Das Buch liefert einen Überblick über die zentralen forensisch-psychologischen Fragestellungen im Bereich des Strafrecht
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German Pages 160 [161] Year 2010
Table of contents :
Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren
Inhaltsverzeichnis
1 Grundlagen forensischer Sachverständigentätigkeit
1.1 Rechtliche Grundlagen
1.2 Besonderheiten forensisch-psychologischer Diagnostik
2 Aussagepsychologische Begutachtung
2.1 Aussagepsychologische Fragestellungen
2.2 Aussagetüchtigkeit
2.3 Glaubhaftigkeit der Aussage
2.4 Zur Praxis der aussagepsychologischen Begutachtung
3 Die Begutachtung der Gefährlichkeits- und Kriminalprognose des Rechtsbrechers
3.1 Grundlagen
3.2 Kriminalprognostische Urteilsbildung
3.3 Zum praktischen Ablauf der Begutachtung und zum Aufbau des Prognosegutachtens
4 Die Begutachtung der Schuldfähigkeit, strafrechtlichen Verantwortlichkeit und Entwicklungsreife
4.1 Die Begutachtung der Schuldfähigkeit gemäß §§ 20, 21 StGB
4.2 Die Begutachtung der strafrechtlichen Entwicklungsreife junger Täter
Literatur
RenateVolbert·Klaus-PeterDahle
Forensisch-psychologische DiagnostikimStrafverfahren
Kompendien Psychologische Diagnostik
Band 12
Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren
© 2010 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Volbert/Dahle: Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren.
Kompendien Psychologische Diagnostik Band 12 Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren von Prof. Dr. Renate Volbert und PD Dr. Klaus-Peter Dahle Herausgeber der Reihe:
Prof. Dr. Franz Petermann und Prof. Dr. Heinz Holling © 2010 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Volbert/Dahle: Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren.
Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren
von Renate Volbert und Klaus-Peter Dahle
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Prof. (apl.) Dr. Renate Volbert, geb. 1957. 1976–1982 Studium der Psychologie in Bochum und Bielefeld. 1990 Promotion. 2003 Habilitation. Seit 1984 tätig am Institut für Forensische Psychiatrie der Charité – Universitätsmedizin Berlin. 2009 Ernennung zur außerplanmäßigen Professorin (FU Berlin). Fachpsychologin für Rechtspsychologie BDP/DGPs. Tätigkeit als forensisch-psychologische Sachverständige, vornehmlich zu Fragen der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen. Forschungsschwerpunkte: Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen, Suggestion, Interkulturelle Glaubhaftigkeitsattribution, Geständnisverhalten, Psychologische Implikationen rechtlicher Regelungen zum Umgang mit geschädigten Zeugen. PD Dr. Klaus-Peter Dahle, geb. 1960. 1981–1987 Studium der Psychologie in Bonn. 1995 Promotion. 2005 Habilitation. Seit 1988 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Forensische Psychiatrie der Charité – Universitätsklinik Berlin. Psychologischer Psychotherapeut (Verhaltenstherapie), Fachpsychologe für Klinische Psychologie/Psychotherapie und Fachpsychologe für Rechtspsychologie. Tätigkeit als forensisch-psychologischer Sachverständiger, vor allem zu Fragen der Kriminalprognose, der Lockerungseignung, der strafrechtlichen Schuldfähigkeit psychisch gestörter Rechtsbrecher und zur Entwicklungsreife junger Täter. Forschungsschwerpunkte: Methoden der Kriminalprognose, kriminelle Karrieren, Tatverhaltensmuster bei Sexualdelinquenz, Straftäterbehandlung, Psychophysiologische Methoden der Täterschaftsdiagnostik, junge Gewalttäter. Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat für die Wiedergabe aller in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen etc.) mit Autoren bzw. Herausgebern große Mühe darauf verwandt, diese Angaben genau entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abzudrucken. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handele.
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Inhaltsverzeichnis 1
Grundlagen forensischer Sachverständigentätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1.1 1.2
Rechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten forensisch-psychologischer Diagnostik . .
9 15
2
Aussagepsychologische Begutachtung . . . . . . . . .
18
2.1 2.2 2.2.1
Aussagepsychologische Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . Aussagetüchtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungsbedingte Beeinträchtigungen der Aussagetüchtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autobiografische Gedächtnisleistungen . . . . . . . . . . . . . . . Unterscheidung zwischen Realität und Fantasie . . . . . . . . Entwicklungsverlauf der Aussagetüchtigkeit . . . . . . . . . . . Psychopathologisch bedingte Beeinträchtigungen der Aussagetüchtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glaubhaftigkeit der Aussage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erlebnisentsprechende versus erfundene Darstellungen . . . Theoretische Modelle zur Unterscheidung zwischen wahren und erfundenen Darstellungen . . . . . . . . Inhaltsanalytischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systeme für merkmalsorientierte Qualitätsanalysen . . . . . Aussageübergreifende Qualität: Konstanz . . . . . . . . . . . . . Aussagebeurteilung unter Berücksichtigung relevanter Randbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Motivationale Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesamtprüfung der Falschbezichtigungshypothese . . . . . . Erlebnisentsprechende versus suggerierte Aussagen . . . . . Fremdsuggestive Prozesse bei Kindern . . . . . . . . . . . . . . . Fremd- und autosuggestive Prozesse bei Jugendlichen und Erwachsenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Suggestionsfördernde Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterschiede zwischen erlebnisentsprechenden und suggerierten Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prüfung der Suggestionshypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18 19
2.2.1.1 2.2.1.2 2.2.1.3 2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.1.1 2.3.1.2 2.3.1.3 2.3.1.4 2.3.1.5 2.3.1.6 2.3.1.7 2.3.2 2.3.2.1 2.3.2.2 2.3.2.3 2.3.2.4 2.3.2.5
21 21 23 27 28 30 32 32 33 36 41 43 48 49 52 52 54 56 58 59 5
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2.3.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4
Gesamtbeurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Praxis der aussagepsychologischen Begutachtung . . . Aktenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchung des Probanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befragung von Drittpersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dokumentation der erhobenen Daten . . . . . . . . . . . . . . . . .
60 62 62 63 65 66
3
Die Begutachtung der Gefährlichkeitsund Kriminalprognose des Rechtsbrechers . . . . .
67
3.1 3.1.1 3.1.2 3.2 3.2.1 3.2.1.1 3.2.1.2 3.2.1.3 3.2.1.4 3.2.1.5 3.2.1.6 3.2.2 3.2.2.1 3.2.2.2 3.2.2.3 3.2.2.4 3.2.2.5 3.2.3 3.3
Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtliche Fragestellungen und Anforderungen . . . . . . . . Grundlegende methodische Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . Kriminalprognostische Urteilsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . Aktuarische Einschätzung der (statistischen) Ausgangsrisiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . Standardinstrumente zur Einschätzung allgemeiner Rückfallrisiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Standardinstrumente zur Einschätzung gewalttätiger Rückfallrisiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Standardinstrumente zur Einschätzung der Rückfallrisiken bei Sexualdelinquenz . . . . . . . . . . . . . Spezielle Prognoseinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Integrative Beurteilung der aktuarischen Ausgangsrisiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezielle Gesichtspunkte bei der Interpretation und Darstellung aktuarischer Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . Idiografische Einschätzung der individuellen Rückfallrisiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schritt 1: Die Begründung einer individuellen Kriminaltheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schritt 2: Die Begründung einer individuellen Entwicklungstheorie . . . . . . . . . . . . . . Schritt 3: Kriminalpsychologische IST-Stand Diagnose . . . Schritt 4: Die Projektion in die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . Die idiografische Kriminalprognose . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschließende integrative Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . Zum praktischen Ablauf der Begutachtung und zum Aufbau des Prognosegutachtens . . . . . . . . . . . . .
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Die Begutachtung der Schuldfähigkeit, strafrechtlichen Verantwortlichkeit und Entwicklungsreife . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
4.1
Die Begutachtung der Schuldfähigkeit gemäß §§ 20, 21 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Eingangsmerkmale des § 20 StGB . . . . . . . . . . . . . . . Krankhafte seelische Störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwachsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwere andere seelische Abartigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . Tiefgreifende Bewusstseinsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beurteilung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit . . . . . Einsichtsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steuerungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen zur Beurteilung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit bei verschiedenen Störungen . . . . . . . Die Begutachtung der strafrechtlichen Entwicklungsreife junger Täter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Begutachtung der strafrechtlichen Entwicklungsreife jugendlicher Täter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die bedingte Strafmündigkeit Jugendlicher . . . . . . . . . . . . Sittliche und geistige Entwicklungsreife . . . . . . . . . . . . . . Einsichtsfähigkeit und Fähigkeit zum einsichtsgemäßen Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgehen bei der idiografischen Einschätzung der strafrechtlichen Strafmündigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezielle Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Begutachtung der strafrechtlichen Zuweisung heranwachsender Täter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die relativierte Strafmündigkeit Heranwachsender . . . . . . Spezielle methodische Ansätze zur Beurteilung des Entwicklungsstands Heranwachsender . . . . . . . . . . . . Vorgehen bei der idiografischen Einschätzung der Entwicklungsreife Heranwachsender und ihrer Tat(en) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1.1 4.1.2 4.1.2.1 4.1.2.2 4.1.2.3 4.1.2.4 4.1.3 4.1.3.1 4.1.3.2 4.1.4 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.2.1 4.2.2.2 4.2.2.3 4.2.2.4 4.2.2.5 4.2.3 4.2.3.1 4.2.3.2 4.2.3.3
116 116 117 117 117 117 119 120 120 121 121 126 126 130 130 132 134 136 141 142 142 146 149
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
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1 Grundlagen forensischer Sachverständigentätigkeit Renate Volbert
1.1 Rechtliche Grundlagen Eine explizite gesetzliche Definition des Sachverständigen gibt es nicht. Ein forensischer Sachverständiger soll aufgrund seiner besonderen Sachkunde die Sachaufklärung von Gerichten unterstützen. Rechtlich gesehen ist der Sachverständige neben dem Zeugen ein persönliches Beweismittel. Die Zuziehung eines Sachverständigen ist immer dann geboten, wenn dem Gericht die nötige Sachkunde fehlt. Im Strafverfahren folgt aus der richterlichen Aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. II StPO, dass bei fehlender Sachkunde in einer beweiserheblichen Frage ein Sachverständiger hinzugezogen werden muss. Misst sich das Gericht unzutreffenderweise eine eigene Sachkunde zu, so ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs damit die Revision begründet. Darüber hinaus schreibt das Gesetz in einer Reihe von Einzelvorschriften die Zuziehung eines Sachverständigen vor (z. B. Anhörung eines Sachverständigen vor der Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer lebenslangen Freiheitsstrafe).
Begriff des Sachverständigen
Sachverständigentätigkeit kann sich beziehen auf: • die Übermittlung von Erfahrungsgrundsätzen der psychologischen Wissenschaft, • die Feststellung bestimmter Tatsachen, die eine bestimmte Sachkunde erfordert, • Beurteilungen bestimmter Tatsachen aufgrund der Erfahrungssätze der Psychologie (vgl. Jessnitzer & Frieling, 1992).
Formen von Sachverständigentätigkeit
Zuziehung von Sachverständigen
In der Mehrzahl werden individualdiagnostische Begutachtungen vorgenommen. Auf der Basis der Kenntnis der Aktenlage (Ermittlungs-, Vollstreckungs-, Gefangenenakten usw.) werden dabei vom Sachverständigen eigene Untersuchungen durchgeführt und mit seinen spezifischen psychologischen Methoden zusätzliche Daten erhoben. Bei der gutachterlichen Beurteilung sind dabei sowohl die mit seinen besonderen Methoden erhobenen Befunde (sog. Befundtatsachen), als auch die Informationen, die ihm 9 © 2010 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Volbert/Dahle: Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren.
aus anderen Quellen bekannt werden (Akteninhalt oder Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung; sog. Anknüpfungstatsachen) zu berücksichtigen. Keine Prüfung von Rechtsfragen
Die Aufgabe eines psychologischen Sachverständigen besteht nicht in der Prüfung von Rechtsfragen, sondern in der sachkundigen Aufbereitung von Voraussetzungen zur Klärung von Rechtsfragen. Er hat sich auf die vom Gericht gestellte Frage zu beschränken, hat keine allgemeinen Überlegungen anzustellen und keine Beweiswürdigung vorzunehmen.
Keine Abweichung vom Beweisbeschluss
Die einen Sachverständigen beauftragenden Beweisbeschlüsse eines Gerichts geschehen nicht im Rahmen vertraglicher Gestaltungsfreiheit, sondern stellen Rechtsanwendung dar. Schon deswegen steht es einem Sachverständigen nicht zu, eigenmächtig vom gerichtlichen Beschluss abzuweichen. Hält der Sachverständige einen Beweisbeschluss für verfehlt, muss er mit seinem Auftraggeber Kontakt aufnehmen und eine Klärung herbeiführen (Bayerlein, 1996).
Auswahl des Sachverständigen
Die Auswahl eines Sachverständigen erfolgt gemäß § 73 StPO nach pflichtgemäßem Ermessen durch das Gericht,1 wobei Staatsanwaltschaft, Verteidigung oder Nebenklagevertretung geeignete Personen als Sachverständige vorschlagen können. Maßgebliches Auswahlkriterium ist neben der persönlichen Eignung die fachliche Kompetenz für die Beantwortung der zu klärenden Fragen.
Sachkunde
Der Sachverständige soll ein Spezialist auf einem eng definierten Sachgebiet sein, das in der Regel den Teilbereich eines Berufes bildet. Zur Ausübung der Sachverständigentätigkeit genügt deswegen die allgemein von einem Angehörigen dieses Berufs erwartete Sachkunde in der Regel nicht (Bayerlein, 1996). Es geht vielmehr um besondere Kenntnisse in einem spezifischen Bereich. Die Beherrschung des eigenen Fachs sollte darüber hinaus aber auch selbstverständlich sein. Der Sachverständige muss erkennen können, wenn Fragen auf der Basis der Erkenntnis der eigenen Fachdisziplin nicht zu beantworten sind und muss diese abgrenzen können von Fragen, die er nicht beantworten kann, weil ihm persönlich die prinzipiell vorhandene Sachkunde fehlt. Ferner sollte er mindestens Grundkenntnisse der Rechtsgebiete besitzen, deren Fragen er bearbeitet. Der Nachweis der erforderlichen besonderen Sachkunde kann beispielsweise durch einschlägige Berufspraxis oder eine wissenschaftliche Beschäftigung mit einer spezifischen Fragestellung erfolgen. Die Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen bietet seit 2000 eine Weiterbildung zum Fachpsychologen für Rechtspsychologie an, mit der eine erweiterte und vertiefte wissenschaftliche und berufliche Quali-
Nachweis der Sachkunde
1 Im Strafverfahren kann dies vor Eröffnung des Hauptverfahrens auch durch die Staatsanwaltschaft erfolgen (§ 161a StPO); Rechte und Pflichten für die Sachverständigen gelten in diesem Fall genauso, als wenn der Sachverständige vom Gericht beauftragt wäre.
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fikation für die psychologische Tätigkeit im Rechtswesen erreicht werden soll und nachgewiesen werden kann. Zwar ist die Absolvierung einer solchen Weiterbildung nicht notwendige Voraussetzung für forensisch-psychologische Sachverständigentätigkeit, die Einrichtung dieser Weiterbildung hat jedoch erheblich zur Qualitätssicherung forensisch-psychologischer Gutachtentätigkeit beigetragen und erleichtert den Gerichten die Auswahl geeigneter Personen. Mit der Auswahl und Beauftragung eines Sachverständigen durch das Gericht bzw. die Staatsanwaltschaft wird den bestellten Personen die erforderliche Sachkunde aber lediglich unterstellt. Merke: Aus der allgemeinen Sorgfaltspflicht des Sachverständigen ergibt sich, dass dieser zu prüfen hat, ob die richterliche Fragestellung auch tatsächlich in sein Fachgebiet fällt, d. h. ob der für die relevante Fragestellung aktuelle Wissensstand präsent ist bzw. in seiner Spezifität in vertretbarer Zeit angeeignet werden kann.
Prüfung der eigenen Sachkunde
Ein Sachverständiger darf keinen Gutachtenauftrag übernehmen, für den er fachlich nicht kompetent ist. Prüft ein bestellter Sachverständiger nicht, ob er über ausreichende Sachkunde verfügt und erstattet ein mit Mängeln behaftetes Gutachten, so können hieraus Schadensersatzansprüche erwachsen (vgl. Greuel et al., 1998). Neben der Sachkunde ist die Objektivität das wichtigste Merkmal der Sachverständigentätigkeit. Das Handeln darf allein an fachlichen Maßstäben ausgerichtet sein und nicht subjektiven Beweggründen folgen. Ein Sachverständiger muss eine neutrale Position einnehmen, d. h. er muss unparteiisch sein und darf sich nicht mit dem Interesse eines Beteiligten identifizieren. Kenntnisse, die der Sachverständige im Rahmen seiner Tätigkeit erlangt hat, darf er nicht unbefugt Dritten mitteilen; die Verletzung der Schweigepflicht ist gemäß § 203 StGB strafbar. Dem Gericht gegenüber ist er hingegen – soweit sein Auftrag reicht – aussageberechtigt und -verpflichtet (vgl. Zuschlag, 2002).
Sachverständigenpflichten
Wenn eine Person „die Wissenschaft, die Kunst oder das Gewerbe, deren Kenntnis Voraussetzung der Begutachtung ist, öffentlich zum Erwerb ausübt oder wenn er zu ihrer Ausübung öffentlich bestellt oder ermächtigt ist“, ist diese gemäß § 75 StPO ebenso wie öffentlich bestellte Gutachter zur Erstattung des Gutachtens verpflichtet. Ferner trifft die Pflicht zur Erstattung des Gutachtens die Personen, die sich gegenüber dem Gericht dazu bereit erklärt haben. Letzteres gilt, wenn jemand dies ausdrücklich vor Gericht allgemein für Gutachten dieser Art getan hat, aber auch, wenn er stillschweigend einen Auftrag entgegennimmt und nicht unverzüglich ablehnt. Dieselben Gründe, die einen Zeugen zur Zeugnisverweigerung berechtigen (Verwandtschaft, Schwägerschaft, Verlöbnis oder die Gefahr,
Pflicht zur Gutachtenerstattung
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selbst wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt werden zu können) berechtigen einen Sachverständigen zur Verweigerung des Gutachtens (§ 76 StPO). Aus Zweckmäßigkeitsgründen (Arbeitsüberlastung, fehlende Sachkunde) kann das Gericht den Sachverständigen ferner nach eigenem Ermessen von seiner Verpflichtung entbinden. Bei einem Verstoß gegen die Gutachtenerstattungspflicht können dem Sachverständigen nach § 77 StPO die entstehenden Kosten auferlegt sowie ein Ordnungsgeld festgesetzt werden. Auch eine allzu lange Verzögerung kann die Festlegung eines Ordnungsgeldes nach sich ziehen. Ein Sachverständiger soll nämlich mit dem Auftraggeber auf dessen Anfrage hin eine Frist absprechen, innerhalb derer das Gutachten erstellt werden kann (§ 73 StPO). Hält er diese Frist nicht ein, kann eine fristgerechte Begutachtung gemäß § 77 Abs. 2 StPO mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden. In diesen Fällen wird zunächst ein Ordnungsgeld angedroht und eine angemessene Nachfrist gestellt. Wenn auch diese verstreicht, wird ein Ordnungsgeld verhängt. Persönliche Gutachtenpflicht
Da sich die Auswahl eines Sachverständigen auf dessen persönliche Kompetenz bezieht, kann der Auftrag nicht ohne Rücksprache mit dem Auftraggeber an einen Kollegen weitergegeben werden. Dagegen können geeignete Hilfskräfte für spezifizierte Teilaufgaben eingesetzt werden, solange der Sachverständige selbst die Verantwortung für die Resultate übernimmt.
Leitung des Sachverständigen durch den Richter
Gemäß § 78 StPO wird die Tätigkeit des Sachverständigen vom Richter angeleitet; dies bezieht sich jedoch nicht auf die Wahl von Methoden oder die konkrete Ausgestaltung der Erhebungen, sondern vor allem auf die Spezifizierung der gutachterlichen Fragestellung sowie auf das Verschaffen der relevanten Anknüpfungstatsachen. Die Wahl der Methoden ist aber nicht beliebig. Es muss sich um innerhalb der Psychologie anerkannte Methoden handeln; Gutachten, die auf nicht anerkannten Methoden bzw. auf vom Erkenntnisstand des Fachs nicht gedeckten Schlussfolgerungen basieren, dürfen nicht akzeptiert werden (vgl. Eisenberg, 2002; Greuel et al., 1998).
Information der Probanden durch den Gutachter
Ein Gutachter muss dem Probanden die Rahmenbedingungen der Untersuchung verdeutlichen und darf nicht den Eindruck erwecken, man befände sich einem Beratungs- oder Behandlungsverhältnis mit entsprechendem Vertrauensschutz oder der Gutachter sei jemand, der sich im Strafverfahren um die Belange des Probanden kümmere. Der Gutachter sollte daher zu Beginn der Untersuchung auf Auftraggeber und Auftrag hinweisen und die Untersuchungsbedingungen und die Rechte des Probanden erläutern: • Für alle Untersuchungen gilt, dass der Gutachter keine Schweigepflicht gegenüber dem Auftraggeber hat. • Bei Angeklagten ist die Untersuchung zwar nicht freiwillig, sie müssen aber keine Angaben gegenüber dem Gutachter machen. 12
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Universitätsbibliothek Leipzig / 2001:67c:2660:425:1::23b (2025-01-19 19:15)
• Zu begutachtende Zeugen sind dagegen grundsätzlich nicht zur Teilnahme an der Untersuchung verpflichtet. Bei minderjährigen Zeugen muss deswegen vorab das Einverständnis des Sorgeberechtigten zur Begutachtung eingeholt werden. Das Kind ist aber auch bei Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters nicht zur Mitwirkung verpflichtet, sondern kann selbst darüber entscheiden. • Bei einem zu begutachtenden Zeugen können zudem gemäß § 52 StPO Zeugnis- bzw. Aussageverweigerungsrechte vorliegen, über die diese vor der Begutachtung richterlich belehrt werden müssen. Diese Belehrung kann nicht auf den Sachverständigen übertragen werden. Obwohl eine Aufklärung über diese Rechte durch den Sachverständigen letztlich weder die gerichtliche Verwertbarkeit der beim Gutachter getätigten Aussagen des Zeugen noch die in der Begutachtung erhobenen Befunde sichert, sollte eine solche Aufklärung durchgeführt und im schriftlichen Gutachten dokumentiert werden (Greuel et al., 1998). Der Sachverständige ist nach § 80 StPO nicht nur berechtigt, an der Vernehmung von Zeugen und Beschuldigten teilzunehmen und an diese unmittelbare Fragen zu stellen, er kann auch zur Aufklärung über relevante Tatsachen die Vernehmung von Zeugen oder Beschuldigten verlangen. Im Hinblick auf Befragungen von Beschuldigten und Zeugen durch den Sachverständigen in der Hauptverhandlung ist aber zu betonen, dass diese Befragungen ausschließlich dazu da sind, Informationen zu erheben, die für die Beurteilung der Gutachtenfrage relevant sind. Der Sachverständige hat nicht die Aufgabe, die Beweiserhebung durchzuführen oder den Fall zu „klären“.
Sachverständiger kann die Vernehmung weiterer Zeugen verlangen
Ein Sachverständiger kann aus denselben Gründen abgelehnt werden wie ein Richter (§ 74 StPO). Ablehnungsgründe sind persönliche Beziehungen des Sachverständigen zu einem der Prozessbeteiligten (z. B. Verwandtschaft) oder die Besorgnis der Befangenheit. Bei letzterem geht es um Zweifel an der Unparteilichkeit eines Sachverständigen. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn sich ein Sachverständiger bezüglich einer umstrittenen Tatsache im Voraus einseitig festgelegt hat oder einen bestimmten Sachverhalt einseitig unterstellt, wenn der Sachverständige den Probanden während der Untersuchung oder im schriftlichen Gutachten beleidigt, wenn ein Sachverständiger sich während eines laufenden Verfahrens öffentlich zum Prozess äußert oder wenn der Sachverständige seinen Gutachtenauftrag überschreitet. Die Ablehnung eines Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit kann nicht nur wegen tatsächlicher Parteilichkeit erfolgen, sondern auch, wenn er sich so verhalten hat, dass eine vernünftige Partei ihn für parteilich halten kann. Über den Ablehnungsantrag entscheidet das Gericht, das den Sachverständigen beauftragt hat (vgl. auch Greuel et al., 1998).
