, aber Zugang und Kontextwissen hatten, das für die explorative und felderschließende Analyse als besonders relevant eingestuft wurde. Nach Michael Meuser und Ulrike Nagel werden Experten in erster Linie nach ihrer Berufsrolle in organisatorischen und institutionellen Zusammenhängen definiert; die Lebenszusammenhänge der Akteure spielen hierfür keine Rolle. 530 Auch wenn diese Lebenswelt nicht direkt analytisch erfasst werden kann und die forschungspraktischen Ressourcen wie auch die Verfügbarkeit der Experten keine Möglichkeit einer umfassenden lebensweltlichen Beobachtung der Akteure zulässt, ist dennoch theoretisch zu argumentieren, dass gerade im Kontext der Dekodierungsleistungen der Formate die kulturelle Sozialisation der Akteure einen Anteil an den Handlungen in den Berufskontexten haben. Auch wenn davon auszugehen ist, dass die Weitergabe von Informationen und Sichtweisen der Experten durch das Handlungsfeld bestimmt werden, die Experten also aus ihrer Berufsrolle heraus berichten, so zeigen sich auch in den Gesprächen Brechungen, wenn etwa eigene Meinungen explizit als solche ausgezeichnet werden.531 Die Experten wurden mithin sowohl in ihrer Rolle als Wissens- und Entscheidungsträger (Berufsrolle) im Kontext der organisatorischen Abläufe und Konventionen wie auch in ihrer Rolle als individuelle Meinungsgeber (Berufsrolle und Privatrolle) adressiert. Den Interviews lag ein teilstandardisierter Fragebogen zugrunde (siehe Anhang), um so einerseits die Vergleichbarkeit der Interviews sicher zu stellen, andererseits aber auch eine notwendige Flexibilität in Hinblick auf die unterschiedlichen Berufsrollen und Positionen der Akteure zu wahren, die aus unterschiedlichen Perspektiven Aussagen über den Formattransfer entwickelten. Die halbstandardisierte Befragung eignet sich insbesondere vor dem Hintergrund des explorativen Charakters der Untersuchung singulärer Beispiele des Formattransfers wie auch der subjektiven Sichtweise, die hier im Forschungsinteresse steht.532 Die Leitfragen wurden auf der Basis des Erkenntnisinteresses erstellt und fassten sowohl einen Fragekomplex zu a) einer persönlichen Lesart der Formate, b) formalen Zusammenhängen 529 Meuser, Michael; Nagel, Ulrike (1991): Expertinneninterviews – vielfach erprobt, wenig bedacht: ein Beitrag zur qualitativen Methodendiskussion. In: Garz, Detlef; Kraimer, Klaus (Hg.): Qualitativ-empirische Sozialforschung. Konzepte, Methoden, Analysen. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 441-471; Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung, S. 118ff . 530 Meuser, Michael; Nagel, Ulrike (1991): Expertinneninterviews, S. 442. 531 Auch wenn forschungslogisch selbst dann nicht geklärt werden kann, ob es sich tatsächlich um eigene Meinungen handelt. 532 Wagner, Hans; Schönhagen, Philomen (2009): Qualitative Methoden in der Kommunikationswissenschaft, S. 319ff.

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und Abläufen des konkreten Transfers, wie auch c) zu allgemeinen Sichtweisen auf die Entwicklung, Funktion und Bedeutung des Formathandels zusammen. Insofern ist für die vorliegende Teiluntersuchung vor allem das Betriebs- und Erfahrungswissen der Experten von Interesse.533 Wohlrab-Sahr und Przyborski argumentieren in ihrer Auseinandersetzung mit Meuser und Nagel, dass das »Betriebswissen« sowohl Wissen um formalisierte wie auch nicht formalisierte Handlungspraktiken der Organisation als auch Deutungsmuster und die beanspruchte Deutungsmacht der Experten beinhaltet.534 Es wurde in der Untersuchung versucht, beide Ebenen analytisch zu berücksichtigen. Während der Fragekomplex b) stärker auf die erste Ebene zielt, dienen die anderen a) und c) der Suche nach Deutungsmustern. Für die Auswertung der Experteninterviews wurde wiederum auf die Operationen inhaltsanalytischer Verfahren nach Mayring zurückgegriffen. Insbesondere wurden die inhaltlichen Aussagen der unterschiedlichen Akteure miteinander verglichen. Im Gegensatz zur Auswertung der Gruppendiskussionen wurde allerdings ein stärkeres Gewicht auf die externe Kontextualisierung, also eine Explikation von Schlüsselstellen der Aussagen der Akteure gelegt. Externe theoretische und empirische Validierungen sind hier nötig, da die Beantwortung der Fragen vor dem Hintergrund der Funktionsrollen auch stärkeren Restriktionen unterliegen kann (etwa durch unternehmensinterne Richtlinien zur Schweigepflicht bezüglich laufender Produktionen). So ist im Analyseprozess nicht immer zu klären, welchen immanenten Regeln der Artikulationsumfang als auch die inhaltlichen Formulierungen folgen. Im Rahmen einer Reflexion des Verfahrens ist aber festzuhalten, dass sich die Akteure, die sich zum Gespräch bereit erklärt haben, aus Sicht der Forscherin durchaus transparent und umfangreich über den Produktionsprozess berichtet haben. Allerdings muss an dieser Stelle betont werden, dass sich der Zugang zum Feld des Formathandels als schwierig und zeitaufwendig erwies, da nicht alle Akteure eine Bereitschaft zum Interview gezeigt haben.535 Darüber hinaus hielten sich die Interviewpartner an unterschiedlichen Orten der Welt auf, was die Koordination zu533 Meuser, Michael; Nagel, Ulrike (1991): Expertinneninterviews, S. 447. 534 Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung, S. 119f. 535 Die Terminfindung gestaltete sich mit den Entscheidungsträgern schwierig. Zum Teil wurden Zusagen zu Interviews zurückgenommen, nicht alle Interviewpartner stimmten persönlichen Interviews zu. Die Zugangsrestriktionen erklären auch die lange Erhebungsdauer dieses Analyseschrittes. Da jedoch in den problemzentrierten Interviews keine narrativen Details evaluiert werden, wird die theoretische Verzerrung der Daten aufgrund unterschiedlicher Erhebungsformen nicht überbewertet. Die Interviews wurden auf Deutsch und Englisch durchgeführt. Neben persönlichen Treffen waren auch Telefon- und Skype-Interviews notwendig, die sich aber in Länge und Umfang kaum von den persönlichen Interviews unterschieden.

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sätzlich erschwerte. Dennoch konnten am Ende insgesamt 19 Interviews mit Produzenten, Distribuenten, Entscheidungsträgern, Moderatoren und sogar Teilnehmern der Sendungen durchgeführt werden.536 Die Daten erlauben damit insgesamt eine für den explorativen Anspruch der Felderfassung angemessene Analyse der Produktionsroutinen und individuellen Deutungen heterogener Akteure der Fernsehindustrien beider gesellschaftlicher Referenzsysteme. Tabelle 2: Übersicht über realisierte Experteninterviews Teilnehmer insgesamt: 19, Dauer: ca. 45-90 Min./Interview Name Günther Schröder

Berufsbezeichnung Geschäftsführer

Matthias Alberti

Leiter d. Bereichs Unterhaltung »Format Scout« Sales Director/ Head of Sales Leitender Redakteur Executive Producer/ Head of Programming Development Unit Produzent Chief of Development

Elfi Jäger Graham Spencer Kai Sturm Salwa Soueid

Paul Smith Marcus Reddemann Jamie Lynn

Volker Weicker Raya Abirached Jens Bujar Alies Glees

SVP Sales (Middle East, Southern Europe, Africa) Regisseur (Live) Moderatorin Creative Director Executive Producer

Christoph Fey

Rechtsanwalt

Irene Zurawczak

Leitende Redakteurin

anonym

Kandidaten

Institution MINDTHE COMPANY RTL

Interview 05.07.2011

Form persönlich

29.09.2011

persönlich

FREIBERUFLICH 2WAYTRAFFIC/ CELADOR RTL MBC

08.11.2011 21.11.2011

persönlich via Skype

27.4.2012 17.6.2012

telefonisch telefonisch

ITV GRUNDY/UFA

13.2.2013 23.11.2011

telefonisch telefonisch

FREMANTLEMEDIA

23.4.2012

telefonisch

RTL MBC GRUNDY /UFA GRUNDY/UFA/ FREIBERUFLICH u.a. EMC, FRAPA ENDEMOL DEUTSCHLAND SUPERTALENT MILLIONÄR MILLIONÄR MILLIONÄR

06.03.2013 27.11.2013 07.01.2014 27.01.2014

persönlich via Skype telefonisch telefonisch

19.2.2013

persönlich

14.01.2014

schriftlich

28.07.2011 24.08.2011 24.08.2011 09.11.2011

persönlich persönlich persönlich persönlich

536 Die Interviews mit den insgesamt vier Kandidaten sind letztlich nur in die allgemeine Kontextanalyse eingeflossen, da sich leider keine arabischen Teilnehmer für ein Interview bereit erklärten und dementsprechend kein Vergleich angestrebt werden konnte.

A NALYSEDESIGN | 203

3.2 AUSWAHL DER F ALLBEISPIELE 3.2.1 Formate: W HO W ANTS TO B E A M ILLIONAIRE und G OT T ALENT Die Abhandlung zur Entwicklung des Formathandels im Einleitungskapitel der Arbeit hat bereits einen Eindruck des Fundus an Formaten deutlich gemacht, die über nationale Grenzen hinaus zirkulieren. Die Erfassung der kompletten Formatzirkulation nach Weltregionen oder produzierenden Unternehmen ist jedoch defizitär, was eine systematische Auswahl der zu untersuchenden Formate nahezu unmöglich macht. Die Recherche von formatierten Programmen in der arabischen Welt unterliegt darüber hinaus Restriktionen, da Daten nur teilweise vorhanden und noch seltener zugänglich sind. Unter Einbezug dieser einschränkenden Voraussetzungen wurden drei zentrale Anforderungen an die Auswahl der Untersuchungsbeispiele formuliert: Erstens sollten zwei Formate für die Untersuchung ausgewählt werden, die in den gleichen Fernsehlandschaften adaptiert wurden und möglichst unterschiedlichen Genres zugeordnet werden können. Damit wird der Vergleich zweier verschiedener Transfers in stabil bleibende Kontexte ermöglicht, der Aufschlüsse über mögliche regionale Muster des Transfers liefern kann. Die Untersuchung bleibt damit keine Einzelfallbeschreibung, sondern lässt auch Vergleiche von Teams und Produktionsroutinen innerhalb der beiden Fernsehlandschaften zu. Zweitens sollten die Sendungsvarianten in größtmöglicher zeitlicher Nähe in den jeweiligen Medienlandschaften ausgestrahlt worden sein, um vergleichbare Ausgangssituationen der Produktionskontexte zu gewährleisten, da davon ausgegangen wird, dass Formatkonzepte dynamische Biographien haben und sich jede Adaption rückwirkend auf die Konzepte und die Weitergabe des Know-hows auswirkt. Drittens sollten die gewählten Sendungen vor allem repräsentative Qualität besitzen, das heißt, es sollte sich um erfolgserprobte Formate handeln. Unter Einbezug dieser Kriterien wurden schließlich die beiden Formate MILLIONÄR und GOT TALENT als geeignete Untersuchungsbeispiele ausgewählt.537 MILLIONÄR wurde 2010 sowohl in Deutschland als auch in der arabischen Welt ausgestrahlt; GOT TALENT lief im deutschen Fernsehprogramm Ende 2010, im arabischen Programm MBC 4 Anfang 2011, wobei das ursprüngliche Ausstrahlungsdatum noch früher und damit nahezu synchron zur deutschen Ausstrahlung geplant war. Das zweite Kriterium ist durch diese Parallelität bestens eingelöst und auch die Differenzierung von Genre-Unterschieden wie auch die repräsentative Qualität wird von beiden Formaten erfüllt.

537 Im Erhebungszeitraum einer jüngeren zugänglichen Studie des Formathandels zählen beide Formate zu den 15 weltweit erfolgreichsten Formaten. Jäger, Elfi; Behrens, Sonja (Hg.) (2009): FRAPA Report 2009.

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Bei MILLIONÄR handelt es sich um das weltweit wohl erfolgreichste Fernsehformat aller Zeiten und eine der erfolgreichsten Quizshows überhaupt.538 Nach Angaben des aktuellen Formatinhabers 2WAYTRAFFIC wurde es bislang in über 100 Regionen reproduziert. Das Format geht auf die Idee dreier britischer Fernsehproduzenten zurück,539 wobei die Rahmenbedingungen es zuließen, dass von der Ursprungsidee bis zur ersten Ausstrahlung der Ursendung am 4. September 1998 auf ITV ganze drei Jahre Entstehungszeit vergingen und damit viel Zeit in die Innovationsarbeit investiert werden konnte. Das Format kann dem Genre der Quizshow zugeordnet werden und besteht im Kern aus einem Wissensspiel, in dem ein Kandidat eine bestimmte Anzahl an zufällig ausgewählten Fragen beantworten muss, denen aufsteigende Gewinnsummen zugeordnet sind. Er hat dabei je vier Antwortvorgaben, von denen er die richtige auswählen muss. Mithilfe weniger Joker hat der Kandidat so die Möglichkeit, am Ende einen hohen finanziellen Gewinn zu erzielen. Obwohl Fragen und Antworten von einem Computer vorgegeben werden, interagiert der Kandidat mit einem Moderator, der den Ablauf des Spiels lenkt. Neben diesem Spielrahmen ist die uneingeschränkte Teilnahmemöglichkeit an der Sendung ein zentraler Bestandteil. Die Auswahl der Kandidaten erfolgt laut Angabe des Formatinhabers per Zufall und mit der einzigen Hürde, eine Frage im Vorfeld beantworten zu müssen. Da bestimmte gesellschaftliche Wissensbestände in der Sendung abgerufen werden, bedarf es für eine erfolgreiche Teilnahme allerdings eines Mindestmaßes an kulturellem Kapital, genauer eines Bildungskapitals, um die Fragen beantworten oder zumindest erraten zu können. Auch das Castingformat GOT TALENT, das vom britischen Musik- und Filmproduzenten Simon Cowell konzipiert wurde, lässt sich in wenigen Sätzen beschreiben. Es handelt sich bei dieser Sendung um einen Wettbewerb, in dem ebenso jeder die Chance erhält, ein Talent vor einer Jury und einem größeren Saalpublikum zu präsentieren. Talent wird dabei nicht auf ein bestimmtes Genre beschränkt, sondern folgt eher einer Selbstdefinition der Kandidaten. Während in einem ersten Teil des Wettbewerbs die Jury die Halbfinalisten bestimmt, übernimmt in einem zweiten Teil das jeweilige Publikum selbst die Wahl über die Finalisten. GOT TALENT wurde 2006 das erste Mal in den USA ausgestrahlt und hat seitdem weltweit etwa eine halbe Milliarde Zuschauer in 54 Regionen der Welt erreicht. 540 538 Creeber, Glen (2004): Who Wants to Be a Millionaire? In: Creeber, Glen (Hg.): Fifty Key Television Programmes. London: Arnold, S. 232-236; Boddy, William (2008): The Quiz Show (Who Wants to Be a Millionaire?) In: Creeber, Glen (Hg.): The Television Genre Book. 2. Aufl. Basingstoke [u.a.]: Palgrave Macmillan, S. 162-164. 539 David Briggs, Mike Whitehall, Steve Knight. 540 FremantleMedia (2013): Got Talent. http://www.fremantlemedia.com/Production/Our_ brands/Got_Talent.aspx (24.05.2014).

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Gemeinsam ist den beiden Formaten aus medienökonomischer Perspektive, dass sie jeweils zu einem Aushängeschild der lizenzgebenden Unternehmen wie auch der ausstrahlenden Sender RTL und MBC geworden sind. Stärker als andere Formate sind diese beiden als zentrale internationale Marken etabliert worden. Beide Formate eignen sich darüber hinaus auch für eine crossmediale Vermarktung durch mögliche weitere Verwertungsketten im Bereich des Online-Spiels im Falle von MILLIONÄR oder von zusätzlichen Publikationsorganen und Anschlussformaten im Falle von GOT TALENT. Sie sind damit beide herausragende Beispiele für die weltweite Diffusion und den weltweiten Erfolg eines kommerziell vertriebenen und formal standardisierten Unterhaltungsangebots. Auch wenn es sich bei den Formaten um eine Quiz- und eine Castingshow handelt, lassen sich beide dem Genre der Spielshow zuordnen. In beiden Sendungen werden wettbewerbsorientierte Spielhandlungen medial inszeniert, 541 auch wenn sich der direkte Wettbewerb zwischen den Kandidaten bei MILLIONÄR lediglich auf eine erste Spielsequenz beschränkt, sich bei GOT TALENT hingegen über den gesamten Verlauf der Sendung erstreckt. MILLIONÄR ist ein Beispiel für eine klassische Quizshow, GOT TALENT für eine Talent- oder Castingshow. Das Grundmotiv jedoch ist der Wettbewerb um eine Gewinnsumme und einen damit verbundenen Titel, bei dem spezielle individuelle Fähigkeiten entscheiden. Gemäß gängiger Genre-Klassifikationen des Fernsehens lassen sich beide Formate ebenso dem Reality-TV zuordnen, da insbesondere die Teilnehmer der Sendungen keine öffentlichen Personen, sondern Privatpersonen sind, die auch in der Spielhandlung als Realpersonen erscheinen. Keppler hat den Ausdruck des »performativen Realitätsfernsehens« geprägt, was im Kern ausdrückt, dass das soziale Handeln in der Eigenwirklichkeit des Fernsehens gleichzeitig Rückwirkungen auf die Alltagswelt der handelnden Akteure hat. 542 Auch wenn in beiden hier untersuchten Formaten nicht die persönliche Entwicklung der Teilnehmer oder die Beobachtung von deren alltagsweltlichem Handeln im Vordergrund steht, so werden dennoch in den Sendungen alltägliche Routinen und Handlungen der Privatpersonen verhandelt. Beispielsweise eröffnen die Gesprächssequenzen bei MILLIONÄR die Möglichkeit, die Kandidaten als private Personen kennenzulernen und im Format GOT TALENT werden die Teilnehmer individuell vorgestellt und es werden im Sendungsverlauf auch Ausschnitte aus der Privatsphäre der Kandidaten integriert. Unbestreitbar scheint, dass die Teilnahme der Kandidaten Rückwirkung auf deren Alltagsrealität hat. Die Gewinnsummen bei MILLIONÄR bieten die Möglichkeit zu größeren Veränderungen des Lebens oder zumindest dafür, einen privaten Wunsch zu erfüllen. Gleiches gilt für die Gewinner von GOT TALENT. Bei beiden Formaten 541 Hallenberger, Gerd; Foltin, Hans-Friedrich (1990): Unterhaltung durch Spiel. Die Quizsendungen und Game Shows des deutschen Fernsehens. Berlin: Spiess. 542 Keppler, Angela (1994): Wirklicher als die Wirklichkeit.

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steht allerdings allein der Weg zum potenziell lebensverändernden Gewinn im Fokus der Darstellung, die tatsächliche Wirkung wird nicht weiter in der Fernsehöffentlichkeit verfolgt. Während bei MILLIONÄR noch davon ausgegangen werden kann, dass die außeralltägliche Fernsehpräsenz der Privatpersonen zumindest eine kurzzeitige Resonanz in deren alltäglichen Leben erzeugt, kann diese Resonanz in GOT TALENT stärker an einen konkreten Bedarf an Aufmerksamkeit gebunden sein, da die Möglichkeit des »Entdeckens« eines Talents und damit eines Karriereanschubs im Raum steht. Damit bietet dieses Format noch eher eine Plattform für nachhaltige Performativität im Sinne Kepplers: »Es handelt sich hier um Unterhaltungssendungen, die sich zur Bühne herausgehobener Aktionen machen, mit denen gleichwohl direkt oder konkret in die Alltagswirklichkeit der Menschen eingegriffen wird. Hier wird nicht allein Prestige oder Geld gewonnen (oder eben nicht gewonnen), was reale Lebensänderungen zur Folge haben kann, hier werden soziale Handlungen ausgeführt, die als solche bereits das alltägliche soziale Leben der Akteure verändern. Es sind die inzwischen schon kaum mehr zu überschauenden ›Kennenlern-‹ und ›Liebessendungen‹ die Heirats-, Such- und bald auch Scheidungsshows, die zur Gattung des performativen ›Reality-TV‹ gehören und die bei weitem populärste Form des Wirklichkeitsfernsehens darstellen [Herv. i.O.].«543

Die Realitäts-Dimension der Sendungen ist für die kulturvergleichende Analyse auch deshalb interessant, weil sie lokale Akteure in die Sendungen integriert und damit einen Ausschnitt der Alltagsrealität der betreffenden Referenzsysteme zum Zentrum der Inhalts- und Repräsentationsebene der Sendung macht. Auch wenn sich beide Formate an ein breites Publikum richten und weniger an ein Teilpublikum, das qua Generation, Interessenbereich oder Geschlecht vordefiniert wäre, so ist dennoch anzunehmen, dass das Sujet von GOT TALENT eher die reichweitenstarken Zielgruppen anspricht, MILLIONÄR hingegen eine Familiensendung im klassischen Sinne zu nennen ist. Den beiden Formaten wurde bisher unterschiedliche wissenschaftliche Aufmerksam zuteil. Während MILLIONÄR bereits zum Untersuchungsgegenstand zahlreicher Studien geworden ist, existieren bisher keine bekannten Analysen von GOT TALENT. Das mag einerseits daran liegen, dass MILLIONÄR seit über 15 Jahren international ausgestrahlt wird und zudem zum Inbegriff des Formathandels geworden ist, da es diesen vielleicht das erste Mal auf einem weltweiten Niveau sichtbar gemacht hat. Somit kann MILLIONÄR sicherlich stärker als GOT TALENT als Symbol einer Bewusstwerdung der global wirksamen Reproduktionsmechanismen der Fernsehindustrie angesehen werden. Ferner modifiziert GOT TALENT lediglich ein be543 Ebd., S. 7f.

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reits bekanntes Casting-Prinzip, das mit internationalen Marken wie STAR ACADEMY oder POP IDOL zuvor große internationale Erfolge verbuchen konnte. Die letztgenannten Formate wiederum sind ihrerseits ähnlich gut erforscht wie MILLIONÄR und gerade im Kontext von Untersuchungen zu Realityformaten viel diskutierte Beispiele,544 so dass sich auch in der Auseinandersetzung mit GOT TALENT auf einen Forschungsstand zurückgreifen lässt. Gleichwohl ist diese wissenschaftliche Aufarbeitung der konkreten Formate unsystematisch und reicht von deskriptiven Analysen über genretheoretische Einordnungen bis hin zu Diskussionen über die fernsehkritischen Einlassungen der Massenmedien zu den Formaten. Da es sich bei beiden Formaten um serielle Produktionen handelt, wurde die Grundgesamtheit der für die Analyse zugrunde gelegten Episoden reduziert. Für das Format MILLIONÄR war der Zugang zu Einzelepisoden der arabischen Version beschränkt. Der Forscherin wurden zwei Episoden seitens des Lizenzunternehmens 2WAYTRAFFIC zur Verfügung gestellt, zehn weitere konnten digital aufgezeichnet werden. Entsprechend wurden auch zwölf Episoden der deutschen Version ausgewählt und digital mitgeschnitten, die sich an der Ausstrahlungsreihenfolge der arabischen verfügbaren Versionen orientierte. Darunter waren sowohl die erste Episode der betreffenden Staffel wie auch jeweils eine Episode, in der ein Kandidat den Hauptpreis gewann. Insgesamt ist davon auszugehen, dass die Episoden aufgrund ihrer redundanten Struktur als exemplarische Beispiele gelten können. Die Grundauswahl von zwölf beziehungsweise insgesamt 24 Episoden mit einer Sendedauer von insgesamt 24 Stunden lag den quantifizierenden Analyseeinheiten zugrunde. Davon wiederum wurden jeweils fünf Episoden für einen qualitativen Analyseschritt herangezogen. Im Fall des zweiten untersuchten Formats, GOT TALENT, wurden alle 28 Episoden der beiden betreffenden Staffeln zugrunde gelegt, also 13 Episoden der arabischen und 15 Episoden der deutschen Version. Es wurden daraus wiederum etwa vier Stunden Datenmaterial für exemplarische qualitative Analyseschritte ausgewählt. Schwerpunktmäßig wurden die Casting-Episoden analysiert, da diese Impuls der Gruppendiskussionen waren. Demzufolge liegen den inhaltsanalytischen Untersuchungen insgesamt etwa 64 Stunden berücksichtigtes Filmmaterial zugrunde, wovon insgesamt etwa 19 Sendestunden qualitativ analysiert wurden.

544 Vgl. bspw. die Fallanalysen von POP IDOL in Oren, Tasha; Shahaf, Sharon (Hg.) (2012): Global Television Formats; Moran, Albert (Hg.) (2009): TV Formats Worldwid; Zwaan, Koos; Bruin, Joost de (Hg.) (2012): Adapting Idols; vgl. auch Baltruschat, Doris (2009): Reality TV Formats: The Case of Canadian Idols; Coutas, Penelope (2006): Indonesian Idol.

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Tabelle 3: Übersicht über das verwendete Datenmaterial Episoden insgesamt: 53 Datenmaterial / etwa 64h Aufzeichnung Sendung

Bz.

Episode

Ausstrahlungsdatum

D01

Episode 1

27.08.2010 Doppelfolge

D02

Episode 2

27.08.2010

D03

Episode 3

03.09.2010 Doppelfolge

D04

Episode 4

03.09.2010

D05

Episode 5

06.09.2010

D06

Episode 6

10.09.2010 Doppelfolge

D07

Episode 7

10.09.2010

D08

Episode 8

17.09.2010 Doppelfolge

D09

Episode 9

17.09.2010

D10

Episode 11

08.10.2010

D11

Episode 12

11.10.2010

D12

Episode 24

26.11.2010

A01

Episode 1

12.01.2010 Journalisten

A02

Episode 3

26.01.2010 Berufskraftfahrer

A03

Episode 4

02.02.2010 Elektromechaniker

A04

Episode 5

09.02.2010 Tierärzte

A05

Episode 6

16.02.2010 Mütter und Kinder

A06

Episode 10

16.03.2010 Angestellte & Chef

A07

Episode 11

23.03.2010 Großeltern

A08

Episode 12

30.03.2010 Bauarbeiter

A09

Episode 13

06.04.2010 Juristen

A10

Episode 15

20.04.2010 Staatsbeamte

A11

Episode 16

27.04.2010 Luftfahrt-Berufe

A12

Episode 17

unbekannt Dienstleister

ST

D01-D10

Episode 1-10, Casting

24.09. – 20.11.2010

RTL

D11-D14

Episode 11-14, Semi-Finals

27.11. – 15.12.2010

D15

Episode 15, Finale

18.12.2010

AGT

A01-A06

Episode 1-6, Casting

14.01. – 18.02.2011

MBC4

A07-A12

Episode 7-12, Semi-Finals

25.02. – 01.04.2011

A13

Episode 13, Finale

08.04.2011

WWM RTL

MSAM MBC1

* Legende: WWM = WER WIRD MILLIONÄR, MSAM = MAN SAYARBAH AL-MALYOON, ST = DAS SUPERTALENT, AGT = ARABS GOT TALENT

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3.2.2 Regionen: Deutschland und Ägypten Um Aufschluss über Entstehungskontexte, Dynamiken, Strukturen, Akteure und mögliche Wirkungspotenziale von grenzüberschreitenden Fernsehformaten zu erzielen, ist ein komparativer Zugang zwingend erforderlich. Der angestrebte Vergleich bedient zweierlei analytische Perspektiven: Es handelt sich um einen interbeziehungsweise transnationalen Vergleich auf der Ebene der Produktion, da Formate nach wie vor hauptsächlich in nationalen Programmen reproduziert werden. Auch wenn davon auszugehen ist, dass beteiligte Produktionsunternehmen in komplexen transnationalen Strukturen vernetzt sind, so richten sich die Formate in den meisten Fällen an ein nationales Zielpublikum und werden in nationalen Programmen ausgestrahlt. Aus strukturellem beziehungsweise systemischem Blickwinkel ist Formattransfer demnach im internationalen Vergleich zu erfassen. Da jedoch die nationale nicht mit einer kulturellen Entität gleichzusetzen ist und die Formate als komplexe kulturelle Texte konzeptualisiert werden, handelt es sich ebenso um einen inter- beziehungsweise transkulturellen Vergleich. Als Grundlage sollten für den Vergleich zwei gesellschaftliche Referenzsysteme gefunden werden, in die zwei Unterhaltungskonzepte erfolgreich transferiert wurden. Als Gegensatzpaar unterschiedlicher Referenzräume bietet sich ein Vergleich der Unterhaltungskommunikation in der sogenannten »westlichen« und »arabischen Welt« als »most different system design« an.545 Denn insbesondere der Westen und die islamische Welt, die häufig mit der arabischen gleichgesetzt wird, werden selbst in wissenschaftlichen Diskursen nach wie vor als kulturelles Gegensatzpaar konstruiert.546 Das Verhältnis zwischen den scheinbar antagonistischen Kulturräumen kann als angespannt beschrieben werden. Ereignisse wie die Iranische Revolution von 1979, die Attentate des 11. September 2001 und dem daraus entwachsenen Krieg gegen den islamistischen Terrorismus haben die geopolitischen Konfliktlinien zwischen USA und islamischer Welt verstärkt sichtbar gemacht. Samuel Huntingtons »Clash of Civilizations« und Thilo Sarrazins Polemiken über angeblich unüberwindbare »kulturelle« Integrationshürden muslimischer Migranten in Deutsch545 Auch wenn die Überlegungen zur komparativen Sozialforschung der Politikwissenschaftler Teune und Przeworski auf quantitativ orientierte Mehrebenendesigns abzielen, entspricht die Anlage im Design hier dem »most different systems design« der Autoren: »In the most different systems design, the question of at which level the relevant factors operate remain as open throughout the process of inquiry. The point of departure of this design is the population of units at the lowest level observed in the study, most often individuals. The design calls for testing whether this population is homogeneous [Herv. i.O.]«. Przeworski, Adam; Teune, Henry (1970): The Logic of Comparative Social Inquiry. New York: Wiley, S. 36. 546 Huntington, Samuel P. (1997): The Clash of Civilizations.

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land haben sicherlich dazu beigetragen, dass essenzialistische Projektionen auf den »muslimischen Fremden« öffentlich hoffähig wurden. Gerade in den Einwanderungsgesellschaften Europas ist beispielsweise die Wahrnehmung kultureller Unverträglichkeit des eigenen kulturellen Systems mit dem Islam ausgeprägt und es scheint, dass eine alte Orient-Okzident-Dichotomie hier nach wie vor in weiten Teilen der Gesellschaften reproduziert wird. Die »Flüchtlingsdebatte« in Deutschland und Europa 2015/16 liefert erneut Beispiele für die Beständigkeit eines vormals kolonialen Blicks, der zahlreiche kulturelle Stereotype, etwa des unzivilisierten »arabischen Mannes«, öffentlich zu reaktivieren hilft. Ähnlich sind aber auch Ressentiments gegen die potenziellen Folgen einer Amerikanisierung durch die kommerziellen Übergriffe einer globalen US-amerikanischen Populärkultur nach wie vor Anlass für konservative Kritiker in der islamischen Welt, einen darauf zurückgehenden Sittenverfall zu konstatieren und dem Westen gegenüber Argwohn zu hegen.547 Vor allem in öffentlichen Debatten werden Kultur, Marktprinzipien, Religion und politische Ideologien dann gern unreflektiert vermengt. Die Alltagskultur und Lebenswelt von Menschen in diesen konstruierten Großräumen spielt hingegen in der Berichterstattung selten eine zentrale Rolle und ist doch zugleich der Bereich, in dem vielleicht die größten Möglichkeiten kulturübergreifender Anschlusskommunikation bestehen oder Gemeinsamkeiten zu finden sind. Gerade in der Fernsehunterhaltung zeichnet sich eine universale Innovationslogik ab, die wohl eher verbindet als trennt. Populäre Kulturprodukte scheinen Grenzen nicht zu reproduzieren, sondern vielmehr zu transzendieren. Es kann daher auch als Anliegen der Arbeit gelten, mit dem Vergleich eines aktuellen Phänomens alltäglicher Unterhaltungskommunikation eine Dimension im westlich-arabischen Verhältnis zu erforschen, die zumindest in der deutschen und europäischen Forschungslandschaft bisher kaum beachtet wurde.548 Für die Auswahl der Formate und den Vergleich der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stellt die Festlegung auf einen westlich-arabischen Vergleich auch eine Herausforderung dar, da gerade für zahlreiche Regionen außerhalb der westlichen Welt Daten zum Formathandel nicht systematisch erfasst wurden. So wurde die arabische Formathandelspraxis beispielsweise bisher nicht in die Branchenreporte aufgenommen. Die Recherche formatierter Programme in der arabischen Welt ist, wie bereits erwähnt, schwer, da Daten nur teilweise vorhanden oder nicht zu-

547 Vgl. bspw. Hafez, Kai (1997): Einleitung: Der Islam und der Westen. 548 Sonja Hegasy etwa postuiliert: »Das geringe europäische Interesse an Entwicklungen außerhalb von Religion und politischem Islam zeigt sich sowohl im Bereich der Hochkultur als auch in der Populärkultur.« Hegasy, Sonja (2011): ›Arab’s Got Talent‹: Populärkultur als Ausdruck gesellschaftlicher Veränderung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 61 (39), S. 40-45.

A NALYSEDESIGN | 211

gänglich sind.549 Die Recherche in Branchendiensten, Medien und Fachjournalen ergab dennoch, dass die genannten Erfolgsformate GOT TALENT und MILLIONÄR in zeitlicher Nähe parallel in europäischen und einer arabischen Version ausgestrahlt wurden. Als Fallbeispiel bot sich schließlich Deutschland an, das als einer der größten Formatimporteure Europas gilt. Unterhaltungsformate haben einen festen Platz in der deutschen Primetime. Darüber hinaus ist Deutschland das bevölkerungsreichste europäische Land und bietet damit den größten Markt, was es besonders attraktiv macht für die Reproduktion von Formatvorlagen. Dadurch, dass beide Formate in Deutschland enorm erfolgreich und als gesamtgesellschaftliche Phänomene öffentlich sichtbar waren, ließ sich wiederum auf ein großes Publikum schließen, was sicherstellte, dass mit der Rezeptionsstudie nicht allein Ausnahmephänomene oder subkulturelle Nischen erforscht werden. Da es sich bei der arabischen Version um transnationale Adaptionen der Sendung handelt, musste für den Rezeptionsvergleich eine entsprechende Vergleichsgröße gefunden werden. Die Entscheidung für Ägypten lässt sich aus der Untersuchung selbst, also empirisch, theoretisch wie auch forschungspraktisch begründen. Denn die Inhaltsanalyse ergab, dass in beiden arabischen Formatvarianten besonders viele Ägypter und Libanesen repräsentiert sind. Dadurch kann davon ausgegangen werden, dass die Sendungsangebote im innerarabischen Vergleich eine größere Nähe zum ägyptischen und libanesischen Publikum herstellen. Es lässt sich weiter argumentieren, dass der Einfluss Ägyptens auf die arabische Kultur beziehungsweise Tradition hoch zu bewerten ist und Ägypten eine prägende Stellung im arabischen Staatengefüge einnimmt. Anders als der Libanon weist Ägypten darüber hinaus eine mit Deutschland vergleichbare Bevölkerungsgröße auf und damit ein potenziell gleichgroßes Fernsehpublikum. Darüber hinaus wird auch in wissenschaftlichen Untersuchungen argumentiert, dass ägyptisches Fernsehen das arabische Fernsehen verkörpere.550 Im Kontext der Sendung ARABS GOT TALENT schließlich ist überdies von Bedeutung, dass neben einer florierenden Fernsehindustrie auch andere Kulturindustrien vorhanden sind, so dass die Rezipienten mit verschiedenen kreativen Ausdrucksformen beziehungsweise künstlerischen Praktiken vertraut sind.551 Forschungspraktisch schließlich versprach Ägypten den erfolgreichsten Feldzugang aufgrund bestehender wissenschaftlicher Kooperationsmöglichkeiten.

549 Eine entsprechende Analyse zu Arabic Reality TV der Arab Advisors Group ist bspw. nur kommerziell zu Bedingungen zu erwerben, die im Rahmen der Forschungsressourcen für dieses Projekt nicht geleistet werden konnten. 550 Kraidy, Marwan (2010): Reality Television and Arab Politics. 551 Straubhaar, Joseph (1991): Beyond Media Imperialism, S. 44.

4. Kreislauf der Unterhaltungskommunikation: Fernsehformate in Deutschland und Ägypten

Entlang des Untersuchungsaufbaus der Arbeit werden in den nachfolgenden drei Kapiteln die Ergebnisse der verschiedenen Vergleichsebenen beider Formattransfers nach Deutschland und in die arabische Welt vorgestellt. Beginnend mit der Inhaltsanalyse beider Spielformate, werden zunächst Unterschiede und Ähnlichkeiten der Inhalte und Inszenierungsstrategien von WER WIRD MILLIONÄR und MAN SAYARBAH AL-MALYOON sowie von DAS SUPERTALENT und GOT TALENT herausgearbeitet. Auf dieser inhaltsanalytischen Grundlage ergeben sich erste Aufschlüsse über globale oder lokale Zeichen- und Bedeutungsverschiebungen in Fernsehformaten. Im zweiten Teilkapitel werden die Ergebnisse aus den Gruppendiskussionen, die in Kairo und in verschiedenen deutschen Städten geführt wurden, in verdichteter Weise vorgestellt. Dabei stehen die unterschiedlichen Interpretationen der Sendungen, die Lesarten, im Fokus, aber ebenso die Frage, wie diese Lesarten diskursiv entwickelt werden – welches Wissen, welche Argumentationen und welche Deutungsmuster also zu bestimmten hervorstechenden Interpretationen der Sendungen führen. Abschließend werden dann die Entstehungskontexte der Formatadaptionen analysiert. Die ergänzenden Aussagen einiger Entscheidungsträger der jeweiligen Produktionen liefern eine Innenperspektive auf die Logik, den Nutzen und die Abläufe des Formathandels wie auch inhaltliche Deutungen der beiden untersuchten Formate. So ergibt sich am Ende ein komplexes Bild, das unterschiedlichste Stationen beziehungsweise Momente der lokalen Formatproduktion und -rezeption rekonstruiert und schließlich die lokalen Entstehungsbedingungen und Aneignungsformen mit den Formatangeboten in Beziehung setzt.

214 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ?

4.1 »G LOKALE T EXTE «: D IE F ORMATVERSIONEN IM V ERGLEICH Der Kern des Formathandels besteht darin, die Reproduktion bereits erprobter Formate unter definierten Bedingungen gegen eine Lizenzgebühr zu ermöglichen. Zu den Lizenzvereinbarungen gehört sowohl die Wiedererkennbarkeit eines Formats durch dessen ästhetische Erscheinung, dessen Handlungsrahmen oder Spielkonzept sicherzustellen als auch mögliche gestalterische Freiräume zu definieren. Ausgehend von diesem Grundgedanken ist anzunehmen, dass Formatadaptionen zugleich konvergente wie differente gestalterische und inhaltliche Elemente aufweisen. Zwar fixieren die sogenannten Formatbibeln die unveränderlichen Formateigenschaften, da diese Schriftstücke jedoch nicht für externe Akteure einsehbar sind und ohnehin zu prüfen bliebe, welche der gestalterischen Möglichkeiten tatsächlich genutzt werden und sich in kreativen Neuformulierungen widerspiegeln, müssen die entsprechenden Unterschiede und Ähnlichkeiten inhaltsanalytisch ermittelt werden. Wie in den methodischen Darlegungen erläutert wurde, werden hier im Rahmen einer strukturierten Fernsehanalyse Inhalt, Gestaltung, Handlungsanalyse, Figurenanalyse und eine einordnende Kontextanalyse Teil der nachfolgenden Ergebnisdarstellung sein (vgl. Kapitel 3.1.1). Erster Schritt der komparativen Inhaltsanalyse ist der Vergleich des inhaltlichen Kerns, um nicht nur den konventionellen ästhetischen und inhaltlichen Spielrahmen zu erfassen, sondern auch zu prüfen, ob hinsichtlich der wettbewerbsrelevanten Kapitalien des Spiels – also dem Wissen beziehungsweise dem Talent – Unterschiede in den Formatversionen bestehen. Wie im Folgenden zu sehen sein wird, offenbaren sich nicht nur Unterschiede in den Wissensbezügen der Sendung. Auch die qualitative Figuren- und Handlungsanalyse sowie die Analyse der gestalterischen Mittel weisen Unterschiede auf, die dazu beitragen, dass die Narrationsangebote gemäß der hier geleisteten inhaltsanalytischen Untersuchung und Interpretation lokale Varianzen hervorbringen. Durch die Ermittlung der kreativen Freiräume, die in den beiden Reinterpretationen genutzt werden, lassen sich Unterschiede auf der Repräsentations- und Bedeutungsebene der Sendungen herausarbeiten. 4.1.1 Die Quizshows W ER WIRD M ILLIONÄR und M AN S AYARBAH AL -M ALYOON im Vergleich Das Quizformat WHO WANTS TO BE A MILLIONAIRE wurde in Großbritannien entwickelt und dort 1998 erstmals auf dem Sender ITV ausgestrahlt. Das lizenzinhabende Unternehmen CELADOR vermarktete das außergewöhnlich erfolgreiche Format weltweit. Sowohl im deutschen als auch im arabischen Kontext gilt die Show

»G LOKALE T EXTE «: DIE F ORMATVERSIONEN IM V ERGLEICH | 215

als ein herausragender Publikumserfolg und diente in Produktionszusammenhängen als Initialzündung für die Etablierung des Formathandels. Die deutsche Formatversion WER WIRD MILLIONÄR wird bereits seit 1999 mit Gastgeber Günther Jauch von ENDEMOL Deutschland produziert und vom Privatsender RTL im deutschen Fernsehen ausgestrahlt. Sie gilt allgemein als eine der erfolgreichsten und langlebigsten Fernsehsendungen Deutschlands überhaupt. Im Untersuchungszeitraum erzielte die Sendung Marktanteile von etwa 21 Prozent und erreichte damit durchschnittlich sieben Millionen Zuschauer in Deutschland.552 Die Marktanteile in den werberelevanten Zielgruppen (14-49 Jahre) liegen leicht unter dem Gesamtdurchschnitt der gesamten Zielgruppe, die Marktanteile bei den Erwachsenen über 50 Jahren hingegen etwas darüber. Von RTL wurde das Format 2014 als »Ratespiel mit Günther Jauch« klassifiziert,553 vom Produktionsunternehmen ENDEMOL DEUTSCHLAND GMBH wird es dem Genre »Quiz« zugeordnet. Die arabische Formatvariante MAN SAYARBAH AL-MALYOON (‫)من سيربح المليون؟‬ lief im Untersuchungszeitraum in der vierten Staffel, nachdem sie im Jahr 2000 von MBC das erste Mal für die arabische Welt mit großem Erfolg adaptiert wurde. Die Reproduktion von MAN SAYARBAH AL-MALYOON wird als zentraler Wendepunkt in der Produktionspolitik arabischer Satellitensender betrachtet.554 Zwischen 2005 und 2007 wurde zwischenzeitlich die Gewinnsumme auf zwei Millionen Saudische Rial555 erhöht und während des Untersuchungszeitraums etablierten sich parallel auch weitere regionale Varianten der Sendung, darunter eine lokale maghrebinische Version, eine Variante auf DUBAI TV sowie eine ägyptische Version, die 2012 auf dem Sender AL-HAYAT auf Sendung ging. In der vorliegenden Untersuchung wird die bisher letzte arabische Staffel aus dem Jahr 2010 mit Gastgeber George Kordahi untersucht, die über MBC 1 in der gesamten arabischen Welt empfangbar war. Die lokale Ausdifferenzierung der Formatproduktion, die sich aktuell im arabischen Raum abzeichnet, wird im abschießenden Kapitel 4.3 eingehender berücksichtigt.

552 Die Daten sind Zusammenstellungen der Kommunikationsabteilung von RTL entnommen, die der Autorin zur Verfügung gestellt wurden. Als Quelle werden die AGF DAP/ GfK TV Scope sowie die RTL Marktforschung angegeben. 553 RTL (2014): Wer wird Millionär bei RTL. RTL interactive GmbH. http://www.rtl.de/ cms/sendungen/wer-wird-millionaer.html (26.11.2014). 554 Sakr, Naomi (2007): Facing up to Reality: Entertainment Programming Rationales. In: Dies. (Hg.): Arab Television Today. London: Tauris, S. 113; Hammond, Andrew (2007): Popular Culture in the Arab World. Arts, Politics, and the Media. Kairo [u.a.]: American University in Cairo Press, S. 223. 555 Umgerechnet entspricht diese Summe 2016 rund 479.000 Euro, eine Million Saudische Rial entsprechend 239.000 Euro. Im Folgenden wird für die Bezeichnung der Währung der ISO-4217-Code »SAR« als Abkürzung verwendet.

216 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ?

Konzeptuell gliedert sich die Quizsendung WER WIRD MILLIONÄR in zwei Spielsequenzen. In der ersten konkurrieren zehn Kandidaten darum, die Einstiegsfrage am schnellsten zu beantworten (im Original: »Fastest Finger First«), um so die Gelegenheit zu bekommen, sich als Einzelkandidat den Quizfragen bis zum Millionengewinn stellen zu können. In der hier untersuchten deutschen Staffel von 2010 wurde die ursprüngliche Teilnehmerzahl von zehn auf fünf reduziert. In der arabischen Staffel hingegen ist die erste Spielsequenz nicht Teil der Sendung, da der Auswahlprozess der Kandidaten außerhalb des im Fernsehen ausgestrahlten Wettbewerbs von der Redaktion vorgenommen wird und das Spiel jeweils mit dem Auftritt des bereits gewählten Kandidaten beginnt. In der zweiten Spielsequenz – dem Spiel des Einzelkandidaten um die Geldsumme – müssen 15 Multiple-Choice-Fragen mit der möglichen Hilfe von insgesamt drei Jokern (50/50, Telefonjoker/»Call a Friend«, Publikumsjoker) beantwortet werden. Die Frageleiter besteht ursprünglich aus drei Sicherheitsstufen, auf die Kandidaten bei einer falschen Antwort zurückfallen können. RTL hat bereits 2007 eine zweite Spieloption eingeführt, nach der die Kandidaten eine zusätzliche JokerFunktion erhalten, jedoch in diesem Fall auf alle Sicherheitsstufen außer der 500 Euro-Hürde verzichten und dementsprechend das Risiko des Gesamtverlustes bei einer falschen Antwort einkalkulieren müssen. Auch die Joker haben im Laufe der Formatbiographie einige Veränderungen erfahren. So wurde im deutschen Format ein zufälliger Telefonjoker und ein zusätzlicher Publikumsjoker eingeführt, in der einzelne Zuschauer im Saalpublikum aufstehen und die richtige Antwort erläutern können. Letzterer Joker war auch in der untersuchten Staffel Bestandteil des Spiels. In der arabischen Sendung MAN SAYARBAH AL-MALYOON gibt es anstelle des Zusatz-Publikumsjokers einen zusätzlichen Expertenjoker, der nach einer durch den Kandidaten selbstgewählten Gewinnstufe befragt werden darf. Der Experte ist ein Mitarbeiter des Senders MBC und wird aus einem externen Studioraum zugeschaltet. Die Ausweitung des Spielraums und die Integration eines außenstehenden Akteurs stellen hier einen frappanten Unterschied zur britischen Originalversion dar. Anders als in der US-amerikanischen, der japanischen, indischen oder der britischen Formatversion wurde in den beiden untersuchten Versionen bisher kein Zeitlimit für die Beantwortung der Fragen eingeführt – nach wie vor obliegt es hier dem Moderator, die Spielzüge durch verbale Aufforderungen zu beschleunigen. Die Kandidaten müssen auch nicht vor der Frage entscheiden, ob sie weiterspielen oder nicht; sie können jederzeit ihr Spiel eigenständig beenden, selbst wenn sie bereits die Hilfe von Jokern in Anspruch genommen haben. Die Spannung, die im Spiel aufgebaut wird, entsteht dementsprechend nicht allein durch Spielvorgaben, sondern ebenso durch die Abwägung des Vertrauens der Kandidaten in das eigene Wissen und das öffentliche Rätseln um die richtige Antwort. Die Fragen sind in allen Versionen unterschiedlichen Preiskategorien zugeordnet. Während im Originalformat eine Reduzierung von 15 auf zwölf Fragen vorge-

»G LOKALE T EXTE «: DIE F ORMATVERSIONEN IM V ERGLEICH | 217

nommen wurde, müssen bei WER WIRD MILLIONÄR nach wie vor 15 Fragen beantwortet werden, um den Gewinn von einer Million Euro zu erzielen. Das arabische Format orientiert sich seit 2010 an der britischen Variante mit zwölf Fragerunden bis zum Gewinn von einer Million SAR. Es ist schwierig zu evaluieren, ob nuancierte Veränderungen der Gewinnsummen einen Einfluss auf den Spielverlauf oder das Spielverhalten haben, da die hier vorgenommene Analyse keine Langzeitbeobachtung der Sendungen einschließt. Es erscheint jedoch plausibel, dass die Einführung der Risiko-Variante in der deutschen Formatversion auch das Risikoverhalten der Kandidaten verändert, die aufgrund einer höheren Fallhöhe möglicherweise seltener unsichere Antworten in höheren Preiskategorien wagen. Auch ermöglichen vier Joker theoretisch eine annehmliche Gewinnsumme, so dass sich die Zielvorgabe der Spiele für die Kandidaten von vorneherein nicht mehr auf den Hauptgewinn fokussieren könnte. Seit Einführung dieser Spieloption im deutschen Format gab es tatsächlich auch weniger Hauptgewinner. Rolf Schnoor, Millionärsgewinner in der untersuchten Staffel, entschied sich für die ursprüngliche Spielversion. Im arabischen Format gewann Mohammad Hamzeh aus Syrien in der untersuchten Staffel das erste Mal den Hauptgewinn im Zwölf-Fragen-Format, so dass in beiden Versionen auch eine Episode mit einem Hauptgewinner berücksichtigt werden konnte. Überlegungen zur Tragweite und kulturellen Bedeutung scheinbar nuancierter konzeptueller Veränderungen werden im weiteren Verlauf der Inhaltsanalyse ausführlich Berücksichtigung finden. Die Ergebnisdarstellung und anknüpfende Interpretation folgt nach diesen einleitenden Bemerkungen zu den beiden Formatversionen den methodischen Schritten der engeren Inhaltsanalyse, der Figurenanalyse, der Analyse der Bauformen und abschließend der Analyse der Repräsentationsebene und der Kontextualisierung des Formats. 4.1.1.1 (Trans-)Kulturelles (Un-)Wissen: Analyse der Inhaltsdimension Im Zentrum des Formats steht die Beantwortung von Fragen durch die richtige Auswahl aus vier möglichen Antworten. Bevor Rahmenbedingungen und Regeln dieses Spiels vergleichend analysiert werden (weite Inhaltsanalyse), soll zunächst beantwortet werden, ob und wie sich das abgefragte Wissen556 unterscheidet, das der inhaltliche Gegenstand der beiden Sendungsvarianten ist (enge Inhaltsanalyse). Zu 556 Der Begriff des Wissens meint im Zusammenhang der Inhaltsanalyse darlegbares Wissen, das häufig an bestimmte Fachtraditionen oder konkrete Handlungsbereiche des Alltags gekoppelt ist. In pragmatischer Verwendung steht hier also die Dimension des Wissens als Produkt im Vordergrund und weniger die Dimensionen inkorporierter subjektiver Wissensvorräte, die die Grundlage jeder Handlung (Stichwort: Habitus) bilden. Zum Wissensbegriff vgl. bspw. Knoblauch, Hubert (2014): Wissenssoziologie. 3. Aufl. Konstanz: UVK.

218 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ?

diesem Zweck wurden in einem induktiven Verfahren sämtliche Fragen in den ausgewählten 24 Episoden klassifiziert. Der Vergleich der extrahierten thematischen Kategorien führt zu ersten Unterschieden und Gemeinsamkeiten der beiden Formatvarianten, die im Folgenden genauer vorgestellt und erläutert werden. Das wohl auffälligste Ergebnis ist, dass in der von RTL produzierten Version in der Stichprobe nahezu die Hälfte aller Fragen, nämlich 47,17 Prozent der Kategorie Sprache zugeordnet werden können, da sie in erster Linie Redewendungen, Wortspiele und -verwendungen zum Gegenstand haben. Diese Fragen wiederum finden sich ausschließlich in den unteren Preiskategorien; erst ab einer Preishöhe von 2000 Euro wird verstärkt explizites (Fach-)Wissen eingefordert. Zu etwa 17 Prozent wird nach Inhalten gefragt, die im weitesten Sinne als wissenschaftliches Erkenntniswissen bezeichnet werden können.557 Fragen aus den Bereichen Literatur, Musik und Sport sind mit etwa 6 Prozent ähnlich häufig vertreten. Mit knapp 4 Prozent wird nach Politik und Landeskunde gefragt, nur zwischen 2 und 3 Prozent aller Fragen der deutschen Stichprobe beziehen sich auf Gegenstände des Bereichs Medien und Boulevard. Geschichte, Religion, Wirtschaft und Kunst hingegen finden mit unter einem Prozent in den Fragen kaum Berücksichtigung. Im Vergleich zur Stichprobe aus der von MBC produzierten Version von MILLIONÄR fällt auf, dass auch hier auf die Kategorie Sprache die meisten der Fragen entfallen. Allerdings ergibt die relative Häufigkeit nur einen Anteil von knapp 25 Prozent, also um etwa die Hälfte weniger als in der deutschen Version und nur zu knapp 4 Prozent häufiger als Fragen mit wissenschaftlichem Inhalt, die auch hier die zweithäufigste Kategorie darstellen. Ein Blick auf die Analyse der Subkategorien Wissenschaft lässt hingegen nur geringfügige Varianzen erkennen. Geographisches und zoologisches Wissen wird demzufolge in beiden Versionen am häufigsten eingefordert; Botanik und Anatomie werden in der deutschen, allgemeine Fragen nach dem Wissenschaftssystem in der arabischen Formatversion gestellt.558 Deutlicher hingegen zeichnet sich der Unterschied ab, dass im arabischen Format die Fragen nach dem Erkenntniswissen der Wissenschaft mit weit weniger großem Abstand zu den nachfolgenden Kategorien Politik, Literatur, Medien, Religion, Geschichte und Landeskunde auftreten. Diese kommen mit Häufigkeiten von knapp 12 bis knapp 7 Prozent in deutlich mehr Fragen vor als in der deutschen Stichprobe. Die Kategorie Sport hingegen ist im Vergleich mit knappen 2 Prozent nur von marginaler Bedeutung. 557 Hierunter wurden alle Fragen gefasst, die im Kern Erkenntniswissen natur- oder geisteswissenschaftlicher Disziplinen zum Inhalt haben. Bspw. wurden Fragen nach anatomischen Details des Körpers unter der Subkategorie Anatomie gefasst, Fragen nach Bezeichnung, Charakteristika oder Vorkommen von Tieren unter Zoologie. 558 Aufgrund der geringen Fallzahl dieser Fragen in der Stichprobe lässt sich allerdings keine generalisierbare Tendenz hinsichtlich dieser Kategorie formulieren.

»G LOKALE T EXTE «: DIE F ORMATVERSIONEN IM V ERGLEICH | 219

Besonders auffällig ist schließlich der Vergleich der Kategorien Geschichte und Religion. Nur eine einzige Frage in der deutschen Stichprobe steht hier entsprechenden 21 und 25 Fragen in der arabischen Stichprobe gegenüber, was einer relativen Häufigkeit von 0,47 gegenüber 8,1 beziehungsweise 9,7 Prozent entspricht. Die Inhalte der Fragen, die mit der Kategorie Religion erfasst wurden, bezogen sich nahezu alle auf die islamische Religionsgeschichte und die Inhalte des Korans. Die quantitative Erfassung der Frageinhalte ergibt damit zunächst folgende zusammenfassende Ergebnisse, die für die Interpretation Berücksichtigung finden müssen: Redewendungen, Wortspiele und -verwendungen sind in beiden Formatversionen am häufigsten Gegenstand der Fragen; Fragen nach wissenschaftlichem Erkenntniswissen stellen die zweithäufigste inhaltliche Kategorie dar. Die größten Differenzen hingegen finden sich in den Kategorien Politik, Geschichte und Religion, die in der arabischen Stichprobe weitaus häufiger Gegenstand sind. Abbildung 11: Gesamtverteilung der inhaltlichen Kategorien der Fragen in den untersuchten Versionen von MILLIONÄR Inhaltliche Kategorien Sprache

47,17

24,32 6,13

Literatur Musik

3,86

Kunst

0,47 1,16

Mode

1,89 0,39 2,83

Medien

9,56

5,66

6,56

1,89 0,39

Boulevard

3,77

Politik Geschichte

0,47

Religion

0,47

11,58 8,11 9,65

3,77

Landeskunde

6,56

0,94 0,39

Wirtschaft

Sport

6,13

1,54

Wissenschaft

14,29

17,44

0,94 1,16

Sonstiges 0

5

10

15

20

25

Anteil der jeweiligen Kategorien, relative Häufigkeit, Angaben in % (von 100) WER WIRD MILLIONÄR: N = 212 | MAN SAYARBAH AL-MALYOON: N = 259

30

35 WER WIRD MILLIONÄR

40

45

50

MAN SAYARBAH AL-MALYOON

Quelle: Eigene Daten

Um nun weiterführende Aussagen über die spezifische Art und den Stellenwert des Wissens in den Fernsehproduktionen zu treffen, müssen die verdichteten inhaltlichen Kategorien in ein übergeordnetes Klassifikationssystem von Wissen übertra-

220 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ?

gen werden. Allerdings besteht eine Schwierigkeit darin, nicht auf kulturspezifische Klassifikationssysteme zurückzugreifen. Eine binäre Aufteilung in Allgemeinwissen und akademisches Wissen, wie sie beispielsweise Hetsroni559 in Rückgriff auf Fiske560 herangezogen hat, läuft Gefahr, Hierarchisierungen des Wissens vorzunehmen, die allein westlichen Deutungsschemata entspringen.561 Die unkritische Zuordnung theologischen beziehungsweise religiösen Wissens zu akademischem Wissen illustriert diese Problematik. Denn diese Klassifikation mag zwar für säkular organisierte Gesellschaften noch zu Teilen einleuchten, ist jedoch in Gemeinschaften, in denen religiöse Praktiken und deren historische Referenzen alltäglich präsent sind und ständig reproduziert werden, weitaus fraglicher. Einem praktizierenden Muslim oder Katholiken sind religionsspezifische Inhalte vermutlich als Alltagswissen sofort verfügbar, wohingegen in säkular sozialisierten Gruppen diese Inhalte erst über schulische oder ähnliche Institutionen zugänglich gemacht werden müssen. Da also die Anerkennung von Wissensformen selbst Produkt kultureller Deutung ist, soll hier keine inhaltliche oder normative Unterscheidung von Wissen getroffen werden, sondern eine formal-analytische. Im Zusammenhang mit der Quizshow wird daher die Unterscheidung zwischen implizitem und explizitem Wissen nutzbar gemacht.562 Unter implizitem Wissen wird jenes Wissen verstanden, das sich im »Können« äußert und in erster Linie durch Sozialisation erlernt wurde. Muttersprachlich erworbenes Sprachwissen wäre nach dieser Definition implizites Wissen.563 Davon abzugrenzen ist entsprechend explizites Wissen, das sich als direkt kommunizierbares und kodiertes Wissen definieren lässt. Warum also etwas sprachlich in einer bestimmten Form ausgedrückt wird, lässt sich weniger genau erklären als Abläufe, Zustände oder Bedeutungen von Natur- und Kulturphänomenen. Eine solche Unterscheidung bedeutet jedoch, dass allein die sprachbasierten Fragen als implizites Wissen zu kodieren wären. Deswegen bietet es sich an, eine 559 Hetsroni, Amir (2004): The Millionaire Project. 560 Fiske, John (2007): Television Culture. 561 Fiske bezieht sich bspw. explizit auf Wissensklassifikationen moderner Gesellschaften, die Hetsroni aufgreift, um daran die Globalisierung als Akzeptanz westlicher Standards zu messen. 562 In diesem Verständnis folgt die Arbeit einem konstruktivistischen Ansatz, der Wissen nicht über Typologien und Hierarchien klassifiziert, sondern eher über funktionale Korrelationen. Kübler, Hans-Dieter (2005): Mythos Wissensgesellschaft. Gesellschaftlicher Wandel zwischen Information, Medien und Wissen: eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 115ff. 563 Das Vorhandensein eines impliziten Regelwissens der generativen Grammatik hat bspw. Chomsky sprachwissenschaftlich theoretisiert. Chomsky, Noam (1972): Aspects of the Theory of Syntax. 8. Aufl. Cambridge: M.I.T. Press.

»G LOKALE T EXTE «: DIE F ORMATVERSIONEN IM V ERGLEICH | 221

untergeordnete Klassifizierung des expliziten Wissens vorzunehmen. Auf Grundlage des Datenmaterials wird daher vorgeschlagen, von hoch- und populärkulturellen expliziten Wissensbeständen (Fragen nach dem Komponisten Haydn oder nach den Popcharts), von wissenschaftlichem Erkenntniswissen (Fragen nach Naturerscheinungen, Anatomie oder Mathematik) und jenem Bildungswissen, das sich auf gesellschaftliche Ordnungssysteme bezieht (Fragen nach der Religionsgeschichte oder Politik), auszugehen. Nach Anwendung eines solchen übergeordneten Klassifikationsschemas ergibt sich für die beiden untersuchten Versionen folgende Verteilung: Abbildung 12: Verteilung der formalen Wissensklassifikationen in den Fragen der untersuchten Versionen von MILLIONÄR Wissensklassifikationen 0,94

Sonstiges

1,16

9,42

explizites Wissen: Wissen über soziale und kulturelle Ordnungssysteme

36,29

25

explizites Wissen: kulturelle Wissensbestände

23,84

17,44

explizites Wissen: wissenschaftliches Erkenntniswissen

14,29

47,17

implizites Wissen

24,32 0

10

20

30 DAS SUPERTALENT

40

50

60

MAN SAYARBAH AL-MALYOON

Anteil der jeweiligen Wissensklassifikation, relative Häufigkeit, Angaben in % (von 100) WER WIRD MILLIONÄR: N = 212 | MAN SAYARBAH AL-MALYOON: N = 259

Quelle: Eigene Daten

Die Darstellung macht deutlich, dass das implizite Wissen in der deutschen Stichprobe den meisten Raum einnimmt, in der arabischen aber Fragen nach sozialen und kulturellen Ordnungssystemen. Kulturelle Wissensbestände und wissenschaftliches Erkenntniswissen haben ähnliche relative Häufigkeiten in den Versionen, die hier in prozentualer Verteilung dargestellt sind. Diese Beobachtung deckt sich konsequenterweise mit den unterschiedlichen Verteilungen der geschichtlichen, politischen und religiösen Bezüge in den Fragen. In der Stichprobe der arabischen Formatversion wird also mehr explizites Wissen, insbesondere bezüglich sozialer und kultureller Ordnungssysteme, eingefordert als in der Stichprobe der deutschen Version. Neben einer abweichenden inhaltlichen Ausrichtung der Fragen wird in der Analyse weiterhin deutlich, dass die inhaltlichen Bezüge zu gesellschaftlichen Referenzsystemen in den Fragen beider Formatversionen variieren. Das heißt, dass Er-

222 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ?

eignisse oder Personen unterschiedlicher Weltregionen in unterschiedlichem Maße in den Fragestellungen repräsentiert sind. Die Untersuchung dieser Referenzierungen schließt an die theoretischen Überlegungen zu kulturellen Bezügen in Fernsehangeboten und die Bedeutung grenzüberschreitender geo-kultureller Großräume von Sinclair und Straubhaar (vgl. Kapitel 2.3.2) an. In einem induktiven Verfahren konnten die gesellschaftlichen Referenzsysteme, auf die sich erfragte Inhalte bezogen, genauer bestimmt werden. Als lokal werden dementsprechend Fragen nach Ereignissen, Personen, Tieren oder Bräuchen einer bestimmten Region ausgezeichnet, die nicht mit nationalen oder kulturellen Entitäten gleichzusetzen ist.564 Globale Bezüge bezeichnen hingegen universale Wissensbestände (beispielsweise Fragen nach zoologischen Bezeichnungen von Tieren, nach Wetterphänomenen oder geographischen Bestimmungen) oder sie beziehen sich auf Gegenstände, Institutionen oder Akteure, an denen theoretisch die gesamte Menschheit teilhat (etwa Fragen nach Gewinnern des Nobelpreises oder den olympischen Spielen). Mit nationalen Bezügen werden Fragen zu diversen Aspekten eines Landes kodiert und folglich gilt als supranationaler Bezug, wenn Wissen über Nationen übergeordnete politische Entitäten (etwa die Europäische Union oder die Arabische Liga) hergestellt werden. Als geo-kulturell werden all jene Bezüge zu Wissensbeständen erfasst, die Kulturen übergreifend geteilt werden und vor allem auf kulturelle Artefakte oder Praktiken hin orientiert sind. Fragen zur islamischen Geschichte oder auch zu Angeboten und Akteuren westlicher Popkultur fallen beispielsweise in diese Kategorie. Um schließlich auch die sprachbezogenen Fragen präzise zu erfassen, wird die Kategorie der geo-linguistischen Bezüge hinzugezogen. Dies bezieht sich erneut auf die große Anzahl von Fragen nach Ausdrücken, Sprichwörtern und Redewendungen, die nur von Vertretern einer Sprachgemeinschaft beantwortet werden können.

564 Allerdings wurde diese Kategorie nur in einer einzigen Frage gewählt, die nach einer bestimmten Hunderasse fragt, die vor allem von Beduinen gehalten wurde.

»G LOKALE T EXTE «: DIE F ORMATVERSIONEN IM V ERGLEICH | 223

Abbildung 13: Inhaltliche Bezüge zu gesellschaftlichen Referenzsystemen in den Fragen der untersuchten Versionen von MILLIONÄR Inhaltliche Bezüge n.b.

0,39

lokal

0,39 15,1 13,51

global geo-linguistisch

50,47

23,94 9,91

geo-kulturell 0,47

supranational

40,93

5,41

national

24,1

15,44 0

10

20

30

40 WER WIRD MILLIONÄR

Anteil der jeweiligen Referenzen, relative Häufigkeit, Angaben in % (von 100) WER WIRD MILLIONÄR: N = 212 | MAN SAYARBAH AL-MALYOON: N = 259

50

60

MAN SAYARBAH AL-MALYOON

Quelle: Eigene Daten

Hinsichtlich der dargelegten Differenzierung von Referenzen zeigen sich nun deutliche Unterschiede in den beiden Stichproben. Entsprechend den inhaltlichen Kategorien des Wissens und der Wissensklassifikationen überwiegen auch nach dieser Analyse in der deutschen Stichprobe die geo-linguistischen (mit 50,47 Prozent) und in der arabischen Stichprobe die geo-kulturellen Bezüge (mit 40,93 Prozent). Da die geo-kulturellen Referenzen in beiden Formatversionen wiederum auf unterschiedliche geo-kulturelle Großräume verweisen können, ist es hilfreich, diese Regionen genauer zu untersuchen. So ergibt die erneute Differenzierung, dass in der deutschen Stichprobe die westliche Welt der fast ausschließliche Bezugspunkt der Fragen ist, nämlich zu rund 95 Prozent. In der arabischen Stichprobe ist die Varianz zumindest etwas größer. Rund 13 Prozent der Fragen mit geo-kulturellen Bezügen entfallen hier auf die westliche Welt, Referenzen zur arabischen und islamischen Welt machen etwa 84 Prozent aus und immerhin knapp 3 Prozent der Fragen beschäftigen sich mit anderen Kontexten, etwa einem asiatischen, zentralafrikanischen oder lateinamerikanischen. Ein ähnliches Ergebnis liefert auch eine aufgeschlüsselte Analyse der nationalen Bezüge. Hier überwiegen in der Stichprobe der deutschen Version Referenzen zu Deutschland (70,59 Prozent) und anderen europäischen Ländern (17,73 Prozent). Konkrete Verweise auf die USA (3,9 Prozent), Australien (2 Prozent), Afrika (3,9 Prozent) und Asien (2 Prozent) fallen gering aus. In der arabischen Auswahl hinge-

224 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ?

gen ist die Verteilung deutlich ausgewogener. Nationale Referenzen zu arabischen (30 Prozent) und afrikanischen Ländern 565 (15 Prozent) machen insgesamt 45 Prozent aus, zu europäischen Ländern (30 Prozent) und den USA (10 Prozent) 40 Prozent. Auch auf asiatische (v.a. Japan) und südamerikanische Nationen wird Bezug genommen (mit je 7,5 Prozent). Zusammenfassend lässt sich somit feststellen, dass Referenzen auf Regionen und Gesellschaftssysteme in den Fragen der deutschen Episodenauswahl binnenorientierter ausfallen. Die Fragen rekurrieren gewissermaßen auf standortgebundene Wissensbestände. Perspektivverschiebungen, die über die Beschäftigung mit dem eigenen geo-kulturellen Kontext hinausgehen, sind häufiger in den arabischen Episoden zu finden, die eine stärkere Außenorientierung herstellen. Dieses Ergebnis findet sich auch in einer genaueren Betrachtung der einzelnen Fragekategorien bestätigt. Interessant ist da beispielsweise, dass in MAN SAYARBAH AL-MALYOON deutliche Bezüge zur europäischen Kultur- beziehungsweise Gesellschaftsgeschichte hergestellt werden. Hier wird nach dem »Vater der Symphonie«566, dem Komponisten Joseph Haydn, nach der Rossini-Oper »Der Barbier von Sevilla«567, nach Ludwig van Beethoven568, nach der Herkunft des Films »Goodbye Lenin«569, nach dem Diebstahl der Mona Lisa aus dem Louvre 570 und nach Samuel Becketts Theaterstücken571 gefragt, also nach Bereichen europäischer Musik-, Kunst- und Filmgeschichte. Mit der Frage nach Freuds Vornamen 572 und der französischen »Schule der Romantik«573 ist ebenso Wissen nach der Geistesgeschichte Europas gefordert. Auch auf politischer Ebene interessieren der Name des Unterhauses des britischen Parlaments574, das Hobby Winston Churchills575 und die Wohnsitze des französischen Präsidenten576 sowie des britischen Regierungschefs577.

565 Mit »afrikanischen Ländern« sind hier die nicht-arabischen afrikanischen Länder wie etwa die Demokratische Republik Kongo oder die Republik Simbabwe gemeint. 566 Episode A01, 80.000 SAR-Frage. 567 Episode A11, 80.000 SAR-Frage. 568 Episode A13, 40.000 SAR-Frage. 569 Episode A01, 80.000 SAR-Frage. 570 Episode A11, 1 Million SAR-Frage. 571 Episode A16, 40.000 SAR-Frage. 572 Episode A11, 5.000 SAR-Frage. 573 Episode A04, 10.000 SAR-Frage. 574 Episode A10, 2.000 SAR-Frage. 575 Episode A11, 250.000 SAR-Frage. 576 Episode A05, 5.000 SAR-Frage. 577 Episode A03, 80.000 SAR-Frage.

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Umgekehrt sind Fragen nach einem Vertreter der klassischen arabischen Musik, nach öffentlichen Personen der arabischen Welt oder nach Details der politischen Ordnungen arabischer Staaten im deutschen Format nicht vorhanden. Gleiches lässt sich auch für gesellschaftliche Referenzsysteme Afrikas oder Asiens formulieren. Errungenschaften, Personen und Ereignisse aus diesen Kontexten sind in der deutschen Fallauswahl nicht von Interesse. Um die Aussagen über die Art und Form des Wissens in den beiden hier verglichenen Sendungsversionen weiter zu differenzieren, wurden schließlich auch die zeitlichen Bezüge der Fragen erhoben. Dieser Analyseschritt ist mit den Theoretisierungen einer kulturellen Nähe im Text-Rezipienten-Verhältnis insofern verknüpft, als die Erhebung historischer Dimensionen Rückschlüsse auf die Aneignungsformen und Lernstrukturen des hier benötigten Wissens zulässt. Das heißt, dass die Fragen in Zusammenhang mit einem Bildungskapital gebracht werden können, das für das Spiel in der Sendung notwendig ist. Die induktive Kategorienbildung orientierte sich dabei an einer groben Zeitordnung, die keinen dezidierten Traditionen der Geschichtswissenschaft entnommen sind, sondern nur allgemeine Zuordnungen des Wissens nach Aktualität, Zeitgeschichte, Geschichte oder Frühgeschichte anstrebt. Auffallend ist beim Vergleich der Analyse, dass in den Stichproben beider Formatversionen Fragen dominieren, deren inhaltliche Ausrichtung gar keinen konkreten zeitlichen Bezug aufweist. Das erklärt sich durch die vielen Wortspiele, die den Inhalt der niedrigen Gewinn- beziehungsweise Fragekategorien ausmachen. Fragen in der Kategorie Sprache wurden ohne zeitliche Einordnung gewertet, da es sich bei Redewendungen, Wortspielen und -verwendungen um implizites Wissen handelt, das im kollektiven »Sprachgedächtnis« einer Gesellschaft unterschiedlichen dynamischen Veränderungen unterliegt.578 In Hinblick auf das explizite Wissen, das in der Stichprobe ermittelt wurde, ist hingegen zu sehen, dass in der deutschen Fallauswahl Fragen mit aktuellem (gut 15 Prozent) oder zeitgeschichtlichem (knapp 10 Prozent) Bezug deutlich überwiegen. Insgesamt lässt sich bei nur weniger als einem Drittel der Fragen (29,71 Prozent) überhaupt eine zeitliche Referenz definieren. Der Anteil der Fragen, die sich auf Ereignisse, Personen oder Tatsachen beziehen, die mehr als 60 Jahre zurückliegen und hier unter den Kategorien des geschichtlichen oder frühgeschichtlichen Bezugs gefasst wurden, ist mit 4,71 Prozent bei allen ausgewerteten Fragen des deutschen Samples äußert gering. Nahezu entgegengesetzt verhalten sich die zeitlichen Dimensionen der Fragen in der arabischen Version, in der kaum nach aktuellen Ereignissen oder Personen gefragt wird (nur 6,95 Prozent), dafür allerdings weit mehr Fragen einen zeitge578 Auch wenn es zumeist um aktuelle Sprachhandlungen geht, wird damit eine Vermischung mit aktualitätsorientierten Inhalten expliziter Wissensbestände vermieden.

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schichtlichen (18,02 Prozent), geschichtlichen (7,72 Prozent) oder frühgeschichtlichen (14,29 Prozent) Bezug aufweisen. Gemessen an den Fragen, für die sich überhaupt ein zeitlicher Kontext feststellen lässt, reicht damit ein hoher Anteil an Fragen der arabischen Formatversion weit in die Kulturgeschichte zurück. Ausdruck findet dieser Bezug in vielen Fragen zur islamischen Religionsgeschichte als auch zu historischen Ereignissen der Region. Abbildung 14: Zeitliche Bezüge in den Fragen der untersuchten Versionen von MILLIONÄR Zeitliche Bezüge der Fragen 0,47

Frühgeschichte

14,29

4,24 7,72

Geschichte

9,9

Zeitgeschichte

18,92 15,1

aktuell

6,95 70,29

ohne

52,12

0

10

20

30

40

50

Anteil der Fragen mit den jeweiligen historischen Bezügen, relative Häufigkeit, Angaben in % (von 100) WER WIRD MILLIONÄR: N = 212 | MAN SAYARBAH AL-MALYOON: N = 259

60

70

WER WIRD MILLIONÄR

80

90

100

MAN SAYARBAH AL-MALYOON

Quelle: Eigene Daten

Wenn nun davon ausgegangen wird, dass gesellschaftliche Wissensbestände durch das Format MILLIONÄR aktualisiert und verbreitet werden, dann liefert dieses Wissen ein Identifikationsangebot für die Zuschauer. Dieses »Archiv kulturellen Wissens«, das in der Unterhaltung aufgegriffen wird, kann als ein inhaltliches Element kulturelle Nähe für lokale Rezipienten erzeugen (vgl. Kapitel 2.1.3 und 2.2.5). Eine Resonanz erzeugen die Wissensbestandteile mit den Rezipienten theoretisch aufgrund ihres inkorporierten kulturellen Kapitals, das sich aus institutionell erworbenem Bildungskapital und aus Erfahrungswissen zusammensetzen kann und entsprechend sozial vorkonstruiert ist. Gemäß des theoretischen Rahmens, der dieser Arbeit zugrunde gelegt wurde, liefert der Fragenkatalog der Sendungen einen ersten Baustein, um das Verhältnis zwischen Fernsehtext und gesellschaftlichem Referenzsystem im transkulturellen Vergleich empirisch zu bestimmen. Ein erstes Ergebnis ist, dass sich in den Strichproben ein inhaltlicher Unterschied hinsichtlich des Lokalbezugs des Wissens ausweisen lässt. Dies war aufgrund der theoretischen Überlegungen zur Lokalisierung von Fernsehformaten und

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der damit verbundenen Herstellung einer kulturellen Nähe durchaus zu erwarten. Am deutlichsten sichtbar sind die Unterschiede in dem hohen Anteil an Fragen nach Redewendungen, Wortspielen und -verwendungen in beiden Versionen. Über implizite Wissensbestände am Beispiel der geteilten Erfahrungen der Sprachgemeinschaften wird eine hohe Anschlussfähigkeit in den beiden untersuchten lokalen beziehungsweise regionalen Kontexten geschaffen. Sprache ist hier der dominante Träger kultureller Differenz. Zwar muss angemerkt werden, dass in der arabischen Version grundsätzlich unterschiedliche Dialekte des Arabischen auch ein Hindernis für Sprachspiele darstellen können, da sich Begriffsverwendungen zwischen den Ausprägungen des Arabischen in Marokko, Ägypten, Syrien oder Palästina mitunter stark unterscheiden. Die Anschlussfähigkeit der in der Stichprobe verwendeten Sprachfragen lassen eine solche Einschränkung aber nur in geringem Maße erkennen. Die Fragen, die ein implizites Erfahrungswissen voraussetzen, kommen hauptsächlich in den unteren Frage- und Preiskategorien vor. Eine mögliche Erklärung ist, dass dieses Wissen von lokalen Akteuren aufgrund der sprachlichen Sozialisation leichter abrufbar ist, was wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Kandidaten ihr Spiel um weitere Fragen fortsetzen können. Ein schnelles Ausscheiden kann so verhindert werden, was andernfalls erheblichen Einfluss auf Spannungsbögen und Spielverlauf haben könnte. Der Spielaufbau wiederum kann den deutlich höheren Anteil an implizitem Wissen und damit den leichteren Fragen in der deutschen Stichprobe erklären. Die Anlage der deutschen Frageleiter besteht aus insgesamt einer Einstiegsfrage und 15 Gewinnkategorien, wovon allein die ersten sieben geringer dotiert sind als in anderen Versionen. Denn bis zur 2.000-Euro-Frage, ab der ein explizites (Fach-)Wissen in beiden untersuchten Versionen erforderlich wird, sind es bereits sieben Gewinnstufen. In der arabischen Version sind es insgesamt nur zwölf Preiskategorien und nur drei davon müssen vor der 2.000-SAR-Frage beantwortet werden. Anders gewendet heißt das, dass in der untersuchten arabischen Formatversion zehn, in der deutschen nur neun Fragen bis zum Hauptpreis auf der Grundlage von Wissen beantwortet werden müssen, das eher aus Bildungskapital denn Erfahrung zu generieren ist. Die feinen strukturellen Unterschiede in der Spielanlage bedingen damit ein leichtes quantitatives Ungleichverhältnis in der Abfrage von Wissensformationen, in der sich gleichzeitig eine verschobene normative Dominanz von erforderlichen Wissensbeständen ausdrückt. Zu dieser Beobachtung tragen auch die größeren Anteile an Fragen mit politischem und historischem Inhalt oder nach hochkulturellen Wissensbeständen im arabischen Format bei, die klassisches Bildungskapital voraussetzen und reproduzieren. Die hohe Anzahl an Islam-bezogenen Fragen steht nach einer solchen Interpretation auch für eine stärkere Tradierungsfunktion kulturellen Wissens, die die Sendung in diesem Fallbeispiel innehat. Hier fügen sich

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ebenso die historischen Bezüge ein, die stärker in die nationale beziehungsweise kulturelle Vergangenheit einer Religionsgemeinschaft verweisen und sich, da sie weniger Erfahrungswissen denn Bildungswissen erfordern, in einem ähnlichen Sinne als eine Betonung der Bildungskapitalorientierung interpretieren lassen. Hinsichtlich der geo-kulturellen Referenzen der Fragen wurde festgestellt, dass in der deutschen Formatversion eine stärkere Binnenorientierung und Selbstbezüglichkeit zu finden ist als in der arabischen Version. Insofern lässt sich argumentieren, dass das arabische Format von den Teilnehmern einen stärker ausgeprägten kosmopolitischen Wissenshorizont579 voraussetzt als es die Fragen im deutschen Format tun. Dabei hat sicherlich die Heterogenität der jeweiligen Zielpublika Einfluss auf die Innen- und Außenorientierung der Fragen – die Reichweite des deutschen Formats zielt vor allem auf ein nationales Publikum, die des arabischen Formats auf ein internationales arabisches Publikum. Allerdings erklärt dies allein noch nicht die Beschränkung des Gegenstandsbezugs der Fragen auf bestimmte geopolitische und -kulturelle Teile der Welt. Die höhere Außenorientierung in der arabischen Version kann schließlich auch als Erbe der arabischen Kolonialgeschichte interpretiert werden, durch die Europa und die USA möglicherweise stärker im öffentlichen Bewusstsein wie auch in institutionellen Strukturen (etwa Schulsystemen) verankert sind. Die Beobachtung einer Außenorientierung entspricht darüber hinaus auch Analysen der Auslandsberichterstattung, die als Strukturmerkmal der Berichterstattung von Entwicklungsländern eine Metropolenorientierung identifiziert haben. Das heißt, dass westliche Industriestaaten in den informationsbetonten Genres eine hohe journalistische Beachtung finden, was neben der gemeinsamen kolonialen Vergangenheiten vor allem auf die internationale wirtschaftliche und politische Relevanz der Industrienationen zurückgeführt wird.580 Dass eine solche erhöhte Aufmerksamkeit für die Machtzentren der internationalen Gemeinschaft auch eine Fortsetzung in unterhaltungsbetonten Fernsehangeboten findet, ist plausibel. Schließlich wurde das arabische Format selbst zunächst sogar in London produziert und das Produktionsteam ist bis heute mit dem MBC-Studio in London verbunden. Möglicherweise ist die Orientierung der Fragen auch ein Resultat der internationalen Verortung und Sozialisation der arabischen Produzenten in westlichen Referenzsystemen. Insgesamt aber deutet sich in diesen Analysedetails eine ungleiche Wissensproduktion an. Insbesondere Vertreter der postkolonialen Schule haben auf die welt579 Kosmopolitisch meint in allgemeiner Verwendung gemäß des Dudens »weltbürgerlich«. Es wird an dieser Stelle darauf verzichtet, auf die Begriffsgeschichte und den aktuellen Forschungsdiskurs zum Thema »Kosmopolitismus« einzugehen, da die anwendungsorientierte Suche nach »glokalen« Elemente hier Ziel der Teilanalyse ist. 580 Hafez, Kai (2002a): Die politische Dimension der Auslandsberichterstattung, Bd. 1, S. 58f.

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weit ungleich verteilte Wissensdefinition und -produktion aufmerksam gemacht, die nach wie vor westlich geprägt sei.581 Wenn man diese wissenschaftstheoretischen Reflexionen ernst nimmt und die inhaltliche Ausrichtung der Fragen damit konfrontiert, so fällt ein ähnliches Ungleichverhältnis auf: Während die »westliche Welt« Bezugspunkt für Wissen in der arabischen Formatversion ist, gilt dies umgekehrt nicht. Deutschland und die »westliche Welt« bleiben hauptsächlich Referenzquelle ihrer selbst. In der Lesart einer postkolonialen Tradition spiegeln sich hierin auch geostrategische Machtverhältnisse. Dies gilt besonders für Personen und Ereignisse weniger entwickelter Länder in Afrika oder der arabischen Welt, die kaum in den Fragen beider Versionen vorkommt (repräsentiert ist die umgangssprachlich sogenannte »Dritte Welt« lediglich in 5,8 Prozent der Fragen in der arabischen und zu nur 1,14 Prozent in der deutschen Auswahl). Bezogen auf die deutsche Version passiert damit in Unterhaltung das, was auch für die Auslandsberichterstattung im Allgemeinen gilt: eine enorme Unter- und Misrepräsentation von Afrika und der arabischen Welt.582 Die Beobachtungen zu den zeitlichen Bezügen in den Fragekontexten haben schließlich weitere Unterschiede der Formatversionen hervorgebracht. Gezeigt wurde, dass die Fragen von WER WIRD MILLIONÄR viel stärker auf aktuelle Ereignisse und Gegenstände abzielen als die Fragen in MAN SAYARBAH AL-MALYOON. Daraus wiederum lassen sich Ableitungen zum erforderlichen Bildungskapital der Kandidaten machen. Denn es kann davon ausgegangen werden, dass Wissensbestände, die auf vergangene politische Ereignisse abzielen, eher in Bildungsinstitutionen und weniger durch zufällige alltagsweltliche Erfahrung erlernt werden. Versteht man unter Erfahrungswissen also jenes Wissen, das nicht über einen strukturierten institutionellen Lernprozess, sondern im Kontext des außerinstitutionellen lebensweltlichen Alltagshandelns angeeignet werden kann, dann liegt es nahe, von unterschiedlichen Anforderungen an das Bildungskapital der Kandidaten auszugehen. Das Wissen, das für Fragen mit aktuellen und zeitgeschichtlichen Bezügen erforderlich ist, kann in der Alltagswirklichkeit der Teilnehmer leichter generiert werden, etwa durch die bloße Wahrnehmung öffentlicher Diskurse im alltäglichen Medienkonsum. Fragen nach den Spielstätten der Fußball-WM in Südafrika 2010 oder nach dem Wirken der verbliebenen europäischen Königshäuser ist den Kandidaten in un581 Vgl. in kommunikationswissenschaftlichen Zusammenhängen bspw. Gunaratne, Shelton (2010): De-Westernizing Communication/Social Science Research: Opportunities and Limitations. In: Media, Culture and Society 32 (3), S. 473-500; Shome, Raka (2009): Post-Colonial Reflections on the ›Internationalization‹ of Cultural Studies. In: Cultural Studies 23 (5-6), S. 694-719. 582 Vgl. bspw. Hafez, Kai (2002b): Die politische Dimension der Auslandsberichterstattung, Bd. 2; Mükke, Lutz (2009): ›Journalisten der Finsternis‹. Akteure, Strukturen und Potenziale deutscher Afrika-Berichterstattung. Köln: Halem.

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terschiedlichen medialen Kanälen verfügbar. Dieses Wissen ist eine zirkulierende Ressource in der Unterhaltungsöffentlichkeit (vgl. Kapitel 2.2.2). Fragen nach einer bestimmten historischen Schlacht, dem Komponisten einer Oper oder einer literarischen Epoche werden hingegen eher in schulischen Lernkontexten oder institutionalisierten Gemeinschaften (im Religionsunterricht oder der außerschulischen musikalischen Erziehung) als Bildungskapital angeeignet. Indirekt entstehen dadurch dann unterschiedliche Anforderungen an die Kandidaten, die im arabischen Format aufgrund der höheren Fallzahl von tradiertem explizitem Wissen theoretisch mehr Bildungskapital aufbringen müssen. Wenn nun im Rückgriff auf die gesellschaftliche Bedeutung des Fernsehens davon ausgegangen wird, dass die inhaltlichen Angebote Themen und diskursive Anknüpfungspunkte in der Unterhaltungsöffentlichkeit liefern, dann wird in einer Sendung wie MILLIONÄR ein »gesellschaftliches Archiv von Wissen« aktualisiert, das durch die Rezipienten im Anschluss öffentlich oder privat verhandelt werden kann. Ein Unterschied ist in den beiden untersuchten Versionen dann dahingehend zu erkennen, dass das Wissen, das jeweils verfügbar gemacht wird, in der deutschen Sendungsvariante stärker auf den Horizont einer geteilten aktuellen Alltagswelt ausgerichtet ist und in der arabischen Variante stärker auf eine gemeinsame geokulturelle Geschichte. Im arabischen MAN SAYARBAH AL-MALYOON wird also eher Wissen reproduziert, das zur Tradierung eines kollektiven Langzeitgedächtnisses geeignet ist, da die inhaltlichen Gegenstände bereits Bestandteile von gesellschaftlich gefestigten Kanons sind. Im deutschen WER WIRD MILLIONÄR wird hingegen eher Wissen zur Disposition gestellt, das im aktuellen Erfahrungshintergrund deutscher Zuschauer kurzfristiger eingelagert ist. Es wird zum Teil noch stärker öffentlich verhandelt und zielt mitunter auf Themen, die einem aktuellen Konjunkturverlauf der öffentlichen Wahrnehmung unterliegen (hier sei erneut an die Spielorte der Fußball-WM oder den aktuellen Beziehungsstatus von europäischen Königspaaren erinnert). Um diese gesellschaftliche Bedeutung des Quizformats MILLIONÄR noch weiter theoretisch einzuordnen, bieten sich Ansätze zur Entstehung und Teilhabe an kollektiven symbolischen Ordnungen an. Insbesondere Aleida und Jan Assmann haben Überlegungen von Maurice Halbwachs und Claude Lévi-Strauss zum kollektiven Gedächtnis weiterentwickelt und Zusammenhänge zwischen kultureller Erinnerung und kollektiver Identität diskutiert.583 Auch wenn die Überlegungen zur Herausbildung eines kulturellen Gedächtnisses zunächst nicht an Medien der Unterhaltung gebunden sind, lässt sich die analytische Unterscheidung zweier Register kollektiver Erinnerung – nämlich dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis – 583 Assmann, Aleida (2007): Geschichte im Gedächtnis; Assmann, Jan (2007): Das kulturelle Gedächtnis; Erll, Astrid (2011): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. 2. Aufl. Stuttgart, Weimar: Metzler.

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für die Interpretation nutzbar machen. Denn unter einem kommunikativen Gedächtnis begreifen die Autoren dasjenige kollektiv geteilte Wissen, das sich aus der gruppengebundenen Lebenserfahrung und der Alltagskommunikation ergibt. Kollektive Erinnerung entsteht also durch eine diffuse Teilhabe von individuellen Akteuren, die alle Träger einer lebendigen Erinnerung sind. Demgegenüber zeichnet sich das kulturelle Gedächtnis durch mehr Organisiertheit und Verbindlichkeit kollektiver Sinngebung aus. Es handelt sich demnach um ein kollektiv geteiltes Wissen über eine Vergangenheit einer größeren kulturellen Formation, die durch spezielle kulturelle Träger gesichert werde und Bindungskraft entfaltet. Diese Konzeptualisierung entspricht Vorstellungen einer repräsentativen Kultur der Gemeinschaft oder Nation, die durch Tradierung offizieller symbolischer Codes überdauernderen Wert besitzt als ein kommunikatives Gedächtnis.584 Hall hat auf ähnliche Weise die hegemonialen Legitimationsstrategien am Beispiel der Aufrechterhaltung nationaler Mythen diskutiert, die dazu geeignet sind, als hegemoniale Codes ein Wir-Bewusstsein qua gemeinsamer Erinnerungen zu stiften.585 Übertragen auf das Unterhaltungsformat MILLIONÄR lässt sich dementsprechend argumentieren, dass in der arabischen Version durch den Rückgriff auf historische Ereignisse und kanonisiertes Wissen Bestandteile eines überzeitlichen kulturellen Gedächtnisses der arabischen Wissensgemeinschaft reproduziert werden. Im deutschen Beispiel hingegen handelt es sich um die Abfrage weitaus diffuserer Versatzstücke aktueller gesellschaftlicher Erlebnis- und Ereigniszusammenhänge, so dass viel eher ein kommunikatives Gedächtnis in der Sendung verhandelt wird. Betrachtet man Unterhaltung schlussfolgernd als Medium eines kollektiven Gedächtnisses, so zielen die Inhalte hier auf unterschiedliche Register der gesellschaftlichen Erinnerung beziehungsweise der gesellschaftlichen Wissenszirkulation. Es lässt sich auf dieser Grundlage fragen, ob die Sendungsversionen dementsprechend auch variierende Anschlussdiskurse über kollektive Identitäten auslösen. Neben den herausgearbeiteten Ähnlichkeiten und Unterschieden hinsichtlich der inhaltlichen Dimension der Fragen lassen sich abschließend auch Ähnlichkeiten auf einer formalen Dimension des abgefragten Wissens finden. Denn in allen Varianten 584 Nach Tenbruck meint repräsentative Kultur die kulturelle Autorität der Gesellschaft. Intellektuelle und Meinungsführer sichern die Deutung der gesellschaftlichen Wirklichkeit: »Denn die Kultur ist eine gesellschaftliche Tatsache, insofern sie repräsentative Kultur ist, also Ideen, Bedeutungen und Werte erzeugt, die kraft faktischer Anerkennung wirksam werden. Sie umfaßt dann jene Überzeugungen, Verständnisse, Weltbilder, Ideen und Ideologien, die das soziale Handeln beeinflussen, weil sie entweder aktiv geteilt oder passiv respektiert werden.« Tenbruck, Friedrich (1990): Repräsentative Kultur. In: Haferkamp, Hans (Hg.): Sozialstruktur und Kultur. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 29. 585 Hall, Stuart (1992): The Question of Cultural Identity.

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des internationalen Formats wird ein kontingentes lexikalisches Wissen erfragt.586 Das heißt, die Abfrage von unterschiedlichsten Inhalten unterliegt einer Zufälligkeit, die bereits durch die technische Anlage der Fragenauswahl vorgegeben wird. Die redaktionelle Bearbeitung und das Computersystem zur Zufallsauswahl, selbst Teil der Lizenz, übernehmen gewissermaßen die Rolle der gesellschaftlichen Kanonbildung. Der lexikalische Charakter des Wissens ist wiederum durch die vier Antwortvorgaben gegeben. Zwar lässt sich ein größerer Zusammenhang des Wissens bei der Beantwortung durch Hintergrundinformationen von den Kandidaten oder dem Moderator herstellen, die Spielanlage zielt aber letztlich lediglich auf die präzise Zuordnung von eindeutigen, richtigen und zumeist knappen Antwortvorgaben. Damit ist der Modus der Wissensvermittlung im Unterhaltungsformat grenzüberschreitend standardisiert. 4.1.1.2 Lehrer, Schüler und Statisten: Analyse der Figuren Aus der bisherigen Analyse wird deutlich, dass neben der engeren Inhaltsanalyse, die zunächst an den abgefragten Wissensbeständen durchgeführt wurde, eine weitere Inhaltsanalyse des inszenatorischen Rahmens, in den das Wissensspiel eingebettet ist, und des Figurenhandelns mit in die Analyse einbezogen werden muss, um Aussagen darüber treffen zu können, wie mit Wissen in den Sendungsvarianten umgegangen wird. Beispielsweise gilt als ein Erfolgskriterium der Sendung, dass Kandidaten die Fragen nicht direkt beantworten müssen, sondern sowohl die kollektive Hilfe des Publikums als auch die individuelle Hilfe von Einzelpersonen in Anspruch nehmen können. Es geht damit nicht allein um die individuelle Verfügbarkeit von Wissen, sondern ebenso um Wissensbeschaffung und Spiel- und Ratestrategien. Daraus folgt, dass nicht nur der Umgang mit Wissen von Interesse sein sollte, sondern auch der Umgang mit »Nicht-Wissen«. Letzterer jedoch kann nicht über die Inhalte der Fragen analytisch zugänglich gemacht werden. Es gilt daher im Folgenden, weitere Repräsentationsstrukturen, Darstellungskonventionen und Deutungsrahmen herauszufiltern und zu prüfen, welche möglichen (trans-)kulturellen Muster sich in adaptierten Fernsehformaten finden lassen. In einem ersten Schritt soll das Figurenhandeln im Fokus der weiteren Ergebnisdarstellung stehen. Im Mittelpunkt des Figurenhandelns von Spielshows steht die mediale Funktionsrolle des Moderators. Im Format MILLIONÄR ist er als Spielleiter beziehungsweise Quizmaster die zentrale Figur der Sendung. In beiden Sendungsvarianten sind Günther Jauch und George Kordahi sogar zu prägenden Identifikationsfiguren mit der Sendung geworden. Auch wenn die Funktionsrolle des Moderators im Quiz 586 Gerade im kontingenten lexikalischen Wissen, das sich auch durch Quizshows vermittelt, sieht Liessmann in seiner Polemik über die Wissensgesellschaft das Charakteristikum und Problem heutiger Wissensvermittlung. Liessmann, Konrad Paul (2009): Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. 2. Aufl. München [u.a.]: Piper.

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eindeutig bestimmt ist, konnten durch die induktive qualitative Analyse von jeweils fünf Episoden der betreffenden Versionen Varianzen hinsichtlich der sozialen Handlungsrollen, die die Moderatoren in den beiden Versionen einnehmen, bestimmt werden. Grundsätzlich lassen sich in beiden Versionen zwar Sequenzen finden, in denen der Moderator die Rolle eines Lehrers, eines Kontrahenten und eines Helfers der Kandidaten einnimmt. Allerdings wechselt Jauch diese Rollen in seiner Interaktion mit den Kandidaten weit häufiger als Kordahi, der den Kandidaten gegenüber durchweg als seriöser und höflicher Gastgeber auftritt. Die Lehrerrolle äußert sich bei letzterem etwa dadurch, dass er wiederholt Zusatzinformationen zu den gestellten beziehungsweise beantworteten Fragen liefert oder erfragt. Als Beispiel dafür dient der folgende Dialog der vierten Episode bei der Frage, womit der Name »al-Ta’i« (‫ )الطائي حاتم‬verbunden sei: Kandidat:

Das ist klar, »al-Ta’i« verbindet man mit der Großzügigkeit.

Kordahi:

Endgültige Antwort?

Kandidat:

Endgültige Antwort.

Kordahi:

Findest du die Fragen leicht?

Kandidat:

Bis jetzt ja, ich hoffe, das bleibt so.

Kordahi:

Die Antwort ist richtig. Hatim al-Ta’i, aus dem Geschlecht der Najd und der Zeit der Jahiliyya, ist wegen seiner Großzügigkeit berühmt geworden.

Auch in der sechsten Episode ergänzt Kordahi eine Frage nach der Gründungsstadt der Pen-Vereinigung, wenn er dem Kandidaten noch vor der Beantwortung sagt, dass die Exil-Dichter Gibran Khalil Gibran und Khalil al-Nuaimi Mitglieder in der Pen-Vereinigung waren. Er gibt damit zugleich eine Hilfestellung und füllt die Rolle eines wissenden Lehrers aus. Es finden sich darüber hinaus auch Beispiele, in denen Kordahi die Kandidaten auffordert, konzentriert zu sein 587 oder in denen er, zum Teil gemeinsam per Videoschaltung mit dem Experten, das Wissen von Kandidaten diskutiert. So kommentiert er etwa in Episode zehn, dass das Wissen des Kandidaten überragend gewesen sei und er hoffe, dass alle Jemeniten sich mit ihm freuten.588 Ebenso wird das breite Wissen des späteren Millionärsgewinners in der betreffenden Episode gelobt. Ein Beispiel aus der vierten Episode mit Elektromechanikern illustriert schließlich auch in der Moderatorenrede den Deutungsrahmen, der bereits in der Auswertung der Fragen herausgearbeitet wurde – Kordahi betont hier explizit das institutionalisierte beziehungsweise kanonisierte Wissen. Das Bildungskapital des Kandida587 Er fordert bspw. Abdel Wahab Hamza in der elften Episode mit Großeltern auf, konzentriert zu sein. 588 Vgl. die letzte Unterhaltungssequenz in der zehnten Episode mit Chefs und ihren Angestellten.

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ten wird anhand der Schwierigkeiten, die der Kandidat bei der Beantwortung einer Frage nach dem Begründer der französischen »Schule der Romantik« hat, verhandelt: Kordahi:

Willkommen zurück bei MAN SAYARBAH AL-MALYOON. Heute gibt es eine Folge speziell für Mechaniker. Und bei uns ist der algerische Ingenieur und Mechatroniker Ali Ghawi. Ali hat bis jetzt alle Joker verbraucht und ist noch nicht bei seiner Gewinnstufe angekommen, hat aber schon 10.000 SAR gewonnen. Also, bis zu seiner nächsten Gewinnstufe ist es nur ein ganz kleiner Schritt.

Kandidat:

Ich hoffe, die kommenden Fragen sind leicht.

Kordahi:

Hoffentlich. Ich möchte dir noch den Experten vorstellen, den du dann befragen kannst. Seine Antworten waren bisher alle richtig. Hallo Bruder Hussain. Wie geht es dir?

Experte:

Hallo, willkommen. Mir geht’s gut.

Kordahi:

Was denkst du über den bisherigen Auftritt von Ali?

Experte:

Jetzt sind wir bei der schwierigeren Etappe angekommen und ich hoffe, dass er

Kordahi:

Ich habe gedacht, dass er wüsste, wer die »Schule der Romantik« gegründet

Experte:

Ja, das dachte ich auch – in Algerien müssten sie das doch im Gymnasium ge-

es schafft. hat. habt haben. Aber ich bin froh, dass er die Frage am Ende richtig beantwortet hat und mit der Antwort des Publikums gegangen ist. Kordahi:

Hoffentlich schafft er jetzt die 20.000, so dass er auch dich als Joker nutzen kann. Also, die Frage 6 für 20.000 SAR. Denke gut nach! Du musst die 20.000 schaffen.

.

Der Experte Hussain al-Shubukshi589 wird als Journalist und Medienpersönlichkeit des Senders MBC eingeführt und Kordahi betont häufig dessen Wissen, selbst in Momenten, in denen dieser nicht offiziell als Joker befragt wurde. Damit wird der Expertenjoker aktiv als Wissensinstanz inszeniert, auch wenn er selbst gelegentlich ein Unwissen zugestehen muss. Dieser Joker, den es in anderen Formatvarianten nicht gibt, hat schließlich einen Einfluss auf die in der Theorie bereits beschriebene Autorenrolle, die in unterhaltenden Formaten den produzierenden und ausstrahlenden Sendern und Unternehmen zukommt. Denn der Sender MBC selbst beteiligt sich in der Verkörperung des Experten an dem Spielverlauf. Durch dessen Präsenz und Hilfestellung verschiebt sich so in der arabischen Version die Rolle des Wis-

589 Die Autorin richtet sich hier nach der Schreibweise des Namens, die von den Übersetzern vorgegeben wurde.

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sensverwalters stärker auf die Institution MBC als es in der RTL-Produktion der Fall ist. Gleichzeitig ist durch die Einführung des Expertenjokers eine zusätzliche Interaktionsmöglichkeit für den Moderator gegeben, dessen Gespräche sich nicht allein auf die Kandidaten beschränken. Kordahi sucht immer wieder die Unterhaltung mit dem Experten, der mithin als »Verbündeter« beziehungsweise »Kollege« Kordahis erscheint. Die Ansprache des Experten unterstreicht dann auch nochmals den Status des Moderators als Spielleiter. Schließlich wird die Autorität, die Kordahi in einer Quasi-Lehrerrolle genießt, auch dadurch verstärkt, dass er wiederholt zu Beginn des Auftritts eines jeden Kandidaten die Spielregeln erläutert. Bei Jauch hingegen ist die Lehrerrolle eher als ein schulmeisterliches Spiel zu interpretieren, das auch immer wieder gebrochen wird. Dominierend ist hier in der Rollengestaltung eine konkurrierende Situation, die der Moderator der deutschen Sendung spielerisch zwischen sich und den Kandidaten herstellt. Er übt sich im Verwirrspiel und versucht, Kandidaten in konflikthafte Situationen zu drängen. Beispielsweise verweist er mit einem schelmischen Lächeln auf die Unsicherheit der Kandidaten590 und stellt konkrete Nachfragen zu deren Wissen 591. Außerdem versucht Jauch die Kandidaten häufig dazu zu überreden, Joker zu verbrauchen und damit zwar ihr Spiel abzusichern, aber für den weiteren Verlauf auch neue Unsicherheiten zu schaffen. Was bei Kordahi noch primär als Hilfestellung inszeniert ist, wird bei Jauch zum internen Spiel mit dem Kandidaten. Wenn Jauch etwa der Überlegung »Sie können ja auch Joker nachschieben«592 ein hämisches Grinsen folgen lässt, wird dies ebenso deutlich wie in seiner Aussage, dass er nervös werde, wenn ein Kandidat zu gut spielt: »Ich hingegen werde jetzt nervös, weil sie noch zwei Joker haben und wir jetzt um 125.000 Euro fighten«.593 Die Wortwahl »fighten« erlaubt hier zusätzlich einen Deutungsrahmen, der eher den spielerischen Aspekt und weniger die Wissenskomponente des Formats hervorhebt. Zur Veranschaulichung der weitaus weniger auf spielerischen Konflikt hin ausgelegten Rahmung in MAN SAYARBAH AL-MALYOON kann das folgende Beispiel aus der fünfzehnten Episode dienen, in der ein Kandidat sich entgegen des Rats von Kordahi für eine falsche Antwort entscheidet ohne sich zusätzlich abzusichern. Kordahi agiert in diesem Moment ernst und versucht den Kandidaten zu überreden, 590 In Episode D01 etwa reagiert er mit folgenden Kommentaren auf die zweifelnden Überlegungen zur richtigen Antwort der Kandidaten: »Wenn Sie sich sicher sind, würden Sie nicht mit einem ›müsste‹ enden«; »[…] es ändert nichts an der Tatsache, dass Sie es ja gar nicht wissen.« 591 Etwa in Episode D24, in der ein Kandidat eine Märchen-Frage beantworten muss: »Woher wollen Sie das wissen, Sie haben doch keine Kinder?« 592 Episode D11. 593 Episode D24.

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seine Vermutung abzusichern. Am Ende drückt er seinen Ärger darüber aus, dass der Kandidat verloren hat. Hierdurch wird der Eindruck verstärkt, dass es sich weniger um ein amüsantes Spiel denn um eine ernsthafte Herausforderung handelt, die mit gemeinsamen Kräften (beziehungsweise Wissen) gemeistert wird: Frage:

Wer tötete Musta’sim Billah, den letzten Abbassiden-Kalifen?

(5.000 SAR) 1) Dschingis Khan, 2) einer seiner Soldaten, 3) Hulagu Khan, 4) Tamerlan [Kandidat überlegt] Kordahi:

Wer tötete Musta’sim Billah [wiederholt Frage und Antworten]? [Kandidat überlegt]

Kordahi:

Schwere Frage?

Kandidat:

Sehr schwer.

Kordahi:

Du hast noch drei Joker. (...) Was denkst du?

Kandidat:

Ich denke, Antwort zwei, einer seiner Soldaten. Aber ich bin nicht sicher.

Kordahi:

Ja, du hast ja den Fifty-Fifty-Joker, du kannst einen Freund anrufen oder das

Kandidat:

Ich nehme Antwort zwei, einer seiner Soldaten.

Kordahi:

Möchtest du antworten? Ich will dir keinen Druck machen. Aber du hast noch

Publikum befragen. Was machst du?

drei Joker, um dich abzusichern. Bist du sicher, dass es einer seiner Soldaten war? Kandidat:

Nein.

Kordahi:

Also, was machst du?

Kandidat:

Puh... Einer seiner Soldaten!

Kordahi:

Willst du wirklich antworten?

Kandidat:

Antwort zwei.

Kordahi:

Egal, was sage ich dir. Endgültige Antwort?

Kandidat:

Endgültige Antwort.

Kordahi:

Ich habe es dir einmal gesagt, zweimal gesagt, dreimal gesagt, zehnmal gesagt: du hast drei Joker!

Kandidat:

Ich wollte sie aufheben für die höheren Fragen.

Kordahi:

Aber du hast es doch gerade gesehen, wie der Bruder [voriger Kandidat] verloren hat. Was willst du denn dann mit den höheren Fragen?

Kandidat:

Los, es ist einer seiner Soldaten, Antwort zwei.

Kordahi:

Also, ich muss schon sagen, dein Vorgehen ist nicht gut. Leider ist die Antwort falsch, es war Hulagu Khan. Der ist doch berühmt. Die Schlacht Hulagus vor Bagdad. Man sagt doch, die Leichen hätten den Tigris schwarz gefärbt. Hussain, was meinst du?

Experte:

Ja, die Schlacht von Bagdad ist doch so berühmt.

Kordahi:

Was denkst du? Ich bin verärgert, wenn ich einen Kandidaten wie Sliman habe. Ich habe es doch ein, zwei, dreimal gesagt. Hättest du doch den Fifty-FiftyJoker genommen. Vielleicht hätte der Computer dann »einer seiner Soldaten«

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weggenommen. Oder du hättest einen Freund anrufen können. Vielleicht wären die Fragen nach dieser Frage sogar leichter gewesen. Kandidat: Kordahi:

Richtig. Egal, wir danken dir fürs Dabeisein und verabschieden Sliman mit einem Applaus.

Kordahi:

Was soll ich machen? Mehr als das, was ich getan habe, kann ich doch nicht tun. Ich habe versucht, ihn dazu zu bewegen, dass er einen Joker nutzt. Normalerweise haben wir glückliche Gäste. Heute hatten wir eine Spezialfolge für Staatsbeamte. Ich danke ihnen, ich danke dem Publikum, ich danke Bruder Hussain al-Shubukshi und der Crew. Wir sehen uns hoffentlich in der nächsten Woche wieder zur selben Zeit, zum Programm MAN SAYARBAH AL-MALYOON.

Die Hilfestellung, die Jauch einem Kandidaten zuteilwerden lässt, ist demgegenüber eher spielerisch und geeignet, eine helfende Verunsicherung zu stiften, denn eine Lehrer-Schüler-Situation zu schaffen, in der der Moderator dem Kandidaten konkrete Handlungsanweisungen gibt. Der folgende Dialog zwischen Jauch und einem Kandidaten kann diese Analyse verdeutlichen:594 Kandidat:

Also »Tökio« und »Löndön« würd’ ich ausschließen, einfach weil es kein Mensch aussprechen wollen würde, denke ich.

Jauch:

Aber das sind ja … Dänen.

Kandidat:

Ja, das ist schon richtig.

Jauch:

Haben Sie mal Dänen sprechen hören? [Publikum lacht] Es ist das schönste für mich, wenn ich aus Hamburg rausfahre weiter nördlich, der Moment, in dem man den ersten dänischen Sender rein bekommt /ich hör da nur Wortprogramme /versteh’ kein Wort, aber es hört sich so lustig an. Die sprechen schon anders.

Kandidat:

Das ist schon richtig.

Jauch:

Also »Löndön« und »Tökiö« ist für die kein »Pröblöm«.

Darüber hinaus findet sich in Jauchs Moderationen auch immer wieder der spielerische Spannungsaufbau, der an die Verwendung der Joker gebunden ist. Bei genauerer Analyse wird dabei weniger das Wissen der Kandidatin betont oder der Bezug zu den Frageinhalten, sondern vielmehr die Spielhandlung an sich. So ist im folgenden Beispiel auch nicht die Frage, ob die Kandidatin die Antwort richtig gewusst habe, sondern ob sie mit ihrer Antwort richtig liege, was einen feinen seman-

594 Episode D02: Die 8.000-Frage lautete: »Wer auf der südlichsten dänischen Nordseeinsel Urlaub machen will, fährt nach …? A) Röm, b) Löndön, c) Öslö, d) Tökiö.«

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tischen Unterschied macht, da das Richtigliegen ein spielerisches Raten impliziert und eben nicht ein Richtigsein oder Richtigwissen. Auch wenn die vergleichende Analyse von Rhetorik und Wortverwendung aufgrund der Übersetzungen der arabischen Version, auf die sich die Analyse stützt, deutliche Grenzen hat, kann aber zumindest für die deutsche Sendung ein Zusammenhang zwischen der Wortwahl in den Sprechakten der Figuren und dem inszenatorischen Schwerpunkt auf den Spielcharakter der Sendung hergestellt werden.595 Kordahi visiert in An- und Abmoderationen gelegentlich auch einen ähnlichen Spannungsaufbau an wie Jauch, wenn er die Auflösung der Antwort auf die Sendungssequenz nach der Werbung hinauszögert. Dennoch nimmt er in den fünf detailliert analysierten Sendungen kaum spielerischen Bezug auf das vermeintliche Unglück der Kandidaten bei einer falschen Antwort, so wie es Jauch tut. 596 Er bleibt stärker in der Rolle des höflichen Gastgebers, dem das Wohl seiner Gäste wichtig ist. Die eingesetzten Pausen in Gesprächssequenzen über die Antwortvorgaben, die einer möglichen Verunsicherung dienen können, und die regelmäßig wiederholte Frage am Ende der Antwortsuche – jawab niha’i? (endgültige Antwort?) – erschei595 Zwischenmoderation der Episode D11: »Jauch: Hm, tja, gibt es eine Zukunft nach 8.000 Euro. Für Sie zu Hause schon, denn mit der richtigen Antwort können Sie 5.000 Euro bei unserem SMS Gewinnspiel bekommen. Und für unsere Kandidatin stellt sich die Frage, ob sie mit Freiherr von Münchhausen richtig liegt, dann stünde sie bei 16.000 Euro und hätte noch alle Joker – oder ob sie zu den ganz, ganz wenigen gehört, die nicht nur mit 500 Euro, sondern auch mit allen Jokern nach Hause geht [Kandidatin lacht]. Ich kann mich nicht erinnern, wann wir das zuletzt hatten. In diesem Sinne bleibt es spannend und es geht gleich weiter. [Kandidatin lacht] Jauch: Noch lachen Sie! Kandidatin: Ja, wie gemein!« 596 Gemäß den Übersetzungen fallen die Anmoderationen von Kordahi neutraler aus, wie die folgenden Beispiele illustrieren: »Ich gebe Dir die Antwort nach der Werbung«; »Ich lasse das erstmal so und wir machen eine kleine Pause. Aber liebe Zuschauer vergessen Sie nicht die Zuschauerfrage. Es geht um 10.000 SAR. Nach der Werbung sehen wir, ob der Film DIE TAGE SADATS von Muhammad Khan oder von Muhammad Abdel Aziz gedreht wurde«, Episode A11. »Ich weiß nicht. Ich hatte wie du gedacht, Beethoven. Aber wir machen das ganz ruhig. In einigen Minuten sehen wir uns wieder mit Fauzia und MAN SAYARBAH AL-MALOON«. Ebenfalls in Episode A01 wird der Spannungsaufbau dadurch erreicht, dass der Experte zugeschaltet wird, obwohl er als Joker nicht eingesetzt wurde, aber eine andere Antwort als der Kandidat verfolgt: »Kodahi: Endgültige Antwort. Warum schauen wir nicht, was der Experte sagt? Wir können zwar nicht von seiner Antwort profitieren, aber lassen ihn ein bisschen arbeiten. [Lacht] Kordahi: Mh. Aber der Experte sagt – ich sehe seine Antwort – er hat Antwort drei gewählt. Ich gebe die Antwort nach der Werbung. Vergessen Sie auch nicht die Zuschauerfrage. Bleiben Sie bei uns.«

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nen hier eher als Standard-Element im dramaturgischen Spielverlauf denn als spontane kommunikative Resonanz auf das Spiel des Kandidaten. Viel eher nimmt Kordahi also die Position des Helfers ein, der nicht zuletzt auch explizit zum Ausdruck gebracht wird, etwa durch Kommentare wie: »Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen«597, »Ich hoffe, dass du viel gewinnen wirst« oder »Wenn du nicht sicher bist, dann sichere es lieber ab. Ansonsten fällst du zurück auf Null«.598 Jauchs Helferposition gegenüber den Kandidaten ist hingegen weniger explizit und äußert sich nur in indirekten Hinweisen, wenn Kandidaten unsicher werden. Ob er jedoch einem Kandidaten hilft oder nicht, ist anscheinend stark von einer persönlichen Sympathie abhängig. 599 Der damit einhergehenden Betonung einer situativen emotionalen Logik der kommunikativen Interaktion zwischen Moderator und Kandidat im deutschen Format gegenüber einer eher standardisierten Logik im arabischen Format entspricht auch die Beobachtung, dass Jauch in seinen sozialen Rollen als Privatperson und öffentliche Person stärker in Erscheinung tritt. Dies lässt sich an selbst geäußerten Referenzen zu seiner Tätigkeit als Sportmoderator und Moderator anderer Sendungen auf RTL nachvollziehen,600 ebenso wie an seinen häufigen Referenzen zu seinem eigenen Erfahrungs- und Bildungswissen, wie schon in der Gesprächssequenz deutlich wurde, in der er über den Empfang dänischer Radiosender spricht. Es finden sich in der Fallauswahl weitere Einlassungen dieser Art, in denen er aus seinem familiären Alltag oder seinen persönlichen Alltagshandlungen berichtet.601 Derlei Gesprächsanteile sind von Kordahi in den ausgewählten Fallbeispielen kaum zu finden. Er beschränkt sich zumeist auf die Angabe seines Bildungswissens, indem er verlautbart, ob er die Frage selbst gewusst hätte oder nicht. Ansonsten leitet er mit Charme und wohl dosierten amüsierenden Anmerkungen durch die Sendung. 602 Es lässt sich auf inhaltlicher Ebene daher der Unterschied formulieren, dass durch die Kommunikation Jauchs mit den Kandidaten sehr viel mehr Bezug auf alltagsweltliche Handlungen und Situationen genommen wird und damit die Sphäre 597 Episode A01. 598 Episode A04. 599 Diese Wahrnehmung persönlicher Sympathien von Jauch wurde von den Teilnehmern der Sendung, die für diese Studie interviewt wurden, ebenfalls hervorgehoben. 600 In der der Episode D01 referiert Jauch etwa die Geschichte eines Gastes aus seiner Sendung MENSCHEN 2010 BEI RTL, mehrfach nimmt er Bezug auf Sportereignisse und stellt damit eine Intertextualität zu seiner früheren Rolle als Sportreporter her. 601 So wird Jauchs Erkältung bspw. über den Verlauf der gesamten Episode D24 zu einem zentralen Thema, die er selbst mit anekdotischen Geschichten kommentiert. 602 Bspw. gibt es in Episode A11 einen kurzen Dialog über die Bedeutung der »schwarzen Witwe«, die Ihren Partner nach dem Zusammentreffen töte, was Gelächter im Publikum auslöst. Die Gespräche sind aber nur wenige Wortwechsel lang.

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der Privatheit stärker zum Gegenstand der Sendung gerät. In der arabischen Formatvariante entwickeln Moderator und Experte hingegen eher Gespräche über ein öffentlich diskursives Wissen der betreffenden arabischen Referenzsysteme – etwa über Berufsstände, lokale Charakteristika der unterschiedlichen arabischen Regionen beziehungsweise Staaten. Konkret werden beispielsweise syrische oder libanesische Spezialitäten diskutiert oder der Zustand der arabischen Wirtschaft, wie das folgende Beispiel illustriert: Kordahi:

Lass uns mal sehen, was der Experte gesagt hätte. In welcher Schlacht fielen

Experte:

Ich darf ihn ja noch nicht beraten. Ich tendiere aber auch dazu, dass er die rich-

Kordahi:

Herr Turki hat ein Buch geschrieben namens »Erinnerungen eines Dicken«.603

die Söhne al-Khansas? Was rätst du Turki al-Dakhil? tige Antwort gewählt hat. Und hast du den Experten gesehen? Der hat auch so seine Erinnerungen. Siehst du, wie dünn er jetzt ist? Experte:

Wer mich sieht, der weiß genau, wie es um die wirtschaftliche Lage der Araber steht. Ich bin geschrumpft [schmunzelt].

Kordahi:

War denn jemals die wirtschaftliche Lage gut?

Experte:

Klar, da war ich noch dick. Wir sind geschrumpft und ich auch.

Kandidat:

Ja, das ist wahr. [Moderator lacht]

Kordahi:

Ja, früher war die Wirtschaft stark. ... Du hast ihm al-Qadissiya gesagt?

Diese Sequenz ist neben einer weiteren Anspielung auf autoritäre Systeme in der arabischen Welt604 der einzige Moment, in dem explizit ein allgemeines politisches Thema aufgegriffen und mit einer kritischen Anspielung versehen wird. Zurückzuführen ist dies allerdings möglicherweise auf die Spezialepisode mit Journalisten der Region, die selbst öffentliche Personen sind und mit ihren thematischen Agenden Impulse in der Medienöffentlichkeit setzen. Denn auch wenn die beiden Passagen als kurzfristige Politisierung der Gespräche in der Spielshow zu werten sind, so sind sie gleichfalls eine Ausnahme innerhalb der Fallauswahl der Sendungen. Kordahi folgt sonst einem konstanten kommunikativen Handlungsmuster, das weder in der Struktur noch in den Inhalten große Varianzen aufweist. Die Moderatio603 Der saudische Journalist Turki al-Dakhil, der hier in einer Spezialfolge für Journalisten als Kandidat auftritt, hat ein Buch darüber geschrieben, wie er einen Teil seines Gewichts verloren hat, »Memoirs of a Previously Obese Man«. 604 Vgl. etwa den folgenden Dialog zwischen Kordahi und dem Experten: »Kordahi: Zu wie viel Prozent bist du sicher? Experte: Zu einem großen Prozentsatz. Kordahi: Über 90 Prozent? Experte: Bei Wahlen oder bei meiner Entscheidung? Kordahi: Bei Wahlen sind es doch immer 99 Prozent. Kandidat: Wir sind jetzt besser geworden, jetzt sind es oft nur noch 96,3 Prozent«. Episode Ä01.

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nen füllen damit vor allem funktionale Moderationsplätze in der arabischen Formatvariante. Weitaus unvorhersehbarer agiert hingegen Jauch in dem Spielrahmen, der eigentlich stark standardisiert ist. So entfernt er sich beispielsweise in der Fallauswahl mehrfach von seinem Moderationsstuhl, bewegt sich im Studioraum, wechselt zu den Kandidaten und spielt sogar Situationen nach, die in Gesprächen diskutiert wurden. Er durchbricht demzufolge den nur scheinbar geregelten Spielablauf. Insofern wird er selbst stärker zum Unterhaltungsmoment der Sendung als Kordahi, dessen seriöse Rolle als Spielleiter stabil bleibt. Dieser Unterschied wird schließlich auch sichtbar, wenn beide Moderatoren in ihrer Rolle als Repräsentanten der ausstrahlenden Sender analysiert werden. Jauch erlaubt sich in dieser Rolle sogar eine ironische Haltung gegenüber dem eigenen Sender RTL, wenn er humorvoll auf die Funktionsroutinen kommerziellen Fernsehens verweist.605 Kordahi hingegen kommuniziert eine neutrale bis positive Haltung gegenüber dem ausstrahlenden Sender MBC. Das Agieren der Moderatoren führt somit zusammenfassend zu einer lokalen Verschiebung im Charakter der Prüfungssituation, an die der Grundaufbau des Ratespiels im Kern erinnert. Die Moderation von Kordahi hält diesbezüglich eine klassische Prüfungssituation aufrecht, wohingegen Jauch diese immer wieder spielerisch variiert. Anteil an dieser Interaktion haben jedoch neben den Moderatoren auch die Kandidaten der Sendung, die als Spielteilnehmer die Schlüsselfiguren der Sendung sind. In ihrer Rolle als lokale »Privatpersonen« liefern sie ebenso zahlreiche parasoziale Interaktionsangebote für die Zuschauer. Zwar ist anzunehmen, dass die Kandidaten in der Aufzeichnungssituation bewusst oder unbewusst bestimmte Strategien der Selbstrepräsentation verfolgen und auch redaktionelle Entscheidungen zu Repräsentationsmustern führen. Da die Kandidaten aber als Spieler sie selbst bleiben, überführen sie ihre außermediale Identität und Persönlichkeit in die Fernsehwirklichkeit. Theoretisch entsteht dadurch eine Breite an affirmativen Beziehungsmöglichkeiten, die die Zuschauer mit den Kandidaten eingehen können. Da aber in den folgenden Untersuchungen die Bedeutungsebene und nicht die emotionale Ebene der Unterhaltungsrezeption das vordergründige Erkenntnisinteresse ist, sollen hier ausgewählte Darstellungen der Kandidaten diskutiert werden, die erneut Unterschiede zwischen den Sendungsvarianten verdeutlichen.

605 Vgl. etwa Jauchs Anmoderation der Werbung vor der Auflösung vor der Millionenfrage: »Jauch: 1 Mio. Euro oder 16.0000. Puh, so viel Spannung war wirklich seit Jahren nicht mehr. Das schreit nach einer kurzen Unterbrechung und 5.000 Euro für Sie beim SMS-Spiel. [Publikum lacht empört über die Pause, Jauch lacht ebenso] So sind wir, beim kommerziellen, knallharten, privaten Fernsehen. Wir machen ein paar Minuten Werbung, damit wir, wenn wir an Ihnen eine Million zahlen, in der Werbung 3 Millionen wieder reinholen [Publikum lacht] Schönen Abend, das ist der Deal«. Episode D24.

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Diese Unterschiede beziehen sich vor allem auf den Umfang und die Inhalte der Gesprächssequenzen im Auftritt der Kandidaten. Konkret erhalten die Kandidaten von WER WIRD MILLIONÄR in der Fallauswahl deutlich mehr Raum, um sich als Individualakteure zu präsentieren, indem etliche Ausschnitte aus deren Erfahrungsund Alltagswelt in der Sendung thematisiert werden. Dieser Unterschied äußert sich sowohl in quantitativer wie auch qualitativer Hinsicht. So entfallen auf einer strukturellen Ebene auf die Auftritte der Kandidaten in WER WIRD MILLIONÄR durchschnittlich über 20 Minuten Sendezeit, in MAN SAYARBAH AL-MALYOON durchschnittlich etwas weniger, nämlich 15 bis maximal 20 Minuten.606 Ein Grund hierfür ist, dass in den arabischen Episoden bis auf eine Ausnahme grundsätzlich drei Kandidaten auftreten und ihr Spiel auch zu Ende führen, in der deutschen Variante den Kandidaten für das Spiel aber mehr Zeit gelassen wird, da dieses nicht innerhalb einer Episode beendet werden muss, sondern auch episodenübergreifend fortgeführt werden kann. Die Anzahl der Kandidaten pro Sendung variiert hier stark und schlägt sich schließlich auch in der Anzahl der Spiele nieder, die in den jeweils zwölf Episoden der beiden Formatvarianten untersucht wurden. In der deutschen Fallauswahl spielen insgesamt 18 Kandidaten um den Hauptgewinn, in der arabischen sind es insgesamt 37 Kandidaten, die sich dem Wissensquiz stellen. Mehrfach macht der Moderator Kordahi in den Episoden der arabischen Version diese zeitliche Begrenzung des Spiels auch deutlich, wenn er in Gesprächen anmerkt, dass man keine Zeit verschwenden wolle und daher gleich mit den Fragen weiter mache.607 Neben diesen Rahmenbedingungen ist es insbesondere die qualitative Ausgestaltung dieser Zeit, die Aufschluss über Unterschiede der Repräsentation von Kandidaten gibt. So beginnt die deutsche Version bereits vor Spielbeginn mit der Preisgabe eines Details aus dem Privatleben der fünf potenziellen Kandidaten, die noch eine Auswahlfrage zu beantworten haben608, während im arabischen Fallbeispiel die

606 An diesem Unterscheid ändert auch die tatsächliche Sendedauer nichts, die in den Versionen leicht variiert. Denn auch wenn sich die Ausstrahlungszeit mit Abrechnung der Werbung nicht ganz exakt ermitteln lässt, ergibt sich bei einer Sendedauer von ca. 46 Minuten in der deutschen Version und 60 Minuten in der arabischen Version bei insgesamt 18 bzw. 37 Spielteilnehmern eine Differenz von etwa 10 Minuten, die auf den Spielzug eines Kandidaten aufgewendet wird. 607 Bspw. in Episode A11 bei der Vorstellung des dritten Kandidaten: »Kordahi: So, wir wollen keine Zeit verschwenden. Es gibt zwölf Fragen bis zur Million.«. 608 Bspw. werden die Kandidaten der ersten Episode wie folgt vorgestellt: »Eve Champagne: Tänzerin aus Hamburg. Die Burlesque-Tänzerin will Günther Jauch den Kopf verdrehen./ Roland Greef aus Duisburg: Wegen seiner Größe trägt er den Spitznamen Obelix./ Franziska Ullrich aus Dresden: Tatoos und Piercings sind ihre große Leidenschaft./

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Kandidaten bereits vor der Sendung ausgewählt und dann mit jeweils standardisierten Informationen zu Herkunft, Familienstand und beruflicher Tätigkeit eingeführt werden. Dieser Unterschied setzt sich auch in den Gesprächssequenzen zwischen Moderator und Kandidaten fort. So zeigt die Analyse der Informationen über die Kandidaten, die das Publikum in Gesprächen zwischen Moderator und Kandidat erhalten kann, ein ähnliches Bild. Zwischen Kordahi und dessen Kandidaten sind hauptsächlich die Fragen des Spiels Anlass für weiterführende Gespräche, die somit thematisch stärker an die inhaltlichen redaktionellen Vorgaben gekoppelt sind. Allein die Vorstellung der Kandidaten liefert Anknüpfungspunkte für Fragen nach Beruf oder Familie. Selbst die Frage nach der möglichen Verwendung des Gewinns wird von Kordahi nicht als Standardfrage für jeden Kandidaten eingesetzt, so dass selbst die Motivation mancher Kandidaten für deren Teilnahme nicht zu erfahren ist. Aber auch die Kandidaten selbst schaffen in der arabischen Version weniger Impulse für Gespräche, die jenseits der inhaltlichen Vorgaben der Fragen zu finden sind. In der deutschen Fallauswahl hingegen geben die Kandidaten insgesamt mehr Informationen über sich preis, als die Nachfragen Jauchs intendieren. Sie agieren mitunter sogar als Gesprächsführer. Als Beispiel für eine nahezu gleichberechtigte Gesprächsrolle zwischen Kandidat und Moderator kann das Einstiegsgespräch der elften Episode dienen, das auch im späteren Verlauf der Arbeit als Impuls für die Gruppendiskussion ausgewählt wurde: Jauch:

Hallo und herzlich Willkommen zu WER WIRD MILLIONÄR. Mit Bastian Bielendorfer, 26 Jahre aus Osnabrück, haben wir gehört, ledig, liiert, keine Kinder, Psychologiestudent und mit einem ganz besonderen Verhältnis zu seinem Vater, wie wir gehört haben. Der war das letzte Mal Telefonjoker: Ja, Renaissance, Ja, Antike, Ja, was noch, Ja/ Am Anfang ist er gar nicht ans Telefon gegangen. Was haben Sie für ein Verhältnis zu Ihrem Vater?

Kandidat:

Eigentlich ein sehr enges Verhältnis, aber er hat nicht ganz verstanden, wie das

Jauch:

Ja. [Publikum lacht]

Jauch:

Obwohl es ihm ja schon mehrfach erklärt wurde vorher.

Kandidat:

Ja, ist halt auch schon ein älterer Herr … 69.

Jauch:

Schön, dass Sie das so offen kommunizieren … und heute Abend ist er da,

mit dem [Joker funktioniert]

herzlich willkommen. Wobei, von wegen älterer Herr … vom Typ her eher so Pierre Briece-Bereich. Kandidat:

Aja, Alain Delon!

Biyyon Kattilathu aus Hagen: Er war mal Sänger einer Boyband./ Birgit Unger von der Insel Mallorca: Ihr Tag beginnt mit Inline-Skaten am Strand«.

244 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ? Jauch:

Oder, ja richtig/

Kandidat:

Aber meine Mutter wollte immer Kurt Jürgens sagen, hat sie gesagt [Publikum

Jauch:

Da wäre er ja vergleichsweise schon im Jopie-Heesters-Bereich.

Kandidat:

Ja, mittlerweile ja.

lacht] Da kann er nicht mit dienen.

Jauch:

Na gut. So, gibt’s denn Vorgaben familiär, was hier heute zu reißen ist?

Kandidat:

Also unter 500.000 soll ich nicht nach Hause kommen.

Jauch:

Toll.

Kandidat:

Denn man sagt ja, das Kind kostet bis zum Erwachsenenwerden eine halbe

Jauch:

Naja, kommt auf die Anzahl der Nachhilfestunden an. Wie sah das da bei

Kandidat:

Ne Million sagen wir eher.

Jauch:

Aber ich denke, Ihre Eltern waren Lehrer, da muss der Unterricht doch kosten-

Kandidat:

Meine Eltern haben mir keine Nachhilfe gegeben, das wird extern beauftragt,

Million. Und ab dann fängt der Bereich an, in dem ich gewinnen will. Ihnen aus?

frei gewesen sein oder haben die so Striche gemacht? Outsourcing. Jauch:

Weil alles andere zu körperlicher Gewalt innerhalb der Familie führt?

Kandidat:

Ja, also mein Vater hat mal eine halbe Stunde versucht, mir die Kommaregeln beizubringen und hat dann überlegt, mich zu enterben und wollte dann nicht mehr weitermachen.

Jauch:

Wobei, vom Lehrer enterbt zu werden [Jauch macht große Augen] …

Kandidat:

Stimmt, deswegen bin ich ja hier. [Jauch lacht]

Hier ist zu sehen, dass Jauch nicht allein standardisierte Informationen aus den Alltagskontexten der Kandidaten erfragt, sondern diverse individuelle Anknüpfungspunkte nutzt, die so erscheinen, als gingen sie über die bloße redaktionelle Vorbereitung hinaus. Zum Gegenstand der Anschlusskommunikation wird mithin sogar das Aussehen beziehungsweise die Körperlichkeit der Teilnehmer. So lässt sich Jauch etwa das Tattoo einer Kandidatin aus der Nähe zeigen oder thematisiert die Kleidung der Kandidaten.609 Es gibt somit viele, zum Teil intime Details aus der Lebenswelt der Teilnehmer zu erfahren, die von der Vorliebe für Leberwurst über Flugangst, Hochzeitspläne und Schlafstörungen bis hin zum Verhältnis zu Eltern oder Partnern oder der persönlichen Meinung zu Hausgeburten reichen. Dies verhält sich analog zu den bereits angesprochenen Einblicken, die auch Jauch selbst in seine Alltagserfahrungen erlaubt. Schließlich wird auch die Frage nach der Verwendung des Geldgewinns beziehungsweise den zugrundeliegenden Wünschen in der deutschen Sendung regelmäßig wiederholt. Damit wird seitens des Moderators ein narrativer Rahmen verstärkt, 609 Bspw. Episode D01, D24.

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demnach das Fernsehen individuelle Wünsche erfüllen kann. Inhaltlich reichen diese von Konsumbedürfnissen (Schuhe, Häuser, Fernseher, Aquarien, Autos) über Selbstverwirklichungswünsche (Flugschein machen, Reisen) bis hin zu existentiellen Nöten (Schulden abbezahlen). Damit wird zugleich eine Tradition älterer Spielshows aus den 1970er Jahren aufgegriffen und eine diachrone Intertextualität hergestellt. Denn frühere internationale Erfolge von Quizsendungen wie GLÜCKSRAD oder DER PREIS IST HEIß stehen zumindest in der euro-amerikanischen Fernsehgeschichte für eine Konsumorientierung des Unterhaltungsfernsehens. Ein solcher Konsumbezug, der sich in der deutschen Formatvariante an den genannten Beispielen nachvollziehen lässt, bleibt in der arabischen Formatvariante aus. Die Erfüllung individueller Bedürfnisse wird in den ausgewählten Episoden weder erfragt noch eingehender thematisiert. Insgesamt lässt sich somit feststellen, dass die Kandidaten in der arabischen Version vorwiegend in ihrer medialen Funktionsrolle als Mitspieler eines Spiels in Erscheinung treten, sich in der deutschen Version hingegen auch stärker in ihrer sozialen Rolle als Privatpersonen präsentieren. Dadurch verschieben sich theoretisch auch die Identifikationsangebote für die Zuschauer, die im deutschen Beispiel aus analytischer Perspektive näher an die Erfahrungswelten der Zuschauer heranrücken beziehungsweise unterschiedliche Register dieser Erfahrungswelten berühren. Der thematisierte alltagsweltliche Bezug beschränkt sich bei den arabischen Kandidaten auf deren Wissen, Beruf, familiäre Situation und Nationalität610 – also vorranging Bildungs- und Sozialkapital. Durch den Fokus auf private Erfahrungswelten in längeren Unterhaltungssequenzen zählt für die deutschen Kandidaten hingegen auch eine Form des Medienkapitals, sich in der televisuellen Situation angemessen präsentieren und Gesprächskompetenz beweisen zu können. Während also durch die genannten Unterschiede im arabischen Format erreicht wird, dass das Wissen der Kandidaten einen zentralen Stellenwert einnimmt, erlangen die Talk-Sequenzen im deutschen Format eine stärkere eigenfunktionale Bedeutung. Unterhaltungen stehen hier nicht ausschließlich im Zusammenhang mit den Fragen. Dadurch wird eine zusätzliche inhaltliche Ebene der Sendung neben den Fragen etabliert. Schließlich variiert auch die Rolle des Saalpublikums zwischen einem bloßen Statisten-Status in der arabischen und einem inhaltlichen Impulsgeber in der deut610 Trotz des Bestrebens einer ausgewogenen arabischen Teilnehmerquote dominieren in der Fallauswahl Kandidaten aus Saudi-Arabien (28 Prozent) und Ägypten (11 Prozent), sowie aus dem Sudan, dem Libanon, Bahrein und Jordanien (mit je 8 Prozent) und Syrien (5,6 Prozent). Aus anderen arabischen Staaten ist jeweils nur ein Kandidat vertreten. Die Nationalität der Kandidaten spielt gelegentlich eine Rolle in den Unterhaltungen, wenn etwa die Nähe Algeriens zu Frankreich oder die Küche Syriens thematisiert wird. Allerdings handelt es sich hier relativierend nicht um eine repräsentative Darstellung, sondern um Tendenzen, die sich in der vorliegenden Fallauswahl zeigen.

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schen Version. In ersterer ist die Interaktion zwischen Moderator und Saalpublikum auf die Sequenzen reduziert, in denen der Publikumsjoker verwendet wird.611 In der deutschen Formatversion hingegen erhält das Publikum eine aktivere Funktionsrolle, da es gleich durch zwei Joker in das Spiel einbezogen werden kann. Der zusätzliche Publikumsjoker, in dem einzelne Gäste im Publikum um Antworthilfe gebeten werden, liefert dem Moderator die Möglichkeit, das Saalpublikum öfter einzubeziehen, direkt in die Reihen des Publikums zu gehen und so Distanz zu einem sonst lediglich kommentierenden Publikum abzubauen. Die Einzelpersonen, die aus dem Publikum ausgewählt werden, geben dann zumeist anschlusskommunikative Impulse. Durch den Auftritt einer Hebamme wird beispielsweise spontan die aktuelle Situation der privaten Hebammenversicherung thematisiert, durch den Auftritt eines Beamten über das Rollenbild von Lehrern diskutiert. Gerade der berufliche Hintergrund der Zusatzjoker wird häufig als Anlass für Unterhaltungen genutzt. Damit ist zugleich erreicht, dass zufällige gesellschaftliche Referenzen aus den beruflichen Sozialisationshintergründen der Individuen aus dem Saalpublikum aufgegriffen werden können. In der untersuchten Staffel von MAN SAYARBAH AL-MALYOON strukturiert der berufliche Hintergrund sogar die Episoden, da die Kandidaten in Spezialsendungen in Erscheinung treten, die unterschiedlichen Berufsständen zugeordnet sind. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung betrifft dies Sendungen, in denen Journalisten, Berufskraftfahrer, Mechaniker, Tierärzte, Chefs und Angestellte, Großeltern, Bauarbeiter und Anwälte auftreten. Die berufliche Stellung wird damit zum maßgeblichen sozialen Distinktionscode für die Repräsentation der Kandidaten, die stärker als soziale Typen erscheinen. Wenngleich sie auch Individualcharaktere bleiben, werden sie in der arabischen Version auch zu Repräsentanten von Berufsständen. Damit wird schließlich auch das Bildungskapital der Kandidaten immanent zu einem Distinktionsmerkmal der Kandidaten. Die Verbindung von Bildungskapital und Berufsgruppen zeigt sich sogar explizit, wenn der Moderator betont, dass man als Beamtin der strategischen Verwaltung ein großes Wissen haben müsse612 oder Journalisten als besonders wissende Berufsgruppe eingeschätzt werden. In diesem Zusammenhang lässt sich auch die Beobachtung einordnen, dass mehrere Kandidaten erwähnen, dass ihre Kinder oder Enkel studieren. Die Nachfrage und Thematisierung der Ausbildung der Kinder unterstreicht insofern erneut die Bildungsorientierung der Sendung und impliziert darüber hinaus auch die Zugehörigkeit der

611 Dies ist nicht als generelles Charakteristikum des arabischen Fernsehens zu werten. Die Adaption des Castingformats zeigt wiederum ein Publikum, das aktiv auf das Bühnengeschehen reagiert. Die inhaltsanalytische Einordnung erfolgt hier im Rahmen des Vergleichs mit der deutschen Produktion. 612 Episode D06.

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Kandidaten zu einer gehobenen sozialen Schicht- beziehungsweise Milieuzugehörigkeit. Eine solche bildungsorientierte Selbstrepräsentation und indirekte Demarkierung der Kandidaten qua ihrer sozialen Position ist in der deutschen Formatvariante weniger offensichtlich. Eine episodenübergreifende Narration über Kompetenz und gesellschaftliche Wertschätzung von Lehrern ist hier eher situativem Zufall geschuldet, da in einer frühen Episode der untersuchten Staffel ein Lehrer einem Kandidaten die falsche Antwort gibt und damit den Ausgangspunkt für ein wiederkehrendes Thema in der Sendung liefert. Eine systematische Verbindung von Wissen und Berufsstand findet sonst weniger offensichtlich statt. Dies bedeutet schließlich, dass in der deutschen Formatversion Individuen die primäre Identifikationsquelle für Anschlussdeliberationen sind, in der arabischen Formatversion hingegen Statusbeziehungsweise Berufsgruppen. Der Unterschied in der Gestaltung der Repräsentation der Kandidaten, die in der deutschen Formatversion größeren Raum für Informationen aus dem individuellen Alltagskontext schafft, bleibt dadurch unberührt. Zusammenfassend sind in den Adaptionen also deutlich erkennbare inszenatorische Spielräume auf der Ebene der lokalen Handlungsträger zu erkennen. Die variierende Ausgestaltung der Handlungsrollen hat auch Einfluss auf die inhaltlichen Anschlussdiskurse in den Talk-Anteilen, die grundlegende Rahmung der Wissensabfrage und damit auf die genre-prägenden Charakteristika der Sendungsvarianten. Allerdings bleibt zu bedenken, dass die herausgearbeiteten Unterschiede auf der Ebene der Figuren noch keinen maßgeblichen Einfluss auf den Spielaufbau, die Anlage und Ästhetik der Sendung haben. Das Konzept bleibt grundsätzlich stabil und wiedererkennbar. Im folgenden Schritt wird daher geprüft, inwiefern televisuelle Konventionen beziehungsweise professionelle Codes das Spiel in beiden Versionen gestalten. Dies hilft, Aussagen über die Repräsentationsmuster der Adaptionen weiter zu fundieren. 4.1.1.3 Hollywood im Spielformat: Analyse der televisuellen Gestaltung Nachdem zunächst die niederländischen Produktionsstudios in der deutschen und die Londoner Originalstudios in der arabischen Produktion verwendet wurden, wurde das Originalstudio schließlich in Köln von ENDEMOL und in Kairos Media City von MBC nachgebaut. Die Studioanlage und das gesamte Design orientiert sich stark am britischen Original. Deutlich wird dadurch insgesamt eine assimilative Reproduktionspraxis auf der Ebene der visuellen Darstellung beider Versionen, in denen die ästhetischen Konventionen der ursprünglichen Sendung umfassend übernommen wurden. Diese folgen im Kern einem internationalen Hollywood-Stil. Dies geht auch aus Darstellungen der Produzenten von MILLIONÄR hervor, die darauf hingewiesen haben, dass die mise en scène von der Ästhetik des HollywoodKinos inspiriert gewesen sei: Die Höhle des Riddlers in BATMAN FOREVER, die Ge-

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richtssaal-Szene im Film JUDGE DREDD und der Inkubationsraum in JURASSIC PARK werden als Vorlagen für die Gestaltung des Sets benannt; Anleihen seien ebenso im Science-Fiction-Genre gesucht worden, die sich in der Stahlkonstruktion, den Farben, dem Licht und dem Raumschiffcharakter der Bühne widerspiegelten. 613 Analog hierzu verhält sich auch die Licht- und Tonkomposition der Sendung. Die auffälligen Scheinwerferbewegungen und Blenden seien von den Rock-Konzerten der Band GENESIS inspiriert, den sogenannten »varilities«, und folgen im Spannungsaufbau der Musik, die gleichermaßen der dramatischen Orchestrierung einer Filmmusik von John Williams ähnelt und somit eine bis dahin ungewöhnlich auskomponierte Ausgestaltung einer Spielsendung darstellt. Ganze 140 Musikstücke sind von Keith Strachan für die Sendung komponiert worden. Erstmals wurde so zunächst in Großbritannien und anschließend in den adaptierenden Fernsehumgebungen eine Quizshow im Hollywood-Look präsentiert und nicht, wie zuvor üblich, in bunten Spielwelten.614 Deutlich wird an den ästhetischen und professionellen Codes der Sendung somit eine intermediale Intertextualität. Obwohl die Spielshow ein originäres Fernsehgenre ist, das, anders als etwa die Soap-Opera, nicht auf literarische oder filmische Vorlagen zurückgreift, suchen die darstellerischen Konventionen und künstlerischen Ausdrucksformen dennoch Anleihen im Film. Wenngleich sich die Ästhetik in einigen farblichen und dynamischen Nuancen sowohl im arabischen als auch im deutschen Format von der ursprünglichen britischen Version unterscheidet,615 ist die ästhetische Gestaltung nahezu identisch. Das trifft zu großen Teilen auch auf die Kameraeinstellungen und -fahrten sowie auf die Schnittlänge zu. So dominieren in den Versionen Nah- und Halbnahaufnahmen der Figuren, ein Face-to-Face-Schnitt in den Unterhaltungssequenzen, die Einstellungen sind jeweils durchschnittlich zwei bis drei Sekunden lang, die Kamerafahrten zur Bühne sind ähnlich und werden durch Licht und Musik begleitet. 616 Hier wur613 McGregor, Tom (1999): Behind the Scenes at Who Wants to Be a Millionaire. London: Boxtree; vgl. auch Creeber, Glen (2004): Who Wants to Be a Millionaire? 614 Die aufwändige Gestaltung des Sets schlug sich auch im Budget der Sendung nieder, das mit 150.000 britischen Pfund deutlich höher lag als etwa durchschnittlich 18.000 britische Pfund für Sets im Entertainment Bereich. McGregor, Tom (1999): Behind The Scenes at Who Wants to Be a Millionaire. 615 Die Farbgebung variiert zwischen einem stärkeren Blau und helleren Silbertönen in der deutschen und etwas stärkeren Rot- und Lila-Tönen in der arabischen Version. Letztere weist insgesamt weniger Dynamik im Scheinwerferlicht auf. 616 Kleinere Unterschiede lassen sich bei den Kamerafahrten ins Publikum finden. Die Kameraeinstellung der arabischen Version zoomt seltener auf Augenhöhe ins Publikum als in der deutschen Version. Damit wird ein Blick ins Studio aus Sicht der Zuschauer gewählt. Die Zuschauer am Bildschirm können so den Blick des Studiopublikums auf die Bühne nachempfinden, Heim- und Studiopublikum nehmen also die gleiche Rolle

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den also zu großen Teilen die innovativen filmischen Codes der Quizshow übernommen, die in den beiden Versionen transkulturell verfügbar sind. In Bezug auf die visuelle Umsetzung der Sendung handelt es sich demzufolge um »geschlossene Adaptionen«.617 Auffällig ist aber dennoch bei einer genaueren Analyse der nuancierten audiovisuellen Merkmale, dass diese geeignet sind, Unterschiede in den genre-spezifischen und charakteristischen Elementen der Formatversionen zu unterstützen. So wurde bereits festgestellt, dass die Kandidaten in der deutschen Formatversion stärker in ihrer lebensweltlichen Rolle als Privatperson agieren und eine Unterhaltungsorientierung bei der Kandidateninszenierung kennzeichnend ist. Dieser Unterschied lässt sich schon am veränderten Intro von WER WIRD MILLIONÄR ablesen, in dem der Spielrahmen zwischen Kandidat und Moderator durch die Darstellung von gegenüberstehenden Stühlen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wird, die Geldsummen hingegen weniger visuell hervorgehoben werden. Dies kann als symbolische Fokussierung auf die Kommunikations- und Spielebene zwischen Moderator und Kandidat interpretiert werden. Das übergeordnete Ziel des Spiels, Geld durch Wissen zu gewinnen, rückt so visuell in den Hintergrund. Das ruhigere Metrum der Eingangsmelodie unterstützt den Eindruck, dass weniger die Dramatik um den schnellen Gewinn denn die spielinterne Unterhaltung den Charakter der Sendung beeinflusst. Darüber hinaus ist in der deutschen Formatversion den Fragen kein Beat unterlegt, was den Spannungscharakter der Fragestellung deutlich beeinflusst, der in der arabischen und britischen Formatversion gerade durch den vorhandenen Grundschlag der Begleitmusik eine spannungsreichere Dynamik 618 erzeugt. Gleichermaßen ist auch der Vorspann zu MAN SAYARBAH AL-MALYOON, der bis auf die sprachlichen Veränderungen dem britischen Intro gleicht, mit einem schnelleren Metrum versehen ist und stellt die Gewinnsummen visuell ins Zentrum. Hinzu kommt, dass Kordahi den Kandidaten jeweils nach dem Gewinn der höheren Gewinnstufen einen Scheck überreicht, der dann von der Kamera in Nahaufnahme eingefangen wird. Dadurch wird der monetäre Gewinn in der arabischen Version auch

ein, während das deutsche Heimpublikum eher zum Beobachter des Studiopublikums wird und externer Mitspieler bleibt. Diese Nuancen erscheinen aber als kreative Variationen und haben keinen erkennbaren Einfluss auf die Inhalts- oder Repräsentationsebene der Sendungen. 617 Moran, Albert (2009): Global Franchising, Local Customizing: The Cultural Economy of TV Program Formats. In: Ders.; Keane, Michael (Hg.): Cultural Adaptation. London [u.a.] Routledge, S. 12ff. 618 Zumindest bis zur Fragestufe 2.000, danach ändert sich auch in diesen Versionen der Rhythmus. Dies könnte mit der Notwendigkeit zur Konzentration zu beantworten sein, da die Fragen mit ansteigenden Gewinnsummen auch schwerer werden.

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sinnlich fassbar gemacht. Auch wenn nicht über die Verwendung des Gewinns gesprochen wird, bleibt er so doch visuell präsent. Im Zusammenhang der Modifikationen in den Einstieg der Sendung ist an der deutschen Version WER WIRD MILLIONÄR bemerkenswert, dass in der untersuchten Staffel eine Off-Stimme eingeführt wurde, die ähnlich dem Intro eines Boxkampfes die Beteiligten an der Sendung, Moderator und Kandidaten, vorstellt. Wie bereits angemerkt, werden die Kandidaten nicht allein durch ihren Wohnort und ihr Alter präsentiert, sondern durch eine ausgefallene Eigenschaft oder ein Detail aus dem Alltagskontext, was wiederum bereits vor Beginn des Spiels einen Eindruck der Privatperson vermittelt. Begleitet werden diese inszenatorischen Feinheiten letztlich auch von einer Lichtgestaltung, die in der deutschen Sendung stärker als in den anderen Versionen das Studiopublikum erhellt und damit visuell in die Spielsituation integriert. Ganz ähnlich lassen sich dann auch die Kameraeinstellungen interpretieren, die im deutschen Format mehr Schwenks ins Publikum aufweisen, was sich mit der aktiveren Funktionsrolle des Publikums erklären lässt, das durch den zusätzlichen Joker häufiger als in der arabischen Version zum Mitspieler wird. Aber auch die größere Interaktion des Moderators mit dem Publikum, die in der Figurenanalyse herausgearbeitet wurde, macht die visuelle Sichtbarkeit des Publikums notwendig. Ähnlich findet demgegenüber die Konzentration auf Moderator und den Experten in MAN SAYARBAH AL-MALYOON ihre filmische Umsetzung. Neben den notwendigen Szenen, die hier außerhalb des Studios den Experten in einem anderen Raum abgebildet zeigen, ist das Studiopublikum bereits zu Beginn abgedunkelt, wenn der Moderator allein im Zentrum der Bühne das Spiel eröffnet. Er steht hier im Fokus der visuellen Inszenierung und wird mittig präsentiert. Es entfallen konsequenterweise die Vorstellungssequenzen der Kandidaten, da diese bereits vor der Sendung ausgewählt werden und direkt zum Spielbeginn erscheinen. Hingegen zeigt der Blick der Kamera in der deutschen Version gerade in den ersten Minuten der Sendung das Publikum und die Kandidaten, erst ab 1.000 Euro verdunkelt sich hier die Szene, um dann ab 32.000 Euro ausschließlich Kandidaten und Moderator ins Zentrum zu rücken. Diese Fokussierung findet im arabischen Format bereits früher statt. Insgesamt zeigen sich also in der konkreten Verwendung der transkulturell verfügbaren professionellen Codes nuancierte Abweichungen, die aber geeignet sind, Verschiebungen auf der Repräsentationsebene zu erzielen und Deutungsangebote der Sendungsvarianten zu variieren. Zusammenführend werden daher im Folgenden übergeordnete Narrationsangebote der Sendungen aufgegriffen.

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4.1.1.4 »Quizshow« oder »Bildungsquiz«?: Der feine Unterschied in Narrations- und Deutungsangeboten Grundsätzlich lässt sich der Inhalt des Formats MILLIONÄR auf wenige Elemente reduzieren: Durch die Teilnahme an einem Wissenstest lässt sich eine erhebliche Summe Geld gewinnen. Die Sendung basiert damit im Kern a) auf einer gesellschaftlichen beziehungsweise kulturindustriellen Wertschätzung von Wissen und b) einer Frage-Antwort-Situation, die im weiteren Sinne einer Prüfungssituation gleicht. Feine Unterschiede bezüglich dieser beiden Dimensionen beeinflussen allerdings den Charakter der beiden Formatversionen, die sich entlang der Semantiken »Quizshow« und »Bildungsquiz« zum Ausdruck bringen lassen. Es wird hier argumentiert, dass WER WIRD MILLIONÄR als Quizshow zu bezeichnen ist, da im Vergleich zur arabischen Version eine Verschiebung hin zu einer Unterhaltungsorientierung zu bemerken ist. Wie bisher gezeigt wurde, verhelfen umfangreichere Gesprächssequenzen und das Agieren des Showmasters der Sendung zu Unterhaltungsanteilen, die eine eigenständige Qualität gegenüber dem eigentlichen Wissensspiel besitzen. Somit wird auch immer wieder von der Prüfungssituation abgelenkt, was ebenso zur Folge hat, dass sich Phasen der Exposition und des Spannungsaufbaus auf längere Zeit erstrecken können. Hier werden in der Spielshow also gleichzeitig zentrale Elemente des Genres der Talkshow aufgegriffen und stärker als in der arabischen Version betont. Außerdem nimmt die Sendung auch Genre-Elemente des Dramas auf.619 Ein komplexes Drama entsteht insbesondere dadurch, dass die Kandidaten nicht gegen Zeit spielen, sondern gewissermaßen gegen sich selbst. Sie müssen eine Prüfungssituation vor der Fernsehkamera bewältigen und vielfältige Konflikte lösen – etwa der Entscheidung, welchem Wissen vertraut wird, ob Nichtwissen vor laufenden Kameras zugegeben wird oder in welches Verhältnis Risikohandlungen und Geldsummen gesetzt werden.620 Diese psychologischen Konfliktsituationen werden von den Kandidaten unterschiedlich verhandelt. Interessant ist dabei vor allem der Vergleich des Risikoverhaltens. Obwohl in der deutschen Version die meisten Kandidaten die neu eingeführte Risikovariante spielen, also einen vierten Joker nutzen, dafür aber die Sicherheitsstufen verlieren, verringert sich paradoxerweise das Risikoverhalten. Aufgrund der fehlenden Sicherheitsstufe beenden fast alle Kandidaten der Fallauswahl bei bestehender Unsicherheit ihr Spiel, sobald alle Joker verbraucht sind. Durch den vierten Joker und die einfachen Einstiegsfragen ist es daher möglich, wenn auch nicht mit der Million, so zumindest mit einer beachtlichen Gewinnsumme die Teilnahme zu kalkulieren. Abgesehen von einem einzigen Kandidaten in der Fallauswahl, der mit falscher Antwort das Spiel früh beenden muss, gewinnen alle anderen Kandidaten einen vergleichsweise hohen Betrag. Das Spiel wird 619 McGregor, Tom (1999): Behind The Scenes at Who Wants to Be a Millionaire. 620 Ebd.

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somit zu einer durch Erfahrungswerte und Wahrscheinlichkeitsrechnung kalkulierbaren Einnahmequelle. Auch wenn die Millionenfrage davon unberührt einen Reiz für alle Beteiligten ausübt, so zielt die zugrundeliegende Prüfung nicht zwangsläufig auf den Hauptgewinn, sondern es steht vielmehr die Frage im Raum, wie viele Fragen beantwortet werden können. Tatsächlich äußert sich dieser Fokus auf kalkulierbare Gewinne auch in den Wünschen der Kandidaten, die strategisch auf bestimmte Gewinnsummen ausgerichtet sind. Die Narration verschiebt sich so vom Versprechen eines langfristig lebensverändernden Gewinns, den man durch Einsatz seines Wissens erzielen kann, hin zum Versprechen eines zumindest kurzfristig lebensoptimierenden Gewinns, für den man im Grunde gar nicht so viel wissen muss. In diesem Zusammenhang ist die Anwendung der Joker als öffentliche Relativierung eines Bildungsanspruchs durch die Legalisierung eines »Spickzettel«-Prinzips interpretierbar, denn die Kandidaten müssen nicht alles selbst wissen. Sie können sich bei einer Frageleiter, bei der erst ab 4.000 Euro explizites Wissen gefordert ist, immerhin vier Mal helfen lassen.621 Dies gilt ebenso für die arabische wie auch alle anderen Formatversionen. Insofern wird hier weltweit das Prinzip einer helfenden »Weisheit der Vielen«622 oder zumindest einer »Weisheit der Anderen« verbreitet. Allerdings erstaunt in der Fallauswahl, dass die arabischen Kandidaten ihren Jokern durchschnittlich weniger vertrauen als ihre deutschen Pendants. Insgesamt zwölf Kandidaten müssen aufgrund einer falschen Antwort ihr Spiel beenden. Das entspricht 5,6 Prozent von 32,4 Prozent aller Joker-Einsätze in der Fallauswahl. Tatsächlich entscheiden sich die Kandidaten insgesamt sogar zwölf Mal gegen die Antwortvorgabe ihrer Joker, wobei diese Entscheidung fünf Mal falsch ist. Einfach erklären lässt sich diese Beobachtung nicht. Allerdings steht demgegenüber ein tendenzielles Sicherheitsstreben der Kandidaten im deutschen Beispiel. Für beide Versionen ist kennzeichnend, dass die Joker von den Kandidaten auch verbraucht werden, im Durschnitt werden drei Joker pro Spiel genutzt. Anders gewendet stehen die Joker-Einsätze dafür, dass in den Sendungen auch Unwissen, Unsicherheit und Unfähigkeit der Herleitung der richtigen Antwort thematisiert werden. Unwissen ist damit ein ebenso zentraler Inhalt der Sendung wie das Wissen selbst. In Rückgriff auf die Verteilung der Fragekategorien und Gegenstandsbereiche werden zwar im Bereich des impliziten Wissens kaum Hilfen in Anspruch genommen, im Bereich des expliziten Wissens hingegen umso mehr. Bei den Fragen, die bildende Kunst zum Gegenstand haben, wird in beiden Versionen 621 Der durchschnittliche Gewinn der 18 Teilnehmer der Fallauswahl beläuft sich auf insgesamt 124.805 Euro. Obwohl dieses Ergebnis durch einen Hauptgewinn im Beispiel leicht verzerrt wird, gab es im Erhebungszeitraum kaum Kandidaten, die ohne Gewinn die Sendung verlassen mussten. 622 Dies spielt auf die Überlegungen des amerikanischen Journalisten James Surowiecki über kollektives Wissen in seinem Buch »Wisdom of the Crowds« an.

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zu 100 Prozent ein Joker eingesetzt. Bei den wenigen Fragen im Bereich Geschichte und Wirtschaft werden auch im deutschen Format zu 100 Prozent Joker benötigt, bei Fragen nach religiösen Inhalten beanspruchen die Kandidaten der arabischen Version immerhin in 68 Prozent der Fragen Joker. Demzufolge geht es nicht allein um das persönliche Bildungskapital, ebenso gefragt ist »Spielkapital«, also strategisches Raten und ein geschickter Umgang mit Nichtwissen sowie Glück und Schnelligkeit in der Auswahl der Zufallsfragen. Gerade die Dimension des Glücks, die der ludischen Form des Wissensabfragens in der Unterhaltungssendung zugrunde liegt, wird besonders in der deutschen und weniger in der arabischen Formatversion betont.623 Es lässt sich weiterführend eine unterschiedliche Unterhaltungs- und Bildungsorientierung der Sendungen nachvollziehen. Denn wie die Inhaltsanalyse der Gegenstandsbereiche beziehungsweise Themenkategorien der Fragen zeigen konnte, überwiegen in der deutschen Fallauswahl tendenziell sowohl Fragen nach Wissensbeständen mit einem aktuellen und zeithistorischen Bezug ebenso wie Fragen mit einer größeren geo-kulturellen Binnenorientierung. Dies zielt auf Wissensformationen, die einer aktuellen gesellschaftlichen Verhandlung unterliegen und nicht in kanonisierten Strukturen institutionell reproduziert werden. Die dadurch entstehende Willkürlichkeit hat eine Kontingenzsteigerung und damit auch eine Steigerung der Notwendigkeit des Glücksprinzips zur Folge, da nicht mehr das institutionell erworbene Bildungskapital darüber entscheidet, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Kandidat das notwendige Wissen besitzt. Gleichermaßen wird dadurch ein demokratisches Beteiligungsprinzip befördert. Denn es ist nicht allein der akademische Hintergrund, der die erfolgreiche Teilnahme an der Sendung wahrscheinlich macht. Im Kontingenzprinzip des abgefragten Wissens liegt letztlich auch der Reiz des Formats, da es die Antwort auf die Titelfrage, »Wer wird Millionär?«, unberechenbar macht. Die Kandidaten der Fallauswahl von WER WIRD MILLIONÄR haben dennoch zu großen Teilen eine höhere Bildung genossen.624

623 Hetsroni hat in diesem Zusammenhang zwar auf das nach islamischen Verhaltensregeln verbotene Glücksspiel hingewiesen, welches er in der Adaption des Titels wiederzufinden glaubt, tatsächlich aber ist der Titel nicht mit »Wer verdient die Million?« zu übersetzen, sondern ähnlich wie in den anderen Formatversionen mit »Wer gewinnt die Million?« Hetsroni, Amir (2004): The Millionaire Project, S. 137. 624 In der Fallauswahl finden sich eine Gymnasiastin, eine Wissenschaftlerin, vier Studenten sowie drei Kandidaten in Kreativitätsberufen, die eine akademische Ausbildung voraussetzen. Daneben spielt ein Soldat um sein Glück und vier Kandidaten in Dienstleistungsberufen, die verantwortungsvolle Stellen bekleiden. Schließlich gibt es noch je zwei Kandidaten in Fachberufen und zwei ohne Angaben zum Ausbildungshintergrund. Auch wenn der Show das Etikett von Bildungsfernsehen anhaften mag – unter den Mil-

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In der arabischen Version wird die Auswahl der Teilnehmer direkt durch die Berufszuordnung und eine intransparente Vorauswahl gesteuert. Nur ausgewählten Berufsständen wird hier die Chance zum Spiel und zur gesellschaftlichen Repräsentation gegeben; nicht jeder kann Millionär werden. Das Glücksprinzip wird darüber hinaus durch die herausgearbeitete Betonung der Wissensdimensionen reduziert. Die arabische Sendung bietet damit stärker eine Narration an, nach der Vertreter von Berufsgruppen durch Wissen gewinnen können, die deutsche Sendung hingegen unterstützt eine Narration, die Gewinne durch Zufall für jeden erspielbar macht. Eine stärkere Bildungsorientierung entsteht in MAN SAYARBAH AL-MALYOON durch Kordahis Moderationen, die, wie die Analyse gezeigt hat, eine stärkere Betonung auf das Wissen der Kandidaten und die Frageinhalte legt. Außerdem sind die Fragen selbst stärker an klassischen Bildungskanons orientiert und rufen institutionalisiertes Wissen ab. Wenngleich die Zufälligkeit und Willkür der Verteilung der Gegenstandsbereiche auf beide Versionen zutrifft, so äußert sich tendenziell eine Bildungsorientierung in den Fragen, die eher klassische Wissensbestände reproduziert, so dass sich die Eigenschaften der Sendung im Terminus Bildungsquiz ausdrücken. Schließlich sind es auch die standardisierten Spielzüge und deren Sendezeiten, die dazu führen, dass auch quantitativ mehr Wissen in der Sendung zirkuliert, indem weniger Wert auf die Unterhaltungssequenzen gelegt wird. Aufgrund der höheren Teilnehmerzahl werden die Spielsequenzen schneller zu Ende geführt. Insgesamt 259 Fragen werden in der Stichprobe in der arabischen und nur 212 Fragen in der deutschen Stichprobe gestellt. Die entstandene Zeit wird bei WER WIRD MILLIONÄR jedoch nicht nur durch eine ausführlichere Herleitung oder Kontextualisierung der Fragen genutzt, sondern dienen der Unterhaltung. Schließlich findet sich ein Unterschied in der Bildungs- und Unterhaltungsorientierung auch in Attributen, die die Akteure verwenden: Während in der deutschen Formatversion Termini wie »zocken«, »raten« oder »fighten« für die Selbstbeschreibung der Spielhandlung genutzt werden, dominieren im arabischen Format Formulierungen des »Wissens« oder »nicht Wissens«. Dass die arabische Sendung vor allem mit Wissenszirkulation verknüpft ist, wird abschließend in einem Zitat eines Kandidaten der zwölften Episode auf den Punkt gebracht: Frage:

Die europäische Hauptstadt, deren Wahrzeichen eine Wölfin ist, die Zwillinge

Kandidat:

Ich weiß, dass das in Rom passiert ist, aber ich weiß nicht mehr genau wie die

säugt, ist 1) Wien, 2) Rom, 3) Berlin, 4) Amsterdam? Zwillinge heißen oder wie genau. Rom, so hieß der doch, oder? Der ist von einer Wölfin gesäugt worden. lionengewinnern waren neben einem Historiker mit Philologie-Studium und weiteren Philosophie- und Anglistikstudenten auch eine Hausfrau und ein Mechaniker.

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Kordahi:

Und deshalb ist das Wahrzeichen eine Wölfin mit Zwillingen? Endgültige

Kandidat:

Endgültige Antwort!

Antwort? Kordahi:

Remus und der zweite hieß Romulus.

Kandidat:

Ja, das war vor Christi Geburt.

Kordahi:

Das ist natürlich richtig! [Publikum applaudiert]

Kordahi:

Woher weißt du das alles? Liest du viel?

Kandidat:

Ja, ich lese viel. Ich profitiere aber auch von der Sendung, da kann man was lernen. Ich gucke sie schon immer, auch, als sie noch aus London gesendet wurde.

Insgesamt lassen sich zwar die genannten Unterschiede in der Bildungs- und Unterhaltungsorientierung der Sendung qualitativ aus den Beispielen ableiten, ob sie jedoch auch eine Durchschlagsfähigkeit bei den lokalen Rezipienten haben, bleibt zu untersuchen. Eine Metabotschaft ist schließlich bei beiden Versionen darin zu finden, dass das Fernsehen in seiner Eigenwirklichkeit ein Spiel inszeniert, in dem Privatpersonen einen enorm hohen Gewinn durch Anwendung ihres Wissens erzielen können, der über die Fernsehwirklichkeit hinaus für den einzelnen Gewinner Bedeutung hat. Die Zentralität, Wertschätzung und Art dieses Wissens allerdings variiert hinsichtlich der beiden Versionen entsprechend des gesellschaftlichen Referenzsystems, auf das inhaltlich Bezug genommen wird: Im arabischen Beispiel wird eher eine Ebene überregional geltender, verbindlicher und kanonisierter Wissensbestände erfragt, die auf die gemeinsame Geschichte eines transnationalen arabischen Referenzsystems verweist. In der deutschen Variante hingegen überwiegen national verfügbare, kontingente und weniger kanonisierte Wissensbestände. Diese Alltagsorientierung im Wissen entspricht auch der individualisierten Darstellung der Kandidaten, so dass das deutsche Format WER WIRD MILLIONÄR als ein individualisiertes partizipatives Glücksspiel mit einer hohen Alltagsorientierung charakterisiert werden kann. Demgegenüber lässt sich auf der Grundlage des Vergleichs die arabische Version MAN SAYARBAH AL-MALYOON als ein gruppen- und klassenorientiertes und eher hierarchisierendes Bildungsformat beschreiben. Auf Grundlage dieser Interpretation lässt sich schließlich weiter argumentieren, dass die Formatadaptionen weitestgehend den Ist-Zuständen der jeweiligen gesellschaftlichen Referenzsysteme entsprechen. Zumindest kann auf einen wissenschaftlichen Diskurs verwiesen werden, der gesellschaftliche Differenzierungs- und Individualisierungstendenzen in modernen Gesellschaften wie Deutschland diskutiert. Soziologische Makroanalysen deuten an, dass sich die Möglichkeiten der individuellen Selbstgestaltung und Partizipation, wenngleich milieuspezifisch variierend, in der Moderne verändert und vergrößert hat. Beschreibungen einer fortgeschrittenen Differenzierung pluraler Lebensstile in Deutschland sind in der Milieu- und Lebensstilforschung zu finden. Lebensstil und Klassenzugehörigkeit sind nicht mehr

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als Einheit zu denken. Auch wenn die soziologische Debatte Einwände gegenüber Vorstellung solcher kollektiver Wandlungsprozesse hervorgebracht hat, kann an dieser Stelle zumindest angedeutet werden, dass die Artikulation der individuellen Befindlichkeiten als auch die erkennbar größere Bereitschaft der deutschen Kandidaten zur Selbstrepräsentation und Äußerung in den Sendungen eine Entsprechung in der soziologischen Gesellschaftsbeobachtung findet.625 Im Vergleich hierzu erreicht die arabische Version ein Publikum diverser arabischer Gesellschaften, so dass sich eine Entsprechung eines gesamtarabischen IstZustands kaum angemessen formulieren lässt. Allgemein argumentiert aber beispielsweise Olivier Roy, dass sich Modernisierungs- und Verwestlichungsprozesse auch in arabischen und insbesondere muslimischen Gesellschaften abzeichnen. Individuelle Leistung habe auch hier einen neuen Stellenwert bekommen:626 »Soziologisch betrachtet neigen die muslimischen Gesellschaften dazu, sich auf mittlere Sicht an die westlichen Gesellschaften anzugleichen.«627 Allerdings sieht sich die Sozialstruktur beispielsweise in Ägypten trotz dieser allgemeinen Entwicklungstendenzen sicherlich anderen Herausforderungen gegenüber. Ein enormes Bevölkerungswachstum trifft hier auf tradierte Klassenstrukturen, auf Ressourcenkämpfe, auf politische und konservative Machteliten und eine Mittelschicht, deren soziale Mobilitätschancen eingeschränkt sind. Das soll nicht heißen, dass nicht auch westliche Gesellschaften ähnliche Herausforderungen zu meistern haben. Doch trotz aufbrechender Lebensstilorientierungen einer großen jungen arabischen Generation, prägen hierarchische Klassenstrukturen hier nach wie vor die Sozial- wie auch Individualstruktur der Alltagswelt der Menschen.628 Zusammenfassen lassen sich die herausgearbeiteten Ähnlichkeiten und Unterschiede nun in dem folgenden Überblick zu (trans-)kulturellen Mustern in den Formatadaptionen WER WIRD MILLIONÄR und MAN SAYARBAH AL-MALYOON:

625 Vgl. hierzu bspw. Beck, Ulrich; Sopp, Peter (1997): Individualisierung und Integration. Neue Konfliktlinien und neuer Integrationsmodus? Opladen: Leske und Budrich; Schulze, Gerhard (1993): Die Erlebnisgesellschaft. 626 Roy, Olivier (2006): Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung. München: Pantheon-Verlag, S. 30. 627 Ebd., S. 29. 628 Es bedarf hier einer weitergehenden soziologischen Beweisführung, allerdings sollen die Beobachtungen vor allem tendenzielle Möglichkeiten der Entsprechungen zwischen Medienangebot und gesellschaftlichen Referenzsystemen aufzeigen.

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Tabelle 4: Inhaltsanalytische Vergleichsdimensionen von WER WIRD MILLIONÄR und MAN SAYARBAH AL-MALYOON WER WIRD MILLIONÄR

MAN SAYARBAH AL-MALYOON

Inhaltsebene: Formen des Wissenstransfers im Unterhaltungsformat  Dominanz eines geo-linguistischen Bezugs in den Fragen  transkulturelle Muster der Wissensabfrage: primär kontingentes lexikalisches Wissen  Aktualisierung zeitgeschichtlichen,  Aktualisierung historisch aktuellen, alltagsweltlichen Wissens tradierten Wissens  Verhandlung eines  Verhandlung eines kommunikativen Gedächtnisses kollektiven Gedächtnisses  Binnenorientierung  Metropolen- und Außenorientierung geo-kultureller Referenzen geo-kultureller Referenzen Figurenebene: Akteursrollen der lokalen Handlungsträger Moderatoren  Repräsentation als Lehrer, Kontrahent  Repräsentation als Lehrer, Helfer und Entertainer und Wissensverwalter  Öffentliche Person, die auch persönliches  Öffentliche Person, die primär Erfahrungswissen preisgibt Bildungswissen preisgibt Kandidaten  Artikulation in Rolle der Privatpersonen  Artikulation in medialer Funktionsrolle  Repräsentation als Individualakteure  Repräsentation als Statusgruppe  Geringe Bildungskapitalorientierung,  Bildungskapitalorientierung, höhere Alltagsweltorientierung geringe Alltagsweltorientierung Interaktionsmuster  interaktive Gesprächssequenzen mit  standardisierte Gesprächssequenzen, aktivem Einbezug des Saalpublikums und geringer Einbezug des Saalpublikums und z.T. veränderlichen Rollenverteilungen hierarchische, statische Rollenverteilung Repräsentationsebene: televisuelle Gestaltung  transkulturelle Muster der Darstellung: assimilative Reproduktion US-amerikanischer filmischer Codes und Darstellungskonventionen  Integration von Konventionen der  Reproduktion klassischer Talkshow und des Dramas Quizshow-Elemente und des Dramas  Charakter einer Quizshow  Charakter eines Bildungsquiz Repräsentationsebene: Narrations- und Deutungsangebote  Glückspielorientierung  Bildungsorientierung  individualisiertes partizipatives Glücksspiel  gruppen- und klassenorientiertes und damit mit einer hohen Alltagsorientierung eher hierarchisierendes Bildungsformat

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4.1.1.5 Gesellschaftliche Nachwirkungen zwischen Bildungsauftrag und Identitätsbildung: Kontextanalyse der MILLIONÄR-Variationen In beiden Fernsehlandschaften sind die Unterhaltungssendungen Teil des öffentlichen kulturellen Gedächtnisses geworden, was sich nicht nur an zahlreichen Bezugnahmen in der Medienöffentlichkeit, sondern selbst am Einfluss auf den alltäglichen Jargon ablesen lässt. Während heute im Bestand des Dudens die Joker (FitfyFitfy-Joker, Telefonjoker, Publikumsjoker) sogar mit Verweis auf die Sendung zu finden sind,629 wurde im arabischen Raum Kordahis Standardfrage »jawab niha’i?« (»endgültige Antwort?«) zum geflügelten Wort630. Auch werden Titel oder Joker der Sendung immer wieder als Sprachspiele in den Medien eingesetzt, selbst zu satirischen Verwendungen im Kontext politischer Konflikte.631 Die öffentlichen Anschlussdiskurse um die Sendung erlauben einen Eindruck davon zu vermitteln, wie die Sendung in der Medienöffentlichkeit wahrgenommen und damit im öffentlichen Bewusstsein der betreffenden gesellschaftlichen Referenzsysteme verhandelt wurde. Eine umfassende vergleichende Kontextanalyse der Medienkritik wäre an dieser Stelle Aufgabe einer eigenen Arbeit. Für die interpretatorische Abrundung der Inhaltsanalyse sollen daher nur einige Tendenzen Berücksichtigung finden, um das Äquivalenzverhältnis zwischen Fernsehtext und öffentlicher Meinung anzudeuten. Es zeichnet sich diesbezüglich ab, dass das Format MILLIONÄR Fragen nach dem gesellschaftlichen Stellenwert von Wissen und Wissensklassifikationen in beiden untersuchten Kontexten aufgeworfen hat. Konkret wurde die Frage nach dem Beitrag einer Quizshow für die gesellschaftliche Wissensproduktion auch von Medienkritikern aufgenommen. Studien zur öffentlichen Wahrnehmung von WER WIRD MILLIONÄR gehen von einem grundsätzlich positiv geprägten Deutungsrahmen in der deutschen Medienberichterstattung aus. Auswertungen von Fernsehkritiken haben etwa ergeben, dass der egalitäre Bildungskanon, der sich zu gleichen Teilen aus populärem wie klassisch bildungsbürgerlichem Wissen speist, unter eher positiven Vorzeichen diskutiert wird, auch wenn unterschiedliche Bewertungen der Fernsehkritiker keinen eindeutigen Konsens abbilden.632 Neben wertschätzenden 629 Scholze-Stubenrecht, Werner; Wermke, Matthias (2009): Duden – die deutsche Rechtschreibung. Das umfassende Standardwerk auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreibregeln. 24. Aufl. Mannheim [u.a.]: Dudenverlag, S. 405, 817, 1001. 630 Hammond, Andrew (2007): Popular Culture in the Arab World, S. 224. 631 Hammond verweist etwa auf einen ägyptischen Cartoon, der Israels ehemaligen Ministerpräsidenten Ariel Sharon kritisierte und provokant titelte: »Who Wants to Kill a Million?« Ebd., S. 225. 632 Goldbeck, Kerstin (2004): Gute Unterhaltung, schlechte Unterhaltung. Die Fernsehkritik und das Populäre. Bielefeld: Transcript, S. 267.

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Besprechungen existieren auch kritische Polemiken wie die des österreichischen Philosophen Konrad Paul Liessmann, der die Zusammenhangslosigkeit des abgefragten Wissens bemängelt, die aktuellen reformpädagogischen Prinzipien der Kontextualisierung und Anwendung von Wissen eher entgegenstehe. Liessmann meint, dass die Unterhaltungsorientierung um außergewöhnliches und unnötiges Wissen vielmehr symbolisch für den Bedeutungsverlust der »neuhumanistischen Idee der Allgemeinbildung als verstehende Aneignung der Grundlagen unserer Kultur« zu werten sei.633 Hier deutet sich eine intertextuelle Dimension der öffentlichen Bezugnahme auf die Sendung an, da der lokale öffentliche Diskurs damit das Thema eines allgemeinen Bildungsverfalls der deutschen Gesellschaft tangiert, der sich zyklisch in populärwissenschaftlicher Literatur oder politischen Diskussionen um die Ergebnisse der PISA-Studien äußert.634 Unabhängig von diesen kritischen Stimmen wurde die Sendung aber vielfach öffentlich gelobt und mit zahlreichen Fernsehpreisen als Beispiel herausragender qualitätsvoller Fernsehunterhaltung ausgezeichnet.635 Dies ist auch vor dem Hintergrund des Images des ausstrahlenden Senders RTL zu verstehen, der durch sein kommerzielles Angebotsprofil nicht die Heimat bildungsorientierter Sendungen ist und WER WIRD MILLIONÄR somit einen eher außergewöhnlichen Leuchtturm des Senders darstellt. Neben der Sendung selbst hat vor allem der Moderator Günther Jauch öffentlichen Ruhm bekommen. Er ist sowohl im öffentlich-rechtlichen wie auch privatwirtschaftlichen Rundfunk zu sehen, wurde und wird aber in der öffentlichen Wahrnehmung trotz seiner Erfolge als Sportjournalist und Moderator von anderen Magazinen vor allem in seiner Rolle als Gastgeber der Sendung wahrgenommen, die mitunter sogar als »seine« Show tituliert wird.636 Das Ansehen des Moderators hat 633 Liessmann, Konrad Paul (2009): Theorie der Unbildung, S.21. 634 Seit der ersten PISA-Studie der OECD im Jahr 2000 wurde in Deutschland im Zuge des schlechten Abschneidens deutscher Schüler in der Studie viel über Bildungspolitik diskutiert. Bereits drei Jahre zuvor hat der damalige Bundespräsident Roman Herzog in einer Rede eine breite, nationale Debatte über die Zukunft des deutschen Bildungssystems gefordert. Vgl. auch Lahner, Alexander (2011): Bildung und Aufklärung nach PISA. Theorie und Praxis außerschulischer politischer Jugendbildung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 635 Ausgezeichnet wurde die Sendung mit dem deutschen Filmpreis und dem Bambi. 636 Eine systematische Inhaltsanalyse zum semantischen Framing der Sendung als »Jauchs Sendung« kann hier nicht geleistet werden, allerdings lassen sich schnell einige aktuelle Beispiele für diese Beobachtung finden: So titelte etwa Die BILD-Zeitung zum 15jährigen Jubiläum der Sendung, dass »Jauchs Kult-Sendung« Jubiläum habe. Der TAGESSPIEGEL

spricht von »seiner Jubiläumsshow«. Im Quiz Tool von SPIEGEL-ONLINE

wurde beim ersten Millionärgewinner gleich von der »Jauch-Million« gesprochen. Reichelt, Julian: Jauchs schnellster Millionär. BILD, 17.Oktober 2014; Tretbar, Christian:

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durch die Sendung enorm zugenommen. Günther Jauch wurde in der deutschen Öffentlichkeit zum beliebten und kompetenten Moderator, dem sogar die Übernahme politischer Ämter zugetraut wurde.637 Umso interessanter, dass auch über George Kordahi geschrieben wird, dass er mit dem Gedanken spiele, sich um einen Sitz im libanesischen Parlament zu bemühen.638 Auch das arabische Format ist in der Öffentlichkeit vor allem vor dem Hintergrund seiner Bildungsorientierung diskutiert worden. Der ägyptische sunnitische Scheich Mohammed al-Tantawi der Kairoer Azhar-Universität hat beispielsweise 2001 nach Anlaufen der Sendung eine fatwa des ägyptischen Mufti Nasr Farid Wassel gegen die Sendung zurückgewiesen, da nicht das im Islam verbotene Glücksspiel im Vordergrund stehe, sondern die Zirkulation von Bildung. Er wird mit den Worten zitiert: »These competitions address a series of useful religious, historical, cultural and scientific questions and their goal is to spread knowledge among the public«.639 Größere Kontroversen aber hat das Format im Gegensatz zu Castingshows nicht in der arabischen Welt ausgelöst.640 Ein Unterschied der lokalen öffentlichen Diskurse kann schließlich darin gesehen werden, dass die britische Herkunft des Formats ausschlaggebend für den ägyptischen Diskurs war, in Besprechungen des deutschen WER WIRD MILLIONÄR seltener als bei anderen Formaten auf den sonst negativ bewerteten Reproduktionscharakter hingewiesen worden ist. Die Sendung wurde in der öffentlichen Wahrnehmung vielmehr als Original betrachtet.641 Neben dem Wert der Bildung wurde aber auch über weitere gesellschaftliche Werte diskutiert, die durch die Sendung befördert würden. Das Format hat diesbezüglich gerade in der anglo-amerikanischen Wissenschaft Kritiker auf den Plan gerufen, die in wissenschaftlichen Studien auf die Reproduktion gesellschaftlicher

Jubiläumssendung von Günther Jauch. DER TAGESSPIEGEL, 18. Oktober 2014; Spiegel Online Quiz: Zehn Jahre »Wer wird Millionär?«: Eckhard Freises Weg zur JauchMillion. SPIEGEL ONLINE. 637 2010 titelte bspw. DIE WELT: »Günther Jauch: Bundespräsident der Herzen« und HansHerbert von Arnim schlug 2008 Jauch als Bundespräsident öffentlich in der BILDZeitung vor. Lauterbach, Jörn: Günter Jauch, Bundespräsident der Herzen. WELT ONLINE,

11. Juni 2010; Arnim, Hans-Herbert von; Böger Helmut: Jauch als Bundespräsi-

dent – warum nicht? BILD AM SONNTAG, 4. Mai 2008. 638 Said, Nada M.: George Kordahi: Entertaining Politics. AL-AKHBAR ENGLISH, 11. Juni 2011. 639 BBC News: ›Millionaire‹ Fatwa Rejected. BBC News, 25. Juli 2001; vgl. auch Lynch, Mark (2005): ›Reality is Not Enough‹. 640 Kraidy, Marwan (2010): Reality Television and Arab Politics, S. 32. 641 Goldbeck, Kerstin (2004): Gute Unterhaltung, schlechte Unterhaltung.

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Klassenstrukturen durch Quizshows abzielen642 oder eine kapitalistische Logik in der Konsumorientierung von Wissenssendungen kritisieren. 643 So wurde beispielsweise darüber debattiert, ob das zentrale narrative Element der Sendung die individuelle Bereicherung und Habgier befördere oder aber eher einen kommunitaristischen Charakter der familiären und gesellschaftlichen Hilfeleistung wertschätze.644 Bezüglich des britischen Ursprungsformats WHO WANTS TO BE A MILLIONAIRE kritisierte beispielsweise Mike Wayne, dass Klassenstrukturen nicht etwa durchbrochen würden, wie es die demokratisch anmutende Anlage einer Teilnahmemöglichkeit vermuten lasse, sondern dass diese im Kontext der Sendung eher verfestigt würden: Die größte Publikumsaufmerksamkeit kommt seiner Erhebung nach aus den ärmsten Sektoren der Gesellschaft (allein 37,7 Prozent der Zuschauer seien Hausfrauen), die Teilnehmer hingegen kommen vorwiegend aus höheren gesellschaftlichen Schichten, bis hin zur ersten Gewinnerin, die sogar Kontakte zum britischen Königshaus pflegte.645 Auch wenn unklar ist, ob Wayne diese Prozentzahlen auch auf die relative Häufigkeit der Klassenstruktur in Großbritannien anwendet, so scheint sich hier zumindest ein tendenzielles Ungleichgewicht zwischen klassenbezogener Mediennutzung und Teilnahme an der Sendung abzuzeichnen.646 Ein Diskurs um gesellschaftliche Klassenstrukturen und die Quizshow ist hingegen im Zusammenhang mit den beiden untersuchten Versionen nicht zu erkennen, was ein weiteres Indiz für die Standortgebundenheit der Formatversionen ist.

642 Holmes, Su (2007): ›The Question is - is it all Worth Knowing?‹ The Cultural Circulation of the Early British Quiz Show. In: Media, Culture and Society 29 (1), S. 53-74. 643 Holmes diskutiert bspw. die nationale Konnotation des Genres. So sei gerade die Quizshow als amerikanisches Genre geringer Qualität gelesen worden, da es eben eine kapitalistische Konsumlogik unterstützen würde. Diese Kritik wurde insbesondere durch Quizskandale in den 1980er Jahren erhöht und hat zu einem zwischenzeitlichen Aus der Quizshow im amerikanischen Fernsehen geführt. Holmes, Su (2008): The Quiz Show. Edinburgh: Edinburgh University Press. 644 Wayne bspw. argumentiert in seiner Kontextanalyse des britischen Originals WHO WANTS TO BE A MILLIONAIRE, dass mit der zunehmenden Kommerzialisierung des Fernsehens in Großbritannien eine Werte-Orientierung abgenommen habe und gerade Quizshows immer weniger Kameradschaft oder spezielles Fachwissen wertschätzen, sondern zunehmend auf eine Konsumorientierung, Individualismus und hohe Preissummen setzen würden. Wayne, Mike (2000): Who Wants to Be a Millionaire? Contextual Analysis and the Endgame of Public Service Television. In: Fleming, Dan (Hg.): Formations. A 21th-Century Media Studies Textbook. Manchester: Manchester University Press, S. 200. 645 Ebd.; vgl. auch Creeber, Glen (2004): Who Wants to Be a Millionaire? 646 Wayne, Mike (2000): Who Wants to Be a Millionaire? Contextual Analysis, S. 210f.