Ablehnung eines Sachverständigen
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Keine Bindung des Gerichts an das Gutachten
Jedes Sachverständigengutachten unterliegt der freien richterlichen Beweiswürdigung. Obwohl einem Gericht, das einen Sachverständigen mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt hat, die für diese Fragestellung erforderliche eigene Sachkunde fehlt, muss es das Gutachten doch auf seine Richtigkeit überprüfen und ist rechtlich nicht an das Ergebnis des Gutachtens gebunden. Möglich ist eine Abweichung vom Gutachtenergebnis allerdings nur, wenn das Gericht dies im Einzelnen begründen kann und dabei deutlich macht, dass seine abweichende Einschätzung nicht von mangelnder Sachkunde beeinflusst ist. Hat das Gericht Zweifel hinsichtlich der Richtigkeit der Feststellungen eines Gutachtens, aber nicht genügend Sachkunde, um zu einer abschließenden anderen Überzeugung zu gelangen, muss es ein weiteres Gutachten einholen (Taupitz & Neikes, 2009).
Einholung eines Zweitgutachtens
Zur Einholung eines neuen Gutachtens kann es kommen wenn das Gericht das erste Gutachten für unzureichend erachtet, insbesondere wenn • die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft ist, • sein Gutachten von falschen Voraussetzungen ausgeht, • das Gutachten Widersprüche enthält, • der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen es eines früheren Gutachters überlegen erscheinen. Zweifel an der Sachkunde können beispielsweise entstehen, wenn der Sachverständige seine Meinung wechselt, ohne dies begründen zu können, wenn er sich weigert, seine Untersuchungsmethoden offen zu legen, wenn er von Kriterien abweicht, die in seinem Fach anerkannt sind oder wenn er sich mit abweichenden früheren Untersuchungsergebnissen nicht auseinandersetzt. Unter etwaigen „überlegenen Forschungsmitteln“ sind diagnostische Methoden zu verstehen, nicht die persönlichen Kenntnisse und Erfahrungen eines Gutachters (vgl. Foerster & Dreßing, 2009a). Den Begriff des Obergutachtens kennt das Gesetz nicht. Es kann aber ein zweiter Gutachter beauftragt werden, der das erste Gutachten dahingehend überprüfen soll, ob die Datenerhebung und die Beurteilung der vorliegenden Informationen fachgerecht erfolgt sind. Ein Zweitgutachter kann auch beauftragt werden, ein neues Gutachten zu erstatten.
Gutachten ohne eigene Untersuchung des Probanden
Gelegentlich wird ausgeführt, dass eine Begutachtung ohne eigene Untersuchung des Probanden nicht lege artis sei. Dabei sollte allerdings differenziert werden, um welche Fragestellung es sich handelt. Während zur Schuldfähigkeit eines Angeklagten, über den keine Behandlungsunterlagen vorliegen, ohne eigene Untersuchung kaum eine gutachterliche Stellung erfolgen kann, lassen sich bei aussagepsychologischen Gutachten gelegentlich schon aufgrund der Aktenlage so gravierende suggestive Bedingungen feststellen, dass die Suggestionshypothese nicht auszuschließen 14
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ist. Da aus der Begutachtung eines Zeugen dann auch keine Erkenntnisse gewonnen werden können, aufgrund derer man zu einem anderen Schluss kommen könnte (vgl. Kapitel 2.3.2.5), scheint die Durchführung einer eigenen Untersuchung überflüssig. Es kann auch passieren, dass ein Zeuge sich mit der Begutachtung nicht einverstanden erklärt und der Sachverständige sein Gutachten auf der Basis der Kenntnis der Akten und der Beweiserhebung in der Hauptverhandlung, in der er ja selbst auch Fragen stellen kann, erstatten soll. Ob unter diesen Bedingungen sachverständige Schlussfolgerungen gezogen werden können oder ob das nur eingeschränkt möglich ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Ist die Suggestionshypothese zu prüfen, dürften diese Rahmenbedingungen in vielen Fällen nicht sehr problematisch sein. Geht es dagegen um Einflüsse spezifischer Persönlichkeitsdispositionen auf die Aussage, ist unter den genannten Rahmenbedingungen eine gutachterliche Schlussfolgerung eventuell nur eingeschränkt oder gar nicht möglich.
Gutachten auf Basis der Hauptverhandlung
1.2 Besonderheiten forensisch-psychologischer Diagnostik Die Tätigkeit eines forensischen Sachverständigen findet unter spezifischen Rahmenbedingungen statt, die zu Rollenkonflikten führen können. Über diese sollte man sich vor der Aufnahme gerichtlicher Sachverständigentätigkeit bewusst sein, um Missverständnisse, falsche Erwartungen bei den Beteiligten und aus diesen Problemen resultierende systematische Fehler zu vermeiden (Wegener, 1981).
Mögliche Rollenkonflikte
Eine mögliche Gefahr besteht darin, dass die Funktion des Sachverständigen missverstanden wird als Helfer des Probanden. Eine solche Rolle ist mit der Neutralitätsverpflichtung des Sachverständigen nicht vereinbar. Da man sich im Rahmen der Untersuchung im Vorfeld der Hauptverhandlung aber in einer durch das Bemühen um persönliche Vertrautheit gekennzeichneten ausführlichen Exploration intensiv mit dem Probanden beschäftigt hat und da sowohl Angeklagte als auch Zeugen in vielen Fällen hoffen, das Ergebnis des Gutachtens könne ihre Position in dem Verfahren verbessern, entstehen oftmals entsprechende Erwartungshaltungen. Um keine unberechtigten Hoffnungen zu wecken, sollten Sachverständige im Kontakt mit den Probanden die eigene Funktion immer deutlich machen. Probleme können jedoch nicht nur auf Seiten der Probanden eintreten. Auch für Psychologen, die ihre Tätigkeit häufig selbst vorwiegend als helfend verstehen, kann es schwierig sein, Gutachtenergebnisse zu vertreten, die den Hoffnungen und Erwartungen des Probanden entgegenstehen. Gutachter müssen daher möglichen Überidentifikationen mit den Probanden entgegenwirken, die ggf. dazu führen könnten, Befunde einseitig auszuwäh-
Diagnostik nicht immer im Interesse des Probanden
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len oder zu interpretieren, um auf diese Weise zu erwünschten oder erwarteten Gutachtenergebnissen zu kommen. Unfreiwillige oder „halbfreiwillige“ Teilnahme
Umgekehrt ist zu bedenken, dass man es in der forensischen Begutachtungssituation mit Menschen zu tun hat, die sich nicht mit einem eigenen Anliegen an den Psychologen wenden, sondern möglicherweise unfreiwillig (ggf. sogar von der Polizei vorgeführt) kommen oder lediglich „halbfreiwillig“ an der Untersuchung teilnehmen, wie beispielsweise einige Zeugen, die sich im Rahmen einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung untersuchen lassen, weil sie befürchten, das Verfahren werde sonst eingestellt. Solche Probanden begegnen einem manchmal zunächst mit Misstrauen, Ablehnung oder sogar Aggression. Als Gutachter muss man diese Situation akzeptieren und auch in diesen Fällen die eigene Funktion sachlich erklären können und darf nicht fälschlicherweise die eigene Tätigkeit als eine helfende beschreiben, um bei den Probanden eine andere Bewertung zu erreichen. Ebenso wenig darf man die ablehnende Haltung des Probanden unterschwellig in die eigene Bewertung einfließen lassen.
Besondere Beachtung von Persönlichkeitsrechten
Gerade der Umstand, dass die forensisch-psychologische Diagnostik einen psychologischen Tätigkeitsbereich umfasst, in dem sich Menschen in der Regel nicht von sich aus an den Psychologen wenden, rechtfertigt die psychologische Tätigkeit auch nur im für die Erstellung des Gutachtens notwendigen Rahmen. Das heißt, ein psychologischer Sachverständiger hat nicht die Legitimation, wahllos alle möglichen Daten zu erheben, sondern ist ausschließlich berechtigt, solche Informationen zu erfragen, die er für die Beantwortung der Gutachtenfrage benötigt. „Jede Frage und jede diagnostische Untersuchung, die nicht der Erfüllung des Gutachtenauftrags dienen, bedeuten einen formal und menschlich ungerechtfertigten Eingriff in die Persönlichkeit“ (Wegener, 1981, S. 9).
Gefahr der Funktionalisierung
Als Sachverständiger trifft man nicht nur auf spezifische Erwartungshaltungen der zu begutachtenden Personen. Zuweilen wird einem auch vom Gericht der Eindruck vermittelt, dass ein bestimmtes Ergebnis erwartet wird und dass das Gutachten nur dem Ziel dient, das Urteil „revisionssicher“ zu machen (vgl. Nedopil, 2000). Insofern ist auch vor einer Überidentifikation mit dem Auftraggeber zu warnen. Aber auch andere Prozessbeteiligte (zum Beispiel die Verteidigung) kommunizieren oft explizit oder implizit erwünschte Gutachtenergebnisse. Auch von solchen Erwartungshaltungen muss sich ein Sachverständiger frei machen. Unparteilichkeit bedeutet auch Unabhängigkeit und Widerstand gegenüber dem Ansinnen, sich als psychologischer Sachverständiger von Verfahrensbeteiligten funktionalisieren zu lassen (vgl. auch Foerster & Dreßing, 2009a).
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Ferner muss man sich darüber im Klaren sein, dass es in Auseinandersetzungen um Gutachten nicht immer darum geht, ob unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten eine optimale Expertise angefertigt wurde, sondern dass Parteienvertreter versuchen, ein Urteil im Interesse ihres Mandanten zu erzielen und Gutachten vor allem dann in Frage stellen, wenn ihnen das Gutachtenergebnis dabei im Wege steht. Der Sachverständige benötigt daher „Standpunkttreue und notwendige Flexibilität“ (Wegener, 1981, S. 17). Gemeint ist damit eine konsequente Beibehaltung sicherer Positionen auch gegen Widerstand, zugleich aber Flexibilität in der Anpassung der eigenen Erkenntnisse an veränderte Voraussetzungen. Die Gefahr, dass ein Sachverständiger Befunde einseitig bewertet, besteht auch, wenn der Gutachter die rechtlichen Vorgaben in dem Feld, in dem er sachverständig tätig ist, unangemessen findet. Akzeptiert er die Rechtsfolgen, die sich aus einer fachgerechten gutachterlichen Bewertung ergeben würden, aus kriminalpolitischen, rechtsphilosophischen oder weltanschaulichen Gründen nicht, ist zu befürchten, dass es zu einer verzerrten gutachterlichen Datenerhebung und/oder -interpretation kommt. Dabei können Verzerrungen – in Abhängigkeit von den Einstellungen des Gutachters – in die eine oder andere Richtung eintreten. Denkbar ist beispielsweise, dass ein Sachverständiger in einem Mordfall unbegründeterweise angibt, die Bedingungen des § 21 StGB seien erfüllt, weil er lebenslange Freiheitsstrafen grundsätzlich ablehnt und bei dem Vorliegen einer verminderten Schuldfähigkeit mit einer Strafminderung zu rechnen ist. Umgekehrt ist aber auch denkbar, dass unberechtigterweise behauptet wird, die Voraussetzungen des § 21 StGB seien nicht erfüllt, um eine kriminalpolitisch für unangemessen erachtete Strafmilderung auszuschließen. Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten müssen sich sowohl Beschuldigte als auch Geschädigte darauf verlassen können, dass rechtliche Vorschriften eingehalten werden. Sie dürfen nicht zum Spielball zufälliger ideologischer Einstellungen von Sachverständigen werden, die unter dem Mantel gutachterlicher Tätigkeiten kriminalpolitische Vorstellungen zu realisieren versuchen. Angesprochen ist hier nicht eine kritische Haltung zu einzelnen rechtlichen Vorschriften.
Diagnostik im Rahmen rechtlicher Vorgaben
Merke: In Bereichen, in denen man die rechtlichen Vorschriften aber prinzipiell in Frage stellt, sind die angesprochenen Konflikte unvermeidbar und es empfiehlt sich, in solchen Bereichen nicht gutachterlich tätig zu werden (vgl. auch Wegener, 1981).
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2 Aussagepsychologische Begutachtung Renate Volbert
2.1 Aussagepsychologische Fragestellungen Anlässe für aussagepsychologische Gutachten
Aussagepsychologische Gutachten werden dann in Auftrag gegeben, wenn das Gericht nicht über genügend Sachkunde verfügt, um zu beurteilen, ob es sich bei einer Aussage um eine erlebnisfundierte Darstellung handelt. Da einer einzelnen Zeugenaussage vor allem dann eine wichtige Bedeutung in einem Strafverfahren zukommt, wenn keine objektiven Beweismittel vorliegen, werden aussagepsychologische Sachverständige vor allem in Fällen beauftragt, in denen Aussage gegen Aussage steht. Dies ist sehr häufig bei Sexualdelikten der Fall. Allerdings erfolgt eine Begutachtung auch bei Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen nicht regelmäßig, sondern nur dann, wenn besondere Umstände vorliegen. Dies können Besonderheiten in der Persönlichkeit des Zeugen (z. B. Persönlichkeitsstörung, Drogenabhängigkeit, Psychose, intellektuelle Behinderung, gravierende Entwicklungsverzögerungen oder Verhaltensauffälligkeiten) oder in dem zur Aburteilung stehenden Sachverhalt sein. Letzteres ist beispielsweise der Fall, wenn im Rahmen eines Sorgerechtsstreits ein junges Kind erst lange Zeit nach der fraglichen Tat eine Aussage gemacht hat, nachdem es zuvor intensiv von Familienangehörigen befragt worden ist (vgl. Boetticher, 2002; Pfister, 2008).
Freiwilligkeit der Untersuchung
Die Teilnahme an einer aussagepsychologischen Begutachtung ist gemäß § 81c StPO freiwillig. Auch Kinder sind, selbst bei Zustimmung ihrer gesetzlichen Vertreter, nicht zur Teilnahme verpflichtet. Lehnen Zeugen eine Untersuchung ab, kann das Gericht einen Sachverständigen damit beauftragen, die Aussage eines Zeugen, die dieser in einer Hauptverhandlung oder bei einer richterlichen Vernehmung auch im Beisein des Sachverständigen machen muss, aussagepsychologisch zu beurteilen. Nur wenn dem Zeugen aufgrund einer verwandtschaftlichen Beziehung zum Angeklagten ein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht, muss er überhaupt keine Angaben machen.
Fragestellungen an den Sachverständigen
Die Beurteilung der Aussagen kann zwei unterschiedliche Komplexe betreffen, nämlich: 18
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• Aussagetüchtigkeit: Dies betrifft die Fähigkeit einer Person, zu einem Sachverhalt wie dem fraglichen Vorwurf überhaupt eine angemessene Aussage machen zu können. • Glaubhaftigkeit der Aussage: Hier geht es um die Frage, ob die behaupteten Vorwürfe auf tatsächlichem Erleben basieren oder nicht.
2.2 Aussagetüchtigkeit Definition: Aussagetüchtigkeit bezieht sich auf die Fähigkeiten einer Person, einen spezifischen Sachverhalt zuverlässig wahrzunehmen, diesen in der zwischen dem Geschehen und der Befragung liegenden Zeit im Gedächtnis zu behalten, das Ereignis angemessen abzurufen, die Geschehnisse in einer Befragungssituation verbal wiederzugeben und Erlebtes von anders generierten Vorstellungen zu unterscheiden (Greuel et al., 1998).
Es geht dabei um die Fähigkeiten der aussagenden Person, überhaupt eine zuverlässige Aussage machen zu können, und nicht darum, ob es sich um eine glaubhafte oder um eine im Einzelnen fehlerfreie Darstellung eines Ereignisses handelt. Aus der Feststellung der erhaltenen Aussagetüchtigkeit lassen sich also noch keine Aussagen über die Glaubhaftigkeit oder über die Richtigkeit der Angaben eines Zeugen ableiten. Ein Absprechen der Aussagetüchtigkeit hat andererseits in der Regel zur Folge, dass die Aussage für den weiteren rechtlichen Prozess nicht berücksichtigt wird. Für die Aussagetüchtigkeit relevante Kompetenzen beziehen sich auf die genannten Grundvoraussetzungen sowie auf die Fähigkeit, in einer forensischen Befragungssituation eine für Dritte nachvollziehbare Schilderung zu produzieren (vgl. Tab. 1). Tabelle 1: Relevante Voraussetzungen für Aussagetüchtigkeit (vgl. Volbert, 2005) Grundvoraussetzungen: Wahrnehmen, Erinnern, Reproduzieren
– Adäquate Situationswahrnehmung – Speicherung über einen längeren Zeitraum – Sprachliches Ausdrucksvermögen
Spezifische Voraussetzungen: Reproduzieren in forensischer Befragungssituation
– Fähigkeit, eine für Dritte nachvollziehbare, valide Schilderung zu produzieren – Weitgehend selbstständiger Abruf – Angemessenes Quellenmonitoring – Basale Beherrschung relevanter kommunikativer Kompetenzen
Eine Beeinträchtigung der Aussagetüchtigkeit kann im Wesentlichen wegen entwicklungs- oder wegen psychopathologisch bedingter Einschränkungen
Einschränkungen können entwicklungsoder psychopathologisch bedingt sein
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vorliegen. Wenn es keine Hinweise auf entsprechende Einschränkungen gibt, kann bei psychisch unauffälligen älteren Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen von Aussagetüchtigkeit ausgegangen werden. Es erscheint überflüssig und wenig ökonomisch, routinemäßig die grundlegenden Fähigkeiten, wahrzunehmen, zu speichern und zu reproduzieren, auch bei solchen Zeugen explizit zu prüfen, aus deren Vorgeschichte beispielsweise bekannt ist, dass sie mit gutem Erfolg ein Gymnasium besuchen oder ein Hochschulstudium absolvieren und mit denen man sich problemlos über ihre Biografie unterhalten kann. Umfangreiche Prüfungen und Erörterungen der Aussagetüchtigkeit sind nur bei Hinweisen auf einschränkende Bedingungen oder bei explizitem Auftrag indiziert (vgl. Steller, 2008). Berücksichtigung von Aufgabenanforderungen
Bei der Beurteilung der Aussagetüchtigkeit müssen individuelle Fähigkeiten unter Berücksichtigung von Aufgabenanforderungen, die sich aus den behaupteten Sachverhalts- und den Befragungsmerkmalen ergeben (z. B. Komplexität des fraglichen Ereignisses, Intervall zwischen fraglichem Ereignis und Befragungszeitpunkt, Art der Befragung), geprüft werden (Volbert, 2004). Merke: Aussagetüchtigkeit ist also nicht zu verstehen als ein Zeit überdauerndes Konstrukt, sondern als eine Interaktion von Fähigkeiten, spezifischen Aufgaben und Erhebungsvariablen (Volbert & Steller, 1998). Deswegen kann eine Person unter Umständen für einen Sachverhalt als aussagetüchtig gelten, während sie zur selben Zeit für einen anderen Sachverhalt keine ausreichende Aussagetüchtigkeit besitzt.
Verschiedene aussagerelevante Zeitpunkte
Für die Beurteilung der Aussagetüchtigkeit sind mindestens zwei Zeitpunkte relevant, nämlich einerseits der Zeitpunkt, an dem das fragliche Geschehen wahrgenommen wurde und andererseits der Zeitpunkt der Befragung. Da häufig bereits im Vorfeld Aussagen getätigt worden sind, können zusätzlich auch diese Zeitpunkte von Bedeutung sein. Weil zwischen Geschehen und Befragung oft ein längeres zeitliches Intervall liegt, kann es vorkommen, dass entwicklungsbedingte, aber auch psychopathologisch relevante Beeinträchtigungen zum Zeitpunkt der Befragung zwar nicht vorliegen, aber zum fraglichen Tatzeitpunkt einflussreich waren. Bei psychopathologischen Fragestellungen sind auch umgekehrte Verläufe möglich.
Keine eindeutig definierten Mindestanforderungen
Welche Aussagegüte ein Zeuge potenziell erzielen können muss, damit von Aussagetüchtigkeit auszugehen ist, ist nicht eindeutig definiert. Nicht erwartet werden kann die Fähigkeit, eine fehlerfreie Aussage zu machen, da auch ohne das Vorliegen entwicklungsbezogener oder psychopathologischer Besonderheiten Vergessensprozesse und Veränderungen im gespeicherten Material dazu führen, dass Aussagen über ein Erlebnis mehr oder weniger stark 20
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von dem faktischen Ereignis abweichen (z. B. Erdfelder, 2003). Auch eine Orientierung an einer bezüglich Fehlerqualität und -häufigkeit durchschnittlichen Aussageleistung eines psychisch unauffälligen Erwachsenen dürfte kaum gemeint sein. Gefordert ist wohl eher das Überschreiten einer unteren Mindestschwelle, also die Fähigkeit, eine in zentralen Aspekten mit dem Ursprungsereignis korrespondierende Aussage zu machen. So sind beispielsweise auch erheblich intelligenzgeminderte Zeugen in der Regel durchaus in der Lage, Aussagen über für sie relevante Erlebnisse zu machen. Aussagen dieser Zeugen sind jedoch weniger detailliert und stärker von situativen und subjektiven Gegebenheiten beeinflusst und es besteht eine erhöhte Anfälligkeit gegenüber suggestiven Einflüssen, was wiederum eine höhere Fehlerfrequenz zur Folge haben kann (z. B. Kebbel, Hatton & Johnson, 2004) Aufgabe des Sachverständigen: Die Frage, ob eine „Aussage einen wie gering auch immer gearteten Beitrag zur Wahrheitsfindung durch das Gericht“ (Greuel et al., 1998, S. 79) liefern kann, muss letztlich aus rechtlicher Sicht entschieden werden. Aufgabe des forensisch-psychologischen Gutachters ist es, die spezifischen Fähigkeiten zu untersuchen und darzulegen, inwieweit die Aussagegüte durch entwicklungsbedingte oder psychopathologische Besonderheiten beeinträchtigt sein könnte.
2.2.1 Entwicklungsbedingte Beeinträchtigungen der Aussagetüchtigkeit Die Strafprozessordnung enthält für Zeugen keine Altersgrenze nach unten; theoretisch kann also ein Kind, ganz gleich welchen Alters, mit dem eine verbale Kommunikation überhaupt möglich ist, als Zeuge fungieren.
2.2.1.1 Autobiografische Gedächtnisleistungen Die Fähigkeit, über spezifische Ereignisse in der Vergangenheit Angaben zu machen, bildet sich bei Kindern zwischen 2 und 3 Jahren heraus. Meist handelt es sich dabei um ein gemeinsames Erinnern von Eltern und Kindern; ohne spezifische Hinweisreize machen Kinder in diesem Alter kaum Angaben. Vom Kind initiierte Gespräche über Vergangenes finden sich in der Regel erstmals gelegentlich in der zweiten Hälfte des 3. Lebensjahres, bleiben jedoch auch im 4. Lebensjahr noch selten. Mit 3 bis 3 ½ Jahren sind Kinder aber meist zum ersten Mal in der Lage, selbstständig eine mehr oder weniger kohärente Darstellung über ein vergangenes Ereignis abzugeben. Allerdings haben auch dreijährige Kinder noch erhebliche Schwierigkeiten, gespeicherte Informationen selbstständig abzurufen, benötigen viele Hinweisreize und Fragen, um das relevante Ereignis zu erinnern
Speichern und Reproduzieren
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und produzieren nur wenige Informationen im freien Bericht. Bei Kindern bis zum 4. Lebensjahr sind Angaben aber selbst unter diesen Bedingungen noch sehr fehlerbehaftet. Die Fähigkeit, ohne Hilfestellung durch den Befragenden zu berichten, verbessert sich bis zum Schulalter fortlaufend (zusammenfassend Nelson & Fivush, 2004). Memorisierbarkeit ist abhängig von der sprachlichen Entwicklung
Verschiedene Untersuchungen zum Verlauf von autobiografischen Erinnerungen zeigen, dass Kinder auch an bedeutsame Ereignisse in der Regel keine bewussten Erinnerungen haben, wenn sie zum Zeitpunkt des Geschehens jünger als 2 Jahre alt waren. Zwischen 2 und 3 ½ Jahren ist die Memorisierbarkeit eines Ereignisses abhängig von der Entwicklung narrativer Fähigkeiten zum Zeitpunkt des Ereignisses. Sind diese noch sehr wenig ausgebildet, haben Kinder zeitnah fragmentarische Erinnerungen an bedeutsame Erlebnisse. Vermutlich aufgrund des geringen Organisationsgrads der Erinnerung und der fehlenden narrativen Struktur werden die Ereignisse jedoch nicht langfristig behalten. Bedeutsame Ereignisse, die ab dem 4. Lebensjahr geschehen, können bereits sehr häufig über einen Zeitraum von mehreren Monaten oder Jahren erinnert werden; diesbezügliche Erinnerungen enthalten in der Regel aber weniger Informationen als spätere Erinnerungen.