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Auf einer übergeordneten Ebene allerdings deutet sich auch in der öffentlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der arabischen Version MAN SAYARBAH AL-MALYOON ein Diskurs um die politischen Implikationen der Sendung an, auch wenn sich die Anschlussdiskurse der unterschiedlichen Staffeln unterscheiden. In der öffentlichen Rezeption der Sendung wurde etwa nach der ersten Staffel die verbindende Kraft der Sendung betont, die die arabische Welt im Unterhaltungsformat zusammengebracht habe. Öffentlich verhandelt wurde damit der Wert der Sendung für die kollektive Identitätskonstruktion einer ganzen Region. Die erste Staffel wurde während der zweiten Intifada ausgestrahlt und bot somit ein Unterhaltungsforum, in dem das palästinensische Schicksal als gesamtarabisches Phänomen verhandelt wurde. Folgt man hier vorliegenden Analysen, dann habe die Sendung geholfen, Mitleid für die Palästinenser zu erzeugen, was sich sogar darin geäußert habe, dass Kandidaten ihren Gewinn an die Intifada spenden wollten.647 Die Förderung eines Pan-Arabismus wird also als ein zentrales Meta-Narrativ der Sendung erkannt und Kordahis Fähigkeiten der interkulturellen respektive interarabischen Kommunikation und seine Anwaltschaft für die ideologischen Positionen der Palästinenser als lokale Erfolgsfaktoren der Sendung benannt.648 Eine solche Politisierung der Unterhaltung ist allerdings weder in der qualitativen Analyse der Sendung 2010 noch in wissenschaftlichen oder öffentlichen Auseinandersetzungen der späteren Staffel zu finden. Zwar gibt es, wie bereits angemerkt, Anspielungen auf die Wahlverhältnisse in der arabischen Welt, die eine subtile Kritik im Kommentar des Moderators vermuten lassen, weitere kritisch politisierende Einlassungen durch Kandidaten oder Moderator sind hier aber nicht zu finden. Politisch bleibt nur der Inhalt der Fragen, der vor allem die tradierten Bestandteile einer gemeinsamen arabischen Geschichte aktualisiert und darüber nach wie vor pan-arabisches Vergemeinschaftungspotenzial stiftet. Darüber hinaus ist auch Kordahis Rolle nicht ausschließlich in politischen Zusammenhängen interpretiert worden. Zwar wurde betont, dass er als libanesischer Christ für Palästina eingetreten ist und er selbst mit saudi-arabischen Teilnehmerinnen im Niqab charmant kommunizieren könne, was ihn zu einem perfekten arabischen Mediator mache, gleichzeitig ist er aber in der öffentlichen Wahrnehmung auch zu einem Sex-Symbol geworden.649 Zu dieser Rolle passt, dass er inzwischen sogar ein eigenes Parfüm auf den Markt gebracht hat. Zudem ist erneut die Politi647 Hammond, Andrew (2007): Popular Culture in the Arab World, S. 224f. 648 Bielby, Denise; Harrington, Lee (2008): Global TV, S. 113; vgl. auch Dies. (2004): Managing Culture Matters, S. 85. Die Autoren beziehen sich hier auf einen Artikel der Los Angeles Times, in dem Kordahi selbst im Interview den Erfolg der Show mit seiner Haltung zu Palästina erläutert. El-Magd, Nadia Abou: Cairo’s ›Millionaire‹ Unabashedly Takes Palestinian Side in Conflict. LOS ANGELES TIMES. 1. Juni 2002. 649 Hammond, Andrew (2007): Popular Culture in the Arab World, S. 223.

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sierung seiner Person relevant geworden. In entsprechenden Medienberichten wurde zumindest Kordahis öffentliche Haltung im Syrienkonflikt diskutiert. 650 Was in diesen Skizzen deutlich wird, ist die transkulturelle Aktualisierung eines gesellschaftlichen Diskurses über den Wert von Wissen und Bildung, der in Unterhaltung zum Ausdruck kommt. In beiden gesellschaftlichen Kontexten bewerten öffentliche Kritiken den Bildungsanspruch des Unterhaltungsformats. Eine kulturelle gesellschaftliche Dimension der Anschlussdiskurse über das Format wird damit synchron in der deutschen wie auch der arabischen Öffentlichkeit sichtbar. Das Muster öffentlicher Rezeption ist insofern transkulturell, als dass das Format in beiden Kontexten dazu führt, dass Bildung gesellschaftlich verhandelt wird. Different hingegen ist die politische Dimension der Anschlussdiskurse. Auch wenn Günther Jauch nach dem Wunsch vieler Zuschauer Deutschlands Bundespräsident werden sollte, findet die politische Bedeutung, wie sie dem arabischen Format im Zusammenhang mit der Förderung eines Pan-Arabismus zugeschrieben wird, in Deutschland keine Entsprechung. Diskurse über Klassenstrukturen oder die kapitalistische Konsumlogik, wie sie eher im angloamerikanischen Kontext zu finden waren, können aus den verfügbaren Ressourcen und Quellen für die beiden medialen Referenzsysteme Deutschland und arabische Welt nicht gefunden werden. Damit lässt sich zusammenfassen, dass das Format eine gesellschaftliche Selbstreflexion über die Wertzuschreibung des Wissens ausgelöst hat, die Auseinandersetzung um die politische und soziale Bedeutung aber stark von den lokalen Erfahrungszusammenhängen und Kontexten abhängig bleibt. Das internationale Format scheint daher sowohl Impulse für transkulturell aktualisierbare Werte zu schaffen, ebenso aber werden regionale Spezifika in die öffentliche Wahrnehmung des Formats eingeschrieben. Um weitere Muster der Lokalisierung und Transkulturalität auf der Inhaltsebene, der Akteursebene, auf der Narrationsebene, der Ebene von ästhetischen Codes und in der öffentlichen Verhandlung zu untersuchen, wird im Folgenden mit GOT TALENT ein zweites Spielshowformat vergleichend analysiert. Ziel ist es, durch einen doppelten Vergleich zweier Formattransfers in zwei unterschiedliche geo-kulturelle Kontexte Elemente assimilativer, adaptiver und (re-)kreativer Formen im Formattransfer zu bestimmen.

650 Said, Nada M.: George Kordahi: Entertaining Politics. Al-Akhbar English, 11. Juni 2011.

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4.1.2 Die Castingshows D AS S UPERTALENT und ARABS GOT T ALENT im Vergleich Beim Spielshowformat GOT TALENT handelt es sich um ein Castingformat, das der Lizenzinhaber FREMANTLEMEDIA in zwei knappen Sätzen beschreibt: »The show features dancers, singers, comedians, variety acts, and other talented performers of all ages. A panel of judges decide which acts progress to the live semi-finals when the public have the chance to vote for their favourites.«651 Gekennzeichnet ist die Show durch die Integration von fiktionalen und nicht-fiktionalen Bestandteilen, von Live-Aufzeichnungen und vorproduzierten Materialien sowie von partizipativen und passiven Rezeptionsangeboten. Darüber hinaus werden auch unterschiedlichste Genres durch die Darbietungen der Kandidaten in aneinandergereihter Form präsentiert. Da sich das Format aus unterschiedlichen Genreelementen und ShowTeilen zusammensetzt, kann es als ein Hybridformat652 bezeichnet werden. Das Format beinhaltet in seinem konzeptionellen Aufbau zwei Inhaltsebenen. Im engeren Sinne wird ein Spiel inszeniert, nämlich ein Wettbewerb um den Titel des Supertalents, der in allen Versionen mit einem finanziellen Preis verbunden ist. In der Ursprungsversion AMERICA’S GOT TALENT beläuft sich das Preisgeld auf eine Million US-Dollar, im deutschen Format DAS SUPERTALENT auf 100.000 Euro653 und im arabischen ARABS GOT TALENT auf 500.000 SAR654 sowie einen Chrysler 300. In einem weiteren Sinn bietet das Format durch die Aneinanderreihung unterschiedlicher Darbietungen aber auch eine Varieté-Show. Für das Publikum wird so auch unabhängig von den Wettbewerbsentscheidungen ein Unterhaltungsangebot geliefert. Hierin unterscheidet sich das Castingformat von anderen Castingsendungen, die allein Sänger, Supermodels, Köche oder Tänzer bewerten und dabei die Entwicklungsdimension von Teilnehmern in den Vordergrund rücken. In solchen Fällen wird die Realität der Sendung zur Alltagsrealität der Teilnehmer. Diese Ebene wird im Format GOT TALENT im Vergleich zu anderen Castingsendungen weniger in den Fokus gerückt. Dennoch artikulieren sich die Kandidaten neben der Jury ähnlich wie im Format MILLIONÄR in erster Linie als Privatpersonen des alltäglichen Lebens auf der Bühne. Kombiniert werden die Selbstrepräsentationen der Kandidaten durch kurze Einspielungen, die die Kandidaten in ihren alltäglichen Lebensumwelten porträtieren, womit Elemente des Realitätsfernsehens in die Show aufgenommen werden. Der Auftritt der Kandidaten wird dabei häufig nahtlos in die scheinbar authentischen Hintergrundstories der Kandidaten eingepflegt, so dass der 651 FremantleMedia (2013): FremantleMedia – Got Talent. 652 Mikos, Lothar (2008): Film- und Fernsehanalyse, S. 270ff. 653 In der aktuellen Staffel, die nicht mehr Gegenstand der Arbeit war, wurde zu diesem Preisgeld noch ein Auftritt in Las Vegas hinzugefügt. 654 Umgerechnet entspricht dies 2016 etwa 133.224 US Dollar bzw. 118.329 Euro.

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Showauftritt Teil der Biographie der Kandidaten wird. Weiterhin folgen die Erzählsequenzen des Wettbewerbs – der Auftritt der Kandidaten wird durch Spannungsaufbau zur Exposition und die Jurybewertung zum Höhepunkt – auch der Dramaturgie des Dramas. Neben Codes des Reality-TV werden damit auch Codes des fiktionalen Fernsehens genutzt. Im ersten Teil, den »Auditions«, dominiert ein passives Rezeptionsangebot, da die Jury in Vertretungsposition des Publikums die Kandidaten auswählt, die im Halbfinale um den Finaleinzug kämpfen. Ab dem Halbfinale hat das Publikum dann durch Televoting die Möglichkeit, Einfluss auf die Entscheidungsfindung zu nehmen, die jedoch nach wie vor durch die Jurybewertungen beeinflusst bleibt. Diese Grundanlage der Sendung ist in beiden Adaptionen beibehalten worden. Allerdings unterscheidet sich der Umfang der Sendungen leicht. In der deutschen Variante besteht das Casting aus insgesamt zehn Episoden, in der arabischen Variante aus nur sechs Episoden. Dagegen treten in ARABS GOT TALENT insgesamt achtundvierzig Halbfinalisten in sechs Episoden gegeneinander an, in DAS SUPERTALENT waren es insgesamt vierzig Halbfinalisten, die auf vier Episoden verteilt wurden. Dementsprechend unterscheidet sich auch die Dauer des ausgestrahlten Sendematerials um etwa 90 Minuten. Auch das Finale, in dem sich abschließend zwölf Finalisten präsentieren, beansprucht im deutschen Fernsehen etwa die doppelte Sendelänge des arabischen Formats. Da allerdings auch die erste Staffel in Deutschland aus nur drei Episoden bestand, wird diese Differenz als marginaler Unterschied gewertet, der auf die unterschiedliche Biographie der untersuchten Episoden zurückgeht. Der enorme Erfolg der Sendungen in beiden Fernsehlandschaften spricht für ein ähnliches Nutzungsverhalten und die Sendedauer sollte theoretisch nur einen geringen Einfluss auf Bedeutungen, Botschaften und Erzählungen des Formattransfers haben. Gemessen an den Zuschauerzahlen und der sichtbaren Resonanz in den Sozialen Medien655 zählt das Format zu einem der erfolgreichsten weltweit. Die vierte Staffel656 der deutschen Adaption, die hier untersucht wird, galt 2010 als die bis dahin erfolgreichste Staffel der Sendung auf RTL. Durchschnittlich 7,92 Millionen Menschen schalteten die Castingshow nach eigenen Angaben des Senders ein, in den werberelevanten Zielgruppen erreichte das Format 37,4 Prozent der Zuschauer. 657 Schenkt man den Aussagen des Senders MBC Glauben, dann wurde eine Episode 655 Der Lizenzinhaber spricht von einem Online-Rekord des YOUTUBE-Channels von BRITAIN’S GOT TALENT, der eine Milliarde Mal angeklickt wurde. Ach die arabische Version versammelte Millionen Anhänger der Sendung in den sozialen Netzwerken. Vgl. auch FremantleMedia (2013): FremantleMedia – Got Talent. 656 Die vierte Staffel wurde vom 24.09.2010 bis 18.12.2010 wöchentlich samstags auf RTL ausgestrahlt. 657 Die Daten sind Publikationen der Kommunikationsabteilung von RTL entnommen, die der Autorin zur Verfügung gestellt wurden.

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der arabischen Adaption658 von mehr als einhundert Millionen Zuschauern im arabischen Raum gesehen, was einem Drittel des gesamten Publikums entsprechen würde.659 Auch wenn sich diese Daten nicht verifizieren lassen, so ist davon auszugehen, dass sich der Erfolg der britischen und US-amerikanischen Ursprungsversionen auch in den beiden hier untersuchten Adaptionskontexten umgesetzt hat. Das Format hat ähnlich wie MILLIONÄR in beiden Versionen allein aufgrund des Titelsymbols einen hohen Wiedererkennungswert. Im Folgenden werden aber erneut die unterschiedlichen kreativen Adaptionen auf den beiden genannten Inhaltsebenen untersucht. Gerade die hybride Struktur des Genres lässt unterschiedliche inszenatorische Schwerpunktsetzungen zu, so dass die lokalen Sendungsvarianten trotz ihres nahezu identischen Aufbaus und ihrer identischen Rahmenerzählungen auf lokale Varianzen hin untersucht werden müssen. 4.1.2.1 (Trans-)Kulturelles (Anti-)Talent?: Analyse der Inhaltsdimension Ähnlich dem Wissen in MILLIONÄR muss im Castingformat GOT TALENT gefragt werden, wie der Gegenstand des Wettbewerbs – Talent – in den Formatvarianten repräsentiert ist, welche Talente also eigentlich vorgestellt und bewertet werden. Wie bereits vorweggenommen, basiert die Unterhaltungsfunktion der Sendung auf einer »doppelten situativen Rahmung«660: Die Kandidaten treten als Teilnehmer eines Wettbewerbs auf (Inhaltsebene 1), sie sind aber gleichzeitig Protagonisten eines musivischen Unterhaltungsprogramms, in dem unterschiedlichste künstlerische Darbietungen, gleich einem Varieté, präsentiert werden (Inhaltsebene 2). Das heißt analytisch, dass auf beiden Ebenen Repräsentationsstrategien und inhaltliche Unterschiede zu ermitteln sind, da sie auch unterschiedliche Identifikationsangebote liefern. In einem induktiven Prozess wurden alle präsentierten Talente des Castings nach künstlerischen beziehungsweise darstellerischen Genres klassifiziert. Dabei variierte bereits die Grundgesamtheit, da in der deutschen Version DAS SUPERTALENT in insgesamt zehn Episoden 121 Kandidaten vorgestellt wurden; in der arabischen Version ARABS GOT TALENT hingegen wurden 125 Kandidaten in nur sechs Episoden präsentiert.661 Die relative Häufigkeit der ermittelten Genres ergibt in der 658 Die arabische erste Staffel startete am 14. Januar 2011 und wurde bis zum 14. April 2011 auf MBC übertragen und zusätzlich via Online-Streams verfügbar gemacht. 659 Flanagan, Ben: Arabs Got Talent Gives MBC a Franchise on Stardom. The National, 16. März 2011; vgl. auch Torbey, Carine: American Becomes Unlikely New Star on Arabs Got Talent. BBC ARABIC, Beirut, 7. Dezember 2013. 660 Mikos, Lothar (2008): Film- und Fernsehanalyse, S. 122ff. 661 Im arabischen Format gibt es vereinzelt Zusammenschnitte von Talentdarbietungen, die nicht positiv bewertet wurden, so dass numerisch insgesamt noch etwas mehr Kandida-

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deutschen Version mit etwa 37 Prozent eine klare Dominanz von Gesangsdarbietungen. Der größte Anteil davon (etwa 44 Prozent) entfällt auf Darbietungen von Coverversionen internationaler, insbesondere US-amerikanischer und britischer Künstler wie etwa Celine Dion oder Leona Lewis. Weitere 20 Prozent der Gesangsdarbietungen sind deutsche oder internationale Schlager-Cover. Tanz (14,9 Prozent), insbesondere Hip-Hop, artistische, akrobatische oder sportliche Darbietungen (knapp 15,7 Prozent), instrumentale Stücke (knapp 5 Prozent) und Body Performance (etwa 6 Prozent) sind daneben die häufigsten dargebotenen Genres. Unter der letztgenannten Kategorie sind diejenigen Auftritte zusammengefasst, in denen der menschliche Körper ins Zentrum der Darbietung rückt. Ein Messerschlucker ist ein klassisches Beispiel dieser Kategorie. In der deutschen Version von 2010 sind daneben auch Kandidaten aufgetreten, deren Body Performance eher unkonventionell zu nennen ist. Die Darbietungen reichen hier von einem britischen Illusionisten, der verschiedene Gegenstände verschluckt und anschließend wieder aus seinem Magen heraufholt, über eine US-amerikanische Fernsehpersönlichkeit, die mit ihren übergroßen Brüsten Gegenstände zerschmettert, einen entkleideten australischen Künstler, der mit seinen äußeren Geschlechtsorganen auf der Bühne malt, bis hin zu einem Komiker aus Simbabwe, der sich ebenfalls entkleidet mit einem Feuerwerkskörper in seinem Gesäß über die Bühne bewegt. Auch wenn sich Messerschlucker, Kampfsportarten und spektakuläre artistische Darbietungen ebenso in ARABS GOT TALENT finden, so sind jedoch ähnlich freizügige Darbietungen, die den nackten Körper in unkonventionellen Handlungen präsentieren, nicht Bestandteil des arabischen Formats. Hier überwiegen sowohl Gesangs- als auch Tanzdarbietungen mit jeweils 28 Prozent im Gegensatz zur deutschen Formatversion. Insbesondere Tanzeinlagen, die der Hip-Hop-Subkultur zuzurechnen sind, machen knapp 16 Prozent aller Darbietungen (beziehungsweise mehr als die Hälfte (57 Prozent) aller Tanzdarbietungen) aus. Den größten Anteil an Gesangsdarbietungen stellen ebenfalls im Gegensatz zum deutschen Format nicht Coverversionen englischsprachiger Rock- und Popsongs, sondern Interpretationen arabischer Vorlagen oder arabische Adaptionen internationaler Genres dar (etwas mehr als die Hälfte, 51 Prozent). Instrumentale und artistische Beiträge sind prozentual ähnlich häufig vertreten, auffallend sind im Vergleich hingegen die Stand-UpComedians mit gut 7 Prozent, Figurentheater, Pyroshows und ein Rezitativ, die gar nicht oder selten in der deutschen Version zu finden sind. Ausschließlich im deutschen Format gibt es wiederum Dressurstücke mit Tieren.662 ten aufgetreten sind. Für die Analyse wurden jedoch nur diejenigen 125 Kandidaten berücksichtigt, bei denen das Talent klar erkennbar war. Einige wenige Talente, die nur Sekundenbruchteile zu sehen waren, wurden dementsprechend nicht berücksichtigt. 662 Dieser Unterschied der zirkusähnlichen Dressur-Auftritte lässt sich mithilfe der lokalen Formathistorie erklären und ist nicht als kulturelles Spezifikum der Präferenz des deut-

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Abbildung 15: Verteilung der Genres künstlerischer Darbietungen in den untersuchten Versionen von GOT TALENT Genres der Darbietungen 14,9

Tanz

28

Gesang

37,2

28 4,9

Instrumental

7,2 15,7 16

Akrobatik/Artistik/Sport 2,5 3,2

Illusion Theater

1,6 4,9

Stand-Up-Comedy

7,2

3,3

Dressur Pyroshow

2,4

Lyrik

0,8 0,8 1,6

Malerei

Body Performance

5,8

2,4 2,5

Volkskunst Sonstiges

8,3

1,6 0

5

10

15

20

25

Anteil der jeweiligen Darbietungen, relative Häufigkeit, Angaben in % (von 100) DAS SUPERTALENT: N = 121 | ARABS GOT TALENT: N = 125

30

35 DAS SUPERTALENT

40

45

50

ARABS GOT TALENT

Quelle: Eigene Daten

schen Fernsehpublikums für oder des arabischen Fernsehpublikums gegen Tiershows misszuverstehen. Vermutlich kommt hier zum Tragen, dass bereits in der dritten deutschen Staffel 2009 ein Kandidat mit einer Dressurnummer seines Hundes gewonnen hat (YvosAntoni und sein Hund PrimaDonna, auch 2013 gewann wieder ein HundedressurAct). Dies kann Dresseure dazu veranlasst haben, ebenfalls in der Show aufzutreten. Auch die Tatsache, dass in der deutschen Version Gesangsdarbietungen überwiegen, kann nicht allein auf Präferenzen der Fernsehzuschauer zurückgeführt werden, sondern muss vor dem Hintergrund der zentralen Juroren-Figur Dieter Bohlen bewertet werden, der eng mit Gesangs-Castings verbunden ist und seine Person möglicherweise mehr Sänger anzieht. Der kulturelle Unterschied ergibt sich dann aus der spezifischen Fernsehhistorie und der Rolle einer Medienfigur, die vermutlich mehr ein lokales Spezifikum denn kulturelle Tiefenstruktur im Sinne einer kollektiven Vorliebe für bestimmte Künste ist.

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Diese Verteilung der Talente in den Castings findet sich auch ähnlich in den Finalshows beider Versionen wieder. In DAS SUPERTALENT bewerben sich im Finale die Hälfte der Kandidaten mit Gesangsdarbietungen für den Titel, jeweils zwei mit Tanz- und Instrumentalvorführungen und je einmal werden Darstellende Künste und Body Performance vorgestellt. Die finalen Talente nehmen sich in ARABS GOT TALENT hingegen vielfältiger aus. Hier dominieren zwar im Finale auch Gesangsund Tanzdarbietungen gemäß der Häufigkeitsverteilung in den Castings, aber daneben werden auch Comedy-Einlagen, sportliche und artistische Darbietungen präsentiert, es wird gemalt und ein Gedicht rezitiert. Da die Finalisten per Televoting von den Zuschauern selbst ermittelt werden, kann diese Verteilung durchaus als Ausdruck des lokalen Publikumswunsches gewertet werden. Für den transkulturellen Vergleich der Formatversionen ist jedoch nicht allein die Verteilung unterschiedlicher künstlerischer Artikulationen von Interesse, sondern auch die geo-kulturelle Quelle, das primäre Referenzsystem derselben. Um also auf mögliche kulturelle Unterschiede oder Ähnlichkeiten schließen zu können, müssen die einzelnen Artikulationen noch weiter differenziert werden. Am Beispiel der Gesangsdarbietungen lässt sich diese theoretische Überlegung veranschaulichen: Wenn gleich zwei der Finalisten in der deutschen Formatversion für den Coversong »Run« von Leona Lewis bejubelt werden, mit dem letztere selbst im britischen Format THE X FACTOR berühmt wurde,663 dann verbirgt sich hinter den Gesangsdarbietungen ein Muster assimilativer kultureller Artikulation. Denn hier wird international erfolgreiche Popmusik anglo-amerikanischer Provenienz reproduziert. Die Interpretation eines Fairuz-Songs in der arabischen Formatversion hingegen ist gemäß einer solchen Kategorisierung als eine reproduktive kulturelle Artikulation zu definieren, da hier eine Ressource arabischer Kulturtradition interpretiert wird. Wenn allerdings arabische Jugendliche arabischen Rap darbieten oder ein Teilnehmer der deutschen Version eine eigene Komposition im rhapsodischen Stil zwischen Oper und Musical vorträgt, dann sind diese künstlerischen Artikulationen hybrid, da hier künstlerische Quellen und Konventionen selbstständig vermischt werden. Für die deutsche Formatvariante beinhaltet die Kategorie Selbstdarstellung zusätzlich jene Beiträge, in denen die Präsentation der eigenen Person auf der Bühne gegenüber einem darstellerischen Inhalt primäres Ziel des Auftritts ist.664 Die in einem wechselseitigen induktiv-deduktiven Verfahren erzeugten Kategorien sind heuristische Hilfsmittel und sollen als solche nicht den theoretischen Auseinandersetzungen entgegenstehen, in denen argumentiert wurde, dass sich »reine« Quellen kultureller Artikulationsformen nur schwer bestimmen lassen und die krea663 THE X FACTOR ist ebenfalls ein Castingformat britischen Ursprungs, in dem jedoch ausschließlich Sänger gesucht werden. Die Referenz auf Leona Lewis stellt somit auch eine grenzüberschreitende Intertextualität zwischen unterschiedlichen Formaten her. 664 Ankerbeispiel dafür ist der entkleidete Kandidat mit Feuerwerkskörper im Gesäß.

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tive Praxis immer Momente der Reformulierung und Hybridisierung beinhaltet (vgl. Kapitel 2.2.3 und 2.2.4). So wird zwar zwischen einem assimilativen, einem hybriden und einem reproduktiven Modus der kreativen Artikulation unterschieden, allerdings sind diese Kategorien als »Varianten von Hybridität« auf einem Kontinuum von eher assimilativen bis hin zu reproduktiven hybriden Ausdrucksformen zu verstehen. Abbildung 16: Modi der künstlerischen Artikulation in den untersuchten Versionen von GOT TALENT Modi der Darbietungen

34,7

hybrider Modus

48

28,9

assimilativer Modus

32

22,3

reproduktiver Modus

20

14

Selbstdarstellung

0

5

10

15

20

25

Anteil der jeweiligen Modi, relative Häufigkeit, Angaben in % (von 100) DAS SUPERTALENT: N = 121 | ARABS GOT TALENT: N = 125

30

35 DAS SUPERTALENT

40

45

50

ARABS GOT TALENT

Quelle: Eigene Daten

Unter Einbezug dieser Differenzierung ergibt sich für die deutsche Version, dass für 14 Prozent der Kandidaten die Selbstdarstellung überwiegt und ein künstlerisches Talent nicht erkennbar ist. Die Darbietungen von weiteren gut 22 Prozent der Kandidaten sind reproduktiv, worunter beispielsweise viele Schlager-Interpretationen fallen. Über ein Viertel aller Beiträge, darunter zahlreiche Coverversionen internationaler Popsongs, sind assimilativ und interpretieren internationale Populärkultur. Knapp 35 Prozent der Kandidaten liefern einen Beitrag, der schließlich als hybrid gekennzeichnet werden kann. Das heißt, dass hier ein deutlicher kreativer Eigenanteil zu erkennen war, etwa in choreographischen oder artistischen Darbietungen oder selbstgeschriebenen Musiksongs. Insgesamt lässt sich aus dieser Analyse der künstlerischen Beiträge schließen, dass sich spektakuläre, überraschende oder neuartige Talente mit einer Vielzahl an Darbietungen mischen, in denen Bekanntes reproduziert oder aufgegriffen und variiert wird. In der arabischen Formatversion ARABS GOT TALENT hingegen gibt es keine Darbietungen, die ohne künstlerischen oder artistischen Gehalt vor allem der Aufmerksamkeit für die eigene Person dienen. Dafür ist der Anteil an hybriden kreati-

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ven Ausdrucksformen in den Beiträgen mit 48 Prozent deutlich höher als in der deutschen Sendung. Assimilative, reproduktive und hybride Darbietungen stehen hier in einem fast ausgewogenen Verhältnis zueinander. Festhalten lässt sich damit zunächst, dass die Modi individueller künstlerischer Ausdrucksformen in den Formatadaptionen lokale Varianzen aufweisen. Um die kreativen Darbietungen noch zu differenzieren, wurde in einem weiteren Schritt der Analyse außerdem versucht, das primäre Referenzsystem665 der künstlerischen Genres zu bestimmen. Diesbezüglich wurde zwischen lokalen, nationalen und geo-kulturellen Referenzsystemen unterschieden. Lokale Referenzen, die etwa auf volkstümliche Traditionen oder kulturelle Praktiken einzelner Regionen zurückgehen, finden sich in beiden Sendungsvarianten kaum, allein zwei folkloristische Darbietungen mit bayerischem und Tiroler Ursprung sind in der deutschen Variante zu sehen. Nationale Referenzen lassen sich überall dort bestimmen, wo kulturelle Praktiken vor allem national geprägt sind – etwa im chinesischen Kampfsport oder im ägyptischen Folkloretanz (Tanoura). Auch die Bezugnahmen auf deutsche Schlager kann dann unter der Kategorie national rubriziert werden, da dieser an eine hauptsächlich national geprägte Sprachgemeinschaft gerichtet und Teil einer nationalen Erinnerung, einer nationalen Populärmusikgeschichte ist.666 Geo-kulturelle Referenzen finden sich dort, wo Darbietungen eine überregionale und zumeist transnationale Bekanntheit besitzen. In beiden Formatvarianten wird dementsprechend die Reproduktion eines Michael-Jackson-Songs und der dazugehörigen Choreographie nicht nur als assimilative Ausdrucksform klassifiziert, sondern auch unter der Kategorie geo-kulturelle Referenz, da Michael Jackson eine Kultfigur des international verbreiteten anglo-amerikanischen Pops ist. Auch die Interpretation italienischer Operette, die Reproduktion afrikanischer Percussion oder der hybride arabische Rap haben ihre primären Referenzen in geo-kulturellen Räumen (europäische Operntradition, afrikanische Musik, arabische Jugendkultur). Auf die Angabe einer Referenz wird hingegen bei Beiträgen verzichtet, die gewissermaßen archetypischen kulturhistorischen Ursprungs sind, wie etwa artistische oder sportliche Darbietungen, die zwar im Rahmen einer europäischen Kulturgeschichtsschreibung eingeordnet werden können, aber letztlich universal verbreitet sind. Wertet man nun vor diesem Hintergrund die symbolischen Ressourcen aus den Darbietungen aus, dann zeigt sich, dass in der deutschen Version DAS SUPERTALENT in 38 Prozent der Darbietungen eine künstlerische Referenz nicht bestimmt werden kann. Hauptsächlich ist dies auf die Selbstdarstellung zurückzuführen als 665 Unter einem primären Referenzsystem ist diejenige geo-kulturelle Region zu verstehen, in der die künstlerischen Praktiken die mutmaßlich größte Verbreitung und Anschlussfähigkeit besitzen. 666 Als Kunstform wird die Ausprägung des deutschen Schlagers darüber hinaus in anderen Weltregionen seltener und anders praktiziert und ist kaum anschlussfähig.

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auch auf den relativ hohen Anteil an artistischen und akrobatischen Darbietungen. Ein Lokalbezug ist nur in knapp 2 Prozent der Fälle gegeben und ein nationaler in gut 13 Prozent der Beiträge. Zwar ist der deutsche Schlager hier insgesamt präsent, wird jedoch zumeist inszenatorisch durch ironische Kommentare abgewertet. Dominant sind demgegenüber geo-kulturelle Referenzen (46,3 Prozent), also Bezüge zu einer international zirkulierenden und vornehmlich US-amerikanisch und britisch geprägten Populärkultur. Fast alle Darbietungen im assimilativen Modus weisen beispielsweise anglo-amerikanische Referenzen auf und insgesamt haben über die Hälfte aller Darbietungen der Castings anglo-amerikanische, europäische oder deutsche Referenzen (53,7 Prozent). Angesichts der Beiträge ohne konkrete kulturelle Bezüge, finden sich letztlich wenig Auftritte, die sich auf künstlerische Praktiken jenseits »westlicher« Kontexte beziehen. Dabei fällt weiterhin auf, dass gerade ausländische Traditionen, die von asiatischer Kampfkunst und Tellerakrobatik, afrikanischer Trommelkunst bis hin zum Fakir reichen, von Teilnehmern mit dem jeweils entsprechenden Herkunftshintergrund dargeboten werden. Die so entstehende Pluralität der Beiträge innerhalb der Sendung offenbart dann bei genauerer qualitativer Analyse, dass hier mitunter kulturelle Klischees reproduziert werden. Die Darbietungen multikultureller Künste sind also nicht immer als hybride künstlerische Ausdrucksformen zu werten, wenn die Ausführenden Künste ihres Herkunftskontextes präsentieren. Die sendungsinterne Transkulturalität basiert also wiederum auf reproduktiven und assimilativen Ausdrucksformen, die auf bereits Bekanntes zurückgreifen. Die Sendung bietet somit zwar eine Plattform für diverse Ausdrucksmöglichkeiten, die Aushandlung neuer, möglicherweise auch antistereotyper Beiträge bleibt trotzdem eine Ausnahme.667 Vor dem Hintergrund der Frage nach konkreten Lokalisierungsmustern im Rahmen der Formatadaption wird deutlich, dass sich auf der Ebene der inhaltlichen künstlerischen Darbietungen Lokalisierung nicht in einer engen Bindung an nationale künstlerische Traditionen äußert. Damit ist nicht eine neo-folkloristische Belebung von Traditionen gemeint, sondern die Tatsache, dass beispielsweise kaum deutschsprachiger Rap, Hip-Hop, Pop oder Jazz aufgegriffen wird. Das »künstlerische Projekt« der Sendung folgt demgemäß eher einem bekannten Mainstream internationaler Popkultur. Die Überraschungsmomente liegen seltener in der künstle667 Ausnahmen zeigen sich bei künstlerischen Eigenkreationen, wie dem Auftritt einer deutsch-russischen Künstlerin, die Sandmalerei präsentiert, bei der kurze Narrationen in Comic-Form kreiert werden. Sie greift auf eine Geschichte von Trennung und Wiedervereinigung zurück und fasziniert das Publikum mit einer Kunst, in der eine bekannte Narration durch Sand gezeichnet wird, die ebenso schnell auch wieder verwehen kann. Auch die deutschen Eigenkompositionen einer Schülerin und zweier ausgebildeter Künstler geben einen kurzen Eindruck davon, dass auch Eigenkreativität auf der Bühne einen Raum haben kann.

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rischen Artikulation, sondern in inszenierten Brechungen einer antizipierten Erwartung und Ausführung, auf die später noch ausführlich eingegangen wird.668 Abbildung 17: Geo-kulturelle Referenzen der künstlerischen Artikulation in den untersuchten Versionen von GOT TALENT

Geo-kulturelle Referenzen 38

ohne / universal

25,6 1,7

lokal

13,2

national

4

46,3

geo-kulturell

70,4

0

10

20

30

40

Anteil der Beiträge mit den jeweiligen kulturellen Bezügen, relative Häufigkeit, Angaben in % DAS SUPERTALENT: N = 121 | ARABS GOT TALENT: N = 125

50

60

70 DAS SUPERTALENT

80

90

100

ARABS GOT TALENT

Quelle: Eigene Daten

In der arabischen Formatversion ARABS GOT TALENT überwiegen im Vergleich Talentpräsentationen, die insbesondere geo-kulturell anschlussfähig sind. Auch hierunter finden sich vor allem in den assimilativen Darbietungen ebenso Orientierungen an einer anglo-amerikanischen Popkultur (gut 79 Prozent aller assimilativen Darbietungen), was sich insbesondere in vielen Hip-Hop-Beiträgen dokumentiert. Im Gegensatz zur deutschen Version erklärt sich der hohe Anteil geo-kultureller Darbietungen aber auch aus dem transnationalen respektive transkulturellen arabischen Zielpublikum der Adaption. So wurden beispielsweise auch Interpretationen arabischer Musik mit einer geo-kulturellen Anschlussfähigkeit kodiert, da sie in der gesamten arabischen Welt versteh- und reproduzierbar sind. Interessant ist aber auch in der arabischen Version, dass die Präsenz großer arabischer Stars wie Umm Kulthum, Abdel Halim Hafez oder vermeintlich typische arabische künstlerische Ausdrucksformen wie der Bauchtanz eher unterrepräsentiert sind. Auch Entwicklungen der arabischen (Pop-)Kultur, wie die sufische Bewegung, algerische Raï und

668 Damit sind etwa Inszenierungsstrategien gemeint, die Kandidaten einführen und vorstellen, die wenig Ausstrahlung haben und dann auf der Bühne eine gute Leistung vollbringen.

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ägyptische Shaabi-Musik oder Arabpop, werden in den Beiträgen eher vernachlässigt.669 Bemerkenswert ist demgegenüber, dass die jugendkulturelle arabische HipHop-Bewegung durch Tanzacts (Breakdance, Hip-Hop) und Gesang (Rap) sehr dominant vertreten ist. Damit wird in der Talentauswahl eine arabische Jugend repräsentiert, die ohne Probleme globale populärkulturelle Bewegungen adaptiert. Gerade die internationale Hip-Hop-Bewegung, die weitaus präsenter ist als im deutschen Pendant, ist im Zusammenhang mit einer Geschichte der kritischen und widerständigen politischen Artikulation zu lesen. Auch wenn man den Darbietungen auf den ersten Blick keine offensichtliche politische Subversion entnehmen kann, so lässt sich argumentieren, dass viele der jungen Araber in der Show zumindest nicht in regressiver Weise auf ein künstlerisches regionales Erbe zurückgreifen, sondern eher transkulturelle künstlerische Ausdrucksformen hervorbringen. 670 In konservativer Sichtweise ließe sich auch umgekehrt sagen, dass allein die Dominanz an Tanzdarbietungen bereits für eine moderne arabische Identitätspolitik innerhalb der Repräsentationsmuster spricht, bedenkt man, dass körperliche Expressivität in Teilen der Scharia eine tabuisierte Entäußerungsform darstellt (harām) und zumindest von konservativen Auffassungen wie beispielsweise dem saudischen Wahabismus als nicht-disziplinierte Körperlichkeit abgelehnt wird.671 In einer solchen Lesart wird dann deutlich, was Kraidy und Khalil ihren Ausführungen über Musikfernsehen und arabische Jugend vorangestellt haben: »The existence of a clash between global media oriented youth culture and local social norms across cultures – in the Arab world and elsewhere – is beyond dispute.«672 Letztlich aber spiegelt sich eine Orientierung an Beständen globaler Jugendkultur auch bereits im 669 Hegasy, Sonja (2011): Populärkultur als Ausdruck gesellschaftlicher Veränderung; Hammond, Andrew (2007): Popular Culture in the Arab World. 670 Vgl. bspw. die Beiträge im Sammelband von Hamamsy und Soliman zu aktuellen Entwicklungen und dem subversiven Potenzial arabischer Populärkultur: El Hamamsy, Walid; Soliman, Mounira (Hg.) (2013): Popular Culture in the Middle East and North Africa. A Postcolonial Outlook. New York [u.a.]: Routledge sowie den Sammelband von Nieuwkerk zum Zusammenhang von Populärkultur und islamischen Diskursen: Van Nieuwkerk, Karin (Hg.) (2011): Muslim Rap, Halal Soaps, and Revolutionary Theater. Artistic Developments in the Muslim world. Austin: University of Texas Press; vgl. auch Hegasy, Sonja (2011): Populärkultur als Ausdruck gesellschaftlicher Veränderung. 671 Assaf, Nadra Majeed (2013): Dancing Without My Body. Cultural Integration in the Middle East. In: El Hamamsy, Walid; Soliman, Mounira (Hg): Popular Culture in the Middle East and North Africa. A Postcolonial Outlook. New York [u.a.]: Routledge, S. 95f. 672 Kraidy, Marwan; Khalil, Joe (2009): Arab Television Industries, S. 57.

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Titel, der nicht auf Arabisch übersetzt wurde, sondern in englischer Sprache ARABS GOT TALENT erscheint. Aus der Analyse beider Versionen ergibt sich somit, dass insgesamt weniger nationale Kulturpraktiken in Form reproduzierter künstlerischer Traditionen in den Sendungen zu sehen sind. In beiden Formaten wird deutlich, dass die dargebotenen Talente zu weiten Teilen kulturell anschlussfähig sind, da sie geo-kulturelle Referenzen aufweisen. Zu den inhaltlichen Ähnlichkeiten zählen auch nahezu identische künstlerische Darbietungen in beiden Formatvarianten. In beiden Versionen steht eine Sandmalerin im Finale, in die Halbfinalshows schaffen es in beiden Versionen auch Kandidaten, die sich mit einem Human-Beatbox-Act um den Titel bewerben sowie jeweils ein Junge im Grundschulalter, der einen Tanz von Michael Jackson imitiert. In beiden Formaten finden sich schließlich auch Beiträge, die ebenso auch Teil anderer internationaler Varianten der Sendung waren. Dazu zählt beispielsweise eine HipHop-Choreographie in DAS SUPERTALENT, die ähnlich auch in der australischen Formatversion zu sehen war und Busty Heart, eine Kandidatin aus der deutschen Formatversion trat bereits zuvor in AMERICA’S GOT TALENT auf. Es lässt sich auch vermuten, dass die britischen Überraschungstalente Paul Potts und Susan Boyle einen internationalen intertextuellen Effekt erzielten, da Oper und Musical-Interpretationen in den meisten Formatvarianten immer wieder vertreten sind. Als erstes Ergebnis der Analyse der künstlerischen Ausdrucksformen steht damit die Erkenntnis, dass sich zwar die Verteilung der dargebotenen Talente unterscheidet, allerdings Darbietungen mit einer grenzüberschreitenden, geo-kulturellen Anschlussfähigkeit in beiden Varianten überwiegen. Die künstlerische Ebene ist damit entgegen den Lokalisierungsannahmen nicht von kultureller Binnenorientierung geprägt. Das deutsche Format repräsentiert also nicht zwangsläufig nationale Kulturbestände, ebenso wenig orientieren sich die Kandidaten des arabischen Formats allein an arabischen Vorlagen. Gerade assimilative Beiträge, in denen USamerikanische Popkultur reproduziert wird, sind in beiden Formatversionen ebenso präsent wie hybride Artikulationen. Transkulturelle Muster zeigen sich demnach einerseits in der gemeinsamen Koorientierung an einer angloamerikanisch geprägten Popkultur als auch in der Zusammenstellung der Einzelbeiträge, wo Varianz eher in der Vielfalt der Darbietungen als in der hybriden Ausführung einzelner Beiträge entsteht. Lokale Unterschiede der beiden Sendungen finden sich gleichwohl in den Darbietungen, die stärker an lokale Traditionslinien anknüpfen (reproduktiver Modus). Bei diesen Ergebnissen ist die Inszenierung der einzelnen Talente im Rahmen der Produktion allerdings noch unberücksichtigt geblieben. Es gilt daher nachfolgend, auch die zweite benannte Inhaltsebene – nämlich die Rahmung der Darbietungen im Kontext eines Talentwettbewerbs – mit einzubeziehen.

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4.1.2.2 »Der Superstar im Zeitalter seiner medialen Reproduzierbarkeit«:673 Analyse der Figuren Die kulturelle Nähe zwischen der alltäglichen Lebenswelt der Zuschauer und den Identifikationsangeboten des Fernsehens gilt als Erklärungslogik für die Lokalisierungsstrategien im Fernsehformat. Es kann dementsprechend davon ausgegangen werden, dass sich die Lokalisierung der Produktion bei Castingformaten vor allem auf die Auswahl der teilnehmenden Akteure – nämlich den lokalen Privatpersonen, die zentrale Identifikationsfiguren für die lokalen Rezipienten sind – konzentriert, weshalb die spezifischen Repräsentationsmuster der Akteure von besonderem Interesse für die Analyse sind. Im Format GOT TALENT müssen dementsprechend vier Akteursebenen untersucht werden. Erstens bieten drei Juroren ein wichtiges Identifikationsangebot für die Sendung. Daneben nehmen je zwei Moderatoren eine doppelte Vermittlungsrolle zwischen Kandidaten und Juroren sowie der Sendung und ihrem Publikum ein. Das Saalpublikum kann als dritter Akteur der Sendung gelten und schließlich lebt die Sendung vor allem von den Kandidaten, die ihr Talent präsentieren. In Bezug auf die Kandidaten müssen wiederum zwei Repräsentationsebenen analytisch unterschieden werden. Eine erste Repräsentationsebene bildet die individuelle künstlerische Artikulation der Kandidaten. Hier treten die Kandidaten vor allem als Träger von Talenten in Erscheinung, die im vorangegangen Kapitel analysiert wurden. In der weiteren Analyse wird nun geklärt, wie diese Darbietungen im Rahmen der Sendung bewertet und in welche narrativen Sequenzen sie eingebettet werden. Auf einer zweiten Repräsentationsebene treten die Kandidaten somit als reale Subjekte auf, die als Privatpersonen ein Identifikationsangebot liefern. Die Bestimmung der nationalen Herkunft der Kandidaten ist im Zusammenhang mit dem arabischen Format wichtig um zu klären, ob das transnationale Sendungsangebot, das sich theoretisch an Zuschauer des gesamten arabischen Sendegebietes richtet, bestimmte ethnische oder nationale Identifikationsangebote bevorzugt. Ähnliche arabische Castingsendungen wie SUPERSTAR und STAR ACADEMY sind bereits zum Ausgangspunkt wissenschaftlicher Debatten um durch Unterhaltung verursachte pan-arabische und neo-nationalistische Tendenzen in der arabischen Welt geworden. Die Analysen weisen darauf hin, dass die Sendungen ein Spiegelbild der politischen Beziehungsebene arabischer Staaten sind und weniger eine pan-arabische denn nationale Identitätsbildung befördern.674 Ein derartiges allgemeines Fazit 673 Pörksen, Bernhard; Krischke, Wolfgang (2010): Die Casting-Gesellschaft. In: Dies. (Hg.): Die Casting-Gesellschaft. Die Sucht nach Aufmerksamkeit und das Tribunal der Medien. Köln: Halem, S. 18f. 674 Kraidy, Marwan (2006): Popular Culture as a Political Barometer; vgl. auch Ders. (2010): Reality Television and Arab Politics. Kraidy spart in seiner Darstellung allerdings die Frage aus, welche Lesarten und Identifikationsprozesse die Sendungen

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kann an dieser Stelle nicht verifiziert werden, auch, weil dazu eine umfangreiche Erhebung der öffentlichen Meinungen notwendig wäre. Es kann aber Aufschluss darüber gegeben werden, welche arabischen Staaten sich in dem Format überhaupt auf der Inhaltsebene repräsentiert finden. Gemäß den Annahmen, dass im Lokalisierungsprozess von Formaten eine größere Nähe zwischen Fernsehangebot und Publikum erzielt werden soll, ist in Anbetracht der gesamtarabischen Reichweite von MBC davon auszugehen, dass sich Teilnehmer aus allen arabischen Staaten in der Sendung wiederfinden. Die Häufigkeitsanalyse der 97 Kandidaten, deren Herkunft in der Sendung genannt wird, ergibt allerdings, dass die meisten Teilnehmer aus dem Libanon (gut 15 Prozent), aus Ägypten und Syrien (je etwa 11 Prozent), Marokko (10 Prozent) und Tunesien (gut 7 Prozent) kommen. Es gibt demgegenüber auch Staaten der arabischen Liga, aus denen kein Teilnehmer in der ersten Staffel vertreten ist, wie etwa aus dem Irak. Insgesamt kommt damit gut die Hälfte aller Teilnehmer aus dem Maschrek, dem arabischen Osten, und ein Viertel aus dem Maghreb, dem arabischen Westen. Diese Zusammensetzung steht in keinem Verhältnis zur Bevölkerungsdichte. Am häufigsten repräsentiert sind Kandidaten aus dem Libanon, der allerdings mit etwa 3,8 Millionen Einwohnern einer der kleinsten arabischen Staaten ist.675 Mit Ägypten und Marokko hingegen sind zwei der bevölkerungsreichsten arabischen Staaten auch überdurchschnittlich häufig in der Sendung repräsentiert. Demgegenüber sind Algerien und die Vereinigten Arabischen Emirate unterdurchschnittlich repräsentiert. Bedenkt man, dass auch die Jurymitglieder geborene Libanesen und Ägypter sind und die Sendung in Beirut produziert wird, wird trotz des pan-arabischen Anspruchs der Sendung eine Ungleichverteilung der Herkunft der Kandidaten deutlich. Darüber hinaus dominieren somit automatisch libanesische und ägyptische Dialekte des Arabischen. Nicht zuletzt zählen der Libanon und Ägypten auch zu denjenigen arabischen Staaten mit etablierten und einflussreichen Unterhaltungsindustrien; beide Fernsehsysteme dominieren etwa die arabische Musikindustrie und die Produktion von Variety- und Spielshows.676 Libanon, Syrien, Jordanien und Ägypten sowie die nordafrikanischen Staaten Marokko und Tunesien sind außerdem durch relativ kulturell liberale Kontexte gekennzeichnet.677 beim arabischen Publikum ausgelöst haben. Er leitet seine Interpretation allein aus inhaltsanalytischen Deutungen und Beobachtungen der öffentlichen Debatten ab. 675 Department of Economic and Social Affairs of the United Nations Secretariat (Hg.) (2014): Population and Vital Statistics Report. New York: United Nations Statistical Papers. 676 Kraidy, Marwan; Khalil, Joe (2009): Arab Television Industries. 677 Thomas, Amos O. (2009): Adapting Global Television to Regional Realities: Traversing the Middle East Experience. In: Moran, Albert (Hg.): TV Formats Worldwide. Localizing Global Programs. Bristol: Intellect, S. 151-161.

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Die nationale Herkunft wird als fast ausschließlich standardisierte faktische Information über die Kandidaten gleich zu Beginn von deren Vorstellung genannt und in Kommentaren von den Jurymitgliedern zumeist durchgängig positiv gerahmt, indem die Landsleute im Libanon bis zum Oman gegrüßt werden. Besonderes Aufsehen erregt allerdings ein kleiner Junge aus Palästina, der arabische Lyrik zitiert und eine kollektive Solidarisierung mit dem Schicksal der Menschen in Palästina auslöst. Abbildung 18: Nationale Herkunft der Teilnehmer in ARABS GOT TALENT Herkunft der Teilnehmer von ARABS GOT TALENT Libanon; 15,2

ohne Angabe; 16,8

Jemen; 1,6 Palästina; 1,6 Ägypten; 11,2

Algerien; 2,4 Oman; 2,4 Bahrain; 3,2 Kuweit; 3,2

Syrien; 11,2

VAE; 3,2 Jordanien; 4 Saudi Arabien; 6,4

Marokko; 10,4 Tunesien; 7,2

Anteil der Teilnehmer in %, relative Häufigkeit N = 125

Quelle: Eigene Daten

Die deutsche Version von GOT TALENT richtet sich hingegen in erster Linie an ein nationales Publikum und wird auch im nationalen Programm von RTL ausgestrahlt. Eine Besonderheit des deutschen Formats liegt allerdings in seinem vergleichsweise hohen Anteil ausländischer Teilnehmer, die extra für den Auftritt bei dem SUPERTALENT aus dem Ausland angereist sind und in der Sendung Englisch sprechen. Auch der Titel stellt gegenüber den meisten anderen Adaptionen von AMERICA’S GOT TALENT keinen klaren nationalen Bezug her; es heißt hier nicht Deutschlands Supertalent, sondern DAS SUPERTALENT. Hinzu kommt, dass auch zwei der Jurymitglieder sowie einzelne Teilnehmer mit Migrationshintergrund keine Muttersprachler sind, so dass hier Momente von Multikulturalität durch die sprachliche Vielfalt erzeugt werden. Das deutsche Fernsehpublikum ist weniger an Untertitelung und Originalversionen in Unterhaltungsangeboten gewöhnt. Insofern ist durchaus bezeichnend, dass hier vom Publikum indirekt eine Flexibilität zum Verständnis rudimentärer englischer Gesprächspassagen vorausgesetzt und interkulturelle Verständigung sozusagen nebenbei mitgeliefert wird. Das bedeutet gleichzeitig, dass

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kulturelle Nähe nicht allein durch lokale Gemeinsamkeiten der Kandidaten und Publika oder qua Sprachgemeinschaft im Lokalisierungsprozess erzielt wird.678 Die ausländischen Kandidaten stellen insgesamt immerhin 17 Prozent gegenüber den gut 83 Prozent deutscher Teilnehmer dar. Von den deutschen Teilnehmern wiederum scheinen etwa 24 Prozent einen multikulturellen Hintergrund zu haben,679 was rund einem Viertel der Teilnehmer an der Sendung entspricht. Gemessen an der Bevölkerungsstatistik, die von aktuell rund 20 Prozent deutscher Bürger mit Migrationshintergrund ausgeht,680 verweisen diese Daten also sogar auf eine leicht überdurchschnittliche quantitative Repräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund in der Sendung. Diese Verteilung spiegelt sich auch im Finale wieder, wo immerhin noch zwei ausländische Kandidaten auftreten und von den verbleibenden zehn deutschen Finalisten sechs einen Migrationshintergrund haben. Die ausländische Herkunft der Teilnehmer selbst oder ihrer Familien wird allerdings nicht durchgängig in der Sendung thematisiert. Das Beispiel zweier junger Tänzer, deren Eltern aus Mozambik stammen und die von ihren Erfahrungen mit alltäglichem Rassismus berichten, oder der Hinweis des Finalisten und Gewinners Freddi Sahin-Scholl auf Probleme, die auch er während seiner Kindheit aufgrund seiner Hautfarbe hatte, bleiben aber Ausnahmen. Herkunft spielt keine herausragende Rolle. Auch die Analyse des Umgangs der Jury mit den Kandidaten sowie den Inszenierungsmustern lässt keine Hinweise darauf zu, dass die ethnische Herkunft ein dominantes Differenzkriterium darstellt. In der Sendung wird sowohl über einen Pakistani und eine Frau afrikanischer Herkunft wie auch über Deutsche gelacht und die Tänzer und Sänger mit afrikanischem, arabischem und italienischem Migrationshintergrund werden gleichermaßen gefeiert wie die deutsche Nachwuchssängerin aus einem kleinen pfälzischen Vorort. Diese Beobachtung trifft ebenso auf Variablen wie Alter 681, Geschlecht682

678 Dies ist auch ein Thema in der Sendung, wenn etwa ein Kandidat sagt: »Mein Deutsch ist eine Katastrophe« und der Juror Bruce antwortet: »Da haben wir was gemeinsam.« Episode D04, Kandidat Kai Leclerc. 679 Der ethnische Hintergrund wird häufig, aber nicht durchgängig ersichtlich, weswegen es sich hier nur um tendenzielle Angaben handelt. Kandidaten, bei denen keine Angaben zur Herkunft gemacht wurden, die aber bspw. bilinguale Charakteristika aufwiesen, wurden mit einem multikulturellen Hintergrund erfasst. 680 Statistisches Bundesamt (Hg.) (2013): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozensus 2012. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt. 681 Die Altersangaben können nur geschätzt werden, da diese nicht konsequent angegeben werden, es sind aber von Kindern bis zu Rentnern alle Altersklassen unter den Kandidaten vertreten.

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oder beruflicher Profession683 zu. Bezüglich der nationalen, sozialen und subkulturellen Herkunft der Kandidaten können daher keine dominanten Repräsentationsstrategien verzeichnet werden. Das heißt, dass keine starken normativen Bedeutungszusammenhänge zwischen Herkunft, Bildung und öffentlicher Bewertung in der Sendung hergestellt werden. Vielmehr kann zunächst geschlussfolgert werden, dass die Sendung durchaus in der Lage ist, eine gesellschaftliche Diversität in Bezug auf Privatpersonen abzubilden. Darüber hinaus werden auf unterschiedlichsten Ebenen kulturelle Stereotype reproduziert und ebenso gebrochen. Insbesondere in Bezug auf die deutschen Teilnehmer mit Migrationshintergrund erscheinen sowohl völlig assimilierte wie auch herkunftsorientierte, solche, die globale Popkultur reproduzieren oder auf eher stereotype Traditionen referenzieren, solche, deren migrantische Erfahrung zur Schicksalsnarration verarbeitet wurde wie auch solche, über die sich öffentlich lustig gemacht wird. Im Zusammenhang mit der Inszenierung der Kandidaten soll das gewählte Zitat in der Überschrift zu diesem Teilkapitel aufgegriffen werden. Dieses ist Bernhard Pörksens und Wolfgang Krischkes Einlassungen zur Analyse der »Casting-Gesellschaft« entnommen, die im Anschluss an Walter Benjamin argumentieren, dass der Star seine Aura der Unerreichbarkeit verloren habe.684 In heutigen Castingsendungen, so die Autoren, werde nicht mehr Status- oder Leistungsprominenz erzeugt, sondern vielmehr eine kurzfristige Medienprominenz, deren Wert sich allein auf Aufmerksamkeit und Beachtung reduziere, da das, was präsentiert werde, in den meisten Fällen mittelmäßig sei.685 Natürlich kann eine solche Diagnose aber nicht allein 682 Aufgrund zahlreicher Darbietungen im Ensemble oder auch größeren Gruppen (etwa einem Chor bestehend aus geschätzt vierzig Sängern), lässt sich ein Geschlechterverhältnis nicht exakt bestimmen. Tendenziell überwiegen männliche Teilnehmer deutlich (64,5 gegenüber 35,5 Prozent Beiträgen mit weiblicher Beteiligung), es lässt sich aber keine Diskreditierung eines Geschlechts in Hinblick auf die Bewertung durch die Jury feststellen. Anders betrachtet werden aber beide Geschlechter auch Objekt sexistischer Repräsentation, wenn die Kamera in den Ausschnitt einer Frau filmt oder die durchtrainierten Körper von Artisten zeigt. 683 Auch Angaben zum Bildungshintergrund oder zur beruflichen Situation werden nicht durchgängig gemacht. Da jedoch von Schülern unterschiedlicher Schulformen über Auszubildende, Studenten, kaufmännische Angestellte, Selbstständige, Akademiker, und Arbeitslose eine Vielzahl an sozialen Berufs- und Ausbildungspositionen vertreten sind, lässt sich auch hier eine Repräsentation breiter Bevölkerungsschichten konstatieren. Es gilt erneut, dass sowohl der Arbeitslose wie auch der Uni-Professor Zielscheibe öffentlichen Gespötts werden. 684 Pörksen, Bernhard; Krischke, Wolfgang (2010): Die Casting-Gesellschaft, S. 18f. 685 Ebd.

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als Resultat einer Veränderung beziehungsweise als Charakteristikum auf Seiten der Teilnehmer gewertet werden, sondern muss als Zusammenspiel von Produktionsroutinen und Inszenierungsmustern des Produktionskontextes, gesamtgesellschaftlicher kultureller Veränderungen (Werte) und individueller Aufmerksamkeitsbedürfnisse interpretiert werden. Für die untersuchte Staffel von DAS SUPERTALENT lässt sich ganz im Sinne der genannten Überlegungen für die Casting-Sequenzen der ersten Episoden feststellen, dass die Aufmerksamkeit und Prominenz nicht allein qua Qualität oder Neuheit des Talents generiert wird. Von den insgesamt 121 Darbietungen der deutschen Version werden etwas über ein Viertel aller Darbietungen als Blamagen inszeniert.686 Diese sind gekennzeichnet von denunzierenden und hämischen Kommentaren seitens der Off-Stimmen (also seitens der Redaktion), der Juroren wie auch des anwesenden Publikums. Die betreffenden Kandidaten werden öffentlich ausgelacht, wobei die Frage nach den Motiven der sichtbar peinlichen Darbietungen, der Antizipation der Selbstdemontage oder der Authentizität der Kandidaten an dieser Stelle unbeantwortet bleiben muss. Eingedenk der postulierten 40.700 Bewerbungen muss die Ausstellung dieser zweifelhaften Beiträge als inszenatorische Strategie gewertet werden. Abgesehen von möglichen ethischen Problemen, die sich aus der öffentlichen Bloßstellung ergeben, legitimiert dieses Inszenierungsmuster aber sowohl den Anspruch, dass tatsächlich jeder mitmachen könne als auch ein zum Teil mittelmäßiges professionelles Niveau, das gegenüber den schlechten Darbietungen immer als besser bestehen kann. Insofern ist die Inszenierung zwar einerseits auf gesellschaftliche Exklusion derer, die nicht in das populäre Projekt passen, angelegt. Die offen zur Schau gestellte kollektive Häme setzt sich sogar durch die digitale Archivierung von Sendematerial heute mitunter auch auf Internetplattformen fort, so dass die Performation des Realitätsfernsehens hier auch negative Folgewirkungen für die Kandidaten haben kann. Andererseits kommt diesen Darbietungen aber zugleich eine integrative Funktion zu, indem der gesellschaftliche Bedeutungsspielraum von Talent beziehungsweise Nicht-Talent groß ist. Auch wenn diese Darbietungen also keine gesellschaftliche Anerkennung im Rahmen der Unterhaltungsarena erfahren, beweist die bloße Aufnahme in das Programm gleichzeitig genau das Gegenteil. Dem »Antistar« kommt die gleiche Aufmerksamkeit und der gleiche Unterhaltungswert zu wie dem angehenden »Superstar«, was sich auch numerisch an der gleichen Sendedauer erfolgloser und erfolgreicher Darbietungen zeigen lässt.687

686 Hinzukommen weitere 18 Darbietungen, die durch einen klaren Spaßfaktor gekennzeichnet sind und nicht als ernsthafte Versuche gewertet werden können, um den Titel eines Supertalents zu konkurrieren. Hierzu zählt etwa ein »Penismaler« ebenso wie die Darbietungen eines Kindes, das lediglich eine Pirouette vorführen will. 687 Die durchschnittliche Sendezeit für einen Kandidaten liegt bei ca. 13 bis 15 Minuten.

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In der Fremd- und Selbstinszenierung von Kandidaten mit exhibitionistischen Darbietungen liegt ein Unterschied zur arabischen Version ARABS GOT TALENT. Zwar werden auch hier Kandidaten gezeigt, deren Darbietungen scheitern und unvorbereitet sind, diese werden aber nur in kurzen Sequenzen angedeutet, in denen Kandidaten und Moderatoren gar nicht oder nur kurz zu Wort kommen. Hier wird die mediale Aufmerksamkeit verweigert. Das Format verweist also auch auf die Existenz von exhibitionistischen und unprofessionellen Selbstrepräsentationen, schränkt aber die Deutung von Talenten stärker ein als im deutschen Beispiel, so dass allein die Qualität der künstlerischen Darbietung Evaluationsmaßstab bleibt. Mit diesem Unterschied hängen sodann auch variierende Rollen des Saalpublikums in den Formatversionen zusammen. In DAS SUPERTALENT wird das Publikum in der Rolle eines kollektiven vierten Jurors inszeniert. Emotionale Reaktionen des Publikums werden hier in den Casting-Episoden mit der Kamera eingefangen und Nahaufnahmen einzelner Personen werden wiederholt als Stellvertreter der Publikumsreaktion gezeigt. Das Publikum interagiert dabei in zwei Richtungen: Einerseits evaluiert es durch nonverbale und verbale Kommentare direkt die Darbietungen der Kandidaten, andererseits werden auch die Evaluationen seitens der Jury kommentiert, was in einigen Fällen zu einem erfolgreichen Veto des Publikums führt. Auch die Jury integriert das Saalpublikum immer wieder in die Kommunikationssituation des Wettbewerbs, indem das Publikum direkt angeschaut und angesprochen wird oder auf verbalisierte Einzelmeinungen reagiert wird. Das Saalpublikum wird so zum interaktiven und intervenierenden Akteur der Sendung. Dabei bedient sich das Publikum nonverbaler kommunikativer Symbolik wie stehender Ovationen. Distanz wird hingegen durch Buhrufe, den piktographischen Daumen nach unten und durch Zuwendung des Rückens zur Bühne ausgedrückt. Die Expressivität der Publikumskommunikation wird durch die Schnitttechnik und Montage unterstrichen, die beispielsweise ablehnendes Kopfschütteln von Einzelpersonen in Zeitlupe zeigt. Es muss berücksichtigt werden, dass die öffentliche Empörung des Publikums allerdings als Reaktion auf Nacktheit oder Lächerlichkeit inszeniert wird und nicht als Charakteristikum deutscher Studiopublika misinterpretiert werden darf. Eine solche direkte Einflussnahme und Aktivität des Publikums wird im arabischen Format ARABS GOT TALENT nur in wenigen Momenten angedeutet. Zwar hat auch das arabische Saalpublikum die Funktion, Darbietungen mit Applaus zu quittieren und Begeisterung über Talente auszudrücken. Es wird aber in der filmischen Umsetzung nicht als aktiver Akteur in Szene gesetzt, sondern verbleibt zumeist im abgedunkelten Zuschauerraum, verhält sich weniger empathisch und kritisierend und erscheint auch leiser. Individuelle Zwischenrufe, ausdrucksstarke Gesten und Aufnahmen von einzelnen Zuschauern lassen sich hier nicht finden. Es ist damit ein klassisches Saalpublikum, das sich zwar mitreißen lässt von Darbietungen, jedoch nicht intervenierend in Erscheinung tritt. Dies bedeutet aber auch, dass der plebiszi-

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täre Charakter des Formats in den ersten Episoden der arabischen Version nicht in der Weise inszenatorisch geltend gemacht wird wie im deutschen Format. Dieser Unterschied lässt sich zum einen aus der Talentauswahl ableiten. Denn wenn empörende Darbietungen nicht integriert werden, kann auch kaum empörend reagiert werden. Andererseits gibt es in der arabischen Fernsehindustrie weniger Vorgängerformate mit großem Saalpublikum, das live agiert, was möglicherweise auch erklärt, warum die filmischen Konventionen einer im Hintergrund befindlichen Publikumsdarstellung hier nicht gebrochen werden. Neben den Unterschieden der Kandidaten-Studiopublikum-Interaktion und den Evaluationskriterien, die sich in der deutschen Formatversion eher daran orientieren, wie Aufmerksamkeit erzeugt wird, in der arabischen Variante eher an der Qualität des Talents, gibt es auch eine Gemeinsamkeit in Bezug auf die Professionalität688 der Darbietungen. In beiden Formatvarianten haben insgesamt mehr Laien 689 die Möglichkeit, ihr Talent unter Beweis zu stellen. Das heißt, dass weniger professionelle Künstler auftreten, die auch eine Karriere in ihrem Metier anstreben, wie es bei anderen Castingshows der Fall ist, die etwa die besten Topmodels, Sänger oder Küchenchefs ermitteln. Bei DAS SUPERTALENT präsentieren sich nicht alle Kandidaten in ihrer Berufsrolle und nur knapp ein Viertel oder weniger bieten einen Auftritt, der eine professionelle Ausbildung benötigt, wie beispielsweise das Erlernen

688 Unter Professionalisierung wurde der Qualitätsstandard der Darbietungen erfasst. Um die subjektive Kategorie der Qualität intersubjektiv nachvollziehbar zu machen, wurde unterschieden zwischen a) Darbietungen von Kindern, b) Laiendarbietungen, c) professionellen Darbietungen und d) beruflichen Darbietungen. Unter Laiendarbietungen wurden all jene Beiträge gefasst, die als Hobby benannt wurden. Professionell sind Darbietungen, die als solche benannt wurden oder eine institutionell erlernte Technik voraussetzen (Beispiel: Klavierspielen, Artistik). Als dritte Abgrenzung wurden Darbietungen erfasst, in denen die Kandidaten in ihrer Berufsrolle auftraten (der Hypnotiseur als Hypnotiseur, der Zirkusakrobat als Zirkusakrobat). Kinder und Jugendliche wurden in einer gesonderten Kategorie erfasst, da davon ausgegangen wird, dass die Evaluation nach anderen Kriterien vorgenommen wird. 689 Auch wenn der »Laie« grundsätzlich eine große Begabung haben kann, so definiert sich Talent als eine Begabung, die »jemanden zu ungewöhnlichen bzw. überdurchschnittlichen Leistungen auf einem bestimmten, besonders auf künstlerischem Gebiet befähigt.« (http://www.duden.de/rechtschreibung/Talent) Auch wenn Begabung hinreichend ist, bleibt das Überdurchschnittliche von diversen Interpretationen bekannter MainstreamMusik im deutschen Format oder Hip-Hop-Varianten im arabischen Format doch hinter den jeweiligen Originalen zurück.

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eines Musikinstruments.690 Beide Formatversionen schaffen dementsprechend eine außeralltägliche Plattform für die Präsentation von Talenten, denen nicht zwangsläufig eine institutionalisierte Evaluation vorausgeht. Es werden eher Talente öffentlich gemacht, die sonst im Alltäglichen und nicht in leistungsorientierten Berufswelten verortet sind. Die Ordnung von Privatheit und Öffentlichkeit wird somit auch neu definiert. Das, was sonst Bestandteil privater oder teilöffentlicher Lebensweltkontexte ist (Kandidaten, die sonst für die Familie singen), wird nun auf der großen Bühne vor einem Millionenpublikum verhandelt. Abbildung 19: Professionalisierung der Darbietungen in den untersuchten Versionen von GOT TALENT Professionalisierung der Darbietungen

4

Darbietungen beruflicher Profession

9,1

25,6

professionelle Darbietungen

20,7

53,7

Laiendarbietungen

64

16,5

Darbietungen von Kindern und Jugendichen

6,4

0

10

20

30

40

Anteil der jeweiligen Professionalisierungskategorie, relative Häufigkeit, Angaben in % DAS SUPERTALENT: N = 121 | ARABS GOT TALENT: N = 125

50

60

70

DAS SUPERTALENT

80

90

100

ARABS GOT TALENT

Quelle: Eigene Daten

Diese Beobachtung passt auch zu den Motiven der Teilnahme. Denn bezüglich der offengelegten Motive zeigt sich erneut, dass nicht allein die Qualität des eigenen Talents im Vordergrund steht. Das Ziel, den Titel des »Supertalents« zu gewinnen, geht ebenfalls nicht zwangsläufig auf individuelle Karrierepläne zurück. Im deutschen Format gibt es beispielsweise Teilnehmer, die angeben, nur teilzunehmen, um Dieter Bohlen kennenzulernen, um Spaß zu haben oder individuelle Schicksalsschläge zu bewältigen. Der Auftritt wird somit von einigen Teilnehmern instrumentalisiert, womit sich der Wert des Auftritts von einer künstlerischen Anerkennung hin zu allgemeiner menschlicher Aufmerksamkeit für die persönliche Biographie verlagert. Ähnlich finden sich auch im arabischen Format Beispiele für Motive, die 690 In ARABS GOT TALENT nehmen zwar weniger Kinder teil und weniger Personen treten in ihrer Berufsrolle auf, das gleicht sich aber durch den leicht höheren Anteil an professionellen Darbietungen in etwa aus.

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nicht explizit ein Bedürfnis nach dem künstlerischen Durchbruch ausdrücken. Gleich in der Eingangssequenz von ARABS GOT TALENT verkündet ein Teilnehmer im Backstage-Bereich: »Ehrlich gesagt, geht es mir eigentlich nur um das Preisgeld. Das ist mein Ziel«. Andere sagen, dass sie vor allem Spaß haben wollen. Die erste Kandidatin der ersten Episode glaubt zwar an ihr tänzerisches und choreographisches Talent, sie eröffnet ihre eigene Vorstellung jedoch wie folgt: »Ich heiße Talal, ich bin 27 Jahre alt und komme aus dem Libanon. Ich möchte der Welt zeigen, dass nicht nur Männer Michael Jackson imitieren können, sondern auch Frauen. Girls, you can do it!« Damit wird eine gender-politische Botschaft zum Motiv des Auftritts. Es besteht der Wunsch, Aufmerksamkeit für eine Sache zu generieren, die über das eigene künstlerische Talent hinausreicht. Auch wenn die Motive der Teilnahme in beiden Versionen nicht konsequent transparent gemacht werden, so zeigen die genannten Beispiele, dass die Sendung nicht nur ein Forum für die Verhandlung der gesellschaftlichen Bedeutung künstlerischer Qualität ist, sondern ebenso für die Vermittlung persönlicher Botschaften. Es handelt sich demzufolge nicht um eine vergleichbare Show, in der professionelle Künstler unterschiedlicher Genres miteinander auf gleichem Professionalisierungsniveau konkurrieren, sondern um die Repräsentation einer Vielfalt kultureller Ausdrucksformen, bei der die Bewertung nicht allein von Expertenwissen und Qualitätsstandards abhängt, sondern ebenso von einer gesellschaftlichen Resonanz beziehungsweise plebiszitären Evaluationssystemen. Einen maßgeblichen Anteil an den Deutungsangeboten, die die Sendungen in Hinblick auf die Evaluation von Talent und Aufmerksamkeit machen, haben die Jurymitglieder. Dies wird in beiden Varianten bereits durch die einführenden Filmsequenzen deutlich. Im deutschen Format kommen Dieter Bohlen, Bruce Darnell und Sylvie van der Vaart auf einem Elefanten angeritten und mit einem Heißluftballon eingeflogen, während eine Menge an potenziellen Teilnehmern den Juroren zujubelt. Im arabischen Format kommen Ali Jaber, Amr Adeeb und Najwa Karam in einer Luxuslimousine angefahren und schreiten über einen roten Teppich in die Halle. Die Inszenierung fokussiert in beiden Versionen zu Beginn die Juroren, die als zentrale Autoritäten und Stars eingeführt werden. Auf analytischer Ebene füllen die drei Juroren vor allem zwei Rollen aus, die für die Identifikationsangebote der Sendung wichtig sind: Zum einen sind sie als öffentliche Medienpersonen Aushängeschilder der Sendungen, zum anderen agieren sie in ihrer Juroren-Rolle auch als Experten und Repräsentanten des jeweiligen Publikums. Eine komparative Analyse der kommunikativen Handlung der Juroren und ihrer gesellschaftlichen Kontextualisierung als öffentliche Medienfiguren zeigt, dass die bisher herausgearbeiteten Unterschiede auch durch die Juroren unterstützt werden. Die deutschen Juroren verleihen der Sendung einen Varieté- oder Zirkuscharakter, in dem Prinzipien der Aufmerksamkeit und Überraschung regieren, wäh-

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rend die arabischen Juroren die Wettbewerbs- und Leistungsdimension des Castings betonen. Konkret lässt sich für DAS SUPERTALENT sagen, dass insbesondere Dieter Bohlen als zentrale Figur der Talentshow den Deutungsrahmen der Sendung durch seine Medienpräsenz und Medienbiographie prägt. Bohlen ist ein in Deutschland bekannter Sänger, Komponist und Produzent, der seit vielen Jahren von den Boulevardmedien begleitet wird. Seit 2002 ist er bereits als Juror bei der deutschen Version von POP IDOL, DEUTSCHLAND SUCHT DEN SUPERSTAR, tätig und hat eine enorme öffentliche Aufmerksamkeit durch seine oft schonungslosen Urteile erfahren und gesellschaftliche Diskurse über den Umgang mit öffentlicher und zum Teil diskreditierenden Kritik an Privatpersonen in Reality-Sendungen ausgelöst.691 Er wird seitens der Medien als »Pop-Titan« bezeichnet und ist eine herausragende Reizfigur der deutschen Fernsehkritik. Im Format DAS SUPERTALENT ist Bohlen der feststehende Juror, während die verbleibenden Juroren ständig wechseln. Damit ist er die stabile Identifikationsfigur des Formats und genießt einen prioritären Status innerhalb des Juryensembles. Darüber hinaus wird er auch als Autoritätsperson innerhalb der Jury inszeniert, indem er zumeist die höchsten Redeanteile der Jury hat und häufig als letzter sein, und damit das abschließende, Urteil abgibt. Auch in den Narrationen wird eine solche Deutung aufgegriffen, wenn Kandidaten ihr Schicksal von der Bewertung Bohlens abhängig machen. 692 Für die Interpretation der Sendung ist somit ein starker intertextueller Bezug zu DSDS entscheidend, wo Bohlen ein Image als Juror etabliert hat, was sich nun auf das Format GOT TALENT überträgt. Auch wenn die Urteile Bohlens in der hier untersuchten Staffel milder ausfallen als in der in zeitlicher Nähe ausgestrahlten Version von DSDS, 693 wird diese Rolle 691 Auf der Website der Kommission für Jugendmedienschutz heißt es: »Bei verschiedenen Folgen von ›Deutschland sucht den Superstar‹ war eine Entwicklungsbeeinträchtigung von Kindern unter zwölf Jahren nicht auszuschließen – aufgrund des herabwertenden Verhaltens der Jury und der redaktionellen Gestaltung der Casting-Auftritte durch den TV-Sender RTL, die ganz gezielt die Kandidaten lächerlich machte.« Diese Verstöße wurden zwar diskutiert und analysiert, aber es kam nicht zu juristischen Schritten. Schneider, Siegfried (2014): Reality-TV. Kommission für Jugendmedienschutz der Landesmedienanstalten (KJM). 692 Ein Beispiel ist der Finalist Rudi Estevez, der selbst angibt, dass, sollte Dieter Bohlen ihn schlecht bewerten, er nie wieder Singen werde in seinem Leben, da Dieter Bohlen genau wisse, wer singen kann und wer nicht. Episode 8. 693 Die Kommentare reichen von »Wenn du zur Zeit von Moses gelebt hättest, wärst du die elfte Plage gewesen« über »Ich glaube, dass bei Dir die großen Töne aus anderen Öffnungen kommen« bis hin zu »Das war keine Interpretation, das war Scheiße. Nee, das war noch nicht mal Scheiße, denn für Scheiße müsstest du noch fünfmal besser singen.« RTL (2014): Dieter Bohlens Hammersprüche bei DSDS 2010. RTL interactive GmbH.

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auch in der Sendung zu Teilen aufrechterhalten. Bereits im Vorspann von DAS SUPERTALENT 2010 wird der Kommentar zu einer späteren Tanzdarbietung vorweggenommen, in dem Bohlen den Kandidaten offensichtlich diskreditiert: »Ein Huhn mit einem Bein, wenn du dem mit einem Luftgewehr hinterherschießt, das bewegt sich geiler.« Auch seine Beurteilung der allerersten Kandidatinnen der Staffel fällt ähnlich schmähend aus: »Normalerweise hätte ich euch ja weggebuzzert, aber ich wollte warten bis der erste richtige Ton kommt. Ich glaube euer Problem ist – ihr seid ja eineiige Zwillinge und wenn man dann so in einem Ei sitzt, dann muss man sich halt die Musikalität teilen und da bleibt dann eben für einen nicht so viel. Dreimal nein!«

Die Bewertungen durch den Juror stellen damit einen eigenen Unterhaltungsbestandteil der Sendung dar. Dass er nicht nur die Rolle des Jurors, sondern auch des Entertainers übernimmt, äußert Dieter Bohlen selbst in der Eingangssequenz zur untersuchten Staffel: »Mir geht es mehr drum, dieser Auftrag, also, ich bin ja auch ein Gewählter des Publikums. Die stellen die Erwartung an mich, dass ich sie unterhalte.« Auch die anderen beiden Jurymitglieder erfüllen ihre Rolle als Entertainer, indem sie ihre Kommentare humorvoll gestalten und sogar selbst aktiv an einigen Darbietungen mitwirken und so immer wieder den Showcharakter der Sendung in den Vordergrund rücken. Aus der Medienbiographie beider Juroren geht hervor, dass auch sie in anderen Castingformaten dem Publikum bereits bekannt gemacht wurden. Der US-Amerikaner Bruce Darnell wurde zuvor als Juror im Casting Format GERMANY’S NEXT TOPMODEL bekannt und überführt seine Rolle als empathischer und zum Teil effeminierter Juror, den eine eigene Interpretation deutscher Grammatik auszeichnet, in seinen Auftritt bei DAS SUPERTALENT. Ganz ähnlich war auch Sylvie van der Vaart als Model und »Spielerfrau« durch Auftritte im Tanzformat LET’S DANCE und wegen ihrer Brustkrebserkrankung als öffentliche Medienperson in Deutschland bekannt. Anders als Bohlen (Sänger, Komponist und Produzent) und Darnell (Choreograf) hat sie jedoch keine Expertise in einem bestimmten Genre und übernimmt eine Rolle, die zwischen Fürsorglichkeit und Härte oszilliert. Van der Vaart ist es auch, die im Vorspann eine favorisierte Bedeutung des Formats vorgibt, indem sie sagt, dass es in der Show nicht um Aussehen gehe, sondern um Talent und jeder eine Chance habe, mitzumachen. In den Casting-Episoden wird dann schnell deutlich, dass das Anliegen, jeden mitmachen zu lassen, sich tatsächlich einlöst. Es geht dabei nicht um ein Talent an der Sache, sondern um das Talent, ein Publikum schlichtweg zu unterhalten. Ein Beispiel für die indirekte Orientierung an einem Massenpublikum liefert eine junge Kandidatin, deren Mut, klas-

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sischen Gesang zu präsentieren, honoriert wird, da »das schwierig für ein großes Publikum sei.«694 Es werden also in den Juryurteilen nicht nur Fertigkeiten und Qualität der Darbietungen beurteilt, sondern ebenso die Unterhaltungsqualität und Vermarktbarkeit der Kandidaten. Der Expertenstatus der Jurymitglieder liegt dementsprechend auch nicht allein in einer Expertise für ästhetische Urteile, 695 sondern ebenso darin, diese Vermarktbarkeit zu erkennen. Der Common Sense über das gesuchte Talent ist dann vor allem die Fähigkeit eines Kandidaten, das Publikum zu überraschen, sei es durch ungewöhnliche Darbietungen oder einen Überraschungseffekt.696 Es geht darum, die »Massen« emotional zu erreichen und dies gelingt in der Lesart von Dieter Bohlen vor allem, wenn man ein gutes »Package«697 anzubieten hat. Eine solche Deutung wird durch die Off-Kommentare der Moderatoren unterstrichen, die ähnlich einem Ringsprecher im Boxkampf in zahlreichen Teasern ankündigen, dass die Zuschauer oder gleich die ganze Welt das Kommende noch nie gesehen hätten. Die durch die Moderatoren und Jurymitglieder angebotene Deutung von Talent bleibt somit weitestgehend bedeutungsoffen und unterliegt mehreren Brechungen. Einerseits werden Engagement und Charakter eines Hauptschülers gelobt, der sich bis zum Abitur hochgearbeitet hat und Klavier spielt. Eine Frau, die nach der Babypause wieder einen Einstieg ins Arbeitsleben sucht, erntet ebenfalls Komplimente für ihre Geschichte. Bei einem Straßenmusiker hingegen wird die Wertschätzung verweigert: »Wir [sind] nicht hier, um Einstellungen oder Charak694 Dieter Bohlens Kritik in Episode 5, Kandidatin Josefine Becker. 695 Es gibt sogar Sequenzen, in denen sich die Juroren selbst Expertise absprechen. Bruce Darnell bekennt etwa, dass er einen Gesangvortrag nicht bewerten könne. 696 Überraschung wird oftmals inszeniert, indem ihr eine entgegengesetzte Erwartung vorangestellt wird. Dieter Bohlen verdeutlicht dieses Prinzip sogar selbst in einem Einspieler der ersten Episode, in der er sich zur Präsentation einer Kandidatin äußert: »Da steht so ein Mädchen [und] sieht aus, als dass sie nichts kann und dann war das so ein emotionaler Moment, den kann man nicht konstruieren, da war so eine Magic im Raum, das Publikum von einer Sekunde auf die andere, ist so dieses Überraschungstalent.« Ähnlich äußert sich auch Bruce Darnell in Episode 9 zu einer Kandidatin: »Komm her Baby! Das ist der Grund warum wir diese Show machen! Da kommt jemand auf die Bühne und man denkt, das kann nicht gut gehen und dann singt sie und sie singt toll, man ist einfach glücklich, ganz toll, du musst heute weiterkommen, das ist Glück, ich liebe es« oder zu einer Comedy-Präsentation mit einem Luftballon in Episode 2: »Das ist genau das, was die Show braucht«. Ähnlich explizit ist auch der Kommentar von Dieter Bohlen zu einem britischen Illusionisten, der Gegenstände schluckt in Episode 3: »Armer Schlucker, diese Show sucht nach Sachen, die man noch nie auf der Welt gesehen hat … das war ganz groß.« 697 »Das Package stimmt«, Dieter Bohlens Kritik in Episode 8, Kandidatin Fabienne Rothe.

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tertests zu machen, sondern wir beurteilen, was jemand auf der Bühne bringt […].«698 Hier treten Widersprüche ganz offensichtlich zutage. Ähnlich verhält es sich mit einem Beitrag eines AC/DC-Covers, zu dem gesagt wird: »Das war super lustig, Highway to Sushi Sushi. Eigentlich suchen wir Originale und keine Kopie, aber ob das Supertalent ist?«699 Tatsächlich aber präsentiert die Hälfte aller Finalisten lediglich Coverversionen. Die Bewertungsmaßstäbe bleiben also mithin unklar und willkürlich. Auch in der kommunikativen Interaktion zwischen den Juroren findet keine stringente oder kohärente Aushandlung des Talentbegriffs statt. Darin unterscheidet sich das deutsche Jurorenensemble von dem arabischen. Bereits in der Eingangssequenz formulieren die Juroren von ARABS GOT TALENT ihr individuelles Verständnis von Talent und es finden sich Sequenzen, in denen die Juroren nicht einer Meinung sind und über die Frage, was ein Talent ausmacht, in einer Intensität und Ernsthaftigkeit diskutieren, die so nicht in der deutschen Formatversion zu finden ist. Dieser Unterschied lässt sich auch durch die vielfältigen Hintergründe der Juroren erklären. Als Pendant zu Dieter Bohlen agiert Ali Jaber als kritischer Juror im arabischen Team. Anders als bei Bohlen erlangte Jaber erst durch seinen Auftritt in ARABS GOT TALENT einen Starstatus. Als Dekan der Mohammed Bin Rashid School of Communiction der American University in Dubai und als Direktor, Gründer und Berater verschiedener TV-Sender besitzt er zwar eine Expertise des Showgeschäfts, jedoch keinen vorgefertigten Status als öffentliche Medienperson mit eigenen kreativen Beiträgen. In seinem mit Ernsthaftigkeit vorgetragenen Eingangsbeitrag erläutert er seine Vorstellung des Programms wie auch seine Deutung von Talent: »Das ist ein wichtiges Programm, weil Fernsehen in der arabischen Welt ein einflussreiches Medium ist. Fernsehen hat die Aufgabe, die verborgenen Talente ans Licht zu bringen. […] Damit die Menschen in der ganzen arabischen Welt von Mauretanien bis Oman sie sehen können. Im Programm können sich die Menschen ausdrücken und der Welt zeigen, was sie können, was sie spüren. Ich möchte niemanden anlügen, ich werde die Wahrheit offen sagen. Wenn etwas gut ist, dann werde ich es sagen und wenn etwas schlecht ist, dann sage ich, dass es schlecht ist und wenn jemand Übung braucht, dann werde ich Hinweise geben. Talente sind kein Spaß, Talente sind kein Zufall, Talent ist das Ergebnis von Fleiß und Arbeit«.700

Ähnlich äußern sich auch die anderen beiden Juroren. Sie schreiben der Sendung die funktionale Bedeutung zu, Talente zu finden und vorzustellen und legen ihre

698 Dieter Bohlens Kritik in Episode 7, Kandidat »Micky«. 699 Episode 3, Kandidat Takeshi Nagaike. 700 Die Übersetzung ist leicht gekürzt und sprachlich überarbeitet.

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Position einer ehrlichen Bewertung dar.701 Amr Adeeb etwa fordert zu Beginn der Episode eine absolute Identifikation mit dem und Leidenschaft für das Talent: »Du sollst Dein Talent leben und Deine ganze Energie investieren.« Eine Unterhaltungsorientierung wird hier nicht explizit als Funktion angesprochen und alle drei Jurymitglieder identifizieren sich in erster Linie mit ihrer spielinternen Funktionsrolle als Juroren und nicht mit einer medialen Funktionsrolle wie es etwa Dieter Bohlen tut, wenn er seine eigene Rolle primär mit einem Unterhaltungsauftrag gegenüber einem Fernsehpublikum definiert. Neben dem Libanesen Ali Jaber ist der ägyptische Journalist und Moderator Amr Adeeb Teil des arabischen Juryensembles. Er ist vor allem dem ägyptischen Publikum durch Talkshowformate bekannt. Auch Najwa Karam ist bereits als öffentliche Medienperson etabliert und die einzige im Team, die selbst als Künstlerin Erfahrungen hat. Die libanesische Sängerin zählt zu den erfolgreichsten aktuellen Musikerinnen der arabischen Welt und ihre Musik steht für eine Kombination traditioneller (mawwal, ‫ )موال‬und moderner arabischer Liedkunst. Sie hat selbst einmal an einem Talentprogramm als Kandidatin teilgenommen und leitet daraus einen doppelten Expertenstatus ab. Interessant ist dabei, dass sowohl sie als auch Jaber dem Unterhaltungsfernsehen eine wichtige institutionelle gesellschaftliche Funktion zuschreiben, indem sie hervorheben, dass es ein Ort gesellschaftlicher Partizipation und Repräsentation sei, an dem tatsächlich kreative Karrieren ihren Ausgang nehmen können. Hier wird noch einmal deutlich, dass die Juroren damit für die Sendung einen Deutungsrahmen schaffen, der stärker auf die Inhaltdimension der Sendung abzielt, den Wettbewerb. Die drei Juroren verhandeln schließlich auch ihre unterschiedlichen Sichtweisen auf Talent und deren Qualität in der Sendung. Mithin kommt es darüber sogar zu Auseinandersetzungen. Beispielsweise diskutieren Amr Adeeb und Ali Jaber den Beitrag eines Messerschluckers, aus dem hervorgeht, dass Talent und Unterhaltungsqualität voneinander abgegrenzt wird: Jaber:

Das sind nicht die Talente, die ich sehen möchte.

Adeeb:

Aber an sich ist es doch ein Talent. Tausende können singen, aber das ist was

Jaber:

Es gibt einen Unterschied zwischen Talent und Können. Das ist aber eine

Adeeb:

Wie oft haben Sie jemanden gesehen, der einen Nagel in seine Nase schlägt?

anderes. Show, die ein Publikum findet. Wir können nicht mal einen Nagel in die Wand schlagen. [Publikum lacht, applaudiert] 701 Amr Adeeb spezifiziert, dass die Sendung Talente aus allen Bereichen finden wolle und er strenge Entscheidungen treffe. Najwa Karam sagt, dass ihre Entscheidungen ehrlich sein werden.

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Jaber:

Ja, gut, ich möchte ihn nochmal sehen. Aber ich bestehe darauf, dass es sich

Karam:

Bravo, Ali.

hier nicht um ein Talent handelt.

In einer weiteren Sequenz der Bewertung eines jungen Violinisten wird die Auseinandersetzung der Jury auch durch die Off-Kommentare aufgenommen und durch die Kameraeinstellungen, die diskutierende Juroren zeigen und ihnen bis in den Backstage-Bereich hinein folgen, zusätzlich in Szene gesetzt wird: Adeeb:

Nein. Ich habe das nicht gefühlt. Sie spielen gut, aber Ihnen fehlt das Talent und das Gefühl, dass Sie die Saiten zu schöner Musik machen. Ich hatte das Gefühl, dass ich etwas Schöneres hören könnte. Es war nicht umwerfend.

Karam:

Ali?

Jaber:

Also ich werde noch härter als Amr sein. Ich musste kämpfen, nicht auf den Buzzer zu drücken. Das Gefühl für die Schönheit der Musik fehlte, es hat mich nicht angezogen.

Adeeb:

Nein.

Karam:

Ali?

Jaber:

Nein.

Karam:

Die Technik hat mir gefallen, ihr Bogenspiel war gut. Ich habe der Technik mehr Beachtung geschenkt, aber die beiden anderen wollten mehr Gefühl. Ihre Finger sind sehr geschmeidig. Sie sind 15 Jahre alt?

Kandidat:

Ja.

Karam:

Ich glaube daran, dass Sie in Zukunft schöne Musik machen werden, ich hätte ›Ja‹ gesagt und bin immer dabei, aber die anderen beiden haben bereits nein gesagt.

Qusai:

M. hat uns enttäuscht entlassen, Najwa ist immer noch gegen die Entscheidung.

Karam:

Seine Technik ist hervorragend.

Adeeb:

Wie lange aber halten Sie das aus?

Qusai:

Auch in der Pause geht die Diskussion weiter. [Jury diskutiert Backstage]

Karam:

Ich war der Meinung, dass er durchaus hätte weiterkommen können. Ich bin sehr traurig.

Adeeb:

Kannst Du ihm eine halbe Stunde zuhören? Nochmal: es war nicht umwerfend. Wir suchen hier nach Talenten! […]

(Off):

Vor der Pause war die Stimmung angespannt. Hoffentlich wird die Laune der Jury nach der Pause besser.

Funktion, Rolle und Interaktion der Jurymitglieder variieren also in den beiden Versionen erheblich. Bereits durch die inszenatorische Einführung der Jurymitglieder werden unterschiedliche Deutungsrahmen etabliert. Dieser grundsätzliche Unter-

292 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ?

schied einer spielspezifischen Wettbewerbsorientierung und einer sendungsspezifischen Unterhaltungsorientierung wird außerdem durch die unterschiedlichen Moderationsrollen unterstützt, die im Folgenden noch diskutiert werden sollen. Die Moderatoren beider Versionen begleiten den Fernsehzuschauer durch die Sendung, indem sie hinter der Bühne mit Kandidaten sprechen, auf der Bühne in den LiveShows An- und Abmoderationen übernehmen und durch zahlreiche Off-Kommentare durch die Sendungen führen. Obwohl die Moderatorenrolle zunächst in beiden Varianten gleich ist, unterscheiden sich Art und Weise der Moderation. Die beiden Moderatoren der deutschen Formatversion, Marco Schreyl und Daniel Hartwich, haben vor allem eine redaktionelle Kommentarfunktion inne. Diese zielt ähnlich wie die Bewertungen Bohlens auf eine übertrieben humoristische oder emotionalisierende Kontextualisierung der Darbietungen. Wenn etwa die ersten Kandidatinnen der Sendung als »scharfe doppelte Lottchen« oder »Mucki-Schwestern« bezeichnet werden und der Einspieler zur Vorstellung derselben mit den Worten endet: »Viel Glück, ihr werdet’s brauchen«, dann wird die Bewertung des Beitrags bereits durch die Kommentierung vorweggenommen. Ähnlich wird auch eine positive Kontextualisierung antizipiert, wenn ein Kandidat vom Tod seiner Schwester berichtet, der er sein Lied widmen will: »Mit der kleinen Schwester im Herzen soll es jetzt ein großer Auftritt werden für Antonio Renzullo. Viel Glück!« Eine solche direkte Kommentierung von Kandidaten, deren Redebeiträgen oder Auftritten nehmen die Moderatoren der arabischen Version nicht vor. Sie übernehmen eine stärkere narrative Funktion. Die Redebeiträge von Raya Abirached und Qusai Kheder haben eine dramaturgische Funktion, indem sie einerseits den Ablauf der Sendung erläutern und andererseits den Wettbewerb immer wieder zeitlich einordnen: »Es ist der Beginn eines aufregenden Tages«. Eine solche Sequenzialität entsteht in der deutschen Version nicht, in der alle Darbietungen des Castings modular aneinandergereiht und lediglich durch die evaluationsorientierten Kommentare gerahmt werden. Auch der Unterschied der Sprechhaltung und Funktionsrolle der Moderatoren unterstreicht damit die grundlegende Orientierung der Sendungen an einem chronologischen Wettbewerbsverlauf (ARABS GOT TALENT) und einem losen Varieté-Charakter (DAS SUPERTALENT). Die Moderatoren stellen außerdem ähnlich wie die Jurymitglieder über ihre Präsenz als öffentliche Medienpersonen intertextuelle Bezüge her. Marco Schreyl ist ähnlich wie Dieter Bohlen bereits als Moderator von DEUTSCHLAND SUCHT DEN SUPERSTAR bekannt, so dass der personale Zusammenhang der beiden RTL-Formate umso deutlicher wird. Auch Daniel Hartwich ist als Moderator von RTL-Sendungen etabliert und trat im Format ICH BIN EIN STAR, HOLT MICH HIER RAUS in Erscheinung. Beide Moderatoren stehen damit für Unterhaltungssendungen von RTL und reproduzieren hier in unterschiedlichen Formaten einen formatierten Moderationsstil. Auch die Moderatoren Qusai Kheder und Raya Abirached von ARABS GOT TALENT sind als Moderatoren von Unterhaltungssendungen im arabischen Satelli-

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tenfernsehen etabliert. Der saudi-arabische Rapper Qusai moderierte bereits einige Jahre zuvor eine erfolgreiche Hip-Hop-Castingsendung auf MTV ARABIA und ist als arabischer Hip-Hop-Sänger bekannt. Hier könnte dann auch eine Verbindung, ähnlich wie bei Bohlen, zum großen Umfang an Hip-Hop-Darbietungen der Sendung liegen. Die Libanesin Raya Abirached ist eine kosmopolitische Medienprominente und durch ihre Show SCOOP, in der sie Interviews mit Hollywood-Stars führt, mit der US-amerikanischen Medienkultur verbunden. Während die beiden deutschen Moderatoren vor allem als bekannte Figuren von RTL auftreten und einen entsprechenden Habitus reproduzieren, bieten die beiden arabischen Moderatoren aufgrund ihrer Erscheinung ein transkulturelles Identifikationsangebot. Qusai und Abirached sprechen immer wieder Englisch, Qusai kleidet sich in einem transkulturell verbreiteten Hip-Hop-Stil und auch Raya Abirached entspricht habituell einer Fernsehmoderatorin, wie sie auch ähnlich in westlichen Programmen auftreten. Die beiden Moderatoren stehen somit für eine westlich orientierte jugendkulturelle arabische Identität, die nur wenig symbolische Hinweise auf islamische oder traditionelle arabische Symbole aufweist. 4.1.2.3 Inszenierung der Superlative: Analyse der televisuellen Gestaltung Ähnlich wie beim Format MILLIONÄR besteht auch in den beiden Versionen der Talentshow GOT TALENT eine hohe visuelle Wiedererkennbarkeit. Das Zentrum der Sendung bildet dabei eine Bühne, die in beiden Versionen einem gleichen Aufbau folgt und durch die drei großen Bewertungssymbole »X« mit den darunter stehenden Namen der Jurymitglieder am oberen Rand der Bühne gekennzeichnet ist. Die Symbole leuchten auf, wenn ein Jurymitglied seine Ablehnung des Beitrags dadurch zum Ausdruck bringt, dass er oder sie einen roten Buzzer betätigt. Die Jury sitzt jeweils auf einer zweiten Bühnenebene zwischen Bühne und Saalpublikum. Daneben ist die Hinterbühne ein zentrales Element des Formats, das in beiden Adaptionen standardisiert übernommen wird. Denn die Kamera erlaubt immer wieder Einblicke in den Backstage-Bereich der Sendung und liefert dem Fernsehpublikum die Perspektive des Kandidaten, der sich hinter der Bühne vorbereitet und dann in den gefüllten Saal tritt. Dieser Wechsel der Beobachterperspektive ist eine eher aktuelle Entwicklung des Unterhaltungsfernsehens, die aus fernsehanalytischer Sicht der Verstärkung des Realitätsprinzips des Fernsehens dient. Denn so wird nicht nur die Alltagsrealität der Kandidaten auf die Bühne geholt, sondern die Fernsehrealität und ihr eigener Inszenierungsprozess werden offengelegt. Es wird mit der üblichen Trennung einer Vorder- und Hinterbühne gebrochen und das Fernsehpublikum kann nicht nur die inszenierte Show verfolgen, sondern auch die Inszenierung dieser Show, wodurch die Grenzen zwischen Fernseh- und Alltagsrealität zugleich verschwimmen. Durch dieses filmische Prinzip verdoppelt sich auch die Erzählperspektive der Sendung: Sie erzählt einerseits von einem Wettbewerb und des-

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sen Teilnehmern, andererseits erzählt sie aber auch von der Konstruktion dieses Wettbewerbs. Die Produktion wird damit letztlich auch zum auktorialen Erzähler der Sendung und lässt die Erzählebenen überlagern. 702 Der Wechsel zwischen Vorder- und Hinterbühne beschränkt sich nicht nur auf den inneren Backstage-Bereich, sondern umfasst auch den öffentlichen Raum des Produktionskontextes. In DAS SUPERTALENT werden Außenaufnahmen aus Köln integriert und es wird gezeigt, wo Kandidaten sich außerhalb der Wettbewerbsorte aufhalten. Ähnlich werden auch in ARABS GOT TALENT Aufnahmen aus Beirut gezeigt, dem Produktionsstandort, und der Backstage-Bereich ist hier ohnehin in die Vorhallen der Produktionsstudios verlegt. Ein lokaler Unterschied besteht allerdings im Setting des Wettbewerbs. In der arabischen Formatversion sind große Produktionshallen in Beirut Ort des Geschehens und der Zuschauer kann zu Beginn auch mitverfolgen, wie die Bühne in einem Auditorium erbaut wird, das einem Kinosaal ähnelt. Im deutschen Format hingegen werden zwar auch die Live-Shows im zweiten Teil der Sendung im Kölner Coloneum produziert, die Castingshows aber finden wechselnd in unterschiedlichen deutschen Städten statt,703 wo Opern- oder Theaterhäuser die Kulisse für die Castings liefern. Die Häuser, die eigentlich Ort klassischer hochkultureller Veranstaltungen sind, liefern einen glamourösen Raum für die Darbietungen. Die Inszenierung der Suche nach dem Supertalent folgt, wie bereits am Beispiel der Figureninszenierung gezeigt wurde, auch hier einem Muster der Überhöhung. Hochemotionale Ge702 Dieses Prinzip erinnert an Halls Diskussion von Foucaults Analyse des Velásquez’ Gemäldes »Las Meninas« und dessen Repräsentationsstrukturen. Der Maler stellt in seinem Bild die Szene der Entstehung eines Gemäldes des spanischen Königs Philipp IV. und seiner Frau dar, das jedoch nur in einem Spiegelbild erscheint, wodurch das entstehende Bild dem Betrachter verborgen bleibt. Hall bezieht sich auf die Argumentation Foucaults, demnach das Bild mit Repräsentationsregimen spiele, da dessen eigentliches Subjekt gar nicht anwesend sei und doch zugleich durch verschiedene Repräsentationsebenen zum Zentrum der Szene gemacht werde. Die Konstruktion der Bedeutung des Bildes liege, so Hall, damit sowohl in dem, was man sehe, als auch in dem, was man nicht sehe, und darin, wie Blicke geleitet würden. Es werde deutlich, dass »representation here is not about a ›true‹ reflection or imitation of reality«. Hall, Stuart (2013): The Work of Representation, S.40ff. Auf ähnliche Weise lässt sich argumentieren, dass die teilweise Offenlegung der Hinterbühne zwar suggeriert, dass man mehr sieht als gewöhnlich, doch auch dies bleibt Teil der Inszenierung. Die Kamera macht durch den Blick hinter die Kulissen bewusst, dass Kandidaten im Kontext eines inszenatorischen Regimes handeln, der Zuschauer nicht das Abbild ihrer selbst sieht, sich dessen, was er sieht, aber dennoch nicht sicher sein kann. 703 Auch in der arabischen Welt wurden Castings in mehreren Ländern durchgeführt, die aber nicht in Szene gesetzt wurden.

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schichten werden durch die passende atmosphärische Musik untermalt, durch Rückund Vorblenden sowie Unterbrechungen wird künstlich Spannungen erzeugt und die Moderatoren bemühen nahezu durchgängig die Superlative (»So etwas hat die Welt noch nicht gesehen«). Dramatisierung und Überhöhung sind auch zentrale Merkmale der Oper, so dass sich der inszenatorische Stil in das hochkulturelle Setting einfügt. Gleichzeitig lässt sich die räumliche Symbiose aus Hoch- und Populärkultur aber auch als widerständige Brechung eines bürgerlichen Habitus lesen. Denn gesellschaftliche Konventionen, denen typischerweise das deutsche Opernpublikum folgt – etwa einem Kleidungscode oder Verhaltensregeln, die eine stille und kontemplative Rezeption der ästhetischen Darbietungen erfordern –, werden hier nicht eingehalten. Das Saalpublikum ist weitestgehend alltäglich gekleidet, Darbietungen werden durch Applaus und Buh-Rufe unterbrochen, mitunter lautstark kommentiert und es herrscht eine durchgängige Unruhe im Saal. Insofern wird hier die konventionelle räumliche Trennung von Hoch- und Populärkultur aufgelöst und das hochkulturelle Setting demokratisch geöffnet.704 Diese Beobachtungen entsprechen gegenwärtigen Diskussionen in der Publikumsforschung im Bereich der Theater, die Entwicklungen der postmodernen Gesellschaft (Stichwort: Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile) als auch kulturpolitische Zwänge dafür verantwortlich machen, dass sich Verhaltensweisen und Bedürfnisse des Publikums wie auch dessen Struktur gewandelt haben.705 Mit dieser Übertragung auf gesellschaftliche beziehungsweise insbesondere kulturpolitische Entwicklungen ist zugleich ein feiner Unterschied der Formatversionen beschrieben, da die arabische Produktion einzig in einem dafür vorgesehenen Fernsehproduktionskomplex stattfindet und keine Verbindung der Sendung zu den symbolischen Umwelten hochkultureller beziehungsweise bürgerlich konnotierter Kulturrezeption herstellt. In dieser Lesart verbleibt die Populärkultur hier auch in den eigens für sie geschaffenen Räumen. Ein entscheidender Unterschied in den Darstellungsstrategien liegt weiterhin in der digitalen Bearbeitung, die Einfluss auf das Narrations- und Bedeutungsangebot der Sendung nimmt. In der deutschen Formatversion werden Animationen in die Sendung integriert, die entschieden dazu beitragen, dass ein ironisierender Deutungsrahmen dominiert und die Sendung auch Comedy-Elemente integriert. Diese Animationen kommentieren ironisch vor allem die Darstellung erfolgloser Teil704 Es muss berücksichtigt werden, dass dies kein Ausnahmefall ist. Deutsche Theater- und Opernhäuser folgen im Zuge eines finanziellen Wettbewerbs zum Teil einer Verpachtungslogik, nach der auch populärkulturelle Veranstaltungen eingekauft werden. 705 Vgl. hierzu bspw. Glogner-Pilz, Patrick (Hg.) (2011): Das Kulturpublikum. Fragestellungen und Befunde der empirischen Forschung. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

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nehmer, über die sich somit lustig gemacht wird. Beispielsweise werden Interviewaussagen wiederholt und im Comic-Stil visuell verändert oder Bühnenauftritte nachbearbeitet. Da erscheinen Fragezeichen über den Köpfen der Jury, da steigt Rauch aus dem Kopf von Kandidaten oder diese werden als Zombis inszeniert. Somit werden zumindest Teile der Sendung zur Satire ihrer selbst. Animationen werden hingegen im arabischen Format nicht verwendet. Die Art und Weise des Erzählens zeigt insofern in der deutschen Version deutlich hybridere Strukturen durch Rückgriff auf verschiedene Genre-Stile. 4.1.2.4 Zwischen »Können« und »Sein«: Narrations- und Deutungsangebote Die Narrationsangebote von GOT TALENT lassen sich anhand der Erzählrahmen identifizieren, die die Moderatoren der Sendungen vorgeben. Es wurde bereits herausgearbeitet, dass die Moderation den Talentwettbewerb bei ARABS GOT TALENT in eine geschlossene Narration einbettet, die einen Beginn (Anmeldung der Teilnehmer), einen Spannungsaufbau (Castings), einen Höhepunkt (Auswahl der Halbfinalisten durch die Jury), einen zweiten Spannungsverlauf (Live-Shows) und eine Entscheidung (Entscheidung) hat. Damit konzentriert sich ARABS GOT TALENT auf eine kohärente Handlung, wenngleich deren inszenierter Charakter offengelegt wird. Die Sendung gibt weiterhin vor, sich an einem Leistungsverständnis zu orientieren. Expliziert wird dieser Anspruch in Ali Jabers Aussage zu Beginn der ersten Staffel, dass Talent kein Spaß oder Zufall, sondern »das Ergebnis von fleißiger Arbeit« sei. Diese Leistung wird schließlich normativ und qualitativ bewertet. In der deutschen Formatadaption dominieren hingegen Stilelemente der Ironie und Persiflage, so dass die potenzielle Leistungsbotschaft der Sendung zumindest im Casting nicht ernsthaft verhandelt wird. Der Unterhaltungscharakter ergibt sich auch stärker durch die Kommentare der bewertenden Repräsentanten der Gesellschaft, die hier durch Jury und Saalpublikum dargestellt werden. In dem Moment, in dem das Spektakel an sich in den Vordergrund rückt, erinnert die Funktion der Sendung dann durchaus an Juvenals Satire der gesellschaftlichen Nachfrage nach Brot und Zirkusspielen.706 Tatsächlich orientiert sich das deutsche Format an den Vergnügen für die Zuschauer und weniger an der Beurteilung der Leistung der Kandidaten. Eine Leistungsbotschaft wird erst im letzten Teil der Sendung aktualisiert, wenn die Kandidaten in der Halbfinal- und Finalsendung ihr Talent beweisen müssen. Insofern lässt sich zusammenfassen, dass es im arabischen Format stärker um das »Können« geht, im deutschen Format hingegen zuvorderst um das »Sein« vor der Kamera. Die Rahmenerzählung um einen Wettbewerb, in dem Privatpersonen ihr erstaunliches Können präsentieren und miteinander in Konkurrenz treten, wird im 706 Iuvenalis, Decimus I.; Schnur, Harry C. (1988): Satiren. Stuttgart: Reclam.

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Sendungsverlauf des deutschen Formats durch die umfangreicheren Castings weiter nach hinten verlagert und damit nicht zur primären Bedeutungsebene. Zwar folgt die deutsche Sendung auch den oben beschriebenen Abläufen, eine ähnlich feste Chronologie einer Talentsuche wie im arabischen Format wird durch die Moderation aber nicht vorgegeben. Vielmehr folgt die Sendung einer offenen Erzählstrategie, in der die Darbietungen als Ereignisse an sich stehen und weniger durch eine rahmende Narration miteinander in Beziehung gesetzt werden. Damit ist erneut der Varieté-Charakter der deutschen Sendung beschrieben. Varieté ist nach Ernst Günther »wie das Theater an die Bühne gebunden. Doch im Gegensatz zum Theater bedarf es keiner wohlorganisierten dramatischen Handlung, in der der einzelne nur dazu da ist, das Ganze zu verdeutlichen. Das Varieté ist wie der Zirkus die Einheit der Vielfalt. Wie dieser fügt es Darbietungen, die sich in Entstehung, Form, Charakter und Inhalt unterscheiden – also das selbständig existenzfähige Einzelne –, zu einem sinnvollen Ganzen zusammen. Der Unterschied zum Zirkus wiederum liegt nicht etwa allein in der Spielfläche – hier Bühne, da Manege –, sondern im Charakter der ausgewählten Einzeldarbietungen, die im Zirkus zunächst primär in Verbindung zum Pferd standen, während sie im Varieté Unterhaltung und Geselligkeit stimulieren sollten«.707

In dieser Definition ist aus fernsehanalytischer Sicht auch angelegt, worum es in DAS SUPERTALENT geht: Unterhaltung und Geselligkeit. Das heißt nicht, dass diese Bestandteile in ARABS GOT TALENT nicht zu finden sind. Hier zielen ebenso die Einzeldarbietungen auf das Spektakuläre und auch in dieser Formatvariante wird sichtbar, was Fiske als »evasives Vergnügen« der populären Kultur bezeichnet hat: nämlich das sogar körperliche Empfinden von einer Durchbrechung des sonst Regulierten.708 Ekel und Überraschung finden sich ebenso im arabischen Format. Entscheidend ist aber die Schwerpunktsetzung in der narrativen Verarbeitung dieser Einzelangebote, bezüglich der in der arabischen Version eine gesellschaftliche Verhandlung von Leistung und Talent überwiegt. Neben den Unterschieden der Rahmenerzählung, die die Sendung anbietet, fallen schließlich auch nahezu identische Teilerzählungen auf, die sich in beiden Formatversionen finden lassen. Beispielsweise bietet in beiden Adaptionen eine Szene einen Spannungsaufbau, in der zwei Kandidaten von der Jury mit dem Problem konfrontiert werden, dass nur einer weiterhin am Wettbewerb teilnehmen dürfe. Daraufhin entscheidet sich der betreffende Kandidat in beiden Fällen für die Freundschaft und gegen den Wettbewerb. In beiden Versionen wird damit eine archetypische Erzählung in die Sendung integriert, die den Wert der Freundschaft und des 707 Günther, Ernst (1978): Geschichte des Varietés. Berlin: Henschel, S. 11f . 708 Fiske, John (1989): Understanding Popular Culture, S. 56.

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Zusammenhalts über den des Geldgewinns stellt. An einer solchen Stelle zeigt sich, dass die Sendung auch eine Meta-Erzählung über Grenzen eines Leistungsprinzips beinhaltet, die in gleicher Weise beantwortet wird. Ähnlich verhält es sich mit Narrationen von Kandidaten, die mithilfe ihrer Kunst persönliche Schicksalsschläge unterschiedlichster Couleur verarbeiten. Auch wenn die persönlichen Hintergrundgeschichten in der arabischen Version weniger umfangreich sind, werden hier transkulturelle Teilerzählungen sichtbar. Wenn man schließlich die grundlegenden Deutungsangebote der Sendungen an die künstlerischen Artikulationen der Teilnehmer und damit die erste Inhaltsebene rückbindet, dann lässt sich mit Sonja Hegasy argumentieren, dass Talentshows immer Elemente des gesellschaftlichen Konformismus wie auch der Rebellion verbreiten: »Im Zentrum der […] Talentshow steht der Ruf nach individueller Ausdrucksfreiheit, nach Teilhabe und Wahlfreiheit des Individuums. […] Spielshows sind nicht allein Ausdruck einer nivellierenden, neoliberalen Massenkultur […]«.709 Anders als MAN SAYARBAH AL-MALYOON liefert ARABS GOT TALENT dann nicht den Ausgangspunkt für die Fortschreibung gesellschaftlicher Wissenstraditionen beziehungsweise künstlerischer Traditionen, sondern eine Möglichkeit, hybride künstlerische Orientierungen zu verhandeln. Gerade die dominierenden jugendkulturellen Ausdrucksformen wie arabischer Rap beinhalten auch eine binnenorientierte Metabotschaft, die in der Abkehr von traditionellen arabischen Künsten liegt. Gleichzeitig entsteht dadurch aber auch ein Konformismus in der Außenorientierung. Denn ein großer Teil der artistischen, akrobatischen, tänzerischen oder musikalischen Präsentationen könnte, abgesehen von sprachlichen Barrieren, so auch in Formatvarianten anderer gesellschaftlicher Kontexte funktionieren. Ebenso orientiert sich der Habitus vieler Teilnehmer deutlich an kosmopolitischen Konsum- und Kleidungsstilen. Dies gilt auch für die meisten Beiträge der deutschen Version. Anders gewendet lässt sich sogar die Ironisierung und Überhöhung der individuellen Ausdrucksfreiheit in der deutschen Version wiederum als Rebellion gegen allzu konformistische Reproduktionen eines populären Gleichklangs interpretieren. Denn die Wahlfreiheit des Individuums, sich öffentlich nach eigener Façon zu artikulieren, wird hier bis ins Extreme getrieben. Diese Argumentation lässt sich aber nicht auf das gesamte Sendungsangebot übertragen, denn wie gezeigt wurde, werden auch in der deutschen Version Vorlagen erfolgreicher angloamerikanische Popkultur reproduziert. Auch wenn sich auf dieser inhaltsanalytischen Ebene keine eindeutige Botschaft aufdrängt, so lässt sich dennoch in beiden Formatvarianten argumentieren, dass diese zwischen künstlerischem Konformismus und Rebellion changieren. Die Analyse der unterschiedlichen Inhaltsebenen zusammenfassend, kann DAS SUPERTALENT als postmodernes Varieté mit Antitalenten und ARABS GOT TALENT 709 Hegasy, Sonja (2011): Populärkultur als Ausdruck gesellschaftlicher Veränderung, S. 45.

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als ein moderner künstlerischer Talentwettbewerb charakterisiert werden, wie in der folgenden Tabelle noch einmal verdichtet dargestellt wird: Tabelle 5: Inhaltsanalytische Vergleichsdimensionen von DAS SUPERTALENT und ARABS GOT TALENT

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DAS SUPERTALENT ARABS GOT TALENT Inhaltsebene: Formen der künstlerischen und individuellen Artikulation transkulturelle Anschlussfähigkeit der künstlerischen Darbietungen assimilative Modi und geo-kulturelle Referenzen dominieren künstlerische Ausdrucksformen Diversität gesellschaftlicher Akteure  Dominanz jugendkultureller Akteure Figurenebene: Akteursrollen der lokalen Handlungsträger Jury Unterhaltungsfunktion überwiegt:  Expertenfunktion überwiegt: mediale Funktionsrolle als Entertainer spielinterne Funktionsrolle als Experten öffentliche Personen mit intertextueller  öffentliche Personen mit intertextueller Bekanntheit durch andere RTL- und Bekanntheit durch andere öffentliche RolCastingformate len (Moderator, Musikerin) Moderatoren Kommentarfunktion  Erzählerfunktion intertextuelle Bekanntheit durch Nähe zu  intertextuelle Bekanntheit durch Nähe zu anderen RTL-Formaten US-amerikanischer Populärkultur Saalpublikum Kommentar- und Repräsentationsfunktion  klassische Publikumsfunktion hohes Partizipationspotenzial  geringeres Partizipationspotenzial Kandidaten vorranging Privatpersonen und Laien Funktionsrolle als Privatpersonen:  Funktionsrolle als Wettbewerbsteilnehmer: Subjekte einer Medienöffentlichkeit Subjekte eines Wettbewerbs

Repräsentationsebene: televisuelle Gestaltung  transkulturelle Muster der Darstellung: assimilative Reproduktion der Bühne, des Logos, der Montage (wechselnde Beobachterperspektiven), Musik  Setting: räumliche Vermischung von  Setting: räumliche Autonomie der Hoch- und Populärkultur (Theaterhäuser) Populärkultur (Produktionsstudios)  Integration hybrider Stilelemente:  Reproduktion vorgegebener Stilelemente: Persiflage, Comedy, Animationstechnik Off-Kommentare, Schnitttechnik  geo-kulturell unspezifische Symbolik  geo-kulturell spezifische Symbolik Repräsentationsebene: Narrations- und Deutungsangebote  offene Narration mit Varieté-Charakter  geschlossene Narration mit Wettbewerbscharakter  Unterhaltungsorientierung:  Leistungsorientierung: Präsentation des »Seins« Präsentation des »Könnens«  postmodernes Varieté mit  moderner künstlerischer Anti-Talenten Talent-Wettbewerb

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4.1.2.5 Fernsehen zwischen »Qualität« und »Trash«: Kontextanalyse der GOT TALENT-Versionen Castingformate wie DAS SUPERTALENT oder ARABS GOT TALENT sind in den gesellschaftlichen Öffentlichkeiten der beiden Referenzsysteme vielfach Gegenstand von Debatten um Wert und Unwert der Unterhaltung geworden. Anders als bei den Formatvarianten von MILLIONÄR ist die wissenschaftliche Aufbereitung der öffentlichen Diskurse in Zusammenhang mit dem Format bisher allerdings kaum geleistet worden, so dass sich im Folgenden nur auf einige wenige, aber für den Verlauf der Arbeit wichtige Beobachtungen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Sendung beschränkt wird. Im arabischen Kontext lässt sich die öffentliche Meinung und Resonanz der Sendung nur schwer rekonstruieren. So hat Kraidy zwar umfangreich die öffentlichen Kontroversen in Bezug auf die ersten Castingsendungen STAR ACADEMY und SUPERSTAR nachgezeichnet. Hier trafen konservative Kritiker und liberale Befürworter aufeinander; die öffentlichen Diskurse waren von einer starken Politisierung geprägt. Die Sendungen waren dann entweder Symbol für die Zerstörung gesellschaftlicher Moral oder aber Wegbereiter einer Demokratisierung durch ihr partizipatives Potenzial. Kraidy sieht vor allem die gesellschaftliche Aushandlung über multiple Modernitätsbezüge darin gespiegelt. 710 Inwieweit sich solche Diskussionen aber auch in den öffentlichen Anschlussdiskursen des besprochenen Formats ARABS GOT TALENT wiederfinden, lässt sich nicht aus wissenschaftlichen Analysen rekonstruieren. Aus der Beobachtung und den Experteninterviews lässt sich zumindest ableiten, dass die Sendung zu einem virulenten Internetphänomen geworden ist, das sogar zur Einrichtung neuer Social-Media-Abteilungen innerhalb der Produktionsunternehmen führte.711 Die Versprechen des interaktiven arabischen Fernsehens lösen sich hier durch einen anscheinend großen Partizipationswillen der Zuschauer ein, wenngleich dieser nicht mit konkreten Zahlen belegt werden kann.712 Im Zusammenhang mit der deutschen Formatvariante ist zu beobachten, dass ihr auch in Deutschland Diskussionen um neue Formen des Realitätsfernsehens vorausgegangen sind, die sich insbesondere an dem schon länger vorher eingeführten Format DEUTSCHLAND SUCHT DAS SUPERTALENT entzündeten. In beiden Kontexten ist also davon auszugehen, dass die Formate in einer Zeit eingeführten wurden, in 710 Kraidy, Marwan (2010): Reality Television and Arab Politics; Ders. (2008): Reality TV and Multiple Arab Modernities; Ders. (2009): Rethinking the Local-Global Nexus through Multiple Modernities: The Case of Arab Reality Television. In: Moran, Albert (Hg.): TV Formats Worldwide. Localizing Global Programs. Bristol: Intellect, S. 27-38. 711 Interview mit Raya Abirached, Moderatorin MBC, 17.11.2013. 712 Kraidy, Marwan (2008): From Activity to Interactivity: The Arab Audience. In: Hafez, Kai (Hg.): Arab Media. Power and Weakness. New York: Continuum, S. 91-102.

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der sich eine öffentliche Meinung beziehungsweise der öffentliche Diskurs bereits etabliert hatte. Dabei deutet sich in beiden Beispielen ein politisierter Diskurs an. In Deutschland stehen Sendungen wie SUPERTALENT häufig als Beispielgeber für eine Debatte um den Qualitätsverlust der Fernsehunterhaltung, die Entertainer Harald Schmidt mit »Unterschichtenfernsehen« auf den Begriff gebracht hat.713 Es liegen inzwischen wissenschaftliche Auseinandersetzungen vor, in denen der Begriff mit der Klassenproduktion durch und in populären Fernsehangeboten in Zusammenhang gebracht wird. Hier wird der Frage nachgegangen, inwieweit die Reality-Angebote selbst zur Herstellung von Klassendifferenzen beitragen und inwieweit das öffentliche Aufgreifen dieser Kategorien wiederum Entsprechungen in politischen Debatten um Solidaritätsprinzipien oder den Umbau des Sozialstaates findet.714 Neben aller Kritik an Klassendifferenzierung und Voyeurismus lassen sich in den deutschen Meinungsmedien allerdings auch Beispiele finden, die eine alternative Wertung der Castingsendungen zumindest hinterfragen. So bezeichnete der Tagesspiegel DSDS als »Migrantenstadl«. Der Journalist Hanssen stellte die Frage, ob RTL mit seinen Castingsendungen trotz aller Kritik nicht mehr für das soziale Miteinander leiste, als es die öffentlich-rechtlichen Pendants mitunter tun.715 Der Meinungsbeitrag zielt in der Argumentation vor allem auf das Integrationspotenzial und den Respekt, den Teilnehmer in der Sendung erlernten, da sie alle mit den gleichen Anforderungen kämpfen müssten. Auch wenn die Analyse nicht wissenschaftlich vertieft und die eigentliche Problematik des Integrationsbegriffs nicht aufgegriffen wird, verweist dieser Diskurs zumindest auf die inhaltliche Analyse der Repräsentation lokaler Identität, die am Beispiel von DAS SUPERTALENT gezeigt hat, dass Andeutungen eines alltäglichen Multikulturalismus in der Sendung zu finden sind. Was sich im Vergleich der beiden Kontexte bemerken lässt, ist ein Unterschied in der thematischen Verhandlung der Sendungen, der, sollte er sich durch weitere empirische Analysen erhärten lassen, auch mit den Sendungsinhalten in Einklang zu bringen ist. Während es den Anschein hat, dass das Genre einen Diskurs über die eigene Interpretation der Moderne in arabischen wissenschaftlichen Öffentlichkeiten auslöst, geht die deutsche Diskussion eher der Frage nach der Qualität der Unterhaltung und den negativen Folgewirkungen nach, die öffentliche Diskreditierung und Voyeurismus auf individueller und kollektiver Ebene erzielen können. Diese 713 Harald Schmidt hat den Begriff 2005 in einer Ausgabe seiner LATE NIGHT SHOW verwendet. 714 Seier, Andrea (Hg.) (2014): Klassenproduktion Fernsehen als Agentur des Sozialen. Münster: Lit. 715 Hanssen, Frederik: Der Migrantenstadl. ›Deutschland sucht den Superstar‹ ist gelebtes Integrationsprogramm. DER TAGESSPIEGEL, 15. März 2008; vgl. auch Huber, Joachim: Deutschlands Migrantenstadl. DER TAGESSPIEGEL, 12. Mai 2009.

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Perspektiven finden insofern eine Entsprechung in den inhaltlichen Angeboten, als dort im arabischen Format eben auch keine künstlerischen Artikulationen ausgiebig der Lächerlichkeit preisgegeben werden und die Leistungsorientierung eine weit größere Bedeutung bekommt. 4.1.3 Zwischenfazit: »Globale Spiele, lokale Siege«? Multidimensionale Glokalisierung in Fernsehformaten In den vorausgegangenen inhaltsanalytischen Untersuchungen wurden Unterschiede und Ähnlichkeiten der fernsehästhetischen und inhaltlichen Gestaltung zweier unterschiedlicher Formate in Deutschland und der arabischen Welt herausgearbeitet. Es wurde davon ausgegangen, dass sich auf diese Weise Dimensionen lokaler Kreativität in den Adaptionsprozessen finden lassen. Um den Bedeutungstransfer im Formathandel und die Herausbildung transkultureller Muster an den besprochenen Fallbeispielen beurteilen zu können, müssen drei Teilfragen beantwortet werden: Erstens ist zu fragen, ob die adaptiven Eingriffe eine bedeutungsverändernde Wirkung auf der Inhaltsebene haben, zweitens, in welchem Verhältnis die kreative Standardisierung und Adaption steht sowie drittens, wie die Deutungsangebote mitden gesellschaftlichen Referenzsystemen wechselwirken, in denen die Formatvarianten ausgestrahlt werden. Aus den Ergebnissen beider Formatanalysen können zusammenfassend Muster der grenzüberschreitenden Unterhaltungskommunikation abgleitet werden, die sich in der folgenden Zusammenführung an den theoretischen Vorüberlegungen orientieren werden: 1. Ebene der televisuellen Codes und Konventionen Die televisuellen Konventionen und damit die professionellen Codes der Bedeutungsproduktion unterliegen in beiden Formaten zu großen Teilen einer assimilativen, das heißt einer an die ursprüngliche Produktion angepassten Adaptionspraxis. Da die filmische Ausstattung (Schnitt, Ton, Visualisierung, Montage) der Formate vor allem den Konventionen der zugrundeliegenden britischen und US-amerikanischen Unterhaltungsproduktionen entstammt, lässt sich hier eine Ebene westlich geprägter Transkulturalität erkennen. Marginale Unterschiede in der filmischen Dynamik und ästhetischen Gestaltung der Versionen von MILLIONÄR erscheinen dabei eher als Professionalisierungsunterschiede und beziehen sich eher auf die Umsetzung denn die grundlegende Anlage der Gestaltung. Insgesamt wurde gezeigt, dass die audiovisuellen Charakteristika ihre Referenzen in der Film- und Showästhetik Hollywoods (MILLIONÄR) haben. Diese Einschätzung muss ebenso für das Format GOT TALENT gelten, da die Variety-Show ebenfalls ihren Ursprung im US-amerikanischen Fernsehen hat.716 Ob die Übernahme der ästhetischen Stilmittel beider Sen716 Engell, Lorenz (2012): Fernsehtheorie zur Einführung, S. 48.

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dungen in die jeweiligen Fernsehlandschaften allerdings als eine Standardisierung und Transformation durch den Formathandel verstanden werden kann, muss zumindest theoretisch angezweifelt werden. So hat Straubhaar auf die Möglichkeiten einer kulturellen Vertrautheit zweiter Instanz aufmerksam gemacht, die aufgrund der Zirkulation von Hollywoodfilmen und US-Serien entstanden und der Etablierung lokaler Fernsehproduktionen häufig vorausgegangen sei (vgl. Kapitel 2.2.5). Wenn also entsprechend der Analyse davon ausgegangen wird, dass die televisuellen Konventionen deutlich von einer wiedererkennbaren kulturellen Symbolik des US-amerikanischen Films oder des westlichen Revuetheaters inspiriert ist, dann würde der Formattransfer lediglich bereits bestehende Sehgewohnheiten reproduzieren. Nicht die ursprünglichen Fernsehformate wären dann prägend, sondern übergeordnete intentionale Hybridisierungsprozesse hätten bereits mit zunehmender assimilativer Wirkung stattgefunden und würden im Zuge des Formattransfers eher konsolidiert. Es gilt daher, die Einschätzung von Akteuren auf Produktionsseite zu Prozessen der Veränderung lokaler televisueller Konventionen einzubeziehen, um diese Fragen zu beantworten (vgl. Kapitel 4.3). Ebenso wird auch die Vertrautheit der Rezipienten mit den Konventionen der Sendungen in den Gruppendiskussionen erfasst (vgl. Kapitel 4.2). Zwar lässt sich insgesamt argumentieren, dass eine Integration lokalspezifischer audiovisueller und filmischer Repertoires nicht primär auf der Ebene der ästhetischen Kodierung der Sendungen stattfindet – allerdings hat die Inhaltsanalyse auch ergeben, dass selbst marginale Veränderungen einzelner filmischer Bestandteile inhaltliche Deutungsangebote und Rahmenerzählungen beeinflussen können. Die visuelle Integration des Saalpublikums oder die filmische Inszenierung des Moderators bei MILLIONÄR unterstützen beispielsweise die Gestaltung der Akteursrollen. Während das Quizformat aufgrund der abgeschlossenen Studiosituation und der Spielregeln eine relativ geschlossene Vorlage liefert, sind die kreativen Adaptionsmöglichkeiten bei GOT TALENT größer. Da das Castingformat verschiedene Handlungsorte integriert, also nicht auf ein Studio reduziert ist, und darüber hinaus aus mehreren Sendungsteilen besteht, ergeben sich weitaus mehr Spielräume in der Inszenierung der verschiedenen Inhaltsebenen und Wettbewerbssequenzen. Diese Möglichkeiten wurden auch genutzt, was am Beispiel des unterschiedlichen Settings deutlich wurde. Allerdings sind Varianzen der Visualisierung des Settings nicht einfach autonome kulturelle Modifikationen – sie müssen im Kontext des gesamten Deutungsangebots der Sendungen interpretiert werden. Das heißt zusammengefasst, dass eine hohe visuelle Wiedererkennbarkeit (filmisch, audiovisuell) noch kein Anzeichen für eine inhaltliche Standardisierung ist. Umgekehrt muss aber ebenso geprüft werden, ob die Integration lokaler Elemente – die Inszenierung von Beirut oder Köln sowie die Inszenierung der Bühne (Setting) –, die lokale Differenz stiftet, auch gleichzeitig eine inhaltliche Differenz erzeugt.

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Eine Betrachtung der genannten televisuellen Konventionen unter genre-spezifischen Gesichtspunkten bietet die Möglichkeit einer typologischen Interpretation der beiden Sendungen. Beide Formate gehören zunächst zur Quiz- beziehungsweise Talentshow. Der lokale Umgang mit den genre-prägenden Elementen variiert jedoch so sehr, dass die Formatversionen einen je unterschiedlichen Charakter entwickeln. Denn in beiden deutschen Formatversionen werden die zugrunde liegenden GenreKonventionen stärker variiert als in den arabischen Versionen. WER WIRD MILLIONÄR integriert mehr Gesprächsanteile und damit deutlich mehr Elemente der Talkshow; DAS SUPERTALENT wiederum nimmt Elemente aus komödiantischen Genres auf. Hier zeigt sich, dass die Sendungen auch im Kontext lokaler Genre-Entwicklungen eingeordnet werden müssen, die ihrerseits lokalen Adaptions- und Hybridisierungsprozessen unterliegen können. Daraus wird ersichtlich, dass die Formatadaptionen nicht ohne Einbezug ihrer intertextuellen lokalen Referenzen, die sich aus Entwicklungen der betreffenden Mediensysteme ergeben, interpretiert werden können. Denn es steht zu vermuten, dass sowohl die Geschichte der ausstrahlenden Sender, die Geschichte des Genres und Vergleichsangebote im lokalen Fernsehen einen Einfluss auf die konkrete Erscheinung der Formatvarianten haben. So existieren beispielsweise beide Formate weitaus länger im deutschen Fernsehen als es die arabischen Versionen tun, was eine Erklärung für konzeptuelle und filmische Veränderungen sein kann. Die Herleitung dieser Zusammenhänge wird daher in der folgenden Untersuchung der Produktionskontexte aufgegriffen (vgl. Kapitel 4.3). Die Berücksichtigung der Entstehungsfaktoren und -situationen zeigt, dass deklarierte kulturelle Unterschiede eher Kontextunterschiede sein können, wobei Kontext nicht gleichzusetzen ist mit Kultur, da systemische Rahmenbedingungen und Anforderungen nicht mit den kulturellen Codes der Lebenswelt harmonieren müssen. Illustrieren lässt sich dies an der Programmierung der Sendungen, die eine weitere formale Analyseeinheit der Formatunterschiede darstellt. Konkret bezieht sich die Überlegung auf Unterschiede in der Serialität717 der beiden Formate. Die Struktur von WER WIRD MILLIONÄR folgt einer seriellen und offenen Narration, da das Spiel eines Kandidaten nicht innerhalb einer Sendung abgeschlossen sein muss, sondern sich auch über mehrere Sendungen erstrecken kann. Diese serielle Erzählung ähnelt dem Aufbau fiktionaler Serien, deren unterschiedliche Handlungsstränge sich meist über mehrere Episoden erstrecken. Die Serialität des arabischen Formats hingegen ist nicht Episoden-übergreifend, sondern beschränkt sich auf die 717 Im Rahmen methodologischer Diskussionen um die Fernsehanalyse ist die Serialität von Fernsehprogrammen ein umstrittener Punkt. Während die einen argumentieren, dass einzelne Fernsehsendungen nur als Bestandteile des gesamten Fernsehprogramms erklärbar werden, bezweifeln andere, dass eine nicht isolierte Betrachtung von Sendungen sinnvoll ist, da die möglichen Narrationen des Publikums aus unterschiedlichen individuell gewählten Programmsegmenten entstehen und sich kaum extrahieren lassen.

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fortlaufende Ausstrahlung der Episoden einer Staffel. Die Themenschwerpunkte der einzelnen Episoden, die sich auf den Beruf der Kandidaten beziehen, begünstigen diese geschlossene Narration. Das SUPERALENT hingegen folgt einer offenen Struktur, da insbesondere der erste Casting-Teil keine fortlaufende Narration des Wettbewerbs etabliert; ARABS GOT TALENT aber entwickelt eine geschlossene Erzählung des Wettbewerbs. An dieser Stelle wird deutlich, dass die Erzählstruktur, die durch die Programmierung unterstützt wird, nicht unbedingt übergreifenden lokalen Mustern folgen muss. Im innergesellschaftlichen Vergleich der beiden Sendungsadaption zeigt sich, dass sich die Form der Erzählung nicht über beide lokale Varianten erstreckt und auch hier Vorsicht geboten ist, diese als kulturelle Differenzen zu deklarieren. 2. Ebene der Figuren Während die inhaltsanalytische Untersuchung der filmischen Spezifika, der genreprägenden Elemente und der Serialität und Programmierung vor allem auf die professionellen Konventionen abzielte, ist davon auszugehen, dass in der Figureninszenierung und dem Figurenhandeln weitaus mehr kulturelle Kodierungen zu finden sind. Eine sichtbare und wohl auch entscheidende Dimension lokaler Adaptionen ist der Austausch des Personals der Sendungen – lokale Moderatoren, Jurymitglieder, Kandidaten und Zuschauer inkorporieren Muster von Praktiken in ihren kulturellen Referenzsystemen. Sprache, Habitus, Erfahrungswissen und selbst die äußerliche Erscheinung der Figuren stellen somit die wichtigsten Elemente einer kulturellen Nähe dar. Auf der Figurenebene findet sich damit theoretisch das größte lokale Identifikationsangebot der Sendungen. Die lokalen Akteure beschreiben zugleich die Ebene der nicht-intentionalen Hybridisierung des Formattransfers. Da inszenatorische Eingriffe einen Handlungsrahmen für die Akteure setzen und mediale Funktionsrollen vorgeben, handelt es sich dann sowohl um eine Fremd- als auch eine Selbstrepräsentation der Akteure. Gerade die Privatpersonen bringen unweigerlich ihre alltagsweltlichen Erfahrungen und kommunikativen Handlungsmuster in die Sendungen ein. Dadurch stellen sie den größten Bezug zum jeweiligen gesellschaftlichen Kontext her. Vor allem im Format GOT TALENT werden Bestandteile des Realitätsfernsehens integriert, wenn Bilder oder Ausschnitte die Teilnehmer in ihren privaten sozialen Kontexten zeigen. Schließlich verfolgen die meisten Teilnehmer der Sendungen auch ein außermediales Ziel mit ihrem Spiel. Die Analyse konnte nun an dieser Stelle zeigen, dass sowohl der Umfang als auch die Art und Weise der Personendarstellung und -handlung variieren. Während bei WER WIRD MILLIONÄR die Teilnehmer stärker als Individualcharaktere in den Vordergrund rücken und ihre Alltagserfahrung preisgeben, erscheinen die arabischen Teilnehmer eher als typisierte Repräsentanten sozialer Gruppen. Diese ausgeprägte Individualisierung von Kandidaten in der deutschen Produktion ist auch als Muster in der anderen Formatvariante erkennbar. Auch in DAS SUPERTALENT

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wird mehr Wert auf den biographischen Hintergrund der Kandidaten gelegt. Die Sendung wird also zur Plattform pluraler individueller Ausdrucksformen, die nicht allein auf Talent basieren; sie ist somit ein postmodernes Varieté heterogener Selbstrepräsentation. Auch wenn die grundlegende Struktur der Kandidatenpräsentation in ARABS GOT TALENT aufrechterhalten wird, fällt die Emotionalisierung und Privatisierung der Kandidaten weniger umfangreich aus und die Dimension des Talentwettbewerbs wird stärker betont. So stehen die Teilnehmer hier ähnlich wie die Kandidaten von MAN SAYARBAH AL-MALYOON Spielleitern gegenüber, die Autorität besitzen und hierarchische Strukturen der Leistungsbewertung etablieren. Das heißt nicht, dass Kandidaten und Rezipienten diese Evaluationssysteme auch unterschiedlich wahrnehmen, aber die Figurenkonstellationen stellen sich zunächst auf der Repräsentationsebene der Formatversionen inhaltsanalytisch so dar. Damit sind mehr Brechungen von Rollenmustern in den deutschen Formatvarianten vorhanden: der Moderator in WER WIRD MILLIONÄR agiert facettenreicher und bricht durch seine spielerischen Einlagen mit der Rolle des lehrerhaften Spielleiters, die Quizteilnehmer werden zu individuellen Gesprächspartnern, die Jurymitglieder in DAS SUPERTALENT agieren in ihrer Rolle als Stars und die Kandidaten nutzen variierende Motive der Selbstrepräsentation bis zu dem Ausmaß, in dem eine künstlerische Artikulation in Vergessenheit zu geraten scheint. Im Vergleich weisen die Rollenmuster der Akteure in den arabischen Formatvarianten weniger Varianzen auf. Diese Beobachtung darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch hier die Formate Individualisierungstendenzen in den Fernsehangeboten aufzeigen, indem heterogene gesellschaftliche Akteure als Privatpersonen öffentlich in Erscheinung treten und sich, insbesondere in ARABS GOT TALENT, individuell artikulieren können. Allein der Grad der Individualisierung ist geringer einzustufen. Gleichwohl ist die Lokalisierung auf der Figurenebene deutlich sichtbar und integraler Bestandteil der Adaptionspraxis. 3. Ebene des Inhalts (Narrations- und Deutungsangebote) Deutliche Unterschiede zwischen den Formatvarianten ergaben sich sowohl in Hinblick auf die spielinternen Inhalte als auch auf die Rahmenerzählungen, in die die Spiele beziehungsweise Wettbewerbe eingebettet sind. Diesbezüglich lassen sich aus dem Vergleich der Unterschiede beider Formatadaptionen relativ stabile Muster in den deutschen und arabischen Versionen ableiten. So dominiert in beiden deutschen Varianten eine boulevardeske Darstellung und damit eine stärkere Unterhaltungsorientierung gegenüber den arabischen Formaten. In beiden deutschen Formatversionen verlagern sich die kommunizierten Inhalte auf eine alltagsweltliche Dimension – dies zeigte sich sowohl in den Wissensanteilen und den Gesprächsinhalten bei WER WIRD MILLIONÄR, als auch in der Individualisierung und Emotionalisierung der Figurendarstellung in DAS SUPERTALENT. Die Hervorhebung einer Ratedimension als auch die Integration von Antitalent in den Formaten untermauert

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diese Einschätzung zusätzlich. Die Kandidaten, ihre individuellen Lebenskontexte, -wünsche und Bedürfnisse abseits der eigentlich relevanten Spielkategorien »Wissen« und »Talent« werden in den Sendungen zu funktionalen Bestandteilen. Auch eine übergeordnete Bedeutung (Metabotschaft) der Sendungen kann sich durch eine solche Konzentration auf die Personen verschieben. Es geht beispielsweise in den deutschen Adaptionen nicht mehr primär darum, was die einzelne Privatperson weiß oder kann, sondern was sie durch die adäquate Form der Selbstrepräsentation kriegen kann. Das Fernsehen bietet dann nicht so sehr eine Plattform, auf der die Kenntnis gesellschaftlicher Wissensbestände verhandelt und belohnt wird, sondern eher eine Plattform für die Erfüllung individueller Wünsche durch eine Mischung aus Wissen, Glück und Spielfertigkeit. Durch die imaginierte Materialisierung des Gewinns, die im deutschen Format durch Unterhaltungen über die konkreten Wünsche der Kandidaten betont wird, entsteht mitunter eine stärkere Konsumbotschaft als im arabischen Format. Das heißt nicht, dass die Elemente nicht auch in den arabischen Versionen aufgegriffen werden, wohl aber in abgeschwächter Form. Unterschiedliche Individualisierungstendenzen und Alltagsorientierungen in den Repräsentationsstrategien der Unterhaltungsangebote beider untersuchter Kontexte lassen sich somit als eine übergeordnete Differenz von Inhalt und Figurenrollen herauslesen. Die Evaluation des individuellen Bildungskapitals und des individuellen künstlerischen Talents wird in der deutschen Version stärker vor dem Hintergrund der alltagsweltlichen Situation der Kandidaten vorgenommen. In beiden arabischen Formaten aber wird den beiden Kategorien noch mehr Bedeutung beigemessen, wie auf den vorangegangenen Seiten argumentiert wurde. Diejenigen, die dies evaluieren, agieren offensichtlicher in ihrer Rolle als Lehrer oder Experte. Zugespitzt: Während es in den arabischen Sendungen tatsächlich darum zu gehen scheint, Menschen im Hinblick auf einen gesellschaftlich-kulturell vorgegebenen Wissens- und Talentbegriff zu belohnen, so scheint dieser Anspruch in den deutschen Adaptionen zunehmend für ein Unterhaltungsprinzip aufgegeben zu werden. Damit wiederum ändert sich aber auch die grundsätzliche funktionale Bedeutung der Fernsehsendungen in den gesellschaftlichen Referenzsystemen. So werden Traditionslinien gesellschaftlicher Wissensdiskurse in unterschiedlichem Maße aufgegriffen und weitergeführt, die öffentliche Wertschätzung von Talent gestaltet sich ebenso different. Lokale Differenzen ergaben sich schließlich auch auf der Ebene der spielinternen Inhalte aus der Analyse der konkreten Wissensbestände und künstlerischen Ausdrucksformen. Ähnlichkeiten aber ließen sich in den Mustern der Darstellung dieser Inhalte finden. Dies betraf den Modus der Abfrage eines kontingenten lexikalischen Wissens im Falle von MILLIONÄR und die grenzüberschreitende Anschlussfähigkeit der künstlerischen Ausdrucksformen bei GOT TALENT. Interessant ist dabei ein Vergleich der beiden arabischen Adaptionen. Während in MAN SAYARBAH AL-MALYOON auf ein historisches Erbe und das kulturelle Gedächtnis der arabi-

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schen Welt Bezug genommen wird, zeigt die Formatversion ARABS GOT TALENT keine Dominanz an Referenzen zu arabischen künstlerischen Ausdrucksformen. Im letzteren Beispiel werden zu großen Anteilen weltweit anschlussfähige jugendkulturelle Ausdrucksformen integriert. Auf der Grundlage der assimilativen und hybriden Artikulationen, die Referenzen in der angloamerikanischen Popkultur finden, lässt sich sowohl für die arabische als auch die deutsche Variante argumentieren, dass die Zirkulation der Unterhaltungskonzepte hier auf der Ebene der individuellen Ausdrucksfreiheit transkulturelle Muster der Anpassung an ein anschlussfähiges popkulturelles Mainstream-Projekt sichtbar macht. 4. Ebene der gesellschaftlichen Referenzierung Die Frage nach der gesellschaftlichen Referenzierung der Sendungen kann schließlich wiederum auf zwei Ebenen verhandelt werden. Zum einen haben die Ausführungen zur gesellschaftlichen Kontextualisierung der Sendungen gezeigt, dass die öffentliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung um die Sendungen in den Referenzgesellschaften von aktuellen lokalen Diskursen und gesellschaftlichen Zusammenhängen geprägt ist. So weist zwar die Diskussion um die MILLIONÄR-Varianten durch den Themenbezug der gesellschaftlichen Relevanz von Wissen weitaus größere transkulturelle Muster auf, wird aber in je lokalen Themenorientierungen verhandelt, nämlich dem Aufrechterhalten eines arabischen Erbes oder der Qualitätssicherung deutschen Unterhaltungsfernsehens. Auch der deutsche Diskurs um die Talentshow ist um die Debatten der Qualität von Unterhaltungsfernsehen herum organisiert, der potenzielle negative Wirkungen öffentlicher Diskreditierung und voyeuristischer Tendenzen für die Gesellschaft diskutiert. Im arabischen Wissenschaftsdiskurs dominiert hingegen die eigene Interpretation der Moderne am Beispiel des neuen Realitätsfernsehens. In Bezug auf die Talentshow spiegelt sich in öffentlichen Auseinandersetzungen dann auch wieder eine Betonung der individuellen Wirkungsdimension im deutschen und der kollektiven Wirkung im arabischen Diskurs. Einmal steht die mögliche Auswirkung auf die Identitätsentwicklungen von Jugendlichen im Vordergrund, im anderen Fall die arabische Identität im Allgemeinen. Die Frage nach neuen Wahl- und Ausdrucksfreiheiten ist in der öffentlichen Kritik deutscher Talentshows weniger aktuell als in arabischen Diskussionen, wo die Wettbewerbe eine Plattform für die individuelle Artikulation bieten, die in den stärker hierarchisch und zum Teil nach wie vor autoritär geordneten Gegenwartsgesellschaften seltener ist. Auch der Auftritt von Privatpersonen im Fernsehen ist hier eine weitaus jüngere Entwicklung als in Deutschland, womit wiederum auf die unterschiedlichen Entwicklungsstadien des Unterhaltungsfernsehens verwiesen ist. Zum anderen konnte mithilfe der inhaltsanalytischen Befunde argumentiert werden, dass die Varianzen der Adaptionen auch mit den gesellschaftlichen Ist-Zuständen resonieren. Dies betraf etwa die Dimension der Individualisierung und Differenzierung von Lebensstilen und die hierarchischen Ordnungs- und Wissenssys-

»G LOKALE T EXTE «: DIE F ORMATVERSIONEN IM V ERGLEICH | 309

teme. Auf der Inhaltsebene scheinen an diesen Stellen lokale Diskurskulturen durch. Ob allerdings diese lokalen Zusammenhänge auch in lokalen Anschlussdiskursen einen Wiederhall finden, bleibt eine zentrale Frage, die im folgenden Kapitel mithilfe der Rezeptionsstudie beantwortet werden kann. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in den lokalen Formatadaptionen kreative Rekodierungen in variierenden Schwerpunktsetzungen auf der Ebene der Akteursinszenierung und der Repräsentationsmuster sichtbar werden. Hinsichtlich der transkulturellen Muster finden sich assimilative Anteile innerhalb der Rekodierung auf der Ebene der televisuellen Codes. Inhaltliche Rückbezüge auf lokal spezifische Diskurse und Praktiken sind in den Formatadaptionen von MILLIONÄR in den Fragekategorien erkennbar. Die Adaptionen beider Formate zeigen darüber hinaus Varianten in der Leistungs- und Unterhaltungsorientierung und damit auf der Ebene übergeordneter Narrations- und Deutungsangebote. Obwohl auf der Figurenebene ebenso lokale Differenzen sichtbar werden, gilt dies nur einschränkend für die Formatadaptionen von GOT TALENT, wo künstlerische Praktiken in beiden Kontexten auch hybrid assimilative Elemente anglo-amerikanischer Popkultur enthalten. Trotz der Umdeutungen, die sich auf der Grundlage der Inhaltsanalyse zeigen, darf nicht vergessen werden, dass die eigentliche Grundlage der Spiele unverändert bleibt. Es bleiben Wettbewerbe, in denen Kandidaten durch die individuelle Artikulation ihres Wissens und vermeintlichen Talents hohe Preissummen erzielen können. Es bleibt eine erzeugte Fernsehrealität nach ähnlichen Grundmustern, die durch Rivalität Unterhaltungsangebote liefert. Es sind in diesem Sinne transkulturelle Spiele. Die Sieger und Verlierer dieser Spiele aber bleiben eo ipso lokal. Es bleibt nun eine Aufgabe, Rezipienten und Produzenten der lokalen Kontexte selbst sprechen zu lassen und deren Wahrnehmung als Datengrundlage für eine weitere Analyse der grenzüberschreitenden Muster von Unterhaltungskommunikation zu nutzen.

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4.2 »L OKALE I NTERPRETEN «: D IE R EZEPTION VON U NTERHALTUNGSFORMATEN IM V ERGLEICH Im letzten Kapitel wurden strukturierte Deutungsangebote der Formatversionen durch die Analyse der televisuellen und inhaltlichen Charakteristika der Sendungen herausgearbeitet. Gemäß der theoretischen Vorüberlegungen kann jedoch nicht allein von der Analyse der Textebene auf die Bedeutung und den möglichen Bedeutungstransfer der grenzüberschreitenden Fernsehformate geschlossen werden, da die Medienangebote im Prozess der Rezeption und Aneignung auch von den lokalen Rezipienten aktiv mit Bedeutung versehen werden. Der Dekodierungsvorgang ist theoretisch von den herausgearbeiteten textuellen, situativen und dispositiven (sozio-kulturellen und individuellen) Einflussfaktoren der lokalen Subjekte beeinflusst (vgl. Kapitel 2.1.3). Außerdem wurde argumentiert, dass die Interpretation von Unterhaltungsangeboten aufgrund der Sozialität des Menschen nicht autonom durch individuelle Akteure erfolgt, sondern Bedeutungen von Fernsehangeboten im Austausch mit anderen ausgehandelt werden, so dass sich lokale Deutungsmuster vermutlich vor allem in Gruppenkontexten herausbilden. Die kulturelle Bedeutung von Fernsehformaten erschließt sich dementsprechend erst durch die Analyse der Rezeptionspraktiken des lokalen Publikums. Der gleichzeitige Bedeutungstransfer im Unterhaltungsformat in Fernsehlandschaften unterschiedlicher gesellschaftlicher Referenzsysteme kann transkulturelle Deutungsmuster in der Mediennutzung beziehungsweise -aneignung hervorbringen und nicht-intentionale Hybridisierungspraktiken sichtbar machen. Das heißt, dass im Vergleich der Interpretationen relativ homogener Alters- und Bildungskohorten in Deutschland und Ägypten nach Ähnlichkeiten und Unterschieden gesucht wird. Dabei muss auch rekonstruiert werden, inwieweit sich die kollektiven Interpretationen an textuellen Angeboten orientieren und inwieweit sie mit tiefenstrukturellen oder aktuellen Dimensionen der gesellschaftlichen Referenzsysteme, etwa Wissensordnungen oder öffentlichen Diskursen, zusammenhängen. Die folgende Ergebnisdarstellung der Deutungsmuster deutscher und ägyptischer Gruppen ist entlang dreier analytischer Ebenen gegliedert, die sich aus der theoretischen Herleitung ergeben. Erstens werden die inhaltlichen Anschlussdiskurse dargestellt. Das heißt, dass zunächst analysiert wird, welche Interpretationsmuster die Gruppen bei ihrer Auseinandersetzung mit den Sendungen entwickeln. In einem induktiven Prozess wurden differenzierende Subkategorien der Interpretation entwickelt, die in der nachfolgenden Darstellung erläutert werden. Zweitens werden im Anschluss an die rezeptionstheoretischen Arbeiten, die im Kapitel 2.1.3 diskutiert wurden, Rezeptionsmodi beziehungsweise -haltungen erschlossen, die die Gruppen gegenüber den Sendungen einnehmen. Hier steht die Frage im Zentrum,

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auf Grundlage welcher Orientierung sich die Gruppen den Sendungen zuwenden und ob hier möglicherweise prärezeptive evaluative Haltungen gegenüber den Sendungsangeboten vorhanden sind. Als Drittes wird schließlich dargestellt, auf welche Formen des Wissens die Gruppen in ihrer Auseinandersetzung mit den Formatversionen zurückgreifen. In der Analyse konnten intertextuelle, intermediale und alltagsweltliche Referenzen induktiv bestimmt werden, die im Verlauf der Diskussionen hergestellt wurden. Auf der Grundlage dieser Untersuchung wird das Verhältnis zwischen lokalen Rezipienten und den gesellschaftlichen Referenzsystemen genauer beschreibbar, was wiederum eine Grundlage für die Frage nach der kulturellen Nähe zwischen Rezipienten und Textangebot (vgl. Kapitel 2.2.5) liefert. Insgesamt orientiert sich die Darstellung an einer Verdichtung zentraler Konvergenzoder Differenzmuster der lokalen Rezeptionspraktiken, so dass im Ergebnis vor allem kulturvergleichende Typologien kollektiver Deutungsmuster herausgearbeitet werden. Dabei bleibt immer zu berücksichtigen, dass die Typologien auf Grundlage der jeweils unterschiedlichen Rezeptionsvorgänge verschiedener Formatvarianten entstanden sind und somit keine generellen kulturellen Unterschiede abbilden. Als übergeordnetes Ergebnis kann vorab zusammengefasst werden, dass die Diskursmuster der Anschlusskommunikation zum Quizformat MILLIONÄR im Vergleich der deutschen und ägyptischen Gruppen kongruenter sind als diejenigen des Castingformats GOT TALENT. Die Ergebnisdarstellung orientiert sich daher an der Dichte der Analyseergebnisse, so dass die vergleichende Einschätzung der Rezeption beider Formate zumeist die Ergebnisse des letztgenannten Formats voranstellt.718 Diese Vorbemerkung ist deshalb nötig, da es sich hier um einen dreidimensionalen Vergleich handelt. Die wichtigste Ebene bildet dabei der Vergleich der Anschlussdiskurse zu den Versionen gleicher Formate von Gruppen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Referenzsystemen. Für die Interpretation der kollektiven Lesarten ist es aber wichtig, zuvor auch die Lesarten der Gruppen innerhalb eines Referenzsystems abzugleichen, um lokale Interpretations- und Diskursmuster, die sich über alle Gruppen finden lassen, aufzuspüren. In einem weiteren Schritt ist es schließlich notwendig, Muster der Interpretation unterschiedlicher Formatversionen zu vergleichen, um Zusammenhänge zwischen Rezeption und Textangebot zu reflektieren. Erst diese drei Vergleichsperspektiven ermöglichen eine abschließende Interpretation des Zusammenhangs zwischen lokalen Adaptionen, Referenzsystemen und Lesarten.

718 Dieser Aufbau trägt auch der Datengrundlage Rechnung: So wurden für das Quizformat insgesamt acht Gruppendiskussionen durchgeführt, für die Talentshow insgesamt 16. Dieses Ungleichgewicht ist auf eine theoretische Sättigung zurückzuführen, die im ersten Format aufgrund von wiederkehrenden Deutungsmustern und einer Strukturähnlichkeit der Diskussionen früher erkennbar war.

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4.2.1 (Trans-)Kulturelle Anschlussdiskurse Durch die systematische Inhaltsanalyse wurden inhaltliche Strukturen, Repräsentations- und Erzählmuster sowie übergeordnete Bedeutungen aus den Texten herausgearbeitet. Deutung und Interpretation unterliegen bei der alltäglichen Rezeption hingegen anderen Voraussetzungen als bei der wissenschaftlichen Analyse, sie ist unsystematischer und bringt in erster Linie Alltagsverständnisse hervor. Zunächst soll daher auf die explizit artikulierten Inhalte, die »immanenten Sinngehalte«, eingegangen werden. Die Adaptionen des Formats GOT TALENT, das vom Lizenzinhaber als »one of the world’s most loved talent shows«719 angepriesen wird, bringt abweichende interpretative Aushandlungen in den Gruppen des deutschen und ägyptischen Kontextes hervor. Die Metabotschaft, also die inhaltliche Kernaussage des Formats, wird von den Gruppen in deutlich unterschiedlicher Weise entschlüsselt, wobei gleichzeitig eine relative Homogenität zwischen den Gruppen innerhalb der jeweiligen lokalen Kontexte beobachtet werden kann. Konkret wird das Format von den deutschen Teilnehmern der Gruppendiskussionen nicht als Talentshow im eigentlichen Sinne anerkannt. Die Gruppen dekodieren die deutsche Version vielmehr als eine Ironisierung beziehungsweise Pervertierung der Talentsuche. Dies lässt sich aus zahlreichen Diskussionspassagen ableiten, in denen betont wird, dass es gar nicht um die Suche nach Talenten gehe, dokumentiert sich aber auch dort, wo eine öffentliche Diffamierung von Kandidaten und eine bloße Unterhaltungsorientierung der Sendung hervorgehoben wird. In diesem Zusammenhang stellen die Diskutanten in Frage, ob die Sendung überhaupt eine inhaltliche Aussage oder Botschaft hat. Nahezu alle Teilnehmer einigen sich in den Diskussionen darauf, dass es sich lediglich um ein televisuell inszeniertes Spektakel handele, das einzig einem kommerziellen Zweck und nicht etwa der Talentsuche diene. Obwohl die ersten Impulsfragen der Diskussionen nicht auf Interpretationen, sondern vielmehr auf spontane assoziative Rekonstruktionen des Gesehenen gerichtet waren, gehen die Gruppen schnell auf die Repräsentations- und Bedeutungsebene der Sendung und nicht primär auf die eigentliche Inhaltsebene ein. Es wird also weniger der konkrete Inhalt des Ausschnitts wiedergegeben, sondern das Format wird bereits früh im Diskurs der Gruppen bewertet und eingeordnet. Die Rezipienten trennen darüber hinaus deutlich zwischen einer Sinndimension und einer Erlebnisdimension ihrer Rezeption, wobei letztere nicht Bestandteil der ersten Assoziationen ist. Die Diskussion des Unterhaltungserlebens steht der Diskussion des Sinns nach. Die folgenden Beispiele aus frühen Diskussionspassagen einer Studentengruppe, einer Gruppe von Gymnasialschülern und einer Gruppe von Realschülern

719 FremantleMedia (2013): FremantleMedia – Got Talent.

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illustrieren die genannten expliziten Deutungen, die sich in allen deutschen Gruppendiskussionen wiederfinden720: Christine:

Ja, ich finde vor allem, dass es gar nicht um das geht, was eigentlich drauf steht. Also, ich glaube, es geht ja gar nicht / Also jeder, der Dieter Bohlen kennt, weiß eigentlich auch, es geht gar nicht darum, dass man ein Supertalent entdeckt, dass da jemand berühmt wird und viel Geld verdient, sondern es geht zum einen um das Entblößen von Schwächen irgendwie auch ganz viel, auch immer um Überraschungsmomente, aber insgesamt eigentlich eher so um das Vorführen von Menschen oder um das Präsentieren von Menschen auf einer Bühne. Und was die genau machen ist eigentlich irgendwie sekundär, finde ich.

Friederike:

Ja, eigentlich nur eine Unterhaltungsshow der Attraktion, würde ich sagen. 721 ***

Stephanie:

… Vermarktung, einfach nur Vermarktung. Also es geht ja nicht darum, dass die danach groß rauskommen, da geht es auch eigentlich in gar keinen von diesen Shows darum. Es geht einfach nur darum, dass die Einschaltquoten haben, finde ich.

Nora:

… Volksverblödung … weil, das ist doch … [Alle lachen]

Stephanie:

Also so eine richtige Message hat die Sendung jetzt nicht. Weil sie einfach so

[…] eine Bandbreite hat, so eine riesige. Alle:

… nee, nee … das stimmt.

Stephanie:

Das ist halt nur Unterhaltungsindustrie. Es hat halt keinen höheren Sinn eigentlich.722 ***

Simon:

Dieter Bohlen legt schon im Vorspann den Wert auf Unterhaltung, da sieht man doch, dass das gar nicht darauf angelegt ist, dass man da ein Talent findet.

Alban: Simon:

Natürlich nicht! In den Sendungen geht es doch nur darum, dass man sich besser fühlt. So: ›ohhh, ich bin nicht so dumm wie die‹.723

Die Bedeutung ist für die Gruppen in den zitierten Passagen somit in erster Linie eine funktionale, sie liegt außerhalb des eigentlichen Inhalts in der Profitorientie-

720 Alle Namen der Teilnehmer wurden geändert. 721 D01, Studenten. 722 D02, Gymnasialschüler. 723 D09, Realschüler.

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rung der Produzenten (»Vermarktung« und »Einschaltquoten«), in sozialen Aufwertungsmöglichkeiten (»dass man sich besser fühlt«) oder in eher eskapistischen Bedürfnissen (»einfach nur eine Unterhaltungsshow«), die die Sendung in der Wahrnehmung der Gruppen befriedigt. Auch wenn die ägyptischen Gruppen ebenso die primäre Unterhaltungsfunktion der ägyptischen Formatversion als Prämisse setzen und zum Gegenstand ihrer interpretatorischen Reflexionen machen, lässt sich hier eine andere Themenorientierung in der kollektiven Dekodierung einer Kernaussage beziehungsweise Metabotschaft extrahieren. Diese lässt sich als Politisierung der Talentsuche beschreiben. Die Rezipienten aus dem ägyptischen Kontext interpretieren die Sendung im Kontrast zu den Gruppen im deutschen Kontext vor dem Hintergrund einer außermedialen interkulturellen Beziehungsebene: Die Adaption wird explizit als Reaktion auf die westlichen beziehungsweise internationalen kreativen Entwicklungen im Unterhaltungsfernsehen gewertet. Die Gruppen lesen hierin das Bestreben der arabischen Unterhaltungsindustrie, ebenso beweisen zu wollen, dass sie moderne Unterhaltung produzieren könne. In den Augen der Gruppen orientiert sich die arabische Produktion also sichtbar an einem westlichen Image. Dieses Deutungsmuster wird in unterschiedlichen Gruppen wiederum nahezu identisch artikuliert, wie die drei ausgewählten Diskussionspassagen von Studenten- und Schülergruppen verdeutlichen: Samar:

I think the program is full of talented people, but many people rather think that

Mariam:

In this clip, I haven't seen any talents. I think it is just a kind of globalization.

they are talented and they are actually not. Because we see America and France do it and we just do the same. Maybe we do that to be able to say that we have the same. Some say we are better, we have better talents. Or something like: we will show you the same. […] Samar:

… and to tell the world that Arabs have talent. But actually [laughing] … most of them do not have a talent.724 ***

Kamal:

I was just telling about the new show, it is called THE VOICE, AHLA SOUT. I mean, it is the same idea as in ARABS GOT TALENT and AMERICA’S GOT TALENT.

Hasnaa:

I guess that the idea – that we are imitating these kinds of shows from the other countries – is a very good idea and it is very good that we are coping with them and we are proving to them that we all have the same level as you. But really [I prefer] some Arabic things [in it]. […] I think it has a political message: they want to show the western world that we do have a talent.725

724 Ä04, Studentengruppe. 725 Ä11, Studentengruppe.

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Belal:

Yes, the message of this program is that Arabs have talent. Not all, but there are people who have a nice talent.

Hatim:

[…] that is what they are trying to say. That we are as good as the other peo-

Belal:

Arabs can copy!

Hatim:

Yes, Arabs can copy. [Laughter]726

ple. [Laughter] We are copying the show.

Die Beispiele verdeutlichen auch, dass in den Gruppen ebenso wenig die eigentliche inhaltliche Rekonstruktion des Wettbewerbs Bezugspunkt erster kommunizierter Assoziationen ist, sondern die Bedeutungsebene sofort außerhalb des Textangebots und vielmehr in seiner Funktion gesucht wird. Die Grundbedeutung wird zwar deutlich artikuliert, aber die Hinweise zu nonverbalen ironischen Untertönen (»laughing«) machen deutlich, dass zugleich angezweifelt wird, dass diese auch tatsächlich eingelöst wird beziehungsweise machen sich die Teilnehmer über dieses offensichtliche Deutungsangebot der Sendung lustig. Aus diesen ersten Beobachtungen folgt, dass die Gruppen unabhängig von ihrer lokalen Standortgebundenheit das gesamte Format zum Gegenstand ihrer Bedeutungszuweisung machen und die einzelnen Sendungsausschnitte nicht alleinstehend interpretiert werden. Die Metabotschaft, die die Sendung für die Gruppen hat, ist demnach der Interpretation einzelner Sequenzen oder Episoden übergeordnet. Dem entspricht auch die Tatsache, dass die Gruppen wenig direkte Nacherzählungen des gemeinsam rezipierten Episodenausschnitts liefern, sondern meistens ad hoc allgemeine Einordnungen des Formats vornehmen. Diese assoziative Verortung des Medienangebots beeinflusst jeweils die diskursive Herstellung der Gruppenmeinung im Fortgang der Diskussionen. Weiterhin zeigt sich in dieser Beobachtung auch, dass das Format nicht als narrationsbasiert wahrgenommen wird. Denn die Bedeutung, die die Sendung in den Augen der Diskussionsteilnehmer vermittelt, wird nicht aus einer inhaltlichen Narration, sondern zunächst aus den Grundprinzipien der Sendung abgeleitet. Der eigentliche Inhalt des Wettbewerbs ordnet sich dem Konzept und seinen Repräsentationsmechanismen unter. Die Talentsuche, der eigentliche Inhalt des Formats, wird somit eher zum funktionalen Vehikel denn zur Grundlage einer inhaltlichen Botschaft. Es zählt damit nicht so sehr die Spielhandlung an sich, sondern die gesellschaftliche beziehungsweise politische Aussage hinter der Reproduktion des Formats. Hier spiegelt sich sodann, was Oren in ihrer Klassifizierung zu »procedurebased formats« definiert hat. Diese seien hyper-televisuell, da sie nicht Narrationen, Charaktere oder Themen transferierten, sondern ihre grundlegende Televisualität:

726 Ä08, Gruppe von Studenten und Schülern.

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»[W]hat is transferred (or ›formatted‹) about the programs within the procedural category is precisely their televisual essence: their look (set design, logos, placement), their sound (theme, musical and audio cues), and their programmability (rules, structure, sequence, and overall meaning).«727 Interessant erscheint insofern, dass auch die Gruppendiskussionsteilnehmer eben gerade nicht in erster Linie Narrationen, Charaktere oder Themen zur Grundlage einer allgemeinen Bedeutung oder Botschaft machen, sondern eben jene Machart der Sendung und deren Bedeutung im Kontext gesellschaftlicher Referenzsysteme. Auf dieser übergeordneten Bedeutungsdimension werden dann auch die lokalen Differenzen deutlich sichtbar. Auch wenn diese grundlegende Deutung der Sendung den interpretatorischen Rahmen in den Gruppendiskussionen vorgibt, werden dennoch auch bestimmte Erzählungen aufgegriffen, die das Format anbietet. Allerdings wird auch dabei wieder hauptsächlich auf sendungsübergreifende Narrationen Bezug genommen und weniger auf einzelne Erzählsequenzen, so dass erneut Meta-Narrationen zur Grundlage der Diskussionen werden. Diese zielen vor allem auf eine Rahmenhandlung, die um die Talentsuche etabliert wird. Kontextspezifische Unterschiede lassen sich schließlich in der alltagsweltlichen Deutung ablesen, die die mediale Talentprüfung für die Kandidaten hat. So erkennen zwar die deutschen Gruppen grundsätzlich an, dass der Sendung die Erzählung zugrunde liege, dass jeder Mensch eine Chance bekommen könne, sein Talent zu präsentieren – es fällt das Stichwort des »American Dream«, der in die Narration eingeschrieben sei –, allerdings wird diese Narration eher als ein offensichtlich nicht eingelöstes Versprechen rezipiert. Die Sendung gibt demnach in der Lesart der Gruppen eher vor, ein Versprechen der Entdeckung und Wahl des besten Talents anzubieten; sie löst dieses aber letztlich nicht ein. Dies wird zum Teil sehr deutlich von den Diskussionsteilnehmern formuliert, wie etwa in der Aussage: »Ich glaube die sehr, sehr oberflächliche Message ist auf jeden Fall sehr eindeutig. Du kannst was aus dir machen. Das ist ja das Versprechen, das dahinter steht. Ich meine, man stellt relativ schnell fest, dass es das dann irgendwie doch nicht ist.«728 oder: »Ich sehe schon so dieses: ›Jeder kann es bringen‹. Aber jeder kann es auch extrem verkacken.«729 In den Diskussionen zeigt sich vielmehr, dass Inszenierungsstrategien und Dramaturgie schnell erkannt werden und die Studienteilnehmer sich eher über die Darstellungsformen und Repräsentationen erregen, die vorhersehbar und manipulativ seien und der aufmerksamkeitsgenerierenden Selbstdarstellung dienten. Dies steht ganz entschieden in Zusammenhang mit der zuvor genannten Einschätzung der Gruppen, dass in dem Format eigentlich gar keine Talente gesucht würden.

727 Oren, Tasha (2012): Reiterational Texts and Global Imagination, S. 368. 728 D01, Studentengruppe. 729 D12, Studentengruppe.

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Anders hingegen wird der »American Dream« von den ägyptischen Gruppen noch eher als eine reale Handlungsoption für die teilnehmenden Kandidaten dekodiert. Auch wenn sich in zwei Studentengruppen ebenfalls kurze Reflexionspassagen finden, in denen ähnlich wie in den deutschen Gruppen eine Botschaft der Show grundsätzlich in Frage gestellt wird, so dokumentiert sich im Diskursverlauf eine stärkere Anerkennung der Talentsuche. Die Narration, dass unentdeckte Talente gefunden und ihnen die Möglichkeit einer persönlichen Karrieresteigerung gegeben wird, wird also zumindest als zu Teilen eingelöst wahrgenommen. So eröffnet das Format in den Augen der Diskutanten durchaus Möglichkeiten eines Pluralismus kultureller Ausdrucksformen. Es wird also letztlich positiv anerkannt, dass Individualismus durch die Sendung öffentlich sichtbar wird, wie das folgende Beispiel illustriert: Noha:

I like the fact that anyone can apply for the show and anyone can just go and do whatever they want and show the people what they can do, which is a great opportunity …

Nehal:

… that they do exist.

Noha:

Yeah, … people exist, like minorities.

Nehal:

But some of them are/ like you said: you are wasting my time, you are doing nothing important.

Noha:

But what they do is that they believe in themselves.

Nehal:

They have confidence and, yes …

Noha:

Yeah, and it takes a lot of confidence to do things.

Nehal:

… in front of Millions of people and all these cameras. […]

Noha:

And it gives people opportunities. Many people succeeded after the first and second [season].730 ***

Kamal:

I think that for us it raises hopes for people who have talent. I mean, before this show was out for people watching this, I mean someone had talents and he watched AMERICA’S GOT TALENT and he wished he was on that show.

Hasnaa:

Everybody who has this talent and who is not afraid of showing it to others can come out.

Kamal:

It brings the experience to everybody.

Hasnaa:

Yes, you can come out and show it to others and see if it works or not.

Hania:

The shows meaning is to deliver to the audience that everyone has a talent … a diversity of talents. So maybe if I can draw or just play with the balls is a talent, only in a different way.731

730 Ä06, Schülergruppe. 731 Ä11, Studentengruppe.

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Trotz dieser positiven gesellschaftlichen Relevanz, die hier in der Sendung gesehen wird, sind die Diskurse immer wieder von Bezugnahmen auf den Kontext des kommerziellen Fernsehens durchwoben, so dass sich als dritte Bedeutungsdimension des Formats die Zuschreibung einer intentionalen Aussage durch die Programmmacher identifizieren lässt. Die Sinngebung findet somit in beiden lokalen Kontexten nicht ohne den Einbezug der Annahmen über den Enkodierungsprozess statt, auch wenn die Gruppen in unterschiedlicher Ausführlichkeit diese Alltagstheorien über den Produktionsprozess artikulieren. Dabei wird auch nicht immer explizit über Produzenten gesprochen, aber in den bloßen Verweisen auf Profitstreben oder Einschaltquoten sind die Akteure und Prozesse der Fernsehindustrie implizit enthalten. Zentral ist dann, dass die Gruppen in ihrer Auseinandersetzung zwischen einer Metabotschaft, die das Format für sie selbst hat und einer intentionalen Kernaussage, die das Format nach Ansicht der Gruppen in den Augen der Produzenten haben soll, unterscheiden. Das zugrundeliegende Motiv der Formatproduktion wird dabei von den Gruppen durchweg in der Profitorientierung gesehen, so dass sich hier ein transkulturelles Muster der Kritik von Prinzipien der Unterhaltungsproduktion abzeichnet. Insofern werden eher gesellschaftliche und opportunistische Absichten der Produzenten verhandelt denn deren inhaltliche Ambitionen. Das Eigeninteresse am Unterhaltungswert der Sendung und den damit verbundenen Zuschauerzahlen wird diesbezüglich mehrfach geäußert: Mariam:

They just want to have the money […], not more.

Samar:

Yes, the whole program is just for money. 732

*** Hanan:

It’s not entirely about finding a talent.

Hebatallah:

Yes!

Hagar:

It is also for entertainment and profit. 733

Zusammengefasst ergeben sich damit zunächst drei Ebenen der allgemeinen Bedeutungskonstruktion von DAS SUPERTALENT und ARABS GOT TALENT: die erste Bedeutungsdimension ist die dekodierte Metabotschaft, die zweite bezieht sich auf die dekodierte Meta-Narration und die dritte beschreibt die vermutete intentionale Kernaussage. Die Ergebnisse des Vergleichs lassen sich wie folgt verdichten:

732 Ä04, Schülergruppe. 733 Ä05, Studentengruppe.

»L OKALE I NTERPRETEN «: D IE R EZEPTION

VON

UNTERHALTUNG

IM

V ERGLEICH | 319

Tabelle 6: Dekodierung der allgemeinen Bedeutungsdimensionen von GOT TALENT lokale Deutungsrahmen

lokale Deutungsrahmen

deutscher Kontext

ägyptischer Kontext

Bedeutungsdimension 1: Metabotschaft  Ironisierung/Pervertierung der Talentsuche  Politisierung der Talentsuche  funktionale Zuschreibung reduziert auf  funktionale Zuschreibung erweitert auf Unterhaltungsorientierung politische Diskurse  Aberkennen einer immanenten  Anerkennung einer immanenten Bedeutungsdimension der Sendung Bedeutungsdimension der Sendung Bedeutungsdimension 2: Meta-Narration  »American Dream« als  »American Dream« als nicht eingelöste Meta-Narration reale Handlungsoption Bedeutungsdimension 3: Intentionale Kernaussage  Profitorientierung ohne inhaltliche Intention der Fernsehmacher

Die Aushandlung der Bedeutung von beiden Versionen des Formats MILLIONÄR ist insgesamt homogener und fällt weniger umfangreich aus als im Falle des Formats GOT TALENT. Dies mag daran liegen, dass in dem Talentformat unterschiedliche Erzähl- und Bedeutungsebenen enthalten sind. Die Quizshow wird von allen Teilnehmern der Gruppendiskussionen als typische Quizshow dekodiert, in der man – so die allgemeine Grundbedeutung – mithilfe von Wissen Geld gewinnen könne. Dabei entfalten die Diskussionsteilnehmer oft einen mehr oder weniger umfangreichen Diskurs um Wissen und dessen Stellenwert in den jeweiligen gesellschaftlichen Referenzsystemen, wie in Kapitel 4.2.1.4 noch ausführlicher dargestellt wird. Die Frage nach der gesellschaftlichen Wertschätzung von Wissen, die in der Sendung zum Ausdruck kommt, wird innerhalb der Diskurse beider Kontexte allerdings ambivalent beantwortet. Zwar sind sich die Gruppen in der Annahme einig, dass die Produzenten keinen direkten Bildungsauftrag verfolgen und damit keine eindeutige intendierte Message des Formats vorliegt. Gleichzeitig zeigt sich in diesem Zusammenhang eine medienkritische Haltung gegenüber der Profitorientierung des Fernsehens, wie sie bereits in Diskussionen über die lokalen Versionen von GOT TALENT geäußert wurden, so dass ein transkulturelles Sinnmuster in Bezug auf die Prinzipien der Fernsehunterhaltung konstatiert werden kann. In der Suche nach einer inhaltlichen Bedeutung, die die Sendung für die Gruppen selbst hat, kommen die Gruppen zu unterschiedlichen Interpretationen. Eine grundsätzliche Wertschätzung von Wissen wie auch eine deutliche Unterhaltungsorientierung wird der Sendung dabei nicht abgesprochen, aber es besteht keine Einigkeit darüber, ob die Sendung Wissen vermittle. Während dies in zwei Studentengruppen durchaus zum Konsens wird, zeigen sich andere Gruppen skeptischer, wie das folgende Beispiel zeigt:

320 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ? Stefan:

Also ich finde auch, wenn man gewisse Sachen dadurch weiß, ist es irgendwie

Frauke:

Ich glaube auch nicht, dass das eine moralische Bildungssendung sein soll.

Stefan:

Nee, nee, gar nicht … Ich sehe halt nicht so das Ziel, worauf es hinaus läuft.734

nicht, dass es einen Bildungsauftrag hätte oder sowas. […]

Die Ambivalenz einer negierten Produzentenbotschaft und der eigenen Interpretation der Sendungsbotschaft wird auch im folgenden Gespräch einer ägyptischen Diskussion deutlich, die zudem von interpretatorischen Brüchen gekennzeichnet ist. So wird zwar explizit gesagt, dass MAN SARYABAH AL-MALYOON letztlich den monetären Gewinn ins Zentrum rücke, aber in dem gleichzeitigen Verweis auf eine »smarte« und »kreative« Form der Fernsehunterhaltung wird die Ambivalenz kritischer Einordnung und positiver Bewertung deutlich. Gleichzeitig wird sowohl eine positive gesellschaftliche Bedeutung im potenziellen Vorbildcharakter der Kandidaten angesprochen als auch eine kritische Analogie zwischen dem potenziellen schnellen Gewinn der Sendung und einem gesellschaftlichen Klima, in dem der schnelle wirtschaftliche Erfolg ebenso mehr zähle als Wissen. In Halls Sinn deuten sich hier zwar ausgehandelte Lesarten an, die aber wiederum empirisch zeigen, dass die Verhandlung auf verschiedene Elemente eines Sendungsangebots gerichtet sein kann: Mahmoud:

You just can win some money. But the way of entertaining is just different.

Reem:

It is very smart.

Mahmoud:

Yes, it is smart. However, I don’t think that the main goal is a message. I think

Zeinab:

I guess it is just a creative advertisement. They make really good money to en-

the main goal is just money. tertain the people. But I don’t think that the main mission or the message of the producer … Reem:

… yes ...

Zeinab:

… is to give people more knowledge und to make them read and stuff like

Mahmoud:

Yes.

that. I guess the money comes first. Zeinab:

And the show business.

Mahmoud:

But of course, it has a message.

Reem:

But it is not the first goal to make you read or so.

Mahmoud:

But this is not so much intentional by the producer … it is mainly about knowledge. Because this guy [the candidate] appears so intellectual. He appears to have much knowledge and reads a lot. It might be an initiative for people to read more and to get more knowledge.

734 D08, Studentengruppe.

»L OKALE I NTERPRETEN «: D IE R EZEPTION

Zeinab:

VON

UNTERHALTUNG

IM

V ERGLEICH | 321

Right now everyone is like heading for business and the easier ways to get money. If you want someone to be in university […] or to have a corporation, you would go definitively to the corporation.735

Die Nähe zwischen der arabischen Quizshow und unternehmerischen Handlungspraxen wird auch in einer weiteren ägyptischen Gruppe sichtbar, die George Kordahis Erscheinung und die Ästhetik der Sendung in den Diskurs mit einbezieht. So sei es in den Aussagen der Gruppe nicht nur das Prinzip des schnellen Gewinns, sondern auch die Farbigkeit der Sendung und die Professionalität Kordahis, »this businessperson look of professionalism and facial expressions that give you the essence of: this show is about money.« 736 Im Gegensatz zu den Entertainer-Qualitäten von Jauch, die in den deutschen Gruppen durchgängig geschätzt werden, steht hier der Habitus des Moderators für einen Deutungsrahmen, der das Format in Beziehung zu allgemeinen Tendenzen einer gesellschaftlichen Kapitalorientierung setzt. Die in der Inhaltsanalyse herausgearbeitete neutrale und elegante Lehrerrolle des Moderators wird hier zur Hintergrundfolie einer Gleichsetzung des förmlichen Habitus mit Konventionen der Ökonomie. Die Ökonomie wiederum kolonisiert mit ihren Prinzipien die Alltagsorientierung der Menschen in einem ökonomisch prekären Referenzsystem, wie sich noch einmal im folgenden Gesprächsauszug zeigt: Farah:

[…] it is like we are all running for a very negative idea and this idea is like: just answer a few questions and get some money. And it is playing on the fact that there is a very high rate of unemployment. It’s not easy to get money so it is playing on that fact. It attracts people to watch because that’s what people like to do: go and get the money. Therefore, it is like, even if they are just using it or even if they do not intend to do that, it is still sending this message. 737

Eine solch deutliche Verwobenheit von Gesellschafts- und Fernsehkritik ist jedoch nicht einheitlich in den ägyptischen Gruppendiskussionen. So gibt es auch eine Gruppe mit einem älteren Familienmitglied, in deren Augen die Sendung als Form der Kulturvermittlung wahrgenommen wird und die Teilnehmer finden, dass Wissen belohnt werde. Die positive Evaluation ist hier aber auch im Zusammenhang mit einer positiven familiären Seherfahrung verknüpft, die in der gemeinsamen Diskussion aufgefrischt wird. Im Gegensatz dazu nehmen in der zuvor diskutierten Gruppe Studenten möglicherweise nicht ihre individuelle Position ein, wie die Akademiker im Familiensetting, sondern ihre institutionell zugewiesene Rolle als Studenten. Sie verweisen beispielsweise explizit auf ihren Studentenstatus und ihren 735 Ä07, Studentengruppe. 736 Ä09, Studentengruppe. 737 Ebd.

322 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ?

fachlichen Hintergrund in Politik- und Wirtschaftswissenschaften, der den gesamten Diskurs beeinflusst. In der Diskussion dokumentiert sich also gewissermaßen das Selbstverständnis der kritischen Intellektuellen beziehungsweise das gemeinschaftliche diskursive Repertoire der Studenten. Ein ähnliches Muster ist auch in einer Diskussion ägyptischer Studenten zu ARABS GOT TALENT zu finden, in der diese ihr Studium der Politikwissenschaften zur Hintergrundfolie der Interpretation der Funktion der Sendung als politisches Ablenkungsmanöver entwickeln. In Bezug auf die Kandidaten allerdings wird die zum Teil negativ gewertete gesellschaftliche Bedeutung der Sendung wieder verkehrt, indem anerkannt wird, dass die Sendung durchaus eine reale Chance auf Gewinn durch Wissen biete. So wie die Talentshow authentisch nach Talent suche, belohne die Quizshow das Wissen der Kandidaten mit Geld. Während zunächst moralisch abgewertet wurde, dass die Sendung das Streben nach »schnellem Geld« unterstütze, liefert die Fernsehrealität vor dem Hintergrund der kritisierten prekären ökonomischen Situation in Ägypten zumindest eine Möglichkeit für jene, die in existenziellen Nöten sind: »[…] it gives opportunities to people who do not have a chance, who do not have an own businesses or certain good jobs but who still have good knowledge.«738 Das Wissen der Kandidaten erfährt also trotz der Kritik am Prinzip der Sendung die Anerkennung durch die Rezipienten. Der Vergleich mit den deutschen Gruppen ergibt schließlich, dass weniger auf lokale öffentliche Diskurse beziehungsweise gesellschaftliche Analysen Bezug genommen wird und ein fernsehkritischer Deutungsrahmen bei WER WIRD MILLIONÄR ausbleibt. Die Gewinnsumme spielt unter den deutschen Teilnehmern der Diskussionen eher eine untergeordnete Rolle und es werden keine Übertragungen auf die Arbeitsmarktsituation in Deutschland geleistet. Ganz im Gegenteil finden sich sogar Diskussionssequenzen, in denen sich im konkreten Sprechakt der Diskussionsteilnehmer andeutet, dass die Gewinnstufen der Sendung nahezu zur Entwertung der jeweiligen Summe beitragen. Im folgenden Dialog zweier Schüler wird dies besonders greifbar. Obwohl davon ausgegangen werden kann, dass für Schüler, die noch keine größeren eigenen Verdienste haben, 2.000 Euro viel Kapital sein sollte, so wird der Gewinnstufe hier eindeutig ein geringerer Wert beigemessen, was die Verwendung des Wortes »erst« impliziert: Lydia:

Bei ihr [der Kandidatin] zum Beispiel – die Fragen waren ja eben voll leicht, die haben wir ja auch alle gewusst.

Julian:

Na, sie war ja auch erst bei 2.000 oder so.739

738 Ä07, Studentengruppe. 739 D03, Schülergruppe.

»L OKALE I NTERPRETEN «: D IE R EZEPTION

VON

UNTERHALTUNG

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V ERGLEICH | 323

Insgesamt zeigt sich aus analytischer Perspektive, dass auch bei der Deutung des Formats MILLIONÄR in allen Gruppen weniger das Quiz und dessen Regeln und Inhalte im Vordergrund stehen, sondern wiederum die allgemeine Bedeutung des Formats, die zwischen Unterhaltung und Wissensvermittlung liegt. Stärker als bei Diskussionen über GOT TALENT gerät dabei aber die Funktion der eigenen Partizipation am Spiel mit in den Fokus. Mehrheitlich wird in den Gruppen angesprochen, dass das Format besonders zur Prüfung des eigenen Wissens und zum sozialen Vergleich mit den Handlungen der Kandidaten diene: »Man checkt sich selber so ab.«740 Die funktionale Bedeutung von GOT TALENT bleibt bei den deutschen Gruppen auf die Unterhaltungsorientierung reduziert und wird von den ägyptischen Gruppen als Ausdruck einer Orientierung am Westen interpretiert. In beiden lokalen Kontexten hat MILLIONÄR aber zusätzlich eine individuelle funktionale Relevanz für die Rezipienten. Ein narratives Angebot wird in der Sendung nicht erkannt, was bei der Anlage der Sendung allerdings auch konsequent erscheint, da das Spiel in keine episodenübergreifende Rahmenerzählung eingebettet ist. Die folgende Tabelle führt diese Beobachtungen aus der Analyse erneut vergleichend zusammen: Tabelle 7: Dekodierung der allgemeinen Bedeutungsdimensionen der untersuchten Versionen von MILLIONÄR lokale Deutungsrahmen

lokale Deutungsrahmen

deutscher Kontext

ägyptischer Kontext

Bedeutungsdimension 1: Metabotschaft  Jeder kann durch Wissen Millionär werden oder viel Geld gewinnen  funktionale Zuschreibung: individuelle Vergleichsmöglichkeiten  Infragestellung der Existenz einer  ambivalente Bedeutung zwischen immanenten Bedeutungsdimension Kulturvermittlung und Kapitalorientieder Sendung rung Bedeutungsdimension 2: Intentionale Kernaussage  Profitorientierung ohne inhaltliche Intention der Fernsehmacher

Neben einer allgemeinen Bedeutungsdimension lassen sich aus den von den Gruppen entwickelten Gesprächen auch verschiedene inhaltliche Anschlussdiskurse extrahieren. Es handelt sich dabei also um thematische Orientierungsrahmen der Gruppendiskussionen. In Anknüpfung an die methodischen Ausführungen können diese Anschlussdiskurse aus einer inhaltlichen Strukturierung der Deutungsmuster in den Gruppendiskussionen abgeleitet werden, die über die Diskussion von konkreten Impulsfragen hinausgehen und sich als Muster über den gesamten Diskussi-

740 D11, Studentengruppe.

324 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ?

onsverlauf erstrecken. Bemerkenswert ist in Bezug auf die komparative Analyse, dass in der Anschlusskommunikation der Formatversionen in allen Gruppen vier thematische Diskurse entfaltet werden und die hier als Authentizitätsdiskurs, normativer Diskurs, Identitätsdiskurs sowie Wissensdiskurs bezeichnet werden. 4.2.1.1 Authentizitätsdiskurs Unter Authentizitätsdiskurs wird ein bestimmtes Interpretationsmuster in den Diskussionspassagen gefasst, in dem die Gruppen die Eigenwirklichkeit der Formate verhandeln. Wenngleich mit Authentizität ein Begriff gewählt ist, der einen sehr weiten Bedeutungsspielraum offenlässt, so soll er hier zum Ausdruck bringen, dass es um die »Echtheit«741 des Dargestellten in den Sendungen geht. Die Frage nach der Echtheit der Sendung wird einerseits in allen Gruppen zum Gegenstand der Diskussion und schließt andererseits an wissenschaftliche Diskurse um das performative Realitätsfernsehen an, das nach Keppler das Ineinandergreifen von Fernsehrealität und Lebensrealität meint: »Es handelt sich hier um Unterhaltungssendungen, die sich zur Bühne herausgehobener Aktionen machen, mit denen gleichwohl direkt oder konkret in die Alltagswirklichkeit der Menschen eingegriffen wird. Hier wird nicht allein Prestige oder Geld gewonnen (oder eben nicht gewonnen), was reale Lebensänderungen zur Folge haben kann, hier werden soziale Handlungen ausgeführt, die als solche bereits das alltägliche soziale Leben der Akteure verändern. […] An Sendungen wie ›Verstehen Sie Spaß?‹, ›Verzeih mir‹, ›Traumhochzeit‹ oder ›Nur die Liebe zählt‹ läßt sich dabei zeigen, daß das Fernsehen genau darin Teil der heutigen Alltagswirklichkeit der Menschen ist, daß es mit immer neuen Mitteln einen Unterschied zwischen alltäglicher und außeralltäglicher Wirklichkeit einerseits, zwischen Realität und Simulation andererseits markiert. In diesen Sendungen unterbricht das Fernsehen die Zeit des alltäglichen Lebens mit dem ausdrücklichen Ziel, die Kontinuität dieses Lebens – sei es nur für einen Augenblick, sei es auf Dauer – zu verändern [Herv. i.O.].«742

Inwiefern aber jene Differenz zwischen alltäglicher und außeralltäglicher Wirklichkeit markiert und inwiefern die alltägliche Wirklichkeit dabei nur simuliert wird, ist der theoretische Hintergrund, der hinter den Auseinandersetzungen der Gruppen liegt. Man kann sagen, dass die Gruppendiskussionen zu den Formatvarianten von GOT TALENT auf einen solchen Authentizitätsdiskurs hin orientiert sind, wenngleich sich in Deutschland und Ägypten unterschiedliche thematische Gewichtungen erkennen lassen. 741 Zu kultur- und medienwissenschaftlichen Verständnissen von Authentizität vgl. u.a. Fischer-Lichte, Erika et al. (Hg.) (2007): Inszenierung von Authentizität. 2. Aufl. Tübingen, Basel: Francke. 742 Keppler, Angela (1994): Wirklicher als die Wirklichkeit, S. 8f.