Altersabhängige inhaltliche Ausgestaltung
Die jüngsten Kinder nehmen in ihren Angaben zu früheren Erlebnissen inhaltlich im Wesentlichen nur auf Aktivitäten und die beteiligten Personen Bezug. Erst mit etwa 3 ½ Jahren beginnen die meisten Kinder, Informationen beizusteuern, die geeignet sind, raum-zeitliche Kontexte herzustellen oder etwas über die Bedeutung des Ereignisses für das Kind zu vermitteln. Im Grundschulalter liefern Kinder auch Hintergrundinformationen und nehmen zeitliche und kausale Verknüpfungen vor (Fivush & Haden, 1997).
Reproduzieren unter forensisch relevanten Bedingungen
Für die Beurteilung der Aussagetüchtigkeit ist zu beachten, dass es nicht ausreicht, wenn ein Kind überhaupt in der Lage ist, sich an ein vergangenes Ereignis zu erinnern, solange es für den Abruf stark auf Unterstützung angewiesen ist. Die Vorgabe von spezifischen Hinweisreizen ist zwar wenig problematisch, wenn Sicherheit darüber besteht, dass ein erfragtes Ereignis tatsächlich stattgefunden hat und was genau geschehen ist. Da aber bei Kenntnis des relevanten Ereignisses eine Begutachtung der Aussage eines Kindes gar nicht notwendig ist, liegen in der forensischen Praxis Voraussetzungen vor, die sehr viel höhere Ansprüche an die Aussagefähigkeiten eines Kindes stellen: Es müssen nämlich zuverlässige und nachvollziehbare Aussagen über Ereignisse abgegeben werden, bei denen keine dritte Person anwesend war. Liegen keine Informationen über das fragliche Ereignis vor oder steht überhaupt in Frage, ob ein solches stattgefunden hat, besteht anderenfalls die Gefahr, dass eine auf der Basis von vielen Vorgaben und spezifischen Fragen evozierte Aussage in erster Linie die Vorstellungen des 22
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Befragenden über das fragliche Geschehen reflektiert und nicht eine Wiedergabe des tatsächlichen Geschehens darstellt. Merke: Für die Aussagetüchtigkeit von Kindern kommt es daher nicht nur auf das Erinnerungsvermögen, sondern vor allem auf die Fähigkeit an, eine Erinnerung weitgehend selbstständig abrufen zu können.
Tabelle 2 zeigt, wie sich die Fähigkeiten entwickeln, über Ereignisse in der Vergangenheit zu berichten. Nelson (2000) hat zusammengefasst, dass Kinder zwischen 2 und 5 Jahren eine Entwicklung von einem „experiencer“ zu einem „narrativisor“ durchleben • Im Alter von 2 Jahren haben Kinder noch kein Verständnis dafür, dass Menschen über verschiedene Perspektiven oder unterschiedliche mentale Wissensbestände (belief states) verfügen können. Kinder dieses Alters haben auch kein Konzept eines überdauernden Selbst. Sprache wird im Wesentlichen pragmatisch benutzt. Explizite Gedächtnisleistungen sind allenfalls im Rahmen fragmentarischer Äußerungen und im Wesentlichen anhand von Beschreibungen von Handlungsskripts zu beobachten. • Mit 3 Jahren erwächst allmählich die Erkenntnis, dass Menschen unterschiedliche Überzeugungen haben können, einfache „Theory of Mind“Aufgaben werden gelöst, in Äußerungen sind episodische Erinnerungen zu erkennen, und Konversationsfähigkeiten beginnen sich herauszubilden. • Mit 4 Jahren lösen Kinder komplexere „Theory of Mind“- und Perspektivenübernahmeaufgaben und beginnen, eigene Erlebnisse in narrativer Form zu berichten. • Mit 5 Jahren festigen sich diese Fähigkeiten.
2.2.1.2 Unterscheidung zwischen Realität und Fantasie Neben den autobiografischen Gedächtnisleistungen geht es um die Fähigkeit, Fakt und Fantasie zu unterscheiden. Mit 3 Jahren können Kinder eine mentale Entität (Gedanke oder Vorstellungsbild) von dem realen Objekt unterscheiden, das dadurch repräsentiert wird. Allerdings scheint dennoch auch bei etwas älteren Kindern noch Unsicherheit darüber zu bestehen, ob es nicht doch möglich ist, dass etwas zu existieren anfängt, was man sich vorgestellt hat. Beispielsweise fanden Harris, Brown, Marriot, Whittall und Harmer (1991), dass 4- bis 6-jährige Kinder in eine „Häschenschachtel“ fassten, sich aber ängstlich gegenüber einer
Magisches Denken
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1
Erste selbstinitiierte Gespräche über die Vergangenheit, noch sehr selten
2½
Anmerkung:
– Spezifische Fragen
Erste Bezugnahmen auf spezifische Ereignisse in der Vergangenheit
2
Einzelne Informationsfragmente
Einzelne nicht miteinander verbundene Details
Narrative Struktur
– Aktivitäten – Beteiligte Personen – Objekte – Fast keine orientierenden Infos
Inhaltliche Struktur Konstanz
Sehr inkonstant (teilweise zurückzuführen auf Unterschiede bei den gestellten Fragen)
Die genannten Monate kennzeichnen kein Limit, sondern beziehen sich auf die untersuchten Zeiträume.
z. T. mehrere (10) Monate zurückliegende Ereignisse1
– Konversationen werden durch Dritte initiiert, meist in Form gemeinsamen Erinnerns; – Vorgegebene Antworten werden bestätigt/Antworten auf Ja/Nein-Fragen; – Informationen werden durch spezifische Hinweisreize evoziert
Äußerungen über meist gerade abgeschlossene Aktivitäten und Routineereignisse
Art der Evozierung
1½
Länge
Bezugnahmen auf Vergangenheit
Alter (Jahre)
Tabelle 2: Entwicklungsverlauf hinsichtlich der Fähigkeiten, über autobiografische Erlebnisse zu berichten
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– Antworten sind oft noch sehr fehlerbehaftet
– Erlernen der Vergangenheitsform – Evtl. besondere Fokussierung auf typische Details
Besonderheiten
25
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Zurückliegende spezifische Ereignisse werden allmählich häufiger thematisiert
3
5
4
3½
Bezugnahmen auf Vergangenheit
Zunahme der Häufigkeit
Alter (Jahre)
18 Monate zurückliegende Ereignisse
Länge
Erste kurze Narrationen; einige Informationen im freien Bericht
– Fehlerhäufigkeit sinkt
– Verständnis, dass Menschen über unterschiedliche mentale Wissensbestände verfügen
Erste einigermaßen kohärente Darstellung
– Allmählich Fähigkeit, ohne Hilfestellung von anderen zu berichten
Zusätzlich: – raumzeitliche Infos – Infos über Bedeutung der Ereignisse – Emotionale Reaktionen
– In Äußerungen sind episodische Erinnerungen erkennbar – Ausbildung von Konversationsfähigkeiten
Fragmentarische Angaben; noch sehr wenig Informationen im freien Bericht
Besonderheiten
– Erste selbstständige Darstellungen, aber noch viele Hinweisreize und Fragen notwendig
Konstanz
Narrative Struktur
Art der Evozierung
Inhaltliche Struktur
Tabelle 2: Entwicklungsverlauf hinsichtlich der Fähigkeiten, über autobiografische Erlebnisse zu berichten (Fortsetzung)
weitere Verbesserung
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9–10
8
7
6
Bezugnahmen auf Vergangenheit
5 bis 6 Jahre zurückliegende Ereignisse
Länge
Art der Evozierung
weitere Verbesserung
Zunahme der Häufigkeit
Alter (Jahre) Narrative Struktur
Berichte gleichen in Organisation und Logik zunehmend den Darstellungen von Erwachsenen
– verlässliche retrospektive zeitliche Rekonstruktionen
– Zeitliche Rekonstruktionen evtl. mit Hilfestellung möglich
Zusätzlich: – mehr Hintergrundinformationen – zeitliche und kausale Verknüpfungen – mehr deskriptive Informationen
Inhaltliche Struktur Höhere Konstanz
Konstanz
Tabelle 2: Entwicklungsverlauf hinsichtlich der Fähigkeiten, über autobiografische Erlebnisse zu berichten (Fortsetzung)
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Zunahme der Informationsmenge
– Verbesserung der Fähigkeit, zuverlässige Angaben zu einem spezifischen Ereignis aus einer Serie von ähnlichen Ereignissen zu machen
Besonderheiten
„Monsterschachtel“ verhielten, nachdem sie sich vorgestellt hatten, dass sich in einer Schachtel entweder ein Häschen oder ein Monster befindet und dann mit den Schachteln allein gelassen wurden. Wenn zuvor deutlich gemacht worden war, dass das Als-ob-Spiel nun beendet sei, zeigten die Kinder entsprechendes Verhalten aber nicht (Golomb & Galasso; 1995), was demonstriert, dass Kinder zwischen der fiktiven und der realen Ebene unterscheiden können. So zeigen verschiedene Untersuchungen, dass Kinder dieser Altersgruppe in konsequenzenlosen Situationen zwar eine starke Tendenz zum magischen Denken zeigen, durchaus aber angemessene rationale Erwägungen anstellen, wenn sich hieraus praktische Konsequenzen ergeben (Woolley, 1997; Sharon & Woolley, 2004). Die Ergebnisse unterstreichen aber die Notwendigkeit, Kinder in forensischen Befragungssituationen nicht in Als-ob-Situationen zu bringen. Wird dieser Modus gefördert, begeben sich Kinder schnell auf die fiktive Ebene ohne dies zu signalisieren (Principe & Smith, 2008).
Keine Befragungen unter Als-ObBedingungen
Aus der forensischen Praxis ist beschrieben worden, dass für einige der 4- bis 7-jährigen Kinder, die zwar augenscheinlich zwischen Fakt und Fantasie unterscheiden können, die Wahrheit keinen verpflichtenden Charakter zu haben scheint, so dass es mitunter zu beliebigen Antworten kommen kann (Michaelis-Arntzen, 1977). Auch wenn diese Kinder über die relevanten Grundfähigkeiten verfügen, ist es dennoch nicht möglich, forensisch verwertbare Aussagen von ihnen zu erhalten. Systematisch untersucht worden ist die Bereitschaft von jungen Kindern, überhaupt realitätsverpflichtete Aussagen zu machen, jedoch bislang nicht.
Bereitschaft zu wahrheitsverpflichteten Aussagen
2.2.1.3 Entwicklungsverlauf der Aussagetüchtigkeit Aus den vorliegenden Erkenntnissen ergeben sich für die Beurteilung der Aussagetüchtigkeit die in Tabelle 3 dargestellten Faustregeln. Die genannten Altersangaben stellen nur eine grobe Orientierung dar, von der es im Einzelfall Abweichungen gibt. Sie zeigen zwar gewisse Begrenzungen nach unten an, ohne dass es sich dabei um eine starre Grenze handelt, und sie erlauben umgekehrt nicht, eine Altersgrenze zu bestimmen, ab der sicher mit einer Aussagetüchtigkeit zu rechnen ist (Volbert, 2005).
Altersangaben stellen nur grobe Orientierung dar
Besonders bei Kindern zwischen 4 und 6 Jahren ist unter Berücksichtigung von Aufgabenanforderungen (Komplexität des behaupteten Ereignisses, Intervall zwischen fraglichem Ereignis und Befragung) die Fähigkeit zu prüfen, ausreichend eigenständig Informationen über frühere Erlebnisse abzurufen und sprachlich verständlich auszudrücken. Relevante Fähigkeiten können teilweise mit Hilfe von standardisierten Tests erfasst werden. Für die hier relevante Fragestellung aufschlussreicher sind aber in der Regel Darstellungen des Kindes von sachverhaltsneutralen Ereignissen aus dem
Fokus auf Kinder zwischen 4 und 6 Jahren
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fraglichen Tatzeitraum, deren Richtigkeit sich anhand von Informationen Dritter überprüfen lassen. Tabelle 3: Altersangaben als grobe Orientierung zur Beurteilung der Aussagetüchtigkeit < 4 Jahre
Kinder können sich an zurückliegende Ereignisse erinnern, haben aber noch große Schwierigkeiten beim selbstständigen Abruf von Informationen und sind deswegen in erheblichem Maß auf Hinweisreize angewiesen. Über Ereignisse, für die keine zusätzlichen Informationen vorliegen, sind deswegen in der Regel noch keine ausreichend zuverlässigen Angaben zu erhalten.
4–5 Jahre
Die Fähigkeit nimmt zu, ohne Hilfestellung über erlebte Ereignisse zu berichten; kurze Narrationen sind möglich. Besonders in dieser Altersgruppe ist unter Berücksichtigung von Aufgabenanforderungen (z. B. Komplexität des behaupteten Ereignisses, Intervall zwischen fraglichem Ereignis und Befragung) individuell zu prüfen, ob ausreichend eigenständig Informationen über frühere Erlebnisse abgerufen und sprachlich verständlich ausgedrückt werden können.
Ab 6 Jahre
Berichte nähern sich in ihrer Organisation und Logik den Darstellungen von Erwachsenen. Außer bei dem Vorliegen von Entwicklungsverzögerungen ist in der Regel in diesem Alter Aussagetüchtigkeit vorhanden.
2.2.2 Psychopathologisch bedingte Beeinträchtigungen der Aussagetüchtigkeit Bei älteren Kindern und Jugendlichen oder bei Erwachsenen stellt sich die Frage einer Beeinträchtigung der Aussagetüchtigkeit in erster Linie, wenn psychopathologische Auffälligkeiten vorliegen. Zunächst ist dann mit den üblichen klinisch-diagnostischen Methoden festzustellen, ob bei dem Zeugen eine psychische Störung vorliegt. In Abhängigkeit von der klinischen Ausbildung des psychologischen Sachverständigen empfiehlt sich bei dem Verdacht auf eine psychiatrische Erkrankung ggf. die Zusammenarbeit mit einem psychiatrischen Kollegen. Unter Berücksichtigung der aussagerelevanten Zeitpunkte können sich bei der Beurteilung der Aussagetüchtigkeit von Zeugen mit psychischen Störungen prinzipiell drei Möglichkeiten ergeben (Lau, Böhm & Volbert, 2008). Psychische Erkrankungen können u. U. dazu führen, dass ein tatsächliches Erlebnis nicht erinnert oder wiedergegeben werden kann, oder dazu, dass ein tatsächlich nicht stattgehabtes Ereignis behauptet wird. Besonders häufig stellt sich die Frage der Aussagetüchtigkeit bei folgenden Störungsbildern (ausführlich Lau et al., 2008): 28 © 2010 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Volbert/Dahle: Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren.
Beurteilung der Aussagetüchtigkeit von Zeugen mit psychischen Störungen:
1. Dauerhaft aufgehobene Aussagetüchtigkeit: Eine dauerhafte Aussageuntüchtigkeit liegt dann vor, wenn davon auszugehen ist, dass frühere und aktuelle Aussagen des Zeugen durch psychopathologisch bedingte Beeinträchtigungen relevanter Aussagefähigkeiten determiniert sind und auch zukünftig nicht mit einer Rückbildung dieser Beeinträchtigungen zu rechnen ist. Eine solche ist anzunehmen bei schweren chronischen organischen Psychosen oder schweren geistigen Behinderungen, da diese wegen der überdauernden gravierenden kognitiven Einbußen mit einer Unfähigkeit einhergehen, ein Ereignis adäquat wahrzunehmen, konstant zu erinnern und zu reproduzieren. Auch bei akuten endogenen oder organischen Psychosen oder bei Intoxikationen kann die Aussagetüchtigkeit dauerhaft aufgehoben sein, nämlich dann, wenn zum Tatzeitpunkt eine akute Symptomatik vorlag. Befand sich ein Proband zum Zeitpunkt der Wahrnehmung einer Straftat in akut psychotischem Zustand, wird eine unbeeinträchtigte Darstellung auch nicht möglich sein, wenn später eine Remission der akuten Symptomatik eintritt. 2. Vorübergehend aufgehobene Aussagetüchtigkeit: Befindet sich ein Proband zum Zeitpunkt der Befragung in einem akut psychotischen Zustand, kann das zu einer Aussageuntüchtigkeit im Sinne einer Vernehmungsunfähigkeit (Konrad, 2009) führen. Bezieht sich die Aussage auf ein Ereignis zu einem Zeitpunkt, zu dem bei dem Probanden keine akute Symptomatik vorlag, kann die Aussagetüchtigkeit nach Remission der akuten Symptomatik jedoch wieder voll hergestellt sein. Dies gilt analog auch für Intoxikationen. 3. Erhaltene Aussagetüchtigkeit: Nicht psychotischen psychischen Störungen liegen dimensionale und keine kategorialen Veränderungen auch normalpsychologisch zu beobachtender Phänomene ohne gravierende kognitive Beeinträchtigungen zugrunde, so dass in diesen Fällen nicht von Einschränkungen der Aussagetüchtigkeit auszugehen ist. • Beeinflussung durch psychotrope Substanzen/Substanzabhängigkeit: Alkohol, Opioide, Cannabinoide und Sedativa wirken vor allem wahrnehmungsbeeinträchtigend bzw. -einengend. Unter dem Einfluss von Kokain, Stimulanzien und Halluzinogenen hingegen kann die Wahrnehmung so verändert sein, dass Informationen genauer, verzerrt oder ohne reale Grundlage aufgenommen werden (Täschner, 2002). Benzodiazepine können zu amnestischen Zuständen führen (Curran, 1991). Es ist jeweils zu berücksichtigen, ob ein einmaliger Konsum, ein fortgesetzter Missbrauch oder ein Abhängigkeitssyndrom vorliegt. So wirkt sich beispielsweise die chronische Intoxikation, in der sich Heroinabhängige befinden, nur in ge-
Psychotrope Substanzen
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Schizophrenien
Persönlichkeitsstörungen
ringem Umfang auf die Reizwahrnehmung aus. Auch die Fähigkeit, Wahrgenommenes zu speichern, ist in diesem „subjektiven Normalzustand“ nicht beeinträchtigt. Relevante Wahrnehmungseinschränkungen sind allerdings wenige Minuten nach der Injektion von Heroin sowie bei schweren körperlichen Abstinenzerscheinungen anzunehmen. In diesen Fällen sind aber auch andere Leistungsausfälle zu beobachten. Sinnestäuschungen treten weder unter der akuten noch unter der chronischen Wirkung von Heroin auf (Täschner, 1993). Für Alkohol gilt, dass größere Mengen von Alkohol die Wahrnehmungs- und Gedächtnisfunktionen beeinträchtigen können und in einem Entzugsdelir Halluzinationen auftreten können. Das Vorhandensein einer Alkoholabhängigkeit selbst gibt jedoch keinen Anlass, eine Beeinträchtigung der Aussagetüchtigkeit anzunehmen. • Bei Schizophrenien mit schweren Beeinträchtigungen der Wahrnehmung (Halluzinationen), des Denkens (Wahn) und der Affekte während der fraglichen Tat ist die Aussagetüchtigkeit zu verneinen (Goldstein, 1980). Bei einem stabilen Nebeneinander von psychotischen und gesunden Phänomenen kann allerdings die Aussagetüchtigkeit u. U. auch bei akuter Symptomatik noch erhalten sein (Clauß, 2005; Kröber, 2006b). • Besondere Aufmerksamkeit ist in jüngster Zeit vor allem den BorderlinePersönlichkeitsstörungen zugekommen (Steller & Böhm, 2008). Zwar können Erlebnisse von Borderline-Patienten auf der Basis der Störung in abweichender Weise wahrgenommen und erinnert werden. Jenseits etwaiger psychotischer Episoden liegt bei Borderline-Patienten in der Regel jedoch kein Verlust der Realitätskontrolle vor wie er im Rahmen wahnhafter Störungen beobachtet wird. Außerdem finden sich Wahrnehmungsbesonderheiten oder retrospektive Erinnerungsveränderungen nicht nur bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung, sondern auch bei psychisch Unauffälligen. Eine vorhandene Persönlichkeitsstörung kann zwar die Wahrnehmungsbesonderheiten und/oder die Ausbildung von Pseudoerinnerungen fördern, solche Besonderheiten treten jedoch auch ohne das Vorhandensein einer Persönlichkeitsstörung auf, so dass hier nicht von einer Aufhebung der Aussagetüchtigkeit auszugehen ist. Nur dann, wenn – analog der Beurteilung der Aussagetüchtigkeit von Schizophrenen – auch für den Zeitpunkt der in Frage stehenden Handlung oder der Begutachtung eine akute psychotische Episode des Zeugen symptomatologisch nachweisbar ist, sind Zweifel an der erhaltenen Aussagetüchtigkeit angebracht (Böhm & Lau, 2006; Kröber, 2006b; Lau & Böhm, 2005).
2.3 Glaubhaftigkeit der Aussage Fragestellung
Bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit geht es um die Frage, ob ein Zeuge, der prinzipiell in der Lage ist, eine zutreffende Aussage zu machen, im spezifischen Fall eine Aussage tätigt, die auf einem tatsächlichen Erlebnis basiert. 30
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Da es keine Merkmale gibt, die im Sinne nomologischer Gesetze mit wahren oder unwahren Aussagen verknüpft sind (vgl. Volbert, 2008), muss das diagnostische Vorgehen im kontrastierenden Vergleich verschiedener Modelle bestehen, die alternative Erklärungen für die vorhandenen Daten anbieten (Fiedler & Schmid, 1999).
Methodisches Grundprinzip
Merke: Es ist zu prüfen, ob die in Frage stehende Aussage anders als durch einen tatsächlichen Erlebnishintergrund zustande gekommen sein kann.
Gegenhypothesen zur Wahrannahme:
Im Wesentlichen geht es dabei um die Abklärung von zwei Gegenhypothesen zur Wahrannahme: • Bei der zu prüfenden Aussage handelt es sich um eine absichtliche Falschdarstellung (Lügenhypothese). • Bei der zu prüfenden Aussage handelt es sich um eine subjektiv für wahr gehaltene, auf einer vermeintlichen „Erinnerung“ basierende Darstellung, deren Inhalt aber tatsächlich keine Entsprechung in einer vorausgegangenen Realität hat. Derartige Pseudoerinnerungen entwickeln sich in der Regel auf der Basis fremd- und/oder autosuggestiver Prozesse (Suggestionshypothese). Diese beiden Kategorien lassen sich in weitere Subgruppen aufteilen: Beispielsweise kann ein tatsächliches Erlebnis in einen anderen Kontext oder auf einen anderen Beschuldigten transferiert werden und eine Pseudoerinnerung kann durch einen Dritten entweder intentional oder unbeabsichtigt induziert worden sein (vgl. Steller, Volbert & Wellershaus, 1993). Die beiden grundsätzlichen Gegenhypothesen sind jeweils mit unterschiedlichen Voraussetzungen verknüpft (vgl. Tab. 4). So lässt sich die Annahme einer absichtlichen Falschbezichtigung nur aufrechterhalten, wenn ein Motiv für eine falsche Darstellung vorliegt und wenn der Aussagende über ausreichende Täuschungsfähigkeit und genügend Wissen über den Tatbestand verfügt, um den es in der Aussage geht. Für die Annahmen einer suggerierten Aussage müssen diese Voraussetzungen dagegen nicht erfüllt sein. Diese Hypothese ist dagegen nur dann aufrechtzuerhalten, wenn konkrete suggestive Bedingungen in der Aussagegeschichte nachzuzeichnen sind. Beide Konstellationen unterschieden sich darüber hinaus in einem anderen wichtigen Punkt: Während sowohl bei der absichtlichen Falschdarstellung
Voraussetzungen der Gegenhypothesen
Unterschiede im Hinblick auf den subjektiven Status des Aussagenden
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Tabelle 4: Voraussetzungen der grundsätzlichen Gegenhypothesen Intentionale Falschaussage – Motivation – Fähigkeiten – Andere zu täuschen – Plausible Aussage zu erfinden – Erfundene Aussage konstant wiederzugeben – Relevantes Wissen
Suggerierte Aussage – Suggestive Bedingungen, z. B.: – Voreinstellung bei Befragenden – Wiederholte Befragungen – Suggestive Befragungstechniken
als auch bei einer auf einer Pseudoerinnerung basierenden Darstellung die Aussage nicht erlebnisbasiert, also objektiv unzutreffend ist, unterscheiden sich die Aussagenden in den beiden Konstellationen im Hinblick auf ihren subjektiven Status. Während der lügende Zeuge weiß, dass er täuscht, entspricht der subjektive Status desjenigen, der eine Aussage auf der Basis einer Pseudoerinnerung macht, dem eines wahr aussagenden Zeugen. Zwischen den Polen „intentionale Lüge“ und „Darstellung auf der Basis einer Pseudoerinnerung“ befindet sich allerdings vermutlich ein Graubereich, in dem es gelegentlich zu Angaben kommt, von denen die Aussagenden zumindest zeitweise selbst wissen, dass sie in dieser Form nicht zutreffend sind, zu anderen Zeitpunkten aber von dem Erlebnisbezug überzeugt sind. Im Folgenden wird zunächst auf die Differenzierung zwischen wahren und erfundenen Aussagen eingegangen, anschließend wird der Prozess der Prüfung wahrer versus suggerierter Darstellungen erörtert.