»L OKALE I NTERPRETEN «: D IE R EZEPTION

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Während die Frage der Authentizität in den deutschen Gruppendiskussionen das Thema der Inszenierung in den Mittelpunkt stellt, ist es in den ägyptischen Gruppen das Thema Imitation. Das heißt, dass in den deutschen Gruppen ein inhaltlicher Anschlussdiskurs zu DAS SUPERTALENT entwickelt wird, der von einer wiederkehrenden Thematisierung der Inszenierungsstrategien der Sendung geprägt ist. So thematisieren die Gruppen immer wieder die erkennbaren dramaturgischen Muster, denen der Aufbau der Sendung folge. Sie entschlüsseln manipulative Verfahren und sind auf die gemeinsame Aufdeckung von Konventionen und Strategien der Darstellung hin orientiert. Dazu zählen etwa emotionale Überhöhungen in der filmischen Umsetzung oder inszenatorische Strategien, die bestimmte Archetypen von CastingTeilnehmern hervorbringen, wie das Überraschungstalent von nebenan oder den Möchtegern-Star, der allein der Belustigung der Massen dient. Diese Typologien werden in allen Gruppen in ähnlicher Weise hervorgebracht. Der Grundtenor ist dabei, dass die Authentizität der Talentsuche bloßer Schein sei und das Spektakel der Talentsuche in den Fokus gerückt werde. Ein solcher übergreifender Deutungsrahmen, der den Inszenierungscharakter der Sendung zum Mittelpunkt macht, ist den Gruppen unabhängig von ihrem soziodemographischen Hintergrund, ihrem Alter oder ihrer Vertrautheit mit dem Format gemeinsam. Diese eingenommene Perspektive wird schließlich durch die Abwertung der Unterhaltungsfunktion von DAS SUPERTALENT auch normativ untermauert. Der folgende Diskussionsauszug illustriert die Deutung der Talentsuche als Pervertierung (es diene »nur der Unterhaltung« und die Teilnahme basiere allein auf einer »Mitleidsmasche«) und zeigt zugleich, wie Inszenierungsmechanismen und dramaturgische Zuspitzungen aufgegriffen werden: Maria:

Das ist ja nicht das erste Casting. Die wählen ja schon so die Leute aus und dann irgendwie so in zwei Kategorien. Einmal die, die sich so total blamieren, und dann einmal die, die wirklich was können.

Stephanie: Maria:

Genau! Aber es gibt ja selten irgendwie Leute, die so mittelgut singen können oder so, wie wir es jetzt da eben hatten. Aber die, ja so, von der Familiengeschichte her, Mitleidsmasche … ja.

Nora:

Ich meine, es dient ja eigentlich auch nur der Unterhaltung.

Maria:

Ja.

Nora:

Also, ich meine, es ist ja jetzt nicht so, dass man sagt, es geht jetzt nur darum, dass wir jetzt ein Talent hier fördern oder so.

Alle:

[zustimmend] hmm

Maria:

Ja, das ist halt so eine Mitleidsmasche, die man sofort durchschaut im Prinzip.

Anna:

Aber wie das dann im Casting sein muss: ›Ey, erzähl’ mal deine Geschichte, was in deinem Leben passiert ist.‹

Nora:

Ja, ja. [Lachen]

326 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ? Maria:

Ja, da musst du dir doch irgendwas zusammenreimen, sonst hast du doch echt keine Chance, da reinzukommen. [Alle lachen]

Maria: Nora:

[nachahmend] ›Hach, meine Mutter ist gestorben, als ich drei war.‹ Ja, dann kommt immer so [ironisch]: ›meine Eltern haben sich scheiden lassen, das ist ja so schrecklich.‹

Maria:

Hach.

Nora:

Das man sowas dann so …

Stephanie:

Na, die puschen das natürlich dann auch.

Nora:

Das find ich dann so [schüttelt Kopf] […]

Anna:

Ich finde, es gibt da auch immer so Geschichten. Jetzt zum Beispiel bei diesem, der gewonnen hat, der mit der Panflöte mit seiner Familie, die ganz weit weg wohnt. Dass die die Mutter dann gleich eingeflogen haben, das haben die ja eigentlich auch nur gemacht, damit sie so schönes Filmmaterial haben so. Emotional. […]

Maria:

Aber das ist immer so ein totaler Zusammenschnitt finde ich. Also, wenn sie jetzt irgend so jemanden aus dem Publikum zeigen und irgendwelche Emotionen jetzt dem Publikum vermitteln wollen, ja dann suchen sie immer ganz genau eine Person aus, die halt irgendwas ganz Extremes macht, irgendwie aufsteht oder den ausbuht …

Nora:

Jaja genau. Die müssen sich doch auch irgendwie immer umziehen, damit sie so tun können als wären das unterschiedliche Tage. Das habe ich auch schon mal gehört.743

In den Aushandlungen zeigt sich, wie Annahmen über die Produktionszusammenhänge artikuliert werden. Durch die Interaktion der Teilnehmerinnen, die jeweils aus ihrem Erfahrungshintergrund weitere Beispiele und Eindrücke anfügen und diese auch ironisch abwerten, wird der Deutungsrahmen manipulativer Inszenierungsstrategien immer weiterentwickelt, bestätigt und zunehmend manifestiert. Aber auch in unpräziseren Formulierungen einer Erregung über das unauthentische Erscheinen der Sendung drückt sich eine Authentizitäts-Deutung aus. Der immanente Gehalt der Äußerung bezieht sich dann zwar auf die rekonstruierte emotionale Reaktion auf die Inszenierungsmechanismen, aber auch darüber dokumentiert sich eine Orientierung auf die vermeintliche Echtheit der inszenierten Fernsehrealität, die abgewertet wird: Hendrik:

So ähnlich ist das auch mit den Sendungen. Wenn man weiß, dass das eigentlich nur Scheiße ist, dann / ich fang da an richtig hibbelig zu werden, ich zerpflück das alles und … /

743 D02, Gymnasialschülergruppe.

»L OKALE I NTERPRETEN «: D IE R EZEPTION

Mark:

VON

UNTERHALTUNG

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Ich fühl mich eigentlich die ganze Zeit meistens so richtig verarscht. Zum Beispiel, also […] dann ist das ja richtig offensichtlich, dass das gestellt ist und ist richtig nur Verarsche.

Julian:

Naja.

Mark:

Und ich finde halt bei SUPERTALENT und DSDS ist das praktisch auch so ein bisschen Verarsche, von wegen gestellt und nicht so ganz richtig und alles und eigentlich nur so ein bisschen, um Leute fertig zu machen und bloß professioneller. Da sieht man es nicht gleich sofort, dass es die totale Verarsche ist.744

Dieses Diskursmuster wird auch dann deutlich, wenn Zweifel an der Authentizität der Akteure artikuliert werden. Beispielsweise wird angenommen, dass die Kandidaten nicht als authentische Subjekte vor die Kamera treten, so wie es die Sendung vorgibt. Mehrfach wird in den Diskussionen aufgegriffen, dass die Kandidaten inszeniert erscheinen und es wird darüber spekuliert, ob diese Schauspieler sein könnten. Insofern werden die Kandidaten der Castingshow hier gerade nicht als freie Subjekte angesehen, die sich einer leistungsorientierten öffentlichen Evaluation unterziehen. Vielmehr werden die Kandidaten als unmündige und manipulierte Figuren eines Schauspiels wahrgenommen, das nicht nach Talenten, sondern nach Typen mit Geschichten suche. In diesem Zusammenhang steht ebenfalls, dass auch sowohl das Handeln der Jurymitglieder entlang inszenierter Rollenmuster dechiffriert als auch das Saalpublikum als hochgradig manipuliert und inszeniert wahrgenommen wird. Mehrere Gruppen tauschen gerade bezüglich des Saalpublikums ihre Kenntnis über die Anweisungen von Stimmungsmachern während der Aufzeichnung aus, die das Verhalten dirigiere, das zusätzlich durch die Schnitttechnik manipuliert werde, wie etwa in der Aussage einer Teilnehmerin deutlich wird: »Ich hab mal gehört, dass die […] da auch mit Schildern so langrennen, also das Fernsehen. […] die kriegen auch Anweisungen dafür.«745 Somit wird allen Akteuren Authentizität aufgrund von Manipulations- und Inszenierungseingriffen abgesprochen. Die Talentsuche wird als eine Simulation dekodiert. Diese Beobachtung entspricht auch Forschungsergebnissen von Annette Hill, die ebenso festgestellt hat, dass das Publikum von Realitätsfernsehen Zweifel an der Authentizität des scheinbaren Abbilds von Wirklichkeitsausschnitten hege. Dieser Zweifel werde dann aber zum Unterhaltungspotenzial des Realitätsfernsehens: »The potential for gossip, opinion and conjecture is far greater when watching reality gameshows because this hybrid format openly invites viewers to decide not just who wins or loses, but who is true or false in the documentary/game environment.«746 744 D07, Realschulgruppe. 745 D02, Gymnasialschülergruppe. 746 Hill, Annette (2005): Reality TV, S. 70.

328 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ?

Wahr oder falsch kann das Handeln der Akteure sein, ebenso aber die Akteure selbst. Ausgehandelt werden sodann eben keine gesellschaftlichen Bewertungsmaßstäbe für künstlerisches Talent und Leistung, eine Funktion, die in anderen Studien ähnlichen Castingformaten zugeschrieben wird.747 Es geht den Teilnehmern der hier durchgeführten Studie demgegenüber um eine medienkompetente Beurteilung des Wahrheitsgehalts der Castingshow. Tatsächlich scheint es in den Diskussionen nahezu ein Vergnügen zu sein, über die Echtheit der Kandidaten und die manipulativen Produktionsstrategien zu spekulieren. Der performative Charakter der Sendung wird dadurch allerdings nicht gänzlich abgesprochen – er wird nur in einem anderen Zusammenhang verhandelt. So wird häufig thematisiert, dass Castingsendungen nur selten wirklich karriereförderlich seien, dass aber die öffentliche Blamage durchaus mögliche lebensweltliche Konsequenzen für die Teilnehmer haben kann. Hierin sehen die Diskutanten das eigentliche Residuum von Authentizität und damit eines performativen Wirklichkeitsprinzips verortet. In der Wahrnehmung der Rezipienten unterliegt somit zwar das soziale Figurenhandeln innerhalb der Sendung den Inszenierungsstrategien, gleichwohl aber bleiben televisuelles Spiel und Alltagswelt unauflöslich miteinander verbunden. Im folgenden Beispiel lassen sich beide Beobachtungen noch einmal ablesen: Einerseits sind es die Produktionsbedingungen, die Kandidaten gezielt abwertend darstellen. Selbst beleidigende Begrifflichkeiten stehen hier eher symbolisch für den Inszenierungsstil, wie zu Beginn der Passage erklärt wird. Andererseits wird trotz der Spekulationen über manipulative Entlohnungen für eine solche Darstellungsweise über realweltliche Konsequenzen der Subjekte diskutiert. Insofern also keine eindeutige Sicherheit über Authentizität oder Spiel besteht, bleibt eine grundlegende Empathie aufrecht erhalten: Julian:

Ich meine, komm, nimm mal diese zwei männlichen Weiber, die nun mal nicht gut klangen, aber die wurden halt auch schon sofort so dargestellt, wie die letzten ›Behindis‹.

Maria: Julian:

›Behindis‹ [Lachen]. Das kann man wirklich nicht anders aussprechen, weil das wurde wirklich so dargestellt, wie wenn man das so dreist ausspricht.

Mark: Julian:

Und wenn du die morgen so auf der Straße triffst. Ich meine, das grenzt dann an Volksverhetzung. Dann triffst du die da auf der Straße und da sag ich: ›hehehe, ihr seid voll die Lappen.‹ Die werden doch hundertprozentig so behandelt.

Maria:

Rufmord eigentlich, oder nicht?

Toni:

Vor allem, wenn die jetzt … /

747 Vgl. bspw. Klaus, Elisabeth; O’Connor, Barbara (2010): Aushandlungsprozesse im Alltag.

»L OKALE I NTERPRETEN «: D IE R EZEPTION

Hendrik: Maria:

VON

UNTERHALTUNG

IM

V ERGLEICH | 329

Ja, Rufmord. Ja aber wenn die sich da anmelden, dann weiß man doch, dass/ man kennt doch die Sendung und dann weiß man doch auch, wie die Leute darauf reagieren.

Samira:

Ja.

Toni:

Ja.

Hendrik:

Ja, weil sie kriegen ja Geld wahrscheinlich dafür.

Maria:

Ja, und dann sollen irgendwelche Familienmitglieder mal so eben die Wahrheit sagen. [Lachen]

Toni:

Stell dir mal vor, du bist jetzt der Arbeitgeber von den zwei Frauen, würdest du die/ ich würde die nicht mehr behalten. […]748

Im Kontrast dazu, erkennen die ägyptischen Gruppen an, dass die Sendung auch auf positive Weise Einfluss auf die außermediale Realität der Kandidaten nehmen kann. Auch wenn sich die Gruppen in der Bewertung der präsentierten Talente unterscheiden,749 interpretieren sie die Sendung durchaus als eine Bühne, auf der sich reale Subjekte künstlerisch ausdrücken und präsentieren können und sich so eine Chance auf eine Karriere erarbeiten. Während aber die Kandidaten als durchaus authentischer und mündiger betrachtet werden, sprechen die ägyptischen Gruppen dem Format an sich auch Authentizität ab, indem sie durchweg auf eine Deutung der Sendung als Imitation hin orientiert sind. Die Sendung wird von allen Gruppen im ägyptischen Kontext als Reproduktion von westlichen Konventionen der Unterhaltungsproduktion angesehen. Sie verliert also Authentizität in dem Sinne, da sie eine Nachahmung ist. In diesem Zusammenhang werden dann auch die Figuren als unauthentisch eingeordnet. So verweisen einige der ägyptischen Gruppen auf Kandidaten, die in ihren Augen Darbietungen aus der US-amerikanischen Version imitieren und auch die Jurymitglieder werden von nahezu allen ägyptischen Diskussionsteilnehmern als Spiegelungen der britischen oder US-amerikanischen Charaktere gelesen. Konkrete Vergleiche mit den westlichen Pendants dienen hier der Untermauerung. Insbesondere zwischen Ali Jaber und Simon Cowell, dem Jurymitglied aus AMERICA’S GOT TALENT, sehen die 748 D07, Realschülergruppe. 749 Die Meinungsführerinnen zweier Gruppen von Studenten der Cairo University geben bspw. leicht entgegengesetzte Deutungen vor. Während eine gleich mit ihrem ersten Kommentar deutlich macht, dass Kandidaten keine besonderen Talente präsentieren, ist eine andere noch während der Rezeption von manchen Talenten begeistert. Beide Wertungen setzen sich dann in der Diskussion immer wieder als Orientierung durch. Letztere Gruppe ist allerdings mit dem Format und dessen westlichen Versionen besser vertraut, so dass sich die Begeisterung auch aus der Kenntnis von mehr, in der Regel guten, Finalteilnehmern erklären lässt.

330 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ?

Gruppen eine Ähnlichkeit oder zwischen Najwa Karam und Paula Abdul.750 Somit ist die dominante Deutung in den ägyptischen Gruppen zwar ebenso auf die Frage der Authentizität gerichtet, allerdings in einem anderen Zusammenhang. Denn während in den deutschen Gruppen in den Diskussionen um die Echtheit von Sendung und Kandidaten Authentizität als soziale Kategorie erscheint, wird sie in den ägyptischen Gruppen im Zusammenhang mit dem Thema der Imitation als eine kulturelle Kategorie verhandelt. Im Anschlussdiskurs der deutschen Jugendlichen wird danach gefragt, ob die Fernsehrealität überhaupt mit einem außermedialen sozialen Referenzsystem in Verbindung steht. Die ägyptischen Jugendlichen aber diskutieren darüber, inwieweit die Fernsehrealität mit »ihrem« lokalen Referenzsystem zusammenhängt. Die folgenden Beispiele illustrieren nun die nahezu identischen Lesarten von Teilnehmern dreier verschiedener ägyptischer Gruppendiskussionen: Sherif:

[...] The production, the quality, the people who are judging, it is just an exaggerated idea of AMERICA’S GOT TALENT. They are trying to imitate the style instead of having their own style. But it is still pretty to see the different people, because there are pretty talented people.751 ***

Omar:

I think it is an Arab version of AMERICA’S GOT TALENT. It is the first version of this program and it is a pure imitation of that program. It is like they want to modernize Arab media and entertainment. Maybe they should focus more on compromise. Not just imitation. If you compare it to another version like the Australian or like the Greek, you will find that/ even the title of the program is English, […] there is no difference.

Ribal:

It is like an international train. It is going around the world like no one may make its own version, actually […] But it still could be interesting, if it’s something new actually.752 ***

Kamal:

Well, it is like any other show, you know. I think it is an imitation of the American show like AMERICA’S GOT TALENT and BRITAIN’S GOT TALENT. And I

750 Simon Cowell ist der Erfinder des weltweit erfolgreichen Formats POP IDOL und war sowohl in der britischen als auch US-amerikanischen Version von GOT TALENT als Juror tätig. Paula Abdul ist eine Choreografin und Sängerin, die in der US-amerikanischen Version von AMERICAN IDOL als Jurorin tätig war. 751 Ä03, Studentengruppe. 752 Ä01, Studentengruppe.

»L OKALE I NTERPRETEN «: D IE R EZEPTION

VON

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find that the talents presented are also imitated. Because what we have seen in AMERICA’S GOT TALENT and BRITAIN’S GOT TALENT – it is just imitated.753

Anders als in den deutschen Gruppen sind die britische und US-amerikanische Version des Formats in diesen Gruppen als Vergleichsfolie in den Gruppendiskussionen präsent. Die Reproduktion wird somit klar als Übernahme westlicher Konventionen der Unterhaltungsproduktion gedeutet. Die Diskussionen in den deutschen Gruppen richten sich hingegen allgemein auf die Konventionen des Unterhaltungsfernsehens, die aber nicht genauer lokalisiert werden. Wie in den Ausführungen zu den aktualisierten Wissensrahmen noch zu sehen sein wird, stützen sie sich dabei auf zahlreiche Vergleiche mit ähnlichen Sendungen des deutschen Unterhaltungsfernsehens und leiten daraus ihr Wissen und ihre Kritik an den Inszenierungsstrategien ab. Zusammenfassend lassen sich die Teilergebnisse wie folgt darstellen: Tabelle 8: (Trans-)Kultureller Diskurs um Authentizität in der Anschlusskommunikation über GOT TALENT lokale Deutungsrahmen

lokale Deutungsrahmen

deutscher Kontext

ägyptischer Kontext

Deutungsrahmen der Authentizität der Sendung  Sendung als Inszenierung  Sendung als Imitation  Reproduktion von Konventionen der Un Reproduktion westlicher Konventionen terhaltungsproduktion der Unterhaltungsproduktion Deutungsrahmen der Authentizität der Kandidaten  Zweifel an der »Echtheit«  Zweifel an der Originalität und Professionalität  inszenierte Rollen

Deutungsrahmen der Authentizität der Jury  imitierte Rollen

Deutungsrahmen der Authentizität der Saalpublikum  manipuliertes Verhalten  marginale Bedeutung

Ganz anders wird das Format MILLIONÄR von den Gruppen beider lokaler Kontexte dekodiert. Auch wenn die Gruppen hier gelegentlich ebenso nach verborgenen Inszenierungsstrategien und Produktionskontexten fragen, so stellen sie doch die Authentizität der Akteure wie auch der Sendung kaum in Frage. MILLIONÄR ist für alle Gruppen ein Gegenbeispiel für ein sonst grelles und unauthentisches Unterhaltungsfernsehen. Dabei werden in den deutschen Gruppen etwa Castingsendungen als Vergleichsfolie genutzt. In den ägyptischen Gruppen steht die Sendung eher allgemein für eine andere, kreativere und seriösere Form der Unterhaltung. Das Format wird also als »echter« wahrgenommen, wie etwa in einem Zitat der Diskussion ei753 Ä11, Studentengruppe.

332 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ?

ner Schülergruppe explizit gesagt wird: »Wenn wir jetzt beim Thema Castingshows sind, wo andere Menschen mitmachen können und so und wo man auch Geld gewinnen kann, ist MILLIONÄR so das Echteste, weil die anderen Castingshows, die sind ja so abgestimmt.«754 In einer studentischen Gruppe wird ein ganz ähnliches Deutungsmuster entwickelt, in dem die Teilnehmer auf die weitgehenden Inszenierungsmechanismen des Unterhaltungsfernsehens hin orientiert sind, aber letztlich doch bei den Kandidaten von MILLIONÄR eine Grenze ziehen. Auch wenn mit der folgenden Aussage »meine Millionärwelt« markiert ist, dass die Sendung als inszenierter Teil der Fernsehrealität bewusst anerkannt und indirekt als quasi fiktiver Teil der eigenen Lebenswelt reflektiert wird, bestärken sich die Teilnehmer gegenseitig darin, das letzte Refugium eines Wahrheitsgehalts unangetastet zu lassen: Frauke:

Glaubst du, dass das nicht wahr ist?

Stefan:

Weiß nicht, wahrscheinlich schon. Nur, das ist halt /

Frauke:

Casten die die Kandidaten dafür auch schon? Gibt es da auch schon Laien-

Carola:

Nee. [ungläubig]

Carola:

[überlegt] (…) Oh Gott, das würde ja meine Millionärwelt erschüttern.

Frauke:

Nee, so wie in den ganzen Richtershows. Ich glaub es eigentlich nicht, oder?

Stefan:

Ich glaub es auch nicht.

Frauke:

Nee.755

schauspieler für? [entsetzt]

[Lachen]

Obwohl die Elemente des Realitätsfernsehens in der Quizshow geringer sind – es gibt keine Sequenzen, die die Kandidaten in ihrem privaten Umfeld zeigen, das emotionale Erleben der Kandidaten wird weniger thematisiert –, ist es in der Wahrnehmung der Gruppen dennoch das Format, das mehr Nähe zu den Menschen herstellt. Dies dokumentiert sich in impliziten Gesprächspassagen, in denen über die jeweiligen Kandidaten gesprochen wird, die also geeignete Anknüpfungspunkte für die Etablierung parasozialer Interaktionen sind. Darüber hinaus werden die Kandidaten als auf sich allein gestellt und ganz für sich allein verantwortlich betrachtet; ihnen wird also seitens der Rezipienten eine aktive Rolle als gesellschaftliche Subjekte zugeschrieben, was im Gegensatz zu den Kandidaten des Castingformats steht. Ein weiterer inhaltlicher Unterschied zu den Gruppendiskussionen der Formatversionen von GOT TALENT liegt in der Nachverarbeitung der Sendung, in der bei MILLIONÄR mehr auf konkrete Ausschnitte des gemeinsam rezipierten Impulsmaterials Bezug genommen wird. Dabei zeigt sich, dass das inhaltliche Angebot Ein754 D03, Schülergruppe. 755 D08, Studentengruppe.

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VON

UNTERHALTUNG

IM

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fluss auf die unterschiedlichen Deutungsmuster in den ägyptischen und deutschen Gruppen hat. So zeigt sich, dass die Gruppen im ägyptischen Kontext eine respektvolle Beziehung gegenüber dem Kandidaten im Beispielmaterial von MAN SAYARBAH AL-MALYOON aufbauen. Hier tritt ein Rentner aus Syrien auf, der auf ruhige Weise sein Spiel verfolgt und die meisten Fragen ohne größere Schwierigkeiten beantworten kann.756 Im Ausschnitt von WER WIRD MILLIONÄR hingegen treten zwei Kandidaten auf – ein Student, der nah an der Lebenswelt der Diskussionsteilnehmer ist, und eine Journalistin mittleren Alters, die ähnlich souverän im Spiel, dafür aber eloquenter und privater agiert als der arabische Kandidat. Entsprechend dieser Unterschiede auf Sendungsebene gehen die deutschen Gruppen auch mehr auf persönliche Details der Kandidaten ein. Auch wenn sich eine ägyptische Diskussionsteilnehmerin fragt, was aus dem syrischen Kandidaten angesichts des aktuellen Bürgerkriegs757 geworden sei, so wird vornehmlich Bezug auf sein Wissen genommen. Sein analytisches Denken und sein Bildungskapital werden bewertet. Aussehen, Verhalten und Gesprächsinhalte werden im Gegensatz zu den deutschen Gruppen aber nicht kommentiert. Die alltagsweltlichen Bezüge, die schon in den Sendungsversionen in unterschiedlichem Ausmaß hergestellt werden, sind also in den Gesprächssequenzen wiederzufinden, die sich jeweils umfangreicher auf die alltagsweltlichen Angebote der Gesprächspassagen mit den Kandidaten (in den deutschen Gruppen) oder auf die inhaltlichen Angebote der Wissensfragen (in den ägyptischen Gruppen) beziehen. Noch ein weiterer Unterschied der Diskussionen entspricht den inhaltsanalytischen Differenzen: Über Kordahi wird eher als Respektsperson gesprochen, Jauch wird aber auch für sein spielerisches Verhalten mit den Kandidaten kritisiert. Während der eine also Lehrer und Gastgeber bleibt, wird der andere entsprechend als Entertainer wahrgenommen. In den deutschen Gruppen erscheint der Moderator Günther Jauch sogar häufig als vertraute Person. Eine Schülergruppe nennt ihn beispielsweise »Günther« und »Günni«.758 Jauch wird sich in den Diskussionen als Privatperson und nicht als öffentliche Person zu eigen gemacht, wenn über sein Handeln und seine Eigenschaften konsensuell berichtet wird. Die ägyptischen Gruppen begegnen George Kordahi im Vergleich distanzierter und auch wertschätzender. Insofern liegt der lokale Unterschied bei diesem Format im Modus der Beziehung, die die Gruppen zwischen sich und den Akteuren der Sendung aufbauen.

756 Es handelt sich um den Kandidaten, der am Ende eine Million SAR gewinnt. Der Gewinn ist jedoch nicht Teil des gemeinsam rezipierten Ausschnitts. 757 Zum Zeitpunkt der Diskussion im September 2012 hatten sich die ursprünglich friedlichen Proteste bereits zu einem bewaffneten Konflikt ausgeweitet und die Stadt Aleppo, aus der der Kandidat kam, war zu der Zeit ein zentraler Ort des Krieges. 758 D03, Schülergruppe.

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Tabelle 9: (Trans-)Kultureller Diskurs um Authentizität in der Anschlusskommunikation über MILLIONÄR lokale Deutungsrahmen

lokale Deutungsrahmen

deutscher Kontext

ägyptischer Kontext

Deutungsrahmen der Authentizität der Sendung  Sendung ist positives Beispiel authentischer und guter Fernsehunterhaltung Deutungsrahmen der Authentizität der Kandidaten  überwiegend unterhaltungsbetonte  überwiegend respektvolle parasoziale Interaktion mit parasoziale Interaktion mit realen Subjekten realen Subjekten  Fokus auf Spielverhalten und Privatheit  Fokus auf Spielverhalten und Wissen Deutungsrahmen der Authentizität des Moderators  Modus der Vertrautheit  Modus des Respekts

4.2.1.2 Normativer Diskurs Ein zweiter Anschlussdiskurs, der sich aus den Gruppendiskussionen ableiten lässt, ist der einer moralischen Bewertung der Sendung. Das heißt, dass alle Gruppen in den selbstläufigen Gesprächspassagen nicht nur eine Bedeutung, sondern auch eine normative Einordnung dieser Bedeutung der Formate vornehmen. Ohne explizite Aufforderung verständigen sich die Gruppen über ihre Wert- und Normorientierung und üben Kritik an den Formaten. Auch wenn dieser, hier als normativ bezeichnete, Diskurs wiederum in allen Gruppen zu finden ist, lassen sich aus den Narrativen der Kritik zwei kontextspezifische Typologien herausarbeiten. Sie werden in Abhängigkeit zu den diskursiven Aushandlungen um die Inszenierung und Imitation der Sendungen entwickelt und können unter den Themen Qualität der Unterhaltung und Originalität der Unterhaltung zusammengefasst werden. Gemäß der realisierten Bedeutungen in den deutschen Gruppen wird insbesondere die gesellschaftliche Qualität von Unterhaltung zum Gegenstand der normativen Diskussionen. DAS SUPERTALENT wird als Ausdruck einer gesellschaftlichen Akzeptanz hedonistischer Prinzipien, einer Tendenz zum Voyeurismus und eines Niveau- beziehungsweise Bildungsverfalls gelesen. Die gesellschaftliche Relevanz der Sendung wird also eher im Kontext des Abbilds und der Verstärkung von gesellschaftlichen Fehlentwicklungen interpretiert. Das Format wird auch als Beispiel für ein grundsätzlich qualitätsarmes Privatfernsehen angeführt und dessen Prinzip und Akteure werden mit abwertenden Attributen belegt, die von »niveaulos« über »totalen Schwachsinn« bis hin zu »der letzte Scheiß«759 reichen. Die Gruppen distanzieren sich von den Inszenierungsstrategien, die Kandidaten etwa öffentlich bloßstellen. Die Orientierung eines normativen Konsenses zeigt sich auch in For-

759 Insbesondere in den Schülergruppen D02, D07.

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mulierungen, die anstelle der Inszenierung Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit der Talentförderung einfordern: Anton:

Wenn das ernsthafter und echter wäre, dann würde ich das auch gucken.

Juri:

Ja, ne, wenn es wirklich authentisch wäre, ne? Wenn man genau wissen würde, wo kommen die her, was machen die da jetzt.760

Das heißt für die Analyse, dass die lokale Adaption, die die deutsche Formatversion von der arabischen unterscheidet, in diesem Zusammenhang von den teilnehmenden Rezipienten mehrheitlich abgelehnt wird. Was also auf Textebene noch als »postmoderner Turn« der ins Extrem getriebenen Selbstartikulation interpretiert werden kann, wird von den Rezipienten wieder normativ abgewertet. In der Interpretation der Rezipienten überwiegt die Kritik an der aufmerksamkeitsgenerierenden und effekthaschenden Anlage der Sendung, die sich von einem klassischen Talentbegriff gelöst habe. Textangebot und Dekodierung stehen sich damit in diametraler Weise gegenüber. Daneben entwickeln sich im Verlauf der Diskussionen ausführliche Auseinandersetzungen mit der gesellschaftlichen Bedeutung der Sendung, die vor allem eine Reaktion auf eine Impulsfrage des Diskussionsleitfadens (»Sagt die Sendung etwas über die Gesellschaft aus?«) sind. Diesbezüglich wird ein Deutungsrahmen sichtbar, der eine Fehlentwicklung der deutschen Mediengesellschaft an die Darstellungsprinzipien des kommerziellen Fernsehens rückbindet. Den Produzenten wird mitunter sogar ein verachtendes Menschenbild vorgeworfen. Die Rezipienten greifen in ihren Alltagstheorien zum Teil auch auf historische Vergleiche zurück, in denen sie eine Verschiebung des medialen Umgangs hin zu immer mehr Privatheit ansprechen. Neben den Entwicklungen der Medien wird auch eine gewachsene Bereitschaft zur öffentlichen Verarbeitung privater Schicksale angenommen. In den folgenden zwei Beispielen einer Studenten- und einer Schülergruppe dokumentiert sich besonders anschaulich ein Diskurs um die durch Medien gesteigerte Sensationslust des Menschen, die zugleich als gesellschaftliche Entwicklung kritisiert wird. Interessant ist dabei, dass in beiden Gruppen auch auf die Funktion der sozialen Aufwertung als Erklärung für diese Prinzipien Bezug genommen wird, diese aber nur analytisch mit Blick auf potenzielle Reaktionen Dritter (Verwendung von »man« oder »du« und nicht »ich«, beziehungsweise ist mit »ich« im zweiten Beispiel die Jurorin gemeint) verhandelt werden, wodurch auch indirekt eine persönliche Distanzierung markiert wird:

760 D12, Studentengruppe.

336 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ? Friederike:

Aber ich denke, dieses Reißerische gibt’s auch noch nicht so lange. Das funktioniert vielleicht auch noch nicht so lange in Deutschland. Also, ich sehe da schon eine neue Entwicklung.

Christine:

Andererseits, WETTEN, DASS? ist auch nichts anderes, als ein Talent zu zeigen.

Markus:

Aber ich glaube, dieses Anprangern, das gab es immer. Es gab früher schon Lustgewinn durch Anprangerung. Da haben sich Leute am Markt hingestellt und fanden das irgendwie interessant. Da war halt jemand auf den man runter schauen konnte, so auch zum Selbstaufbauen. Das mag verschiedene Motive haben, Voyeurismus. Und ich glaube, was sich einfach nur ändert, ist die Drastizität der Form, sag ich mal […] Also die nächste Show muss ja noch spektakulärer werden als die davor, und ich glaube, wir haben mittlerweile so ein Level, nach BIG BROTHER, totale Entgrenzung, alles gehabt. […] Ich glaube, diese Grundkonstanten, was steht da hinter dem Motiv, das ist nicht neu. Das ist so ein Kulturpessimismus, dass man glaubt, wir wären auf einmal alle so viel schlechter. Ich glaube, das ist einfach nur sehr viel drastischer in der Ausprägung.761 ***

Julian:

Wir sind verdorben.

Mark:

Es wird immer schlimmer.

Rana:

Wir sind ziemlich oberflächlich.

Julian:

Unsere Gesellschaft ist ein Haufen von ziemlich verkommenen/

Hendrik:

dummen,

Julian:

sensationsgeilen,

Mark:

oberflächlichen,

Julian:

oberflächlichen, sich unglaublich gerne besser fühlenden Menschen als andere

Hendrik:

Oh Julian, du sprichst mir aus der Seele.

halt. Weil, ich meine/ Julian:

Weil jeder Mensch, der das anguckt, hat doch eigentlich nur das Ziel, sich besser zu fühlen oder reinzuziehen, weil er das geil findet. [Lachen] Der guckt sich das an und denkt sich: ›Oh, ich bin besser‹ oder ›oh, ist der gut‹ oder ›oh, ist das niedlich‹. Aber nicht in dem Sinne, ich möchte mich jetzt über Leute, die was können, informieren. Nein, ich möchte auch Leute, die wirklich nichts können/

Mark: Julian:

Mich drüber lustig machen. Damit ich Spaß dran habe, wie schlecht manche Menschen sind – wie die werte Silvia das da schön dargestellt hat.

Maria:

Sylvie.

761 D01, Studentengruppe.

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Julian:

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UNTERHALTUNG

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Und das, finde ich, sagt eigentlich nur über unsere Gesellschaft aus, dass wir eigentlich ziemlich erbärmlich sind in mancherlei Hinsicht. Jetzt nicht alle, aber nun mal leider ziemlich viele … /

Hendrik:

hmm.

Julian:

… da RTL ziemlich hohe Einschaltquoten hat.762

Ähnlich kulturpessimistische Ansichten aktivieren auch die ägyptischen Gruppen, die allerdings stärker die Amerikanisierung des Fernsehens zum primären Deutungsrahmen machen. Eingefordert wird in diesen Gruppen also weniger die Veränderung von Inszenierungsstrategien als die Hinwendung zu beziehungsweise die Rückbesinnung auf lokale Kreativitätspotenziale. Auch wenn die Imitation USamerikanischer Unterhaltung als eine progressive Entwicklung im Sinne einer Modernisierungsentwicklung gewertet wird, überwiegen doch die geäußerten Gefahren, die einige Teilnehmer im sukzessiven Verblassen der eigenen kulturellen Traditionen sehen. Dies äußert sich sowohl direkt – »[W]e have lots of traditions, we have lots of diverse music and dances and handcrafts and everything. It’s totally destroyed. And a TV show like that could actually push it forward.«763 –, als auch indirekt, wenn beispielsweise bedauert wird, dass lokale Traditionen nicht geschätzt würden: »What I don’t like about the judges is that they don't like the traditional stuff like Tanoura. They don’t like the unique stuff, and they just like the popping and locking and stuff like that.«764 In den folgenden beiden Passagen wird nochmals die Kritik am Imitationscharakter der Sendung nachvollziehbar, als auch die Suche nach einer Erklärung für die abgewertete Imitationsstrategie der arabischen Fernsehindustrie: Hania:

It is an imitation of the other GOT TALENTS.

Kamal:

Even the host /

Hasnaa:

And there is no creativity in it. […]

Kamal:

I mean they could have added some, like Egyptian architecture, they may have used some Arabic style.

Hania:

Maybe they could have removed the guy who was dancing in a very western way and could have put a belly dancer in it. It could have worked so much [Laughter]. We could have liked it. Yeah, and put in a Tabla-rhythm between these Americanized songs, it could have worked for us and we could have watched it and expected it to be as good as the American one. […] If it is an Arabic show, why are they singing in English?765

762 D07, Schülergruppe. 763 Ä01, Studentengruppe. 764 Ä06, Schülergruppe. 765 Ä11, Studentengruppe.

338 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ? ***

Shaimaa:

I have a point: the idea of imitating the western shows. I don’t like it. Why should you imitate? Especially the idea of ARABS GOT TALENT and ARABS IDOL is not a brilliant idea, but it’s good. I don’t know why we have to imitate an original idea. Why don’t we come up with an own idea from the Arabs? That’s my point.

Samar:

The point we all mentioned is: why don’t we invent something new? Why?

Shaimaa:

[…] Why don’t we come up with a brilliant idea? I don’t know. Let’s be honest, all of them know that it is not a creative thing. I don’t know why we look at the west. Even the culture nowadays in Egypt, we are becoming somehow like the western culture. […] We look at the west, they have more resources, they have money, they have a lot of brilliant ideas. But why don’t we come up with something new? […]. We imitate the west though we have a veritable culture; we have brilliant ideas, we have talented people in Egypt, artists, music (…) but maybe we lack the money to do something new. […] and here [in GOT TALENT] the same personality, the same introducer as in the west, the same thing, English language, but it’s something not good. [Laughter] I’m upset. [sounds upset]766

Es lässt sich somit im Vergleich festhalten, dass ein kulturpessimistischer Deutungsrahmen bezüglich der Formatversionen von GOT TALENT in allen Gruppen zu finden ist. In den deutschen Gruppen folgt dieser jedoch einer eher binnenorientierten Perspektive und zielt in erster Linie auf endogene Entwicklungen der Gesellschaft. Die ägyptischen Gruppen diskutieren einen kulturellen Einfluss hingegen mit Blick auf die exogenen Einflüsse und nehmen damit eine eher außenorientierte Perspektive ein, die unter dem Stichwort der »Amerikanisierung« zusammengefasst werden kann. Ein transkultureller Konsens besteht darin, dass die Unterhaltungsangebote nach Ansicht aller Gruppen tendenziell eher zu kulturellen Entwicklungen führen, die als negativ betrachtet werden. Diese Ansicht wird gleichwohl radikaler von den deutschen Gruppen vertreten, findet sich aber, wie eben gezeigt wurde, auch in den ägyptischen Gruppen. Allerdings ist die Einordnung hier ambivalenter, da in den Diskussionen auch normative Aufwertungen enthalten sind, die das Konzept in Zusammenhang mit einer emanzipierenden Funktion bringen, die für die lokalen Kandidaten besteht. So sind es auch eher die ägyptischen Gruppen, die die Darbietungen der Kandidaten auf referenzielle Art und Weise beurteilen. In den meisten Fällen aber führt das Format in beiden Varianten nicht zu einer Bewertung von gut und schlecht, gerecht oder ungerecht aus. Anstelle von gesellschaftlichen Bewertungsmaßstäben

766 Ä04, Studentengruppe.

»L OKALE I NTERPRETEN «: D IE R EZEPTION

VON

UNTERHALTUNG

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und Leistungsprinzipien geht es vielmehr um die gesellschaftliche Rolle der Medien selbst. Damit wird das Medienangebot in den Augen der Diskussionsteilnehmer nicht zum Reflektor von gesellschaftlichen Handlungsnormen oder zu einer Möglichkeit der Einübung der »Spielregeln des sozialen und kulturellen Miteinanders«.767 Es sind viel eher die Spielregeln einer Fernsehrealität, die hier verhandelt werden. Damit zeigt sich letztlich, dass die Sinndimension der Sendung vor allem auf der Bedeutungs- und weniger auf der eigentlichen Inhaltsebene liegt. Wieder gibt die folgende Tabelle einen Überblick über die herausgearbeiteten Typologien. Tabelle 10: Normativer Diskurs in der Anschlusskommunikation über GOT TALENT Lokale Deutungsrahmen

 

   

Lokale Deutungsrahmen

deutscher Kontext ägyptischer Kontext Normativer Deutungsrahmen der Sendung zentrales Thema:  zentrales Thema: Qualität der Unterhaltung Originalität der Unterhaltung Format als Beispiel des deutschen quali Format als Beispiel für Amerikanisierung tätsarmen Privatfernsehens und Sinnbild kreativer Produktion und Sinnbild für für gesellschaftliche Fehlentwicklungen Verlusts lokaler Kreativität und Tradition normative Abwertung  normative Aufwertung gesellschaftlicher Funktion gesellschaftlicher Emanzipationsfunktion Sendung als Verstärker  Sendung als Arena für kreative gesellschaftlicher Fehlentwicklungen Ausdrucksmöglichkeiten Einfordern von Aufrichtigkeit und  Einfordern der Integration lokaler Professionalität im Fernsehen Symbolbestände binnenorientierter Kulturpessimismus  außenorientierter Kulturpessimismus

Ein Diskurs über die Werte des Unterhaltungsfernsehens wird auch in den Gruppendiskussionen zu den Formatversionen von MILLIONÄR entwickelt. Grundsätzlich wird das Format von allen Diskussionsteilnehmern allerdings weitaus positiver evaluiert als das Castingformat. Es wird im Vergleich nicht nur als »echter« oder »authentischer«, sondern vor allem als »seriös« wahrgenommen. Man ist sich darin einig, dass es eine gute Mischung aus Unterhaltung und Information sei. In den deutschen Gruppen wird dies auch vor dem Hintergrund des Profils des ausstrahlenden Senders RTL eingeordnet, für dessen Angebot die Sendung eher untypisch sei. Damit allerdings scheint auch in den Diskussionen zum Quizformat eine ähnliche Generalkritik am Programmangebot von kommerziellen Fernsehanbietern durch wie im Castingformat. Der Common Sense von Schülern und Studenten über einen wachsenden Qualitätsverlust des deutschen kommerziellen Fernsehens erstreckt sich als kollektives Muster über alle Diskussionen. Der Unterschied be-

767 Klaus, Elisabeth; O’Connor, Barbara (2010): Aushandlungsprozesse im Alltag, S. 49.

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steht nur darin, dass GOT TALENT vor dem Hintergrund dieser Kritik als schlechtes Beispiel ab- und MILLIONÄR demgegenüber aufgewertet wird. Die Passage einer Studentengruppe kann für dieses Muster exemplarisch stehen: Stefan:

Naja, WER WIRD MILLIONÄR hat da schon eher das Potenzial, nicht nur unbedingt auf RTL zu laufen. Und ich finde gerade mittags ist halt Fernsehprogramm einfach echt unter aller Sau. [Lachen] Das kann man auch echt nicht anders sagen.

Carola:

Ich muss auch sagen, das wird schon auch immer schlimmer, oder? Also ich weiß nicht, das hat vielleicht mit diesen Talkshows angefangen am Nachmittag. Aber das ist ja jetzt teilweise alles nur noch irgendwie mit irgendwelchen Laienschauspielern [lacht], die dann da irgendwie ihre Rolle zugeschrieben bekommen und dann ist das alles gestellt und auch immer so ganz komische Geschichten in diesen Sendungen. Auch abends, von SUPERTALENT über SUPERSTAR

bis hin zu TOPMODEL ist das alles irgendwie so ja, sehr konstruiert

und irgendwie so auf Spektakuläres/ […] Man muss sich dann anschauen, wie man da sich lustig macht über die Leute [lacht]. Stefan:

Ja!

Carola:

Also ich finde, das ist eigentlich eine relativ schlechte Entwicklung oder je-

Stefan:

Es gibt auf jeden Fall immer mehr von diesen Formaten. 768

denfalls eine, die ich jetzt nicht unbedingt unterstützen kann.

Die Aussage einer ägyptischen Studentin innerhalb einer Diskussion liest sich im Vergleich sehr ähnlich, da sie die Sendung ebenso mit dem allgemeinen Fernsehangebot vergleicht und konstatiert: »Maybe it is the only competition show in the Arab world right now that uses knowledge, because in most cases right now you need to answer very stupid questions and you win. […] here you choose, you think, you analyze. You absolutely do something.«769 Im Zusammenhang mit der stärkeren Unterhaltungsorientierung, die in der Inhaltsanalyse herausgearbeitet wurde, fällt schließlich in einer Diskussionssequenz die Aussage einer deutschen Studentin auf, die ihre eigene Rezeptionserfahrung aufgreift und eine Veränderung des Programms thematisiert. Dabei weist ihre Beschreibung der Wissensorientierung der älteren Version von WER WIRD MILLIONÄR deutliche Ähnlichkeiten mit den Elementen des aktuellen arabischen Formats auf: Frauke:

Also ich merk da schon ein paar Unterschiede. Ich muss sagen, ich gehöre zum alten Publikum von MILLIONÄR und ich finde, da wurde nicht so viel zwischendurch gequatscht. Ich weiß nicht, ob die das jetzt geändert haben, damit

768 D08, Studentengruppe. 769 Ä07, Studentengruppe.

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es jetzt mehr so unterhaltend ist, aber früher haben [die] mehr Fragen gestellt in kürzerer Zeit. Und da stand dieser Wissensaspekt schon im Vordergrund. Jetzt weiß ich halt nicht, ob die sich nicht mehr so viele Fragen ausdenken können und auch wirklich nicht mehr so viel Geld zur Verfügung haben und deswegen ist es halt so eine Unterhaltungssendung geworden, die auch den Kandidaten so in den Vordergrund stellt. Dadurch, dass die jetzt alle ihre kleine Anzeige haben, was sie so gut finden … da ist so ein kleiner Wandel passiert.770

Dieser Aussage ist dann wieder eine Medienkritik inhärent, die eine zunehmende Verschiebung des Verhältnisses von Alltagsrealität und Fernsehrealität erkennt. Denn es sind eben gerade nicht mehr die eigentlichen Inhalte der Fernsehangebote – Wissens- und Bewertungssysteme –, die zur sozialen Aushandlung einladen, sondern die Unterhaltungsprinzipien. Insofern bleibt auch die positive Evaluation von WER WIRD MILLIONÄR eingebettet in einen größeren öffentlichen Diskurs um die Qualität der Fernsehunterhaltung. Dies zeigt sich auch in den durchaus ambivalenten Evaluationen der ägyptischen studentischen Fokusgruppen, die sich zwar einig sind, dass in der Sendung Wissensangebote gemacht werden, diese aber zugleich auch vor dem Hintergrund der Kommerzialisierung von Unterhaltung dekonstruieren. Die Orientierung an ökonomischen Prinzipien und der schnelle monetäre Gewinn werden allerdings vor allem von den Studentengruppen der AMERICAN UNIVERSITY IN CAIRO diskutiert (vgl. Kapitel 4.2.1), so dass hier der spezifische Ausbildungshintergrund eine mögliche einflussreiche Kontextvariable für die Herausbildung einer solchen Interpretationsgemeinschaft sein kann. 4.2.1.3 Identitätsdiskurs In wissenschaftlichen Auseinandersetzungen um die Medienaneignung wird davon ausgegangen, dass Mediennutzung und Identitätsbildung in einem engen Zusammenhang stehen. Dieses Verhältnis kann als rekursiv verstanden werden, da die Medien einerseits Identifikation stiften und einen Anteil an der Herausbildung von Identität haben können; andererseits ist es auch die kulturelle Identität der Rezipienten, die die Medienwahl und die Medienrezeption maßgeblich beeinflusst. Dieser Zusammenhang wurde bereits in den theoretischen Überlegungen zur kulturellen Nähe ausgeführt (vgl. Kapitel 2.1.4). Eine kulturelle und soziale Bedeutung der Unterhaltungsformate dokumentiert sich somit auch in Identitätsdiskursen, die durch die Sendung angeregt wurden. Es geht dabei um die Frage, wie die Gruppen ihre eigene Position im Kontext des gesellschaftlichen Referenzsystems wahrnehmen. Diskussionspassagen, aus denen entweder abgeleitet werden kann, ob und wie sich die Gruppen mit dem Text identi770 D08, Studentengruppe.

342 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ?

fizieren können, als auch Diskussionspassagen, in denen die individuelle oder kollektive Identität der Teilnehmer beziehungsweise der Gruppe bestätigt, verändert oder hergestellt wird, werden in der Ergebnisdarstellung unter einem Identitätsdiskurs zusammengefasst. Ein kontextspezifischer Unterschied in Bezug auf die Formatversionen von GOT TALENT besteht in der unterschiedlichen Artikulation einer kollektiv empfundenen kulturellen Nähe beziehungsweise Distanz zur Sendung. Die deutschen Gruppen distanzieren sich eher explizit von der gesamten Sendung und ihren Inszenierungsstrategien, wobei die Distanzierung entlang moralischer beziehungsweise ethischer Begründungen erfolgt. Denn die Studienteilnehmer distanzieren sich vor allem von der öffentlichen symbolischen Bloßstellung von Kandidaten, die zum bloßen Unterhaltungsselbstzweck geraten sei. Wie vorher bereits analysiert, wird die Sendung konkret als »niveaulos« bezeichnet, was eine deutliche Ablehnung ausdrückt. Distanz leitet sich somit vor allem aus dem zuvor besprochenen normativen Diskurs der Gruppen ab. Auf dieser Ebene findet also eine negative Identifikation statt. Sie artikuliert sich ebenso in Bezug auf die Kandidaten der Sendung, die für die befragten deutschen Rezipienten kaum Identifikationspotenzial haben. Zwei Teilnehmerinnen der Diskussionen drücken dies auch ganz explizit aus: »Ja, man hat aber auch einfach nie so eine Person dabei, wo man denkt, das will ich unbedingt verfolgen. […] ich habe da kein Idol oder sowas.«771 Ein Grund ist der gehegte Zweifel, ob man die Kandidaten überhaupt als authentische Subjekte wahrnehmen kann (vgl. Kapitel 4.2.1.1). Hinzu kommt aber auch ein Distinktionsmechanismus, auf den die Gruppen hin orientiert sind und der sich darin äußert, dass nahezu alle Gruppen eine Milieu- und Bildungsdifferenz konstatieren, die sie zwischen sich und den Kandidaten beobachten. Es werden Alltagstheorien über die Kandidaten abgeglichen, die keine Medienkompetenz besitzen, als ungebildet oder extrovertiert gelten. Auffallend ist, dass gerade die Schülergruppen den Kandidaten sehr deutlich einen Mangel an Bildung zuschreiben, der damit gleichzeitig dazu geeignet ist, die eigene Gruppenidentität aufzuwerten: Hendrik:

Na, es sind beides [DSDS und SUPERTALENT] unglaublich naive Sendungen.

Maria:

Das gibt es eigentlich nur, damit wir uns unterhalten können.

Hendrik:

Ja, naiv von den Zuschauern, weil sie das glauben, was da … /

Julian:

Na, es ist einfach niveaulos.

Hendrik:

… gezeigt wird und dann halt naiv von den Kandidaten und Bewerbern, die dann halt glauben, dass sie wirklich da durchkommen beziehungsweise nicht voll verarscht werden. Dabei ist es DIE Verarsche, diese Castingshows. Das ist der letzte Scheiß.

771 D02, Studentengruppe.

»L OKALE I NTERPRETEN «: D IE R EZEPTION

VON

UNTERHALTUNG

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Julian:

Die Leute, die da mitmachen, die müssen doch schon einen ordentlichen Man-

Rana:

Wetten verloren/

Julian:

… wenn man doch jedes zweite Mal in der Zeitung liest: DSDS hat mich ver-

gel an Bildung haben.

arscht, SUPERTALENT hat mich verarscht, GERMANY’S NEXT TOPMODEL hat mich verarscht. Toni:

Die suchen nur Aufmerksamkeit.

Maria:

Die denken halt einfach, es läuft wirklich so. [Lachen]

Samira:

Das ist die letzte Chance nach oben für die.772

Eine soziale und bildungsbezogene Abgrenzung nehmen die Gruppen ebenfalls gegenüber einem imaginierten kopräsenten Publikum vor, wie hier bereits in der Bezugnahme auf die vermeintlich anderen Zuschauer erkennbar ist. Sowohl die Studentengruppen, die selbst nicht zu den regelmäßigen oder gelegentlichen Rezipienten der Sendung zählen, als auch die Schülergruppen, die die Sendungen zweifellos gut kennen, entwickeln relativ homogene Vorstellungen von einem kopräsenten Publikum. Durch die verbalisierten Annahmen über dieses Publikum wird eine Zielgruppe der Sendung konstruiert, von der sich die Gruppen selbst abgrenzen. So wird auch in diesem Zusammenhang zumindest einem Teil der Rezipienten entweder Medienkompetenz abgesprochen oder aber ein moralisch verwerfliches Gratifikationsbedürfnis zugeschrieben – Freude an der öffentlichen Blamage anderer zum Zwecke der Selbstaufwertung –, von dem man sich wiederum selbst distanziert. Auf einer analytischen Ebene wird damit die jeweilige (sub-)kulturelle Gruppenidentität vis-à-vis eines Publikums verhandelt, das Teil des gemeinsamen Referenzsystems, nicht aber Teil der eigenen wahrgenommenen Bildungsschicht ist. Die Gruppen konstruieren also einen innergesellschaftlichen sozialen Vergleich. Auch wenn nicht immer ein so deutlicher Konsens formuliert wird, wie in der folgenden Diskussionspassage, folgt die kollektive Orientierung in den deutschen Diskussionen zu DAS SUPERTALENT diesem stabilen Deutungsrahmen: Maria:

Aber ich meine, wie viele Leute gibt es, die das System dahinter nicht verstehen?

Nora: Maria:

Ja! Also, das immer so ›Gut‹ und ›Schlecht‹ extrem im Wechsel kommt und wie viele wissen nicht, dass man für Dieter Bohlen die Sprüche schreibt?

Nora:

Wir verstehen das, aber wie ist das mit Menschen, die meinetwegen nicht so intelligent sind?

Stephanie:

Das hat aber auch viel mit Bildung zu tun.

Nora:

Wir sind unglaublich intelligent. [ironisch]

772 D07, Schülergruppe.

344 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ? Maria:

Ja, absolut, das klang jetzt aber gerade so.

Stephanie:

Nee, aber ich glaube, das hat viel mit Bildung zu tun und viel mit den Eltern. Also, wenn dir deine Eltern sagen, dass das irgendwie total real wäre und so/

Maria:

Dann fällt dir auch nichts bei, keine Ahnung, MITTEN IM LEBEN oder so auf: Dann denkst du die Leute sind normal.

Nora:

Ja, genau, denn du wächst ja damit auf.

Stephanie:

Also ich glaube, es hat viel mit dem Umfeld zu tun. 773 ***

Friederike:

Ich frage mich, wie andere Zuschauer/ ob die das für bare Münze nehmen. Ob die das so durchschauen, dass das vielleicht alles nur Nummern sind für sich. […]

Christine:

Also, ich glaube, es sind viele, die das glauben. Irgendwie. […]

Markus:

Ich glaube, es gibt genug Zielgruppen, die bei Gerichtsshows irgendwie denken – vielleicht auch ältere Personen – die dann vor allem so sagen: ›hast du gesehen, was die wieder gemacht haben?‹ Es ist halt die spannende Frage: Für wen fängt das an, eine Karikatur zu werden oder wer übernimmt das überhaupt noch? Ich frage mich, nimmt das überhaupt jemand ERNST? Und ich kann es mir eigentlich nicht wirklich vorstellen. [Christine und Friederike lachen]

Christine:

Ich glaube, erschreckend viele. 774

Anders als in den deutschen Gruppen ist eine Identifikation mit ARABS GOT TALENT und ihren Akteuren in den ägyptischen Gruppen deutlich ambivalenter. Die Imitationsstrategie, die zum Referenzthema des Authentizitätsdiskurses geworden ist, ist hier Anlass für die Distanzierung. Diese wird also weniger moralisch, sondern vielmehr kulturell begründet. Denn während in den deutschen Beispielen die Darstellungsprinzipien kritisiert werden, ist in den ägyptischen Gruppen vor allem die mangelnde Integration lokaler Symbolsysteme Grund für die offenkundige Distanz. In mehreren Gruppen wird, wie bereits angedeutet, diskutiert, dass beispielsweise das Setting orientalischer hätte sein können oder dass folkloristische Traditionen wie der Tanoura-Tanz mangelnde Wertschätzung durch die Jurymitglieder erfahren. Die Kritik an den Imitationspraktiken zeigt aber zugleich auch eine immanente Identifikation mit einer arabischen oder orientalistischen Gemeinschaft, über deren Symbolwelten eine Einigkeit besteht, die nicht ausführlich kommuniziert wird, sich aber in einer stillschweigenden Übereinstimmung der Gruppen über das, was als »Arabisch« empfunden wird, dokumentiert.775 773 D02, Studentengruppe. 774 D01, Studentengruppe. 775 Michel hat in seiner Auseinandersetzung mit der dokumentarischen Methode von Bohnsack zwischen einem konjunktiven und einem kommunikativen Modus der Medienre-

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Diese Differenz in den Dekodierungsmustern der Sendung darf aber nicht als kulturelle Differenz gewertet werden, da sie in hohem Maße mit den inhaltlichen Verschiebungen der Adaptionen auf der Textebene zusammenhängen. In dem Moment, wo die Talentsuche an sich eine Marginalisierung erfährt, richtet sich die Distanzierung auf externe Kontexte (Erkennen des Unauthentischen). Wenn aber Talente eine Wertschätzung erhalten, dann richtet sich die Frage nach Nähe und Distanz auf interne Kontexte (Ästhetik und Darstellungskonventionen) und nicht so sehr auf die grundsätzliche Frage der Simulationswirkung des Fernsehens. Das folgende Beispiel illustriert diesen Unterschied noch einmal anhand der Diskussionssequenz einer ägyptischen Gruppe: Fuad:

And you think of Arab characteristics, but here the soundtracks, they use, the American and English soundtracks, there is nothing from the Arab world in it.

Omar:

If you look at the decoration in the theatre, even the Buzzer, it is actually the same version and no change actually. But supposedly if it is transferred to an oriental culture there must be changes, like making some decoration so that it looks like something related to the Lebanese culture at least. But it’s not related to the Arab culture. It’s all imported. Even the performances and the acting is like ... Westernized performances. From time to time, you find an Egyptian candidate or somebody who is doing some oriental dance. Even if you look at the girl who chose to dance Michael Jackson, actually. There is no creativity. Everything is ... nothing.776

Eine Vorstellung von kollektiver kultureller Zugehörigkeit, die sich zu wenig im Format wiederfindet, wird auch daran erkenntlich, dass die Gruppen von einem kollektiven »Wir« sprechen, das sich auf die Gemeinschaft der Araber, »We as Arabs«777, bezieht. Die Verbalisierung dieser kollektiven Imagination mag durch zeption unterschieden. Danach legt der kommunikative Modus einen immanenten Sinngehalt offen, der konjunktive Modus sei aber stark durch die gemeinsamen Erfahrungsräume der Gruppenmitglieder geprägt und lässt sich nicht vollends rekonstruieren. Der in diesem Modus artikulierte Sinn lässt sich zwar dokumentarisch analysieren, bleibt aber immer auch von dem konjunktiven Erfahrungsraum der Gruppe abhängig. Die Wissensbestände der Gruppe kann der Forscher somit nie komplett teilen. Michel, Burkard (2005): Kommunikation vs. Konjunktion. Zwei Modi der Medienrezeption. In: Gehrau, Volker; Bilandzic, Helena; Woelke, Jens (Hg.): Rezeptionsstrategien und Rezeptionsmodalitäten. München: Reinhard Fischer, S. 107-126. Im Sprechen über eine arabische Kultur macht sich dann bemerkbar, dass die Gruppenmitglieder Wissensbestände teilen, die kaum für die Analyse zugänglich sind. 776 Ä01, Studentengruppe. 777 Ä04, Studentengruppe.

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die Anwesenheit der westlichen Forscherin verstärkt worden sein, was sich beispielsweise in Aussagen wie: »we have the same level as you«778 oder »we will show you the same«779 manifestiert, in denen die Gruppen eine bewusste Abgrenzung zwischen sich selbst und der Forscherin als Repräsentantin des »Westens« vornehmen. Hier wird die kulturelle Dimension der Identifikation besonders deutlich. Ein solches Wir-Verständnis ist in den deutschen Gruppen weit weniger ausgeprägt. Für eine analytische Einordnung der Unterschiede lässt sich sagen, dass die primären Identifikationsdimensionen, die von den Gruppen für die Explikation von Nähe oder Distanz genutzt werden, in den lokalen Kontexten auf unterschiedlichen Repräsentationsebenen der Sendung aufbauen. Die deutschen Gruppen distanzieren sich von den symbolischen gesellschaftlichen Wertorientierungen, die sie meinen, in der Sendung wiedergespiegelt zu finden. Die ägyptischen Gruppen distanzieren sich von Handlungsorientierungen und ästhetischen Repräsentationssystemen, wenn sie die Darstellung der Sendung wie auch das Verhalten der Akteure als kulturelle Imitation einer westlichen Vorlage werten. Gerade die rhetorische Frage im letztgenannten Beispiel lässt sich als ein Wunsch nach mehr kultureller Adaption interpretieren. Die lokale Reproduktion des Formats wird somit nur als unzulängliche Adaption gewertet. Das bedeutet zugleich, dass die Symbolwelt von ARABS GOT TALENT auch an den originalen Texten gemessen wird. Dies geschieht in den Gruppen im deutschen Kontext nicht. DAS SUPERTALENT wird hier vielmehr mit anderen deutschen Fernsehangeboten verglichen. In der moralischen Distanzierung vom Text und der sozialen Abgrenzung von den Kandidaten bleibt das zentrale gesellschaftliche Referenzsystem für die Identitätsdiskurse der deutschen Jugendlichen damit primär national geprägt. Die ägyptischen Gruppen hingegen verhandeln ihre Gruppenidentität im Rahmen eines intergesellschaftlichen kulturellen Vergleichs und damit in einem transkulturellen und internationalen Referenzsystem. Konkret ist damit eine überregionale Identifikation mit einer arabischen Identität und einer (imaginierten) US-amerikanischen Popkultur abzulesen. Eine Hybridität der eigenen Identität wird in den Gruppendiskussionen dort deutlich, wo die Teilnehmer einerseits mehr arabische Bezüge in der Sendung einfordern und andererseits bereits selbst in Frage stellen, inwieweit diese tatsächlich gelebte Bestandteile ägyptischer respektive arabischer Jugendkultur sind. Die Gruppen reflektieren somit ihre eigene wahrgenommene Milieuzugehörigkeit, zu deren Charakteristika eine intentionale Anschlussfähigkeit an amerikanische beziehungsweise transkulturelle Populärkultur zählt. Die meisten der Gruppen sind sich also ihrer habituellen westlich-kosmopolitischen Orientierung bewusst, wie es im folgenden Zitat einer Teilnehmerin auf den Punkt gebracht ist: »We are listening 778 Ä11, Studentengruppe. 779 Ä04, Studentengruppe.

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to their music, we watch their movies, we wear their brands.«780 Zugleich aktualisieren sie aber auch das Wissen um ein gemeinsames arabisches Erbe, indem sie über eine traditionelle arabische Symbolwelt sprechen, denen sie einen hohen Wert beimessen. Umm Kulthum und alte ägyptische Filme sind hier die unangefochtenen Fixpunkte eines geteilten kulturellen Gedächtnisses. In den folgenden zwei Diskussionspassagen werden diese Gruppenorientierungen eines ambivalenten Nähe-Distanz-Verhältnisses entwickelt. In der Aussage: »We can relate to the show but not in an Egyptian way« findet sich sowohl die Gruppenidentität, die Nähe zu transkultureller Fernsehkultur und die Erinnerung an die gemeinsame ägyptische Herkunft zusammengefasst: Hasnaa:

Actually, I want to disagree with you on something. You said that we imitate the talents/

Kamal: Hasnaa:

Some of them, no, no. You mean breakdance or something like that. But it is in popular culture in the whole world so we are not imitating, we are just got influenced by the mode with the trend invading the whole world. So, I think that we are not imitating.

Asmaa:

The talents become somehow/ we are not imitating. We are just influenced by the globalization of talents.

Kamal:

I am calling them imitated because they didn’t made anything new. They didn’t add anything to the talents they have. […]

Kamal:

Well, I feel related, because I love rap for example. I love hip-hop. I love locking dancing and stuff. We ourselves, we are all kind of Americanized. We are familiar with the American concepts and American talents, you know. So when we watch such a show we feel related because we are familiar with this

780 Ä06, Schülergruppe. In ihren Aussagen als auch in ihrem Habitus entsprechen die meisten ägyptischen Schüler und Studenten hier einer modernen, kosmopolitisch orientierten Jugend in Kairo, die bspw. von Peterson ähnlich in ethnographischen Studien beschrieben wurde, in denen er argumentiert, dass Modernität vor allem eine Frage des Stils sei. Peterson, Mark (2011): Connected in Cairo. Growing up Cosmopolitan in the Modern Middle East. Bloomington: Indiana University Press, S. 5. Darüber hinaus steht die lokale Verortung der Gruppen in Kairo – einer der maßgeblichen kulturellen Metropolen der arabischen Welt, in der sich ebenfalls unterschiedliche Kräfte mischen, in der globale Marken im Stadtbild ebenso sichtbar sind wie lokale Spezifika – sinnbildlich für die Identitätsverhandlung der Gruppe. Vgl. zu soziokulturellen Entwicklungen in Kairo u.a. Singerman, Diane (2009): Cairo Contested. Governance, Urban Space, and Global Modernity. Kairo, New York: American University in Cairo Press; Dies.; Amar, Paul (Hg.) (2006): Cairo Cosmopolitan: Politics, Culture, and Urban Space in the New Middle East. Kairo, New York: The American University in Cairo Press.

348 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ? stuff. Though we have our own culture and stuff we are familiar with because of the Internet like foreign friends and so on. Asmaa:

At least one of us has seen a live breakdance performance and none of us has seen a Tanoura performance live. So we can relate to the show but not in an Egyptian way. […] It shows that Arab culture is enforced by the American/781 ***

Noha:

It shows that Arab society is getting more Americanized. People in general. Like us. We are Americanized. [...] We are listening to their music, we watch their movies, we wear their brands.

Ashimaa:

What about us? What about our stuff? [Laughter] [...]

Shaimaa:

We talk in English better than in Arabic.

Noha:

I don’t listen to Arabic songs.

Amira:

Yeah, I don’t listen to them.

Nehal:

It’s so ridiculous.

Shaimaa:

They’re meaningless.

Noha:

All Arabic songs, especially the Egyptian ones.

Nehal:

I like the oriental/

Noha:

Umm Kulthum, these people, they’re better, I even know old Egyptian movies. [Laughter]

Nehal:

They give us a message, not like now. [...]

Noha:

Sometimes we don’t even like our own talent.782

Die Interpretation von ARABS GOT TALENT befördert in den ägyptischen Gruppen also eine Auseinandersetzung über den eigenen Gruppenhabitus beziehungsweise über den eigenen Lebensstil, die an ein »kosmopolitisches Dilemma« erinnert, das Mark Peterson in seiner Analyse der ägyptischen kosmopolitischen Klasse formuliert hat: »[T]hey face internal dilemmas about the nature of their selves as cosmopolitans and as Arabs, Muslims, or Egyptian citizens. This is not only an ethical issue about where one’s loyalties lie, but may cut deeper into fundamental issues of identity and selfhood: who I am?«783

Ein solcher Identitätsdiskurs ist in den deutschen Gruppen nicht zu finden. Die Diskussionen über die Show befördern aber dennoch in beiden Kontexten eine Auseinandersetzung mit der eigenen kulturellen Identität. Insofern kann abschließend formuliert werden, dass die Sendung zwar Kritik auslöst, die sich in der Explikation 781 Ä11, Studentengruppe. 782 Ä06, Schülergruppe. 783 Peterson, Mark (2011): Connected in Cairo, S. 13.

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einer Distanzwahrnehmung äußert, aber gleichzeitig einen gruppenbezogenen und gesellschaftsbezogenen Identitätsdiskurs anstößt. Ersteres ist weitaus deutlicher bei den deutschen Gruppen zu erkennen, die vor allem ihre Gruppenidentität gegenüber anderen gesellschaftlichen Identitätsformationen diskutieren, wohingegen letzteres bei den ägyptischen Gruppen überwiegt, deren Bezugspunkt der identifikatorischen Aushandlung vor allem eine geo-kulturelle Gemeinschaft ist und deren Anschlussfähigkeit zu anderen transkulturellen Beständen, etwa amerikanischer Provenienz, diskutiert wird. Dies heißt aber nicht, dass ein gruppenbezogener Identitätsdiskurs hier nicht existent wäre. Auch in den ägyptischen Gruppen reflektieren die Diskussionsgruppen ihre spezifischen Konstitutionsmerkmale. Während sich deutsche Studentengruppen beispielsweise darüber verständigen, dass sie als Studenten der Sozialwissenschaften möglicherwiese nicht die geeignete Zielgruppe für eine Sendung wie SUPERTALENT seien, so denken auch ägyptische Studenten der Politikwissenschaft darüber nach, ob sie aufgrund ihres Fachwissens einen bestimmten analytischen Blick auf ARABS GOT TALENT entwickeln. Auch hier wird dann sichtbar, dass die Sendung zwar keine positive Identifikation mit ihren Inhaltsangeboten auslöst, wohl aber einen Diskurs über die gruppenspezifische Identifikation, wie in der folgenden Tabelle nochmals zusammenfassend dargestellt wird: Tabelle 11: Identitätsdiskurs in der Anschlusskommunikation über GOT TALENT Lokale Deutungsrahmen

Lokale Deutungsrahmen

deutscher Kontext

ägyptischer Kontext

 moralische Distanz

Identifikation mit der Sendung  kulturelle Nähe und Distanz

Identifikation mit den Kandidaten der Sendung  Distanz durch mangelnde Authentizität  Nähe und Distanz  Perzeption einer Milieuferne  Aushandlung jugendkultureller Lebensstilorientierung zwischen amerikanischen und traditionellen Identitätsbezügen Gruppenbezogener Identitätsdiskurs  innergesellschaftlicher sozialer Vergleich  intergesellschaftlicher sozialer Vergleich mit Akteuren der lokalen Version mit Akteuren der Originalversion  sub-kulturelle Identität vis-à-vis deutscher  überregionale, geo-kulturelle Gesellschaft ägyptische/panarabische Identität  soziale Distinktion gegenüber einem vis-à-vis amerikanischer Gesellschaft imaginierten kopräsenten Publikum Gesellschaftsbezogener Identitätsdiskurs  nationaler Referenzrahmen  internationaler Referenzrahmen  Aktualisierung und Versicherung  Aktualisierung regionaler Identität durch gemeinschaftsbezogener Identität Revitalisierung eines traditionsorientierten kulturellen Gedächtnisses und Integration moderner Identitätsschichten

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Der Identitätsdiskurs, der durch das Format MILLIONÄR hervorgerufen und im Datenmaterial ablesbar wird, erzeugt primär eine individuelle Identifikation. Es ist hier weniger der Status der eigenen peer-Gruppe und weniger ein gruppenbezogener Identitätsdiskurs, der im Vordergrund steht. Dies wird dadurch sichtbar, dass die Sendung einlädt, das eigene Bildungskapital als auch das eigene potenzielle Risikooder Spielverhalten zu hinterfragen oder zu antizipieren, was auch die Diskussionsteilnehmer dieser Studie immer wieder tun. Die Reflexionen der Gruppen zeugen damit vor allem von einer individuellen parasozialen Vergleichsdimension, die so nicht von dem anderen Format ausgelöst wird. Kontextspezifische Unterschiede lassen sich bezüglich dieser individuellen Identifikationsdimension kaum feststellen. So lesen sich beispielsweise die folgenden drei Auszüge aus einer deutschen und zwei ägyptischen Gruppendiskussionen sehr identisch: Stefan:

Man will ja, das irgendjemand die Million knackt, weil man will selber bis zur

Frauke:

Genau. [Lachen]

Stefan:

… man will sagen können: ich wusste die Millionenfrage [Lachen]. Es geht

Millionenfrage mitkommen/ …

nicht so sehr darum, dass er die tatsächlich gewinnt. 784 ***

Rasha:

Ich möchte schon gerne Wissen erwerben und ich möchte mein eigenes Niveau kennenlernen. Ich will wissen, bis zu welcher Gewinnstufe ich es schaffe. […]785 ***

Abdallah:

We were curious to know the end.

Farah:

And we were always curious to watch until the answer. Sometimes like when I knew the answer, if I know it is in a certain book, I would go right away to that book, the shows still on, and say, Mom, Mom, I know the answer. 786

Entgegen einem sozialen Aufwertungsmechanismus überwiegt bei der Rezeption und Diskussion über das Format eher ein neutraler sozialer Vergleich. In den meisten Gruppendiskussionen wird auch der Bildungsstatus der Kandidaten als hoch eingeschätzt. Die Aussagen »Da bewerben sich eigentlich sowieso nur Leute, die was wissen« oder »dass da wirklich nur eine bestimmte Gruppe hingeht und jetzt wirklich die superduper Schlauen«787 machen dies ebenso kenntlich, wie die Über784 D08, Studentengruppe. 785 Ä02, Studentengruppe mit Familienmitgliedern. 786 Ä09, Studentengruppe. 787 D03, Schülergruppe.

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legung, dass eher die oberen Schichten Ägyptens Zeit und Wissen zur Teilnahme an der Sendung haben: »If you take an Egyptian who is lower middle class – I don’t think that he would have such knowledge or time to appear on this show.«788 In diesem Zusammenhang wird in beiden Kontexten ein demokratisches Narrativ der Sendung eher bezweifelt. Nicht jeder hat in den Augen der Gruppen die Chance, Millionär zu werden. Sie sind sich darüber einig, dass ein bestimmtes Bildungskapital für die Sendung nötig ist und somit keinesfalls ein Identifikationsangebot für alle gesellschaftlichen Akteure geliefert wird. Dennoch entsteht bei MILLIONÄR weder in den deutschen noch in den ägyptischen Gruppen ein allgemeines Distanzgefühl – ganz im Gegenteil, die Sendungsvarianten werden vielmehr als Originale wahrgenommen: »We never thought that there is an English version; we thought that it is Arabic.«789 Dies ist insofern interessant, als dass die Formatversionen im Vergleich zu den Versionen von GOT TALENT zumindest in Hinblick auf die televisuellen Konventionen und den Aufbau der Sendung weitaus ähnlicher sind. Abschließend kann im Zusammenhang mit der Frage nach der Identifikation mit den Sendungen noch ein genre-spezifischer Unterschied festgestellt werden, der sich vor allem auf der Ebene der partizipativen Angebote der Sendungen deutlich macht. Obwohl das Format GOT TALENT ganz konkrete Partizipationsangebote durch das Televoting bereitstellt, spielen die konkrete Partizipation und der aktive Eingriff in den Sendungsverlauf gerade bei DAS SUPERALENT kaum eine Rolle in den Diskussionen.790 Wenngleich weniger direkte Partizipationsmöglichkeiten bei MILLIONÄR bestehen, werden diese dennoch weitaus stärker wahrgenommen. Denn das aktive Eingreifen in die Sendung ist nicht nur auf eine Wahlhandlung beschränkt, sondern erstreckt sich über den Verlauf der gesamten Sendung, in der die Rezipienten selbst gedanklich mitspielen können – was von den Gruppen in der Rezeptionsphase auch sofort getan wird. Damit wird der Einfluss des Deutungsrahmens zur Authentizität der Sendung wirksam. Je authentischer Kandidaten und Handlungen erscheinen, desto stärker ist die Partizipation. Dies zeigt sich insbesondere beim Vergleich der GOT TALENT Formatversionen, bei denen die ägyptischen Gruppen weit mehr partizipieren, indem sie zumindest in einigen Sequenzen tatsächliche Bewertungen der Kandidaten vornehmen. 788 Ä07, Studentengruppe. 789 Ä09, Studentengruppe. 790 Zwar wird in einer Schülergruppe unter Freunden diskutiert, ob schon einmal jemand beim Televoting teilgenommen habe, was aber zugleich negiert und als ohnehin manipulierte Suggestion von Partizipation dekonstruiert wird. Tatsächlich gab es Freunde der Gruppe, die selbst auf einem YouTube Channel mit einem Beitrag bei einem Casting teilgenommen haben, die Partizipation der Gruppe leitet sich dann also aus den interpersonalen Beziehungen ab und nicht aus den Angeboten der Fernsehsendung.

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Tabelle 12: Identitätsdiskurs in der Anschlusskommunikation über MILLIONÄR Lokale Deutungsrahmen deutscher Kontext

Lokale Deutungsrahmen ägyptischer Kontext

Identifikation mit der Sendung  Wahrnehmung einer allgemeinen kulturellen Nähe  parasoziale Interaktion: individuelle soziale Vergleiche mit Akteuren der lokalen Version  kulturelle Identifikation

Gruppenbezogener Identitätsdiskurs  sub-kulturelle Distinktion gegenüber der Produktionskultur bei Studenten

4.2.1.4 Wissensdiskurs Obwohl in den Diskussionen eine Bezugnahme auf die Repräsentationsebene der Sendungen überwiegt, so finden sich dennoch auch Diskussionspassagen, in denen sich die Gruppen über die konkreten Inhalte der Sendungen austauschen. In Analogie zur Inhaltsanalyse der Formate kann gefragt werden, welche Narrationen die Gruppen in Hinblick auf einen Wissensbegriff und einen Talentbegriff dekodieren. Im Falle von GOT TALENT wurde bereits ausführlich dargestellt, dass die präsentierten Talente kaum durch die Gruppen evaluiert werden, da diese vor allem im Kontext ihrer Inszenierung dekodiert werden. Gleichwohl handeln die Gruppen allerdings aus, was ihr – von der Sendung unabhängiges – Verständnis von Talent ist. Ein eindeutiger Konsens lässt sich dabei nicht finden. Überlegungen, dass Talent etwas mit Können, Fleiß oder Gabe zu tun habe, werden zwar angerissen, führen aber nicht zu einem abschließenden diskursiven Ergebnis oder einer Verständigung in den Gruppen. Die kollektive Orientierung lässt sich insofern nur im Zusammenhang mit einem Diskursmuster über das »Untalent« rekonstruieren. Denn es dokumentiert sich durchaus eine geteilte Sichtweise darauf, dass Talentsuche eigentlich etwas anderes ist, als die Sendung vorgibt. Die gemeinschaftliche Verständigung über den Kern des Talentbegriffs ist aber eher marginal im Vergleich zu den Aushandlungen über die Inszenierungsstrategien. Interessant ist allerdings, dass in der Gruppe arabischer Studenten, die in Deutschland leben und beide Sendungen rezipiert haben, eine umfangreichere Diskussion über die Essenz von Talent entsteht als in allen anderen deutschen Gruppendiskussionen. Ähnlich wie die ägyptischen Gruppen werden hier die Artikulationsmöglichkeit und der Mut zur öffentlichen Präsentation positiv evaluiert. Anders verhält es sich mit der Bedeutung des Wissens in den Formatversionen von MILLIONÄR. Denn hier evaluieren die Gruppen durchaus ihr eigenes Wissen und das der Sendung. Während aber die ägyptischen Gruppen die Fragen des Impulsausschnitts anspruchsvoll finden und trotz der Kritik am kommerziellen Prinzip das vermittelte Wissen selbst nicht in Frage stellen, überwiegt bei den deutschen Gruppen ein Diskurs, in dem die Unterhaltungsorientierung der Sendung klar ak-

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zeptiert und das vermittelte Wissen als nicht zwingend notwendiges Halbwissen791 deklariert wird. Am Beispiel einer Schülergruppe lässt sich diese Orientierung gut aufzeigen: Julian:

Also ich würde sagen, [ich würde mir] auf jeden Fall nicht die Fragen [merken], also ich meine, da hätte ich jetzt nicht gewusst, dass es die Lachslaus war – hätte ich es eben nicht gewusst. Also, das wäre jetzt nicht so dramatisch gewesen. [Lachen] Aber man will ja da auch unterhalten werden.

Lydia: Julian:

Ja, eben. Man will jetzt nicht unbedingt was Neues lernen, wenn man was Neues lernen will, geht man zu Wikipedia oder so.792

Dies wird nicht nur in expliziten Passagen wie der zitierten deutlich, sondern auch in der rezeptionsbegleitenden Kommunikation, die, wie bereits angemerkt, sehr viel stärker durchwoben ist von Anmerkungen zum Verhalten und Aussehen der Kandidaten. Zwar lassen sich die deutschen Gruppen sofort auf das Spiel ein und raten alle mit, aber gleichzeitig dominiert das Amüsement, das beim Spiel vor allem in der Interaktion und den Kommentaren innerhalb der Gruppen entsteht. 4.2.2 (Trans-)Kulturelle Rezeptionshaltungen: »Skeptische« Rezipienten glokaler Fernsehunterhaltung In der theoretischen Vorarbeit wurden bereits Publikumsstudien angesprochen, in denen die Modi der Rezeption konzeptualisiert werden. Dabei geht es nicht allein um die inhaltlichen Anschlussdiskurse der Rezeption, sondern eher um die Frage, wie sich die Rezipienten zu den Textangeboten positionieren. Legt man nun die Unterscheidung zwischen referenziellen und distanzierenden Rezeptionshaltungen, wie sie Katz und Liebes vorgeschlagen haben793 zugrunde, so zeigt sich in allen Diskussionen, dass zwischen den genannten Rezeptionshaltungen gewechselt wird. Das heißt, dass sich sowohl in den Fernsehgesprächen der Rezeptionsphase wie auch in der postrezeptiven Phase der Anschlusskommunikation Sequenzen der affirmativen Zuwendung als auch einer befürwortenden und distanzierenden Reflexionshaltung finden. Insgesamt überwiegt eine kritische Lesart, was aber auch auf die Situation der Gruppendiskussion zurückzuführen ist, die zu gemeinsamen Deliberationen einlädt, 791 Passend dazu gab der Millionär-Gewinner aus dem Jahr 2014 der deutschen Version an, die Millionenfrage nur durch Zufall gewusst zu haben, da er sie kurz vor der Sendung im Buch »Unnützes Wissen« gelesen habe. 792 D03, Schülergruppe. 793 Liebes, Tamar; Katz, Elihu (2005): The Export of Meaning.

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die im Alltag sicherlich seltener einen solchen Raum der konzentrierten und intensiven Auseinandersetzung finden. Situation und Rahmen der Diskussionen sind künstlich von außen herbeigeführt, so dass sich die gruppeninterne, endogene Kommunikation am äußeren Stimulus orientieren muss, der seinerseits automatisch eine reflektierende Kommunikation induziert. Obwohl sich in der methodischen Durchführung an den Regeln der Alltagskommunikation orientiert wurde, bleibt die Methode selbst bereits eine einflussstarke externe Variable; der Diskurs zwischen Forscherin und Gruppe ist nicht zu trennen vom gruppeninternen Diskurs. Die Anwesenheit der Forscherin hat sicherlich die Aktivierung einer analytischen Rezeptionshaltung insgesamt begünstigt. Das akademische Interesse ist der Gruppendiskussion inhärent und wurde von den Teilnehmern antizipiert, was möglicherweise zu umfangreicheren analytischen Perspektiven, die im Verlauf der Diskussionen eingenommen wurden, beitrug. Allerdings ändern diese methodischen Reflexionen nichts an der Tatsache, dass von den Gruppen eine analytische Rezeptionshaltung eingenommen werden kann. Die Daten verweisen also darauf, dass solche Haltungen in den Gruppen relativ homogen aktivierbar sind. In Bezug auf einen referenziellen Rezeptionsmodus, bei dem sich die Rezipienten ganz auf die Inhalte der Sendungen einlassen ohne etwa ihre Bedeutung oder Inszenierung zu diskutieren, lässt sich feststellen, dass dieser beim Castingformat stärker an einzelne Individuen als an die kollektiv geteilte Rezeption gekoppelt ist. Das heißt, dass einzelne Diskussionsteilnehmer in ihrem identifikatorischen Zugang stabiler sind als andere, die ihre Haltung häufiger wechseln. Als Beispiel dieser Beobachtung dient etwa das kommunikative Handeln einer Diskussionsteilnehmerin einer deutschen Schülergruppe. Sie nimmt Bezug auf eine Narration zum persönlichen Hintergrund einer Kandidatin von DAS SUPERTALENT, die ihrer Mutter mit ihrem Auftritt beweisen wolle, dass sie doch zu etwas im Leben fähig sei. Diese habe sich seit geraumer Zeit von ihr abgewandt und nur der von der Mutter geschiedene Vater sei für die Kandidatin da. Während diese Geschichte von den meisten Diskussionsteilnehmern als dramaturgisches Klischee dechiffriert wird, kommentiert die Teilnehmerin dazu aber: »Aber welches Kind muss seiner Mutter was beweisen, damit die Mutter merkt, dass sie ihr Kind liebt? Also nee, das ist doch keine gesunde Mutter- und Tochter Beziehung!« Wenig später setzt sie sich auch mit der dominanten Gruppenkommunikation auseinander: »Ich muss ehrlich zugeben, wenn ich das jetzt alleine sehen würde, […] dann würde ich auch denken: ›Oh schade, dass sich ihre Eltern getrennt haben.‹«794 An dieser Stelle zeigt sich, wie die Lesart der einzelnen Diskussionsteilnehmerin ganz auf die Inhaltsebene gerichtet ist, andere aber mehr auf Repräsentationsmuster eingehen. Allerdings dekodieren die Gruppen die immanenten Sinngehalte der inhaltlichen Angebote nur an wenigen Stellen völlig ohne Bezug zu den Repräsentationsstrategien. Die Gruppen sind vielmehr 794 D07, Schülergruppe.

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durchgehend daraufhin orientiert, intendierte Bedeutungen und Muster der Produktion offenzulegen, diese zu evaluieren und zu dekonstruieren, wie in den Ausführungen zu den inhaltlichen Anschlussdiskursen ausführlich gezeigt wurde. Auch der prägende Authentizitätsdiskurs hat Auswirkungen auf die Rezeptionshaltung, da die Zweifel an der Echtheit der Realitätsprinzipien der Fernsehshow bereits eine inhärente Distanzierung markieren. Deutlich mehr referenzielle Lesarten erzeugt hingegen das Format WER WIRD MILLIONÄR in den Gruppen beider lokaler Kontexte. Zum einen werden die Fragen mitbeantwortet, zum anderen aber werden auch die Inhalte, die die Kandidaten von sich preisgeben, mit Bezug zur eigenen lebensweltlichen Erfahrung kommentiert. Die Gespräche selbst werden nur an wenigen Stellen analytisch gerahmt. Dies ist etwa dann der Fall, wenn über allgemeine Veränderungen der Unterhaltungsorientierung der Sendung diskutiert wird. Ein Beispiel für die vorwiegende referenzielle Lesart liefert der folgende Diskussionsausschnitt einer deutschen Schülergruppe, die über den Versuch einer Kandidatin diskutiert, ein ganzes Jahr jeden Tag dasselbe Kleid zu tragen, was im Filmausschnitt vom Moderator angesprochen wurde: Henri:

Aber eben hab ich auch gedacht: die Frau hat 365 Tage dasselbe Kleid, ich frage mich/

Anna:

... seltsam ...

Jakob

... hat die das zwischendurch gewaschen?

Lara:

Ja, aber ich glaube sie hat gesagt, sie hat da drei Kleider von.

Jakob:

Ja?

Lara:

Ja, ich glaube, das hat sie gesagt.

Lydia:

Ja, es geht ja darum, dass sie das gleiche Kleid anhat und nicht genau DAS

Lara:

Ich finde das nur ein bisschen komisch, wenn die dann so Sonntag vor dem

Anna:

... im Kleid.

Lara:

Da hab ich dann schon eine Jogginghose an und nicht ein Kleid oder was.

gleiche. [Jungen lachen] Fernseher sitzt/

Jakob:

Komm, das machen wir demnächst jetzt auch nochmal. [Alle lachen]

Lara:

Ja, genau, die geht dann auch so zum Sport.

Lydia:

Stimmt. Und wie schläft sie? Auch mit dem Kleid?

Julian:

Naja, vielleicht macht sie ja auch einfach keinen Sport [Mädchen lachen] und schläft auch nicht.

Lara:

Was, wenn sie jetzt auf so eine Motto-Party geht, so black and white oder so? Das war doch ein blaues Kleid.

Jakob:

Das war doch schwarz?

Lara:

Nein, das war blau.

Julian:

Dann sticht sie raus.

Lara:

Ihre Internetseite hieß doch: das blaue Kleid.

356 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ? Julian:

Ja, vielleicht ist sie ja Farben ... blind. [Lachen]795

Trotz dieser eindeutigen identifikatorischen Verhandlung der angebotenen Gespräche im Fernsehen bleibt die Diskussion aber dennoch von analytischen Einordnungen durchsetzt. Die Inszenierung wird also trotzdem als Prämisse anerkannt und mitgedacht, die Schüler können leicht zwischen einem Sich-Einlassen und einem analytischen Blick wechseln: Jakob:

Aber manchmal fragt man sich auch: ist das jetzt abgesprochen oder ist das wirklich so oder weil dann manchmal die Leute reagieren dann so als wie ein Drehbuch, weil es ist dann genauso, dass sich dann zwischen denen ein Gespräch entwickelt ...

Anna:

Na, ich denke, eben wusste er ja auch schon von der Frau, dass sie diesen Artikel geschrieben hat/

Lydia:

Und er hätte sie ja nicht auf das Kleid angesprochen/

Anna:

Also der hat sicher auch Informationen. 796

Theoretisch treffen diese Beobachtungen auf die Überlegungen Hügels zu, der meint, dass die Zuwendung zu Populärkultur immer von einer Anerkennung des inszenierten Spiels getragen wird. Die Gruppen lassen sich also auf die Unterhaltungssendung identifikatorisch ein, ohne dabei die Inszenierung an sich zu vergessen. Insofern erscheint auch eine Quantifizierung kritischer und referenzieller Sequenzen nicht sinnvoll, da angesichts der leicht variierenden Länge der Diskussionen insgesamt, der Länge ausgewählter inhaltlicher Diskussionspassagen, des unterschiedlichen Redeanteils der Diskussionsteilnehmer und angesichts der wechselnden Haltungen innerhalb von Gruppen Häufigkeiten kaum angemessen eingeordnet werden können. Aufschlussreicher ist hingegen, die Analyse kritischer und referenzieller Lesarten auf der Ebene der Sprachverwendung weiterzuführen. Denn bezüglich des Talentformats fällt auf, dass die Attribuierungen der Sendung deutlich variieren. Während bei der Diskussion des Erlebniszusammenhangs der Rezeption (affirmative, emotionale Zuwendung) häufig positive oder ludische Attribute wie »lustig« oder »unterhaltend« genutzt werden, werden im Sprechen über den Inhaltszusammenhang (kognitive Ebene) eher negative Bezeichnungen wie »Scheiß« verwendet.797

795 D03, Schülergruppe. 796 Ebd. 797 Da es sich hier nicht um eine detaillierte Sprachanalyse handelt und die Daten im ägyptischen Fall fremdsprachlich erzeugt wurden, soll auch in diesem Zusammenhang von einer Quantifizierung abgesehen werden.

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Das Paradoxon der gleichzeitigen affirmativen Zu- und analytischen Abwendung von DAS SUPERTALENT wird auch selbstreflexiv von den Diskussionsteilnehmern erkannt. Selbst in den Gruppen, die sich am stärksten von der Sendung distanzieren, wird bemerkt, dass die Inszenierung des Talentwettbewerbs eine emotionale Wirkung entfalte. Ein Student bringt dies auf den Punkt, wenn er sagt: »Ich müsste auch lügen, wenn ich jetzt sage, dass es auf mich jetzt gar nicht wirkt so. Aber ich denke dann halt die ganze Zeit: ›ach komm, das ist jetzt irgendwie auch [verdreht die Augen und schüttelt den Kopf als Zeichen der Ablehnung].‹«798 Ganz ähnlich reflektiert auch eine Studentengruppe aus Kairo ihre Kritik, indem darüber gelacht wird, dass sie einerseits das Programm so kritisieren, andererseits aber doch alle vertraut sind mit der Sendung: Omar:

We were criticizing so badly, saying it’s an imitation, but in the end …

Fuad:

We watch it.

Omar:

We see it, we watch it, right? [Laughter] We know it, we know all of these things, it was in our mind even before we watched it right now. And I can’t tell you why we actually watch it even though we know all these things, but I mean it’s fun. It is pretty new, as Ahmed said, it is pretty new to us seeing an Arab singing an English song and, you know, doing a good job at it. Yeah, that’s pretty interesting.