2.3.1 Erlebnisentsprechende versus erfundene Darstellungen 2.3.1.1 Theoretische Modelle zur Unterscheidung zwischen wahren und erfundenen Darstellungen
Arousal-Ansatz
Kognitiver Ansatz
Es existieren verschiedene theoretische Überlegungen, wieso es Unterschiede in dem Verhalten und den Aussagen von wahrheitsgemäß aussagenden und lügenden Personen geben könnte: Bei dem Arousal-Ansatz wird davon ausgegangen, dass Täuschungen Erregungen hervorrufen, die sich in physiologischen Reaktionen wie erhöhtem Blutdruck, aber auch in größerer Pupillendilatation, Zunahme von Sprechfehlern oder erhöhter Stimmlage ausdrücken. Teilweise wird angenommen, dass die erhöhte Erregung aus Schuldgefühlen oder Furcht vor Entdeckung der Lüge resultiert (Ekman, 1992). Kognitive Ansätze betonen dagegen die mentalen Anforderungen an den Täuschenden, dessen Aufgabe im Vergleich zu dem wahrheitsgemäß 32
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Aussagenden als kognitiv anspruchsvoller betrachtet wird, was beispielsweise eine höhere Antwortlatenz, geringere Sprechgeschwindigkeit, aber auch eine Abnahme von Körperbewegungen und eine geringere inhaltliche Komplexität der falschen Aussage zur Folge haben sollte (Zuckerman, Koestner & Driver, 1981). Ein weiterer Ansatz betont die Kontrollbemühungen des Täuschenden. Es wird postuliert, dass Personen während einer Lüge ihr Verhalten zu kontrollieren versuchen, um einen glaubwürdigen Eindruck zu vermitteln und sich nicht zu verraten. Dies wiederum kann zu einem besonders rigiden und gehemmten Aussageverhalten führen (DePaulo, 1988). Meta-Analysen (DePaulo et al., 2003, Sporer & Schwandt, 2007) haben gezeigt, dass hinsichtlich non- bzw. paraverbaler Merkmale nur wenige signifikante Unterschiede zwischen lügenden und wahrheitsgemäß aussagenden Personen existieren. Entgegen weit verbreiteter Annahmen unterscheiden einzelne Anzeichen für Nervosität, wie Blickvermeidung, nicht zwischen diesen beiden Gruppen. Legt man die Ergebnisse der Meta-Analysen zugrunde, finden sich zwar beispielsweise Unterschiede im Hinblick auf Tonlage, Zusammenpressen der Lippen und Pupillendilatation; die Unterschiede sind aber nicht so ausgeprägt, dass sie im Einzelfall diagnostisch hilfreich sein können (Sporer & Köhnken, 2008). Über unterschiedliche Täuschungsaufgaben hinweg erwiesen sich die Darstellungen der Lügner im Schnitt als kürzer und weniger detailreich; zudem enthielten wahre Aussagen mehr indirekt handlungsbezogene Schilderungen und wiesen weniger spontane Korrekturen und seltener Hinweise auf eigene Erinnerungslücken auf. Auch diese Unterschiede sind nicht so bedeutsam, dass sie schon im Einzelfall zu richtigen Klassifikationen führen würden, die Ergebnisse verweisen jedoch auf die Bedeutung inhaltlicher Merkmale.
Kontrollansatz
Non- und paraverbale Merkmale
Inhaltliche Merkmale
2.3.1.2 Inhaltsanalytischer Ansatz Bei dem im Rahmen der Glaubhaftigkeitsbegutachtung etablierten inhaltsanalytischen Ansatz wurden inhaltliche Aussagebesonderheiten von erfundenen bzw. wahren Aussagen nicht deduktiv aus theoretischen Überlegungen abgeleitet, sondern basierten auf den Beobachtungen in der forensischen Praxis, dass erlebnisfundierte Aussagen bestimmte Merkmale aufweisen, die sich in unwahren Darstellungen nicht finden. Auf dieser Basis wurde die sogenannte „Undeutsch-Hypothese“2 postuliert, die besagt, dass wahre Aussagen im Vergleich zu erfundenen Darstellungen eine höhere Aussagequalität aufweisen.
„UndeutschHypothese“
2 Diese Arbeitshypothese der inhaltsorientierten Glaubhaftigkeitsbeurteilung wurde von Undeutsch (1967, S. 126) herausgearbeitet und daher von Steller (1989) als Undeutsch-Hypothese bezeichnet, was in der internationalen Literatur aufgegriffen wurde.
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Falschaussagen stellen hohe Anforderungen an die kognitive Leistungsfähigkeit
Charakteristika ereignisspezifischer autobiografischer Repräsentationen
Auswirkungen auf die Qualität erlebnisbasierter Aussagen
Diese Hypothese lässt sich mit kognitiven und Kontrollansätzen zur Unterscheidung zwischen wahrheitsgemäßen Darstellungen und absichtlichen Täuschungen theoretisch begründen: Während es sich bei der Wiedergabe eines tatsächlichen Erlebnisses um eine kognitiv relativ leicht zu bewältigende Aufgabe handelt, stellt es eine schwierige Aufgabe mit hoher Anforderung an die kognitive Leistungsfähigkeit eines Zeugen dar, eine Aussage über ein komplexes Handlungsgeschehen ohne eigene Wahrnehmungsgrundlage zu erfinden. Dies gilt insbesondere, weil es nicht nur um die Produktion einer erfundenen Geschichte geht, sondern weil diese im Rahmen einer Befragungssituation produziert werden muss, in der Nachfragen gestellt werden, so dass der lügende Zeuge die erfundene Aussage ohne zeitliche Verzögerung widerspruchsfrei ergänzen muss. Darüber hinaus muss eine Falschbezichtigung – wenn sie erfolgreich sein soll –, nicht nur einmal, sondern wiederholt abgegeben werden, wobei zwischen den verschiedenen Befragungen lange Zeiträume, manchmal Jahre, liegen können. Da von den Befragungen Protokolle angefertigt werden, auf deren Basis jeweils die späteren Befragungen durchgeführt werden, muss ein lügender Zeuge sich nicht nur seine ursprüngliche Falschaussage, sondern auch seine auf Nachfragen erfolgten spontanen Ergänzungen genau merken, um später konstante Angaben machen zu können. Gleichzeitig muss er während der Befragungen fortlaufend sicherstellen, dass die Täuschung nicht entdeckt wird. Dafür muss er den Befragenden beobachten, um festzustellen, ob bei diesem bereits Zweifel aufkommen und ggf. sein Verhalten und die inhaltliche Ausgestaltung seiner Aussage modifizieren. Ein grundlegender Unterschied zwischen einer wahren und einer gelogenen Darstellung besteht zunächst darin, dass der aufrichtige Kommunikator seinen Bericht aus dem Gedächtnis rekonstruiert, während der lügende Zeuge seine Aussage aus dem gespeicherten Allgemeinwissen bezüglich solcher und ähnlicher Erlebnisse, also aus kognitiven Schemata, konstruieren muss. Ereignisspezifische autobiografische Repräsentationen haben episodischen Charakter und beinhalten bildhaft vorstellbare Informationen über spezifische raum-zeitlich lokalisierbare Ereignisse (z. B. Conway & Pleydell-Pearce, 2000). In Abhängigkeit von dem tatsächlichen Erlebnis werden beispielsweise visuelle, auditive, olfaktorische, räumliche und verbale Informationen gespeichert, die im Einzelfall auch ungewöhnlich oder erwartungswidrig sein können. Merke: In erlebnisbegründeten Schilderungen ist häufig ein hohes Ausmaß an Detaillierung und individueller Durchzeichnung festzustellen.
Solche inhaltlichen Besonderheiten können beispielsweise in der Schilderung von Begleitgefühlen zu dem Erlebnis oder in ausgefallenen Details, 34 © 2010 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Volbert/Dahle: Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren.
dem Erwähnen von Nebensächlichkeiten oder von Komplikationen bzw. Handlungsabbrüchen bestehen. Inhaltliche Besonderheiten treten in erlebnisbegründeten Aussagen vielfach sozusagen von selbst auf. Wenn jemand dagegen einen nicht selbst wahrgenommenen bzw. nicht selbst erlebten Sachverhalt schildert, steht ihm als Grundlage nur das Schemawissen zur Verfügung. Kognitive Schemata sind abstrakte Wissensstrukturen, die Vorannahmen über Gegenstände, Menschen und Situationen enthalten, d. h. gewissermaßen eine Zusammenfassung der Eigenschaften, die typischerweise in einem Exemplar des jeweiligen Gegenstandsbereichs vorkommen. Naturgemäß fehlen spezifische Informationen und das hat Auswirkungen auf die Qualität einer erfundenen Aussage: Schemainkonsistente und -irrelevante Details, die bei einer realen Wahrnehmung als „Anhang“ zum Schema gespeichert werden, finden sich hier nicht. In Schilderungen, die aus vorhandenem Schemawissen konstruiert werden, sind daher vor allem elementare, direkt zum Handlungsziel hinführende Handlungssequenzen zu erwarten. Die Wahrscheinlichkeit, dass auch nebensächliche Details, abgebrochene Handlungsketten, unerwartete Komplikationen oder gar phänomengemäße Schilderungen unverstandener Handlungselemente beschrieben werden, ist ausgesprochen gering, da solche Elemente kaum Teil eines entsprechenden Schemas sein dürften (Köhnken, 1990).
Konstruktion erfundener Aussagen auf der Basis kognitiver Schemata
Merke: Erfundene Aussagen enthalten daher in der Regel weniger schemainkonsistente und -irrelevante Elemente als erlebnisbasierte Darstellungen.
Ein zweiter Unterschied zwischen einem aufrichtigen und einem lügenden Kommunikator betrifft die Selbstpräsentation. Ein lügender Kommunikator verfolgt das Ziel, bei dem Rezipienten den Eindruck eines glaubwürdigen Kommunikators, also einen falschen Eindruck, zu erzeugen, um so die Wirksamkeit der falschen Aussage zu unterstützen. Zu diesem Zweck greift er auf Alltagsvorstellungen darüber zurück, welche Verhaltensweisen und Äußerungen einen solchen Eindruck bei dem Rezipienten bewirken und welche umgekehrt zum Verdacht der Unglaubwürdigkeit führen. Falsche Aussagen enthalten deswegen in der Regel nur in geringem Ausmaß Selbstkorrekturen, Zugeben von Erinnerungslücken, Selbstbelastungen oder andere Elemente, welche dem Alltagsverständnis nach der beabsichtigten Selbstpräsentation zuwiderlaufen (Köhnken, 1990).
Strategische Selbstpräsentation: Bemühen, den Eindruck eines glaubwürdigen Kommunikators zu erzeugen
Merke: Das Fehlen solcher Aussageelemente, die gemäß der Vorstellung von Laien Lügenindikatoren darstellen oder auf Inkompetenz hindeuten könnten, trägt neben dem Fehlen von schemainkonsistenten und -irrelevanten Details zu der geringeren Qualität von erfundenen gegenüber erlebnisbasierten Aussagen bei.
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Erfundene Aussagen sind weniger elaboriert und stereotyper als erlebnisbasierte Aussagen
Falschaussage als Leistungsprodukt:
Ein lügender Zeuge hat also eine Reihe von Aufgaben zu bewältigen. Er muss: • eine Falschdarstellung plausibel konstruieren, • diese ggf. spontan ergänzen, • sich die selbst produzierte Information merken, • keine Information erwähnen, die den Zuhörer skeptisch werden lassen könnte, • die eigene Wirkung sowie die Wirkung der Aussage auf den Rezipienten kontrollieren. Daher fällt die eigentliche Handlungsschilderung – je nach gegebener Leistungsfähigkeit des Aussagenden – inhaltlich relativ wenig elaboriert aus, da für eine komplexe Darstellung nicht mehr ausreichend kognitive Ressourcen zur Verfügung stehen. Daraus resultiert, dass eine erfundene Handlungsschilderung im intraindividuellen Vergleich eine geringere inhaltliche Qualität aufweist als eine wahre Bekundung über ein Erlebnis.
Prämisse: Intentionalität
Prämisse: Verheimlichung der Täuschung
Aus den bisherigen Äußerungen ergibt sich, dass die erwarteten Unterschiede an eine wesentliche Voraussetzung gebunden sind, nämlich an die Intentionalität des Kommunikators. Die referierten Überlegungen gehen von einem motivierten und zielgerichteten Verhalten des Falschaussagenden und einer aktiven Konstruktion einer erfundenen Darstellung aus. Eine weitere implizite Annahme besteht darin, dass der Falschaussagende um Verheimlichung der Täuschung bemüht ist (vergleiche Volbert & Steller, 2009).
2.3.1.3 Systeme für merkmalsorientierte Qualitätsanalysen Zur Operationalisierung der inhaltlichen Qualität wurden verschiedene Kriteriologien vorgelegt. Eine erste Systematisierung inhaltlicher Glaubhaftigkeitsmerkmale nahmen Steller und Köhnken (1989) vor (vgl. Tab. 5). Von Niehaus (2008a) ist eine modifizierte Zusammenstellung von Merkmalen vorgenommen worden, die zugrunde liegende Mechanismen und formale Auswertungsaspekte stärker berücksichtigt (vgl. Tab. 6). Qualitätsmerkmale in der Gesamtaussage
Einige Merkmale beziehen sich auf die Aussage in ihrer Gesamtheit, wobei ein Fehlen wesentlicher innerer und äußerer Widersprüche eher eine notwenige Bedingung als ein positives Qualitätsmerkmal darstellt (vgl. auch Greuel et al., 1998), so dass logische Konsistenz eigentlich nicht als eigenständiges Positivmerkmal zu betrachten ist. Auch ein Mindestmaß 36
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Tabelle 5: Realkennzeichen in der Kategorisierung von Steller und Köhnken (1989)
Inhaltliche Qualitätsmerkmale
Allgemeine Merkmale
11. Logische Konsistenz 12. Ungeordnet sprunghafte Darstellung 13. Quantitativer Detailreichtum
Spezielle Inhalte
14. 15. 16. 17.
Inhaltliche Besonderheiten
18. Schilderung ausgefallener Einzelheiten 19. Schilderung nebensächlicher Einzelheiten 10. Phänomengemäße Schilderung unverstandener Handlungselemente 11. Indirekt handlungsbezogene Schilderungen 12. Schilderung eigener psychischer Vorgänge 13. Schilderung psychischer Vorgänge des Angeschuldigten
Motivationsbezogene Inhalte
14. 15. 16. 17. 18.
Deliktspezifische Inhalte
19. Deliktspezifische Aussageelemente
Raum-zeitliche Verknüpfungen Interaktionsschilderung Wiedergabe von Gesprächen Schilderung von Komplikationen im Handlungsverlauf
Spontane Verbesserungen der eigenen Aussage Eingeständnis von Erinnerungslücken Einwände gegen die Richtigkeit der eigenen Aussage Selbstbelastungen Entlastung des Angeschuldigten
Tabelle 6: Inhaltliche Glaubhaftigkeitsmerkmale (nach Niehaus, 2008a) Kognitiver Aspekt
Strategischer Aspekt
Nicht motivationale Merkmale
Motivationsbezogene Merkmale
Konkrete Aussageelemente
– – – – – – – – – – – –
Kontextuelle Einbettung Interaktionen Gespräche Handlungskomplikationen Ungewöhnliches Nebensächliches Unverstandenes Verschachtelungen Eigenpsychisches Fremdpsychisches Folgen Delikttypisches
Gesamtaussage
– Detaillierungsgrad (logische Konsistenz) – unstrukturierte Darstellung – spontane Ergänzbarkeit
– Spontane Präzisierungen und Korrekturen – Zugeben von Lücken und Unsicherheiten – Erinnerungsbemühungen – Wirklichkeitskontrollen – Einwände gegen die Glaubwürdigkeit der eigenen Person und Aussage – Selbstbelastungen – Inschutznahme des Beschuldigten
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geschilderter Details ist als notwendige Bedingung zu betrachten. Darüber hinaus kann eine Aussage aber ein sehr unterschiedliches Ausmaß an quantitativem Detailreichtum einnehmen. Basierend auf dem Konzept der kognitiven Überforderung spricht eine komplexe Aussage mit vielen Details gegen eine erfundene Darstellung. Ein selten auftretendes, aber sehr aussagekräftiges Qualitätsmerkmal ist die chronologisch unstrukturierte Darstellung, da es sehr schwierig ist, eine vom Anfang zum Ende durchkonstruierte falsche Behauptung chronologisch unstrukturiert darzustellen, während bei einem tatsächlichen Erlebnis inhaltliche Assoziationen dazu führen können, dass in der chronologischen Darstellung der Ereignisse gesprungen wird. Voraussetzung für die Erfüllung dieses Qualitätsmerkmals ist, dass die Aussage schließlich im Sinne der logischen Konsistenz in sich stimmig ist. Nicht motivationale Merkmale Komplexität der Aussage
Schemainkonsistenz
Individuelle Durchzeichnung
Die übrigen Merkmale beziehen sich auf einzelne Aussagepassagen. Einerseits umfassen die Merkmale spezifische inhaltliche Aspekte der Schilderung. Es geht dabei darum, wie komplex und anschaulich eine Aussage geschildert wird. Qualitätsmerkmale sind z. B. gegeben, wenn Handlungen in raum-zeitliche Bedingungen eingebettet werden, die sich einfügen in die Routine des Aussagenden, wenn eine Handlung nicht nur global behauptet wird, sondern komplexe und plastische Beschreibungen verbaler und nonverbaler Handlungen der beteiligten Personen erfolgen oder wenn komplexe eigene innere Vorgänge oder sichtbar werdende Befindlichkeiten beteiligter Personen beschrieben werden. Insbesondere komplexe Handlungsketten und Details, die für die Schilderung der Tathandlung objektiv irrelevant sind, weil sie zum eigentlichen Handlungsvorwurf nichts beitragen, die gesamte Darstellung aber plastisch erscheinen lassen, sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung, weil diese nicht aus Schemawissen ableitbar sind. Noch klarer wird dies bei Handlungselementen, deren Schilderung deutlich macht, dass der Aussagende etwas auf phänomenaler Ebene beschreibt, dessen Bedeutung er jedoch überhaupt nicht verstanden hat. Ein Kind, das über keine Sexualkenntnisse verfügt, berichtet beispielsweise, der Mann habe auf seinen Bauch „gepullert“, weil es kein Wissen über eine Ejakulation hat. Dies ist ein besonders prägnantes Qualitätsmerkmal, weil eine erfundene Aussage den eigenen Verständnishorizont nicht überschreiten kann. Bei anderen Qualitätsmerkmalen liegt die Bedeutung in der Schemainkonsistenz; so widerspricht es einem typischen Ablauf, wenn eine geschilderte intendierte Handlung aufgrund unerwarteter Störungen unterbrochen wird oder wenn sie ungewöhnliche Elemente enthält. Derartige Details sind bei der Erfindung einer Falschaussage in der Regel fern liegend, zudem würden sie die konstante Reproduktion der Aussage erschweren und werden deshalb vermieden. Eine qualitativ hochwertige Aussage zeichnet sich durch die individuelle Durchzeichnung aus, d. h. Handlungen und Beteiligte sind nicht austauschbar; manchmal werden zudem komplexe Verflechtungen des Geschilder38
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ten mit ähnlichen Situationen oder Gespräche über ähnliche Handlungen vorgetragen (Niehaus, 2008a; zu näheren Erläuterungen der Qualitätsmerkmale siehe Greuel et al., 1998; Köhnken, 2003; Niehaus, 2001). Die zu klärende Frage lautet: „Könnte der Zeuge eine solche Aussage mit dieser spezifischen inhaltlichen Qualität produzieren, ohne dass sie auf einem realen Erlebnis beruht?“
Zum Anderen beziehen sich die Merkmale auf motivationale Aspekte wie Selbstbelastungen und Entlastungen des Beschuldigten. Im Sinne strategischer Selbstpräsentationen wird davon ausgegangen, dass falsch aussagende Personen folgende Ziele verfolgen (Niehaus, Krause & Schmidke, 2005): • Darstellung der eigenen Person als kompetent (z. B. durch Vermeiden von Unsicherheiten, Erinnerungslücken, Erinnerungsbemühungen, spontanen Korrekturen eigener Angaben) und moralisch makellos (z. B. durch Vermeiden von Selbstbelastungen oder Einwänden gegen die Glaubwürdigkeit der eigenen Person); • Abwertung des Beschuldigten, um dessen Glaubwürdigkeit zu untergraben und selbst als glaubwürdigere Informationsquelle wahrgenommen zu werden (z. B. durch Vermeiden von Entlastungen); • Unauffällige Präsentation der eigenen Aussage, um keine unnötige Angriffsfläche für Zweifel zu bieten (z. B. durch Vermeiden von Einwänden gegen die Plausibilität eigener Angaben).
Motivationsbezogene Merkmale
Werden Einwände gegen die Glaubwürdigkeit der eigenen Person vorgebracht oder wird eine vermeintliche Mitschuld an der eigenen Opferwerdung dargestellt, spricht dies dafür, dass der Zeuge um eine objektive Schilderung und nicht aktiv um Glaubwürdigkeit bemüht ist (Niehaus, 2008a). Die in diesem Zusammenhang relevante Frage lautet: „Würde ein absichtlich falsch aussagender Zeuge solche Details erwähnen, die die eigene Aussage (oder die eigene Person) in ein unvorteilhaftes Licht rücken?“
Es ist zu betonen, dass es nicht darum geht, Realkennzeichen gewissermaßen „mit der Lupe“ zu suchen. Die angesprochenen inhaltlichen Aspekte können in einer Aussage in unterschiedlicher Weise vorhanden sein. Arntzen (2007) hat zwischen „Aussageeigenarten“ und „Glaubwürdigkeitsmerkmalen oder -kriterien“ unterschieden. Bei den Aussageeigenarten handelt es sich um einfache Ausprägungen der dargestellten Merkmale, die für die Beurteilung irrelevant sind, da sie bis zu einem gewissen Grad auch in Falschbekundungen zu finden sind. Schließlich muss auch ein lügender Zeuge seine Darstellung an irgendeinem Ort zu irgendeiner Zeit stattfinden lassen, auch in einer erfundenen Darstellung gibt es Beschreibungen
Qualitätsmerkmale versus Aussageeigenarten
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von Interaktionen, oftmals werden auch Gesprächsfragmente berichtet. Bei der Feststellung der Einzelmerkmale muss also beurteilt werden, ob eine Aussageeigenart quantitativ und/oder qualitativ so ausgeprägt ist, dass sie tatsächlich zu einem Qualitätsmerkmal wird. Dieser Beurteilungsprozess erfordert bereits eine Berücksichtigung der spezifischen Kompetenzen und Vorerfahrungen des Zeugen, der Komplexität des vorgebrachten Geschehens sowie der Befragungsbedingungen (hierzu weiter unten).
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Qualitätsanalyse darf sich nur auf fragliche Aspekte beziehen
Hohe Aussagequalität spricht gegen die Lügenannahme
Keine Checkliste
Zu berücksichtigen ist ferner, dass vermutlich keine Aussage vollständig erfunden ist, sondern fast immer auch bekannte Orte, Personen und Ereignisse einbezogen werden. Gute Lügner nutzen unter Umständen sogar die Strategie, möglichst ausführliche wahre Anteile in ihre erfundene Aussage einzuflechten. Bei einigen Fallkonstellationen ist diese Problematik dem Sachverhalt bereits immanent: So geht es bei fraglichen Sexualdelikten zum Nachteil von Jugendlichen oder Erwachsenen oftmals gar nicht darum, ob die sexuelle Handlung stattgefunden hat oder nicht, sondern um die Frage, ob diese einverständlich erfolgte oder nicht. Deswegen ist darauf zu achten, dass die Inhaltsanalyse sich nicht auf die Aussageteile bezieht, die zweifelsfrei erlebnisbasiert sind, denn diese können selbstverständlich eine hohe Qualität aufweisen. Diagnostische Bedeutung der aussageimmanenten Qualität: Wenn die Frage, ob sich ein lügender Zeuge eine Aussage dieser Qualität ausgedacht haben könnte oder ausgedacht haben würde, negativ beantwortet wird, spricht dieser Befund gegen die Lügenhypothese. Den Umkehrschluss erlaubt die merkmalsorientierte Inhaltsanalyse hingegen nicht. Ein Fehlen der Merkmale kann ganz unterschiedliche Ursachen haben (z. B. Ereignis mit geringer Komplexität, mangelnde Aussagebereitschaft, ungeeigneter Befragungsstil, erlebte Skepsis des Gegenübers, Erinnerungsschwächen), eine gezielte Falschaussage ist nur eine dieser Möglichkeiten. Die merkmalsorientierte Inhaltsanalyse ist deswegen keine Methode zur Aufdeckung von Täuschung. Ebenso wenig ergibt sich allerdings aus einer hohen Aussagequalität bereits per se ein Hinweis auf den Erlebnisbezug der Darstellung, da mit der Aussagequalität die Annahme einer suggerierten Aussage nicht zurückgewiesen werden kann, wie weiter unten ausgeführt werden wird.