In diesen Verbalisierungen wird die Diskrepanz zwischen affirmativer Wirkung und kognitiver Ablehnung greifbar. Theoretisch ist daran zweierlei interessant: Zum einen bestätigt sich hier ein ironisches Vergnügen, das von Ang als Freude am Text bei einem gleichzeitigen Wissen um dessen geringe Qualität definiert wird. 799 Zum anderen entwickeln die Gruppen beider lokaler Kontexte auch Legitimationsmuster, die ihre Rezeption rechtfertigen. Während die ägyptischen Gruppen diesbezüglich ihre Rezeption mit der Neugier auf die lokale Version der bekannten USamerikanischen Vorlage rechtfertigen (»We watch it, because we as Arabs are curious.«800), führen die deutschen Gruppen an, dass die Sendung eskapistischen Nutzen habe, ohnehin nur nebenbei rezipiert werde und die Gruppen um die geringe Qualität wissen: »Von meinem Vater kommt dann immer so: ›Wie kannst du so was angucken‹ und ›das spiegelt doch dich selbst auch wieder‹ Und ich so: ›Nee, eigentlich nicht.‹ Also, man durchblickt es ja.«801 Außerdem rechtfertigen gerade die deutschen Teilnehmer die Rezeption auch mit einem Mangel an Alternativen im gesamten Fernsehangebot, wie das folgende Beispiel zeigt, worin sich aber gleich798 D01, Studentengruppe. 799 Ang, Ien (1989): Watching Dallas, S. 96ff; vgl. auch Kapitel 2.1.3. 800 Ä04, Studentengruppe. 801 D02, Schülergruppe.

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zeitig bei den Schülergruppen auch eine Akzeptanz der Deutungshoheit des Unterhaltungsfernsehens über den eigenen Zeitvertreib dokumentiert: Samira:

Wenn ich allein solche Castingshows sehe, dann denke ich auch nicht darüber nach.

Hendrik:

Das geht da rein, da raus.

Toni:

Ja, das ist nur mit Freunden so.

Hendrik:

Und man braucht irgendwas zum Beschäftigen, deswegen guckt man irgendwelche Sachen an. [Alle lachen]

Maria:

Ja, aber in der Schulzeit macht man ja sowieso nichts, also ich bin um die Uhrzeit selten noch unterwegs und dann hat man Langeweile, und dann guckt man sich das halt einfach an, weil sonst läuft sowieso nur Scheiße.

Mark: Toni:

Das ist auch so ein Punkt. Es gibt ja auch nichts anderes. Ja, es gibt auch nichts anderes im Fernsehen zu den Zeiten. Und diese Sendung guckt man auch irgendwie. Ich finde, die guckt man dann mehr so mit Familie und Freunden, weil sie dann irgendwie so ein bisschen unterhaltsamer ist.802

Neben dem eskapistischen Nutzen, der der Rezeption zugeschrieben wird, wird also ebenso ein sozialer Nutzen reflektiert, der sich durch die Teilnahme an der öffentlichen Anschlusskommunikation ergibt. Der allerdings steht im Zusammenhang mit einem empfundenen sozialen Gruppenzwang zu Schulhofgesprächen, wobei die moralische Abwertung der Sendung hier zu unterschiedlichen Handlungskonsequenzen führt. Einerseits ist das Mitreden dann der Grund für die Rezeption: »Dann denkt man sich: ›na gut, wenn ich es jetzt das nächste Mal nicht gucke, kann ich ja eigentlich gar nicht mitreden und dann guckt man es ja doch wieder.‹«803 Andererseits kann daraus auch eine Verweigerung der Rezeption folgen: »Ich bin eher stolz auf mich, wenn ich nicht mitrede, als wenn ich mitrede.«804Allerdings kann hier nur die Reflexion und nicht die eigentliche Handlungspraxis erfasst werden. Die Kontextualisierungsleistungen der eigenen Rezeption zeigen aber einen hohen Grad an Medienkompetenz bei den Teilnehmern dieser Studie. Dabei entscheidet scheinbar weniger die Tatsache, ob die Gruppen die Formate regelmäßig verfolgen oder nicht. Denn auch wenn eine analytische Distanz bei den deutschen Studentengruppen besonders sichtbar ist, so unterscheidet sich die Kritik an den Formatversionen von GOT TALENT nicht grundlegend von der, die auch die Schülergruppen entwickeln, die die Formate selbst besser kennen und regelmäßig schauen. Diese Daten entsprechen einer allgemeinen Tendenz, die auch von anderen Autoren nachvollzogen wurde. So schreibt beispielsweise Hill, die umfangreich zu Reality802 D07, Realschülergruppe. 803 Ebd. 804 Ebd.

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Fernsehen geforscht hat, dass dieses Genre ganz besonders Gelegenheitsrezipienten anziehe und reguläre Konsumenten der Sendungen eher die Ausnahme seien. 805 Ein deutlicher lokaler Unterschied macht sich bezüglich der Rezeptionserfahrung bei den Studentengruppen bemerkbar. Diese sind zwar sowohl in Deutschland als auch in Ägypten mit den Formatversionen von MILLIONÄR vertraut, die Nutzung der Versionen von GOT TALENT unterscheidet sich hingegen erheblich. Denn die ägyptischen Studierenden zählen hier mit Ausnahme einer Studentengruppe der University of Cairo zu den regelmäßigen oder gelegentlichen Rezipienten des Formats. Die deutschen Studenten hingegen sind zwar auch vertraut mit dem Format, zählen sich selbst aber nicht zu den Rezipienten. Im Rahmen einer theoretischen Reflexion der Ergebnisse sollen die in den Gruppendiskussionen aktivierten Rezeptionshaltungen zusammenfassend als skeptische Rezeptionshaltungen beschrieben werden. Skeptisch erscheint hier als passendes Attribut, da es in seinem etymologischen Ursprung, der im griechischen »sképsis« liegt, sowohl die Bedeutungsdimension »Zweifeln« als auch die der »Betrachtung und Prüfung« integriert.806 Da sich in allen Diskussionen zwar identifikatorische beziehungsweise referenzielle Passagen finden lassen, diese aber immer wieder durch eine zweifelnde Grundhaltung gegenüber dem eigenen Vergnügen am Text gebrochen werden, ist dies eine geeignete Beschreibung für die grundsätzliche Haltung der Rezipienten bei den beiden untersuchten Formaten. Sie verweigern das Vergnügen nicht, sie lassen sich durchaus auf das Programmangebot ein, sie behalten jedoch in der kollektiven Orientierung eine kritische Reflexionshaltung aufrecht. Das empfundene Vergnügen auf der Erlebnisdimension des Formats wird durch die Einordnungen auf der Inhaltsebene somit konterkariert. In dieser ambivalenten Bezugnahme auf das Format lässt sich auch erkennen, was Fiske als populäres Vergnügen in Anschluss an die Literaturwissenschaftler Barthes und Bakhtin konzeptualisiert hat: »I find it helpful to categorize popular pleasures into two types – those of evasion, which center around the body and which socially tend to cause offense and scandal, and those of producing meanings, which center around social identity and social relations, and work socially through semiotic resistance to hegemonic force.«807 Ein körperlich erfahrbares, evasives Vergnügen äußert sich in den Gruppen in artikulierten Empfindungen des Ekels, der (Fremd)Scham oder auch der Überraschung beziehungsweise Bewunderung eines außergewöhnlichen Talents, das in karnevalesquen Momenten und einer Überhöhung der Darstellung präsentiert wird. Das intellektuelle, bedeutungsstiftende Vergnügen ist hingegen stärker auf die kulturellen Muster der Interpretation gerichtet, 805 Hill, Annette (2005): Reality TV, S. 51. 806 Pfeifer, Wolfgang (1993): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 2. Aufl. Berlin: Akademie-Verlag, S. 1299. 807 Fiske, John (1989): Understanding Popular Culture, S. 56.

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das den Rezipienten aber erlaubt, diese zu evaluieren, zu brechen, zu bestätigen oder neu zu verhandeln. Wenn die Diskussionsteilnehmer sichtbar Freude an der Wiedererkennung und Aufdeckung der inszenatorischen Prinzipien und der Gestaltungskonventionen der Sendung entwickeln, sich aber oppositionell gegenüber dem repräsentativen Versprechen einer außergewöhnlichen Talentsuche positionieren, die als Schein dekodiert wird, dann ist empirisch ein widerspenstiges Vergnügen an den Unterhaltungsformaten zu erkennen. 4.2.3 (Trans-)Kulturelle Referenzen: Wissensrahmen der Rezipienten Von den Gruppen werden für die Interpretationen der Sendungen gemeinsame Wissensrahmen aktiviert, die helfen, die Herstellung einer kulturellen Nähe zum Text zu rekonstruieren. Im Rahmen der Strukturierung des Analysematerials konnten dabei induktiv drei Referenzebenen des Wissens identifiziert werden, auf die Gruppen zurückgreifen, wenn sie den Sendungen Bedeutungen verleihen. Auf einer ersten Ebene stellen die Rezipienten intertextuelle Bezüge her, das heißt, dass Wissen aus der Kenntnis anderer Episoden des Formats zur Erklärung und Deutung angeführt werden. Zweitens werden intermediale Bezüge hergestellt, womit Wissensbestände zu anderen medialen Akteuren oder Produkten gemeint sind, ebenso wie Wissen um Produktionsstrukturen und -routinen. In Anlehnung an Fiske entspricht dies der horizontalen und vertikalen Intertextualität, also Bezügen zwischen dem Format, seinen Charakteren, dem Genre oder sekundären Texten wie Fernsehkritiken oder allgemeiner Medienberichterstattung über die Formate.808 Schließlich wurden drittens auch alltagsweltliche Bezüge beziehungsweise extratextuelle Referenzen hergestellt. Damit sind Übertragungen in und die Verwendung von Wissensressourcen aus der Alltagswelt der Zuschauer gemeint. Mithilfe dieser drei Ebenen kommunizierter Wissensbestände kann die Analyse der Art und Weise der Rezeptionsdeutungen nochmals detaillierter rekonstruiert werden. 4.2.3.1 Intertextuelle Referenzen Bezüglich der ersten Dimension, den intertextuellen Referenzen, lassen sich im Vergleich der Gruppendiskussionen vor allem Unterschiede hinsichtlich der Quantität der aufgestellten Bezüge sowie hinsichtlich der Formate ausmachen. Häufig werden in den deutschen Diskussionen über GOT TALENT Gewinner und Kandidaten aus anderen Staffeln des Formats in die diskursive Interpretation einbezogen. Dies ist auch ein Indiz dafür, dass das Format als »übergreifender Text« unabhängig vom Talentwettbewerb und den Narrationen der einzelnen Staffeln oder gar einzelner Sequenzen wahrgenommen wird. Interessant ist, dass auch diejenigen Grup808 Fiske, John (2007): Television Culture, S. 108ff.

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pen, die nur Gelegenheits- oder Zufallszuschauern sind, Beispiele aus ähnlichen oder älteren Formaten in ihre Interpretationen einbringen. In den Diskussionen wird somit ein breiter Kanon an Unterhaltungsformaten konstruiert. Unabhängig vom konkreten Rezeptionsverhalten, werden zahlreiche Formate also als Ressourcen eines kommunikativen Gedächtnisses der Gruppen verhandelt. Dies gilt umso mehr für die Anschlussdiskussionen von MILLIONÄR. Hier wird deutlich, wie stark die Sendung durch die langjährige Ausstrahlung in die erinnerte Medienerfahrung der Rezipienten eingeschrieben ist. Nahezu alle Diskussionsteilnehmer nehmen auf eine persönliche Rezeptionserfahrung Bezug. In der Rückschau wird das Format im historischen Vergleich nochmals bewertet und nostalgisch erinnert. Diese Beobachtung trifft auch auf die Gruppen im ägyptischen Kontext zu, deren Diskussionsteilnehmer ähnliche familiäre Rezeptionserfahrungen von MAN SAYARBAH AL-MALYOON in die Diskussionen einfließen lassen. Als Vergleichsbeispiel wird die Sendung sogar in Diskussionen über ARABS GOT TALENT angebracht. Da heißt es beispielsweise in der medienkritischen Stimmung einer Gruppe arabischer Studenten: »The only guy I ever liked in TV shows was the one from MAN SAYARBAH ALMALYOON, […] because he is honest.«809 Obwohl das Format im arabischen Raum im Erhebungszeitraum erst in der vierten Staffel ausgestrahlt wurde, hat es scheinbar eine ähnliche Präsenz in der Medienerfahrung der ägyptischen Gruppen erreicht. Anders verhält es sich im ägyptischen Kontext mit den intertextuellen Referenzen zu ARABS GOT TALENT. Auch wenn vereinzelt einige Darbietungen beziehungsweise Kandidaten erinnert werden, sind die Bezüge zu Episoden oder Teilnehmern aus Sequenzen, die nicht gemeinsam rezipiert wurden, in geringerem Maße vorhanden. Stattdessen werden im Kontrast zu den deutschen Gruppen zahlreiche Referenzen zur US-amerikanischen und britischen Version von GOT TALENT hergestellt. Der präsente Rekurs auf die Vorlage zeigt die Vertrautheit der Gruppen mit den Originalproduktionen an. Diese Beobachtung bestätigt sich auch in Ergebnissen aus einem begleitenden Fragebogen, in dem die Gruppen gebeten wurden, Angaben zu ihrer Fernsehnutzung zu machen. Etwas mehr als die Hälfte der Teilnehmer des Studiensamples (52,17 Prozent) gaben in diesem Zusammenhang an, dass sie Sendungen via Internet rezipieren.810 Genannt wird hier neben US-amerikanischen Angeboten wie THE BIG BANG THEORY oder FRIENDS am häufigsten AMERICA’S GOT TALENT. Die 809 Ä03, Studentengruppe. 810 Auf eine numerische Darstellung der gesamten Ergebnisse des Fragebogens wird hier verzichtet, da es sich um nicht-repräsentative Daten handelt. Die Auswertung ist vor allem dazu gedacht, das spezifische, singuläre Sample zu kontextualisieren, weswegen hier nur auf relevante Beobachtungen eingegangen wird, die geeignet sind, Erklärungsangebote für die Gruppeninterpretationen zu untermauern oder zu ergänzen.

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Kenntnis der internationalen Formatvorlage wird auch explizit von einer Teilnehmerin reflektiert: »But because we first watched the American and the British Version of the show, we are always comparing between these versions while watching the Arab version.«811 Diese Orientierung an insbesondere US-amerikanischen Programmen bestätigt sich auch in den Angaben zu regelmäßig rezipierten Fernsehsendungen, in denen die Teilnehmer mit GLEE, GREY’S ANATOMY, PRETTY LITTLE LIARS oder HOW I MET YOUR MOTHER auf einige der aktuellen US-amerikanischen Hitsendungen verweisen und mit SO YOU THINK YOU CAN DANCE, THE VOICE, AHLA SOUD und ARABS GOT TALENT außerdem auf populäre Fernsehformate. Auch wenn sich einige originäre lokale (Nachrichten-)Programme unter den Angaben finden – etwa AL-QUAHIRA AL-YOUM – so dominieren doch eindeutig die international zirkulierenden Unterhaltungsangebote in den Antworten der Diskussionsteilnehmer. Somit wird der dominante Deutungsrahmen der Castingsendung als Imitation westlicher Unterhaltungskultur vor dem Hintergrund der Kenntnis derselben durch die Gruppen verständlich. Dieser grenzüberschreitende Verweisungszusammenhang wird von den deutschen Gruppen nicht so offensichtlich hergestellt. Dort bleibt das maßgebliche Referenzsystem die deutsche Medienlandschaft. Dies entspricht ebenfalls den Angaben zu den meistgesehen Sendern und Sendungen der Gruppen. Denn sowohl bei Sendungen als auch bei Sendern finden sich deutlich mehr nationale Angebote in den Angaben. Zwar dominiert mit PRO7 ein Sender, zu dessen Profil die Ausstrahlung internationaler und US-amerikanischer Serien- und Filmformate gehört, die deutschen Teilnehmer geben aber beispielsweise kaum transnationale Sender an.812 Hier wird also eher auf das deutsche Fernsehangebot ohne größere Außenorientierung zurückgegriffen. Darin liegt wohl der größte Unterschied der Gruppenkontexte: Während die einen zu einer globalen Elite qua ihres zum Teil bilingualen Mediennutzungsverhaltens gezählt werden können, repräsentieren die anderen eher den typischen nationalen Rezipienten. Aus diesen Beobachtungen lässt sich bereits schlussfolgern, dass die Fernsehrepertoires einen maßgeblichen Einfluss auf die Anschlusskommunikation haben. Die Fernsehrepertoires wiederum sind abhängig von den verfügbaren Ressourcen in den 811 Ä11, Studentengruppe. 812 Im Gegensatz dazu wurden in den ägyptischen Gruppen hauptsächlich transnationale Sender genannt, darunter MBC, FOX MOVIES, NATIONAL GEOGRAPHIC oder OSN. Aus den Angaben wurde außerdem deutlich, dass sich die ägyptischen Teilnehmer eher von den lokalen und nationalen Programminhalten abwenden. Obwohl AL-HAYAT TV entsprechenden Untersuchungen zufolge einer der beliebtesten lokalen Sender Ägyptens ist, rangiert dieser bei den Teilnehmern erst hinter den arabischen Satellitensendern. Vgl. hierzu auch Bin Fahad, Maryam (Hg.) (2012): Arab Media Outlook 2011-2015. Dubai: Dubai Press Club.

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lokalen Medienumgebungen, die ihrerseits dieses Fernsehrepertoire ermöglichen oder begrenzen. In den inhaltlichen Bezügen zeigt sich, dass die ägyptischen Gruppen alle Zugang zu den US-amerikanischen Versionen des Castingformats hatten. MBC 4 strahlte diese Versionen auch vor der Eigenproduktion aus. In Deutschland hingegen waren die Originalversionen zumindest nicht auf den meistgesehenen Kanälen mit geringen Zugangsbarrieren zu sehen. Die Wissensrahmen, die Einfluss auf die Interpretation haben, unterliegen somit zwar den Nutzungsmustern, die sich im Zusammenhang mit den kulturellen und, konkreter, habituellen Eigenschaften der Rezipienten erklären lassen, sie werden aber in erster Linie durch lokalspezifische Angebotsstrukturen vorstrukturiert. 4.2.3.2 Intermediale Referenzen Diese Erkenntnis gilt ebenso für intermediale Referenzen, die in allen Diskussionsgruppen vor allem Verweise auf andere Formate des gleichen oder ähnlicher Genre beinhaltet. Die explizite Genrezuweisung spielt dabei keine Rolle in den Diskussionen – die diskutierten Formate werden entweder allgemein als Unterhaltungssendungen klassifiziert oder sie werden einem Cluster internationaler Formate zugeordnet, die immanent qua Produktions- und Darstellungskonventionen gebildet werden. Insbesondere GOT TALENT wird mit ähnlichen internationalen Reproduktionen sowohl in den deutschen Gruppen – mit DEUTSCHLAND SUCHT DEN SUPERSTAR, GERMANY’S NEXT TOPMODEL, DAS DSCHUNGELCAMP oder THE VOICE – als auch in den ägyptischen Gruppen – hier vor allem mit THE VOICE, AHLA SOUT und ARABS IDOL – verglichen. Dabei wird deutlich, dass das Castingformat in beiden lokalen Kontexten entlang ähnlicher Kategorien eingeordnet wird, genauer wird GOT TALENT mit Sendungen ähnlicher Produktionskonventionen, Darstellungsformen und Prinzipien verglichen, wie das folgende Beispiel illustriert: Nora:

THE VOICE OF GERMANY gibt es jetzt.

Claudia:

Auf RTL gibt es DSDS und DAS SUPERTALENT, auf Pro7Sat1 THEVOICE OF GERMANY.

Nora:

Ja, dann gab’s auch noch POPSTARS.

Claudia:

UNSER STAR FÜR BAKU gibt es jetzt auch noch.

Anna:

Aber DSDS finde ich irgendwie am Schlimmsten. Da ist vielleicht ein Monat

Stephanie:

Nee, das Schlimmste ist DAS DSCHUNGELCAMP. Also [Alle lachen] die geht

Claudia:

Aber allgemein gesagt, kann man das, glaube ich, alles in eine Schublade pa-

Pause und dann hast du das Gefühl, da gibt es schon wieder eine neue Staffel. gar nicht diese Sendung. cken. Stephanie:

Ja, ist einfach alles Unterhaltung.813

813 D02, Gymnasialschülergruppe.

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Diese Vergleiche orientieren sich meistens an den programmatischen Eigenschaften der Formate und nicht an deren Inhalt und Narration, was dokumentiert, dass die Gruppen hier indirekt die Struktur der Fernsehunterhaltung zur Hintergrundfolie ihrer Betrachtung machen. In den Diskussionen bildet sich darüber hinaus auch ein transkultureller Common Sense über die Produktionsroutinen, Produktionsintentionen und Produktionsmuster ab. Erklärungsangebote für ähnliche Perspektiven auf Unterhaltungsangebote im Fernsehen lassen sich erneut aus der Mediennutzung der Gruppen ableiten. Denn auch wenn die deutschen Gruppen weniger mit den originalen Formatvorlagen vertraut sind als die ägyptischen Gruppen, so zeichnet sich vor allem in den Schülergruppen dennoch eine ähnliche Koorientierung an USamerikanischen Unterhaltungsangeboten wie HOW I MET YOUR MOTHER, SCRUBS oder TWO AND A HALF MEN ab. Interessant ist außerdem, dass viele der Diskussionsteilnehmer ein eigenes Kontextwissen zur Verfügung stellen, da sie selbst Teilnehmer von Sendungen kennen, bei Aufzeichnungen dabei waren oder zumindest ihre Alltagstheorien über die Produktionsmechanismen austauschen. Es geht dabei etwa um Verträge, die mit den Kandidaten gemacht werden, um finanzielle Rahmenbedingungen unterschiedlicher Produktionen und um Produktionsabläufe. Allerdings zeigt sich an dieser Stelle wiederum ein kontextspezifischer Unterschied in Zusammenhang mit den Alltagstheorien über die Wirkweisen von Fernsehunterhaltung. Denn die ägyptischen Gruppen kommunizieren hier ganz klar die Vorstellung, dass die Fernsehunterhaltung dazu geeignet sei, die Menschen abzulenken und von den eigentlichen politischen Problemen des Alltags wegzubringen. Damit wird den eigenen Produktionseliten ein Brot-und-Spiele-Prinzip unterstellt. Ein weiterer Unterschied zeigt sich in der Bezugnahme auf die jeweils ausstrahlenden Sender. So spielt MBC in den Diskussionen in Ägypten kaum eine relevante Rolle bei der Interpretation der Sendungen. In Deutschland hingegen wird das Image des ausstrahlenden Senders RTL vielfach referenziert. Dabei dokumentiert sich in den Diskursen der Gruppen, dass das Senderprofil die Erwartungen an die Sendungsinhalte vorprägt: »Wenn man sagt, ich gucke mir jetzt eine Sendung auf RTL an, dann erwartet man nicht, dass man dadurch jetzt viel schlauer wird [Lachen] … sondern da erwartet man einfach so, ja, ich werde jetzt unterhalten.«814 4.2.3.3 Alltagsweltliche Referenzen Lokale Prägungen sind auch bezüglich der alltagsweltlichen Referenzen erkennbar. Gerade bei der Interpretationen von GOT TALENT konnte festgestellt werden, dass die Auseinandersetzung mit den Inszenierungs- beziehungsweise Imitationsstrategien der Sendungsversionen zu kritischen normativen Einschätzungen der gesellschaftlichen Bedeutung der Sendungen geführt haben, die aber in Ägypten eher von 814 D03, Gymnasialschülergruppe.

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Alltagstheorien über amerikanische Einflüsse auf ägyptische Kultur geprägt waren, in Deutschland hingegen von Alltagstheorien über einen allgemeinen Werteverfall in Deutschland. Diskurse um die Qualität der Unterhaltung lassen sich auch in den lokalen Öffentlichkeiten finden. Die Gruppen aktualisieren in ihren Lesarten in diesem Zusammenhang also bereits tradierte Diskurse über die Qualität des deutschen Fernsehens. Zumindest in meinungsführenden Medien und wiederkehrender Kritik öffentlicher Personen ist diese Wahrnehmung in Deutschland über Jahre zyklisch wiederbelebt worden. Es verwundert daher nicht, dass auch die Gruppen teilweise explizit mit dem Begriff des »Unterschichtenfernsehens« operieren. Auch wenn zumeist gleichzeitig eine indirekte Markierung der Problematik um den Begriff mitgeliefert wird, wird er dennoch in den Gruppen enttabuisiert, was die soziale Demarkierungsfunktion nochmals bestätigt, wie im Beispiel des Einschubs einer Schülergruppe: »Das ist dann eher so dieses Unterschichtenfernsehen, sage ich jetzt mal so, ist jetzt böse, aber es ist ja eigentlich so.«815 Dies verweist auf einen innergesellschaftlichen Diskurs über den Zusammenhang zwischen sozialer Lage und Fernsehnutzung. Auch wenn in aktuellen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen von einer schichtunabhängigen Mediennutzung ausgegangen werden muss, wird dieser Zusammenhang zwischen dem Prekariat und Reality-TV in öffentlichen Diskursen aufgegriffen, so auch in den Diskussionen. In den ägyptischen Gruppen wurden hingegen kaum Annahmen über ein kopräsentes Publikum verhandelt, was auch an der transnationalen Reichweite des Publikums liegen kann. Dennoch fanden sich einige Hinweise darauf, dass auch Rezipienten in Ägypten ähnliche Alltagsvorstellungen der vermeintlichen Nutzer von Unterhaltungsformaten haben. In der Nachbesprechung einer Gruppendiskussion in Kairo beispielsweise rieten die Diskussionsteilnehmer der Forscherin, auch Rezipienten aus der Unterschicht zu befragen, da diese die Sendung vermutlich anders interpretieren würden. Allerdings sind dies Meinungen und Wissensbestände, die noch im engeren Sinne mit der Fernsehrealität in Bezug stehen. Neben den Diskussionen über arabische Kreativität und allgemeine Wertverschiebungen in der deutschen Öffentlichkeit erzeugen die Diskussionen im Anschluss an die Unterhaltungssendungen weniger Diskursfragmente, die andere Gegenstände der Lebenswelt zum Thema haben. Vergleiche zum eigenen Wissen und Alltagshandeln werden zwar durch die Kandidaten in den Fernsehshows aktiviert, aber es bleibt hier eher bei situationsbedingten Kommentierungen. Dies gilt auch für die Sequenzen, in denen Teilnehmer die wirtschaftliche Entwicklung Ägyptens auf der Grundlage ihres fachlichen Hintergrundwissens kritisieren. Insofern ist an dieser Stelle ebenfalls zu berücksichtigen, was im Rahmen der Unterhaltungskommunikation nicht verhandelt wird. Dabei ist interessant, dass zwar punktuelle Entgrenzungen von Unterhaltungsdiskurs und politischem Diskurs 815 Ebd., auch in mehreren Studentengruppen wird der Begriff genutzt.

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entstehen – wenn etwa das Verhältnis der arabischen Staaten untereinander mit Blick auf die nationale Unterstützung von Kandidaten angesprochen, die konfliktbeladene Vergangenheit Ägyptens und Algeriens zitiert wird oder eine rhetorische Frage zu einem aktuellen Thema der Region, dem syrischen Bürgerkrieg, hergestellt wird. Von einer grundlegenden Politisierung der Anschlussdiskurse kann aber nicht gesprochen werden kann. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund der Entwicklungen in Ägypten interessant. Denn während der Feldforschung war die ägyptische Hauptstadt Kairo zwar zu routiniertem Alltag zurückgekehrt, die ägyptische Revolution war im Herbst 2012 aber nach wie vor präsent. Zahlreiche Graffitis, etwa in der Mohammed Mahmoud Straße im Zentrum Kairos, hielten das kommunikative Gedächtnis im öffentlichen Raum wach und die Revolution war noch in aller Munde. Darüber hinaus schlug ein US-amerikanischer YOUTUBE-Film über den Propheten Mohammed international Wellen, in dessen Folge es auch zu einigen marginalen Demonstrationen vor der Kairoer US-Botschaft gekommen war. Ein Streik der Studenten an der AMERICAN UNIVERSITY IN CAIRO illustrierte schließlich noch ein Klima der Generations- und Klassenkonflikte, die offen ausgetragen wurden.816 Doch auch wenn die ägyptischen Diskussionsteilnehmer den Transformationsmoment des Landes in Gesprächen vor und nach der Diskussion thematisierten, spielte die politische Transformation in den Diskussionen um die Unterhaltungsformate kaum eine Rolle. Das heißt nicht, dass Unterhaltung nicht politisch ist – die unterschiedlichen Anschlussdiskurse haben zumindest verschiedene gesellschafts- und gemeinschaftsrelevante Ebenen der Anschlusskommunikation aufgezeigt. Die Diskutanten aber stellen in beiden Kontexten kaum eine Verbindung zwischen der konkreten politischen Situation und den Textangeboten her. Bedenkt man, dass realitätsbasierte Unterhaltungsangebote auch als neue Formen der gesellschaftlichen Partizipation in der arabischen Welt betrachtet werden,817 so wird hier eher die kulturelle und soziale Relevanz der Unterhaltung sichtbar und keine genuin politische. In der folgenden Tabelle sind die Ergebnisse zu den Wissensrahmen der Gruppen nochmals zusammengefasst dargestellt:

816 Es ging um Zugangsvoraussetzungen und Studiengebühren der Universität und der Streik überdauerte den gesamten Forschungsaufenthalt an. 817 Bspw. Kraidy, Marwan (2010): Reality Television and Arab Politics.

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Tabelle 13: (Trans-)Kulturelle Wissensrahmen in den Gruppendiskussionen



Lokale Wissensrahmen

Lokale Wissensrahmen

deutscher Kontext

ägyptischer Kontext

starke intertextuelle Bezüge

Intertextuelle Referenzen  geringe intertextuelle Bezüge

Intermediale Referenzen Rekurse auf andere Formate:  Rekurse auf andere Formatversionen: DSDS, Dschungelcamp, The Voice, America’s Got Talent, Britain’s Got Talent, Germany’s Next Topmodel The Voice  starke Kontextualisierung der  marginale Kontextualisierung der Sendeanstalt RTL Sendeanstalt MBC 

Extratextuelle/Alltagsweltliche Referenzen Aktualisierung öffentlicher Diskurse über  Aktualisierung von Alltagstheorien zur »Unterschichtenfernsehens« Wirkung von Fernsehunterhaltung  vereinzelte Bezüge zur politischen Sphäre der gesellschaftliche Referenzsysteme  kommentarhafte Bezüge zu den Lebenswelten der Gruppe 

4.2.4 Exkurs: Fernsehgespräche und Anschlussdiskurse im Vergleich In den letzten Auseinandersetzungen standen die Anschlussdiskussionen zur gemeinsamen Rezeption im Vordergrund und es wurde argumentiert, dass die analytischen und kritischen Passagen der Gruppendiskussionen durch die Bitte der Forscherin um eine Diskussion ausgelöst und bestimmte Interpretationsmuster begünstigt wurden. Beobachtungen während der Rezeption können einen solchen Einwand hingegen etwas relativieren, da die Gruppen häufig bereits während der Rezeption und damit auch vor der Intervention der Forscherin analytische Einordnungen im begleitenden Fernsehgespräch vornahmen. Die affektive Zuwendung und entsprechende emotionale Reaktionen wie Lachen, Kopfschütteln oder Abwenden treten in der rezeptiven Phase deutlicher zutage. Die geäußerten Inhalte während der gemeinsamen Rezeption stehen damit zwar nicht im direkten Gegensatz zu den inhaltlichen Anschlussdiskursen, die in den nachfolgenden Diskussionen entwickelt werden, aber gerade bezüglich der Rezeptionshaltung ist eine Verschiebung zu erkennen. Während beispielsweise eine deutsche Schülergruppe sehr intensiv über die Inszenierungsstrategien von DAS SUPERTALENT diskutiert, zeigt die Unterhaltung der Gruppe während der Rezeption viele referenzielle Bezugnahmen, in denen deutlich mehr Verbindungen zwischen dem Fernsehtext und den alltagsweltlichen Deutungen formuliert werden. In der Aussage »Ich möchte auch einmal hypnotisiert werden«818 dokumentiert sich beispielweise in Bezug auf eine Hypnose-Darbietung ei818 D02, Gymnasialschülergruppe.

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ne identifikatorische Bezugnahme auf die Inhalte der Fernsehrealität, die im Alltag nachempfunden werden wollen und zu der ein Ich-Bezug hergestellt wird. Letzterer äußert sich auch in einer Gesprächssequenz, in der die Gruppenmitglieder sich vorstellen, was passieren würde, wenn sie selbst auf der Bühne stehen würden und welche Konsequenzen dies etwa im Handeln der Eltern hätte. Die Fernsehgespräche aller Gruppen wurden zwar alle durch die teilnehmende Beobachtung der Forscherin erfasst, konnten im Rahmen dieser Studie aber nicht systematisch dokumentiert und ausgewertet werden. Die vergleichende Analyse der jeweils halbstündigen Fernsehgespräche ist Aufgabe einer alleinstehenden Studie, in der auch vielfältige Variablen der Übersetzung mit berücksichtigt werden müssten, da etwa die ägyptischen Jugendlichen häufig zwischen Arabisch und Englisch variieren. Die hier im Exkurs angedeuteten Ergebnisse basieren daher vornehmlich auf Notizen aus der Feld-Beobachtung und der Begutachtung der Aufzeichnungen und stehen der systematischen Analyse der Diskussionsprotokolle in der methodischen Aufbereitung nach. Um die Beobachtungen aber einer Fallprüfung zu unterziehen, wurden wenige exemplarische Gesprächsprotokolle angefertigt, anhand derer die Beobachtungen am Einzelfall nachvollziehbar werden. Der folgende Abschnitt der zweiten Gruppendiskussion mit Schülern eines deutschen Gymnasiums soll die Beobachtung einer stärkeren identifikatorischen Bezugnahme innerhalb der Fernsehgespräche verdeutlichen helfen. Diese sind zwar immer wieder gebrochen von ironischen Kommentaren, das Verhältnis zwischen Sendung und eigener Erfahrungswelt wird aber in dieser Passage aufrechterhalten: DAS SUPERTALENT Zusammenfassendes Sendungsprotokoll

Fernsehgespräche D02 Schüler Protokoll

Zweiter Beitrag der 4. Kandidatin [Publikum applaudiert bereits während der Gesangsdarbietung / Wiederholung von Nahaufnahmen aus dem Publikum / Sylvie lacht / Publikum lacht / Kamera fängt erlöste Gesichter ein] EB Dieter Bohlen: Das ist aber geil du! [Standing Ovations während Präsentation] EB Dieter Bohlen: Ich hab Gänsehaut!

DT 1: Naja, ich habe Gänsehaut, ja klar. [zweifelnd]

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Jury erhebt sich [Die Teilnehmerin singt / Publikum applaudiert den kompletten Beitrag / Nahaufnahme der lächelnden Sylvie van der Vaart / Standing Ovations des Publikums]

Ende des Beitrags EB Kandidatin: Danke, danke, danke! EB Bruce Darnell: Da muss man wirklich aufstehen! [Musikeinspielung: »Engel fliegen einsam«, Christina Stürmer] EB Sylvie van der Vaart: Sonja, was ist passiert? EB Dieter Bohlen: Nix ist passiert, das war die richtige Nummer für sie, bei dem ersten Song, da konnte man eben nur partiell hören, dass du ne gute Stimme hast. Aber hier jetzt, sechs mal Gänsehaut. Das passt wie die Faust aufs Auge. Jetzt kriegst Du hier drei mal ein Hammer-Ja und das freut mich aber so!

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DT 2: Die hat voll die große Zunge [Lachen] DT 3: Talent für eine besonders große Zunge DT 1: Wie die Frau da ausrastet [Lachen] DT 4: Na, das ist ihre Mutter [ironisch] DT 3: Na, das ist wie bei diesem ecuadorianischen Typen, wo dann die Mutter mit der Flagge von Ecuador im Publikum saß und dann die ganze Zeit/ DT 4: Ich fände das so peinlich, wenn meine Mutter da im Publikum wäre. DT 2: Ja, manche sind da auch/ DT 1: Ich finde das voll süß/ DT 2: Das ist ja voll lieb von der Familie, aber das muss dann auch nicht sein. DT 1: Meiner Mutter würde ich das auch zutrauen / DT 2: Ich eher meinem Papa DT 1: Nee, mein Papa weiß, was peinlich ist und was nicht [Lachen]

* EB = Einblendung, DT = Diskussionsteilnehmer

In den Fernsehgesprächen werden schließlich auch die Darbietungen der Kandidaten stärker evaluiert als in den Diskussionen. Während der Rezeption tauschen sich insbesondere die Schülergruppen darüber aus, welche Darbietungen sie »cool« und »gut« finden, auch das Agieren der Kandidaten und Jurymitglieder wird kommentiert. Doch trotz einer stärkeren Evaluation und identifikatorischer Bezugnahme im Fernsehgespräch wird bereits hier eine medienkritische Beobachtung aktiviert und werden Inszenierungsmuster dekonstruiert. Hier zeigt sich noch einmal sehr deutlich, dass sich die Gruppen trotz ihres Vergnügens an der Sequenz bereits auf einen gemeinsamen Deutungsrahmen hin orientieren, der dann auch die Anschlussdiskussion organisiert. So wird sich im vorliegenden Beispiel gleich zu Beginn des Ausschnitts darüber geeinigt, dass es sich nicht um eine Talentsuche handelt, sondern um Unterhaltung, die sogleich negativ abgewertet wird:

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DAS SUPERTALENT Zusammenfassendes Sendungsprotokoll

Fernsehgespräche D02 Schüler Protokoll

Off: Machen Sie sich bereit für die beste Jury der Welt!

[Lachen] DT 1: Dabei wird immer mal wieder jemand ausgewechselt, aber es ist immer die beste Jury der Welt. DT 3: [ironisch] hmmmm

[Jury wird visuell animiert und auf die Bühne gebeamt] EB Backstage Sylvie van der Vaart: Ich finde, das tolle an dieser Show ist, dass jeder eine Chance hat. Es macht nichts aus, wie man aussieht, es geht ums Talent!

EB Backstage Bruce Darnell: Ich glaube, das Supertalent in diesem Jahr wird noch besser, noch spannender, noch härter, und auf jeden Fall noch starker und noch lustiger! EB Backstage Dieter Bohlen: Mir geht es mehr drum, dieser Auftrag, also, ich bin ja auch ein Gewählter des Publikums, die stellen die Erwartung an mich, dass ich sie unterhalte.

Dieter Bohlen: Seid ihr bereit?

DT 4: Es kommt absolut auf das Talent an, ja klar – eben gaaaaar nicht. DT 3: Ob sie den gut vermarkten können oder so, nee. DT 2: Ich finde, der hat was von Star Wars, dieser eine. [Lachen] DT 3: Der so lange Ohren hat DT 1: Ich gucke kein STAR WARS DT 2: Oder? DT 2: Den finde ich doof DT 1: Oh, ich mag den, der macht die Leute immer so rund DT 3: Aber die ganzen Sprüche werden ihm ja vorher aufgeschrieben DT 1: Ja, okay, das ist ein bisschen blöd DT 4: Langweilig DT 2: Ein bisschen von niveauloser Unterhaltung.

* EB = Einblendung, DT = Diskussionsteilnehmer

In solchen Passagen wird umso deutlicher, dass es sich um ein ironisches Vergnügen der Teilnehmer am Fernsehtext handelt. Gerade bei den deutschen Schülergruppen dient das Programmangebot auch als Impuls zur Etablierung von Gesprächen in der peer-group, die durch humoristische Kommentare häufig ein eigenes Vergnügungspotenzial entwickeln, indem die Teilnehmer eher über die Kommentare ihrer Freunde lachen denn über das, was im Fernsehen zu sehen ist. Dies wird auch dadurch deutlich, dass sich die Gespräche zum Teil vom Text wegbewegen und sich die Gruppen auf parallele Diskussionen konzentrieren und immer wieder Teile des Programms verpassen, was bei der Rezeption von WER WIRD MILLIONÄR auffällig ist. Insgesamt ist die Kommentierung während der Rezeption bei den deutschen Schülergruppen am höchsten ausgeprägt und bei den Studentengruppen am

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niedrigsten. Eine Erklärung hierfür liefert sicher nicht nur die individuelle Gesprächslust der Gruppen, sondern auch die Intensität der Beziehung. Während die Schülergruppen tagtäglich in Pausengesprächen an einen intensiven Austausch miteinander gewöhnt sind, kommen die Studierenden eher zufällig zusammen und sind weniger freundschaftlich verbunden, was eine eher gehemmte Anfangskommunikation während der Rezeption erklärt. Die ägyptischen Gruppen rezipieren die Sendungen ebenfalls nicht völlig still, auch sie lachen und kommentieren. Auch wenn sich andeutet, dass hier eher auf die Textinhalte Bezug genommen wird, ist interessant, dass auch hier in einigen Gruppen schon während der Rezeption Vergleiche mit der US-amerikanischen Variante von GOT TALENT vorgenommen werden und damit ebenfalls schon vor der eigentlichen Diskussion ein Deutungsrahmen der Gruppe etabliert wird. Grundsätzlich verhalten sich die Gruppen wiederum bei der Rezeption von WER WIRD MILLIONÄR und MAN SAYARBAH AL-MALYOON homogener. Dabei wird vor allem der Reiz des Mitratens deutlich, der von allen Gruppen aufgegriffen wird, die sich sofort über ihr eigenes Wissen verständigen. Allerdings sind es die deutschen Gruppen, die hier wiederum stärker die einzelnen Kandidaten kommentieren und eher Alltagsgespräche entwickeln. Annahmen über die Machart der Sendung oder deren Bedeutung werden im Falle des Quizformats allerdings in allen Gruppen erst im Kontext der Anschlussdiskussion formuliert. 4.2.5 Exkurs: Zur Konstruktion der »Authentizität des Fremden« Einige weitere Bemerkungen lassen sich zu einer den Gruppendiskussionen nachgeschalteten Untersuchung anführen. In 16 der 24 Gruppendiskussionen wurden die Gruppen im Anschluss an ihre Diskussion gebeten, einen kurzen untertitelten Ausschnitt der jeweils anderen, also deutschen oder ägyptischen, Formatversionen zu kommentieren und ihre ersten vergleichenden Assoziationen zu verbalisieren. 819 Dies sind oft nur kurze Gesprächspassagen und Antworten, die aber dennoch Erkenntnisse über die Wahrnehmung globaler Unterhaltung zulassen. So zeigten sich fast alle befragten Gruppen über die visuelle Nähe und die Existenz der anderen Formatversionen überrascht. Ein arabischer Teilnehmer bedauert sogar, dass er die europäischen Varianten nicht kennt und ein deutscher Teilnehmer 819 Dieser Untersuchungsschritt konnte aufgrund zeitlicher Restriktionen einiger Gruppen als auch aufgrund jugendschutzrechtlicher bzw. ethischer Gesichtspunkte nicht mit allen Gruppen durchgeführt werden. So wurde entschieden, die ägyptischen Schülergruppen, die noch nicht volljährig waren, nicht mit dem deutschen SUPERTALENT zu konfrontieren, da hier die Wirkung des freizügigen Umgangs mit Nacktheit und Sexualität als auch die zum Teil herabwürdigenden Kommentare der Jurymitglieder nicht abgesehen werden konnte.

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sagt explizit: »Ich hätte gedacht, dass man da mehr kulturelle Unterschiede findet.«820 Die Orientierung an den transkulturellen Prinzipien der Unterhaltungskommunikation wird allerdings auch wieder an eine gemeinsame Imagination westlichamerikanischer Unterhaltung rückgebunden. Vor allem die deutschen Gruppen formulieren ein Alltagsverständnis von Transkulturalität als Phänomen typisch westlicher Globalisierung. Die Evaluation dieser Entwicklung fällt ambivalent aus – die Verwestlichung der Formate wird mal als Faktum gesehen und mal bedauert. Zwei deutsche Studentengruppen kritisieren beispielsweise ganz ähnlich wie in ägyptischen Deutungsmustern die Abwesenheit von arabischen Elementen im Format. Besonders interessant ist aber, dass den Gruppen neben Ähnlichkeiten auch Unterschiede auffallen, die zumeist gemäß der vorherrschenden Alltagstheorien über die betreffenden Referenzsysteme erklärt werden. Vorhandene visuelle oder kulturelle Stereotype dokumentieren sich beispielsweise indirekt, wenn etwa eine deutsche Gruppe vom Studiopublikum, insbesondere von Frauen in engen Hosen, der arabischen Version von MILLIONÄR überrascht ist oder gesagt wird, dass man nur weiß gewandete Araber oder mehr Kopftücher im Publikum erwartet hätte. Das visuelle Klischee der Wüstenregion der arabischen Halbinsel, wo arabische Männer häufig mit einem Thawb bekleidetet sind, wird in einem solchen Beispiel auf die gesamte arabische Welt übertragen. Auch die Beteiligung von Frauen in der arabischen Fernsehrealität wird von mehreren deutschen Gruppen thematisiert, was im Gegensatz zu den ägyptischen Gruppen steht, in denen geschlechtsspezifische beziehungsweise feministische Diskurse kaum berührt werden. Anders als in den Diskussionen des »eigenen« Formats wird in Bezug auf das »fremde« Format in einigen Gruppen eine Äquivalenz zwischen Textinhalt und tiefenstrukturellen Charakteristika der Referenzsysteme hergestellt. Die Vorstellung des »Fremden« wird so auf Basis der Unterhaltung bestätigt. Ein Authentizitätsdiskurs wird dann auch umgekehrt bei der Rezeption der jeweils anderen Formatversion aktualisiert. Interessant ist, dass das »Fremde« zugleich auch als authentischer und kreativer als das »Eigene« wahrgenommen wird. So erscheint ARABS GOT TALENT in den Augen einiger deutscher Gruppen als »ehrlicher« und im Einklang mit den gesellschaftlichen Zuständen, in deren Beschreibung sich eine deutliche problemorientierte Wahrnehmung der Region dokumentiert, die mit der eigenen Situation verglichen wird: Toni:

Ich finde, da ist ehrlicher alles.

Maria:

Ja.

Toni:

Ehrlicher und nicht so/

Rana:

Das ist fairer irgendwie.

Toni:

Da sucht man, glaube ich, wirklich auch ein richtiges Talent.

820 D10, Studentengruppe.

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Maria: Julian:

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Und nicht so beleidigend. […] Es war alles glaubwürdiger, ich weiß nicht, ob es echt ist. Ich bezweifle es trotz allem. Aber es wirkte glaubwürdiger, es wirkte sozialer und nicht so nach dem Motto: wir schlachten dich jetzt hier ab, so verbal.

Hendrik:

Ich sag mal, nicht so professionell, aber es war irgendwie so ein bisschen echter. Ich meine jetzt, wo man jetzt das Deutsche/ Da glänzt alles, jetzt bei Sylvie. Jeder Ohrring immer so ›blink, blink‹, immer irgendwie so eingefügt und so, das finde ich total übertrieben.

Julian:

Kann auch daran liegen, dass ich glaube, dass die Araber/ die haben halt andere Probleme, um die sie sich zu kümmern haben, anstatt jetzt da die Leute/

Samira:

Das sind ja auch irgendwie Leute, die Ahnung haben von diesem Geschäft.

Julian:

Das ist einfach eine kleine Ablenkung, aber nichts Bedeutsames.

Alle:

Ja, ja.

Julian:

Wir haben ja keine größeren Probleme, als wer jetzt gewinnt.

Alle:

Stimmt.

Umgekehrt wird das deutsche Format als eigenständige und kreative Adaption im Vergleich zur eigenen arabischen Formatversion wahrgenommen, die im Zusammenhang mit der Kritik am Kopierverhalten der arabischen Unterhaltungsindustrie diskutiert wurde. Dies zeigt sich an Aussagen wie: »This one was more creative than ours«821, »It is very unique actually«822 oder »ARABS GOT TALENT imitates every technique from AMERICAS GOT TALENT, but this one was very different«.823 Auch die Jurymitglieder werden durch ihr Statement, dass sie einem Unterhaltungsauftrag folgen, als authentischer wahrgenommen: »I think that the German version was honest at least«.824 Indem die kurze deutsche Seherfahrung in Gegensatz zur eigenen Imitationskritik gesetzt wird, wird indirekt angezeigt, dass das Format als »originaler« wahrgenommen wird. Das, was weniger bekannt ist, wird hier automatisch als authentischer wahrgenommen. Interessant ist auch, dass zwei der ägyptischen Gruppen die Artikulation der Sängerinnen, über die sich öffentlich amüsiert wird, als Ausdruck von deren Artikulationsfreiheit deuten, was sowohl im Einklang mit den Deutungen der arabischen Variante steht als auch im Gegensatz zu den Deutungen der deutschen Variante, in der den Kandidaten eher Mündigkeit im Zuge der Inszenierung abgesprochen wird und die Animationen als überinszeniert kritisiert werden:

821 Ä11, Studentengruppe. 822 Ebd. 823 Ä05, Studentengruppe. 824 Ä07, Studentengruppe.

374 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ? Kamal:

They also add some funny / like the flying thing and…

Hasnaa:

Yeah, I liked that.

Kamal:

It is like you’re own free space, that you have all the right to act how you really want. More than in the American one and in the Arab one. […] 825 ***

Shwikar:

I loved the whole …

Hanan:

I liked the idea of the eagle animation. It is funny, it is different.

Hebatallah:

ARABS GOT TALENT imitates every technique from AMERICAS GOT TALENT, but this one was very different.

Hanan:

If I were to understand what was happening I’d watched it, it was funny, funnier.

Shwikar:

Actually, I didn’t like what the judge said.

Hanan:

But the two girls are really nice and brave enough.

Hebatallah:

Too brave.

Hanan:

They had fun, and they kept smiling and then they laughed.826

Hier zeigt sich dann möglicherweise, dass die unterschiedlichen gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Diskurse, in die die Interpretationen eingebettet sind, auch bei der Deutung der jeweils anderen Formatadaption stabil bleiben. Das zumindest erklärt, warum die Kandidaten auch im deutschen Beispiel trotz der veränderten Repräsentationsmuster positiv bewertet werden. Die diskursive Aushandlung bleibt offenbar an lokale Kontexte gebunden. Außerdem deutet sich an, dass im Moment der Fremdbeobachtung Ableitungen getroffen werden, die zum Teil bei der Deutung des eigenen Formats nicht anerkannt werden. Insbesondere die deutschen Gruppen dekonstruieren eine Spiegelung der gesellschaftlichen und kulturellen Realität in den Sendungen und distanzieren sich vom kopräsenten Publikum. Mit Blick auf die arabischen Formatvarianten werden aber gesamtgesellschaftliche kulturelle Erklärungen der Sendungen wieder angebracht, ohne dass ein Verständnis von »Kultur« genauer konturiert wird. Die Umgangsformen zwischen Moderator und Kandidat werden in MAN SAYARBAH AL-MALYOON dann etwa als persönlich und höflich beschrieben, um schließlich zu konstatieren: »Also passt natürlich auch in die Kultur.«827 Auch wenn sich durchaus Passagen finden lassen, in denen etwa über potenzielle Bedeutungen im jeweils anderen Kontext reflektiert wird, so deutet sich in den kurzen Gesprächssequenzen doch an, dass letztlich bei allen Gruppen wenig Wissen über das jeweils andere gesellschaftliche Referenzsystem verfügbar ist, mithilfe dessen die Ausschnitte eingeordnet werden. Das wäre zumindest eine Erklä825 Ä11, Studentengruppe. 826 Ä05, Studentengruppe. 827 D08, Studentengruppe.

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rung dafür, warum die fremden Sendungsvarianten tendenziell als repräsentativ für lokale Spezifika oder globale Angleichung wahrgenommen werden. Das heißt schließlich auch, dass globale beziehungsweise geteilte Rezeptionserfahrungen durch globale Fernsehformate nur scheinbar global und geteilt sind. Viel eher wird die potenziell gemeinsame Fernseherfahrung eher parallel denn im globalen diskursiven Austausch verarbeitet. 4.2.6 Zwischenfazit: (Trans-)Kulturelle Interpretationssynchronisation? Die Ergebnisdarstellung der Rezeptionsstudie hat aufgezeigt, wie die lokalen Rezipienten Bedeutung herstellen und diese artikulieren. Aus der Analyse können nun vier Erkenntnisse einem Zwischenfazit vorangestellt werden: Erstens wurden in der Konzeptualisierung der Rezeption textuelle, situative und dispositive (sozio-kulturelle und individuelle) Einflussfaktoren auf die Herstellung der Bedeutung eines Medienangebots herausgearbeitet. Wie sich herausgestellt hat, äußern zwar Diskussionsteilnehmer immer wieder Einzelmeinungen und es gibt polyseme Varianzen, insgesamt verfolgen die Gruppen jedoch, vor allem mit steigender Intensität von Freundschaftsbeziehungen, kollektive Aushandlungen, die sich an einem bestimmten Gruppenkonsens orientieren. Dabei weisen die Lesarten der Gruppen innerhalb der gesellschaftlichen Kontexte eine größere Übereinstimmung auf als im Vergleich unterschiedlicher gesellschaftlicher Kontexte. Das heißt, dass die jeweiligen Rezeptionspraktiken der verschiedenen Gruppen eines gesellschaftlichen Referenzsystems kulturelle Ähnlichkeiten besitzen, die darauf hindeuten, dass gesellschaftliche Einflussfaktoren eine Wirkmächtigkeit besitzen und nicht individuelle Differenzen der Subjekte zu verschiedenen Lesarten führen. Denn in den Gruppen bilden sich Orientierungsrahmen der Interpretation heraus, die innerhalb der lokalen Kontexte weitestgehend stabil sind. Zweitens bedeutet dies, dass auch die textuellen Einflussfaktoren bedeutsam sind. In den Diskussionen wurde immer wieder deutlich, dass die Unterschiede der Lesarten zwischen deutschen und ägyptischen Gruppen auf die Adaptionen in den Textangeboten rückführbar sind. Das heißt nicht, dass die Kodierungen der Adaption in einem Äquivalenzverhältnis zu den Dekodierungen stehen. Es heißt aber, dass die Unterschiede, die sich in den gemeinsamen Orientierungsrahmen der deutschen und ägyptischen Gruppen ergeben haben, nicht einfach kulturelle Unterschiede abbilden, sondern in erster Linie auf die Rezeption ungleicher hybrider Texte zurückzuführen sind. Drittens ist das Verhältnis zwischen Kodierung und Dekodierung ein zentraler Theoriebaustein aus Halls Kommunikationsmodell. Die Bedeutung eines Medientextes ist auf die Interpretationsleistungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Ak-

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teure verteilt; sie kann nicht im Text selbst liegen. Zwar lässt sich an dieser Stelle noch kein Vergleich mit den Produzentenlesarten herstellen, die Dekodierungsmuster der Rezipienten verweisen aber bereits darauf, dass auch innerhalb der gesellschaftlichen Referenzsysteme kulturelle Differenzen bestehen, was etwa aus kritischen Rezeptionshaltungen und Dechiffrierungen von Inszenierungsstrategien abzuleiten ist. Viertens unterscheiden sich die Anschlussdiskurse zur Talent- und Quizshow insofern, als dass eine Diskrepanz zwischen Textangebot und Lesarten in der Castingshow dominanter zutage tritt als im Quizformat. Der interne Vergleich unterschiedlicher Formate liefert daher eine weitere Evidenz dafür, dass die Muster der Rezeption nicht als stabile kulturelle Unterschiede gedacht werden können und eine Gleichsetzung von Lokalisierungsstrategien und der Herstellung kultureller Anschlussfähigkeit eine theoretische Verkürzung ist, da subkulturelle Differenzen innerhalb eines gesellschaftlichen Referenzsystems zu wenig berücksichtigt werden. Gleichwohl gilt für alle Gruppendiskussionen, dass gesellschaftliche Diskurse und lokale Erfahrungshorizonte einen sichtbaren Bestandteil der Interpretationsrahmen darstellen. Wenn nun konkret nach (trans-)kulturellen Mustern der Anschlussdiskurse, Interpretationen und Evaluationen gefragt wird, dann verweisen die Daten zwar darauf, dass die Sendungen übergeordnete transkulturelle Diskursmuster erzeugen (etwa um die Authentizität der Sendung oder die allgemeine Bedeutung von Unterhaltung), gleichzeitig aber variieren die konkreten Themenbezüge und Interpretationsmuster, so dass lokale Diskurse sichtbar werden. Der grenzüberschreitende Bedeutungstransfer lässt sich somit nicht primär auf der Ebene der Inhalte verorten. Eine Kritik der Rezipienten an den inszenatorischen Strategien von DAS SUPERTALENT lässt sich beispielsweise nur auf Grundlage derselben entwickeln. Ebenso bieten die Aussagen der Jury in ARABS GOT TALENT und der explizite Verweis darauf, dass die Sendung nach ihren Erfolgen in der westlichen Welt nun auch in der arabischen Welt angekommen sei, die geeignete Textvorlage für einen Deutungsrahmen, innerhalb dessen die Sendung als Imitation dekodiert wird. Dieser internationale Verweisungszusammenhang der lokalen Produktion fehlt in der deutschen Version gänzlich – was wiederum mit einer primären Kontextualisierung der Sendung im deutschen Fernsehangebot korreliert. Auch der Verzicht auf allzu große Selbstdarstellungen von Kandidaten, liefert eine textimmanente Erklärung dafür, dass die arabische Version von den untersuchten Gruppen eher als eine tatsächliche Plattform für die Talentsuche wahrgenommen wird als von den deutschen Gruppen. Die Orientierung an alltagsweltlichen Themen in den Gesprächen von WER WIRD MILLIONÄR erklärt weiterhin die stärker personenzentrierten Anschlussdiskurse zur Sendung. Was sich also zunächst als ein kultureller Unterschied der Dekodierungsleistungen der Rezipienten darstellt, erscheint vielmehr als Resultat einer vorgelagerten Adaption im Reproduktionsprozess und erinnert daran, dass es sich im Formattransfer

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eben nicht um die Zirkulation gleicher Inhalte, sondern allein um die Zirkulation gleicher Konzepte handelt, deren kreative Transformation innerhalb der Produktion auch Varianzen auf der Rezeptionsdimension beinhalten kann. Die kreative Transformation erzielt aber nicht automatisch eine (national-)kulturelle Nähe bei den lokalen Publika. Eine Erklärung des Erfolgs des Formathandels liegt somit nicht allein beziehungsweise nicht zwangsläufig in der Integration lokaler symbolischer Ressourcen. Dies lässt sich durch die verschiedenen Distanzierungsmuster der Gruppen von der Castingshow begründen. Identifikation findet in beiden lokalen Kontexten auf der Ebene der sozialen und respektive kulturellen Distanzierung statt. In dem Moment, in dem beispielsweise die lokalen Teilnehmer nicht als reale Subjekte dekodiert werden, die kulturellen Symbolwelten der Sendung als Imitate eines anderen kulturellen Referenzsystems gelesen werden und der Inszenierungscharakter von Fernsehunterhaltung die inhaltlichen Deutungen beeinflusst, offenbart sich ein Auseinanderfallen der Lokalisierung auf Produktionsebene und der lokalen Aneignung der Rezipienten. Identitätsdiskurse sind schließlich auch weniger auf der Ebene einer Beziehung zwischen den Texten (und deren Narrationen und Personen) und den Rezipienten zu finden, sondern vielmehr in deren selbstreflexiven Positionierung gegenüber den Texten. Anders formuliert führt also weniger die Aneignung der Inhaltsebene zu einer Identifikation mit der Sendung als vielmehr die Diskussion der Repräsentationsebene. In der gemeinsamen Interpretation steht weniger die Frage im Raum, wie sich die Gruppen in den Inhalten wiederfinden, sondern eher wie sie sich gegenüber den Prinzipien der Produktion verhalten. Die Fernsehrealität erzeugt für die Diskussionsteilnehmer im Fall des CastingshowUntersuchungsbeispiels eher eine Als-Ob-Welt im Sinne fiktionaler Angebote. Zwar werden mediale Spiele mit mehr oder weniger realen Akteuren inszeniert, aber in den Augen der Rezipienten bleiben deren Handlungen und Darbietungen den Eigengesetzlichkeiten des Fernsehens unterlegen. Dies gilt letztlich auch für die Rezeption der Quizshow MILLIONÄR, die zwar einerseits eine identifikatorischere Zuwendung, eine referenziellere Lesart und positivere Evaluation bei den Gruppen hervorruft und deutlich mehr Nähe stiftet, aber Reflexionen über Unterhaltungsstrategien und verborgene Konsumpraktiken und Kommerzialisierungsstrategien werden auch hier nicht ausgespart. Dennoch ist interessant, dass das Format, das in der Anlage deutlich mehr Ähnlichkeiten im Vergleich der beiden lokalen Varianten aufweist, zugleich dasjenige Format ist, welches ein allgemeines Nähe-Empfinden bei allen Rezipienten auslöst. Damit kann auf der Grundlage der Untersuchung nicht nur angezweifelt werden, dass die Qualität der Adaptionsstrategien einen Einfluss auf kulturelle Nähe und Anschlussfähigkeit hat, sondern auch die Quantität. Denn obwohl die Adaptionen der professionellen Codes bei MILLIONÄR geringer einzuschätzen sind als bei GOT TALENT, wird allein das erstgenannte Format als lokale Produktion wahrgenommen und positiv evaluiert. Daraus lässt sich wiederum

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schlussfolgern, dass der Austausch des Personals in den Sendungen und die Adaptionen auf der Inhaltsebene in einem Fall, MILLIONÄR, zu einem wenig hinterfragten lokalen Identifikationsangebot und zu kultureller Nähe führen, im anderen Fall, GOT TALENT, aber Identifikationsmuster der kulturellen Ablehnung auslösen können. Es ist also wiederum nicht allein die Integration lokaler Subjekte in die Formatkonzepte, sondern die Repräsentation derselben, die die Interpretationsmuster beeinflussen. Wenn nun im Umkehrschluss davon ausgegangen wird, dass die Repräsentationsmuster den lokalen kreativen Adaptionsprozessen unterliegen, dann zeigt sich auch an dieser Stelle, dass kulturelle Unterschiede zunächst vor allem zwischen den Produktions- und Rezeptionspraktiken innerhalb lokaler Referenzsysteme zu suchen sind. Gerade die Zuwendung der ägyptischen Gruppen zur USamerikanischen Originalsendung zeigt beispielsweise, wie ein lokales milieuspezifisches Rezeptionsverhalten auch stärker auf die Medienangebote anderer Referenzsysteme ausgerichtet sein kann, was dann zu einer stärkeren Ablehnung der lokalisierten Varianten führt. Aus den kritischen Rezeptionshaltungen lässt sich schließlich weiter ableiten, dass die Gruppen beider Kontexte wiederum auf einer übergeordneten Ebene medienkompetente Fähigkeiten teilen. Besonders treten diese im Kontext der Castingshow-Prinzipien zutage, aber ebenso in MILLIONÄR. Das Wissen und die Annahmen über die televisuellen professionellen Konventionen werden in allen Gruppen artikuliert, so dass im Zusammenhang mit den qualitativen Befunden von einem transkulturellen Wissen gesprochen werden kann. Für die theoretische Rückbindung bedeutet das, dass die Koorientierung der lokalen Produzenten durch die Adaptionen auch eine Koorientierung des Publikums auf die gleichen Formatkonzepte befördert. Diese lassen allerdings nicht zwangsläufig inhaltliche Synchronisationen entstehen (Lokalisierung kultureller Codes), wie die differierenden Deutungsrahmen und Diskursstrukturen gezeigt haben, aber sie führen in den hier untersuchten Beispielen zur Angleichung eines formalen Wissens um die Machart der Formate (Globalisierung professioneller Codes). Der Strukturtransfer steht hier also in Zusammenhang mit einem Bedeutungstransfer. Das heißt, dass die symbolischen Angebote ihre strukturelle Polysemie (Hall) zwar nicht aufgeben und dem konkreten Adaptions- und Interpretationskontext gegenüber offen bleiben, dass aber die Rahmung dieser symbolischen Angebote zu einer Art transkultureller Televisualität führt. Formate bilden also abseits von gängigen Genre-Klassifikationen ein weiteres Klassifikationssystem innerhalb der Fernsehunterhaltung für die Zuschauer heraus, das sich eher aus der Art und Weise der Produktion ergibt. Wie in der Untersuchung gezeigt wurde, ähneln sich die medienbezogenen Wissensbestände der Gruppen darin, dass sie die konkreten Sendungen bestimmten Clustern des Unterhaltungsfernsehens zuordnen und deren Funktionalität und Bedeutung nie unabhängig von ihrer jeweiligen Fernsehumgebung bewerten. Unterhaltung ist in beiden lokalen Kontexten damit in hohem Maße selbstreferenziell.

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Diese Beobachtungen deuten dann weiterhin darauf hin, dass nicht die konkreten Inhalte, die über die Medienangebote öffentlich gemacht werden, Anlass für die diskursive Anschlusskommunikation liefern, sondern was hier kollektiv ausgehandelt wird, ist die allgemeine Bedeutung der Formatvarianten. Bezüglich der gesellschaftlichen Referenzierung werden die Formate also nicht vordergründig als Träger bestimmter Botschaften oder gesellschaftlicher Diskurse wahrgenommen, sondern sie sind selbstreferenzieller Bestandteil der lokalen Medienrealität, über deren Bedeutung hier verhandelt wird. Das heißt erneut am konkreten Beispiel, dass nicht so sehr das konkrete Wissen oder das spezifische Talent, das hier präsentiert wird, Anschlusskommunikation befördert, sondern stärker die Art und Weise der Darstellung. Weiterhin konnte in diesem Zusammenhang beobachtet werden, dass in der Anschlusskommunikation über die Formate beispielsweise wenige Bezüge zu einer außermedialen Ebene des gesellschaftlichen Referenzsystems und den darin verhafteten individuellen Lebenswelten hergestellt wird, sondern intermediale und intertextuelle Zusammenhänge dominieren. Selbst die Referenz der deutschen Gruppen auf einen gesellschaftlichen Diskurs um Unterhaltungsfernsehen ist eher als selbstreferenzieller medialer Diskurs zu werten denn als Referenz zu lokalen außermedialen politischen oder gesellschaftlichen Spezifika. Insgesamt muss bilanziert werden, dass die ägyptischen Gruppen in der qualitativen Rezeptionsstudie zwar mehr Referenzen zu Ägypten oder der arabischen Welt herstellen – etwa durch die Rückbindung auf die ökonomische Situation im Land, das Verhältnis zu anderen arabischen Staaten oder die Diskussion des Verhältnisses westlicher Impulse auf die lokale Unterhaltungsindustrie. Wenn man aber bedenkt, dass sich Ägypten zur Zeit der Erhebung in einem Zustand enormer politischer Veränderungen befand, dann erstaunt zumindest, dass gesellschaftliche Dynamiken in Zusammenhang mit dem Arabischen Frühling kaum referenziert werden und selbst die Hinweise auf die arabische Identifikation relativ undifferenziert und verallgemeinert kommuniziert werden. Auch in den deutschen Gruppen werden zwar soziale Distinktionen in Bezug auf die deutsche Gesellschaft erkennbar und insbesondere die Castingshow dient der allgemeinen Gesellschaftskritik, es muss aber insgesamt festgehalten werden, dass zwar allgemeine lokale Diskurse der gesellschaftlichen und kulturellen Referenzsysteme Eingang in die Diskussionen finden, das Referenzsystem selbst aber kaum zum Gegenstand der Diskussion wird. Die Formate fördern in diesem Sinne keine umfangreichen kollektiven Aushandlungen über Leistungs- und Bewertungssysteme oder über gesellschaftliche Wissensbestände oder gar politische Traditionen. Entscheidend für einen grenzüberschreitenden Bedeutungstransfer ist am Ende also möglicherweise nicht mehr die Qualität des einzelnen Formats, sondern die Quantität der kulturellen Adaptionspraxis. Denn es wurde im Zusammenhang mit den aktiven Wissensbeständen der Gruppen gezeigt, dass die artikulierten Medienrepertoires der Gruppen deutliche Ähnlichkeiten aufweisen. Auch wenn lokale klas-

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sen- oder milieuspezifische Bedingungen die jeweiligen Medienumgebungen strukturieren mögen, so zeigt sich zumindest im Sample dieser Arbeit, dass gemeinsame Rezeptionserfahrungen in den Dekodierungsleistungen der Gruppen wirksam werden. Das heißt, dass sich aufgrund ähnlicher Format-Cluster, die sich in den Fernsehlandschaften Deutschlands wie auch Ägyptens finden, anscheinend synchrone Rezeptionserfahrungen und ein synchrones medienbezogenes Wissen vermitteln. Es lässt sich also eine transkulturelle Koorientierung der medienbezogenen Wissensbestände in Hinblick auf Konventionen eines inhaltlich lokalisierten Unterhaltungsfernsehens feststellen. Die Diskrepanz besteht aber nicht allein in der Aneignung von Inhalt und Struktur. Denn es lässt sich argumentieren, dass die sogenannten »skeptischen Haltungen« gegenüber den Formatversionen auch inhaltliche Wirkung entfalten, indem sie eben gerade die Wirkmächtigkeit professioneller Codes in den Dekodierungen präsent halten. Damit zeigt sich abschließend, dass eine Differenzierung von professionellen und kulturellen Codes analytisch sinnvoll ist, da die Analyse zeigt, dass auf der Ebene der kulturellen, inhaltlichen Codes lokale Deutungen, auf der Ebene der professionellen Codes, den Konventionen des Fernsehens, aber grenzüberschreitende Synchronisierungen der Interpretation erzeugt werden.

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4.3 »G LOBALE G ATEKEEPER «: I NNENPERSPEKTIVEN DER P RODUKTION

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Nachdem im vorigen Kapitel bereits die Bedeutung der lokalen Medienumgebungen für den Rezeptionsprozess angesprochen wurde, widmet sich das folgende Kapitel diesen Medienumgebungen in Deutschland und Ägypten beziehungsweise der arabischen Welt. Im Zentrum des abschließenden Analyseschritts der Arbeit stehen damit die Produktionskontexte der jeweiligen Formatversionen. Theoretisch wird damit jenes Moment der Bedeutungsproduktion in den Blick genommen, an dem ein Fernsehereignis kreiert wird. Demzufolge muss mit Hall gefragt werden, welche Strukturen und Ressourcen die Reproduktion der Unterhaltungsformate beeinflussen und welche kulturellen Deutungen ihnen aus Produktionssicht eingeschrieben werden. In der theoretischen Auseinandersetzung wurde herausgearbeitet, dass die Produzenten von Unterhaltungsformaten eine doppelte Gatekeeper-Rolle einnehmen, da sie einerseits entscheiden, ob ein Format überhaupt reproduziert, also die Lizenz gekauft wird, andererseits aber auch Einfluss auf die spezifische lokale Umdeutung des ursprünglichen Formats nehmen. Zunächst ist neben strukturellen, materiellen und symbolischen Erwägungen also die Rezeption des ursprünglichen Formats durch die Produzenten entscheidend, die theoretisch von beruflichen Funktionsrollen und individuellen Kulturdeutungen beeinflusst ist (vgl. Kapitel 2.1.2). Die zweite Form des Gatekeepings ist hingegen kein rezeptiver, sondern ein generativer Prozess, in dem Produzenten die Möglichkeit haben, die vertraglich vereinbarten kreativen Freiräume durch kulturelle Codes, die im betreffenden Referenzsystem wirksam und verstehbar sind, auszugestalten. In der theoretischen Auseinandersetzung wurde diesbezüglich herausgearbeitet, dass die Reproduktion eines Formats immer Elemente der Hybridisierung beinhaltet, die jedoch nicht einfach als harmonisierende Vermischung kultureller Codes zu verstehen ist. Vielmehr müssen Praktiken der strategischen, intentionalen oder organischen Hybridisierung unterschieden werden und es muss gefragt werden, inwieweit diese Einfluss auf kulturelle Rekombinationen haben und mögliche lokale oder globale Deutungsmuster bevorzugen. Wie deuten und konstruieren Produzenten also lokale Elemente in den Reproduktionen? Die Produktions- beziehungsweise Produzentenanalyse verfolgt ausgehend von den theoretischen Auseinandersetzungen um den Transfer von Bedeutung im Fernsehformat drei zentrale Fragestellungen: Erstens interessieren Erklärungsangebote der Produzenten zur Entscheidung der Reproduktion des Formats (Gatekeeping erster Instanz). Zweitens wird gefragt, welche Spezifika der Inhalts- und Repräsentationsebene der Sendungen aus den lokalen Produktionskontexten und -praktiken abgeleitet werden können und welchen Einfluss kulturelle, ökonomische oder politi-

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sche Charakteristika der jeweiligen Referenzsysteme darauf nehmen (Gatekeeping zweiter Instanz, Integration lokaler Codes). Drittens gilt es, die Äquivalenzverhältnisse der Deutungen von Rezipienten und der Deutungen von Experten darzustellen (lokale Aushandlung der Bedeutung). Durch diese drei Erkenntnisperspektiven bleibt die Globalisierung von Unterhaltungskommunikation nicht allein eine Frage der inhaltlichen Reproduktion oder der lokalen Rezeption. Vor dem Hintergrund der kulturtheoretischen Überlegungen kann »Globalisierung von Kultur« nur anhand der Transferleistungen unterschiedlicher Akteure in verschiedenen gesellschaftlichen Sphären bilanziert werden. Das Verhältnis von Rezeptions- und Aneignungsmustern, die in den alltäglichen Lebenswelten des Publikums entwickelt werden, und den Interpretationsmustern und Produktionsentscheidungen, die von lokalen Produzenten im kulturindustriellen System der Unterhaltungsmedien getroffen werden, ist dafür von zentraler Bedeutung. Der Einbezug der Produzentensichtweisen erfolgt darüber hinaus ganz im Sinne von Halls erweitertem Kreislaufmodell, das hilft, alle bedeutungsgebenden Momente der Unterhaltungskommunikation zu berücksichtigen. Der Aufbau der Untersuchung der Produktionskontexte orientiert sich grob an einer soziologischen Analytik, die einerseits aus makrologischer Perspektive die Produktionsgeographie der Formatadaptionen hinterfragt und die Entwicklung des Formathandels in die jeweiligen Fernsehsysteme einbettet. Damit gelangen vor allem Marktbedingungen und historische Entwicklungen der Referenzsysteme in den Blick, ebenso wie strukturelle und materielle Bedingungen der lokalen Unterhaltungsproduktion. Allgemein kann davon ausgegangen werden, dass sich die Unterhaltungsindustrie seit den 1990er Jahren immer mehr international vernetzt hat und sowohl deutsche als auch arabische Akteure in diesen Netzwerken aktiv sind. Deren konkrete Position wird in den folgenden Ausführungen präziser herausgearbeitet. Auf einer mesosoziologischen Ebene wird nach dem Einfluss der organisierten Akteure – also den Sendeanstalten und Produktionsunternehmen – auf die Formatadaption gefragt. Damit werden Aspekte der jeweiligen lokalen Mediengeschichte für die Analyse des Formattransfers berücksichtigt und symbolische Einflussdimensionen (Senderprofile, lokale Genrekonventionen oder Rollenbilder) einbezogen. Schließlich stehen die Aussagen der Akteure und Experten im Vordergrund, womit eine mikrologische Perspektive integriert wird und die Lesarten der Rezipienten um Lesarten der Produzenten der Formatversionen ergänzt werden.

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4.3.1 Strukturelle und institutionelle Rahmenbedingungen des Formattransfers in Deutschland und der arabischen Welt Die in dieser Arbeit untersuchten Formate sind beide britischen Ursprungs, feierten ihre ersten Erfolge in Großbritannien und den USA und wurden in etablierten und konsolidierten Fernsehsystemen mit hohen Produktionsstandards, hohen Budgets für Entwicklungskosten und einer Kommerzialisierungsorientierung entwickelt. Insbesondere das Format MILLIONÄR wurde über einen ungewöhnlich langen Zeitraum von drei Jahren kontinuierlich weiterentwickelt und verbessert, bis der Ausstrahlung bei ITV zugestimmt wurde.828 Während MILLIONÄR als innovatives Format gilt, da es Quizsendungen international mit neuen ästhetischen Mitteln wieder in die Primetime eingeführt hat, ist GOT TALENT eher als ein Nachfolgeprodukt von bereits bekannten erfolgreichen Castingformaten zu bewerten. Trotz bestehender Unterschiede der Fernsehsysteme und Referenzsysteme ist die Erfolgsgeschichte der Unterhaltungskonzepte damit nahezu identisch. Der zugrundeliegende Transfer ist allerdings im Kontext unterschiedlicher Konsolidierungsphasen der Formatierungspraxis in den entsprechenden Fernsehsystemen zu verorten. Denn während Deutschland schon lange als einer der größten Formatimporteure gilt, sind arabische Sender am Formathandel erst seit dem 21. Jahrhundert aufstrebende Akteure.829

828 McGregor, Tom (1999): Behind The Scenes at Who Wants to Be a Millionaire; Moran, Albert; Malbon, Justin (2006): Understanding The Global TV Format, S. 51ff. 829 Schmitt, Daniel; Bisson, Guy; Fey, Alexander (Hg.): The Global Trade in Television Formats; Jäger, Elfi; Behrens, Sonja (Hg.) (2009): FRAPA Report 2009; Mellor, Noha et al. (2011): Arab Media. Globalization and Emerging Media Industries. Cambridge [u.a.]: Polity Press; Kraidy, Marwan; Khalil, Joe (2009): Arab Television Industries. Aktuell erlebt die Unterhaltungsbranche in Deutschland eine Transformation von einem passiven Importeur ausländischer Unterhaltung hin zu einem aktiven Exporteur von Eigenentwicklungen. Während zwischen 2002 und 2004 lediglich fünf Formate exportiert wurden, waren es gemäß der genannten Studien im Zeitraum 2006 bis 2008 bereits 23 originäre Produktionen, die verkauft wurden. Aus Branchensicht sind zwei Paradigmenwechsel für diese Transformation verantwortlich: Zum einen habe sich das externe Image deutscher Produktionen gewandelt, die zunehmend als adaptierbar wahrgenommen werden. Zum anderen habe die Reduktion der Budgets, denen sich deutsche Produzenten seit 2001 ausgesetzt sehen, weitere Einnahmequellen notwendig gemacht, etwa aus Lizenzerlösen für eigenentwickelte Formate. Anteil an der Entwicklung hat das Distributionsunternehmen SEVENONE INTERNATIONAL, das allein für 60 Prozent der Lizenzverkäufe verantwortlich zeichnete. Allerdings ist wiederum der geringe Anteil von unabhängigen Formatdistribuenten ein Kennzeichen des deutschen Formatmarkts.

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Der Transfer der arabischen Adaptionen MAN SAYARBAH AL-MALYOON und ARABS GOT TALENT lässt sich auf medienökonomischer Ebene vor dem Hintergrund von drei strukturellen Entwicklungen der arabischen Fernsehlandschaft verstehen. Die erste Transformation betrifft die transnationale Erweiterung in Organisation und Ausrichtung neu gegründeter Fernsehsender in der Region, die seit etwa 25 Jahren eine neue Wettbewerbssituation für die vormals primär national organisierten Sendeanstalten darstellt. Zweitens ist in diesem Zeitraum auch die arabische Medienindustrie von einer zunehmenden Liberalisierung und Kommerzialisierung im Fernsehsektor gekennzeichnet.830 Damit einher geht eine zunehmende Orientierung an den Produktionskonventionen kommerziellen Fernsehens westlicher Referenzsysteme, was sich im Programmangebot der transnationalen Sender etwa im Import erfolgreicher Serien und der Adaption populärer Formate äußert.831 Die Anerkennung des Urheberrechts, neu entstandene Sendeplätze und der Wettbewerb durch zahlreiche neue Sender gelten als Faktoren, die den Formathandel in der arabischen Welt begünstigt und Plagiate zunehmend erschwert haben.832 Seit den 1990er Jahren schließlich ist die Formatadaption auch in der arabischen Welt eine bekannte Form der Programmbeschaffung.833 Im Gegensatz zum deutschen Unterhaltungsfernsehen sind diese Transformationen als jüngere Entwicklungen zu werten. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass es trotz einer zeitverzögerten und weniger umfangreichen Etablierung von formatierten Reality- und Castingshows westlicher Provenienz auch in der arabischen Unterhaltungsindustrie schon seit den 1970er Jahren vereinzelt Sendungen gab, die auf westlichen Programmideen basierten und diese mehr oder weniger sichtbar kopierten. Khalil verweist in diesem Zusammenhang beispielswiese auf eine ägyptische Version von CANDID CAMERA, die schon in den 1980er Jahren im ägyptischen Fernsehen zu sehen war. 834 Allerdings waren es vor allem libanesische und damit eher liberale, westlich orientiere Sendeanstalten und Produktionsstudios, die eine Proliferation westlicher Formate in der Region begünstigt haben und in weit geringerem Maße die staatli830 Auch wenn allerdings die arabischen Fernsehsender wie MBC oder LBC nach privatwirtschaftlichen Logiken agieren, besteht dennoch eine Nähe zum saudischen Königshaus oder zum libanesischen politischen System. Mellor, Noha et al. (2011): Arab Media; Kraidy, Marwan; Khalil, Joe (2009): Arab Television Industries. 831 Kraidy, Marwan; Khalil, Joe (2007): The Middle East: Transnational Arab Television. In: Artz, Lee; Kamalipour, Yahya (Hg.): The Media Globe. Trends in International Mass Media. Lanham: Rowman and Littlefield, S. 79-98; Mellor, Noha et al. (2011): Arab Media; Kraidy, Marwan; Khalil, Joe (2009): Arab Television Industries. 832 Khalil, Joe (2004): Blending In: Arab Television and the Search for Programming Ideas. Transnational Broadcasting Studies 13. 833 Khalil, Joe (2005): Inside Arab Reality Television. 834 Ebd.

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chen Sender. MURR TELEVISION (MTV) und die LEBANESE BROADCASTING COMPANY (LBC) waren die ersten, die 1996 arabische Versionen von FAMILY FEUD, EVERYBODY’S EQUAL oder FORT BOYARD produziert haben und Anfang des 21. Jahrhunderts große Erfolge mit den Adaptionen der Gesangs-Wettbewerbe STAR ACADEMY beziehungsweise AL-AKADIMIYA (LBC) und SUPER STAR (FUTURE TV) feierten.835 Als erster arabischer Sender mit saudi-arabischer Affiliation ist schließlich MBC im Jahr 2000 mit der lokalen Version von MAN SAYARBAH AL-MALYOON in den Formathandel eingestiegen, was aufgrund des großen Erfolgs ein entscheidender Impuls für zahlreiche weitere Adaptionen auf arabischen Sendern war. Allerdings ist die Erfolgsgeschichte von MBC nicht allein ein Phänomen der lokalen Produktionslandschaft, sondern die Entstehung des Senders wurde maßgeblich aus dem Ausland und mit ausländischer Expertise vorangetrieben.836 So hatten arabische Sendeanstalten wie MBC ihre Hauptsitze zunächst nicht in der arabischen Welt, sondern in England oder Frankreich. Von dort aus wurde mit häufig geringer Beteiligung arabischer Akteure in den Produktionsteams gearbeitet, so dass behauptet werden kann, dass sich letztlich adaptierte Formate vor allem dort etablierten, wo ohnehin bereits eine Vertrautheit mit westlichen Produktionsstandards, Darstellungsmustern und Konventionen existierte. Der Formathandel entwickelte sich im arabischen Kontext insofern aus einem Milieu der kreativen Außenorientierung heraus. So lässt sich auch die Entscheidung zur Adaption des britischen Formats WHO WANTS TO BE A MILLIONAIRE aus der räumlichen Nähe zur britischen Fernsehumgebung wie auch aus dem europäischen Sozialisationshintergrund der damaligen Entscheidungsträger erklären. In der Aussage der Executive Producerin von MAN SAYARBAH AL-MALYOON wird die Bedeutung des ursprünglich westlichen Standorts von MBC beispielsweise sehr deutlich: »The MBC headquarter was here in London during that time. Our CEO was English and the director of programming was English as well. We desperately wanted to do a successful show. We had medical shows, technology shows, we had magazine shows, we had fashion shows but we wanted diversity, we wanted something different: we wanted game shows. Therefore, the CEO of our channel proposed to buy the format and our chairman accepted it straight away«.837

835 Ebd. 836 Im Nachrichtenangebot von MBC wurden bspw. Mitarbeiter von Journalisten der BBC und ITV geschult. Kraidy, Marwan; Khalil, Joe (2009): Arab Television Industries, S. 36. 837 Interview mit Salwa Soueid, Executive Producer MBC, 17.06.2012. Alle nachfolgenden Interviewaussagen wurden sprachlich leicht geglättet.

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Mit der kreativen Außenorientierung jüngerer arabischer Satellitensender ist weiterhin ein Interesse an der Professionalisierung der Produktion nach westlichen Standards verbunden gewesen. Damit ist im Unterhaltungsbereich erkennbar, was auch für arabische journalistische Professionalitätsstandards gilt, die sich an der medialen Ästhetik einer westlichen journalistischen Nachrichtenproduktion orientieren.838 Erwägungen der Professionalisierungsvoraussetzungen und -leistungen haben im Gegensatz zum Formattransfer in die deutsche Produktionslandschaft im arabischen Kontext auf Distributions- wie auch auf Reproduktionsebene eine Rolle gespielt. So betont etwa der Head of Sales des Lizenzunternehmens FREMANTLEMEDIA, dass MBC eines der wenigen Sendeunternehmen in der arabischen Welt sei, das überhaupt über die Kapazitäten für eine Reproduktion großer westlicher Formate verfüge: »Paramount for the success of ARABS GOT TALENT is the quality of the broadcaster MBC, who knows how to invest in entertainment on screen. Up until this point you haven’t had a broadcaster who has really invested in what happens on screen.«839 Auch die leitende Produzentin von MAN SAYARBAH AL-MALYOON bestätigt eine solche Perspektive auf den Produktionsstandort. Eine Professionalisierung der Unterhaltungsproduktion nach westlichen Konvention ist damit sowohl Voraussetzung wie auch Motivation für die Adaptionen gewesen: »We have now a better standard, a better understanding for the quality of TV, and now we are in competition. I have a creative department and I have to come up with an idea that can compete with western formats, one that is as good as AMERICA’S GOT TALENT. […] However, we are only twenty years old. We do not have many strong producers, we do not have many directors, and we do not have many strong light designers. […] We do not have writers. Therefore, the Know-how is important. [...] They have the experience. They are on television the last fifty or sixty years. […]«.840

Auch wenn die arabische Version von GOT TALENT nahezu ein Jahrzehnt nach MAN SAYARBAH AL-MALYOON ausgestrahlt wurde und ihr bereits Casting-Reproduktionen auf libanesischen Fernsehstationen mit großem Erfolg vorausgegangen waren,841 so ist ARABS GOT TALENT, im Gegensatz zu DAS SUPERTALENT, ebenso wie 838 Hafez, Kai (2000): Irrwege und Perspektiven der Globalisierungsdebatte, S. 98f. 839 Wobei MBC ARABS GOT TALENT zusammen mit dem 2004 gegründeten libanesischen IMAGIC

TV produziert hat, das sich seitdem als führendes Produktionsunternehmen der

Region etabliert hat. Die institutionelle Nähe und Kooperationsbeziehung zu MBC konnte jedoch aufgrund mangelnder Publikationen und Aussagen der Akteure nicht hinreichend erörtert werden. 840 Interview mit Salwa Soueid, Executive Producer MBC, 17.6.2012. 841 Mohammad Ayish beruft sich bspw. auf die – im deutschen Forschungszusammenhang nicht zugänglichen – Arbeiten der Arab Advisors Group, demnach Reality Fernsehen

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MILLIONÄR mit der Einführung einer bestimmten Formatierung, Programmierung und Darstellungsästhetik von Castingformaten verbunden. Denn quantitativ hat es zuvor nur wenige arabische Castingformate dieser Größe, dieses Budgets und unter Beteiligung so vieler Privatpersonen gegeben. So war die Show beispielsweise auch die erste, die die Auditions der Kandidaten live vor einem großen Saalpublikum inszeniert hat. Sicherlich hat die Sendung zu einem Boom von Castingshows in der arabischen Fernsehlandschaft beigetragen. Erst in der Nachfolge von ARABS GOT TALENT wurden zahlreiche weitere internationale Castingshows adaptiert, darunter THE VOICE AHLA SOUT, ARAB IDOL oder HOLE IN THE WALL. Den Impulscharakter von ARABS GOT TALENT hebt auch Raya Abirached, Moderatorin der Sendung, hervor, in deren Augen sich das arabische Reality-Fernsehen noch in einer formativen Phase befindet: »For us, this is new. This is the first wave of big reality TV shows of that nature.«842 Auch der Sales Director von FREMANTLEMEDIA schließt sich einer solchen Deutung an: »One of the reasons that the show got a lot of attention is because it seemed so fresh. It seemed like something that people had not seen on that skill before. I think that audiences basically have more spur for choice in the western world and I think perhaps ARABS GOT TALENT

could really energize people on a grander scale, because it is just a new experience to

have that kind of excitement on screen. […] There were good entertainment shows already before and many, many things that worked well for the audience. However, I think if you ask me to analyze what stood apart in that part of the world, it’s probably that«.843

MBC ist inzwischen zum zentralen Produktionspartner in der Region avanciert, obwohl das Unternehmen institutionell nicht direkt mit den internationalen Produktionsstudios verbunden ist. Dies ist auch auf jene Marketingstrategie zurückzuführen, die MBC, folgt man den wissenschaftlichen Analysen, erfolgreich gemacht hat. Seit dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrtausends sah diese Strategie eine Segmentierung der Sendergruppe in unterschiedliche Spartensender wie MBC 3 für Kinder oder MBC 4 als Entertainment-Kanal vor, die stark auf das Angebot westlicher und englischsprachiger Importe und Konzepte setzte.844 Neben MAN SAYARBAH AL-MALYOON hat der Sender auch Formate wie SPELLBOUND, WIPEOUT oder HILARIOUS

seit dem Erfolg von SUPER STAR 2003 in der arabischen Welt zugenommen habe. Ayish, Muhammad (2011): Television Reality Shows in the Arab World. In: Journalism Studies 12 (6), S. 768-779. 842 Interview mit Raya Abirached, Moderatorin MBC, 17.11.2013. 843 Interview mit Jamie Lynn, Head of Sales Middle East FREMANTLEMEDIA, 23.4.2012. 844 MBC strahlt bspw. diverse US-amerikanische Serien und Realityformate mit arabischen Untertiteln aus und hat zahlreiche Rechte an Warner Brothers Filmen gekauft.

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HITS produziert.845 Kraidy und Khalil listen weitere Adaptionen auf, etwa die erfolgreichen Talkshows KALAM NAWA’EM und ADAM, die auf ABCs THE VIEW zurückgehen, AL-FAKH, AL-KURSY, AL-HALAQA AL-AD’AF, YA ATEL YA MA’TUL, DEAL OR NO DEAL, AL-QUWWA AL-’ASHARA oder AL-RA’IS, die wiederum Adaptionen von THE TRAP, THE CHAIR, THE WEAKEST LINK, GREED, POWER OF TEN und BIG BROTHER sind.846 Mit diesen importierten und selbst (re-)produzierten Formaten konnte die Sendergruppe hohe Zuschauerzahlen in der arabischen Welt erzielen, insbesondere bei Frauen und Jugendlichen.847 Die Adaptionen MAN SAYARBAH ALMALYOON und ARABS GOT TALENT sind schließlich herausragende Beispiele dieser Strategie, die zumindest nach öffentlichen Darstellungen gezielt dazu dienen sollte, dass der Sender sich stärker als arabischer Familiensender etabliert, seine Zuschauerreichweite vergrößert und seine inhaltlichen Angebote revolutioniert.848 Damit verbunden ist eine Aushandlung der Codesysteme, die eine arabische Anschlussfähigkeit besitzen. Wissenschaftliche Arbeiten betonen in diesem Zusammenhang wiederholt die intentionale Orientierung saudischer Unternehmer am westlichen Image der Sendergruppe MBC. Naomi Sakr etwa zitiert die Aussagen des saudischen Scheichs Walid al-Ibrahim, der in einem öffentlichen Interview sagte, es sei das Ziel von MBC, »to get rid of […] the Taliban mentality« durch eine Abgrenzung zur eher traditionellen staatlich-finanzierten arabischen Fernsehproduktion.849 Gleichzeitig ist diese Orientierung am kommerziellen Modell westlichen Fernsehens aber kein Impuls für die durchgängige Übernahme kultureller Deutungssysteme. Denn gerade das Einhalten spezifisch arabischer kultureller beziehungsweise ethischer Codes ist letztlich auch durch den Hauptfinancier von MBC, Saudi Arabien, notwendig. Insofern wird die Quizshow MILLIONÄR auch als willkommenes, weil wenig kontroverses Format für die Region betrachtet: »They wanted a show for their major sponsors Saudi Arabia. Because being a much more conservative society, they need to have a format which was not going to be controversial at all.«850 Kraidy beschreibt in diesem Zusammenhang den wechselseitigen Einfluss liberaler libanesischer professioneller Konventionen und denen des konservativen Sau845 Sakr, Naomi (2007): Facing up to Reality, S. 113. 846 Kraidy, Marwan; Khalil, Joe (2009): Arab Television Industries, S. 38f. 847 Ebd.; vgl. auch Lucini, Marc (22.08.2014): Reading MBC Group’s Market Strategies: Spreading Liberalism, its Limitations and the Establishment of a New Regional Model. Vortrag auf dem World Congress of Middle East Studies (WOCMES) 2014. Ankara, Türkei. 848 Vgl. bspw. Bashat, Samar (2010): MBC 4 Launches New Shows and Series. Al Arabiya. http://www.alarabiya.net/save_print.php?print=1&cont_id=133046 (18.01.2011). 849 Sakr, Naomi (2007): Facing up to Reality, S. 112. 850 Interview mit Graham Spencer, Sales Director CELADOR, 21.11.2011.

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di Arabiens. Die dominanten gesellschaftlichen Deutungsschemata beider Referenzsysteme haben demnach maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der arabischen Medien genommen: Die libanesischen Medien durch ihren Professionalisierungsvorsprung und Saudi Arabien durch sein verfügbares Kapital, durch das die Mehrheit der populären Satellitensender in den Händen saudischer Unternehmer ist.851 Die Orientierung an einer westlichen Qualität der Produktionen wie an ethischen Standards ist auch im kommunizierten Selbstverständnis von MBC auf dessen Internetpräsenz enthalten, wo es heißt: »After two decades of award-winning, independent broadcasting, MBC has changed the way Arab eyes look at the world. With today’s advanced technology, MBC continues to expand the landscape of broadcasting for a fast growing global audience. Our continued goal is to provide broadcasting values of unquestionable ethics and unparalleled quality. It is our focus. It is our vision.«852

In einer solchen Imageproduktion ist auch enthalten, was Khalil als Anforderungen an die erfolgreiche arabische Unterhaltungsproduktion beschrieben hat. Er meint, dass Produzenten, die mit arabischen Adaptionen betraut sind, vor allem einen Spagat zwischen einer gleichzeitigen »Islamisierung« und »Libanonisierung« meistern müssen .853 Allein diese Kombination aus westlicher Produktionsqualität und einer inhaltlichen »Islamic ›safe margin‹«854 würde letztlich auch die notwendige Werbeunterstützung seitens saudischer Kapitalgeber sichern. Damit ist nochmals die dichotome Orientierung sowohl an den hohen westlichen Produktionsstandards und liberalen Handlungsroutinen der libanesischen Kulturindustrie als auch den ethi851 Kraidy, Marwan (2010): Reality Television and Arab Politics, S. 66ff.; vgl. auch Hafez, Kai (2001): Introduction: Mass Media in the Middle East: Patterns of Political and Societal Change. In: Ders. (Hg.): Mass Media, Politics, and Society in the Middle East. Cresskill: Hampton Press, S. 8f.; Sakr, Naomi (2001): Satellite Realms. Transnational Television, Globalization and the Middle East. London: Tauris; Mellor, Noha (2008): Bedouinisiation or Liberalisation of Culture? The Paradox in the Saudi Monopoly of the Arab Media. In: Al-Rasheed, Madawi (Hg.): Kingdom Without Borders. Saudi Political, Religious and Media Frontiers. New York: Columbia University Press, S. 353-374. Mellor gibt in ihrer Analyse der Verflechtungen saudischer Unternehmer und der arabischen Musikindustrie zu bedenken, dass gerade saudi-arabische Manager eine paradoxe Strategie verfolgen: Sie folgen selbst eher der kulturellen Autorität westlicher Medienliberalisierung und erhalten weniger das traditionelle Kulturerbe aufrecht. 852 MBC Group (2014): We See Hope Everywhere. http://www.mbc.net/en/corporate.html (31.08.2014). 853 Khalil, Joe (2005): Inside Arab Reality Television, S. 64f. 854 Ebd., S. 64.

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schen Codes des konservativen saudi-arabischen Referenzsystems beschrieben, die Khalil beispielsweise im Gebetsraum der arabischen Version von BIG BROTHER oder dem Tabu, in STAR ACADEMY über Religion zu sprechen, wiedergespiegelt sieht.855 Diese strukturelle Gemengelage lässt sich schließlich auch am Beispiel der untersuchten arabischen Adaptionen wiederfinden, die beide sowohl von saudi-arabischem Medienkapital und dessen Werbemarkt abhängig sind, deren zentrale Positionen in der Produktion wie auch der Show allerdings auch von libanesischen Akteuren besetzt sind. Der Adaptionsunterschied, dass in beiden arabischen Reproduktionen beispielsweise weniger persönliche Details der Kandidaten offenbart werden, Kandidaten nicht der Lächerlichkeit preisgegeben werden und eine stärkere Bildungs- und Leistungsorientierung auf inhaltlicher Ebene zu erkennen ist, kann demnach auch als Ausdruck der strukturellen Abhängigkeiten und der saudi-arabischen Beziehung des Senders verstanden werden. Während allerdings in wissenschaftlichen Diskursen die inhaltliche Ebene arabischer Formatadaption im Fokus stehen und neue Sendeformen häufig im Zusammenhang mit öffentlichen Reaktionen diskutiert werden,856 so überwiegt in den Aussagen der interviewten Akteure der Branche hingegen ein ökonomischer Diskurs. Die Orientierung an westlichen Programmformaten wird nahezu ausschließlich auf Grundlage einer medienökonomischen Argumentation begründet, die auch weitestgehend den Ausarbeitungen der medienökonomischen Forschungsliteratur entspricht (vgl. Kapitel 1.1). Symbolische oder inhaltliche Gestaltungsmöglichkeiten spielen in den Erklärungsmustern eine nachgeordnete Rolle. Bei der Entscheidung zur Reproduktion der untersuchten Formate dominierte offensichtlich eine finanzielle Motivation. Der Anschluss an den internationalen Formathandel wird also vor allem durch die potenzielle Teilhabe an den Erfolgen ausländischer Unterhaltungsangebote verstehbar, der eine Koorientierung an der kommerziellen Produktionslogik vorausgeht. In nahezu allen Interviews wurde die strategische Entscheidung für den Kauf der Formate unterstrichen. In Deutschland existiert sogar längst eine professionelle Marktbeobachtung, mit der gezielt nach Erfolgsquoten und -trends im Ausland gesucht wird, wie beispielsweise von Elfi Jäger, die MILLIONÄR für Deutschland entdeckt hat, im Interview erläutert.857 Gerade in den vergangenen Jahren hat demnach eine strategische Institutionalisierung der Formatbeobachtung innerhalb von Sendeanstalten und Produktionsunternehmen stattgefunden.

855 Ebd. 856 Kraidy, Marwan (2010): Reality Television and Arab Politics; Ayish, Muhammad (2011): Television Reality Shows in the Arab World; Hegasy, Sonja (2011): Populärkultur als Ausdruck gesellschaftlicher Veränderung. 857 Interview mit Elfi Jäger, freiberufliche Formatexpertin, 08.11.2011.

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Es lässt sich somit argumentieren, dass die Adaption der untersuchten Formate allein auf dem vorherigen Erfolg in einer anderen Fernsehlandschaft und gemäß der Interviewauswertungen nicht auf einem intentionalen kreativen Innovationsbedürfnis oder einem dezidierten Interesse an kreativer Weiterentwicklung beruhte. Die Inhalts- und Repräsentationsebene der Sendungen treten damit hinter die Bedeutung des externen Publikumserfolgs zurück, der mehr über die lokale Reproduktion entscheidet als die Produkte beziehungsweise die Produzenten selbst. Dies gilt in besonderer Weise für das Format MILLIONÄR, das nach seinem enormen Erfolg in Großbritannien zunächst in den USA adaptiert wurde, was als Novum in der Austauschbeziehung von Unterhaltungsinhalten gilt, die bis dahin vor allem von dem Import US-amerikanischer Formate nach Europa geprägt war. Entscheidend ist aber, dass sowohl britische als auch deutsche Akteure der Formatindustrie hervorheben, dass es erst dieser US-amerikanische Erfolg gewesen sei, der zur positiven Entscheidung für den lokalen Formatdeal beigetragen habe. 858 Es war also erneut nicht nur die innovative Idee des Formats, sondern die Orientierung am Erfolg in einem entscheidenden Referenzsystem, den USA, die den Kauf positiv beeinflusst hat. Mehrere der interviewten deutschen Fernsehmacher haben in diesem Zusammenhang rekonstruiert, dass die Platzierung einer Quizshow in der Primetime, so wie im britischen Fernsehen, zunächst als »Kulturschock« und undenkbar für das deutsche Fernsehen betrachtet wurde und erst der Erfolg auf ABC ein Umdenken bewirkt habe. Diese Erfahrung gilt laut Graham Spencer nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere Regionen, die sich am US-Erfolg von MILLIONÄR orientiert haben: »The American show was what really launched it worldwide. The Asian countries noticed the success of the ABC show in the US, even to the extent of thinking that it was an American format.«859 Der dominante medienökonomische Impetus wird schließlich vor allem im Zusammenhang mit den deutschen Formatadaptionen deutlich. Während, wie dargelegt, für den arabischen Raum noch ein Interesse am Know-how der Produktion aufgrund eines wahrgenommenen Professionalisierungsdefizits artikuliert wird, ist dieses für die deutsche Fernsehlandschaft kaum relevant, da die Unterhaltungsindustrie im Fernsehsektor umfangreich institutionalisiert und professionalisiert und der Standort für hohe Produktionsstandards bekannt ist. Dennoch wird in mehreren Interviews mit den Akteuren der deutschen Reproduktion die Übernahme der er858 Darüber hinaus habe der Erfolg in den USA auch gezeigt, dass gleiche Publikumssegmente und -größen durch weitaus preisgünstigere Shows erreicht werden können. Paul Smith, der britische Produzent des Formats, erläutert, dass eine Episode von EMERGENCY

ROOM damals 13 Millionen Dollar pro Episode gekostet habe, eine Episode der

Spielshow hingegen nur eine halbe Million Dollar. Interview Paul Smith, Produzent WHO WANTS TO BE A MILLIONAIRE, 13.02.2013. 859 Interview mit Graham Spencer, Sales Director CELADOR, 21.11.2011.

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folgreichen ausländischen Sendungskonzepte mit einer lokalspezifischen Risikoaversion deutscher Produzenten in Zusammenhang gebracht. Wiederholt zeigt sich in den Aussagen der Befragten eine Erklärungslogik, nach der in der derzeitigen Produktionslandschaft eine hohe Angst vor dem Misserfolg von Produktionen herrsche. Ein erprobtes Format verringere dann nicht nur das Risiko eines Misserfolgs, sondern ebenso die Verantwortung für einen solchen, da sich die Produktionsentscheidung eben immer durch einen externen vorangegangen Erfolg rechtfertigen lasse. Die Logik der Programmbeschaffung besteht folglich aus einer Risikovermeidung durch den Verzicht auf Innovation einerseits und der Imitation von Erfolg andererseits, die eine Entwicklung zur Folge hat, in der trotz verfügbaren Wissens und verfügbarer Ressourcen Programmmacher innovative Entwicklungsleistungen immer weniger Raum bekommen. Die Einschätzungen der Experten decken sich an dieser Stelle auch mit wissenschaftlichen Auseinandersetzungen um die Innovationslogik des deutschen Fernsehens.860 Gestiegener struktureller ökonomischer Druck und rechtliche Machtasymmetrie zwischen Auftrag gebenden Sendeanstalten und entwickelnden Produktionsunternehmen fördern diese. Ein Grund dafür ist die Situation der Rechteverwertung, die in Deutschland zugunsten der ausstrahlenden Sendeanstalten organisiert ist. Dies stellt ein Verhandlungsungleichgewicht im deutschen Rundfunk her, das im Vergleich zu Großbritannien deutsche Produzenten in eine abhängige Position bringt. In Übereinstimmung mit der Forschungsliteratur erläutert dies auch der Medienjurist Christoph Fey im Interview:861 »In Großbritannien können die Produzenten selbst Rechte zurück behalten. Da die Sender im ersten Produktionsvertrag nicht alle Rechte bekommen, sind die Produzenten nicht so abhängig. Sender kriegen zum Beispiel nicht die Formatrechte, um Sendungen selbst fortzusetzen oder anderen Produzenten zum Weiterproduzieren zu geben, sondern die bleiben beim Produzenten. Sie kriegen auch nicht die Rechte für den internationalen Markt. […] Damit kann der Produzent selbst Rechte zurückhalten, mithilfe derer er womöglich nicht nur Gelder vom Sender, sondern auch Kredite bekommen kann, die er als Investitionsgelder nutzen kann. […] In

860 Vgl. bspw. Fröhlich, Kerstin (2010): Die Innovationslogik der deutschen TV-Unterhaltungsproduktion. In: Lantzsch, Katja; Altmeppen, Klaus-Dieter; Will, Andreas (Hg.): Handbuch Unterhaltungsproduktion, S. 117-134; Schmitt, Daniel; Bisson, Guy; Fey, Alexander (Hg.): The Global Trade in Television Formats. 861 Die Institutionalisierung der Unterhaltungsbranche in Deutschland hat durch die 2008 gegründete Produzentenallianz, einer Interessenvertretung der deutschen Produzenten, einen vorläufigen Höhepunkt gefunden, der auch zum Ziel hat, dieses Ungleichgewicht zu verändern. Ziel der Allianz ist es, die Interessen der Produzenten ähnlich dem britischen Modell zu stärken.

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Deutschland versuchen die Produzenten gerade erst zu erreichen, was PACT und die OFCOM schon vor zehn Jahren erreicht haben«.862

Was also zunächst auch als eine kulturelle Praxis erscheinen kann – nämlich der forcierte Import von Entwicklungsleistungen externer Referenzsysteme –, geht somit auch auf juristische und strukturelle Rahmenbedingungen des deutschen Produktionssektors für Unterhaltungsfernsehen zurück. Den empirischen Beleg für diese zunehmende Produktionspraxis liefern schließlich auch Erhebungen des IP Networks und der RTL GROUP, nach denen unter den 20 meistgesehenen Programmen der werberelevanten Zielgruppe neben Sportveranstaltungen und Filmen mit DSDS und ICH BIN EIN STAR, HOLT MICH HIER RAUS auch zwei erfolgreiche RTL-Formate vertreten sind. Gemessen an den Zuschaueranteilen sind gerade bei RTL, SAT.1 und PRO7 adaptierte Formate wichtige Programmangebote der Sender.863 Eine Resonanz findet diese Entwicklung auch in den Diskursen der Rezeptionsgruppen, die beispielsweise mehrfach beklagten, dass inzwischen jeder Sender eine eigene Castingshow habe und DAS SUPERTALENT nur ein Beispiel von vielen sei (vgl. Kapitel 4.2). Doch auch wenn die kreative Außenorientierung aktuell eine Akzeleration erlebt, zeigt eine historische Betrachtung der Produktionsroutinen der deutschen Fernsehlandschaft, dass die Reproduktion ausländischer Konzepte bereits vor Einführung des dualen Rundfunksystems und der privatwirtschaftlichen Rundfunkorganisation in Deutschland eine gängige Form der Produktbeschaffung war. Die Geschichte deutscher Fernsehunterhaltung ist seit Beginn an von Nachahmungen USamerikanischer und britischer Sendungskonzepte geprägt. Nicht nur ist die Struktur des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland im Zuge der Nachkriegszeit maßgeblich von den Besatzungsmächten Großbritannien und den USA geformt worden, auch die unterhaltenden Inhalte des öffentlich-rechtlichen Fernsehens orientierten sich bereits an angloamerikanischen Vorlagen.864 Beispielsweise liefen bereits in den 1950er und 1960er Jahren Unterhaltungssendungen im ERSTEN, die reine Übernahmen von Spielideen aus den USA waren. Dazu zählen die Sendungen HÄTTEN SIE’S GEWUSST oder das QUIZ 21, die auf dem Format TWENTY ONE basierten. Auch WAS BIN ICH, 1:0 FÜR SIE und ALLES ODER NICHTS sind von den USFormaten WHAT’S MY LINE, PEOPLE ARE FUNNY und $64,000 QUESTION inspiriert

862 Interview mit Christoph Fey, Rechtsanwalt, 19.02.2013. 863 IP Network; RTL Group (2013): Television International Key Facts 2013. 864 Matthias Alberti, früherer Unterhaltungschef von RTL, rekonstruiert im Interview beispielsweise, dass sich deutsche Programmacher schon früh vom amerikanischen Fernsehen inspirieren und individuelle Fernseherfahrungen aus den USA in ihre Sendungsideen einfließen ließen.

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gewesen.865 In den 1980er Jahren kauften die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten nach wie vor Spielideen – etwa DINGSDA und HERZBLATT, die wiederum auf die Sendungen CHILD’S PLAY und THE DATING GAME zurückgehen. Hallenberger argumentiert daher, dass nicht nur einzelne Sendungen, sondern letztlich das gesamte Genre der Quiz- und Gameshow in toto nach Deutschland importiert worden sei.866 Die zunehmende Orientierung der privatwirtschaftlichen Sender am Stil amerikanischer Gameshows seit den frühen 1990er Jahren gilt Andrea Kohlenberger als Beispiel für eine frühe Amerikanisierung des deutschen Fernsehens. 867 Auch wenn eine solche Beobachtung auf der Ebene der Genre-Entwicklung ihre Berechtigung haben mag, so muss eine derartige Bilanzierung bei genauerer Betrachtung von Inhalt und Darstellung konkreter Angebote weitaus differenzierter ausfallen. Beispielsweise arbeitet Hallenberger heraus, dass zumindest die frühen Quizshows im deutschen Fernsehen der 1980er Jahre deutliche lokale Spezifika aufwiesen, die erst in Folge der neuen Wettbewerbsstruktur des dualen Rundfunks nach und nach aufgegeben wurden.868 Die Ausführungen zeigen also, dass trotz variierender Phasen der kreativen Binnenorientierung Nachahmungsstrategien und Übernahmen von Sendungsideen bereits vor der Konsolidierung und Etablierung des Formathandels und, mehr noch, lange vor Einführung des dualen beziehungsweise privaten Rundfunks Gang und Gäbe waren. Der Zusammenhang zwischen zunehmendem Formathandel und wirtschaftlicher Eigenlogik des kommerziellen Fernsehens, der in den Interviews immer wieder hervorgehoben wird, kann somit kein exklusives Erklärungsmuster sein. Die Formatierung als kulturelle Praxis ist weder als Novum des 21. Jahrhunderts noch als alleiniges Epiphänomen der Kommerzialisierung des Rundfunks zu werten. Denn auch ohne Wettbewerbsdruck suchten die Programmacher bereits von Beginn an ganz offensichtlich nach Ideen für eigene abendfüllende Programme bei USamerikanischen Programmanbietern. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Entwicklungen des US-amerikanischen wie auch des britischen Unterhaltungsfernsehens und dessen Konventionen sowohl der deutschen als auch, in gleichwohl geringerem Ausmaß, der arabi865 Hallenberger, Gerd (1992): ›Amerikanisierung‹ versus ›Germanisierung‹: Quizsendungen im deutschen Fernsehen – eine ›mittatlantische‹ Programmform? In: Schneider, Irmela (Hg.): Amerikanische Einstellung. Deutsches Fernsehen und US-amerikanische Produktionen. Heidelberg: Winter, S. 85ff.; Kohlenberger, Andrea (2007): Die Amerikanisierung des deutschen Fernsehens. Geschichte, Vergleiche und Auswirkungen. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller. 866 Hallenberger, Gerd (1992): Amerikanisierung versus Germanisierung, S. 82. 867 Kohlenberger, Andrea (2007): Die Amerikanisierung des deutschen Fernsehens, S. 89. 868 Ebd., S. 88f.; vgl. auch Hickethier, Knut; Hoff, Peter (1998): Geschichte des deutschen Fernsehens. Stuttgart: Metzler, S. 149.

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schen Fernsehproduktion als wichtige Orientierungsmaßstäbe und Sozialisationsinstanzen galten, auch wenn sich eine lokale kreative Binnenorientierung in früheren Reproduktionen aufgrund fehlender Lizenzverträge noch offensichtlicher äußerte als in aktuellen Adaptionen. Interessant für die Analyse der adaptierten Quizsendung sind auch Untersuchungen, die den deutschen Quizshows der 1950er und -60er Jahre einen Bildungsanspruch attestieren, der erst seit den späten 1980er Jahren aufgegeben wurde.869 Ein solcher Bildungsanspruch ist ebenso für die arabische Version von MILLIONÄR herausgearbeitet worden (vgl. Kapitel 4.1.1). In der Produktion spiegelt sich damit möglicherweise nicht nur der Status Quo gesellschaftlicher Deutungsmacht des Referenzsystems, der sich in von Elitenstrukturen und Klassensystemen beeinflussten dominanten Wissensordnungen ausdrückt. Hier könnte sich ebenso eine zyklische Logik ausmachen lassen, die mit der Entwicklung des Genres und der wachsenden Vertrautheit des Publikums mit demselben in den lokalen Referenzsystemen zusammenhängt. So erläutert etwa Graham Spencer, der das Format WHO WANTS TO BE A MILLIONAIRE vertrieben hat, dass sich Formate erst im Laufe der Zeit verändern und sie einer bestimmten Evolutionslogik folgen würden.870 Unter Einbezug dieser Überlegung ist der Unterschied relevant, dass die untersuchte deutsche Version von MILLIONÄR bereits im elften Jahr (beziehungsweise der elften Staffel) ohne Unterbrechung auf Sendung war, die arabische Version hingegen erst als vierte Staffel in einem Zeitraum von zehn Jahren ausgestrahlt wurde. Die stärkere Unterhaltungsorientierung der deutschen Sendung kann somit auch Resultat dieser Ausstrahlungsdauer sein. Eine Nuancierung der unterhaltenden Anteile dient aus Produktionssicht im Sinne einer »Formatpflege« beziehungsweise einer »Auffrischung«871 des Formats dazu, die Aufmerksamkeit und Nachfrage zu sichern, was sowohl von deutschen wie auch arabischen Akteuren in Bezug auf die Gestaltung der Joker oder Spielregeln artikuliert wird: »People get enough of this show. We thought, if you want to bring it back, let’s add something new to it.«872 Auch die Verschiebung der Fragen hin zu aktuellen Wissensbeständen führt der 869 Hallenberger, Gerd (1992): Amerikanisierung versus Germanisierung; vgl. auch Kohlenberger, Andrea (2007): Die Amerikanisierung des deutschen Fernsehens, S. 88f.; Hickethier, Knut; Hoff, Peter (1998): Geschichte des deutschen Fernsehens, S. 149. Hallenberger geht konkret auf den Versuch der semantischen Akademisierung der Sendung WAS BIN ICH? ein, die 1955 im Untertitel als ›psychologisches Extemporale mit sieben unbekannten Größen‹ bezeichnet worden sei und in der das ›Rateteam‹ zum ›Kollegium‹ wurde. Hallenberger, Gerd (1992): Amerikanisierung versus Germanisierung, S. 87. 870 Interview mit Graham Spencer, Sales Director CELADOR, 21.11.2011. 871 Interview mit Irene Zurawczak, Executive Producer ENDEMOL D., 14.05.2014. 872 Interview mit Salwa Soueid, Executive Producerin MBC, 17.6.2012.

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Fragenproduzent von WER WIRD MILLIONÄR, Günther Schröder, auf die lange Sendegeschichte des Formats zurück, durch die ein großer Bestand an Wissen bereits erfragt worden sei: »Da wir alles von Boris Becker bis zu Karl dem Großen schon gefragt haben, gibt es immer mehr Fragen, die im weitesten Sinne einen aktuellen Bezug haben. […] Auch bei den ersten Fragen sind wir dazu übergegangen, die Wortspiel- oder ›Gaga‹-Fragen zu stellen, denn leichte Dinge, die wir anfangs erfragt haben, die gibt es einfach nicht mehr.«873 Damit werden konzeptuelle Einflussfaktoren auf die Gestaltung der Inhaltsebene der Sendung sichtbar. Die Erklärung des Unterschieds der Fragekategorien in den beiden Versionen lässt sich somit nicht unabhängig von der spezifischen lokalen Medienumgebung und -geschichte und nicht allein aus kulturellen Tiefenstrukturen der Referenzsysteme ableiten. Die Adaption unterliegt also technischen beziehungsweise äußeren Zwängen, was jedoch nicht heißen muss, dass die Antizipation kultureller Tiefenstrukturen (vor allem des Publikums) nicht stattfindet, wie später noch gezeigt wird. Ähnlich argumentieren lässt sich auch bezüglich der Unterschiede des Castingformats GOT TALENT. So geht der deutschen Formatadaption die Adaption von POP IDOL voraus, DSDS, die seit mehreren Jahren in der Öffentlichkeit diskutiert wird und die Sehgewohnheiten in Bezug auf die Castingshow über lange Zeit prägen konnte. Dass sich DAS SUPERTALENT als Nachfolgeformat auf dem gleichen Sender an jenem Vorgängerformat orientiert und mit dem gleichen Hauptjuror Dieter Bohlen wirbt, wird dann aus der jüngeren Historie der konkreten lokalen Sendergeschichte von RTL verständlich. So sei Dieter Bohlen gerade aufgrund seines Erfolges bei DSDS für die Sendung gesetzt gewesen und auch die Aussagen von Marcus Reddemann aus der Produktionsfirma GRUNDY LIGHT ENTERTAINMENT GmbH beziehungsweise UFA SHOW874 legen nahe, dass DSDS einen deutlichen Einfluss auf die Produktion von DAS SUPERTALENT gehabt hat: »›Deutsche Adaption‹ klingt, als würde man komplett Deutschland im Blick haben. De facto aber haben die Sender ihr eigenes Programm im Blick. Sie adaptieren die Sendung im Sinne ihres eigenen Senderverständnisses. […] Ich will nicht sagen, dass wir SUPERTALENT ange-

873 Interview mit Günther Schröder, Geschäftsführer MINDTHECOMPANY, 05.07.2011. 874 Die Produktionsfirma GRUNDYLIGHTENTERTAINMENT wurde 2013 in UFA Show umbenannt. An den Besitzverhältnissen – GRUNDY gehört zu BERTELSMANN – hat sich dadurch nichts geändert. Im Folgenden wird der aktuelle Name der Firma, UFA SHOW, zur Kennzeichnung gewählt.

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glichen haben, aber die ganze Darstellungsweise und die Verpackung mag sich an DSDS orientiert haben, weil das ja ebenfalls großartig auf RTL läuft«.875

Der Erfolg einer vorangegangenen lokalen Formatadaption wird damit zur Vorlage für die Adaption eines weiteren Formats. Dieses Vorgehen entspricht einer Marktlogik, die sich an Zyklen des Erfolgs orientiert und in zahlreichen »Me-Too-Produktionen« deutlich wird. Der Adaptionsunterschied, dass in der deutschen Formatversion Kandidaten präsentiert werden, die televisuelle Aufmerksamkeit eher durch karnevaleske Selbstdarstellungen erregen, ist dann erneut nicht etwa allein auf eine kurzfristige Erlebnisorientierung postmoderner Individuen in einem kapitalistischen Referenzsystem zurückzuführen. Sie beruht eben auch auf einer Multiplikationsstrategie der Produktion, die bereits bei früheren Formaten wie DSDS oder BIG BROTHER eingesetzt hat.876 Bei WER WIRD MILLIONÄR verlief die Beeinflussung hingegen umgekehrt. Es besteht ein Konsens darüber, dass die Platzierung der Quizshow in der Primetime durch Nachfolgeformate ganze Showfarben und Programmprofile verändert habe. Beispiele für diesen zyklischen Boom liefern etwa eigenentwickelte, aber durchaus ähnliche Quizshows wie das QUIZ MIT JÖRG PILAWA, STAR QUIZ oder FÜNF GEGEN JAUCH. Ähnliche entlehnte Adaptionen des Genres sind auch im arabischen Raum zu finden, wo beispielsweise die Castingsendung STARS OF SCIENCE aus Katar, in der junge Nachwuchswissenschaftler ihre Erfindungen vorstellen, sogar über die arabische Welt hinaus große Aufmerksamkeit erlangte. Ähnlich verhielt es sich mit der Castingshow MILLION’S POET (‫)شاعر المليو ن‬, die mithilfe staatlicher Förderung auf ABU DHABI TV ausgestrahlt wurde und den erfolgreichsten Poeten der Region kürte.877 Auch wenn die Inhalte hier stark lokalisiert sind, so ist eine deutliche Nähe der Produktionsstandards zu internationalen Formaten erkennbar.

875 Interview mit Marcus Reddemann, Head of Development, GRUNDY LIGHT ENTERTAINMENT, TALENT

23.11.2011. Auch Volker Weicker, Live-Regisseur der Sendungen SUPER-

und DSDS, bestätigt im Interview den inszenatorischen Einfluss.

876 Die Reproduktion von Strukturen und Routinen wird letztlich auch durch die in diesen Strukturen sozialisierten Akteure vorangetrieben. Nahezu alle befragten Experten haben Erfahrungen in der Unterhaltungsproduktion und mit der Adaption von Formaten. Der Produzent, der für die Entwicklung der Fragen von WER WIRD MILLIONÄR verantwortlich zeichnete, hatte schon Fragen für das deutsche JEOPARDY in den 1990er Jahren entwickelt, der damals leitende Unterhaltungschef von RTL hat vor MILLIONÄR bereits erfolgreiche Formate wie TRAUMHOCHZEIT oder 7 TAGE, 7 KÖPFE adaptiert, der verantwortliche Redakteur war schon für die australische Firma GRUNDY mit der Adaption von fiktionalen Dramen vertraut. 877 Ayish, Muhammad (2011): Television Reality Shows in the Arab World.

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Übertragen auf die Terminologie Halls greifen diese Beispiele also keine inhaltlichen Vorlagen auf, sie kopieren aber die ästhetischen Konventionen und Konzepte der erfolgreichen Formate und multiplizieren damit die professionellen, televisuellen Codes. Zusammenfassend muss also berücksichtigt werden, dass die lokale Kreativität im Bereich der Fernsehunterhaltung in beiden lokalen Kontexten bereits vor den hier untersuchten Reproduktionen von der Übernahme von Konventionen ähnlicher Formate beeinflusst war. Eine maßgebliche Rolle in dieser Multiplikation von Show-Konventionen haben wiederum die beiden ausstrahlenden Sender MBC und RTL gespielt. Auf Senderebene ist damit eine kreative Koorientierung zu beobachten. Das heißt dann auch, dass der Erfolg der Formate nur Rückschlüsse auf deren Zielgruppen zulässt, nicht jedoch auf kulturelle Ähnlichkeiten gesamter Gesellschaften. Es ist daher umso bedeutsamer in der Analyse zu berücksichtigen, dass Adaptionen auch aus Sicht der Produzenten vor allem in Hinblick auf die Senderprofile und deren Zielgruppensegmente produziert werden. So zählen laut Mathias Alberti, dem früheren Unterhaltungschef von RTL, auch Erfahrungswerte ausländischer Sender mit ähnlichem Profil mitunter mehr als Erfahrungswerte anderer deutscher Sender. 878 Das Image und Profil der Sender kann schließlich auch in inhaltliche Entscheidungen hineinwirken. Die Vorstellungen vom Publikum des Senders bedingt am Beispiel von WER WIRD MILLIONÄR beispielsweise eine indirekte Vorauswahl der Fragen, wie der Entwickler der Fragen im Interview erklärt: »Ich weiß, wenn ich zu einer Sitzung mit RTL gehe und eine Frage dabei habe wie ›Wie heißen die Hauptfiguren aus Goethes Wahlverwandtschaften?‹, dass diese Frage es schwer haben wird, weil die Redakteurin sagt: ›Das interessiert unsere Zuschauer nicht.‹ Und damit hat sie wahrscheinlich Recht.«879 Ähnliches gilt auch für MBC, wo eine gemeinsame Erfahrungs- und Wissensbasis des transnationalen arabischen Publikums von MAN SAYARBAH AL-MALYOON gefunden werden muss und sich dadurch Fragen eher an historischen und religiösen Sachverhalten orientieren. Neben der Orientierung an den Zielgruppen sind es aber auch ästhetische und erzählerische Profile, die einen Einfluss auf das Aussehen der Sendungen haben. Dieser Einfluss wird bei der deutschen Formatadaption von GOT TALENT immer wieder betont und bezieht sich auf die brancheninterne Wahrnehmung, dass RTL für eine stark personalisierende Darstellungsweise stehe, die Kandidaten und deren Schicksalsgeschichten in den Vordergrund rücke und eine inszenierte Emotionalisierung betreibe.880 878 Interview mit Matthias Alberti, Leiter Unterhaltung RTL, 29.9.2011. 879 Interview mit Günther Schröder, Geschäftsführer von MINDTHECOMPANY, 05.07.2011. 880 Sichtbar wird dies auch im Claim »Mein RTL«, der nach Selbstaussagen der Kommunikationsabteilung »zeigt, dass RTL längst nicht mehr von der Provokation lebt, sondern von der emotionalen Nähe zu seinen Zuschauern«. RTL Kommunikation (2014):

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In der Wahrnehmung eines solchen Senderprofils liegt schließlich auch eine Symmetrie der Beziehung zwischen kodierenden Produzenten und dekodierenden Rezipienten. Sowohl die Tatsache, dass WER WIRD MILLIONÄR ein ungewöhnliches Format für RTL darstellt, da es auch auf öffentlich-rechtlichen Sendern laufen könnte, als auch die Tatsache, dass es sich um Fernsehen handelt, das eine emotionale Entlastung bei den Zuschauern durch soziale Aufwertungsmechanismen entstehen lassen kann, lässt sich sowohl in Aussagen der Branchenexperten als auch der befragten Rezipienten in dieser Arbeit finden. So finden sich seitens des Produktionskontexts beispielsweise Dechiffrierungen der Gruppen – »Das ist der tragende Punkt bei solchen Sendungen. Du sitzt da als Normalsterblicher, kriegst anscheinend Leute mit mangelnder Bildung vorgesetzt und denkst dir dann: ›Ja, so doof bin ich nicht. Hach, jetzt fühle ich mich wieder gut.‹«881 – nahezu identisch bestätigt, da auch Experten diese mögliche Entlastung im Rezeptionsprozess mit Hinblick auf das Charakteristikum des RTL-Programms thematisieren. Entscheidend für inhaltliche Adaptionen ist schließlich auch die kommerzielle Organisation des Senders. RTL muss als privat-kommerzieller Sender nicht einen Bildungsauftrag wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk erfüllen, was wiederum Einfluss auf die Gestaltung der Fragen von WER WIRD MILLIONÄR hat. So wird auch seitens einiger Experten gemutmaßt, dass die Senderprofile einen Einfluss auf die Art und Weise der Fragestellungen haben. Die werberelevante jüngere Zielgruppe der RTL-Sendung erklärt dann beispielsweise die geringere Nachfrage nach klassischer Musik oder bildender Kunst. Ganz konkret beschreibt Günther Schröder, der für die Fragenerstellung verantwortlich zeichnet, in diesem Zusammenhang einen Unterschied der deutschen zur österreichischen Sendungsvariante. Letztere wird vom öffentlich-rechtlichen Sender ORF ausgestrahlt, was dazu führe, dass bei der Erstellung der Fragen auch an einen Bildungsauftrag gedacht werde: »Da kommt jedes Arthur Schnitzler Drama garantiert immer mal vor, weil die sagen, wir sind öffentlich-rechtlich und wir haben einen Bildungsauftrag.«882 Allerdings ist die Organisationsstruktur keine exklusive Variable für die Erklärung kulturspezifischer Unterschiede, da auch der privat-kommerziell organisierte Satellitensender MBC eine deutliche Bildungsorientierung erkennen lässt. Vielmehr kommen hier auch Alltagstheorien über die Bildungsorientierung des Publikums zum Tragen, die im folgenden Kapitel noch eine genauere Berücksichtigung finden werden. Neben den bisher dargestellten Einflüssen industrieller Strukturen, des Senderprofils wie auch gesellschaftlicher Codesysteme, ist schließlich auch der Einfluss der lizenzgebenden Unternehmen, also der externen institutionellen Akteure, auf Die Marke RTL. Mediengruppe RTL Deutschland. http://kommunikation.rtl.de/de/pub/unternehmen/i192_1.cfm (23.11.2014). 881 Gruppendiskussion D07, Realschülergruppe. 882 Interview mit Günther Schröder, Geschäftsführer MINDTHECOMPANY, 05.07.2011.

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die Produktvarianten hin zu prüfen. Allgemein lässt sich in Bezug auf die deutschen Versionen festhalten, dass diese im Kontext von integrierten institutionellen Netzwerken entstanden sind, in denen Sender und Produktionsunternehmen über transnationale Besitzverhältnisse miteinander verbunden sind. Die Eigentumsstrukturen in der Formatbranche strukturieren damit beispielsweise bereits die beteiligten Akteure eines Formatdeals vor; das Gatekeeping der Formate erfolgt dann entlang dieser institutionellen Strukturen und unterliegt keinem absolut freien Spiel kreativer Kräfte.883 So sind auch die beiden deutschen Adaptionen in einem institutionellen Umfeld entstanden, dessen Besitzstrukturen eng mit den führenden internationalen Produktionsunternehmen verknüpft sind. UFA SHOW, das Produktionsunternehmen von DAS SUPERTALENT, ist beispielsweise Tochterunternehmen des internationalen Medienunternehmens FREMANTLEMEDIA, das zugleich die Lizenz der Show innehat. FREMANTLEMEDIA gehört wiederum selbst zur RTL GROUP, so dass die Reproduktion von RTL komplett unter dem Dach des Medienkonzerns BERTELSMANN abläuft. Nach Expertenaussagen besteht aufgrund dieser Vernetzung auch ein intensiver Austausch mit dem Londoner Unternehmen. WER WIRD MILLIONÄR wird im Unterschied dazu von ENDEMOL DEUTSCHLAND produziert, was aber ebenso eine konsolidierte und auf die Unterhaltungsproduktion spezialisierte nationale Dependance des transnationalen Produktionsunternehmens ENDEMOL ist. Diese Zusammenarbeit zwischen RTL und ENDEMOL geht laut Aussagen der Experten auf frühe Absprachen in den institutionellen Netzwerken zurück. Der Impuls zum Transfer beider deutscher Formatvarianten ist insofern ein interner gewesen, der Weg des Transfers wurde aber durch institutionelle Strukturen zum Teil extern vorgegeben. In der Einschätzung der befragten lokalen Produzenten hatten die Lizenzgeber durch die Vorgaben in den Formatbibeln einen maßgeblichen Anteil an der Gestaltung der lokalen Formatadaptionen, die auch durch die Lizenzunternehmen geprüft wurden. Es lässt sich gemäß der Analyse durchaus von einem »Lehrer-SchülerVerhältnis« zwischen Lizenzgebern und -nehmern sprechen; dem Transfer professioneller televisueller Codes wohnen also Elemente einer Lehrsituation inne. So stellen beispielsweise Workshops für die Käufer der Lizenzen eine Synchronisation lokaler Reproduktionen sicher. Die lokalen Fernsehmacher wohnen dabei der Produktion der britischen Originalversionen bei, sprechen Veränderungen mit den Unternehmen ab und müssen auch Nachweise einzelner Episoden erbringen. Die Fly-

883 Mehrere Experten erwähnen in ihren Interviewaussagen die Entwicklung der Formatmärkte, die immer stärker von »First-Look-Deals« und internen Vorababsprachen gekennzeichnet seien. Die Sender hätten insofern immer weniger Wahlfreiheit bei der Auswahl der Produktionsunternehmen, da diese eben bereits konsolidierte Dependancen transnationaler Unternehmen seien.

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ing Producer nehmen dabei eine zentrale Stellung ein. 884 Es wird schließlich auch bestätigt, dass im Fall von GOT TALENT ähnlich wie bei MILLIONÄR sowohl das Setting (die Theater), die Tongebung der Studios, die Schnitttechnik, und die Art und Weise der musikalischen Unterlegung von FREMANTLEMEDIA vorgegeben waren. Diese Übernahmen haben in beiden Kontexten aber auch dazu geführt, dass GOT TALENT kreative Impulse hinsichtlich der Konventionen der Fernsehunterhaltung gesetzt hat. Dies wird beispielsweise seitens der Vertreter des Produktionsunternehmens UFA SHOW am öffentlichen Blick hinter die Bühne festgemacht, der im Zuge der Formatadaption eingeführt wurde. Insofern könnte die filmische und erzählerische Einbeziehung des Backstage-Bereichs als externer ästhetischer und narrativer Impuls für die Entwicklung des lokalen Realitätsfernsehens gewertet werden. Umgekehrt haben nach Aussage mehrerer Experten aber auch lokale Adaptionen (etwa die Buzzer-Regeln) wiederum Einfluss auf die originale Formatvariante genommen, was dann wiederum eine Wechselwirkung von assimilativen und kreativen Prozessen im Formattransfer zeigt. Im Gegensatz zu den angedeuteten Ambivalenzen kreativer Freiheiten im Castingformat wird im Zusammenhang mit der Quizshow die strenge Fixierung betont, die kaum Änderungsmöglichkeiten zuließ: »We didn't change anything at all, we took it as it was. We were not allowed to, anyway.«885 Ähnlich äußern sich auch die deutschen Produzenten über Anpassungen, die nur auf wenige graphische Nuancen beschränkt gewesen seien.886 Paul Smith, der die erste britische Fassung des Formats produzierte, zieht eine Adaptionspraxis im Zusammenhang mit MILLIONÄR sogar grundlegend in Zweifel: »I don’t call it adapting. Generally speaking, nobody could add anything without our approval overseas and there were just a few minor changes because of cultural difference but nothing significant. […] None of the other shows are adaptations. Adaptation suggests that it has been adapted. They were not adapted. The only difference is they are likely to be produced in a different language with a different title. […] The graphics were the same, the music, the lighting, the set; everything else was exactly the same«.887

884 Die Arbeit der Flying Producer illustriert Jamie Lynn, Head of Sales FREMANTLEMEDIA, wie folgt: »A production team who will literally go in and tell them: ›You have to make this part shorter and this part longer, you have to cut the camera here, tell the judges not to use the buzzers too much‹ and give them guidance. We all have an influence to varying degrees. My major influence was convince them that it will work for them.« Interview, 23.4.2012. 885 Interview mit Salwa Soueid, Executive Producer MBC, 17.06.2012. 886 Bspw. im Interview mit Matthias Alberti, Leiter Unterhaltung RTL, 29.9.2011. 887 Interview mit Paul Smith, Produzent WHO WANTS TO BE A MILLIONAIRE, 13.02.2013.

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Erklärungen für eine strenge Orientierung am strikten Regelwerk der Quizshow finden sich erneut in medienökonomischen Perspektiven. Gerade die finanzielle Investition der adaptierenden Akteure in das verfügbare Know-how der Anbieter verbiete größere Abweichungen vom Original, die möglicherweise den Erfolg eines Formats negativ beeinflussen. Adaptionen können theoretisch nicht nur Nähe und Anschlussfähigkeit stiften, sie können ebenso das Gegenteil erreichen. Entsprechend den Risikovariablen der Unterhaltungsproduktion ist verständlich, dass das brancheninterne Interesse eher auf der Ebene der Übernahme denn der Anpassung liegt. Aus Produzentenperspektive überwiegt mehrheitlich der Wunsch nach Beratung, in der eine Bereicherung für das Formatgeschäft gesehen wird: »The licensee expects good advice because they are paying a licence for the format. Hence, they tend to go with most of that advice […] because the best way to make it work is to do what has been spiced even beforehand.”888 Es geht also um Fehlervermeidung bei der Reproduktion und weniger um kreative Innovation. 4.3.2 Individuelle Lesarten der Unterhaltungsproduzenten Während bisher strukturelle und institutionelle Aspekte der betreffenden Medienumgebungen in Bezug auf den Formattransfer rekonstruiert wurden, sollen im Folgenden die Deutungsmuster im Fokus stehen, die aus den Aussagen der Akteure über die betreffenden Formate abgeleitet werden können. Es besteht hier jedoch insofern ein methodisches wie theoretisches Ungleichgewicht im Vergleich zu den Deutungsmustern der Rezipienten, da die Interpretationen der Produzenten allein rekonstruktiv sind und nicht auf der gemeinsamen Rezeption der Formate beruhen. Dennoch sollen einige der brancheninternen Sichtweisen dazu beitragen, das innergesellschaftliche wie grenzüberschreitende Verhältnis zwischen Deutungen der produzierenden und rezipierenden Akteure theoretisch fruchtbar zu machen. Unterhaltungsproduktion ist ein »people’s business«, das von den Entscheidungen, Erfahrungen und Handlungen weniger individueller Akteure geprägt ist, die sich auch in der Gestaltung von Sendungen wiederfinden.889 Neben dem Einfluss von Senderprofilen und Lizenzvereinbarungen gehen die Adaptionsunterschiede von Formatversionen damit vor allem auf Individualentscheidungen zurück. In den Reflexionen der Programmacher wird aber deutlich, dass programmatische Entscheidungen häufiger und ausführlicher artikuliert und erinnert werden als Entscheidungen zu symbolischen, inhaltlichen oder ästhetischen Variationen. Die strukturelle Dimension der Adaption (Personal, Budget, Programmierung) steht also mehr im Vordergrund als die kulturelle Adaption der Inhalts- und Repräsentations888 Interview mit Graham Spencer, Sales Director CELADOR, 21.11.2011. 889 Viele der Interviewpartner bestätigen die prägende Rolle einzelner Personen und deren Erfahrungshintergrund in der Unterhaltungsproduktion.

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ebene. Während strukturelle Entscheidungen zumeist auf strategische Überlegungen zurückzuführen sind, gehen ästhetische Variationen nach den Aussagen der Verantwortlichen vielmehr auf spontane Entscheidungen im laufenden Prozess der Reproduktion zurück. Es wird immer wieder deutlich, dass diese Ebene der kreativen lokalen Anpassung einen zufälligen und nahezu beiläufigen Charakter hat. Vor dem theoretischen Hintergrund der Arbeit folgt die Adaption somit anscheinend weniger einem intentionalen, sondern einem wenig gesteuerten kreativen Prozess. Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass gerade stilistische Veränderungen keinen entscheidenden Einfluss auf die Formate und deren Erfolg haben.890 Lokalisierungsstrategien manifestieren sich somit zwar auf der Textebene der Formate, sie sind jedoch nicht Resultate gezielter kultureller Manipulationen. Es seien vielmehr die »Zwischentöne«, die den Kern von Adaptionen ausmachten. Dieser Intuitionscharakter kultureller Adaptionen wird in der Rekonstruktion durch die Beteiligten der Produktion sowohl von WER WIRD MILLIONÄR als auch von DAS SUPERTALENT ähnlich deutlich: »Das war so ein Gefühl. Wir, also die Art Direction von RTL, haben das angeschaut und dann haben wir ein bisschen intensiviert und polarisiert. Es waren keine revolutionären Dinge, sondern nur evolutionäre. […] Es war mehr ein Prozess. Wir haben uns nicht an einen Tisch gesetzt und gesagt: ›So, jetzt ändern wir das!‹«891 *** »Es liegt an den Geschmäckern der beteiligten Personen. Wenn die meinen, dass wir mehr Klassiksänger brauchen, dann ist das eine inhaltliche Ausrichtung, […] die zwar natürlich ein bisschen Adaption ist, aber gar nicht so bedeutend für das Format«.892

Auch der Sales Director von CELADOR fasst dieses Prinzip aus Sicht der Lizenzgeber ähnlich zusammen: »Changes are not really cultural but rather structural – it would be minor things that the broadcaster or producer would perceive would work in terms of attracting the given audience.«893

890 Unterschiedliche Farbwelten des deutschen und britischen Fernsehens werden bspw. durch technische Rahmenbedingungen erklärt, nicht jedoch durch kulturelle. 891 Interview mit Matthias Alberti, Unterhaltungschef RTL, 29.9.2011. Kai Sturm, der damalige leitende Redakteur von WER WIRD MILLIONÄR rekonstruiert die Adaption auf ganz ähnliche Weise: »Die Adaption liegt eher im gestalterischen Bereich, bei den Zwischentönen: Wie geht man das an? Wie geht man mit den Kandidaten um? Wie gestaltet man die Close-Ups? Das sind die Kleinigkeiten.« Interview, 27.4.2012. 892 Interview mit Marcus Reddemann, Head of Development UFA Show. 23.11.2011. 893 Interview mit Graham Spencer, Sales Director CELADOR, 21.11.2011.

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Was hier am Beispiel konkreter Adaptionselemente (Gatekeeping zweiter Instanz) deutlich wird, trifft auch auf die Entscheidung zur Adaption (Gatekeeping erster Instanz) zu. In den Interviews, in denen die Akteure der Industrie darum gebeten wurden, die konkreten Entscheidungen zur Reproduktion und Adaption der Formate zu rekonstruieren, wurde immer wieder auf intuitive Handlungsentscheidungen verwiesen. Die Schwierigkeit der präzisen kommunikativen Explikation ist auch als Hinweise auf die unbewusst ablaufenden Routinehandlungen innerhalb von Redaktionen zu interpretieren, auch wenn empirisch nicht zwischen individuellen Erfahrungen und redaktionellen Handlungsroutinen unterschieden werden kann, die in der Entscheidungspraxis zur Anwendung kamen. Implizite und explizite institutionelle Anforderungen in den institutionellen Handlungsroutinen sind ebenso schwer differenzierbar.894 Theoretisch aber ist anzunehmen, dass die Adaptionspraxis gemäß der Eigenaussagen vieler Akteure eine assoziative Handlungsbasis hat, dass diese aber durch ein institutionelles Erfahrungswissen im Rahmen der Funktionsrollen strukturiert beziehungsweise beeinflusst wird. Theoretisch lässt sich somit auch erklären, dass sich die Primärdekodierungen der Produzenten als eher unbewusste Prozesse darstellen, obwohl sie eben auch aus den inkorporierten Codes der Unternehmenskultur resultieren können. Betont werden aber vorwiegend individuelle Wahrnehmungen und die Produzenten lassen sich von ihrem alltagstheoretischen Wissen informieren. Insofern überwiegt der Bezug auf Erfahrungswissen denn auf institutionalisiertes Expertenwissen. Im Gespräch mit dem Produzenten von WHO WANTS TO BE A MILLIONAIRE über die Frage, wie potenzieller Erfolg bei Zielgruppen ermittelt und dementsprechend Entscheidungen über Produktion und Adaption von Unterhaltungsformaten getroffen werden, wird die Vermischung unterschiedlicher Wissensquellen veranschaulicht: »Feeling is a good word. […] We have the ability to predict the public taste. Sometimes we get it right, sometimes we get it wrong. I worked in entertainment television all my life [...] and in the shows I created I used my own judgment and my own understanding of the broad audience as to what would be appealing«.895

Alltagstheorien und individuelle Meinungen sind auch die entscheidenden Referenzen mit denen die Akteure die Inhalte der Sendungen deuten. Vorstellungen über Wissens- und Leistungsorientierungen der Gesellschaft, über grundlegende Universalien des Menschen, allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen und Mediennutzungsmotive von Rezipienten werden also aus persönlichen Interpretationsmustern und Erfahrungswerten abgeleitet. Am Beispiel des Gatekeepings zweiter Instanz, 894 Vgl. hierzu bspw. Rühls Ausführungen zu journalistischen Rollen und Erwartungszusammenhängen. Rühl, Manfred (1980): Journalismus und Gesellschaft, S. 272ff. 895 Interview mit Paul Smith, Produzent WHO WANTS TO BE A MILLIONAIRE, 13.02.2013.

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also der inhaltlichen Dekodierung und Gestaltung der Formatadaptionen, lässt sich damit erkennen, was Hall theoretisch als Verbindung von Produzenten und Rezipienten beschrieben hat, die beide kulturelle Akteure eines gemeinsamen gesellschaftlichen Referenzsystems sind. Auch wenn die Funktionsrolle die lokalen Produzenten von der gesellschaftlichen Rolle der Rezipienten unterscheidet, werden von beiden kulturelle Codes zur Deutung des gesellschaftlichen Kontextes, in den die Unterhaltungsangebote eingebettet sind, entwickelt. Die kulturellen Codes der Produzenten sind dann auch analytisch in die inhaltlichen Spezifika der Sendungen eingeschrieben. Empirisch lässt sich beispielsweise eine Entsprechung der Bildungsorientierung in den Fragen der MILLIONÄR-Versionen nachvollziehen. So beschreibt etwa die Produzentin von MAN SAYARBAH ALMALYOON durchaus jene arabisch geteilten Wissensbestände aus Religion und Geschichte, die auch den Schwerpunkt in den Fragen darstellen. Dementsprechend findet die Fragenauswahl hier eine Begründung im antizipierten Charakteristikum der Zuschauer: »If you ask a question about the Arab history, everybody knows it. We all read history, geography, we all know the geography of the Arab world, we all know the big poets and the big writers.”896 Entsprechend kritisch wird im Zusammenhang mit der deutschen Formatversion über den geteilten Bildungsstand der Zuschauer gesprochen, was wiederum eine Entsprechung zu den gewählten Fragen findet, die weniger an klassischen institutionalisierten Bildungsstandards orientiert sind. Günther Schröder, der zum Zeitpunkt der Untersuchung mit seinem Unternehmen für die Entwicklung der Fragen verantwortlich zeichnete, macht diesen Zusammenhang zwischen beobachteten gesellschaftlichen Entwicklungen und den Inhalten der Sendung sehr deutlich: »Das ist nicht die Zensur von RTL, sondern die des Zuschauers. Man kriegt ja mit, worauf die Leute reagieren oder was sie interessiert. Es gibt klassische Bildungsinhalte, die sind einfach nicht mehr populär. Das mag man bedauern oder nicht. Den Universalgelehrtenanspruch gibt es heute nicht mehr […], dafür gibt es Twitter und Facebook. Aber im Grunde ist das ganz normal, dass sich Bildungsinhalte ändern. […] Dennoch glaube ich, dass der deutsche Zuschauer es gerne hat, wenn Wissen belohnt wird. Wir achten daher vielleicht stärker noch als in anderen Ländern darauf, dass die letzten Fragen noch diese Relevanz haben, […] so dass man auch ein Belohnungsprinzip im Auge hat. Wer viel weiß, der soll auch viel gewinnen, aber dann eben bitte nicht für Britney Spears, sondern für Schiller. Ganz oben an der Spitze funktioniert es nochmal, dass Sie diese klassischen Dinge abfragen können«.897

Interessant ist aber, dass sich individuelle Deutungen innerhalb der Branche auch leicht unterscheiden können. Während etwa einerseits die Veränderung von Bil896 Interview mit Salwa Soueid, Executive Producer MBC, 17.06.2012. 897 Interview mit Günther Schröder, Geschäftsführer MINDTHECOMPANY, 05.07.2011.

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dungskanons innerhalb der deutschen Gesellschaft angesprochen wird, finden sich auch andere Stimmen, die von einer grundsätzlichen Bildungsneugierde des deutschen Zuschauers ausgehen und diesen von einer eher leistungsorientierteren britischen Gesellschaft abgrenzen. Dem britischen Publikum wird dann ein kompetitives Interesse und Individualismus zugeschrieben, dem deutschen hingegen eine »Rechthaberkultur« oder die Wertschätzung solidarischer Werte, wobei jeweils darauf hingewiesen wird, dass es sich dabei allein um persönliche Deutungen handelt. Alltagstheoretische Vorstellungen werden auch über grenzüberschreitende Entwicklungen des internationalen Fernsehpublikums geäußert. Eine konsonante Lesart der Produzenten besteht diesbezüglich in der Annahme, dass weltweite Publika ohnehin durch das Internet über Programmangebote aus anderen Ländern und Regionen informiert und damit längst an globale Marken gewöhnt seien. Als Folge wird der Publikumswunsch nach Übernahme erfolgreicher Konzepte ebenso wie die Homogenisierung des Geschmacks weltweiter Publika abgeleitet. Das heißt, dass die Fernsehmacher theoretisch von transkulturell geteilten Präfigurationen lokaler Fernsehpublika ausgehen, die sich auf globale Unterhaltung hin orientieren. Allerdings bestätigt sich dies auf der Ebene der Rezipienten in dieser Studie nur am Beispiel der ägyptischen Gruppen, die grenzüberschreitende Medienrepertoires aufweisen und mit den Angeboten aus den britischen und US-amerikanischen Medienumgebungen vertraut sind. Die hier beteiligten deutschen Gruppen hingegen rezipieren weniger ausländische Formate im Internet und kennen auch weniger der ausländischen Formatversionen (vgl. Kapitel 4.2.3). Auf dieser Grundlage lässt sich festhalten, dass die Annahmen der arabischen Akteure über ihr Publikum in größerem Maße mit den Rezipienten dieser Studie übereinstimmen. Dies bezieht sich insbesondere auf Aussagen, die eine neue Generation von Fernsehzuschauern in der arabischen Welt beschreiben, die offener, toleranter und mit der westlichen Welt vernetzt sei. Wenn die Produzentin von MAN SAYARBAH AL-MALYOON beispielsweise erläutert, dass das Publikum an US-amerikanische Sendungen wie GLEE oder FRIENDS gewöhnt sei, dann findet sich dies von den ägyptischen Jugendlichen bestätigt, die angeben, eben jene Sendungen gern zu rezipieren. Aus Produktionsperspektive erwächst dadurch auch ein Anspruch, die Seherfahrungen des »neuen« Publikums durch Einhaltung der globalisierten Standards zu befriedigen: »We are very exposed to the West and when we see our Arab TV-shows we don’t accept less than that.«898 Neben den Annahmen einer weltweiten Koorientierung der Publika, gehen die Produzenten aber ebenso übereinstimmend davon aus, dass die primäre Identifikationsbasis für die Zuschauer die lokalen Kandidaten sind. Die tatsächliche kulturelle Adaption wird also konsensual auf der Ebene der Figuren verortet. Ohne weitere Erläuterung wird damit von einer automatischen identifikationsstiftenden Nähe zu 898 Interview mit Salwa Soueid, Executive Producer MBC, 17.06.2012.

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den »eigenen« Leuten und kulturellen Traditionen ausgegangen. Damit erweisen sich aus Produktionssicht lokale Veränderungen an den Formatkonzepten auf der Ebene konzeptueller und ästhetischer Variationen als weniger relevant denn diejenigen Adaptionen, die durch die »Auswechslung« lokaler Akteure erzeugt werden. Die Integration kultureller Codes erfolgt damit quasi indirekt über den Weg der inkorporierten Codesysteme der beteiligten Akteure an den Sendungen. Die Adaption wird zwar auf Inhalts- und Repräsentationsebene von den Fernsehmachern gerahmt, aber primär durch die lokalen Figuren selbst übernommen. An dieser Stelle kann dann im Rückbezug auf Halls Kommunikationsmodell den lokalen Akteuren eine doppelte Produzentenrolle zugedacht werden. Es ist nicht allein das Publikum, das in seiner Rezeption und Aneignung der Sendungsvarianten Bedeutung herstellt, lokale Privatpersonen werden so bereits im Produktionsprozess entscheidende Produzenten von Bedeutung, indem sie in ihren Handlungen und Äußerungen innerhalb der Fernsehrealität allgemeine kulturelle Codesysteme einbringen. Als Zwischenfazit muss festgehalten werden, dass die Formatierungspraxis weniger intentionalen und strategischen Lokalisierungsstrategien folgt, sondern der Adaptionsprozess unterliegt vielmehr intuitiven Entscheidungsmustern, in die zum Teil Routinehandlungen eingeschrieben sein können. Während kulturelle Adaptionen in der inhaltlichen Gestaltung, im filmischen Rhythmus oder der ästhetischen Variationen als untergeordnete Erfolgsfaktoren gelten, die am Kern des Formats nichts ändern, wird der Integration kultureller Akteure der jeweiligen gesellschaftlichen Referenzsysteme hingegen eine große Bedeutung für die Zuschauerbindung und damit den potenziellen lokalen Erfolg beigemessen. Nach den allgemeinen Darstellungen zur Adaptionspraxis und Funktionsweise der Unterhaltungskonzepte aus Produzentenperspektive899 wird nachfolgend die Adaption und Deutung der beiden Formatadaptionen von MILLIONÄR und GOT TALENT rekonstruiert. Es wird dabei argumentiert, dass sich in den Artikulationen der Programmmacher in beiden lokalen Kontexten widerspiegelt, was in den inhaltsanalytischen Untersuchungen als Leitdifferenzen herausgearbeitet wurde. 4.3.2.1 Produzenten-Lesarten von MILLIONÄR: Unterhaltung versus Bildung im Quizformat Bezüglich des Quizformats MILLIONÄR wurden anhand der deutschen und arabischen Adaption Unterschiede in der Unterhaltungs- und Bildungsorientierung der Sendungsversionen sowie in der Darstellung der individuellen Akteure herausgearbeitet (vgl. Kapitel 4.1). Die Unterhaltungsorientierung von WER WIRD MILLIONÄR wurde aus den Gesprächssequenzen zwischen Moderator und Kandidaten sowie aus der zentralen Moderationsfigur, die Günther Jauch mit Entertainer-Anteilen verkör899 Der Begriff der »Produzenten« ist hier weit gefasst und schließt alle am Produktionsprozess beteiligten befragten Akteure ein.

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pert, abgeleitet. Entsprechend der inhaltsanalytischen Auswertung wird auf Seiten der deutschen Produktionsbeteiligten Jauch ebenso eine zentrale Schlüsselrolle im Erfolg der lokalen Formatvariante zugeschrieben. Während die arabische Produzentin dem arabischen Pendant George Kordahi zwar ebenfalls einen wichtigen Status im Programm beimisst, den Erfolg aber eher auf das Formatkonzept denn die Personalie Kordahi zurückführt,900 wird Jauchs Rolle für die Gestaltung und den Erfolg der Sendung als maßgeblich angesehen. Die deutschen Produzenten betonen neben Jauchs Allgemeinwissen, was dem Quizformat immanent zuträglich ist, insbesondere auch seine Qualitäten als Quiz-Moderator und seine sozialen Kompetenzen im Umgang mit den Kandidaten. Konkret beziehen sie sich auf sein Talent, mit Kandidaten jeden gesellschaftlichen Milieus einen Gesprächsfaden finden zu können und so auf amüsante Weise die Sendung zu lenken. Die leitende Redakteurin von ENDEMOL DEUTSCHLAND hebt denn auch die Gesprächsführung Jauchs, die immer auf die Personalisierung der Kandidaten abzielt, als Besonderheit der deutschen Formatversion hervor: »Neben der Spannung am Spiel selbst sind es vor allem seine Gespräche mit Kandidaten, Begleitern und Telefonjokern, die zum Erfolg der Sendung in Deutschland beitragen. Günther Jauch hat ein Gespür für Menschen. Durch seine natürliche Neugier und Offenheit schafft er es in der Regel, die meisten Kandidaten schon nach wenigen Momenten zu durchschauen. Er hilft den Hilfesuchenden und bremst die Überheblichen aus. Favorisiert ein Kandidat eine bestimmte Antwort, verunsichert oder bestärkt er ihn. Das macht ihn unberechenbar für sein Gegenüber. Jauch orientiert sich bei seinen Gesprächen mit den Kandidaten an den Zuschauererwartungen. Der Zuschauer bekommt zum Teil sehr persönliche Einblicke in das Leben der Kandidaten.«901

Damit wird entsprechend der Inhaltsanalyse auch aus Produktionssicht ein Fokus auf die alltagsweltlichen Erfahrungen und Kontexte der Kandidaten gelegt. Ebenso haben auch die deutschen Rezipientengruppen immer wieder über Jauchs unterhaltende Art und sein Spiel mit den Kandidaten diskutiert, so dass sich bezüglich dem Erfolgsfaktor Moderator eine große Übereinstimmung zwischen den Lesarten der hier ausgewählten Rezipienten und der interviewten Experten feststellen lässt. Die Produzentin von MAN SAYARBAH AL-MALYOON hingegen betont – ebenfalls entsprechend den inhaltsanalytischen Interpretationen – in erster Linie die intellektuellen Kompetenzen Kordahis: »He is a very cultured man. […] If he asks a question about politics, he knows what he is talking about. He is very well educated.«902 Dies gilt ebenso für den Expertenjoker, der vom Content Department von 900 Interview mit Salwa Soueid, Executive Producer MBC, 17.06.2012. 901 Interview mit Irene Zurawczak, Leitende Redakteurin ENDEMOL D., 14.01.2014. 902 Interview mit Salwa Soueid, Executive Producer MBC, 17.06.2012.

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MBC eingeführt wurde. Bei der Beschreibung seiner Rolle steht auch sein Expertenstatus und nicht seine Qualität als Entertainer im Vordergrund: »We thought a bonus line would be good and we brought an expert who is extremely, extremely, extremely educated, extremely cultured. He reads a lot.«903 Dieser feine Unterschied in der Einschätzung der Moderatorenrolle resoniert mit den inhaltsanalytischen Untersuchungen, die eine stärkere Varianz in Jauchs Ausgestaltung der Rolle identifizieren konnten, der selbst als Entertainer und Gegenspieler der Kandidaten klare Spiel- und Unterhaltungselemente in die Sendung einfließen lässt. Kordahi hingegen füllt, wenn auch elegant und äußerst beliebt, so doch eher eine klassische Funktionsrolle des Moderators aus. Erneut lassen sich dazu wieder äquivalente Deutungen in den ägyptischen Gruppendiskussionen finden, die vor allem die intellektuelle Kompetenz des Moderators betonen. Es lässt sich somit festhalten, dass die Wahl des Moderators für die Quizsendung ein entscheidender lokaler Eingriff war, der zugleich eine Symmetrie der Lesarten von Produzenten und Rezipienten beider Formatadaptionen erzeugt. Neben der Moderatorenrolle wurde die Unterhaltungsorientierung in der deutschen Reproduktion auch in der Auswahl der Fragekategorien deutlich, die sich stark an impliziten, aktuellen und weniger kanonisierten Wissensbeständen orientiert. Dieser Fokus auf einer Emotionalisierung und unterhaltenden Komponente der Fragen ist durchaus beabsichtigt. Bei den Fragen wird beispielsweise darauf geachtet, dass die allgemeinen Sachverhalte auch unterhaltsam formuliert werden, damit sich die Zuschauer nicht nur intellektuell, sondern auch emotional angesprochen fühlen.904 Es ist diese Orientierung an einer breiten Zielgruppe, die sich auf der Inhaltsebene der Sendung darin zeigt, dass sich die Fragen auf einen vermeintlich gemeinsamen Nenner individueller Wissensbestände beziehen. Die Priorität liegt weniger auf klassen- oder milieurelevanten Wissensbereichen als auf Wissen, das über die Themenagenden der tagesaktuellen Medien zu entnehmen ist und dadurch auch eine Häufung an Sprach-, Sport-, und Unterhaltungsfragen aufweist.905 Nach den Aussagen des Fragenentwicklers speist sich die Fragegenerierung auch direkt aus assoziativen und situativen Beobachtungen der Mitarbeiter im lokalen Umfeld und aus der Medienberichterstattung. Nicht Expertenwissen, sondern allgemeine Sachverhalte stehen also aus Produktionssicht im Vordergrund. Die tagesaktuelle Orientierung 903 Ebd. 904 Interview mit Günther Schröder, Geschäftsführer MINDTHECOMPANY, 05.07.2011. 905 Auch zur Validierung der Antworten, greifen die Produzenten nicht nur auf Fachwissen zurück, sondern die Übereinstimmung mit Eintragungen auf Wikipedia ist ein entscheidender Maßstab für die Prüfung der Antworten. Kandidaten bekommen nach Aussage der Beteiligten auch im Vorfeld Hinweise darauf, dass sie sich mit den aktuellen Bestsellerlisten, Charts etc. auseinandersetzen sollen.

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der Fragestellungen ergibt sich damit nicht allein aus der Geschichte des Formats, wie zuvor bereits diskutiert. Ebenso lässt sie sich aus der Intention der Programmacher ableiten, die sich an einem medial verfügbaren Allgemeinwissen für eine breite Zielgruppe orientieren. Damit kommt letztlich auch auf der Inhaltsebene wieder der ökonomische Impetus zum Tragen, der sich darin äußert, dass eine größtmögliche Reichweite bei den lokalen Zuschauern erreicht werden soll, was eine Nähe zum Fachwissen ausschließt, wie im Folgenden von Günther Schröder anschaulich illustriert wird: »Sie können davon ausgehen, dass die Leute dabei sind, wenn die Fragen nicht zu speziell und nicht zu schwer sind. Wir hatten beispielsweise einmal die Frage: ›Was bedeutet eigentlich Borussia?‹ Das ist dann aus der Abteilung: ›Komisch – weiß ich nicht‹. Umgekehrtes Beispiel: Sie stellen eine Frage zum Thema Oper. Die Frage kann noch so einfach sein, aber 90 Prozent der Bevölkerung sind raus, weil Oper sie nicht interessiert. Dann erreichen Sie vielleicht nur die 10 oder 5 Prozent, die beim Thema Oper grundsätzlich interessiert sind. Deswegen kommt Oper bei uns ganz selten vor«.906

Die Abkehr von vermeintlich hochkulturellen Wissensbeständen wird seitens des Produktionsunternehmens ENDEMOL DEUTSCHLAND schließlich auch als Mittel zur Herstellung einer quasi demokratischen Teilnahmesituation und Erfolgsmöglichkeit gedeutet und in den Augen des Produzent Paul Smith, begründen die gleichberechtigten Teilnahmemöglichkeiten sogar eine Revolution im Quiz-Genre, in dem bis zur Ausstrahlung von MILLIONÄR ausschließlich redaktionelle Vorauswahlprozesse der Teilnehmer vorgesehen waren.907 Eine ähnliche Perspektive wird auch von Vertretern der deutschen Formatproduktion geteilt, die gerade in der Unvorhersagbarkeit der Gewinnchancen einen Reiz der Sendung sehen. Auch wenn durchaus anerkannt wird, dass die Sendung zumindest die Möglichkeit der Wissensvermittlung bereitstellt, so trägt der Transfer des Formats nicht dazu bei, dass automatisch Bildungskapital reproduziert wird, da gerade institutionell erworbene Kenntnisse zumindest in der deutschen Formatvariante eher entwertet werden.908 Damit wird die televisuelle Realität hier zu einem spielerischen subversiven Gegenforum zur sozialen Realität, in der ein hierarchisches Bildungssystem die Gewinnchancen in einer Berufsrealität vorstrukturiert. Aussehen, höhere Bildung, Berufsstand oder Persön906 Interview mit Günther Schröder, Geschäftsführer MINDTHECOMPANY, 05.07.2011. 907 Interview mit Paul Smith, Produzent WHO WANTS TO BE A MILLIONAIRE, 13.02.2013. 908 Gleichzeitig kritisiert der Produzent der Fragen, dass sich international ein MultipleChoice-Format in Quizshows durchgesetzt hat, das das abrufbare explizite Wissen grundsätzlich entwertet. Darin sieht er eine Vereinfachung des Spiels durch die globale Unterhaltungsvorlage. Interview mit Günther Schröder, Geschäftsführer MINDTHECOMPANY, 05.07.2011.

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lichkeitsmerkmale sind keine entscheidenden Kriterien für den Auftritt in der Sendung. Ganz im Gegenteil sollen gerade hoch gebildete Kandidaten hier keinen Vorteil haben, wie es Irene Zurawczak neben anderen ausdrückt: »Professor und Putzfrau werden zu gleichrangigen Kandidaten, weil das Spektrum der Fragestellungen sehr breit gefächert ist. Es ist nicht nur das im Studium erworbene Wissen, sondern auch das im Alltag angehäufte Wissen, das den Kandidaten zum Erfolg führen kann.«909 Tatsächlich wurde aber in der Fallauswahl der Inhaltsanalyse beobachtet, dass die Kandidaten der deutschen Version mehrheitlich eine höhere Ausbildung genossen haben. Der Zugang zur Sendung als auch die Möglichkeit des Gewinns ist insofern nur theoretisch für jeden offen, da beispielsweise auch deutsche Staatsbürger indirekt ausgeschlossen werden, die ihre Primärsozialisation nicht in Deutschland oder in hybriden Migrationskontexten erfahren haben, wie Produzenten der Sendung durchaus kritisch anmerken. Denn die ersten Fragen setzen ein implizites Wissen voraus, das nur in lokalen Umwelten generiert werden kann. Ein Kandidat mit Migrationshintergrund, der für die Arbeit interviewt wurde, bestätigt diese Hürde und erzählt, wie er etwa deutsche Kinderlieder und Märchen für die Sendung habe neu lernen müssen.910 Auch eine weitere Kandidatin von WER WIRD MILLIONÄR weist im Interview darauf hin, dass im Rahmen eines Vor-Castings Kandidaten inzwischen nicht mehr allein durch die Beantwortung einer Frage ausgewählt würden, sondern darüber hinaus auch private Fragen im Vorfeld gestellt und damit die telegenen Qualitäten geprüft würden.911 In der arabischen Formatvariante bleibt die Auswahl darüber hinaus ohnehin an die Berufe der Kandidaten und ein Computerauswahlverfahren gebunden. Im Verlauf der britischen Formathistorie hat sich schließlich gezeigt, dass Männern der Zugang leichter gefallen ist als Frauen, so dass Manipulationen im Sinne eines genderneutralen Zugangs zur Sendung notwendig geworden sind.912 Unabhängig von den konkreten Auswahlmechanismen und damit in Zusammenhang stehenden Problemen einer gleichberechtigten Teilnahmemöglichkeit wird in den Akteursaussagen nochmals deutlich, wie die Inhalte von den angestrebten Zielgruppen der beiden lokalen Formatversionen beeinflusst sind. Während in der deutschen Formatversion Fragen angestrebt werden, die Wissen verlangen, das eine hohe innergesellschaftliche beziehungsweise soziale Verbreitung hat, richtet sich die Fragegenerierung des arabischen Formats weniger nach sozialen Diffusionsmechanismen als nach denjenigen Wissensbeständen, die in der arabischen Welt transkulturell verfügbar sind. Die horizontale Reichweite der Zuschauer im gesamten arabi909 Interview mit Irene Zurawczak, leitende Redakteurin ENDEMOL D. 14.01.2014. 910 Interview mit einem Kandidaten, 09.11.2011. 911 Interview mit einer Teilnehmerin, 24.08.2011. 912 Interview Graham Spencer, Sales Director CELADOR. 21.11.2011.

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schen Raum hat damit mehr Einfluss auf die Produktion der Fragen als eine vertikale Durchdringung nationaler Zuschauersegmente. Die jeweilige Orientierung an den dominanten Wissensbereichen wird also auch durch die antizipierten geteilten Erfahrungszusammenhänge der potenziellen Zielgruppen verständlich. Der gemeinsame Nenner liegt aus Produktionssicht beim deutschen Publikum in öffentlichen und medial vermittelten Wissensbeständen, beim arabischen Publikum hingegen vor allem in geteilten religiösen und historischen Sachverhalten. Der Unterschied der Bildungs- und Unterhaltungsorientierung schlägt sich auch in den Analysen zum Erfolg beider Formate nieder. Im Fall von MAN SAYARBAH AL-MALYOON wird davon ausgegangen, dass eine Anschlussfähigkeit gerade durch das erfragte »kulturelle Wissen« entsteht.913 Auch der Lizenzgeber bestätigt, dass das Format in der arabischen Welt insbesondere wegen des Bildungsaspekts leicht transferiert werden konnte, da dieser keine gesellschaftlichen Tabus berührt und nicht dazu geeignet ist, Kontroversen auszulösen. Es wird also als universaler Konsens der Menschen vorausgesetzt, dass Wissen grundsätzlich wertgeschätzt wird: »[The format] celebrates intelligence and no one is going to say: ›We cannot have a format, which celebrates intelligence‹. Everybody wants education to be a priority.«914 Trotz dieses Erklärungsansatzes über universale Werte, die einer universalen »value proximity« nach Staubhaar entsprechen (vgl. Kapitel 1.2.5), verschiebt sich der Fokus der Erfolgsanalyse bei den deutschen und britischen Formatproduzenten und -distribuenten allerdings hin zu den Unterhaltungsaspekten des Formats. Gerade die deutschen Akteure schließen im Gegensatz zu ihren arabischen Kollegen eine Bildungsorientierung zum Teil explizit aus oder erkennen diese als bloßen beiläufigen Nebeneffekt an. Vielmehr wird die Unterhaltungsdimension in den Lesarten der deutschen Programmverantwortlichen eindeutig betont: »Was macht es erfolgreich: Unterhaltung, Lachen, Spaß haben, Stammtischwissen gehört dazu. Rechthaberei.«915 Auch dramatische Elemente bis hin zu Vergleichen zwischen der Situation der Kandidaten und Hollywood-Figuren wie Harry Potter oder James Bond, die ähnlich spannungsreich lebensverändernde Entscheidungen treffen müssten, werden von den deutschen und britischen Akteuren als Erfolgskriterium des Formats genannt. Deutungen, demnach die Sendung den Zuschauern einen positiven sozialen Vergleich im spielerischen Duell mit den Kandidaten ermöglicht, wenn sie die eigenen Fähigkeiten zur Beantwortung der Fragen am Bildschirm höher einstufen als die der jeweiligen Kandidaten im Fernsehen, unterstreicht klar einen erwünschten Unterhaltungseffekt. Insgesamt wird also in den Lesarten zu MILLIONÄR weniger von einem Wissens- denn einem Spieltrieb des Menschen und von 913 Interview mit Salwa Soueid, Executive Producer MBC, 17.06.2012. 914 Interview mit Graham Spencer, Sales Director CELADOR. 21.11.2011. 915 Interview mit Matthias Alberti, Leiter Unterhaltung RTL, 29.09.2011.

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einem universalen Streben nach Geld ausgegangen. Die Show kann demnach einen universalen Wunsch nach lebensveränderndem Reichtum befriedigen. Damit verändert sich in den Formatversionen auch die Rolle des Unterhaltungsfernsehens, das im deutschen Beispiel weniger dazu gedacht ist, Wissen gesellschaftlich zu vermitteln und so auf kognitiver Ebene in die Alltagswirklichkeit der Menschen einzugreifen, sondern eher dazu, die Handlungswirklichkeit des Menschen verändern zu können. 4.3.2.2 Produzenten-Lesarten von G OT T ALENT: Emotionalisierung versus Emanzipation im Castingformat Die Deutungsmuster in Bezug auf die jeweiligen Adaptionen von GOT TALENT spiegeln die Unterschiede aus der inhaltsanalytischen Untersuchung ähnlich wie im Format MILLIONÄR wider. Ein Konsens besteht zwar darin, den Erfolg von GOT TALENT darauf zurückzuführen, dass das Format eine Weiterentwicklung bisher bekannter Castingshows ist, indem es uneingeschränkt alle künstlerischen Ausdrucksformen integriert. Neben den konzeptuellen Bestandteilen, die weitestgehend übereinstimmend dekodiert werden, stehen aber im Folgenden die variierenden Deutungsmuster um die Rolle der Kandidaten im Vordergrund. Während in den Aussagen der deutschen Programmmacher Diskurse sowohl um die Emotionalisierung und Individualisierung der Kandidaten als auch um den Unterhaltungscharakter der Sendung sichtbar werden, stehen auf Seiten der arabischen Akteure die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten und deren gesellschaftliche Bedeutung im Vordergrund. Im Mittelpunkt des deutschen Formats DAS SUPERTALENT stehen in der Perspektive des Produktionsunternehmens die individuellen Geschichten der Kandidaten. Mehrere Akteure sehen in einer universalen Heldenreise das grundlegende narrative Motiv der Sendung, in dem der Nachbar von nebenan zum gefeierten Star werden kann. Diese Narration wird außerdem durch eine besondere Emotionalisierung in der Darstellung begleitet, einer »Soap-Darstellungsweise«,916 die als Charakteristikum der deutschen Adaption im Besonderen und von RTL im Allgemeinen angesehen wird. Das Format wird dementsprechend auch als eine »Form der bearbeiteten Realität«917 definiert. Auch der hohe Produktionsaufwand, der die Show zu einem großen Spektakel werden lässt, wird mehrfach betont. Allerdings sind die Bewertungen dieser professionellen Codeebene nicht homogen. So wird in einigen Aussagen die Dimension des Spektakels durchaus als gewünschter Effekt thematisiert, in anderen hingegen wird kritisiert, dass die Steigerung der darstellerischen Mittel kaum noch zu überbieten sei. Dies gilt auch für den Einbezug von Kandidaten, die kein künstlerisches Talent im engeren Sinne präsentieren, sondern eher eine Selbstdarstellung liefern. Wäh916 Interview mit Marcus Reddemann, Head of Development UFA SHOW. 23.11.2011. 917 Interview mit Jens Bujar, Creative Director UFA SHOW, 07.01.2014.

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rend es Produktionsbeteiligte gibt, die diese Ebene der Kandidatendarstellung in den Casting-Sequenzen für unnötig halten, sehen andere sie als neuen und notwendigen Bestandteil des Unterhaltungskonzepts. Wenig erfolgversprechende Präsentationen und kuriose Auftritte, die Spektakel erwarten lassen, werden gezielt mit eingeplant. Dahinter stehen Deutungsmuster, in denen die Show als Plattform für televisuelle Selbstrepräsentationen jeder Art verstanden wird. In einer solchen Perspektive wird die Verantwortung für die Präsentationen den handelnden Subjekten selbst zugeschrieben.918 So wird das Fernsehen zur Bildfläche, auf der sich Individuen ohne größere Restriktionen präsentieren können: »Das ist eine Sendung, in der jeder, der etwas kann, eine Plattform hat, das dem Publikum zu zeigen und sogar eine Möglichkeit bekommt, damit eine ganz große Karriere zu starten. […] Es ist natürlich eine Unterhaltungssendung. Es gibt Leute, die wollen unbedingt ins Fernsehen – dann sollen sie das auch gerne machen, ob sie was können oder nicht. Aber es geht natürlich in erster Linie um die Talente, denn am Ende braucht man ein Supertalent, das auch wirklich ein Talent ist«.919

Die Partizipation an einer Unterhaltungsöffentlichkeit unterliegt gleichwohl produktionsinternen Steuerungen. So wird etwa erwähnt, dass Kandidaten auch in öffentlichen Einrichtungen gesucht werden, Präsentationen inhaltlich vorbereitet und aus dem Ausland für die Sendung eingekauft würden. Auch wenn die Aussagen nicht extern validiert werden können und davon ausgegangen werden muss, dass die Kandidaten authentisch sind, so werden hier dennoch grundsätzlich Eingriffe im Produktionsprozess angedeutet. Das heißt, dass professionelle Codes Darbietungen vordefinieren, was wiederum auf brancheninternen Annahmen basiert, demnach emotionalisierte Darstellungen individueller Geschichten notwendig sind, um Empathie beim Zuschauer zu erzeugen. Die leitende Redakteurin erklärt darüber hinaus, dass die Bewertung des Talents nicht losgelöst sein soll von der persönlichen Lebensgeschichte der Kandidaten. Das Unterhaltungsformat ist demnach aus Produktionsperspektive durchaus mehr als ein reines Talentformat und zielt ganz klar auf identifikatorische parasoziale Interaktionsprozesse: »Manchmal ist es so, dass man mehr Verständnis für einen Kandidaten hat, wenn man seine Geschichte kennt. Wenn ich weiß, dass eine Person eine schwierige Jugend hatte und das Singen ihr geholfen hat, sie aber nie in der Öffentlichkeit gesungen hat, weil sie sich nie getraut hat, und diese Person dann tatsächlich zu uns kommt und sich traut, bei uns auf die Bühne zu gehen – solche Fälle gibt es ja immer wieder, was ich persönlich ganz mutig finde –, 918 Gemäß interner Wertediskussionen werden allerdings Grenzen bei Menschen mit Behinderung gemacht. 919 Interview mit Alies Glees, leitende Redakteurin UFA SHOW. 27.01.2014.

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dann kann man besser mitfühlen, was diese Person gerade durchmacht. […] Denn man kann jemanden hinstellen und dann singt er und geht wieder und dann weiß ich nicht, ob das jetzt gut oder schlecht war und was er damit bezwecken will, ob er Sänger werden oder einfach mal nur ein Urteil bekommen will«.920

Tatsächlich gehen die Beteiligten auch nicht davon aus, dass es sich bei den Gewinnern um die besten Talente handelt; sie sind eher Resultat der Einfühlung in menschliche Geschichten: »Es ist hier viel mehr die Geschichte, die rührt.«921 Eine Symmetrie der Lesarten zwischen Produzenten und Rezipienten ist dann in einer ähnlichen Interpretation der Talente zu finden, die eben nicht im wörtlichen Sinne »Supertalente« sind. Die Evaluation der Kandidaten ist allerdings gänzlich verschieden. Denn das, was von den in dieser Studie ausgewählten Rezeptionsgruppen kritisiert und diskutiert wird – die stereotype Narration persönlicher Schicksalsschläge –, wird von der Produktion zum notwendigen Prinzip erhoben. Während Teile der Produktionsbeteiligten eine referenzielle beziehungsweise identifikatorische Zuwendung des Zuschauers im Blick haben, dechiffrieren die Rezipienten dies als inszenatorische Manipulation. Hier deutet sich dann nicht nur eine Asymmetrie der Lesarten zwischen Produzenten und Rezipienten an, sondern empirisch wird auch sichtbar, dass Interpretation und Evaluation unterschiedliche analytische Ebenen des Rezeptionsvorgangs sind. Während die Interpretation zwischen den Produzenten und den ausgewählten Rezipienten durchaus homogene Deutungen erzeugt, differiert die evaluative Einordnung. Beide Ebenen sind wiederum nicht gleichzusetzen mit emotionalen Reaktionen. Denn trotz einer analytischen beziehungsweise kritischen Rezeptionshaltung werden emotionale Wirkungen in den deutschen Rezipientengruppen direkt als auch indirekt geäußert. Die kritische Interpretation (Kognition) ist also durchaus mit einer wirksamen Affektion (Emotion) vereinbar. Neben der Asymmetrie von Evaluationen zeigt sich weiterhin auch eine Asymmetrie in der Deutung des Authentizitätscharakters der Sendung. Die Einbettung der Darbietungen in persönliche biographische Narrationen der Kandidaten wird im Produktionskontext zum Teil als authentifizierendes Stilmittel betrachtet, das sogar zu einer pragmatischen Handlungsmotivation für den einzelnen Rezipienten werden kann.922 Dies steht allerdings im frappierenden Gegensatz zu den Rezipientenlesar920 Ebd. 921 Interview mit Jens Bujar, Creative Director UFA SHOW, 07.01.2014. 922 Dies betont etwa Alies Glees, die leitende Redakteurin von UFA SHOW (Interview

27.01.2014): »Es geht schon auch darum, dass man die Leute auffordern will, dass; wenn sie was können, sie das auch zeigen sollen. […] Es gibt Akrobaten, die tagsüber als Verkäufer tätig sind und am Wochenende viel trainieren und die erfolgreich sind bei uns. Die sind authentisch. Dadurch haben andere das Gefühl, das auch zu versuchen oder sie fühlen sich gestärkt, im Leben etwas zu schaffen.«

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ten der Teilnehmer dieser Studie, die hingegen Anschlussdiskurse um gerade die mangelnde Authentizität der Darstellung entfalten. Sowohl die deutschen Rezipienten als auch die deutschen Produzenten entwickeln allerdings eine ähnliche Interpretation mit Blick auf die allgemeine Bedeutung der Sendung. Einigkeit besteht darin, dass in der Unterhaltungssendung der Spaß und nicht der Wettbewerb, also gewissermaßen die Unterhaltung an sich und nicht für sich, überwiegt. Der »Dorffest-Charakter« wird mithin als deutliches Charakteristikum der deutschen Formatversion gesehen: »Man will dann, wie auf dem Dorffest, gemeinsam Spaß haben. Das ist bei uns ein deutlich ausgeprägterer Charakter der Sendung als in anderen Versionen. Im anglo-amerikanischen Raum geht es etwas stärker um Leistung […].«923 Schadenfreude und Sensationslust werden im Produktionszusammenhang als universelle Rezeptionsmotivation bewertet und als emotive Reaktion einkalkuliert. Im Vergleich mit den Aussagen der professionellen Akteure, die am Formattransfer in die arabische Welt beteiligt waren, ist ein deutlicher Unterschied in der Bewertung der Kandidaten und des Sendungserfolgs zu erkennen. Was hier im Zentrum der Deutung steht, ist die grundlegende gesellschaftliche Bedeutung von ARABS GOT TALENT für die Wahrnehmung jugendkultureller und künstlerischer Ausdrucksformen in der Öffentlichkeit. Während im deutschen Beispiel aus Produktionssicht eine Lust am Spiel und der emotionalisierten Darstellung künstlerischer und insbesondere biographischer Details individueller Subjekte ebenso bedeutsam ist wie die eigentliche Talentsuche, rückt letztere im arabischen Produktionskontext ins Zentrum der Deutung. Die arabische Formatversion dient gemäß den Aussagen der befragten Akteure als Plattform für künstlerische Karrieren. Der Off-Kommentar in der Eingangssequenz der Sendung kündigt an, dass die Sendung sich auf die Suche nach bisher verborgenen und versteckten Talenten begibt. Diese Rolle nimmt die Sendung nach Aussagen von Beteiligten durchaus an und liefert authentisch eine Alternative für Artisten, die sich öffentlich bekannt machen wollen. Sowohl der Distribuent wie auch die Moderatorin der Sendung verorten die Adaption im Kontext des gesellschaftlichen Umgangs mit Künstlern. Diese Deutungen basieren auf der lokalen Beobachtung, dass es in der arabischen Welt bisher nicht viele Möglichkeiten für künstlerische Karrieren gegeben hat und diese auch in der öffentlichen Wahrnehmung weniger wertgeschätzt würden, wie die Moderatorin der Sendung beschreibt: »It is a region that takes traditional professions very seriously. You are supposed to be a doctor or architect or an engineer. Artistic talent is not very governmentally encouraged. Therefore, we are dealing in a way a little bit with outcasts, those who are dreaming of becoming

923 Interview mit Jens Bujar, Creative Director UFA SHOW, 07.01.2014.

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poets, sand artists or acrobats. These are not the vast majority of people that you meet on the street«.924

So meint auch der für den arabischen Verkauf Verantwortliche, dass in der arabischen Welt sowohl Publikum als auch Kandidaten noch wenig Erfahrung im Umgang mit der Selbstdarstellung in Castingformaten habe: »We are not dealing with an audience that would do anything to get on television.«925 Das Prinzip der Selbstdarstellung, der öffentlichen Partizipation und der Darstellung von Individualismus hat in dieser Lesart noch keine vergleichbare Resonanz in der Gesellschaft. Die Sorge um die Bereitschaft und Verfügbarkeit von Talenten, die sich auf dem Podium des Unterhaltungsfernsehens präsentieren wollen, wird allerdings von Akteuren unterschiedlicher Kontexte kommuniziert und ist damit kein Charakteristikum der arabischen Welt allein. Allerdings sind die Gründe für die artikulierte Sorge unterschiedliche. Während man sich im deutschen Beispiel eher fragt, ob Kandidaten genügend Vertrauen in die Sendung haben und nicht vor Inszenierungsmechanismen zurückschrecken, so fragt man sich im arabischen Kontext eher, wie sich überhaupt ein Talentpool für die Sendung finden und aktivieren lässt. In beiden Versionen bietet das Format Möglichkeiten der öffentlichen Präsentation von Kandidaten und in beiden Produktionskontexten finden sich Deutungen, die sich mit einem Selbstermächtigungs-Effekt umschreiben lassen. Während dieser aber im deutschen Beispiel eher meint, dass Menschen grundsätzlich Mut finden können, um ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, aktiv zu sein und von ihren individuellen Erfahrungen zu erzählen – also um eine Darstellung von Differenz – so steht im arabischen Beispiel stärker die emanzipierende Darstellung von Individualität und Kreativität im Vordergrund. Es geht, wie es die Moderatorin der Sendung ausdrückt, um eine Anerkennung von Differenz: »It is about encouraging a lot of unusual talent. GOT TALENT is about being different. It is about embracing difference, it is about not being shy, having a certain talent and expressing it.«926 Als Beispiel wird die arabische Hip-Hop-Szene angesprochen, die durch die Sendung erst öffentlich wahrnehmbar geworden sei, da sie zuvor eher ein subkulturelles Untergrundphänomen gewesen sei. Damit ist angedeutet, dass aus dem Produktionszusammenhang davon ausgegangen wird, dass die Sendung zu einem gesellschaftlichen Wandel hin zu mehr Akzeptanz diverser subkultureller Artikulationen beiträgt. So erhält die Sendung nicht nur eine alltagsweltliche, sondern auch soziopolitische Relevanz. In den Worten der Moderatorin wird ein politischer Auftrag der Fernsehmacher angedeutet, der so in den Aussagen der deutschen Akteure keine Entsprechung findet: 924 Interview mit Raya Abirached, Moderatorin MBC, 17.11.2013. 925 Interview mit Jamie Lynn, Head of Sales Middle East FREMANTLEMEDIA, 23.4.2012. 926 Interview mit Raya Abirached, Moderatorin MBC, 17.11.2013.

418 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ? »This is what GOT TALENT is all about; this is what I am all about. We want to orient towards supporting artistic activities versus being obsessed with politics and what we live on a day-today basis in the Arab world. People have much more respect and interest in the artistic talents«.927

Es muss an dieser Stelle berücksichtigt werden, dass weitere Vergleiche mit anderen Akteuren von MBC oder IMAGICTV nötig wären, um diese Lesart als dominantes Deutungsmuster innerhalb der Fernsehbranche zu kennzeichnen. Die artikulierten Aussagen machen aber deutlich, dass diese Deutungen in der arabischen Produktionsperspektive vorhanden sind und sich durchaus grundlegend von denen der deutschen Programmacher unterscheiden, die weniger auf eine gesellschaftliche Akzeptanz künstlerischer Artikulationen zielen als auf persönliche Lebensgeschichten und auf die urmenschlichen Gratifikationen des Spektakels und der Schadenfreude. Das tatsächliche künstlerische Talent rückt also im arabischen Kontext im Moment der Produktion bei GOT TALENT stärker in den Vordergrund, ebenso wie es das kanonisierte Wissen bei MILLIONÄR tut. Darüber hinaus weisen abschließend die Deutungsmuster aus dem Produktionskontext eine Symmetrie zu den Anschlussdiskursen der ägyptischen Jugendlichen auf, die den Nachweis von arabischem Talent zur Kernaussage der Sendung machen. Gleichzeitig wird hier erneut sichtbar, dass sich zwar die Interpretation der inhaltlichen Botschaft ähnelt, deren Evaluation aber stärker differiert. Denn auch im arabischen Beispiel diskutieren die Rezipienten die tatsächliche gesellschaftliche Relevanz der Sendung weitaus skeptischer. Die Interpretation und Evaluation trifft sich aber in der Wahrnehmung der Kandidaten, die sowohl von den ägyptischen Gruppen als auch von den Fernsehmachern vor dem Hintergrund ihres Muts zur Selbstrepräsentation diskutiert wird, wobei gleichzeitig die öffentliche Artikulation der Kandidaten grundsätzlich wertgeschätzt wird, was im Kontrast zu den Deutungen aus dem deutschen Kontext steht. 4.3.3 Zwischenfazit: (Trans-)Kulturelle Produktionsgemeinschaften In den vorangegangenen Untersuchungen wurden die jeweiligen lokalen Rahmenbedingungen der Produktion beider Formate auf der Grundlage von aggregierten Daten aus der Literatur skizziert und Erklärungsangebote und Deutungen einiger Akteure einbezogen, die an der Produktion der konkreten Adaptionen beteiligt waren. Das Erkenntnisziel war die Rekonstruktion der Adaptionsentscheidungen, die sich in die Entscheidung zum Kauf des Formats und die Entscheidung zur Adaption bestimmter Textbestandteile gliedern lässt. Für beide Schritte des Gatekeepings – 927 Ebd.