Die Aussageanalyse führt in einem ersten Schritt lediglich zu einer Beurteilung der Qualität einer Aussage. Es existieren aber keine Verknüpfungsregeln im Sinne eines Cut-off-Wertes, die bei Vorliegen einer bestimmten Anzahl inhaltlicher Merkmale ein entsprechendes Glaubhaftigkeitsurteil nahe legen. Die Grundidee des inhaltsanalytischen Ansatzes ist mit einer solchen Checklistendiagnostik wegen der notwendigen Berücksichtigung der Komplexität des in Frage stehenden Geschehens, der individuellen Leistungsfähigkeit, Motivation und bereichsspezifischen Erfahrung des Zeugen auch nicht zu vereinbaren (vgl. Greuel, 2001; im Druck). Die Qualitätsanalyse gewinnt ihre Aussagekraft für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung erst 40
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durch ihren Bezug auf die spezifischen Kompetenzen und Erfahrungen des Aussagenden und auf die spezifischen situativen Randbedingungen. Je nach Alter, geistiger Leistungsfähigkeit und bereichsspezifischer Erfahrung des Aussagenden ist der Indikatorwert der Qualitätseinschätzung für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung unterschiedlich zu bewerten.
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2.3.1.4 Aussageübergreifende Qualität: Konstanz Neben der inhaltlichen Qualitätseinschätzung, die für eine Aussage vorgenommen wird (aussageimmanente Qualitätsmerkmale, Greuel et al. 1998), sind auch aussageübergreifende Qualitätsmerkmale zu berücksichtigen, die sich aus dem Vergleich von Aussagen über denselben Sachverhalt zu unterschiedlichen Zeitpunkten ergeben (Konstanzanalyse). Allerdings sind Konstanzmerkmale im Gegensatz zu Qualitätskriterien in der Vergangenheit erst wenig systematisch untersucht worden. Von Arntzen (2007) ist ein Modell zur Bedeutung von Konstanz als Glaubhaftigkeitskriterium entwickelt worden, das von vier Prämissen zum Erinnern von erlebten und erfundenen Aussagen ausgeht: 1. Erinnerungen an selbst erlebte Ereignisse werden länger im Gedächtnis behalten als nur mental Vorgestelltes. 2. Erlebnisbegründete Schilderungen enthalten deswegen bei wiederholter Befragung mehr Übereinstimmungen als erfundene Aussagen. 3. Auch bei erlebnisbasierten Aussagen treten Erinnerungsverluste auf. 4. Diese Vergessensprozesse verlaufen ungleichmäßig.
Konstanzmodell von Arntzen
Arntzen (2007) hat sowohl spezifische inhaltliche Bereiche formuliert, in denen bei erlebnisbasierten Aussagen Konstanz zu erwarten ist, als auch solche, bei denen Inkonstanz über die Zeit auch bei Erlebnisgrundlage möglich bzw. wahrscheinlich ist (vgl. Tab. 7). Arntzen argumentiert, dass eine „differenzierte Inkonstanz“, die gedächtnispsychologische Regelmäßigkeiten reflektiert (erwartet konstante Inhalte bleiben konstant, erwartet inkonstante Inhalte werden dagegen nicht übereinstimmend berichtet oder nicht erinnert) einen Hinweis auf einen tatsächlichen Erlebnisbezug darstellt, da eine Struktur der differenzierten Inkonstanz von einem lügenden Zeugen nicht simuliert werden könne. Allerdings hat eine solche Konstanzstruktur nach Auffassung von Arntzen lediglich im Zusammenspiel mit anderen Glaubwürdigkeitskriterien diagnostischen Wert.
Konstanz als Glaubhaftigkeitsmerkmal
Merke: Zu einem regelrechten Glaubhaftigkeitsmerkmal wird Konstanz nach diesem Modell erst, wenn eine Aussage in allen Bereichen konstant bleibt, also auch in den Bereichen, in denen Inkonstanz unter gedächtnispsychologischen Gesichtspunkten möglich erscheint.
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Tabelle 7: Erwartet konstante und erwartet inkonstante Inhalte in erlebnisbasierten Aussagen (nach Arntzen, 2007) Erwartete Konstanzen
Erwartete Inkonstanzen
– Handlungen, die für den Zeugen das Kerngeschehen darstellen – Unmittelbar beteiligte Handlungspartner – Örtlichkeiten des Geschehens – Fortbewegungsart (falls Geschehen sich auf mehrere Orte erstreckte) – Handlungsrelevante Gegenstände – Lichtverhältnisse – Körperpositionen bei der Haupthandlung, sofern es sich um körpernahe Handlungen handelte
– Zuordnung von Nebenhandlungen zu einer Haupthandlung bei mehreren ähnlichen Vorfällen – Reihenfolge von Phasen eines Vorgangs und verschiedener in sich abgeschlossener Handlungen – Datierung eines Vorgangs (falls dieses nicht besonders beachtet wurde oder mit anderen feststehenden Daten in Beziehung gesetzt werden kann) – Angaben, die auf Schätzungen basieren – Häufigkeitsangaben bei ähnlichen Vorfällen – Seitenverhältnisse und Position einzelner Körperteile – Nicht unmittelbar beteiligte Begleitpersonen – Kleidung – Eigene frühere Aussagen – Wortlaut und Sinngehalt von Gesprächen – Motive früherer Handlungen und Unterlassungen – Schmerzempfinden – Wetterverhältnisse – Zahlen
Berücksichtigt werden müssen dabei Randbedingungen, die sich auf die kognitiven Anforderungen an den Zeugen beziehen wie die Befragungstechnik, der Detaillierungsgrad der Aussage, zeitliche Aspekte (Intervalle zwischen Ereignis und Befragungen) und das Aussagetempo. Erfundene Aussagen enthalten mehr Widersprüche und weniger qualifizierte Ergänzungen als wahre Darstellungen Vergessensprozesse verlaufen bei tatsächlichen Erlebnissen ungleichmäßig
„Differenzierte Konstanz“ stellt kein Glaubhaftigkeitsmerkmal dar
Erste empirische Überprüfungen der Annahmen von Arntzen durch Volbert, Braun, Gretenkord, Teske und Wilma-Mews (2001) sowie durch Paas (2007) bestätigten die Annahme, dass in wahren Aussagen signifikant weniger Widersprüche und mehr qualifizierte Ergänzungen und nach einem Intervall von einem Jahr in der untersuchten Stichprobe von Erstklässlern auch signifikant mehr Übereinstimmungen auftreten als in erfundenen Aussagen. Ferner konnte gezeigt werden, dass in wahren Aussagen Vergessensprozesse entsprechend den von Arntzen formulierten Erwartungen ungleichmäßig verlaufen. Die Annahme, dass in erlebnisbasierten Aussagen Vergessen ungleichmäßig, in erfundenen Aussagen dagegen gleichmäßig über die verschiedenen inhaltlichen Bereiche verläuft, fand hingegen keine Bestätigung. Das Muster der „differenzierten Inkonstanz“ trennte insofern nicht zwischen erlebnisbasierten und erfundenen Aussagen (Volbert, 2002). In einer Studie von Offe und Offe (2008) zur Konstanz von Aussagen Erwachsener zeigte 42
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sich in Übereinstimmung mit den Befunden von Volbert et al. (2001), dass sich erfundene Aussagen vor allem im Hinblick auf das Auftreten von Widersprüchen von wahren Darstellungen unterscheiden, wobei jeweils deutlich wurde, dass auch in vielen erlebnisbasierten Aussagen keine völlige Widerspruchsfreiheit vorhanden ist. Zu beachten ist, dass auch viele erfundene Aussagen in wesentlichen Aspekten bei zwei Befragungszeitpunkten übereinstimmend berichtet werden. Zumindest bei wenig komplexen Aussagen können erfundene Darstellungen ein Ausmaß an Konstanz erreichen, das mit der Konstanz in erlebnisbasierten Darstellungen vergleichbar ist. Diagnostische Bedeutung der aussageübergreifenden Qualität: Für die Glaubhaftigkeitseinschätzungen sind Konstanzinformationen unter dem Aspekt der Konzeption einer Aussage als geistige Leistung folglich vor allem dann von Bedeutung, wenn ausgesprochen gute oder besonders schlechte Leistungen erzielt werden. Eine in zentralen Aspekten nicht widersprüchliche Aussage erfüllt noch keine Glaubhaftigkeitsmerkmale; Konstanz in diesem Sinne stellt lediglich die Mindestanforderung an eine Aussage dar (Greuel et al., 1998). Dagegen kann eine konstante Darstellung vieler nebensächlicher Details in einer komplexen Aussage einen Hinweis auf einen Erlebnisbezug bieten, während umgekehrt gravierende Widersprüche in zentralen Aspekten auf eine Falschaussage verweisen können (Volbert, 2002).
Wenig komplexe erfundene Aussagen können hohes Maß an Konstanz aufweisen
Konstante Darstellung nebensächlicher Details in komplexer Aussage spricht gegen Lügenhypothese
2.3.1.5 Aussagebeurteilung unter Berücksichtigung relevanter Randbedingungen Aspekte der aussagenden Person Zu berücksichtigen sind hier einerseits individuumsspezifische Tendenzen, autobiografische Erlebnisse wahrzunehmen und darzustellen, andererseits die Fähigkeiten, eine erfundene Schilderung zu konstruieren und andere damit zu täuschen. Darstellung autobiografischer Erlebnisse. Informationen zur Wahrnehmung, Speicherung und Reproduktion autobiografischer Ereignisse werden als Bezugspunkt zur Qualitätsanalyse erhoben. Angesprochen werden in diesem Zusammenhang Fragen der Leistungsfähigkeit des autobiografischen Gedächtnisses und des verbalen Ausdrucksvermögens. Dabei geht es aber nicht so sehr um grundsätzliche Fähigkeiten, wie sie ggf. im Hinblick auf die Aussagetüchtigkeit zu prüfen sind. Im Vordergrund stehen eher individuumsspezifische Tendenzen, autobiografische Erlebnisse darzustellen. Personen unterscheiden sich beispielsweise im Hinblick auf die Detailliertheit und die Nachvollziehbarkeit ihrer Darstellungen sowie dahingehend, ob sie
Autobiografische Gedächtnisleistungen als Bezugspunkt zur Qualitätsanalyse
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sich lediglich auf äußere Fakten konzentrieren oder auch ihre emotionale Beteiligung und eigene Bewertungen beschreiben.
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Entwicklung von Täuschungsfähigkeiten
Täuschungsfähigkeiten. Gezielte Täuschungshandlungen setzen bestimmte Fähigkeiten voraus, die sich erst im Laufe der Zeit ausbilden. Kinder verstehen erst im Alter von etwa 3 bis 4 Jahren, dass sie bei anderen falsche Annahmen über einen Sachverhalt erzeugen können ( first-order belief understanding; z. B. Wellmann, Cross & Watson, 2001), was eine wesentliche Voraussetzung für eine intentionale Täuschung darstellt. Ab etwa 4 Jahren sind die meisten Kinder tatsächlich auch in der Lage, einfache Täuschungen durchzuführen, beispielsweise eigene Normüberschreitungen zu verschweigen. Kinder in diesem Alter realisieren in der Regel aber noch nicht, dass sie nicht nur eine Information verschweigen, sondern ihr übriges Antwortverhalten entsprechend ausrichten müssen. So behaupteten Kinder bis zum Alter von 7 Jahren beispielsweise mehrheitlich fälschlicherweise, eine bestimmte Puppe instruktionsgemäß nicht angeschaut zu haben, berichteten aber anschließend, um welche Puppe es sich handelte (Talwar & Lee, 2002). Ab dem Alter von etwa 6 oder 7 Jahren bemühen sich Kinder, ihr weiteres Antwortverhalten ihren Falschangaben gemäß auszurichten, wobei diese Bemühungen jedoch zunächst nicht sehr erfolgreich verlaufen. Erst mit etwa 7 oder 8 Jahren können die Kinder reflektieren, welche Erwartungen ihr Gegenüber an ihr Wissen hat (second-order belief understanding) und auf dieser Basis die Fähigkeit entwickeln, ihr übriges Antwortverhalten einer initialen Lüge entsprechend auszurichten und somit effektiv zu täuschen (Talwar & Lee, 2008; vgl. auch Volbert, im Druck a). Bei absichtlichen Falschaussagen sind zudem kognitive Voraussetzungen zur Konstruktion einer falschen Darstellung und verbale Fertigkeiten zur Informationsvermittlung erforderlich. Darüber hinaus muss ein Kind für die Selbstpräsentation als glaubwürdiger Kommunikator eine Vorstellung darüber haben, welche Merkmale glaubwürdiges und unglaubwürdiges Aussageverhalten charakterisieren. Lügenstereotype und Täuschungsstrategien werden im Rahmen der sozialen Interaktion erlernt und mit Hilfe der Rückmeldungen des sozialen Umfelds verfeinert (Niehaus, 2008b). Merke: Komplexe sprachliche Täuschung im Sinne einer absichtlichen Falschbezichtigung ist bis in die ersten Grundschuljahre kaum zu erwarten.
Täuschungsstrategisches Wissen und täuschungsstrategische Kompetenzen
Wenn die prinzipiellen kognitiven Voraussetzungen für sprachliche Täuschungen vorhanden sind, bestehen doch interindividuelle Unterschiede, überzeugende komplexe Darstellungen zu produzieren. Bislang ist allerdings wenig darüber bekannt, was Personen charakterisiert, die auch bei fehlender Erlebnisgrundlage eine Aussage mit hoher Qualität produzieren 44
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können. Es ist zu vermuten, dass intellektuell gut begabte besser als einfach strukturierte Personen in der Lage sind, eine komplexe Falschaussage zu konstruieren, weil sie vermutlich über elaborierteres täuschungsstrategisches Wissen verfügen, nicht nur unmittelbar schemaabgeleitete Informationen nutzen und die eigenen Person nicht uneingeschränkt positiv darstellen; konkret nachgewiesen ist diese Vermutung bislang allerdings nicht. Insofern ist Offe und Offe (2000) zuzustimmen, dass bislang wenig geklärt ist, in welchem Verhältnis individuelle Voraussetzungen tatsächlich zur Qualität einer erlebnisbasierten bzw. erfundenen Aussage stehen. Eine Möglichkeit, den daraus resultierenden Fragen zu entgehen, welche Fähigkeiten wie erfasst werden sollen und wie ein Vergleich zwischen den erfassten Fähigkeiten und der Aussage erfolgen kann, besteht darin, die Struktur von fallneutralen Erlebnis- und Fantasiegeschichten mit der zu begutachtenden Aussage zu vergleichen. Auf diese Weise werden individuell typische Strukturen von erfundenen und erlebten Aussageprodukten bestimmt, also eine individuelle Vergleichsgrundlage erstellt, die mit der zu begutachtenden Aussage ins Verhältnis gesetzt wird. Schwierigkeiten bei diesem Zugang bestehen allerdings darin, vergleichbare Bedingungen für die Produktion von Erlebnisberichten, Fantasiedarstellungen und der relevanten Zeugenaussage herzustellen. Wenn ein Zeuge im Rahmen einer Begutachtung auf die Aufforderung, unvorbereitet eine Fantasiegeschichte zu einem vorgegeben Thema zu erzählen, keine hohe Aussagequalität produziert, besagt das noch nicht, dass er mit entsprechender Motivation und Vorbereitungszeit und zu einer selbst ausgewählten Thematik nicht doch eine höhere Aussagequalität erzielen könnte. Zudem ist zu bedenken, dass ein sehr kompetenter Lügner den Hintergrund durchschauen könnte und sich in der Begutachtungssituation, konfrontiert mit der Aufgabe eine Fantasiedarstellung frei zu erfinden ggf. absichtsvoll als besonders schlechter Lügner präsentieren würde.
Individuelle Vergleichsgrundlage
Einschlägiges Wissen und Vorerfahrungen. Wissen über den fraglichen Sachverhalt ist notwendige Voraussetzung, um überhaupt eine Falschaussage zu diesem Inhalt konstruieren zu können. Da Glaubhaftigkeitsgutachten sich in der Regel auf Sexualdelikte beziehen, gilt bei jungen Kindern, dass diese meist nicht über ein elaboriertes Wissen über Sexualität und Sexualdelinquenz (Volbert, 2005b) verfügen und schon deswegen kaum in der Lage sind, zu diesem Sachverhalt eine komplexe Falschaussage zu konstruieren.
Relevantes inhaltliches Wissen
Liegen zu dem Sachverhalt, um den es in der Aussage geht, einschlägige Vorerfahrungen vor, erleichtern diese natürlich die Aufgabe, eine erfundene Darstellung zu konstruieren, da auf tatsächliches Erleben – wenngleich in einem anderen Kontext – zurückgegriffen werden kann. In diesem Fall können auch bei erfundenen Darstellungen hinsichtlich nichtmotivationaler Merkmale unter Umständen qualitativ hochwertige Aussagen produziert werden. Motivationsbezogene Merkmale können sich hingegen auch bei
Einschlägige Vorerfahrungen
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teilweise erlebnisbasierten Falschaussagen noch als diskriminationsrelevant erweisen (Niehaus, 2001, 2003). Erfassung relevanter Wissensund Erfahrungsbestände
Bei Sexualdelikten geht es bei Kindern um die Erhebung sexualbezogener Kenntnisse, um beurteilen zu können, ob überhaupt ausreichend Wissen vorlag, um eine Falschbezichtigung zu konstruieren. Bei allen Zeugen sind Parallelerlebnisse (also andere Sexualdelikte) von Interesse, um zu prüfen, ob ggf. aufgrund einschlägiger Vorerfahrungen die Konstruktion einer qualitativ hochwertigen falschen Darstellung gut gelingen konnte. Sexualbezogene Kenntnisse und Erfahrungen sind immer nur unter diesen Fragestellungen relevant, insofern sollten entsprechende Explorationen auch auf Informationen beschränkt bleiben, die zur Klärung dieser Fragen von Bedeutung sind. Routinemäßige Erhebungen vollständiger Sexualanamnesen sind dagegen nicht notwendig.
Besonderheiten des Erlebens und Verhaltens
Persönlichkeitsvariablen. Im Einzelfall vorliegende Besonderheiten des Erlebens und Verhaltens (z. B. Selbstwertprobleme und Geltungsbedürfnis, Neurotizismus) oder akzentuierte Persönlichkeitsstrukturen können einen bedingenden Faktor für eine mögliche Falschaussage darstellen. Zur Abklärung solcher Besonderheiten können neben biografischer Analyse und problembezogener Exploration auch standardisierte Fragebögen zur Anwendung kommen.
Aussagemotivation
Aussagebereitschaft. Schließlich ist auch die Aussagebereitschaft des Zeugen zu berücksichtigen. Wenn ein Zeuge eine geringe Aussagemotivation zeigt und kaum bereit ist, Angaben zu machen, kann dies auch zu einer geringen Aussagequalität führen, wenn die Darstellung auf tatsächlichem Erleben basiert. Dasselbe gilt auch, wenn das Berichten über das fragliche Ereignis für den Zeugen sehr belastend ist.
Situative Aspekte Komplexität des fraglichen Ereignisses
Komplexität des Ereignisses. Die potenziell produzierbare Aussagequalität ist nicht zuletzt abhängig von der Komplexität des Ereignisses. Soll es sich bei dem fraglichen Ereignis um ein einfaches, wenige Momente dauerndes Geschehen handeln, wird die Aussage über dieses Ereignis auch bei tatsächlichem Erlebnisbezug nur im Ausnahmefall eine hohe Qualität annehmen. Interaktionsketten, Handlungsabbrüche oder ungewöhnliche Details kann man in einer erlebnisbasierten Aussage nur schildern, wenn solche auch im Ursprungsereignis vorgekommen sind, was aber nicht regelmäßig, und insbesondere bei einmaligen kurzen Ereignissen eher nicht der Fall ist.
Art der Befragung
Art der Befragung. Eine hohe Aussagequalität kann ohnehin nur erreicht werden, wenn die Art der Befragung dies überhaupt zulässt. Werden überwiegend spezifische Fragen gestellt oder die Struktur der Aussage durch 46
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die Art der Befragung vorgegeben, kann kein freier Bericht erfolgen und wertvolle Qualitätsmerkmale wie die Unstrukturiertheit der Darstellung oder nebensächliche Details können gar nicht produziert werden. Offene Fragen und allgemeine Erzählaufforderungen führen dagegen im Vergleich zu spezifischen Befragungen zu längeren Antworten und einer besseren Aussagequalität (Überblick bei Vrij, 2005), wobei Hershkowitz (1999) sowie Craig et al. (1999) zeigen konnten, dass offene Fragen bei Kindern, die einen berichteten Missbrauch mit hoher Wahrscheinlichkeit erlebt hatten, zu längeren Antworten und besserer Aussagequalität führten, während das bei den Kindern nicht der Fall war, bei denen sich der behauptete Missbrauch mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht ereignet hatte. Zeitliche Aspekte. Ferner spielen zeitliche Aspekte eine Rolle. Liegt ein langes Intervall zwischen Ereignis und Befragung, können Details möglicherweise weniger gut erinnert werden, was sich negativ auf die Aussagequalität auswirken kann.
Zeitliches Intervall zwischen fraglichem Ereignis und Befragung
Qualitäts-Kompetenz-Vergleich: Die aussageimmanente und -übergreifende Qualität der Aussage wird auf der Basis der individuellen Kompetenzen, Vorerfahrungen, dispositionellen Besonderheiten unter Beachtung der Aussagebereitschaft und unter Berücksichtigung der relevanten situativen Bedingungen bewertet. Dieser Qualitäts-Kompetenz-Vergleich (Steller, 2008) ermöglicht eine Schlussfolgerung darüber, ob der Aussagende in der Lage war, die vorliegende Aussage zu erfinden oder nicht (vgl. Abb. 1).
Personelle Aspekte • autobiografische Gedächtnisleistungen • intellektuelle Fähigkeiten • verbale Fähigkeiten • Täuschungsfähigkeiten • Wissen und Vorerfahrung • dispositionelle Besonderheiten • Aussagebereitschaft Situative Aspekte • Komplexität des fraglichen Ereignisses • Art der Befragung • Intervall zwischen fraglichem Ereignis und Befragung • Intervall zwischen zwei Befragungenen
Aussage • inhaltliche Qualität • Konstanz
Beurteilung Ist der Aussagende in der Lage, diese Darstellung zu erfinden?
Abbildung 1: Qualitäts-Kompetenz-Vergleich
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2.3.1.6 Motivationale Voraussetzungen Wie weiter oben bereits ausgeführt wurde, bestehen die Voraussetzungen für eine absichtliche Falschbezichtigung nicht nur aus dem Vorliegen von Täuschungsfähigkeiten, relevantem Wissen und von Fähigkeiten, falsche Aussagen konstruieren zu können, sondern auch aus einer Motivation für eine falsche Behauptung. Mögliche Motive für Falschbeschuldigungen
Hierbei geht es nicht um ein als relativ überdauernde Disposition konzipiertes Motiv, sondern um den Beweggrund für ein spezifisches Verhalten. Ein solches kann in einer Schädigung des Beschuldigten bestehen, Hintergrund für eine Falschbezichtigung kann beispielsweise aber auch das Bemühen um eine Veränderung eines konfliktbeladenen Zustands, das Ablenken oder Verdecken von eigenem Fehlverhalten oder das Erzielen von Aufmerksamkeit oder Zuwendung durch Dritte sein. Insofern muss eine Motivation nicht zwingend in einer Belastung des Beschuldigten liegen, sondern kann sich auch im Wesentlichen auf die Person des Aussagenden beziehen, wenn beispielsweise eigenes Fehlverhalten verdeckt werden soll oder ein Gewinn aus dem Einnehmen einer Opferrolle gezogen wird.
Persönlichkeitsspezifische Tendenzen
Zu berücksichtigen ist auch eine interindividuell unterschiedlich ausgeprägte Bereitschaft, zur Durchsetzung eigener Interessen eine Schädigung eines Dritten zu initiieren bzw. in Kauf zu nehmen. Zwar ist ein eigenschaftsorientiertes, situationsübergreifendes Konzept von „allgemeiner Glaubwürdigkeit“ im Sinne von „Aufrichtigkeit“ zu verwerfen, da Feststellungen über einen allgemein anerkannt positiven Leumund keine hinreichend eindeutigen Beziehungen zu der Glaubhaftigkeit von spezifischen Aussagen dieser Person zulassen, ebenso wie aus einem schlechten Leumund nicht zwingend auf die Unglaubhaftigkeit konkreter Aussagen zu schließen ist (vgl. O’Sullivan, 2003). Dies schließt jedoch interindividuelle Unterschiede in der Bereitschaft nicht aus, zur Durchsetzung eigener Interessen auch in Ernstsituationen auf falsche Aussagen zurückzugreifen, welche in Begutachtungen zu berücksichtigen sind. Wesentliche Anhaltspunkte für potenzielle Belastungsmotivationen können die Analyse der Beziehung zwischen Zeugen und Beschuldigten und insbesondere die Analyse der Konsequenzen der Anschuldigung für den Zeugen bzw. für den Beschuldigten oder beteiligte Drittpersonen sein. Überlegungen, wer Vor- und wer Nachteile durch die Beschuldigung bzw. eine Verurteilung des Beschuldigten haben könnte, können Hinweise für die Hypothesenbildung über mögliche Belastungsmotivationen sein.
Motive für wahre Aussagen
Dabei ist zu bedenken, dass auch für die Produktion einer wahren Darstellung eine Aussagemotivation vorliegt. Teilweise kann dieselbe Motivation sowohl eine wahre als auch eine falsche Aussage begründen. So können 48
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Rachewünsche gegenüber dem Beschuldigten sowohl den motivationalen Hintergrund für eine erlebnisbasierte Aussage als auch für eine Falschbezichtigung darstellen (Undeutsch, 1967; Arntzen, 2007). Daher schließt eine Motivation für eine absichtliche Falschbezichtigung eine wahre Darstellung nicht aus (vgl. Greuel et al., 1998).
2.3.1.7 Gesamtprüfung der Falschbezichtigungshypothese Bei der Prüfung der Falschbezichtigungshypothese muss zunächst untersucht werden, ob folgende notwendige Voraussetzungen gegeben sind: • Fähigkeiten, sprachliche Täuschungen vorzunehmen, • Wissensbestände bzw. Vorerfahrungen, die die Basis bieten, eine falsche Beschuldigung zu konstruieren, • Motivation für absichtliche Falschbezichtigung. Es können dabei im Wesentlichen drei Konstellationen eintreten (vgl. Abb. 2): 1. Sind keine ausreichenden Täuschungsfähigkeiten und/oder relevanten Wissensbestände vorhanden, wie das bei jungen Kindern in der Regel anzunehmen ist, lässt sich die Falschbezichtigungshypothese nicht aufrechterhalten. Die Täuschungsfähigkeiten müssen dabei in Bezug zu der konkret vorliegenden Aussage beurteilt werden: Selbstverständlich erfordert die wiederholte falsche Bejahung einer Frage wesentlich weniger entwickelte Täuschungsfähigkeiten als die selbstständige Produktion einer komplexen Darstellung. 2. Sind alle genannten Voraussetzungen erfüllt, kann die Falschbezichtigungshypothese nur bei ausreichend hoher Aussagequalität zurückgewiesen werden. Wie hoch die Anforderung an die Aussagequalität dabei zu stellen ist, ist abhängig von den Kompetenzen und dem Vorwissen des Aussagenden und den situativen Bedingungen (Qualitäts-Kompetenz-Vergleich). Das bedeutet, dass zwei im Hinblick auf die Komplexität, Detailliertheit und auf spezifische inhaltliche Merkmale ganz vergleichbare Aussagen unterschiedlich bewertet werden können, wenn der eine Zeuge ein hohes domänenspezifisches Wissen und differenzierte kognitive und narrative Fähigkeiten aufweist und der anderen Person ein entsprechendes Erfahrungswissen und Leistungspotenzial fehlt (vgl. Greuel, im Druck). Liegt eine so niedrige Aussagequalität vor, dass man davon ausgehen muss, der Zeuge könnte einer Aussage dieser Qualität auch erfunden haben, kann die Falschbezichtigungshypothese nicht widerlegt werden. Wie weiter oben bereits erörtert wurde, ergibt sich daraus nicht zwingend, dass die Aussage auch tatsächlich erfunden ist. Wenn eine hohe Aussagemotivation vorliegt, der Zeuge in der Befragungssituation nicht erheblich psychisch belastet reagiert, das Ereignis nicht sehr lange zu-
Voraussetzungen der Falschbezichtigungshypothese
Täuschungsfähigkeiten und/oder Wissen nicht vorhanden
Täuschungsfähigkeiten, Wissen und Motivation vorhanden
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Täuschungsfähigkeiten und Wissen vorhanden, keine Motivation für Falschbezichtigung
rückliegt und kein Anhaltspunkt für spezifische Gedächtnisbeeinträchtigungen vorhanden ist, kann bei gegebener geringer Aussagequalität mit höherer Wahrscheinlichkeit vermutet werden, dass es sich um eine absichtliche Falschaussage handelt, als wenn einer oder mehrere dieser Faktoren gegeben sind. Belegen lässt sich eine Falschaussage durch eine schlechte Aussagequalität jedoch letztlich nicht. Auch bei gravierenden Konstanzmängeln, insbesondere bei Widersprüchen in zentralen Aussageinhalten, kann die Falschbezichtigungshypothese nicht zurückgewiesen werden, sofern es sich nicht um lediglich scheinbare Widersprüche handelt, die auf Befragungs- oder Protokollierungsfehler zurückführbar sind. 3. Schließlich kann die Konstellation eintreten, dass Täuschungsfähigkeiten und relevantes Wissen vorhanden sind, dass aber kein Motiv für eine absichtliche Falschbezichtigung erkennbar ist. Eine hohe Aussagequalität spricht natürlich auch in diesem Fall gegen eine absichtliche Falschbezichtigung. Umgekehrt wird auch in dieser Konstellation die Falschbezichtigungshypothese bei gravierenden Konstanzmängeln nicht zurückzuweisen sein. Schwieriger stellt sich die Situation dar, wenn keine Konstanzmängel vorliegen, die Aussagequalität aber nicht so hoch ist, dass die Lügenhypothese dadurch zurückgewiesen werden könnte. Man kann die Auffassung vertreten, dass es bei der aussagepsychologischen Begutachtung um die Prüfung von Gegenhypothesen zur Wahrannahme geht und die Falschbezichtigungshypothese letztlich unabhängig von der Aussagequalität nicht aufrechterhalten werden kann, wenn die notwendigen Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Da auch viele erlebnisbasierte Aussagen keine sehr hohe Aussagequalität haben, wird man nämlich viele wahre Aussagen nicht als erlebnisbasiert identifizieren, wenn unberücksichtigt bleibt, ob die genannten Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. Volbert, 2008). Andererseits lässt sich einwenden, dass sich bei der Erfassung aussagebestimmender Motive erhebliche Schwierigkeiten ergeben. Köhnken (2007) hat auf die grundsätzliche Problematik des Nachweises der Nicht-Existenz eines Sachverhalts mittels psychodiagnostischer Methoden hingewiesen. Angesichts dieses Dilemmas ist zu betonen, dass die Aufgabe des aussagepsychologischen Sachverständigen nicht darin besteht, die Frage der Glaubhaftigkeit der Aussage abschließend zu beantworten, sondern relevante Informationen aus psychologischer Perspektive beizusteuern, damit eine fundierte rechtliche Entscheidung getroffen werden kann. Liegt ausreichende Täuschungskompetenz und eine geringe Aussagequalität, aber kein erkennbares Motiv für eine absichtliche Falschbezichtigung vor, muss insofern aus gutachterlicher Sicht dargelegt werden, dass die Aussagequalität nicht so hoch ist, dass die Aussage nicht auch erfunden sein könnte, dass aber kein Motiv für eine absichtliche Falschbezichti50
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gung gefunden wurde, wobei zugleich auch die methodischen Grenzen der Motivanalyse dargelegt werden müssen. Ob eine solche Aussage ausreicht, um eine Verurteilung darauf zu stützen oder nicht, ist letztlich eine rechtliche Entscheidung. Wie weiter oben bereits ausgeführt wurde, darf die Motivanalyse aber nicht auf mögliche Gründe beschränkt bleiben, den spezifischen Angeklagten zu belasten. Das mit der Falschaussage angestrebte Ziel kann unter Umständen auch gar nichts mit dem Beschuldigten zu tun haben, dieser kann auch vergleichsweise zufällig ausgewählt und für die eigenen Zwecke instrumentalisiert worden sein (vgl. Köhnken, 2007).
Täuschungsfähigkeiten Wissen
Zurückweisung der Lügenhypothese
nicht vorhanden
vorhanden Qualitäts-KompetenzVergleich
Motiv
nicht ersichtlich
Qualität
Konstanz
vorhanden Qualitäts-KompetenzVergleich Qualität
Konstanz
hohe Qualität, keine Konstanzmängel
niedrige Qualität und/oder Konstanzmängel
Zurückweisung der Lügenhypothese
keine Zurückweisung der Lügenhypothese
hohe Qualität, keine Konstanzmängel
gravierende Konstanzmängel
Zurückweisung der Lügenhypothese
keine Zurückweisung der Lügenhypothese
niedrige Qualität, keine Konstanzmängel
Darlegung: Qualität nicht ausreichend, um Lügenhypothese zurückzuweisen, aber kein Hinweis auf Motiv
Abbildung 2: Überprüfung der Falschbezichtigungshypothese
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2.3.2 Erlebnisentsprechende versus suggerierte Aussagen Fremd- und autosuggestive Prozesse
Dass es auf der Basis suggestiver Prozesse zur Ausbildung von komplexen Pseudoerinnerungen und infolgedessen zu nicht erlebniskongruenten Schilderungen auch über persönlich bedeutsame und belastende Ereignisse kommen kann, ist in einer Fülle von Untersuchungen nachgewiesen worden (vgl. z. B. Brainerd & Reyna, 2005; Erdmann, 2001; Loftus, 2005; Loftus & Bernstein, 2005). In der forensischen Praxis ist dabei zwischen fremdund autosuggestiven Prozessen zu unterscheiden.
2.3.2.1 Fremdsuggestive Prozesse bei Kindern Verdachtbildung aufgrund unspezifischer Verhaltensbesonderheiten
Bei Kindern bildet in diesen Fällen typischerweise nicht eine Bekundung über eine sexuelle Missbrauchserfahrung den Ausgangspunkt der Verdachtsbildung, sondern der Verdacht entsteht durch die Ausdeutung von sogenannten Signalen. Besonders häufig zu finden ist eine einseitige Interpretation unspezifischer Verhaltensweisen (wie Schlafstörungen, Einnässen, Angst etc.) obwohl belegt ist, dass kein spezifisches sexuelles Missbrauchssyndrom existiert (Kendall-Tackett et al., 1993). Wenn sich ein Anfangsverdacht aufgrund solcher Überinterpretationen verdichtet hat, werden anschließend Befragungen der Kinder vorgenommen, in deren Verlauf auch suggestive Techniken benutzt werden, in der Annahme, man würde den Kindern Berichte über den als sicher erachteten Missbrauch auf diese Weise erleichtern. So kommt es teilweise zur Durchführung langfristiger „Aufdeckungsarbeit“ mit oft indirekten, wiederholten Befragungen, zum Teil aber auch mit direkten Vorgaben, bedingungslosem Akzeptieren und Verstärken von Beschreibungen sexueller Missbrauchshandlungen, auch wenn diese vage, widersprüchlich oder sogar unrealistisch sind, und der Deutung von Schweigen und Verneinung als „Noch-nicht-bereit-Sein“ zur Verbalisierung sexueller Missbrauchserfahrungen. Der suggestive Charakter der Befragungssituation ist den Befragenden in aller Regel nicht bewusst.
Voreinstellung des Befragenden
Suggestive Einflussnahmen erfolgen dabei nicht ausschließlich und wahrscheinlich auch nicht hauptsächlich durch suggestiv formulierte Fragen (z. B. „Und dann hat er dich ausgezogen, nicht wahr?“); das Hauptcharakteristikum suggestiver Interviews besteht vielmehr in einer Voreinstellung des Interviewers, einem sog. „Interviewer Bias“ (Ceci & Bruck, 1995). Diese Voreinstellung ist gekennzeichnet durch A-priori-Annahmen darüber, dass bestimmte Ereignisse tatsächlich passiert sind, sowie durch eine Befragung, die auf die Bestätigung dieser Annahme orientiert ist: Der Interviewer sammelt Informationen, die geeignet sind, die Vorabhypothese zu unterstützen, der Interviewerhypothese widersprechenden Auskünften des Kindes wird nicht weiter nachgegangen, Informationen zur Abklärung von Gegenhypothesen werden nicht gesammelt, inkonsistente oder objektiv 52
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unmögliche Angaben des Kindes ignoriert oder im Rahmen der Ausgangshypothese interpretiert. Konkret bedeutet das, dass keine offenen, sondern sehr direkte, teilweise suggestive Fragen gestellt und innerhalb einer oder mehrerer Befragungen wiederholt werden. Produziert das Kind nicht die erwartete Information, erfolgen erneute Befragungen, zum Teil über einen langen Zeitraum. Bei den Bemühungen, eine vermeintlich unterstützende Atmosphäre für das Kind zu schaffen, kommt es zur selektiven Verstärkung von Äußerungen, die konsistent mit der Interviewerhypothese sind (z. B. durch Kopfnicken oder durch Lob dafür, dass das Kind so tapfer sei, über die Vorfälle zu berichten), während andere Äußerungen nicht weiter beachtet werden. Diese aus dieser Voreinstellung resultierenden Befragungsprozesse sind dabei häufig gekennzeichnet durch (Volbert, 1999): • indirekte Vorgaben spezifischer Informationen; • die Vorgaben unspezifischer Informationen, die bestimmte Schlussfolgerungen nahe legen; • die Induzierung negativer Stereotype; • Aufforderungen zu Spekulationen und Imaginationen des fraglichen Geschehens; • Verstärkungen erwünschter oder erwartungsgemäßer Antworten; • Konformitätsdruck; • wiederholte Befragungen und wiederholte Fragen zu bereits beantworteten Sachverhalten; • Befragungen durch mehrere Personen mit ähnlicher Voreinstellung; • soziale Isolierung von Personen mit anderer Auffassung.
Suggestive Befragungsprozesse
Entsprechende Befragungsmuster entstehen nicht ausschließlich dadurch, dass beteiligte Personen parteiisch und voreingenommen sind. Vielmehr führen allgemeine Gesetzmäßigkeiten beim Testen von sozialen Hypothesen unter den im Missbrauchskontext gegebenen situativen Bedingungen dazu, dass die Verdachtshypothese eine Neigung zur „Selbstbestätigung“ entwickelt (vom Schemm & Köhnken, 2008). Insbesondere der Umstand, dass nur in seltenen Fällen eine eindeutig positive Evidenz vorliegt und dass keine wirklich hypothesenkonträre Evidenz existiert, begünstigen konfirmatorische Beurteilungsprozesse (Schulz-Hardt & Köhnken, 2000). Neben solchen Teststrategien, die tendenziell selbst bei sorgfältigem Hypothesentesten auftreten können, findet sich in der Praxis auch pseudodiagnostisches Vorgehen, das sich u. a. dadurch auszeichnet, dass Gegenhypothesen ignoriert werden und ausschließlich geprüft wird, wie gut die vorliegenden Hinweise mit der zu testenden Hypothese vereinbar sind. Unter diesen Bedingungen kann auch bei schwacher Evidenz fälschlicherweise der Eindruck entstehen, der Verdacht des sexuellen Missbrauchs sei zutreffend. Je stärker man jedoch von der Richtigkeit der Hypothese überzeugt ist, desto stärker sind auch wiederum die Selbstbestätigungsprozesse bei nachfolgenden Prü-
Verdachtshypothese hat Tendenz zur Selbstbestätigung
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fungen ausgeprägt. Mit steigender Überzeugtheit von der Richtigkeit der Hypothese steigt somit die Ausprägung der Selbstbestätigungsmechanismen (Schulz-Hardt & Köhnken, 2000).
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Hinweise auf fremdsuggestive Prozesse bei Kindern:
Hinweise auf einen fremdsuggestiven Prozess ergeben sich somit, • wenn vor der ersten Aussage des Kindes bei dem Befragenden bereits die Überzeugung bestand, das in Frage stehende Geschehen habe sich ereignet, • wenn Befragungen nicht ergebnisoffen, sondern auf ein bestimmtes Ziel hin („Aufdeckung“) durchgeführt wurden, • wenn das Kind Fragen zum vermeintlichen Sachverhalt zunächst nicht bestätigte oder explizit verneinte, • wenn die erste Äußerung des Kindes zum vermeintlichen Geschehen erst nach mehreren Befragungen erfolgte, • wenn es sich zunächst um sehr vage, inkonsistente Äußerungen handelte, die erst im Laufe der Befragungen mit zunehmender Konstanz und Überzeugung vorgetragen wurden, • wenn die Aussage objektiv unmögliche Elemente enthält, • wenn im Befragungsprozess nur hypothesenkonforme Angaben verstärkt und hypothesenkonträre Ausführungen ignoriert oder uminterpretiert wurden.
2.3.2.2 Fremd- und autosuggestive Prozesse bei Jugendlichen und Erwachsenen
Explizite Verdachtsäußerungen
Psychisches Leiden als Ausgangspunkt der Verdachtsbildung
Fremdsuggestive Prozesse bei Jugendlichen und Erwachsenen verlaufen nicht grundsätzlich anders als bei Kindern. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass Vermutungen, ein bestimmter Sachverhalt habe sich zugetragen, an Jugendliche und Erwachsene meist expliziter herangetragen und mit diesen erörtert werden als das bei Kindern üblicherweise der Fall ist. Der andere Unterschied bezieht sich darauf, dass bei Kindern meist davon ausgegangen wird, dass diese aufgrund von Schweigegeboten oder Bedrohungen zu eingeschüchtert oder durch die Erfahrungen zu belastet seien, um über die vermeintlichen Erfahrungen zu sprechen, während bei Jugendlichen und Erwachsenen häufig angenommen wird, dass diese entsprechende Erfahrungen aufgrund von Verdrängung oder Dissoziation aktuell nicht erinnern. Ausgangspunkt für entsprechende Vermutungen sind in der Regel auch hier Besonderheiten im Erleben oder Verhalten (häufig handelt es sich um eine depressive oder eine Angstsymptomatik), die vorschnell als Folge 54
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früherer traumatisierender Erlebnisse, insbesondere sexueller Missbrauchserfahrungen interpretiert werden. Diese Erklärungsmuster werden teilweise im Rahmen von Therapien oder Beratungen, gelegentlich aber auch durch andere Personen im sozialen Nahfeld an die Probanden herangetragen. Werden solche Erlebnisse negiert, führt dies nicht zu einer Revidierung des Ausgangshypothese, sondern die Probanden werden unter Umständen mit suggestiven therapeutischen Techniken (wie Hypnose, geleitete Imaginationen u. Ä.) aufgefordert, sich auf die Suche nach Erinnerungen an die vermeintlichen Erlebnisse zu machen. Entstehen auf diesem Wege im Laufe der Zeit mentale Bilder, erfolgen oftmals keine kritischen Reflexionen über den tatsächlichen Erlebnisbezug, sondern die Probanden werden teilweise ausdrücklich aufgefordert, aufkommende Bilder als genuine Erinnerungen zu akzeptieren. Selbstverständlich ist es nicht immanenter Bestandteil einer Psychotherapie, Erfahrungen an bislang nicht erinnerte Ereignisse zu induzieren, und im Rahmen seriöser Therapien werden aufkommende Erinnerungsbilder nicht von vornherein als historisch wahr aufgefasst. Befragungen von Therapeuten geben jedoch Anlass zu der Befürchtung, dass die Erkenntnisse aus der „Recovered-memory-Debatte“ keineswegs in allen therapeutischen Settings Niederschlag finden (z. B. Kirsch, 2001). Mehrere Faktoren können begünstigend auf die Übernahme induzierter Erinnerungen in Therapien wirken (vgl. auch Shobe & Schooler, 2001): 1. Der Therapeut stellt eine respektierte Autoritätsfigur dar, von dem man hofft, dass er zur eigenen Gesundung beiträgt. 2. Das schlechte psychische Befinden verlangt bei vorhandener Introspektionsfähigkeit des Probanden nach Erklärungen, welche oft aber nur schwer zu finden sind. Vermeintliche Erklärungen, bei denen erkennbare äußere Umstände oder sogar schuldige Dritte zu identifizieren sind, können in dieser Situation der Unsicherheit erleichternd wirken (vgl. Stoffels, 2004). 3. Erinnerungen werden immer auch aus Sicht aktuell vorhandener impliziter Theorien bewertet. Unter der Annahme, ein sexueller Missbrauch sei möglicherweise passiert, können nicht sexuell motivierte Pflegehandlungen oder Zärtlichkeiten in der Kindheit reinterpretiert werden. Solche Prozesse erklären noch nicht Scheinerinnerungen über massive Missbrauchshandlungen, aber Reinterpretationen von Erinnerungen können den Beginn einer sich dann weiter ausbildenden Pseudoerinnerung darstellen. 4. Einige therapeutische Techniken haben eine hohe suggestive Potenz (z. B. hypnotische Techniken, Traumdeutungen, Visualisierungstechniken). 5. Besonders verstärkend wirkt vermutlich zudem ein Abbruch der sozialen Beziehung zu den Menschen, von denen man annimmt, missbraucht worden zu sein oder die Kontakt zu diesen Personen haben, da dadurch die Möglichkeit kritischer Überprüfung reduziert wird.
Induktion von Pseudoerinnerungen im Rahmen von Therapien
Begünstigende Faktoren für die Induktion von Erinnerungen in Therapien
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Autosuggestive Prozesse
Ein unmittelbarer Einfluss Dritter ist jedoch nicht zwingend. Vielmehr gibt es auch autosuggestive Verläufe ohne unmittelbaren äußeren Anstoß, bei denen allerdings die öffentliche Diskussion der Thematik eine wichtige Rolle spielt (vgl. Volbert, 2004). In der Regel haben autosuggestive Prozesse ihren Ausgangspunkt ebenfalls in einem schlechten psychischen Befinden des Betroffenen. Hier kommt es durch die intensive Beschäftigung mit der relevanten Thematik, den Austausch in Internetforen, das Lesen von Büchern, durch Anschauen von Filmen sowie Besuche von entsprechenden Selbsthilfegruppen und durch selbst initiierte Versuche, etwaige Vorfälle zu visualisieren, zu der Generierung entsprechender mentaler Bilder. Hinweise auf mögliche fremd- oder autosuggestive Prozesse bei Jugendlichen und Erwachsenen:
Nach den vorhandenen Erkenntnissen sind Aussagen im Hinblick auf mögliche suggestive Einflüsse dann als besonders problematisch zu betrachten, • wenn vor der Aussage bei der Person selbst oder im relevanten Umfeld die Annahme bestand, bislang nicht bekannte Erfahrungen müssten vorliegen; • wenn mit oder ohne therapeutische Unterstützung explizite Bemühungen vorgenommen wurden, sich an nicht zugängliche Erlebnisse zu erinnern; • wenn Erinnerungen erst im Laufe wiederholter Erinnerungsbemühungen entstanden sind; • wenn Ereignisse aus den ersten beiden Lebensjahren erinnert werden; • wenn im Laufe der Zeit immer mehr Erlebnisse erinnert werden.
2.3.2.3 Suggestionsfördernde Bedingungen Suggestiver Prozess: Ausgangspunkt für einen Suggestionsprozess bildet also in der Regel ein erklärungsbedürftiges oder ein vermeintlich erklärungsbedürftiges Verhalten, für das vorschnell eine Erklärung gefunden wird: Es wird vermutet, es sei in der Vergangenheit zu Erfahrungen gekommen, von denen wiederum angenommen wird, man würde sie nicht erinnern oder zumindest nicht darüber sprechen können. Deswegen werden Techniken angewandt, die das „Wiedererinnern“ oder das Sprechen über die Erfahrungen erleichtern sollen. Die Kombination von Voreinstellung (Überzeugung, Sachverhalte, die aktuell nicht erinnert werden oder über die aktuell nicht gesprochen wird, sind dennoch sicher passiert), unkritischer Verwendung von Methoden zur Wiedererinnerung oder von suggestionslastigen Befragungstechniken, dem Ignorieren von nicht zur Ausgangshypothese passenden Informationen und der Verstärkung von erwarteten Antworten kann schließlich zur Ausbildung von Pseudoerinnerungen führen.