»G LOBALE G ATEKEEPER «: I NNENPERSPEKTIVEN DER P RODUKTION IM V ERGLEICH | 419

die Entscheidung für den Formatkauf als auch die Entscheidung zu spezifischen lokalen Adaptionen – muss konstatiert werden, dass die Produktionsunternehmen keinen institutionalisierten Plan zur Lokalisierung »fremder« Unterhaltungskonzepte haben. Die Adaptionen basieren vornehmlich auf intuitivem Erfahrungswissen, dessen Quelle empirisch nicht bestimmt werden kann, sich aber vermutlich aus persönlichen und beruflichen Routinehandlungen heraus ergibt. Die Orientierung an vordefinierten Zielgruppen stellt dabei beispielsweise einen Bereich der Prägung durch die Unternehmenskulturen dar. Das Gewicht lokaler Adaption wird vor allem auf der Ebene der Figuren (Kandidaten, Moderatoren, Jurymitglieder) und weniger in filmischen und erzählerischen Darstellungsstrategien verortet. Adaptionsentscheidungen folgen in erster Linie medienökonomischen Imperativen, die sich an den Erfolgserfahrungen anderer Fernsehlandschaften und an Fragen der Umsetzbarkeit orientieren. Auf dieser Ebene lässt sich von einer Koorientierung der Unterhaltungsproduktion an einer kommerziellen Organisation, an Professionalitätsstandards US-amerikanischer Fernsehunterhaltung und an einer schnellen Informationszirkulation durch strukturelle Besitzstrukturen innerhalb der Branche sprechen. Neben internen Rahmenbedingungen der Adaptionen, die sich durch die Senderprofile ergeben, wurden auch Einflüsse der Evolutionslogik der Sendungen sowie der lokalen Medienumgebungen auf die lokale Ausgestaltung der Sendung rekonstruiert. Parallele ähnliche Programmangebote und vorangegangene Erfolge spielen dabei eine wichtige Rolle bei der Erklärung von Adaptionsunterschieden. Ein geteiltes Deutungsmuster sowohl der deutschen, internationalen als auch arabischen Akteure besteht in der grundsätzlichen Entscheidungsautorität, die Lizenzgebern durch ihr Erfahrungswissen beigemessen wird. Wenn also strategische und intentionale Hybridisierungs- beziehungsweise Lokalisierungspraktiken der Kulturindustrie bilanziert werden sollen, die über die Art lokaler kultureller Rekombinationen entscheiden, muss festgestellt werden, dass eine kreative Freiheit seitens lokaler Produktionen gar nicht primär angestrebt wird. Die globale Funktionselite der Unterhaltungsproduktion zeichnet sich also durch eine Koorientierung auf ein internationales Produktionswissen aus. Diese Orientierung hat schließlich Auswirkungen auf die Standardisierung professioneller Codes, die ein explizites Ziel des Formattransfers darstellen. Auch wenn die Mediensysteme der betrachteten Fallbeispiele von unterschiedliche Rahmenbedingungen geprägt sind, so zeigt die Bewertung und Erklärung des Formattransfers durch unterschiedliche Akteure der Branche große Ähnlichkeiten. Zwar unterscheiden sich die Lesarten der konkreten Formatversionen, bezüglich der grundlegenden Adaptionspraktiken aber zeichnen sich deutliche Hinweise auf eine grenzüberschreitende Interpretationsgemeinschaft innerhalb der Produktionskontexte ab. Beim Vergleich der Produzenten- und Rezipientenlesarten wird allerdings klar, dass Produzenten und Rezipienten keine homogene Interpretationsgemeinschaft qua ihrer gemeinsamen Verortung in einem gesellschaftlichen Referenzsystem bilden,

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auch wenn berücksichtigt werden muss, dass die beiden Akteursgruppen die Sendungen aus unterschiedlichen Rollenpositionen heraus deuten. Es lassen sich sowohl kongruente als auch disparate Deutungsmuster auf Seiten der Produktion und Rezeption finden, was verdeutlicht, dass eine Linearität von Kodierung und Dekodierung qua kultureller Teilhabe nicht gegeben ist. Beispiele für Deutungsähnlichkeiten liefert das Format WER WIRD MILLIONÄR. Die Wahrnehmung der alltagsweltlichen Unterhaltungsorientierung wird sowohl von den deutschen Produzenten als auch von den betreffenden Rezipienten kommuniziert. Auch die zuletzt genannten positiven Evaluationen des Muts der Kandidaten in ARABS GOT TALENT zeigen relativ große Übereinstimmungen unter den arabischen Akteuren. Deutliche Unterschiede allerdings ergeben die unterschiedlichen Perspektiven auf DAS SUPERTALENT. Die Heldengeschichten und Überzeichnungen, die auf Seiten der Produktion als grundlegende Narration und notwendige Stilmittel gelten, finden wenig Resonanz bei den befragten Rezipienten. Allerdings ist dabei noch einmal zu differenzieren: Die Rezipienten können dieselben Stilmittel und Narrationen erkennen, nur werden diese in der interpretativen Aushandlung anders dechiffriert und entfalten nicht die gewünschte referenzielle Wirkung. Eine Erklärung für diesen Unterschied liegt möglicherweise in der mangelnden Entsprechung der Gruppen dieser Studie mit den Zielgruppen des Formats. Allerdings zeigt sich gerade am Beispiel der Schülergruppen, dass diese die Sendung durchaus häufig konsumieren und damit relevanter Teil des Publikums sind. Abschließend lassen sich drei zentrale Ergebnisse aus dieser Teiluntersuchung zusammenfassen: Erstens lässt die Rekonstruktion der Produktionskontexte die Annahme zu, dass die Reproduktionsentscheidungen globalen Mustern folgt, die in einen ökonomischen Diskurs eingebettet sind, der ein strategisches Vermeidungsverhalten von Risiko durch Imitation von Erfolg befördert. Zweitens folgt die Adaption nicht synchronisierten, sondern eher multiplen Lokalisierungspraktiken. In deren Zentrum steht der Austausch des Personals der Sendungen, die die eigentliche kulturelle Lokalisierung darstellt. Lokalisierung vollzieht sich damit weniger auf der Professionsebene der Funktionseliten als vielmehr auf der Handlungsebene der lokalen Akteure, die in beiden Formaten mediale Funktionsrollen ausgestalten. Drittens zeigt die Analyse, dass die Fernsehmacher die Sendungen zum Teil anders aus ihrem inkorporierten Institutionswissen heraus interpretieren. Der Bedeutungstransfer führt also im Vergleich der einzelnen lokalen Programmmacher zwar zu ähnlichen Strukturbewertungen, im Vergleich zu den Rezipienten aber zeigen sich auch deutlich asymmetrische Übersetzungen der kulturellen Codes. Damit wurde auch der letzte Untersuchungsschritt in die Formatanalyse integriert. Im nun folgenden Abschlusskapitel wird es darum gehen, die Ergebnisse aller drei Teilstudien aufzugreifen und für eine theoretische Integration zu verdichten, um abschließend die Ausgangsfragen der Arbeit zu diskutieren.

5. Zusammenführung und Fazit

5.1 M USTER GRENZÜBERSCHREITENDER U NTERHALTUNGSKOMMUNIKATION AM B EISPIEL DES F ORMATTRANSFERS IN D EUTSCHLAND UND ÄGYPTEN In der kulturvergleichenden Formatstudie dieser Arbeit wurde ein umfassender Transfer zweier Fernsehformate in Deutschland und Ägypten beziehungsweise der arabischen Welt rekonstruiert. Ausgangspunkt der Untersuchung war die Frage nach der Existenz transkultureller Muster der Unterhaltungskommunikation auf den Ebenen der Medienangebote, der Rezeption und der Produktion, für deren Beantwortung lokale Bedeutungen komparativ herausgearbeitet werden sollten. Auf der empirischen Grundlage von inhaltsanalytischen Daten und Deutungen von Produzenten und Rezipienten sollten schließlich die kulturellen Implikationen des Formattransfers vor dem Hintergrund globaler Entwicklungen theoretisch diskutiert werden. Der Anlage der Arbeit entsprechend werden im Folgenden die empirischen Befunde der qualitativen Teilstudien zusammengeführt. Im Anschluss daran wird die Frage nach globalen Wandlungsdimensionen und Wirkungen grenzüberschreitender Unterhaltungskommunikation erörtert. Die inhaltsanalytische Untersuchung der deutschen und arabischen Varianten von MILLIONÄR und GOT TALENT hat unterschiedliche Dimensionen der Umkodierung deutlich gemacht. Auf der Ebene der professionellen filmischen Konventionen konnten dabei die geringsten Adaptionen festgestellt werden. Die konzeptuelle und ästhetische Wiedererkennbarkeit aller Formatvarianten war allerdings bereits aufgrund bestehender Lizenzvereinbarungen als hoch zu erwarten. Es ließen sich aber auf der Ebene der Repräsentationsstrategien kreative Veränderungen finden, die mit einer Verschiebung der inhaltlichen Deutungsangebote einhergehen. So zeichnen sich beide deutsche Formatadaptionen durch eine deutlichere Individualisierung in der Personeninszenierung, eine stärkere Alltagsorientierung in der kommunikativen Interaktion von Figuren und den Fragestellungen sowie durch eine insgesamt stärkere Unterhaltungsorientierung aus. Darüber hinaus variieren genre-prägende Stil-

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elemente mehr als in den arabischen Versionen. Diese Varianzen sind geeignet, die Deutungsangebote der Formatvarianten insgesamt zu verändern: Das Bildungsquiz, in MAN SAYARBAH AL-MALYOON noch mit klassischer Rollenverteilung der Figuren und kanonisierten Wissensbeständen, wird in WER WIRD MILLIONÄR zur Quizshow mit Talkcharakter; die Talentsuche, die in ARABS GOT TALENT vom Beginn der Sendung an im Vordergrund steht, rückt in DAS SUPERTALENT gegenüber komödiantischen und varieté-gleichen Castings in den Hintergrund. Während es also in den arabischen Formatvarianten zugespitzt formuliert noch stärker um die Belohnung und öffentliche Evaluation von Wissen und Talent geht, sind die deutschen Sendungspendants eher Anlass für die individuelle Chance auf Gewinn im Glücksspiel und »15 minutes of fame« auf der Bühne der Unterhaltungsöffentlichkeit. Diese Unterschiede stehen durchaus im Einklang mit den gesellschaftlichen Ist-Zuständen der beiden lokalen Referenzsysteme, die eigenständige Modernitätsentwicklungen darin erkennen lassen, dass sie unterschiedliche Wissensbestände und künstlerische Traditionen ausgeprägt haben und ihre kulturellen Codesysteme dem Individuum andersartige öffentliche Artikulationsmöglichkeiten bieten. Die maßgeblichste und am wenigsten steuerbare inhaltliche Adaptionsleistung wird schließlich auf der Ebene der Figuren erzielt, die ein lokal gebundener kultureller Habitus auszeichnet. Der in der Formatadaption erfolgende Einsatz lokaler Akteure ermöglicht die Anschlussfähigkeit an lokale Diskursgemeinschaften, an Sprach- und Erfahrungsgemeinschaften. Zwar bleiben die medialen Funktionsrollen der Figuren relativ stabil, die Gestaltung der sozialen Handlungsrollen aber unterliegt größeren Varianzen. Insgesamt sind diese inhaltsanalytischen Unterschiede jedoch nicht als generelle kulturelle Muster zu werten, da die Formatvarianten innerhalb ihrer Reproduktionskontexte keinen homogenen Adaptionsstrategien folgen. Neben den genannten übergreifenden Tendenzen in den Repräsentationsstrategien und Inhalten sind Unterschiede ebenso präsent. Während beispielsweise in den Adaptionen des Quizformats MILLIONÄR die inhaltlichen Fragen und Akteure deutliche lokale Differenzen aufweisen, präsentieren die Kandidaten in den Versionen von GOT TALENT hybrid-assimilative künstlerische Darbietungen. In der Quizshow sind die Adaptionen aber weniger offensichtlich als in der Talentshow, wo mehr Eingriffsmöglichkeiten auf unterschiedlichen Erzählebenen und in variierenden Settings bestehen. Parallelen zwischen den Formatpraktiken und den gesellschaftlichen Entwicklungen sind daher erkennbar, sie stellen aber Entscheidungen der Produzenten dar, die die betreffenden Referenzsysteme wiederum eigenständig interpretieren. Tatsächlich deuten die Ergebnisse der leitfadengestützten Interviews mit den Fernsehmachern darauf hin, dass die konkreten lokalen Adaptionen einer »strukturellen Beliebigkeit« unterliegen. Denn die Aussagen der Akteure ließen erkennen, dass eine kulturelle Dimension der Lokalisierung keinem systematischen Plan folgt und überdies nur ausschnitthaft erinnert wird. So dominieren in den Rekonstruktionen der Befragten formale Fragen (Budget, Programmierung), medienökonomische

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Diskurse (Teilhabe an internationalen Erfolgsmustern) und Spezifika der Produktionskontexte (Konkurrenz- und Vorgängerformate). Aus der retrospektiven Sicht der Programmacher unterliegen Reproduktions- und Adaptionsentscheidungen also eher strukturellen als kulturellen Erwägungen. Hinsichtlich der institutionellen Vorgaben wurde aber deutlich, dass die kommerzielle Organisation des Unterhaltungsfernsehens eindeutig die Koorientierung auf erfolgreiche Sendungskonzepte beeinflusst. Es bildet sich innerhalb der grenzüberschreitenden Branchenkultur im Unterhaltungsbereich also eine Interpretationsgemeinschaft von Funktionseliten heraus, deren primäre Orientierung auf den Formattransfer nicht in der Suche nach kreativen Impulsen begründet liegt, sondern in dem Wunsch nach Teilhabe an einem transkulturellen Produktionswissen. Außerdem wurde seitens der Produzenten immer wieder auf intuitive, subjektive und alltagstheoretische Entscheidungsmuster der Reproduktion und Adaption verwiesen. Theoretisch ist es allerdings viel eher plausibel, dass inkorporierte institutionelle Erfahrungen und Anforderungen von Produktionskulturen in diese nur scheinbar subjektiven Entscheidungen eingeschrieben sind; empirisch konnte gleichwohl nicht gelöst werden, in welchem Verhältnis die Entscheidungsmuster von persönlichen Deutungen der Privatpersonen mit erlernten Codes im Kontext der Funktionsrollen stehen. Zu dieser Beobachtung passt auch, dass sich die Lokalisierung im Bereich des Reality-Fernsehens gemäß den Produzentenaussagen auf die lokalen Akteure selbst verlagert. Gewissermaßen geben die Produzenten also die Frage der lokalen Anpassung ausländischer Formatkonzepte an lokale Figuren in den Sendungen ab. Die Produzenten folgen dabei der Prämisse, dass eine Identifikation der Rezipienten mit dem Medienangebot nur mit lokalen Akteuren möglich sei: Ägypter wollen demnach ägyptische Akteure sehen und Deutsche ihre eigenen Landsleute. Was durch diese Form der »Ethnisierung« differiert, sind zuallererst parasoziale Vergemeinschaftungsangebote. Es bleibt zu klären, ob und in welchem Ausmaß durch diesen Personaltransfer auch kulturelle Codes reproduziert oder verändert werden. Allerdings hat diese Beobachtung weitreichende Folgen für die Theoretisierung von kulturellen Hybridisierungsprozessen im Formattransfer. Es zeigt sich, dass die theoretische Unterscheidung, wonach auf der Ebene der Kulturproduktion vor allem intentionale Hybridisierungsprozesse ablaufen, auf der Ebene der alltagsweltlichen Rezeption durch eher nicht-intentionale, also nicht steuerbare Hybridisierungsprozesse, erweitert werden muss. Denn gerade die Partizipation von Privatpersonen enthält immer auch nicht-intentionale Hybridisierungsprozesse. In dem Moment, in dem Privatpersonen eine integrale mediale Funktionsrolle als Teilnehmer beziehungsweise Kandidaten wahrnehmen, erhalten die lokalen Akteure eine doppelte Bedeutung im Produktionsprozess: Sie stellen nicht nur Bedeutung im Rezeptionsund Aneignungsprozess her, wie es im Kommunikationskreislauf abgebildet wurde, sondern tragen theoretisch auch inkorporierte kulturelle Codesysteme in die Sendungen hinein. Damit gestalten nicht nur Funktionseliten, sondern gleichzeitig auch

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Privatpersonen das Angebot auf der Produktionsebene. Die Figurenebene von Formatvarianten stellt folglich einen entscheidenden Aspekt zur Frage nach lokalen Anschlussfähigkeiten und globalen Wirkungsdimensionen dar, wie im folgenden Kapitel noch eingehender dargelegt wird. Es muss jedoch an dieser Stelle bereits reflektiert werden, dass sich weder bestätigen noch widerlegen lässt, ob die Integration von »Wir«-Gruppen und die Inszenierung von Alltagsrealität auch tatsächlich ein entscheidender Faktor für die rezeptive Anschlussfähigkeit ist. Auch US-amerikanische Filme und Serien werden schließlich nach wie vor weltweit rezipiert. Auch wenn sie keine identifikatorischen beziehungsweise partizipatorischen Angebote wie Realityformate machen, so spricht ihr ungebrochener Erfolg doch zumindest für weitreichende bestehende polyseme Anschlussmöglichkeiten. Ein anderes Beispiel sind Produktionspraktiken in skandinavischen Mediensystemen, die keine große Synchronisationskultur ausgebildet haben und daher im Gegensatz zur deutschen, binnenorientierten Fernsehunterhaltungsindustrie andere, nach außen orientierte Kommunikationserfahrungen erlauben. Allerdings hat zumindest Straubhaar plausibel belegt, dass bei bestehenden Wahlmöglichkeiten Rezipienten eher lokale Produktionen bevorzugen. 928 Es steht deshalb zu vermuten, dass vor allem der steigende Interaktions- und Improvisationsanteil sowie der steigende Live-Charakter die Zirkulationsmöglichkeit beeinflussen. Gerade wenn Privatpersonen in die Handlungsabläufe der Fernsehrealität involviert sind, die Interaktionen spontan entstehen und, wie im Fall der zweiten Staffelhälfte von GOT TALENT, Episoden auch live ausgestrahlt werden, ist eine Synchronisation oder Untertitelung weder sinnvoll noch möglich. Der Zugang zu »fremden« Spiel- und Realityshows bleibt also im Vergleich zu Serien und Filmen durch sprachliche Barrieren begrenzt, weshalb das lokale Remake die einzige Möglichkeit der Weitervermarktung bleibt. Dabei scheint also nicht so sehr das systematische »Wie« als vielmehr das »Wer« in den Adaptionen entscheidend zu sein. Analytisch zu differenzieren ist dieses Identifikationsangebot, das durch die Akteure selbst erfolgt, dann wiederum in kollektive und individuelle Dimensionen. Denn die Rezipienten müssen sich nicht zwangsläufig mit den einzelnen Individualakteuren – den Kandidaten der Quiz- und Talentshows – identifizieren und empathische parasoziale Interaktionen entwickeln. Der Prozess der Einfühlung oder Ablehnung auf der Individualebene kann möglicherweise überhaupt erst auf der Grundlage einer kollektiven Identifikationsmöglichkeit entstehen. Eine Gruppenidentität muss also erst einmal bedient werden, um dann Ablehnung oder Anerkennung zu erzeugen. Eine bewusste Identifizierung wäre also nur auf der Ebene einer unbewussten, quasi vor-deliberativen Identifikation möglich. Das heißt aber noch nicht, dass diese Gruppenidentitäten an imaginäre Nationalkulturen oder Territorien gekoppelt sein müssen, auch wenn Sendungstitel mitunter eine solche Existenz von 928 Straubhaar, Joseph (2007): World Television; vgl. auch Kapitel 2.2.5.

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Nationalkulturen glauben machen. Das angesprochene Zielpublikum der Sendung darf also nicht mit dem potenziellen Publikum der gesamten Fernsehlandschaft verwechselt werden. Gemeint sind mit den voraussetzungsvollen Gruppenidentitäten vor allem geo-linguistische Gemeinschaften, Erfahrungsgemeinschaften, Diskursgemeinschaften. Diese sind keine einheitliche Kulturgemeinschaft, sondern können variierende transkulturelle Bezüge beinhalten. Sie liefern aber die Voraussetzungen für die Dekodierungsleistungen der Rezipienten. Schließlich deuten auch die Ergebnisse der experimentellen Teilstudie dieser Arbeit darauf hin, dass trotz einer Untertitelung gerade die gemeinsamen Erfahrungshintergründe der lokalen Akteure in den Sendungen die größte Hürde des gegenseitigen Verstehens darstellen. Wenn in der WER WIRD MILLIONÄR-Episode über Lehrer in Deutschland gesprochen wird, dann teilen die deutschen Akteure Erfahrungen des deutschen Schulsystems und öffentliche Debatten darüber, die den Ägyptern nicht zugänglich sind. Den deutschen Rezipienten wiederum bleiben die Codes der sprichwörtlichen arabischen Rede, des Humors und der Höflichkeitsroutinen verborgen, die kaum übersetzbar sind. Hier wird bereits die Grenze von allgemeinen Deterritorialisierungsannahmen globaler Kulturpraktiken deutlich, die später noch ausführlicher thematisiert und theoretisiert werden sollen: Handlungsroutinen, Wissensbestände und Codesysteme im Sinne Halls bleiben an die Sozialisationskontexte von Akteuren in sozialräumlichen Referenzsystemen gebunden. Zwar können diese grundsätzlich hybrid sein, doch je mehr die Alltagswelten von Zuschauern mithilfe von Privatpersonen in die Fernsehrealität Eingang finden, desto weniger können diese Bestände durch Produktionsstrategien kontrolliert werden. Lokale Akteure bestimmen dann auf der Grundlage ihrer Erfahrungen und ihrer Codesysteme letztlich die Themensetzung der kommunikativen Interaktion. Selbst wenn es sich nur um wenige Gesprächsminuten mit dem Moderator oder der Jurorin handelt, werden Anknüpfungspunkte an alltagsweltliche Erfahrung geschaffen. Die Anschlussfähigkeit durch lokale Akteure geht allerdings nicht mit der Herstellung kultureller Nähe im Sinne einer Identifikation auf der Individualebene einher, wie die Ergebnisse aus den Gruppendiskussionen der Rezeptionsstudie eindrücklich gezeigt haben. Während beispielsweise die Kandidaten in den Versionen von MILLIONÄR als authentische Subjekte wahrgenommen wurden und in der Anschlusskommunikation identifikatorische persönliche Vergleiche zu beobachten waren, dekodierten die Diskussionsteilnehmer die Kandidaten der deutschen Formatversion von GOT TALENT eher als unauthentische, inszenierte Figuren. Die Anschlusskommunikation im letztgenannten Beispiel orientierte sich also stärker an den Inszenierungs- und Repräsentationsstrategien als an den lokalen Subjekten. Auch wenn gemeinschaftsstiftende Angebote auf kollektiver Ebene durch Sprache, Herkunft oder Alltagserfahrungen gemacht wurden, distanzierten sich die Rezipienten wiederum von diesen Identifikationsangeboten auf der Grundlage individueller sozialer, subkultureller oder überregionaler Identifikationsprozesse. Die Rezipien-

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ten entwickeln in Bezug auf die Sendungsangebote also sowohl innergesellschaftliche (deutsche Gruppen) als auch intergesellschaftliche Differenzwahrnehmungen (arabische Gruppen). Insgesamt wurde das Quizformat deutlich positiver evaluiert als das Talentformat, mit dem sich weniger identifiziert wurde. Die offensichtliche Inszenierung respektive Imitation lieferte hierfür den Grund. Obwohl die Adaptionsleistungen des Talentformats deutlicher sind als die der Quizshow, da sich mehr Raum für kreative Freiheiten bietet, haben referenzielle Bezugnahmen und identifikatorische Aushandlungsprozesse hier nicht überwogen. Das heißt, dass weder die Qualität noch die Quantität der Adaptionen zwangsläufig über die Interpretation und über die Identifikation der lokalen Rezipienten vorentscheidet. Beim Formattransfer handelt es sich also um Adaptionen, die den Rezipienten eine Anschlusskommunikation auf der Grundlage gemeinschaftlicher Bezüge erleichtern beziehungsweise erleichtern sollen. Weder eine subkulturelle Differenzierung des Publikums noch eine übergeordnete Transkulturalität wird dadurch generell verhindert noch zwangläufig begünstigt. Es ließ sich zwar zeigen, dass sich im innergesellschaftlichen Vergleich der Gruppen trotz leichter polysemer Varianzen und Schwerpunktsetzungen doch relativ stabile lokale Interpretationsgemeinschaften bei der Bedeutungsherstellung abzeichnen. Die Resonanz lokaler Themen- und Orientierungsrahmen betrifft allerdings vor allem die inhaltliche Ebene der Verhandlung – auf einer Strukturebene sind transkulturelle Muster der Anschlusskommunikation zu erkennen. Einerseits stellen sich bei den Sendungen sowohl ähnliche Diskursmuster wie auch ähnliche Rezeptionshaltungen ein. Besonders deutlich wurde dies am Beispiel der medienkritischen Auseinandersetzung mit den Sendungen, die in beiden Kontexten zu finden war und die mit einem ähnlich skeptischen Umgang mit den vermeintlichen Metabotschaften der betreffenden Sendungen einhergingen. Auch die dominanten medienbezogenen und geringeren alltagsweltlichen Referenzierungen, die in der Interpretation herangezogen wurden, können dazu gezählt werden. Die Gruppen beider Kontexte wussten um bestimmte professionelle Codes der Unterhaltung und sie bildeten intuitiv die gleichen Cluster formatierter Unterhaltungsshows, um ihre Rezeptionserfahrungen einzuordnen. Es existieren also transkulturelle Wissensstrukturen über eine bestimmte Form der Televisualität von Unterhaltung. Obwohl also, um wieder mit Hall zu argumentieren, die kulturellen Codes an unterschiedliche Kontexte gebunden bleiben (durch Sprachgemeinschaften, lokale Akteure, Themen und öffentliche Diskurse) und somit die inhaltlichen Anschlüsse innerhalb der Rezeption entsprechend den Adaptionen variieren, werden die professionellen Codes (Inszenierungs- und Repräsentationsmuster) in einem ähnlichen Modus verarbeitet. Die Koorientierung auf gleiche Konzepte der Unterhaltung erhält damit durch die Adaptionspraktiken einerseits eine inhaltliche Differenz aufrecht, sie erzeugt aber andererseits Annäherungen in der kulturellen Verarbeitung.

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Dass die variierenden lokalen Adaptionen mit variierenden Interpretationen bei der lokalen Rezeption einhergehen, heißt allerdings nicht, dass die Rezeptions- und Produktionspraktiken in einem Äquivalenzverhältnis stehen. Die kongruente TextRezipienten-Resonanz kann durchaus mit einem inkongruenten Produzenten-Rezipienten-Verhältnis korrelieren. Dass also bestimmte Unterschiede der Formatvarianten auch mit den Unterschieden in der Anschlusskommunikation übereinstimmen, heißt nicht, dass sich Lesarten von Rezipienten auch in Lesarten von Produzenten wiederfinden. Dies zeigte sich etwa in der Deutung der deutschen Fernsehmacher, die hinsichtlich der Emotionalisierung der Darstellung und der spektakulären (Anti-)Talente von DAS SUPERTALENT ein identifikatorisch rezipierendes Publikum voraussetzten. Dies zeigt sich des Weiteren in den Aussagen arabischer Produzenten, die die Botschaft der Talentshow in einer gesellschaftlichen Neubewertung kreativer Ausdrucksmöglichkeiten begründet sahen. Zwar bewerteten die ägyptischen Gruppen die öffentliche Artikulation der Kandidaten ebenfalls positiv, die Inhalte der Darbietungen und deren gesellschaftliche Bedeutung aber wurden weniger intensiv verhandelt und kaum als kreative Eigenleistung anerkannt. Letztlich ist auch die Distanzierung von imaginierten kopräsenten Zuschauern oder von grundsätzlichen Adaptionsversuchen Ausdruck subkultureller Distinktionsmechanismen, die in der Aneignung wirksam werden. Um diese mehrdimensionalen Ergebnisse noch weiter zu verdichten und einer generellen theoretischen Einordnung und Diskussion zuzuführen, können nun zusammenfassend drei Dimensionen im Formattransfer bestimmt werden: Ein Akteurstransfer, ein Thementransfer und ein Strukturtransfer. Der Transfer von Akteuren stellt dabei die Dimension der deutlichsten Prävalenz lokaler Referenzen dar. Die kulturellen Praktiken der lokalen Akteure (in Handlungen und Sprechhandlungen) sind an ihre Entstehungskontexte geknüpft, selbst wenn durch individuelle und mediatisierte Interaktionen hybride Sozialisationserfahrungen wahrscheinlich sind. Sprach-, Erfahrungs-, und Diskursgemeinschaften haben aber dennoch vornehmlich geo-kulturelle und lokale Grenzen, so dass die Akteure allein aufgrund ihrer Sprache und ihrer Wissensrahmen die lokale Reproduktion und Anschlussfähigkeit kultureller Codes sicherstellen, auch weil die Anschlusskommunikation, wie später noch ausführlich diskutiert wird, dadurch nach wie vor in lokalen Räumen verbleibt. Eine Ausnahme bilden die künstlerischen Artikulationen in GOT TALENT, die eine geringere Persistenz lokaler Traditionen im Talentformat aufweisen und eine Orientierung am westlichen Mainstream erkennen lassen. Abgesehen davon werden über die sozialen Handlungsrollen vor allem lokale kulturelle Code- und Sprachsysteme reproduziert. Die Referenzsysteme müssen dabei nicht primär national sein, sondern können, wie im Beispiel der arabischen Formate, auch geo-kulturelle beziehungsweise geo-linguistische Räume beschreiben, die aber bereits über bestimm-

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te Sprach- und Erfahrungszusammenhänge (beispielsweise gemeinsame Geschichte und religiöse Orientierungen) überregional integriert sind. Der Transfer von Themen ist die Dimension mit dem größten hybriden Potenzial. Denn hier treffen sowohl durch das Format gesetzte übergeordnete Erzählungen und Themen (Metabotschaften) als auch lokale Varianzen innerhalb des inhaltlichen Rahmens aufeinander. Eine Entsprechung findet der Thementransfer auch auf der Ebene der Rezeption, wo übergeordnete Diskursmuster (über die Authentizität von Unterhaltungsangeboten) mithilfe lokaler Themenorientierungen (Aberkennen von Authentizität aufgrund von Inszenierungsmechanismen oder Imitationsstrategien) verhandelt werden. Der Transfer von Strukturen bezieht sich schließlich auf die Strukturebene von professionellen und kulturellen Codes und bildet die Dimension der größten Übereinstimmung und damit transkultureller Muster. So deuten die Orientierungen der Produzenten bereits auf Prozesse der gewollten Standardisierungen der Art und Weise von Unterhaltungsproduktionen hin. Primär lässt sich der Strukturtransfer daher auf der Ebene der professionellen Codes verorten. Doch auch die Themensetzungen sind strukturell ähnlich, nur inhaltlich divers. Die medialen Funktionsrollen sind ähnlich, die Handlungsrollen nicht zwangsläufig. Ebenso sind die Interpretationen unterschiedlich, die Modi der kulturellen Verarbeitung auf Seiten der Rezipienten aber ähnlich. Somit können mit Strukturtransfer sämtliche Formen der Verarbeitung gemeint sein, wohingegen der Thementransfer die Inhalte der Verarbeitung erfasst. Der Transfer von Fernsehformaten lässt anhand der Fallbeispiele somit tendenziell eine multidimensionale asynchrone Wandlungslogik erkennen: Er führt zu einer Reproduktion lokaler Differenz auf der Ebene der Akteure, zu einer Hybridisierung von Themen und Inhalten und zu einer transkulturellen Standardisierung von Strukturen. Die lokalen Erscheinungsformen, Verarbeitungsmuster und Bedeutungen von globalen Fernsehformaten sind damit empirisch rekonstruiert und analytisch zusammengefasst worden. Das abschließende Kapitel beschäftigt sich nun mit der Frage, inwiefern diese Ergebnisse theoretisch eingeordnet und für kommunikations- und kulturwissenschaftliche Diskussionen kultureller Globalisierung anschlussfähig gemacht werden können.

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5.2 D IE ANTINOMIE VON G LOKALISIERUNG UND G LOBALISIERUNG : E IN THEORETISCHER A USBLICK ZUM V ERHÄLTNIS VON G LOBALISIERUNG UND T RANSKULTURELLER U NTERHALTUNGSKOMMUNIKATION In den vorangegangenen Teilanalysen des grenzüberschreitenden Transfers von Fernsehunterhaltung nach Deutschland und Ägypten wurde der Versuch unternommen, »Glokalisierung«, wie Hafez metaphorisch angeregt hat, am Fallbeispiel differenziert »zu vermessen«.929 Globale Fernsehformate sind als Gegenstand für dieses Vorhaben bestens geeignet: Unterhaltungskonzepte feiern Erfolge im globalen Maßstab und bleiben dabei doch lokale Phänomene. Sie verbinden Unterhaltungsindustrien und durchdringen Alltagskulturen über kulturelle und nationale Grenzen hinweg ohne dabei zu homogenisieren. Und doch blieb die Frage, wie sich diese Simultanität von Globalisierung und Lokalisierung im Unterhaltungsbereich konkret gestaltet und welche kulturellen Wandlungsprozesse sie begünstigt und erklären hilft. Wie also lässt sich der skizzierte Transfer von Strukturen, Themen und Akteuren an die Frage nach Bedingungen und Möglichkeiten kultureller Globalisierung rückbinden? Welche Wandlungsdynamiken gehen von grenzüberschreitenden Prozessen der Unterhaltungskommunikation aus oder ihnen voraus? Wie wird kulturelle Globalisierung am Beispiel formatierter Fernsehunterhaltung greifbar? Im Einklang mit Theorieansätzen der Globalisierung von Medienkommunikation, die die Analyse komplexer lokaler Lebensweltbezüge im Zusammenhang mit der Erforschung von Globalisierung einfordern, stellte die Arbeit zunächst die Auseinandersetzung mit Transkulturalität und Hybridisierung in den Mittelpunkt und nicht die Frage nach (national-)kultureller Homogenisierung, die durch Formen der Medienglobalisierung möglicherweise unterstützt wird. Kulturelle Praktiken können aufgrund der medialen Zirkulation von Bildern, Ideen und Menschen heute gleichzeitig territoriale, regionale, globale beziehungsweise translokale Referenzen haben.930 Der Formattransfer ist ein eindrückliches Beispiel für die Integration dieser verschiedenen lokalen, regionalen und globalen Referenzen. Hepps Fazit, wonach das »Wechselverhältnis von medienvermittelten, translokalen Diskursen einerseits und lokalen, insbesondere in Alltagsgesprächen aufrecht gehaltenen Diskurse andererseits« lokale Gemeinschaften und Identitäten weder homogenisiert noch unberührt lässt, ist also zuzustimmen.931 Allerdings bedarf es der Klärung, wie sich

929 Hafez, Kai (2005): Mythos Globalisierung, S. 26. 930 Vgl. auch Hepp, Andreas (2004): Netzwerke der Medien. 931 Ebd., S. 423.

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diese lokalen Alltagswelten konkret gestalten, wenn sie durch Medienangebote also weder angeglichen werden noch unverändert bleiben. In welchem Zusammenhang stehen die verschiedenen Referenzen der Medienangebote zu den Alltagskontexten, auf die sie treffen? Für eine erste Einordnung lässt sich noch einmal das Theorem der »Glokalisierung« aufgreifen, das ein Impulsgeber dieser Arbeit war. Diesbezüglich muss zunächst spezifiziert werden, dass es sich beim Formattransfer um ein Phänomen der multiplen Glokalisierung handelt. Denn wie gezeigt wurde, bringt die Adaption von Formatkonzepten zwar durchaus »glokale« Texte hervor, diese erzeugen aber sowohl Ebenen des Gleichklangs als auch Ebenen der Differenz. So lässt sich in komparativer Perspektive ein Gleichklang auf der Seite des Medienangebots erkennen, der sich vor allem im konzeptuellen und filmischen Strukturtransfer von Unterhaltung darstellt. Der Formattransfer trägt hier also zur Proliferation einer ästhetischen und konzeptuellen Medienmoderne bei. Die Orientierung an globalen Strukturmerkmalen der Unterhaltung und deren geringe lokale Abwandlung hat eine potenzielle Auswirkung auf die Medienerfahrungen lokaler Rezipienten, die hierdurch ähnliche Wissensstrukturen um ästhetische Konventionen und funktionale Bedeutungen der Fernsehunterhaltung ausbilden können. Es wurde beispielsweise beobachtet, dass simultane Kommunikationserfahrungen und strukturähnliche Medienrepertoires bei den Rezipienten vorhanden waren, die sich in wiederum ähnlichen Strukturen der Medienkritik niederschlugen. Ein Einfluss war aber ebenso auf der Ebene des Thementransfers zu erkennen: Obwohl persistente lokale Diskurse der jeweiligen Referenzsysteme sichtbar sind, führen die Medienangebote dennoch zu ähnlichen Themenangeboten und Diskursmustern. Die Aufrechterhaltung von Differenz wiederum liegt in den lokalen Referenzierungen und in den Identifikationsangeboten der Sendungen. Zwar identifizieren sich die lokalen Akteure nicht zwangsläufig mit den Deutungsangeboten und Figuren der Shows, in der Anschlusskommunikation ist aber dennoch eine Verfestigung der subkulturellen Gruppenidentität nach innen oder nach außen zu erkennen. Abgrenzungsmechanismen von einem kopräsenten Publikum bei den deutschen Gruppen und die Anerkennung der eigenen hybriden Alltags- und Stilorientierung bei den ägyptischen Gruppen sind Beispiele für die innergesellschaftlichen Distinktionen. In der experimentellen Rezeption des jeweils anderen Formats hat sich hingegen eine Perspektive der Essenzialisierung nach außen angedeutet. Mögliche Ähnlichkeiten im Zugang und in der Interpretation der Sendungen werden also von den Akteuren in Bezug auf parallele Kommunikationskulturen nicht unbedingt antizipiert oder reflektiert. Mit Ausnahme der Kenntnis von AMERICA’S GOT TALENT durch die ägyptischen Gruppen zeichnet sich auf der Rezeptionsebene zwar eine rudimentäre Kenntnis des Formathandels an sich ab, ansonsten aber erfahren parallele Formatvarianten kaum Beachtung. Es lässt sich folglich von einer »gegenseitigen Nichtbe-

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achtung« sprechen.932 Das Wissen um die eigene Teilhabe an globalen Strukturen heißt also noch nicht, zu wissen, woran man eigentlich teilhat. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen ist die Frage zu differenzieren, welches globale Wandlungspotenzial den hybriden transkulturellen Medienangeboten und Praktiken nun eigentlich zukommt. Das Theorem der multiplen Glokalisierung dient zwar der Verschlagwortung einer empirischen Komplexität, stellt aber noch keinen differenzierten Theorieentwurf zur Verfügung, da es letztlich nur etwas über den Ist-Zustand kultureller Gemeinsamkeiten und Unterschiede aussagt, nicht aber über deren Zustandekommen, deren Erscheinungsformen und deren kulturelle Implikationen. Das gilt auch für den eingangs geschilderten Zugang, kulturelle Globalisierung als eine Form der Hybridisierung zu begreifen. Hybridisierung beschreibt eine grundlegende Dynamik alltäglicher kultureller Austauschprozesse, sie sagt aber wiederum nichts über Art und Weise und deren Konsequenzen aus. Hepp hat diese Überlegungen aufgegriffen und konstatiert, dass die Globalisierung der Medienkommunikation nicht die Ablösung des Lokalen, sondern die Umwandlung des Lokalen durch zunehmende »deterritoriale Netzwerke von identitätsstiftenden Gemeinschaften«933 zum hybriden Phänomen meint. Globalisierung von Medienkommunikation ist der »Prozess der weltweiten Zunahme einer komplexen, kommunikativen Konnektivität«, der umfassende Deterritorialisierungsprozesse als kulturellen Wandel zur Folge habe.934 Die konzeptuelle Offenheit des hier eingeführten Begriffsapparats ermöglicht zwar auf der einen Seite die Übertragung auf das Phänomen der Fernsehformate. Auf der anderen Seite sagt die Anerkennung von grundlegend translokalen Medienkulturen, die durch komplexe kommunikative Konnektivitäten neue Netzwerke auf unterschiedlichen Artikulationsebenen (Produktion, Rezeption, Repräsentation) entstehen lassen, aber noch nichts über Zusammenhänge, Interdependenzen oder konkrete Erscheinungsformen aus. Um es mit Hafez in die Terminologie der Systemund Kommunikationstheorie zu übertragen: Weder der genaue Charakter der entstehenden Systemvernetzung noch der Systemveränderung oder -interdependenz wird damit beschreibbar.935 Kommunikative Konnektivität sagt im Sinne Hepps ganz bewusst nichts über die Art und Weise der Verbindung beziehungsweise über die Kommunikationsbe932 Vgl. hierzu auch die Ausführung von Hafez zur Auslandsberichterstattung und der Frage globaler Interaktion auf der Beziehungsebene, auf der er die »kollektive Nichtbeachtung« als ein Hindernis der grenzüberschreitenden Kulturkommunikation erläutert. Hafez, Kai (2002a): Die politische Dimension der Auslandsberichterstattung, Bd. 1, S. 171ff. 933 Hepp, Andreas (2004): Netzwerke der Medien, S. 423. 934 Ebd., S. 421. 935 Hafez, Kai (2005): Mythos Globalisierung, S. 17ff.

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ziehung aus: Sie bezeichnet lediglich eine »kommunikative Beziehung beziehungsweise Verbindung unterschiedlichen Charakters, […die] nicht mit einer weitergehenden Verbundenheit einhergehen muss.«936 Genau in dieser Frage aber, welche Verbundenheit Konnektivität konstituiert, liegt ein Potenzial für eine differenzierte Antwort auf die Frage nach kulturellen Globalisierungsprozessen. Ob nämlich die neu entstandenen Verbindungen nur eine einseitige Referenzierung (also ein einseitig gerichtetes Kommunikationsverhältnis) beschreiben oder aber eine gegenseitige Bezugnahme (kommunikative dialogische Interaktion), ist ein entscheidender Unterschied. Außerdem kann auch zwischen Konnektivitäten unterschieden werden, die sich bewusst oder unbewusst vermitteln. Zu fragen ist hier, ob Rezipienten Repräsentationen in Medienangeboten als lokal oder nicht-lokal wahrnehmen und reflektieren. Das wiederum muss nicht heißen, dass diese Elemente dann auch empirisch als lokal oder eben nicht-lokal zu bewerten sind. Ein Beispiel aus der Untersuchung kann dies illustrieren: Wenn ägyptische Rezipienten die regionale Adaption der Quizshow als typisch arabische Quizshow dekodieren, obwohl diese eine Adaption darstellt, dann existiert die Transkulturalität der Quizshow – analog der Marx’schen Unterscheidung zwischen »Klasse an sich« und »Klasse für sich« – auch nur an sich, nicht aber für sich. Die transkulturellen Muster vermitteln sich den Rezipienten dann unbewusst. Wenn aber die arabische Talentshow als Imitat der US-amerikanischen Vorlage gewertet wird, dann vermittelt sich hier Transkulturalität bewusst und es wird sich dementsprechend auch in der Aneignung zu ihr positioniert, was im ersten Beispiel nicht geschieht, da für die Rezipienten die Transkulturalität faktisch Lokalität ist. Die Akteure selbst sind also zentrale Agenten der Globalisierung. Ihre Herstellung, Wahrnehmung und Interpretation von Konnektivität gilt es daher ebenso theoretisch zu reflektieren. Zur Unterscheidung zwischen einer faktischen und einer bewussten und identitätsstiftentenden Globalisierung kommt ein weiterer wichtiger Aspekt hinzu: Es stellt sich nämlich die Frage, ob die gemeinsame Matrix transkultureller Muster der Unterhaltung neben synchronisierter auch interaktive grenzüberschreitende Kommunikation ermöglicht. Die Wandlungsdynamik des Formathandels liegt zunächst vor allem in der synchronen Grenzüberschreitung durch die im Zuge der Adaption transkulturelle Muster in den medialen Reproduktionen, Rezeptions- und Produktionspraktiken verschiedener Referenzsystemen entstehen können. Von einer globalen Qualität lässt sich streng genommen erst sprechen, wenn die transkulturelle Proliferation viele bis alle kulturellen Referenzsysteme der Welt umfasst. Neben dieser quantitativen Dimension muss dann auch die qualitative Dimension der Wechselseitigkeit mitgedacht werden. Denn wenn man sich auf die von McLuhan eingeführte Metapher des »globalen Dorfes« besinnt, dann beinhaltet Globalisie936 Hepp, Andreas (2011): Kommunikationsnetzwerke und kulturelle Verdichtungen, S. 14f.

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rung neben der Beobachtung der anderen auch die Gemeinschaftlichkeit, die Verbindung mit ihnen. Idealtypisch gesprochen wäre Globalisierung also ein dialogischer und interaktiver Prozess der Herausbildung weltweit anschlussfähiger transkultureller Muster, in diesem Falle der Unterhaltungskommunikation. Globale Unterhaltung bestünde somit erst dann, wenn die Anschlussmöglichkeiten transkultureller Praktiken Produzenten und Rezipienten weltweit nicht nur bewusst wären, sondern wenn sich auch ein stärkerer wechselseitiger Austausch einstellen würde. Ein solcher weltweiter Austausch ist empirisch vermutlich kaum realisierbar. Die kommunikative Idee hinter diesem Verständnis von Globalisierung unterstreicht letztlich aber auch vor allem einen handlungsrelevanten Bewusstseinswandel hin zu einer grundlegenden Anerkennung der Möglichkeit weltweiten Austauschs, zur Antizipation von Interaktionen und vor allem zum Interesse an einer Rückkopplung, die geeignet ist, Verständigungsleistung zwischen diversen (Sub-)Kulturen tatsächlich theoretisch zu befördern und die Herausbildung globaler Zentren und Peripherien zunehmend zu dekonstruieren. Vor dem Hintergrund dieser Konzeptualisierung lässt sich argumentieren, dass der grenzüberschreitende Formattransfer zwar Möglichkeiten der Anschlussfähigkeit schafft, da vor allem im Struktur- und Thementransfer Elemente hybrider Angleichung enthalten sind. Ein Potenzial des Fremdverstehens und der Interaktion wird jedoch durch den Formattransfer noch nicht eingelöst, da die transkulturellen und hybriden Produktions- und Rezeptionsmuster wiederum nur im lokalen Rahmen reaktiviert werden. Für die folgende Argumentation soll daher vorangestellt werden: Die Lokalisierung global verfügbarer Formate illustriert die Grenzen globaler Standardisierung, sie ist aber gleichzeitig Hindernis eines globalen Dialogs. Diese Beobachtung lässt sich theoretisch als Antinomie von Glokalisierung und diskursiver Globalisierung bezeichnen. 5.2.1 Unterhaltungskommunikation als Wegbereiter einer diskursiven Weltkultur? Da das quantitative Kriterium von Globalisierung als einer nahezu weltweiten Verbreitung transkultureller Muster letztlich vor allem eine empirisch zu bestimmende Größe darstellt, soll es für die weiteren Überlegungen nicht eingehender berücksichtigt werden. Die theoretische Diskussion wird sich daher mit den anderen beiden Kriterien des skizzierten Globalisierungsverständnisses beschäftigen. Es soll erörtert werden, inwieweit der Unterhaltungstransfer zu einer Globalisierung im Sinne eines Dialogs und eines bewussten Prozesses der Transkulturalisierung beiträgt. Eröffnet der Formattransfer also Möglichkeiten einer Weltkultur, die durch grenzüberschreitende diskursive Praktiken entsteht? Und trägt sie zur Herausbildung eines transkulturellen Wissens bei, so dass sich von einer »kosmopolitischen

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Weltkultur« sprechen lässt? Für die Argumentation wird es dabei abschließend nötig sein, auch abseits der bisher verwendeten kulturtheoretischen Kategorien auf klassische kommunikationstheoretische Instrumentarien zurückzugreifen. Konkret wird hier die Öffentlichkeitstheorie, die bereits im Kapitel 2.2.2 in die theoretischen Überlegungen der Arbeit einbezogen wurde, Pate stehen, um eine makrotheoretische Einordnung der mikrotheoretischen Befunde dieser Arbeit anzuregen. Beginnend mit der Frage nach dem dialogischen Potenzial transkultureller Unterhaltungskommunikation ist auf Grundlage der durchgeführten Analyse Skepsis geboten. Der Formattransfer schafft zwar zahlreiche grenzüberschreitende Synchronitäten, ein globaler Dialog zeichnet sich durch die Adaptionspraxis aber nicht ab. Allenfalls findet ein verbindendes und dialogisches Austauschverhältnis auf der Ebene der Produzenten und Produktionskulturen statt. Wie eingangs in der Arbeit beschrieben, bieten internationale Messen der Branche Möglichkeiten für Austausch, Selbstdefinition und Vergemeinschaftung. Möglichkeiten des Dialogs sind hier insofern gegeben, als prinzipiell jeder seine Formate vorstellen und vermarkten kann. Zu vermuten steht aber, dass eher Ressourcen-Ungleichheiten von lokalen Produktionsindustrien reproduziert werden und vor allem erfolgreiche transnationale Großunternehmen profitieren. Der Raum für kreative Innovationen ist hier gering, auch wenn aktuell immer mehr neue und kleine Akteure partizipieren. Innerhalb der Produktionsunternehmen gibt es zwar Bestrebungen, durch globale »Think-Tanks« den internationalen Austausch von Konzeptideen zu erleichtern und zu beschleunigen – doch auch hier stehen weniger gemeinsame Entwicklungsleistung als vielmehr Partizipationsfragen im Vordergrund. Dialogische Strukturen im Entwicklungsstadium von Unterhaltungskonzepten finden sich in einem nachgelagerten Stadium des Produktionsprozesses. So fördern enge Kontakte den Wissenstransfer in der Produktion und die Profitorientierung führt dann auch dazu, dass Elemente erfolgreicher lokaler Adaptionen wiederum in die ursprünglichen Formatkonzepte rückintegriert werden, so dass auch Adaptionen ein rekursives Einflusspotenzial auf das Ursprungsformat besitzen. 937 Meistens handelt es sich jedoch nur um kleine Varianzen der Spielregeln und damit erneut nicht um eine prägende grenzüberschreitende kreative Interaktion. Räume des Dialogs, die sich durch die gemeinsame Arbeit von Produzenten und Flying Producern innerhalb der Reproduktionen ergeben, sind wiederum eher als Elitenphänomene zu charakterisieren, deren Einfluss hier nicht verifiziert werden kann. Die Rekonstruktionen der Produzenten deuten eher auf Abhängigkeitsverhältnisse hin. Insgesamt muss daher bilanziert werden, dass die Unterhaltungsbranche vor allem Prozesse der Koorientierung denn Dialogmöglichkeiten befördert und damit eher zu einer klassischen Form der Globalisierung erfolgreicher Standards beiträgt. 937 Beispiele waren der goldene Buzzer in DAS SUPERTALENT oder die unterschiedlichen Joker in MILLIONÄR, die wechselseitig übernommen wurden.

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Auf der Ebene der Medienangebote wurde weiter oben schon diskutiert, dass die Übersetzungsleistung der lokalen Produzenten weniger in filmischen und inhaltlichen Veränderungen zu finden ist, sondern vielmehr in der Frage, mit welchem lokalen Personal die Formatvarianten besetzt werden. Es ist diesbezüglich bereits die These angedeutet worden, dass transkulturelle Reality- und Spielformate, in denen lokale Privatpersonen teilnehmen, eine dialogische Globalisierung sogar verhindern. Einen Ausgangspunkt zur Erklärung liefert dafür Hafez, der im Zusammenhang mit der Debatte um die Globalisierung von Medien daran erinnert, dass Kulturen immer kommunikativ konstruiert sind.938 Damit sich Kultur aber auch global konstituieren kann, müsste sie demnach in dialogischen Kommunikationsakten gestiftet werden. Denn nur so ließe sich eine diskursive Praxis von Weltkultur überhaupt entwickeln. Wenn in den Formatadaptionen aber hauptsächlich lokale Diskursteilnehmer partizipieren, dann kann folglich auch keine lebendige grenzüberschreitende Diskurskultur entstehen. Die Grenzüberschreitung, die durch den Formattransfer geleistet wird, wird durch die lokalen Teilnehmer im Lokalisierungsprozess an die lokale Lebensweltorientierung der Akteure rückgebunden. Um diesen Zusammenhang weiter zu elaborieren, soll der Versuch einer theoretischen Übertragung auf die Kommunikationstheorie des Wissenssoziologen Mannheim gewagt und angedeutet werden. Mannheim geht davon aus, dass sich unser alltägliches Leben in sogenannten »konjunktiven Erfahrungszusammenhängen« abspielt, die von Kollektivvorstellungen geprägt sind. 939 Im Einklang mit dem in dieser Arbeit diskutierten praxeologischen Kulturbegriff bedeutet das, dass sich Wissens- und Bedeutungsstrukturen immer über die Teilhabe an konkreten Handlungspraxen vermitteln. 940 Innerhalb von Erfahrungsräumen bleibt Wissen damit immer auch an bestimmte Perspektiven und Standorte gebunden, es hat also immer einen besonderen und keinen allgemeinen

938 Hafez, Kai (2000): Irrwege und Perspektiven der Globalisierungsdebatte, S. 109. 939 Mannheim, Karl (1980): Strukturen des Denkens, S. 211ff. 940 Das meint auch, dass Kollektivvorstellungen nicht durch Individuen realisierbar sind: »Ein jeder Kult, eine jede Zeremonie, ein jeder Dialog ist ein Sinnzusammenhang, eine Totalität in der der einzelne seine Funktion und Rolle hat, das Ganze aber etwas ist, das in seiner Aktualisierbarkeit auf eine Mehrzahl der Individuen angewiesen ist und in diesem Sinne über die Einzelpsyche hinausragt. Ein Individuum kann sich die ganze Zeremonie denken, aber als Kollektivvorstellung ist diese ja zunächst nicht etwas zu Denkendes, sondern ein sich durch verschiedene Individuen in ihrem Zusammenspiel vollziehendes [Herv. i.O.].« Ebd., S. 232; vgl. auch die Interpretation und Zusammenfassung des konjunktiven Erfahrungsraums in Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung, S. 287ff.

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Sinn:941 »Riten, Handlungen, Krieg und Arbeit, erotische Beziehungen und Kinderaufzucht erhalten einen für die Gemeinschaft fixierten Sinn […].«942 Die Art und Weise, wie etwas gemacht wird, hat also für die Beteiligten eine »selbstverständliche gemeinsame Bedeutung«943, die für andere, die nicht an dieser Gemeinschaft teilhaben, nicht selbstverständlich ist. Diese Bedeutungen sind jedoch nicht nur in den Handlungen selbst gespeichert, sondern auch in der durch die Gemeinschaft beziehungsweise den Erfahrungsraum kontextualisierten Sprache. 944 Hierin liegt auch eine Gemeinsamkeit mit dem Kommunikationsverständnis von Hall: Bedeutung wird aus einem bestimmten Kontext heraus fixiert und ihre Herstellung ist immer ein machtgeprägter und vor allem kollektiver Vorgang. Ähnlich wie Hall unterscheidet Mannheim sozusagen gesellschaftlich verbindliche Begriffe, die eher als kontextfreie Definitionen zu verstehen sind und gemeinschaftliche Begriffsverwendungen, die nur relativ generalisierbar sind, eben weil sie keine Allgemeingültigkeit besitzen können.945 Hier lässt sich dann Halls Argument anschließen, dass die denotative Ebene von Zeichen eben nur analytisch, nie aber empirisch existiert, da sich die konnotative Ebene der Zeichen in der kommunikativen Vermittlung nicht abtrennen lasse.946 Mannheim liefert hierfür letztlich eine soziologische Untermauerung: Das Erlernen eines denotativen Sinngehalts ist nahezu unmöglich, da wir nur in perspektivischen Erfahrungszusammenhängen unserer Lebenswelt lernen können.947 Aufgrund der menschlichen Sozialisation ist dieses Erlernen nämlich immer auch an direkte menschliche Gegenüber und damit an lokale Vergemeinschaftungsprozesse geknüpft. Die »konjunktive« Ebene von Bedeutung, die jeder Sprach- oder Praxishandlung eingeschrieben ist, ist demnach für Außenstehende der Erfahrungszusammenhänge kaum erschließbar; der Erfahrungsraum ist »für andere nur noch in den Oberflächenerscheinungen zugänglich.«948

941 Mannheim, Karl (1980): Strukturen des Denkens, S. 223. Dieses konjunktive Wissen ist nach Mannheim nicht direkt kommunizierbar oder reflexiv verfügbar. Menschen können bspw. selten die Bedeutungen ihrer Handlungen erklären. 942 Ebd., S. 229. 943 Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung, S. 287. 944 Ein gutes Beispiel zur Illustration stellen Formen von Jugendsprache dar, die gruppenoder gemeinschaftsbezogenen Codes folgt, die selten von außen verstehbar sind. 945 Mannheim, Karl (1980): Strukturen des Denkens, S. 225. 946 Hall, Stuart (2004): Kodieren/Dekodieren, S. 72f. 947 Mannheim, Karl (1980): Strukturen des Denkens, S. 211f. 948 Ebd., S. 216. Auf diesen Auseinandersetzungen beruht auch das grundlegende methodologische bzw. epistemologische Problem der Wissenschaft, die zwar auf ein »utopisches Ideal der Begriffsbildung« hinarbeitet bzw. nach Idealtypen kontextgelöster überzeitlicher Terminologien strebt, im Grunde aber bleibt auch die Erkenntnisfähigkeit des

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Bezogen auf die Frage nach Grenzen der Transferierbarkeit von Spielshows mit Realitätsbezug lässt sich auf Grundlage dieser theoretischen Skizzen nun argumentieren, dass die Wissens- und Bedeutungsstrukturen, die den im Fernsehen präsentierten Handlungen lokaler Akteure zugrunde liegen, nur durch Teilhabe an bestimmten Erfahrungsräumen verstehbar werden. Ohne diese Voraussetzung bleiben sie allenfalls die beschriebenen Oberflächenphänomene. Sie verlieren dadurch aber größtenteils ihren Reiz, da sie sich mehr und mehr einem rein denotativen Verstehen annähern. Globale Befindlichkeiten jedweder Art mögen also zwar strukturell ähnlich sein, sie lassen sich aber gemäß diesen Überlegungen nur auf der Grundlage gemeinsamer konnotativer Gehalte verständlich machen. Um noch einmal auf das in Kapitel 5.1. angesprochene Beispiel anzuschließen, heißt das, dass wenn in der deutschen Formatversion über Stereotype von Lehrern und Beamten gewitzelt wird, wie es in der gewählten Episode des Experiments der Fall war, dann haben die Akteure in Deutschland durch die eigene Erfahrung der Wissensvermittlung in öffentlichen Bildungsinstitutionen Deutschlands und durch die Teilhabe an der medialen Diskurs- und Bildvermittlung über den Berufsstand in der deutschen Öffentlichkeit eine ganz andere Grundvoraussetzung zum Sinnverstehen als die ägyptischen Rezipienten, die sich das untertitelte Beispiel ansehen. Ihnen sind zwar die Terminologien des Lehrers und Beamten als Allgemeinbegriffe geläufig, sie sind aber in dem Zusammenhang nur auf sehr allgemeiner Ebene anschlussfähig, da unsicher bleibt, welche Bedeutung ihnen in ägyptischen Erfahrungszusammenhängen zukommt. Das deutsche Schulsystem ist also hier das primäre Erfahrungs- und Referenzsystem der Herausbildung gemeinschaftlicher Codes. Interessant ist weiter, dass Mannheim theoretisch nicht einschränkt, inwieweit Erfahrungsräume erweiterbar sind: »Die Kulturgemeinschaft ist aber die umfassendste Erweiterung einer konkreten, konjunktiven Erfahrungsgemeinschaft, die wir bisher kennen. Ob die Menschheit als solche jetzt oder jemals zu einer konjunktiven Erfahrungsgemeinschaft werden kann, bleibe hier dahingestellt«.949

Bezug nehmend auf Hafez ließe sich diese Frage durchaus bejahen, wenn es gelänge, Prozesse kultureller Verständigung in einen interaktiven Kreislauf der Kommunikation einzubinden. Solange aber Produktionssysteme eine Multiplikation statt eine Integration der Kommunikationsbeziehungen forcieren, wird dies kaum möglich sein. Auf der Struktur- und Inhaltsebene sind in den Formaten WER WIRD MILLIONÄR und MAN SAYARBAH AL-MALYOON sowie DAS SUPERTALENT und ARABS Wissenschaftlers immer erfahrungsgebunden. Ebd., S. 217; vgl. auch Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung, S. 287. 949 Mannheim, Karl (1980): Strukturen des Denkens, S. 226.

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GOT TALENT grenzüberschreitend transkulturelle Muster zu finden. Eine relative Synchronität zwischen den Kommunikationssystemen wird dadurch hergestellt, dass sozusagen eine parallele Themenverhandlung angeregt wird. Die Orientierung des jeweils lokalen Publikums an den jeweils lokalen Akteure, die sich diese Strukturen spielerisch zu Eigen machen, verdeutlichen indes, dass die kommunikative Verhandlung trotzdem primär in lokalen Diskurskulturen, in lokalen Öffentlichkeiten beziehungsweise Teilöffentlichkeiten verbleibt. Solange die virtuelle Fernsehrealität auf der Akteursebene Subjekte lokaler Lebenswelt integriert, bleibt die Unterhaltungskommunikation ein lokales Phänomen, das lokale »Verständniskategorien«950 reproduziert. Es kommt außerdem hinzu, dass selbst im Falle der grenzüberschreitenden Rezeption einer anderen Formatversion als der eigenen, keine Feedback-Möglichkeiten eingebaut sind. Denn solange im Adaptionsprozess die Produktion von Lokalität angestrebt wird, werden Teilnehmer anderer Sprach-, Erfahrungs- und Diskurskulturen auch nicht mitgedacht. So finden beispielsweise die Castings nur in den betreffenden Referenzsystemen statt, was eine Partizipation von »außen« eher erschwert. Auch die Artikulation von Rezipientenmeinungen ist zwar über Internetplattformen möglich geworden, bedarf jedoch des notwendigen kulturellen Kapitals, in diesem Fall die Sprachkompetenz. Wenn sich also ägyptische Rezipienten, die des Englischen mächtig sind, grundsätzlich am innergesellschaftlichen Anschlussdiskurs US-amerikanischer Fans von Sendungen beteiligen können, wird dies umgekehrt schon schwieriger, in Bezug auf den deutschen Diskurs vermutlich nahezu unmöglich – abgesehen von einer kleinen deutschsprachigen Elite. Solange es also keine fortgeschrittene und ergiebig nutzbare Übersetzungssoftware im Bereich der Social-Media-Deliberation gibt, wird sich so schnell nicht viel daran ändern, dass die Kommunikation in den sozialen Netzwerken der Medien auch hauptsächlich an lokale oder geo-kulturelle Räume gebunden bleibt.951 Die grenzüberschreitende Erweiterung des Publikums von Formaten bleibt dementsprechend wahrscheinlich ein Ausnahmephänomen der globalen Zentren und englischsprachigen Eliten. Eine direkte Anschlusskommunikation entfaltet sich aber selbst im Falle der Koorientierung verschiedener Publika auf dieselbe Formatvariante hauptsächlich in lokalen Encounter-Öffentlichkeiten. Die Kommunikationsgemeinschaften, innerhalb derer öffentliche Meinungen entstehen können, bleiben also zwangsläufig relokalisiert. Kultureller Wandel besteht aufgrund der Adaptionspraxis daher vielmehr in einer Reterritorialisierung als in einer Deterritorialisierung von Kommunikationszusammenhängen.

950 Hafez, Kai (2000): Irrwege und Perspektiven der Globalisierungsdebatte, S. 109. 951 Singh, Nitish; Lehnert, Kevin; Bostick, Kathleen (2012): Global Social Media Usage: Insights Into Reaching Consumers Worldwide. In: Thunderbird International Business Review 54 (5), S. 683-700.

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Um diese angestellten Überlegungen noch einmal systematisch zusammenzufassen, bietet es sich an, im Sinne der Öffentlichkeitstheorie Unterhaltungssendungen als Arenen der öffentlichen Kommunikation zu beschreiben. Gerhards und Neidhardt haben den Informationsinput, den Informationsthroughput und den Informationsoutput als die entscheidenden Prozesse des Kommunikationssystems Öffentlichkeit herausgearbeitet.952 Diese Prozesse sind die notwendigen Schritte zur Herstellung öffentlicher Meinung, der zentralen Funktion des intermediären Systems. Natürlich sind die Motive der Artikulation in Bezug auf eine Unterhaltungsöffentlichkeit andere als in Bezug auf politische Öffentlichkeiten, denn es handelt sich in dem Sinne nicht um eine »Problemkommunikation«, die gemäß den Autoren der Entscheidungsfindung im intermediären System zwischen gesellschaftlichen Akteuren, Teilsystemen und dem politischen Zentrum dient. Die Partizipierenden in der Arena sind gewissermaßen schon selbst der Gegenstandsbereich, um den es geht. Die Einflussrichtung, die erzeugt werden soll, ist im Talentformat beispielsweise einzig die Aufmerksamkeit für ein Subjekt, über dessen Talentqualitäten öffentlich entschieden wird. Es bedarf also keiner rationalen Überzeugungsleistung als vielmehr einer affektiven. Die Meinungsbildungsfunktion wird also nicht direkt, sondern eher indirekt erfüllt. Diese theoretischen Prämissen vorausgesetzt, muss nun entlang der Prozessstruktur von Öffentlichkeit gefragt werden, wo sich tatsächlich Räume der diskursiven beziehungsweise dialogischen globalen (Unterhaltungs-) Öffentlichkeit ergeben. Es wurde bereits argumentiert, dass der Struktur- und Thementransfer des Formathandels zumindest eine globale Synchronität anregt. Denn die Meta-Diskurse, die Konzeptstrukturen und die allgemeine Themensetzung bleiben in lokalen Adaptionen erhalten. Es bleiben Sendungen, in denen Privatpersonen Geld durch den Einsatz bestimmter Kapitalien gewinnen können, es bleiben Sendungen, in denen künstlerische Laien Unterhaltungsangebote schaffen und Aufmerksamkeit generieren und es bleiben inszenierte Unterhaltungsangebote, deren gesellschaftlicher Wert oder deren Authentizität diskutiert werden können. Der Rohstoff, der Inhaltsinput ist also global.953 Dass die Kommunikationsimpulse der Unterhaltung überhaupt ihr lokales Publikum erreichen, geht aber wiederum auf die Reproduktionsentscheidungen der lokalen Gatekeeper zurück. Die Produzenten übernehmen hier zunächst selbst eine Beobachter- und Zuschauerrolle innerhalb der »unübersehbaren Umwelt«954 der Unterhaltungsöffentlichkeit des ursprünglichen Formats. Insofern wird in dieser Frühphase des Transfers ein Raum globaler Öffentlichkeit sichtbar. Durch 952 Gerhards, Jürgen; Neidhardt, Friedhelm (1990): Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit, S. 12ff. 953 Ebd., S. 36. 954 Ebd., S. 16.

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die funktionale Ausdifferenzierung der Berufsrollen im Unterhaltungsbereich, in dem beispielsweise extra beauftragte Format-Scouts agieren, wird dieser Raum jedoch zugleich wieder eingegrenzt. Es bleiben nämlich Funktionseliten, die den lokalen Zugang zu globalen Inputs allein verwalten. Eine Ausnahme stellen im Fallbeispiel die milieuspezifischen ägyptischen Gruppen dar, die mit ihrer Kenntnis der US-amerikanischen Vorlage als auch der lokalen Replik ebenfalls Teil der Systemumwelt einer entfernten Unterhaltungsöffentlichkeit sind. Hier ist bestens illustriert, dass ein grenzüberschreitendes Publikum denkbar ist.955 Allerdings sind sie kaum ein antizipierter Bestandteil der Öffentlichkeit, da sie, wie oben beschrieben, wiederum nicht im Blickfeld der Produzenten der ursprünglichen Formatvariante liegen und Möglichkeiten eines rekursiven Austauschs begrenzt bleiben. Die Verarbeitung des globalen Rohstoffs, der sogenannte Throughput,956 ist schließlich derjenige Bereich, der als glokal charakterisiert werden kann. Denn die inhaltliche Darstellung orientiert sich an den vorgegeben thematischen Rahmen als auch an den verfügbaren lokalen Ressourcen. Fragestellungen, Akteure und Repräsentationsstrategien sind auf ein lokales Referenzsystem hin ausgerichtet. Dass die Integration lokaler Akteure im Spielformat dialogische Kommunikationsprozesse kaum zur Entfaltung bringen lässt, ist also auch öffentlichkeitstheoretisch erklärbar: Solange sich die Adaption auf eine spezifische Auswahl von lokalen Teilnehmern konzentriert, können Teilnehmer anderer Referenzsysteme nicht partizipieren und sich nicht in der Arena artikulieren. Die Repräsentanz der Meinungen von Akteuren ist notwendigerweise eingeschränkt. Denn während auf der Struktur- und Themenebene der »soziale Raum der Öffentlichkeit«957 theoretisch erweitert wird, wird die Themenbearbeitung und -verhandlung auf lokale Öffentlichkeitsstrukturen rückverlagert. Dadurch, dass im Sinne von Jürgen Habermas die Themenbearbeitung durch zivilgesellschaftliche Akteure (Privatpersonen) mitbestimmt wird und nicht allein durch professionalisierte und institutionalisierte Experten (Produzenten), wird die Richtung der öffentlichen Kommunikation »der Eigendynamik einer aus der Lebenswelt hervorgehenden Zivilgesellschaft überlassen«.958 Wenn die gesellschaftliche Funktion der Unterhaltung darin besteht, dass sie – in der Terminologie der Öffentlichkeitstheorie – Problemlagen privater Lebensbereiche überhaupt erst identifiziert und qua Laienkommunikation vermittelt, dass sie also unbeachtete Befindlichkeiten der »äußersten Peripherie« gewissermaßen aufs Tapet zu bringen ver955 Gerhards, Jürgen; Neidhardt, Friedhelm (1990): Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit, S. 16. 956 Ebd., S. 13. 957 Habermas, Jürgen (1992): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 436. 958 Ebd., S. 453.

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mag, dann bleibt dieser Vorgang zwangsläufig an lokale Lebenswelten gebunden.959 Hier wiederum lässt sich dann die oben geführte Argumentation der erfahrungsabhängigen kommunikativen Konstruktion von Kultur anschließen. Dennoch liegt gerade im Akteurstransfer das große Potenzial einer dialogischen Globalisierung. Dieses ist bereits zu Teilen in der deutschen Formatversion DAS SUPERTALENT angelegt, wo Zugangskontrollen und Selektionsmechanismen auch ausländische Kandidaten und Jurymitglieder integrieren. Diese Kandidaten wiederum sind zum Teil bereits in anderen Formatvarianten aufgetreten. Auch wenn die ausländischen Kandidaten in der deutschen Talentshow noch eher für die spektakulären Acts vorgesehen sind und ihre Partizipation vor allem auf die künstlerische Artikulation reduziert ist, so relativieren sie zumindest die Bedeutsamkeit von Sprachbarrieren in der Unterhaltungskommunikation. In der arabischen Formatvariante ARABS GOT TALENT gab es darüber hinaus in der dritten Staffel 2013 Aufregung um eine US-amerikanische Kandidatin, die sich auf der arabischen Bühne präsentierte. Diese Tatsache fand wiederum Beachtung in der deutschen Medienberichterstattung. Gleiches gilt auch für den palästinensischen Gewinner der arabischen Version von POP IDOL. Auch wenn solche Beispiele bisher eher selten zu finden sind, deuten sich an dieser Stelle aber Möglichkeiten einer globalen Öffentlichkeit an.960 Verschiebungen auf der Akteursebene hätten dann auch erwartbaren Einfluss auf der Ebene des Informationsoutputs, der in den meisten Fällen aber nicht von einer wechselseitigen Wahrnehmung geprägt ist, sondern ein solipsistischer Prozess bleibt. Die Anwendung von Informationen bleibt lokal. Diesbezüglich muss sogar gefragt werden, welche konkrete Handlungsrelevanz die lokalen Gespräche tatsächlich besitzen. Es besteht die Möglichkeit, dass die lokalen Gespräche über glokale Unterhaltungsangebote weitestgehend folgenlos bleiben, da Unterhaltung zu großen Teilen zunächst selbstreferenziell, also Selbstzweck ist. Auch wenn es sich um reale Akteure handelt, so sind es doch mediale Spiele, die ihren Eigengesetzlichkeiten folgen. Das gesellschaftliche oder kulturelle Wandlungspotenzial der Unterhaltung ist also zu allererst eine Heuristik. So werden beispielsweise in der Anschlusskommunikation Referenzen zur außermedialen Alltagswelt der Rezipienten nur in geringem Ausmaß hergestellt. Das Verhältnis zwischen Medienrealität und außermedialer sozialer Realität, das in 959 Habermas, Jürgen (1992): Faktizität und Geltung, S. 460f.; vgl. auch Gerhards, Jürgen; Neidhardt, Friedhelm (1990): Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit, S. 26f. sowie Kapitel 2.2.2. 960 Vgl. exemplarisch: Rützel, Anja: Arabische Talentshow: Die amerikanische Botschafterin. SPIEGEL ONLINE, 7. Dezember 2013; Zekri, Sonja: Amerikanerin verzaubert Arabien. SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 5. Dezember 2013; Yaron, Gil: Palästinenser feiern Mohammed Assaf. DER TAGESSPIEGEL, 24. Juni 2013.

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Halls Kommunikationskreislauf modelliert ist, wird in den Aushandlungen sogar eher in Zweifel gestellt. Dies muss nicht heißen, dass die Unterhaltungsangebote keine sinnhafte Resonanz im Dekodierungsvorgang erzeugen. Den Sendungen werden Bedeutungen zugeschrieben. Aber die Differenz zwischen professionellen Codes des Fernsehens und allgemeinen kulturellen Codes wird bewusst reflektiert. Die handlungspragmatischen Konsequenzen der Unterhaltungsaneignung definieren hier sicher einen wichtigen Ansatzpunkt für weitere Forschung. Somit bleibt zunächst festzuhalten, dass sich Möglichkeiten einer dialogischen Diskurskultur in der transkulturellen Unterhaltungskommunikation aus einer Erweiterung der Akteursebene ergeben. Diese kann entweder direkt oder indirekt, etwa über den Umweg der Auslandsberichterstattung wie im oben genannten Beispiel, zumindest den Boden für einen grenzüberschreitenden Dialog der Anschlusskommunikation ebnen. 5.2.2 Unterhaltungskommunikation als Wegbereiter eines »kulturellen Kosmopolitismus«? Trotz einer mangelnden dialogischen Globalisierung, die durch den Fernsehformattransfer realisiert ist, ist nicht gesagt, dass sie bewusste Formen der Transkulturalität verhindert. Um somit die zweite Anforderung an ein idealtypisches Globalisierungsverständnis am Fallbeispiel zu hinterfragen, soll erneut an die vorab zugrunde gelegten Öffentlichkeitsprozesse angeschlossen werden. Auf der Ebene des Informationsinputs ist sicherlich die bewusste Wahrnehmung synchroner transkultureller Unterhaltungsentwicklungen bei der globalen Funktionselite am meisten ausgeprägt. Die gegenseitige Beobachtung anderer Produktionskontexte durch die Produzenten hat aber auch gezeigt, dass hier eher klischeehafte Vorstellungen der eigenen und anderer Publikumsorientierungen und Produktionskulturen bestehen. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die mehrfach artikulierte Annahme der Produzenten, es existiere bereits ein transkulturelles und global orientiertes Publikum. In mehreren Interviews wurden Vermutungen darüber angestellt, dass eine gegenseitige Wahrnehmung von populärkulturellen Entwicklungen ohnehin längst gegeben sei. Es steht zu vermuten, dass hier die kosmopolitischen Funktionseliten ihre eigenen Wissensrahmen über transkulturelle Praktiken und Texte möglicherweise zu stark auf ein imaginiertes Publikum übertragen. Die Ebene der Informationsverarbeitung wiederum beschreibt vor allem einen Zwischenraum der bewussten und unbewussten Verhandlung von Transkulturalität. Innerhalb der Sendungen finden sich durchaus zahlreiche transkulturelle Orientierungen wieder – an Wissen oder an Popkultur –, die gerade im Anschluss an die eingangs geführte Diskussion um Hybridisierungsdynamiken zeigen, dass selbst die lokale Alltagswelt eben nicht gänzlich hermetisch abgeriegelte Kultursysteme re-

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produziert, sondern auch die Alltagspraktiken von transkulturellen Referenzen durchdrungen sind. Allein diese neue Hybridität der Unterhaltungskommunikation bleibt eine Form der »fremdelnden Hybridisierung«. Denn eine bewusste Anerkennung von Differenz und eine gelebte Transkulturalität ist allenfalls im Ansatz nachweisbar. Die junge Amerikanerin, die Fan arabischer Oud-Klänge und von Umm Kulthum ist, artikuliert ihre hybride Orientierung eben auf der arabischen Bühne, nicht jedoch auf der US-amerikanischen. Über den Gewinner der arabischen POP IDOL-Version wird zwar in deutschen Medien berichtet, der jungen Mann wird aber mit seinem Gesang nicht im deutschen Format präsentiert. Andersherum feiert das arabische Publikum lokale Hip-Hop-Interpretationen, integriert aber keinen USamerikanischen Rapper. Es zeichnet sich hier nach wie vor eine »one-way-Hybridisierung« ab, die das Bewusstsein eher in Richtung eines mitunter klischeehaften Multikulturalismus lenkt. Immerhin deuten sich aber gerade in den neuen Talentformaten Möglichkeiten eines multikulturellen Bewusstseins an, indem sie Vielfalt integrieren und Grenzen der Partizipation eher verschwimmen. In diesem Potpourri werden allerdings eher Repräsentationen einer essenzialistischen Transkulturalität generiert. Diese Form der Repräsentation von Transkulturalität übersetzt sich auch in den Informationsoutput. Ein Bewusstsein darüber, dass diese Form der Fernsehunterhaltung ein transkulturelles Phänomen ist, das dem eigenen Referenzsystem übergeordnet ist, ist durchaus auch bei den lokalen Rezipienten zu finden. Nicht selten fällt hier auch das Stichwort »Globalisierung« in den Diskussionen. Das Wort bleibt aber eher Chiffre der amerikanischen Standardisierung, wobei die USA als kulturelle Quelle aller Unterhaltungsimpulse angesehen wird. Es besteht also ein vages Bewusstsein, dass Strukturen der Unterhaltung geteilt werden. Ein Interesse am Fremdverstehen und Dialog setzt dies jedoch nicht zwangsläufig frei. Die bewusste Transkulturalität ist noch am stärksten bei den ägyptischen Gruppen zu finden, wobei es sich hier eben nach wie vor um Formen einer populärkulturellen USA-Orientierung handelt. Das Potenzial der Anschlussfähigkeit, das im Wertegleichklang der Fernsehkritik liegt, wird nicht bewusst berührt. Die Möglichkeiten transkultureller Kommunikation auch abseits der Strukturebene von Unterhaltungsangeboten werden weniger bewusst gemacht. Differenzwahrnehmungen kultureller Codes überwiegen hier den Blick auf andere Formatvarianten. Der bewusste Zeichentransfer übersetzt sich also nicht vollständig in einen bewussten wie unbewussten Wissenstransfer. Die wechselseitigen Anschlussmöglichkeiten, die von transkulturellen Mustern der Unterhaltungskommunikation geschaffen werden, sind in der Bilanz eher utopische Theorie und keine empirische Realität. Die bewusste Anerkennung von Transkulturalität auf der Akteursebene ist sowohl auf Produktions- wie auch auf Rezeptionsebene noch nicht realisiert. Die Möglichkeit, sowohl innerhalb von Fernsehsendungen als auch in nachgelagerten Diskussionen über dieselben grenzüberschreitend ins Gespräch zu kommen, deutet

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hier vielleicht die zentrale gesellschaftliche Bedeutung der Fernsehunterhaltung im 21. Jahrhundert an. Das Format MILLIONÄR steht metaphorisch dafür, dass diese Form der Globalisierung noch nicht gelebte Praxis ist: Denn wir alle spielen heute zwar das gleiche Spiel nach den gleichen Regeln, aber wir können (und wollen?) noch nicht miteinander spielen. Denn was uns das Format vorführt, ist, dass wir nur wenig über den anderen wissen. Ein Mitspielen im Parallelformat bleibt also schwierig, wenngleich es möglich geworden ist. Die »formatierte Weltkultur«, die im Titel dieser Arbeit angelegt ist, erscheint insofern am Ende als contradictio in adiecto, da die Formatierung von Unterhaltung immer auch eine Begrenzung von Kommunikation und damit von Kultur begünstigt. Zum potenziellen Wegbereiter einer diskursiven und bewussten Globalisierung können Formatierungspraktiken dennoch werden, wenn wir die weltweit entstehenden Strukturähnlichkeiten als Übersetzungshilfen nutzen und nicht nur die Reproduktion, sondern auch die Weiterentwicklung lokaler Codesysteme durch ein bewusstes Interesse am Anderen anerkennen.

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Anhang

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ABC ARD BBC CBS CEO DGPuK DSDS FRAPA IAMCR LBC MBC MIPCOM MIPTV MTV NATPE OFCOM RTL UFA WOCMES ZDF

American Broadcasting Company Arbeitsgemeinschaft der öffentlich rechtlichen Rundfunkanstalten in der Bundesrepublik Deutschland British Broadcasting Company Columbia Broadcasting System Chief Executive Officer (Geschäftsführer/Vorstand) Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft Deutschland sucht den Superstar Format Recognition And Protection Association International Association of Media and Communication Research Lebanese Broadcasting Company Middle East Broadcasting Company Marche International des Films et des Programmes pour la TV, la Vidéo le Câble et les Satellites Marche International des Films et des Programmes pour la TV Murr Television National Association of Television Program Executives Office of Communication Radio Télé Luxembourg Organization Universum Film AG World Congress of Middle East Studies Zweites Deutsches Fernsehen

472 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ?

ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1:

Kernbestandteile des Fernsehformats | 25

Abbildung 2:

Aufbau der Arbeit | 54

Abbildung 3:

Kommunikationskreislauf – rekreativer Modus der Bedeutungsproduktion bei informationsbetonten Genres | 75

Abbildung 4:

Kommunikationskreislauf – kreativer Modus der Bedeutungsproduktion bei unterhaltungsbetonten Genres | 76

Abbildung 5:

Beteiligte Akteure am Formathandel | 79

Abbildung 6:

Einflussdimensionen auf den Reproduktionsprozess | 85

Abbildung 7:

Einflussdimensionen auf den Rezeptionsprozess | 102

Abbildung 8:

Modell der »kulturellen Nähe« im Text-Rezipienten-Verhältnis | 142

Abbildung 9:

Modell der grenzüberschreitenden Unterhaltungskommunikation | 173

Abbildung 10:

Analysedesign | 177

Abbildung 11:

Gesamtverteilung der inhaltlichen Kategorien der Fragen in den untersuchten Versionen von MILLIONÄR | 219

Abbildung 12:

Verteilung der formalen Wissensklassifikationen in den Fragen der untersuchten Versionen von MILLIONÄR | 221

Abbildung 13:

Inhaltliche Bezüge zu gesellschaftlichen Referenzsystemen in den Fragen der untersuchten Versionen von MILLIONÄR | 223

Abbildung 14:

Zeitliche Bezüge in den Fragen der untersuchten Versionen von MILLIONÄR | 226

Abbildung 15:

Verteilung der Genres künstlerischer Darbietungen in den untersuchten Versionen von GOT TALENT | 268

Abbildung 16:

Modi der künstlerischen Artikulation in den untersuchten Versionen von GOT TALENT | 270

Abbildung 17:

Geo-kulturelle Referenzen der künstlerischen Artikulation in den untersuchten Versionen von GOT TALENT | 273

Abbildung 18:

Nationale Herkunft der Teilnehmer in ARABS GOT TALENT | 278

Abbildung 19:

Professionalisierung der Darbietungen in den untersuchten Versionen von GOT TALENT | 284

A NHANG | 473

T ABELLENVERZEICHNIS Tabelle 1:

Übersicht über die realisierten Gruppendiskussionen | 198

Tabelle 2:

Übersicht über realisierte Experteninterviews | 202

Tabelle 3:

Übersicht über das verwendete Datenmaterial | 208

Tabelle 4:

Inhaltsanalytische Vergleichsdimensionen von WER WIRD MILLIONÄR und MAN SAYARBAH AL-MALYOON | 257

Tabelle 5:

Inhaltsanalytische Vergleichsdimensionen von DAS SUPERTALENT und ARABS GOT TALENT | 299

Tabelle 6:

Dekodierung der allgemeinen Bedeutungsdimensionen der untersuchten Versionen von GOT TALENT | 319

Tabelle 7:

Dekodierung der allgemeinen Bedeutungsdimensionen der untersuchten Versionen von MILLIONÄR | 323

Tabelle 8:

(Trans-)Kultureller Diskurs um Authentizität in der Anschlusskommunikation über GOT TALENT | 331

Tabelle 9:

(Trans-)Kultureller Diskurs um Authentizität in der Anschlusskommunikation über MILLIONÄR | 334

Tabelle 10:

Normativer Diskurs in der Anschlusskommunikation über GOT TALENT | 339

Tabelle 11:

Identitätsdiskurs in der Anschlusskommunikation über GOT TALENT | 349

Tabelle 12:

Identitätsdiskurs in der Anschlusskommunikation über MILLIONÄR | 352

Tabelle 13:

(Trans-)Kulturelle Wissensrahmen in den Gruppendiskussionen | 367

474 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ?

H INWEISE ZUR T RANSKRIPTION UND S CHREIBWEISE D ATENMATERIALS

DES

Die in der Arbeit integrierten Interview- und Diskussionsausschnitte sowie Sendungszitate basieren auf Basistranskripten der durchgeführten Gruppendiskussionen und Experteninterviews und auf Sendungsprotokollen. Die Passagen der Gruppendiskussionen wurden für die Lesbarkeit nur leicht bereinigt, etwa bei grammatikalischen Fehlern des Englischen und bei dialektalen Einfärbungen. Die Aussagen aus den Experteninterviews wurden in Hinblick auf Satzbau, Grammatik, gedankliche Wiederholungen und Klarheit der Aussagen umfangreicher sprachlich bereinigt, nicht aber sinnentstellt. Die deutschen Übersetzungen der arabischen Sendungsprotokolle, die arabische Muttersprachler angefertigt haben, wurden ebenfalls sprachlich geglättet. Auf die im ursprünglichen Transkript gesetzten Zeitmarken in wurde für die Lesbarkeit des Textes im vorliegenden Buch verzichtet. Die Namen aller Gruppendiskussionsteilnehmer wurden geändert und somit anonymisiert. Die Bezeichnungen der Diskussionen und Interviews orientieren sich an den Bezeichnungen der eingangs dargestellten Datengrundlage. Anmerkungen zum vereinfachten Transkriptionssystem: [kursiv] […] (…) …/… GROSS

Anmerkungen der Autorin zu nonverbalen Aussagen Auslassungen von Passagen aus der Diskussion oder des Redebeitrags Längere Pause in den Diskussionen Abgebrochener Gedanke bzw. ins Wort gefallen extra betonte Aussprache

A NHANG | 475

L EITFADEN

DER

G RUPPENDISKUSSIONEN

Leitkategorie I: Nacherzählung Was habt ihr gerade gesehen? Wie würdet ihr jemandem (etwa einem Freund, der gerade nicht mitgeschaut hat) erzählen, was ihr gerade gesehen habt? 3. Worum ging es? Was wurde hier erzählt/gezeigt? Leitkategorie II: Selbstreflexion über Reaktionen zur Rezeption 4. Was ging euch durch den Kopf während ihr den Ausschnitt gesehen habt? Leitkategorie III: Direkte Evaluation 5. Würdet ihr denn jetzt weiterschauen wollen? (Warum?) 6. Wie schaut ihr die Sendung für gewöhnlich? Leitkategorie IV: Interpretation 7. Hat die Sendung Eurer Meinung nach eine Message? Oder: Was vermittelt die Sendung Eurer Meinung nach? 8. Sagt die Sendung etwas über die Gesellschaft aus? 9. Findet ihr in dem Ausschnitt etwas, wovon ihr sagen würdet: hier finde ich mich wiedergespiegelt? Oder: hier sehe ich »meine Kultur« wiedergespiegelt? Leitkategorie V: Inhaltliche Feinjustierung 10. Welche Bedeutung haben die Fragen/Talente für Euch? (fakultativ, falls in Diskussion nicht angesprochen) Leitkategorie VI: Perzeption der Figuren/Akteure 11. Wie findet ihr denn …? 12. Wer steht für Euch im Zentrum der Sendung? Wie findet ihr denn die Jurymitglieder? / Welche Rolle haben die so für Euch? / Wie findet ihr den Umgang der Jury mit den Kandidaten? Wie findet ihr denn die Teilnehmer? Welche Rolle spielen die Moderatoren für Euch? Wie findet ihr das Saalpublikum? Leitkategorie VII: Identifikation 13. Fühlt Ihr Euch denn selbst in der Sendung irgendwie widergespiegelt, angesprochen? Findet Ihr Euch selbst irgendwo wieder? Leitkategorie VIII: Darstellung 14. Woran kann man die Sendung denn erkennen? 15. Was sind für Euch charakteristische Merkmale der Sendung? Leitkategorie VIV: Einordnung Fernsehprogramm 16. Ist das Programm Eurer Meinung nach charakteristisch für Fernsehprogramm im Allgemeinen? 17. Was macht denn die Sendung so erfolgreich? (fakultativ) Leitkategorie X: Änderungen 18. Wenn ihr etwas an der Sendung ändern könntet, was wäre das? (fakultativ) Abschluss/Ausstieg 19. Was geht Euch noch durch den Kopf, was ihr noch nicht diskutiert habt? 20. Habt ihr Anmerkungen zur Diskussion? Wie empfandet ihr die Diskussion? 1. 2.

476 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ? Leitkategorie XI: Interkultureller Vergleich Was ist Eure spontane Reaktion zu dieser Version? Wie fandet ihr die Version im Vergleich? Was ist Euch aufgefallen? Hat Euch etwas überrascht?  Die Leitfragen dienten als Orientierung und wurden den jeweiligen Dynamiken der Gruppendiskussionen angepasst. 21. 22.

A NHANG | 477

L EITFADEN

DER

E XPERTENINTERVIEWS

Einleitung Vorstellung eigener Arbeit und des Forschungsinteresses. Einverständnis zum Mitschnitt. I Einführung (Anregung des Gesprächs, assoziative Rekonstruktion) 1. Rollen des Experten/ der Expertin im Produktionskontext 1.1 Können Sie bitte Ihre Rolle bzw. Ihren Anteil an der Produktion der Sendung im Rückblick beschreiben? Welche Aufgaben lagen in Ihrer Verantwortung? 1.2 Welche Entscheidungen haben Sie konkret getroffen? Welche Entscheidungskompetenzen lagen in Ihrer Hand? 1.3 Wie lief die Entscheidungsfindung zur Reproduktion des Formats ab? 2. Rekonstruktion der organisationalen Strukturen 2.1 Welche Abhängigkeiten gab es während der Produktion? Konnten Sie Produktionsentscheidungen ganz allein treffen? Wer hat welche Entscheidungen mit beeinflusst? II Rekonstruktion der Produktion und Adaption 3. Faktoren der Entscheidung 3.1 Können Sie sich daran erinnern, warum damals die Entscheidung fiel, die Sendung zu produzieren? 3.2 Was waren Ihrer Meinung nach entscheidende Faktoren für die Produktion? 3.3 Gab es Probleme oder Schwierigkeiten, die Produktion durchzubekommen? 4. Ablauf der Adaption 4.1 Mich interessiert insbesondere der Prozess der Adaption – Können Sie mir ganz allgemein beschreiben, wie man sich die Adaption eines Formats vorzustellen hat? 4.2 Es gibt ja Sender, die Auftraggeber sind, Produktionsunternehmen und unabhängige Rechtehändler – bei wem liegt konkret die Aufgabe, die Produktion an das heimische Publikum anzupassen? Und wie war dies im Falle der Sendung? Ist dies typisch für Formatadaptionen? 4.3 Wie überlegt man sich, wie die Produktion für die dt./arab. Fernsehlandschaft angepasst werden könnte? 4.4 Gibt es allgemeine Regeln darüber, was in Dtl./der arab. Welt funktioniert und was nicht? III Deutung der Sendung 5. Interpretation der Adaptionen 5.1 Was ist denn Ihrer Meinung nach das »Spezifische« der dt./arab. Adaptionen? Was zeichnet die deutsche/arabische Adaption aus? 5.2 Was macht Ihrer Meinung nach den großen Erfolg der Sendung hierzulande aus? 5.3 Wie würden Sie die Sendung aus Ihrer Sicht beschreiben - worum geht es eigentlich? 5.4 Was ist der Kern des Konzepts? 5.5 An wen richtet sich das Format nach Ihrer Meinung? Wen hatten Sie vor Augen bei der Produktion? 5.6 Welche Bedeutung hat die Sendung für die deutsche Fernsehlandschaft gespielt? 5.7 Warum funktioniert das Format Ihrer Meinung nach weltweit? Was macht den großen Erfolg aus? 5.8 Kennen Sie denn andere Versionen der Show? Inwiefern unterscheiden sich hier Darstellungs- wie auch Erfolgsfaktoren?

478 | F ORMATIERTE W ELTKULTUR ? Was sind die größten Veränderungen, an die Sie sich erinnern können? Gab es auch Veränderungen, die Sie nicht durchsetzen konnten? 5.9 Welche Bedeutung hat die Sendung für die dt./arab. Fernsehlandschaft gespielt? IV Deutung des Formathandels / der Formatierungspraxis 6. Expertenwissen über den Handlungskontext 6.1 Welche Entwicklungen hat der Formathandel Ihrer Meinung nach in den letzten Jahren genommen? 6.2 Sie kennen die Formatszene gut: wie schätzen Sie den Einfluss ein, den internationale Formate auf die dt./arab. Fernsehlandschaft haben bzw. gehabt haben? Gibt es so etwas wie »kulturelle Einflüsse«? Gibt es so etwas wie unterschiedliche »Produktionskulturen«? Wie hat sich der Formathandel strukturell auf die dt./arab. Fernsehproduktion ausgewirkt? 6.3 Welche Probleme und Potenziale sehen Sie für das dt./arab. Unterhaltungsfernsehens vor dem Hintergrund der globalen Strukturen der Unterhaltungsproduktion? 6.4 Hat sich Ihrer Meinung nach das Publikumsverhalten seit der verstärkten Adaption von Formaten verändert? 6.5 Was macht Formathandel heute nach wie vor interessant?  Die Leitfragen dienten als Orientierung und wurden jeweils an die spezifischen Berufsrollen und die zur Verfügung stehende Interviewzeit angepasst.

Edition Medienwissenschaft Thomas Morsch, Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky (Hg.) Post TV – Debatten zum Wandel des Fernsehens Januar 2017, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2933-0

Stefan Hauser, Roman Opilowski, Eva L. Wyss (Hg.) Alternative Öffentlichkeiten Soziale Medien zwischen Partizipation, Sharing und Vergemeinschaftung November 2016, ca. 270 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3612-3

Sven Grampp, Jens Ruchatz Die Fernsehserie Eine medienwissenschaftliche Einführung September 2016, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,99 €, ISBN 978-3-8376-1755-9

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Julia Genz, Paul Gévaudan Medialität, Materialität, Kodierung Grundzüge einer allgemeinen Theorie der Medien Juli 2016, 238 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3600-0

Gundolf S. Freyermuth Games | Game Design | Game Studies Eine Einführung 2015, 280 Seiten, kart., 17,99 €, ISBN 978-3-8376-2982-8

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