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Die Übernahme von Pseudoerinnerungen erfolgt in einem mehrschrittigen Prozess: 1. Spezifische Mangelsituation: Es ist davon auszugehen, dass der Ausgangspunkt für die Übernahme von Pseudoerinnerungen in einer Form von Empfänglichkeit oder Vulnerabilität besteht, die sich aus der allgemeinen oder momentanen Bedürfnisstruktur ergibt. Dabei kann es sich um strukturelle Bedürfnisse (ungenügende Klarheit der Situation), kognitive Bedürfnisse (Mangel an Erinnerung, Wissen, logischem Denken, Verständnis) oder um affektive Bedürfnisse (Mangel an Zuwendung, Vertrauen, Sicherheit, Selbstwertgefühl) handeln (Gheorghiu, 1989). Suggestionseffekte können dann eintreten, wenn die suggerierte Lösung geeignet ist, den Mangel zu beheben oder zu reduzieren, wenn also beispielsweise eine fehlende Erinnerung ausgeglichen oder eine Erklärung für das eigene psychische Leiden gefunden wird. Die individuelle Vulnerabilität kann qualitativ und quantitativ sehr unterschiedliche Ausprägungen annehmen, woraus sich erklärt, dass manche Personen bereits nach sehr geringer, andere erst nach hoher Suggestionsintensität eine Suggestion übernehmen und dass sie auf unterschiedliche suggestive Techniken reagieren. 2. Plausibilität für zwischenzeitliches vermeintliches Nichterinnern: Pseudoerinnerungen gehen zwangsläufig mit der Erfahrung des Erinnerns von zuvor nicht erinnertem Material einher. Da persönlich bedeutsame Erfahrungen üblicherweise gut erinnert werden, muss es eine plausible Erklärung für das zeitweise Nichterinnern geben. Bei jungen Kindern ist diese Plausibilitätsschwelle schnell überschritten, da es zur alltäglichen Erfahrung gehört, dass Erwachsene von Ereignissen wissen, an die die Kinder sich nicht erinnern können. Bei Jugendlichen und Erwachsenen kann eine plausible Begründung in der Hypothese bestehen, dass traumatische Erlebnisse verdrängt oder dissoziiert werden oder es wird auf Erlebnisse in der frühen Kindheit Bezug genommen, also auf eine Lebensphase, aus der Erfahrungen in der Regel nicht erinnert werden können. 3. Generierung mentaler Vorstellungen: Die intensive Beschäftigung damit, ob bestimmte Erlebnisse in der eigenen Vergangenheit geschehen sind und insbesondere Bemühungen, etwaige Vorfälle zu visualisieren, können zur Ausbildung narrativer und/oder visueller Repräsentationen führen. 4. Quellenverwechslungsfehler: Um die so generierte Repräsentation für eine Erinnerung zu halten, muss zudem ein Quellenverwechslungsfehler gemacht werden. Nach einer sehr intensiven Beschäftigung mit den vermeintlichen Ereignissen ist die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass besonders lebhafte Vorstellungen evoziert werden. Eine über lange Zeit anhaltende Beschäftigung mit der Thematik führt dazu, dass die Ereignisrepräsentation besonders schnell abgerufen werden kann. Abrufflüssigkeit, Vertrautheit und Lebhaftigkeit sind gleichzeitig aber wichtige Kriterien, um eine Repräsentation für eine tatsächliche Erinnerung an etwas Erlebtes zu halten (Schacter, Norman & Koutstaal, 1998). Quellenverwechslungs57 © 2010 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Volbert/Dahle: Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren.
fehler werden zudem gefördert, wenn eine über die Quelle der Repräsentation unsichere Person durch andere in der Auffassung unterstützt wird, ein lebhaftes mentales Bild sei als Erinnerung zu bewerten (vgl. auch Hyman & Loftus, 1998).
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Kein situationsübergreifendes Persönlichkeitsmerkmal
Die Möglichkeit einer persönlichkeitsbezogenen Suggestibilität wurde vielfach untersucht, wobei man ein situationsübergreifendes Persönlichkeitsmerkmal nicht bestätigen konnte; was jedoch spezifische Anfälligkeiten für unterschiedliche suggestive Phänomene (Bereitschaft, Antwortverhalten bei suggestivem Befragungsdruck zu ändern; Tendenz zu Quellenverwechslungsfehlern; Bereitschaft zur Konstruktion komplexer Repräsentationen nicht stattgefundener Ereignisse) nicht ausschließt (vgl. Bruck & Melnyk, 2004). So scheinen Erwachsene mit erhöhten dissoziativen Tendenzen und guten Imaginationsfähigkeiten eher Scheinerinnerungen zu generieren als andere. Hyman und Billings (1998) nehmen an, dass Personen mit dissoziativen Tendenzen gelernt haben, Informationen aus externalen Quellen in autobiografische Narrative zu integrieren, und deswegen stärker geneigt sind, suggerierte Informationen zu übernehmen.
2.3.2.4 Unterschiede zwischen erlebnisentsprechenden und suggerierten Aussagen Knüpft man an die Prämisse für die Unterscheidung zwischen erlebten und erfundenen Aussagen an – nämlich die Konzeptualisierung einer Aussage als Leistung, bei der Intentionalität und Verheimlichung der Täuschungsabsicht eine zentrale Rolle spielen –, so ist diese Voraussetzung bei der Unterscheidung zwischen erlebnisbasierten und suggerierten Aussagen nicht gegeben. Wer eine Darstellung auf der Basis einer Pseudoerinnerung macht, muss keine kognitive Energie auf kreative und Kontrollprozesse verwenden, da er eine Aussage nicht absichtlich erfindet und sich nicht um die Verheimlichung von Täuschung bemühen muss, sondern auf vermeintliche Erinnerungen rekurriert. Kein Unterschied in der Aussagequalität zwischen wahren und suggerierten Aussagen
Tatsächlich haben sich in empirischen Untersuchungen qualitative Unterschiede zwischen erlebnisbasierten und suggerierten Aussagen nicht oder allenfalls in geringem Umfang finden lassen, jedenfalls dann nicht, wenn es zur Ausbildung von regelrechten Pseudoerinnerungen gekommen ist. Anfängliche Unterschiede zwischen wahren und Pseudoerinnerungen wurden nach wiederholten Befragungen geringer oder entfielen ganz (Überblick bei Volbert, Steller & Galow, im Druck). Merke: Die merkmalsorientierte Inhaltsanalyse ist nicht sinnvoll einsetzbar, wenn sich bedeutsame suggestive Bedingungen in der Vorgeschichte finden.
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Auf der anderen Seite ist aber davon auszugehen, dass sich erlebnisbasierte und suggerierte Aussagen in ihrem Verlauf über die Zeit unterscheiden. Suggerierte Aussagen können sich überhaupt erst entwickeln, nachdem suggestive Bedingungen vorgelegen haben, sie verändern sich im Laufe der Zeit mit den suggestiven Einflussnahmen. Ferner liegt in der Regel auch deswegen eine höhere Inkonstanz als bei wahren Aussagen vor, da wahren Aussagen bestimmte Ereignisse zugrunde liegen, die die Aussage begrenzen, während Scheinerinnerungen sich letztlich nahezu grenzenlos ausweiten und verändern können (Bruck, Ceci & Hembrooke, 2002; Erdmann, Volbert & Böhm, 2004).
Inkonstante Aussage bei Suggestion
2.3.2.5 Prüfung der Suggestionshypothese Bei der Prüfung der Suggestionshypothese geht es in erster Linie darum festzustellen, ob suggestive Bedingungen vorgelegen haben. Dafür ist eine genaue Rekonstruktion der Aussageentstehung und Aussagegeschichte notwendig. Es muss also eine chronologische Aufarbeitung erfolgen, wann und wodurch ein erster Verdacht auftrat und wie die Aussage entstand und sich entwickelte, wobei die konkreten Einwirkungen durch Befragungen oder andere äußere Einflüsse so genau wie möglich nachzuzeichnen sind.
Rekonstruktion der Aussageentstehung und -geschichte
Merke: Für die Feststellung etwaiger suggestiver Einflüsse ist insbesondere zu prüfen, • ob vor der ersten Aussage bereits ein Verdacht bzw. eine Erwartungshaltung vorlag, dass sich ein entsprechendes Ereignis zugetragen habe, • ob Maßnahmen zur Abklärung des Verdachts ergebnisoffen durchgeführt wurden oder ob ein bestätigendes Ergebnis erwartet wurde.
In Abhängigkeit von den Ergebnissen der Analyse der Aussageentstehung und -entwicklung ergibt sich Folgendes: • Finden sich keine bedeutsamen suggestiven Einflüsse, ist die Suggestionshypothese zurückzuweisen. • Liegen aber gravierende fremd- oder autosuggestive Bedingungen vor, gibt es keine methodische Möglichkeit, auszuschließen, dass eine Aussage auch auf diese suggestiven Bedingungen zurückzuführen ist. Die Durchführung einer differenzierten merkmalsorientierten Inhaltsanalyse ist überflüssig, da von ihr keine relevanten Informationen zu erwarten sind. Eine Falsifikation der Suggestionshypothese ist in diesem Fall also nicht möglich (vgl. Steller & Volbert, 1999). Umgekehrt lassen sich aber häufig Elemente in einer Aussage oder in der Aussagegeschichte finden, die nicht nur auf eine potenziell suggestive Wirkung verweisen, sondern die mit einem tatsächlichen Erlebnishintergrund schwer zu vereinbaren und aufgrund derer konkret Suggestionseffekte anzunehmen sind. Hier können Aussageerweiterungen im Verlauf der Aussagegenese, irreale Details
Bei gravierenden suggestiven Bedingungen keine Falsifikation der Suggestionshypothese möglich
Positive Indikatoren für Suggestionsprozesse
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oder Inhalte, die mit gedächtnis- oder entwicklungspsychologischen Erkenntnissen nicht in Einklang stehen, bedeutsam sein (Beispiel: detaillierte Angaben über Ereignisse, welche sich in den ersten zwei Lebensjahren ereignet haben sollen; vgl. auch Köhnken, 2000; Schade, 2000; Steller 1998, 2000).
2.3.3 Gesamtbeurteilung
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Überprüfung kontrastierender Hypothesen
Das zentrale methodische Vorgehen im Rahmen der aussagepsychologischen Begutachtung besteht in der Prüfung von Gegenannahmen zur Wahrannahme, das heißt, es wird geprüft, ob die vorliegende Aussage auch anders zu erklären ist als durch einen tatsächlichen Erlebnisbezug. Die systematische Erhebung von Pro- und Contra-Befunden wirkt etwaigen Selektionsund Urteilsfehlern im Sinne eines confirmation bias entgegen (vom Schemm & Köhnken, 2008). Leitfrage der Glaubhaftigkeitsbegutachtung: Die Leitfrage der Begutachtung lautet daher: „Könnte dieser Zeuge mit den gegebenen individuellen Voraussetzungen unter den gegebenen Befragungsumständen und unter Berücksichtigung der im konkreten Fall möglichen Einflüsse von Dritten diese spezifische Aussage machen, ohne dass sie auf einem realen Erlebnishintergrund basiert?“ (nach Volbert, 1995).
Fallspezifische Formulierung von Gegenhypothesen
Die Überprüfung der Falschbezichtigungs- sowie der Suggestionshypothese wurde hier ausführlich erörtert, da diese beiden Konstellationen die zentralen Gegenhypothesen zur Wahrannahme darstellen. Im Einzelfall sind aber Variationen dieser Hypothesen zu prüfen oder es können auch ganz andere Hypothesen in Betracht kommen (beispielsweise Übertragung eines tatsächlichen Erlebnisses auf einen anderen Täter; absichtliche Induktion einer Aussage; Aggravation etc.; vgl. Greuel, 2001; Steller et al., 1993). Die adäquate Spezifizierung der zu prüfenden Hypothesen stellt insofern bereits einen wesentlichen Teil des Begutachtungsprozesses dar: Auf der Grundlage vorhandener Anknüpfungstatsachen sind fallrelevante Gegenhypothesen zur Wahrheitsannahme zu formulieren.
Beurteilung einzelner Informationen in Abhängigkeit vom zu prüfenden Modell
Die fallspezifische Datenerhebung wird durch die aufgestellten und im Laufe der Untersuchung aktualisierten Hypothesen determiniert. Einzelnen Informationen kommt dabei im Prozess der Glaubhaftigkeitsbegutachtung keine festgelegte Bedeutung zu, sondern ihre Bedeutung variiert in Abhängigkeit von dem Modell, das geprüft wird. Auch die Gewichtung der einzelnen Analysebereiche für die aussagepsychologische Schlussfolgerung
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hängt – wie dargestellt – von der zu prüfenden Fragestellung ab. Die jeweiligen Gewichtungs- und Interpretationsschritte müssen in einem Gutachten transparent gemacht werden. Die abschließende Prüfung bezieht sich also auf die Frage, ob sich die erhobenen Daten mit den jeweiligen Erklärungsmodellen psychologisch sinnvoll vereinbaren lassen oder nicht (vgl. Greuel, 2009). Merke:
Prüfung der psychologischen Vereinbarkeit der erhobenen Daten mit dem jeweiligen Erklärungsmodell
Ist die Unwahrhypothese mit den vorliegenden Daten nicht kompatibel, wird sie verworfen und es gilt dann die Wahrheitsannahme. Sind die vorhandenen Daten aber auch anders erklärbar als durch einen tatsächlichen Erlebnisbezug, kann es keinen anderen Schluss geben als den, dass man nicht oder nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen kann, dass die Aussage auf tatsächlichem Erleben basiert (vgl. Volbert, 2009).
Falls sich ergibt, dass die Aussage nicht nur durch Rückgriff auf Selbsterlebtes, sondern auch anders erklärbar ist, erlaubt das in der Regel noch keinen Rückschluss darauf, dass es sich um eine objektiv unzutreffende Aussage handeln muss. Wie bereits ausführlich dargelegt worden ist, können beispielsweise mangelnde Aussagemotivation oder suggestive Befragungsbedingungen dazu führen, dass Gegenhypothesen zur Wahrannahme auch bei tatsächlichem Erlebnishintergrund nicht zurückgewiesen werden können. In einigen Fällen lassen sich allerdings – wie dargelegt – die vorhandenen Daten mit einem Erlebnisbezug aus psychologischer Perspektive nicht vereinbaren; in diesen Fällen ist darzulegen, dass die Wahrannahme durch die vorhandenen Daten keine Unterstützung findet. Psychologische Sachverständige treffen aber keine Aussagen über die Faktizität eines behaupteten Sachverhalts, sondern „Wahrscheinlichkeitsaussagen über das Zutreffen der im Einzelfall in Betracht gezogenen Hypothesen“ (Greuel, 2009; vgl. auch Volbert, 2009).
Keine Prüfung der Faktizität
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Einholung von zwei wissenschaftlichen Expertisen (Fiedler & Schmid, 1999; Steller & Volbert, 1999) in einem Urteil vom 30. 07. 1999 Mindestanforderungen an Glaubhaftigkeitsbegutachtungen formuliert (BGHSt 45, 164). Zur Veranschaulichung der Hypothesenbildung und -prüfung hat sich der BGH der Analogie zur im experimentellen Methodenverständnis vorherrschenden Unterscheidung von Null- und Alternativhypothese bedient. Gemeint ist damit das angesprochene methodische Prinzip, dass ein zu überprüfender Sachverhalt (hier Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage) so lange negiert wird, bis diese Negation mit gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist (vgl. Steller & Volbert, 2000).
BGH-Urteil zu Mindestanforderungen von Glaubhaftigkeitsgutachten
Sogenannte Nullhypothese
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2.4 Zur Praxis der aussagepsychologischen Begutachtung
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2.4.1 Aktenanalyse Relevante Akteninformationen
Die gründliche Auswertung der übersandten Akten zur Vorbereitung der Untersuchung stellt einen wesentlichen Teil der psychologischen Sachverständigentätigkeit dar. Die Aktenanalyse dient im Wesentlichen der Erfassung folgender Sachverhalte: • Tatvorwurf bzw. Tatvorwürfe, wie sie vom Zeugen bislang geschildert wurden • Informationen zur Aussageentstehung und Aussageentwicklung: – Wann hat der Zeuge zum ersten Mal zu wem in welcher Situation etwas gesagt? – Bestand bereits vorher ein Verdacht? – Wie viele Befragungen erfolgten und welcher Art waren diese Befragungen? – Was war der weitere Verlauf der Aussage? Gab es Widersprüche, Inkonsistenzen, Aussagewiderrufe? – Bestehen Widersprüche zu anderen Informationen? • Anhaltspunkte für eine Motivation für eine Falschbezichtigung: – Verhältnis von Beschuldigtem und Zeugen? – Vorteile für Zeugen (oder Drittpersonen)? – Verdeckung eigenen Fehlverhaltens? – Gewinn aus Einnehmen der Opferrolle? • Persönlichkeitsspezifische Besonderheiten
Akten folgen der Chronologie der Ermittlungen, nicht der Ereignisse
Dabei ist zu beachten, dass eine Akte nicht die chronologische Reihenfolge von Geschehnissen abbildet, sondern die zeitliche Abfolge der Ermittlungen, d. h., eine Akte beginnt oft mit einer durchaus überzeugenden Aussage zum Tatvorwurf. Hinweise auf suggestive Bedingungen zum Zeitpunkt der Aussageentstehung oder auf problematische Motivkonstellationen ergeben sich häufig erst durch später erfolgte Angaben anderer Zeugen oder Einlassungen des Beschuldigten. Merke: Es ist zunächst immer angezeigt, eine chronologische Abfolge der Aussageentstehung und -geschichte herzustellen, um etwaige problematische Rahmenbedingungen und deren mögliche Effekte auf die Aussage besser identifizieren zu können.
Zur Vorbereitung der Untersuchung empfiehlt es sich zudem, neben dem Exzerpt des relevanten Akteninhalts und der Auflistung des chronologischen Ablaufs eine Liste mit in der Untersuchung zu klärenden Fragen zu erstellen. 62 © 2010 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Volbert/Dahle: Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren.
In manchen Fällen ist es sinnvoll, Einsicht in weitere Unterlagen zu nehmen, beispielsweise in Behandlungsunterlagen, Akten des Jugendamts oder in Akten des Familiengerichts, wenn ein Vorwurf gegen den Vater oder die Mutter erhoben wird und parallel zum Strafverfahren ein Sorge- oder Umgangsrechtsverfahren geführt wird. In der Regel ist es unproblematisch, Behandlungsunterlagen mit Einverständnis der Probanden direkt anzufordern. Für die Hinzuziehung von Unterlagen anderer Behörden empfiehlt es sich dagegen, den Auftraggeber zu bitten, diese zu beschaffen.
Zusätzliche Unterlagen
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2.4.2 Untersuchung des Probanden Im Rahmen der Untersuchung des Probanden sollen Informationen zu verschiedenen Bereichen erhoben werden: • Hintergrundinformationen zum fraglichen Geschehen, um Hinweise auf etwaige Motive für eine absichtliche Falschbezichtigung zu erhalten; • Informationen zur Aussageentstehung und -entwicklung zur Erfassung etwaiger Fremdeinflüsse oder autosuggestiver Tendenzen; in Abhängigkeit von den spezifischen Fallgegebenheiten manchmal auch Erfassung relevanter Anknüpfungsinformationen für die Konstanzanalyse; • Persönlichkeitsspezifische Besonderheiten oder psychopathologische Auffälligkeiten, die für die Begutachtungsfragestellung relevant sein könnten; • Angaben zu den Tatvorwürfen, die einer Konstanzanalyse und ggf. einer merkmalsorientierten Inhaltsanalyse unterzogen werden; • Ggf. Erfassung von für den Qualitäts-Kompetenzvergleich bedeutsamen Informationen – Kognitive Leistungsfähigkeit, – Individuumspezifisches Berichtsverhalten, – Bereichsspezifische Kenntnisse; • Wenn auch die Frage der Aussagetüchtigkeit explizit zu prüfen ist: Erfassung des Entwicklungsstands bzw. der psychischen Störung und der relevanten Fähigkeiten (Wahrnehmung, Speicherung und selbstständige Reproduktion von autobiografischen Ereignissen). Auch wenn relevante Anknüpfungstatsachen für die Rekonstruktion der Aussageentstehung und ihrer weiteren Entwicklung sowie für die Motivationsanalyse bereits teilweise in den Ermittlungsakten vorliegen, sollte der Sachverständige diese durch Befragung des zu begutachtenden Zeugen prüfen und gegebenenfalls ergänzen. Von besonderem Interesse ist dabei natürlich der Zeitraum, in dem erstmals eine Aussage zum Tatvorwurf gemacht wurde.
Hintergrundinformationen
Im Einzelfall vorliegende Besonderheiten des Erlebens und Verhaltens (z. B. Selbstwertprobleme und Geltungsbedürfnis, Neurotizismus) oder akzentuierte Persönlichkeitsstrukturen können einen bedingenden Faktor für eine
Persönlichkeitsvariablen
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mögliche Falschaussage darstellen. Zur Abklärung solcher Besonderheiten können neben biografischer Analyse und problembezogener Exploration auch standardisierte Fragebögen zur Anwendung kommen. Im diagnostischen Kontext der Begutachtung von Verhaltensauffälligkeiten bzw. Persönlichkeitsstörungen kann im Einzelfall auch der Einsatz projektiver Verfahren gerechtfertigt sein. Exploration zur Sache
Das Material zur Aussageanalyse wird mit Hilfe einer Exploration zum in Frage stehenden Sachverhalt erhoben. Dabei sollte zunächst immer versucht werden, durch eine entsprechende Aufforderung einen zusammenhängenden Bericht des Zeugen zu erhalten. Anschließende Fragen sollten zunächst so offen wie möglich sein und erst allmählich spezifischer werden (Trichtertechnik; vgl. Arntzen, 2008). Wird einem Zeugen durch geschlossene Fragen nur die Möglichkeit gegeben, diese zu bejahen oder zu verneinen, können die oben beschriebenen inhaltlichen Qualitätsmerkmale nicht produziert werden. Befragungen ohne offene Erzählaufforderungen vermindern also die diagnostische Kraft der inhaltsorientierten Aussageanalyse bzw. können sie vollständig invalidieren. Die Exploration zur Sache dient zugleich auch dazu, Material für die Konstanzanalyse zu gewinnen. Dabei kann es ggf. auch notwendig werden, den Probanden mit Widersprüchen zu seinen früheren Aussagen zu konfrontieren. Es ist aber zu beachten, dass Protokolle in den Akten nicht immer Wortprotokolle darstellen und das dort Dargelegte nicht notwendigerweise das sein muss, was der Zeuge bei seiner früheren Vernehmung angegeben hat. In Übereinstimmung mit Greuel et al. (1998) ist festzustellen, dass eine Exploration zur Sache nicht gleichzusetzen ist mit einer Vernehmung – weder in Zielsetzung noch in Methodik. Im Vordergrund der aussagepsychologischen Exploration zur Sache steht nicht die Rekonstruktion des in Frage stehenden Sachverhalts, sondern die Gewinnung von Indikatoren für die Einschätzung innerpsychischer Vorgänge bei dem Zeugen wie zum Beispiel Erlebnisbezug vs. gedankliche Konstruktion (Lüge) als Grundlage der Sachverhaltsdarstellung, d. h., die Exploration dient der Gewinnung von Material für die aussagepsychologische Qualitätsanalyse.
Informationen für den Qualitäts-Kompetenzvergleich
Vor allem wenn die Hypothese einer absichtlichen Falschbezichtigung zu prüfen ist, müssen aussagerelevante Kompetenzen des Zeugen zur Erhebung eines individuellen Vergleichsstandards erfasst werden. Allgemein geht es dabei um die Feststellung bereichsspezifischer Kompetenzen und Erfahrungen des Zeugen, um zu prüfen, ob die im Einzelfall vorfindbare Aussagequalität durch sogenannte Parallelerlebnisse oder reine Erfindung erklärbar sein könnte. Im Zentrum stehen also einerseits Fähigkeiten zur 64
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Wahrnehmung, Speicherung und Reproduktion von Sachverhalten der in Frage stehenden Art und Komplexität sowie andererseits Fähigkeiten, um eine solche erfundene Darstellung zu konstruieren und andere damit zu täuschen. Die Feststellung solcher Fähigkeiten dient der Aufstellung von Erwartungswerten, welche Qualität bei dem Zeugen eine erlebnisbasierte Darstellung und welche Qualität eine erfundene Schilderung annehmen kann. Neben der Feststellung seiner allgemeinen und sprachlichen intellektuellen Leistungsfähigkeit unter Einschluss kreativer Komponenten ist bei Sexualdelikten eine Einschätzung sexualbezogener Kenntnisse und Erfahrungen nötig. Neben Daten aus der biografischen Analyse können hier auch standardisierte (psychometrische) psychologische Testverfahren zur Anwendung kommen. In Übereinstimmung mit Greuel et al. (1998) ist festzustellen, dass für die Erhebung des individualtypischen Berichtsverhaltens (Detaillierungsgrad, Nachvollziehbarkeit) eines Zeugen eher (unstandardisierte) Verhaltensproben in der aussagepsychologischen Begutachtung geeignet erscheinen als die Verwendung standardisierter Testverfahren. Tests und Proben können sich aber auch ergänzen.
2.4.3 Befragung von Drittpersonen Die biografische Rekonstruktion mit Hilfe von Fremdanamnesen stellt eine spezifische psychologische Methodik dar (und eben keine Vernehmung von Zeugen). Sie ist bei forensisch-psychologischen Begutachtungen insbesondere von Kindern unverzichtbar, da von Kindern in einer Eigenanamnese meistens keine ausreichenden Auskünfte erhalten werden können.
Fremdanamnesen zur biografischen Entwicklung
Demgegenüber handelt es sich bei der Rekonstruktion der Aussageentwicklung zwar auch um einen Bestandteil aussagepsychologischer Methodik, doch sind die zu erfragenden Sachverhalte nicht ausschließlich psychologischer Natur. Zur adäquaten Befragung nach möglichen suggestiven Bedingungen ist allerdings in der Regel aussagepsychologische Kompetenz notwendig. Informationen zur Aussageentstehung und -entwicklung sind teilweise den Akten zu entnehmen, teilweise sind die dort vorhandenen Informationen jedoch nicht vollständig. Sie sind oft auch nicht vom zu Begutachtenden selbst zu erhalten, insbesondere dann nicht, wenn suggestive Bedingungen zu prüfen sind. In der forensischen Praxis ist es bislang ungerügt geblieben, wenn bei einem Kind auch zur Frage der Aussageentstehung und -entwicklung eine Bezugsperson durch den Sachverständigen befragt wurde. In manchen Fällen sind aber mehrere Auskunftspersonen von Interesse. Ob diese auch vom Sachverständigen gehört werden dürfen, ist rechtlich nicht völlig geklärt. Probleme werden vermieden, wenn der
Rekonstruktion der Aussagegeschichte
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Sachverständige seinen Auftraggeber bittet, die relevanten Informationen einzuholen bzw. potenziell wichtige Auskunftspersonen in die Hauptverhandlung zu laden, wo sie dann ja auch durch den Sachverständigen befragt werden können (vgl. Pfister, 2008).
2.4.4 Dokumentation der erhobenen Daten Im schriftlichen Gutachten müssen die erhobenen Einzelergebnisse im Untersuchungsbericht zunächst deskriptiv dargestellt werden, wobei zu erkennen sein muss, welche Erkenntnisse wie bzw. von wem gewonnen wurden (vgl. Greuel et al., 1998; Westhoff & Kluck, 2008). Dokumentation der Exploration zur Sache
Für die Durchführung der merkmalsorientierten Inhaltsanalyse ist der Wortlaut der Exploration von Bedeutung; die Exploration zur Sache sollte deshalb auf Ton- oder Videoband aufgezeichnet werden. Dies wird auch vom BGH im Urteil vom 30. Juli 1999 (BGHSt 45, 164) explizit gefordert. Nur durch die genaue Dokumentation der in der Exploration verwendeten Berichtsanstöße und Fragen kann eine Abschätzung erfolgen, welche Aussagequalitäten bei den Schlussfolgerungen zur Glaubhaftigkeitseinschätzung verwertet werden können. Die Durchführung einer Aussageanalyse ohne Tonaufzeichnung – also ausschließlich aufgrund von Mit- oder Nachschriften – erscheint besonders bei komplexen Sachverhalten problematisch, wenn nicht gar unmöglich. Die Notwendigkeit der Tonaufzeichnung ist aber nicht gleichzusetzen mit der Anfertigung eines wörtlichen Transkripts der aussagepsychologischen Exploration für die Analysetätigkeit des Sachverständigen bzw. mit der Beifügung dieses wörtlichen Transkripts zum aussagepsychologischen Gutachten. Im erwähnten BGH-Urteil wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Darstellung im Ermessen des Sachverständigen liegt: „Ausreichend und wegen der größeren Übersichtlichkeit vorzugswürdig ist ein Bericht, der das Gespräch nur insofern wörtlich – ggf. unter Schilderung von Ablauf und Begleitumständen – darstellt, wie es für die Bearbeitung des Gutachtenauftrags von Bedeutung ist.“ (BGHSt 45, 164). Die abschließende Beurteilung besteht in der Gewichtung und Interpretation der Einzelergebnisse. Eine Mindestanforderung an Gutachten besteht darin, diese Gewichtungs- und Interpretationsschritte nachvollziehbar und transparent darzulegen.
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3 Die Begutachtung der Gefährlichkeits- und Kriminalprognose des Rechtsbrechers Klaus-Peter Dahle
3.1 Grundlagen
3.1.1 Rechtliche Fragestellungen und Anforderungen Das deutsche Recht verlangt bei einer Vielzahl strafrechtlicher Entscheidungen über einen Rechtsbrecher den Einbezug kriminalprognostischer Einschätzungen der Risiken erneuter Straftaten. Tatsächlich erwartet der Gesetzgeber bei jeder einzelnen Strafzumessung vom Gericht, hierbei auch „die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, (…) zu berücksichtigen“ (§ 46 I StGB) – mithin eine Wirkprognose der auszusprechenden Sanktion auf das zukünftige Legalverhalten des Täters zu treffen. Kriminalprognosen sind insoweit basaler Bestandteil des Strafrechts, daher trifft sie in den allermeisten Fällen der Richter nach eigener Sachkunde und eigenem Ermessen.
Kriminalprognosen im Strafrecht
Dort, wo es um Rechtsentscheidungen von erheblicher Tragweite geht, sehen Gesetze jedoch die Herbeiziehung von Sachverständigen vor, die den Richter mit methodischer und verhaltenswissenschaftlicher Expertise unterstützen sollen. Ihre Aufgabe ist es, die erforderliche Rechtsentscheidung in ihren kriminalprognostischen Bezügen auf eine wissenschaftlich fundierte Grundlage zu stellen, wobei der Gesetzgeber die Notwenigkeit zur Herbeiziehung sachverständiger Prognosegutachten in den letzten Jahren systematisch ausgeweitet hat. Im Rahmen eines strafgerichtlichen Hauptverfahrens sind solche Gutachten vor allem bei der Anordnung freiheitsentziehender Maßregeln der Besserung und Sicherung erforderlich, dies sind die strafgerichtlich angeordnete Unterbringung eines psychisch gestörten (§ 63 StGB) oder suchtmittelabhängigen (§ 64 StGB) Täters in eine psychiatrische Einrichtung oder die zusätzlich zur Strafe anzuordnende Sicherungsverwahrung eines sogenannten Hangtäters (§§ 66 f StGB) in einer Justizvollzugsanstalt („Einweisungsprognosen“). Da diese Maßregeln die „Gefährlichkeit“ des Täters voraussetzen, soll der Gutachter die
Kriminalprognosen durch Sachverständige
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Frage beantworten, ob bei dem Probanden weitere erhebliche Taten zu erwarten sind. Im strafgerichtlichen Vollstreckungsverfahren sind Prognosegutachten bei der Bewährungsaussetzung lebenslanger Freiheitsstrafen und des Restes zeitlich befristeter Freiheitsstrafen in Fällen schwerer Anlassdelikte (Sexual- und Gewaltstraftaten und Verbrechenstatbestände, sofern die Freiheitsstrafe mehr als zwei Jahre beträgt) erforderlich sowie bei Fragen der Aussetzung freiheitsentziehender Maßregeln der Besserung und Sicherung („Entlassungsprognosen“). In beiden Fällen soll sich das Gutachten „… namentlich zu der Frage … äußern, ob bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr besteht, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht“ (§ 454 II StPO). Deutlich ausgeweitet hat sich in den einzelnen Bundesländern zudem die Praxis, bei Tätern mit schweren Anlasstaten auch im Rahmen vollzuglicher Lockerungsentscheidungen externe Sachverständige einzubeziehen. Diese sollen einerseits zur langfristigen Rückfallprognose Stellung nehmen und hiermit die Aussichten des Gefangenen auf eine mittelfristig absehbare (Rest-)Strafaussetzung ausloten. Andererseits sollen sie aber auch das Missbrauchsrisiko einschätzen, dass er etwaige Lockerungen für die Begehung neuer Straftaten oder zur Flucht nutzt. Im Rahmen des hiesigen eher grundsätzlich gehaltenen Kompendiumbandes orientieren sich die folgenden Darstellungen zum methodischen Vorgehen bei der kriminalpsychologischen Begutachtung an der Entlassungsprognose aus dem Straf- oder Maßregelvollzug. Einerseits ist dies vermutlich der häufigste Anlass für entsprechende Gutachten. Gleichzeitig erfordert er die umfassendste Methodik, weil er auch Überlegungen z. B. zu Entwicklungen im Vollzug einschließt, die bei anderen Anlässen (etwa bei Einweisungsprognosen in den Maßregelvollzug) eher keine oder nur eine geringe Rolle spielen. Begriffsklärung: Gefährlichkeitsprognose Wissenschaftlich fundierte individuelle Wahrscheinlichkeitsaussage zukünftiger Rechtsbrüche erheblichen Schweregrades bei einer strafrechtlich bereits mit erheblichen Taten in Erscheinung getretenen Person, insbesondere im Hinblick auf gravierende Taten gegen die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle Selbstbestimmung von Drittpersonen sowie Taten, die schweren wirtschaftlichen Schaden anrichten. Gesetzliche Prognoseformeln
Soweit Gesetze prognostische Erwägungen vorsehen, hat der Gesetzgeber unterschiedliche Formulierungen gewählt und damit für die jeweiligen Rechtsentscheidungen unterschiedliche Sicherheitsschwellen vorgeben – die Spannbreite reicht von der Erwartung, dass der Täter „keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird“ (Aussetzung einer freiheitsentziehenden Maßregel gem. § 67d StGB) bis zur „hohen Wahrscheinlichkeit erheblicher Straftaten“ (nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung 68
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gem. § 66b StGB), die durch zwei unabhängige Gutachter festzustellen ist. Die Interpretation dieser Vorgaben und die damit einhergehende fallbezogene Festlegung der jeweils erforderlichen Prognosesicherheit ist Aufgabe des Richters. Er erwartet vom Gutachter hierfür jedoch eine hinreichende Grundlage in Form einer näheren Bestimmung der Wahrscheinlichkeit, mit der erneute Straftaten zu erwarten sind, sowie einer Konkretisierung der Art und Schwere der zu erwartenden Delikte. In einigen Gesetzesvorschriften finden sich inhaltliche Vorgaben an die erforderlichen Prognosen. Am weitesten geht die Vorschrift zur Bewährungsaussetzung von Restfreiheitsstrafen (§ 57 StGB), demnach bei der Prognose „… die Persönlichkeit der verurteilten Person, ihr Vorleben, die Umstände ihrer Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, das Verhalten der verurteilten Person im Vollzug, ihre Lebensverhältnisse und die Wirkungen …, die von der Aussetzung für sie zu erwarten sind“ zu berücksichtigen sind. Die Rechtsprechung hat diese Vorgaben weiter präzisiert. Demnach muss ein Prognosegutachten im Strafverfahren die Vorgeschichte des Täters, seine Anlasstat, seine seitherige Persönlichkeitsentwicklung und seine aktuellen Außenbezüge und Zukunftsperspektiven aufarbeiten (Bundesverfassungsgericht – 2 BvR 2029/01). Konkret wird erwartet, dass es hierbei „die den Straftaten zugrunde liegende Dynamik und sonstigen Tatursachen“ aufklärt, „die Entwicklung des Täters im Hinblick auf diese Tatursachen während des Vollzuges“ nachzeichnet und eine auf diesen Analysen fußende Wahrscheinlichkeitsaussage über das künftige Legalverhalten des Verurteilten trifft (Kammergericht Berlin, 5 Ws 672/98). Diese Vorgaben betreffen nicht nur die im Rahmen der Begutachtung zu berücksichtigenden Inhalte, sondern sie haben auch methodische Implikationen. Gefordert ist demnach ein streng auf den Einzelfall fokussierter Beurteilungsprozess, der mehrere diagnostische Teilaufgaben umfasst und durch die Analyse der relevanten personalen und situationalen Hintergründe des Tatgeschehens ein Erklärungsmodell für das delinquente Verhalten des Untersuchten bietet. Eine ausschließlich auf gruppenstatistischen Durchschnittszusammenhängen basierende Prognosemethodik reicht hier allein offenbar nicht aus, sie vermag kaum rückblickend die Handlungsdynamik und Hintergründe eines konkreten Tatgeschehens aufzuklären.
Rechtliche Vorgaben an Prognosegutachten
Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe unter Beteiligung mehrerer Bundesrichter hat in den von ihr erarbeiteten „Mindestanforderungen für Prognosegutachten“ (Boetticher et al., 2007) daher unlängst festgehalten, dass sich „… eine abstrakte, allein auf statistische Wahrscheinlichkeiten gestützte Prognose (verbietet)“ (ebd., S. 92). Sie hat zudem die prognostische Fragestellung an den Sachverständigen näher präzisiert. Demnach soll das Gutachten (mindestens) zu folgenden vier Aspekten Stellung nehmen:
Mindestanforderungen für Prognosegutachten
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1. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die zu begutachtende Person erneut Straftaten begehen wird? 2. Welcher Art werden diese Straftaten sein, welche Häufigkeit und welchen Schweregrad werden sie haben? 3. Mit welchen Maßnahmen kann das Risiko zukünftiger Straftaten beherrscht oder verringert werden? 4. Welche Umstände können das Risiko von Straftaten steigern? Erwartet werden mithin nicht nur eine bloße prognostische Einschätzung der Rückfallrisiken des Probanden, sondern auch die Skizzierung hypothetischer Rückfallszenarien sowie Vorschläge für ein mögliches Risikomanagement, mit dem etwaige Restrisiken reduziert bzw. kontrolliert sowie etwaige Rückfallrisikokonstellationen und destabilisierende Entwicklungen rechtzeitig erkannt und ggf. verhindert werden könnten. Kriminalprognosen außerhalb gesetzlicher Erfordernisse
Auch dort, wo es nicht unmittelbar um gesetzlich geforderte Risikoeinschätzungen im Rahmen von Rechtsentscheidungen über den Täter geht, gewinnen Kriminalprognosen und die kriminalprognostische Methodologie eine zunehmend größere Bedeutung. Dies betrifft insbesondere (selektive oder adaptive) Indikationsentscheidungen für Behandlungsmaßnahmen innerhalb oder außerhalb des Vollzuges, mit denen die Rückfallrisiken eines Täters gezielt beeinflusst werden sollen, wie z. B. die Frage der Verlegung eines Strafgefangenen in eine Sozialtherapeutische Anstalt oder die Betreuung eines aus dem Straf- oder Maßregelvollzug entlassenen Sexualoder Gewaltstraftäters durch eine therapeutische Nachsorgeambulanz. Die große Bedeutung prognostischer Einschätzungen für kriminaltherapeutische Indikationsentscheidungen ist einer mittlerweile recht breiten empirischen Erfahrungsgrundlage über effiziente Straftäterbehandlung geschuldet. Demnach sollte sich die Intensität einer geplanten Behandlungsmaßnahme zunächst am tatsächlichen Ausmaß des jeweiligen Rückfallrisikos des Täters („risk principle“) – mithin also an seiner Kriminalprognose – orientieren. Bei ohnehin geringem Risiko bedarf es keiner mehrjährigen stationären Behandlung in einer sozialtherapeutischen Spezialeinrichtung zur Förderung des Legalverhaltens; andererseits reicht bei einem polytrop kriminellen Intensivtäter ein ambulantes Soziales Training kaum aus, um dessen Rückfallgefährdung nachhaltig zu beeinflussen. Darüber hinaus sollten die geplanten Behandlungsmaßnahmen inhaltlich gezielt an den für den jeweiligen Täter individuell bedeutsamen Risikofaktoren ansetzen („need principle“) und nicht „irgendwas“ bezwecken. Es bedarf also der Kenntnis und mithin der sorgfältigen Diagnostik dieser Risikofaktoren und ihrer spezifischen kriminogenen Bedeutung, auch dies erfordert kriminalprognostische Methodologie (zu den Grundprinzipien erfolgversprechender Straftäterbehandlung vgl. Tab. 8).
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Tabelle 8: Prinzipien effizienter therapeutischer Straftäterbehandlung (Andrews & Bonta, 2006) und ihre Zusammenhänge mit der Kriminalprognose Risk principle
Intensität der Behandlung entsprechend dem Ausmaß des individuellen Rückfallrisikos → Prognose erforderlich
Need principle
Gezielter Behandlungsfokus auf die Veränderung der individuell kriminogenen Risikofaktoren → dezidierte Risikoanalyse erforderlich
Responsivity principle
Auswahl verhaltensnaher, problemorientierter Behandlungsmethoden → unabhängig von Prognose
Integrity
Stringenz der Behandlung und ihrer organisatorischen Einbettung → unabhängig von Prognose
3.1.2 Grundlegende methodische Strategien Wie bei allen Prognosen zukünftigen Verhaltens lassen sich auch Gefährlichkeits- oder Kriminalprognosen nicht mit Sicherheit treffen; es geht stets um die begründete Einschätzung der Wahrscheinlichkeit zukünftiger strafrechtsrelevanter Handlungsentscheidungen und Verhaltensweisen des Täters. Wissenschaftlich fundierte Einschätzungen dieser Art lassen sich dabei im Prinzip auf zwei unterschiedlichen methodischen Wegen erzielen. Der eine Weg beruht auf empirischer Evidenz, also auf gesicherten Erfahrungen, die man bislang mit der Rückfälligkeit von Tätern und mit Tat- oder Tätermerkmalen, die die Rückfallwahrscheinlichkeit systematisch beeinflussen, gesammelt hat. Die Grundlagen dieses insoweit einem nomothetischen Wissenschaftsmodell verpflichteten methodischen Vorgehens (sie werden oft auch aktuarische oder statistische Prognosemethoden genannt) sind somit empirisch belegte Risiko- und Schutzfaktoren sowie Verfahrensweisen zur Bezugnahme dieser Prädiktoren auf den Einzelfall. Idiografische (auch explanative oder – missverständlich – „klinische“) Prognosemethoden basieren hingegen nicht primär auf einem von vornherein vorgegebenen, fallunabhängigen Katalog von Prognosekriterien, sondern versuchen vielmehr die im konkreten Einzelfall relevanten Faktoren aus ihren spezifischen Gegebenheiten und Entwicklungen heraus zu begründen. Grundlage ist hier also die möglichst sorgfältige Rekonstruktion der biografischen und strafrechtlichen Entwicklung des einzelnen Täters und seiner Anlasstat, um die spezifisch relevanten Zusammenhänge erkennen zu können.
Nomothetische und idiografische Prognose
Bei den erfahrungsbasierten nomothetischen Prognosemethoden lassen sich grob zwei Herangehensweisen der Entwicklung standardisierter Instrumente
Nomothetische Ansätze
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differenzieren, die sich insbesondere im Hinblick auf ihren Komplexitätsgrad unterscheiden. Rein statistische Verfahren berücksichtigen nur wenige und sehr einfach erfassbare Merkmale, oft nur das Alter und einige wenige Daten aus der strafrechtlichen Vorgeschichte des Probanden. Sie erfordern daher nur geringen diagnostischen Aufwand und benötigen auch keine spezielle diagnostische oder anderweitige Expertise des Anwenders, liefern andererseits aber auch keine inhaltlichen Aussagen über die Gründe etwaig erhöhter Rückfallrisiken und können Änderungen der Risikopotenziale – etwa im Zuge einer Behandlungsmaßnahme – nicht abbilden. Deutlich komplexer sind standardisierte Prognoseinstrumente der sogenannten „dritten Generation“ (Andrews & Bonta, 2006). Diese Verfahren beziehen neben den unveränderlichen statischen Merkmalen systematisch auch „dynamische“ – d. h. potenziell veränderbare und damit prinzipiell auch behandelbare – Faktoren mit ein. Hierbei handelt es sich oftmals jedoch weniger um einfache Variablen, wie das Alter oder die Anzahl der Vorstrafen eines Probanden, als vielmehr um komplexe Konstrukte, wie z. B. bestimmte Persönlichkeitsstile, psychopathologische Phänomene oder Einstellungsmuster, die entsprechend anspruchsvoller zu erfassen sind. Mit diesen Instrumenten wird die Prognose aber nicht nur auf eine insgesamt komplexere inhaltliche Grundlage gestellt, sondern es werden auch Perspektiven für Verlaufsbetrachtungen und für die inhaltliche Analyse der im Einzelfall relevanten Risiken eröffnet. Neben der Einschätzung des individuellen Rückfallrisikos („risk“) wollen einige Instrumente auch zur inhaltlichen Identifizierung individuell bedeutsamer dynamischer Risikofaktoren („needs“) beitragen und damit Ansatzpunkte für die Erfassung des Behandlungsbedarfs und potenzieller Behandlungsziele liefern (vgl. Tab. 8). Mit dem Einbezug komplexer dynamischer Risikofaktoren sind allerdings auch die Anforderungen gestiegen, die diese Instrumente an die diagnostische Datenbasis und an die Qualifikation ihrer Anwender stellen. Die meisten Instrumente dieses Typs erfordern breite diagnostische Untersuchungen einschließlich genauer Aktenanalysen und setzen beim Anwender eine psychodiagnostische und verhaltenswissenschaftliche Ausbildung, häufig auch ein spezielles Training mit dem jeweiligen Prognoseinstrument, voraus. Idiografische Ansätze
Ziel der idiografischen Prognosemethode ist es, individuelle verhaltensrelevante Gesetzmäßigkeiten, wie z. B. wiederkehrende Verhaltensmuster, überdauernde Bedürfnisse, bestimmte Fähigkeiten oder Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten, zu erkennen und deren Zusammenhänge mit der spezifischen Straffälligkeit des Probanden zu ergründen, um dann durch Fortschreibung dieser individuellen Gesetzmäßigkeiten zu einer Prognose zu gelangen. Dieser Ansatz folgt einem eher der geisteswissenschaftlichen Tradition nahestehenden idiografischen Wissenschaftsmodell und basiert auf der retrospektiven Erklärung der individuellen Ursachen der bisherigen Delinquenz des Täters. Die Methodik basiert ihrem Wesen nach nicht 72
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auf Auflistungen vorgegebener Einzelmerkmale und Regeln, wie diese operational zu erfassen und zu verknüpfen sind. Es geht vielmehr darum, den komplexen Prozess der prognostischen Urteilsbildung durch inhaltlich-methodische Vorgaben zu systematisieren, um ihn auf eine wissenschaftlich kontrollierbare Grundlage zu heben und transparent zu machen. Der Gang einer idiografischen Fallbeurteilung entlang eines solchen Urteilsbildungsmodells wird an späterer Stelle behandelt. Neben dem allgemeinen Prozessmodell der kriminalprognostischen Einzelfallbeurteilung existieren aber Hilfsmittel, die den Diagnostiker unterstützen sollen. Hierbei handelt es sich insbesondere um sogenannte Prognosechecklisten, die fallunabhängige Kataloge prognostisch günstiger und ungünstiger Merkmale beinhalten und insoweit stark den aktuarischen Prognoseinstrumenten ähneln. Sie wurden aber nicht zu Prognoseinstrumenten weiterentwickelt, halten keine Operationalisierungen für die reliable Erfassung der Merkmale bereit und liefern für sich genommen auch weder einen „Prognosescore“ noch eine Einschätzung der Rückfallrisiken. Ihr Wert besteht in der Benennung potenziell relevanter Bereiche, die ein Diagnostiker prüfen sollte, um bei der komplexen individuellen Fallbeurteilung nicht wesentliche Aspekte zu übersehen. Die kriminogene (oder protektive) Bedeutung der jeweiligen Faktoren ist dann aber in jedem Einzelfall zu spezifizieren und in das jeweilige Erklärungsmodell der spezifischen Delinquenz des untersuchten Täters zu integrieren. Zusammenfassend lassen sich also grob zwei Grundstrategien der Kriminal- und Gefährlichkeitsprognose unterscheiden, die letztlich auf den beiden erkenntnistheoretischen Wurzeln der Psychologie als der Wissenschaft vom Verhalten und Erleben des Menschen fußen. Beide Ansätze haben Stärken und Schwächen. Vorteil des erfahrungsbasierten nomothetischen Ansatzes ist zunächst die Standardisierbarkeit des Vorgehens, die eine hohe Objektivität der Beurteilung und somit Schutz vor menschlichen Urteilsfehlern auf Seiten des Diagnostikers verspricht. Die Beurteilungen werden hierdurch zudem transparent und überprüfbar und es liegen Erfahrungswerte ihrer Zuverlässigkeit vor. In die Beurteilung fließt ferner systematisch empirisch gesichertes Wissen über Rückfälligkeit und Einflussfaktoren ein und nicht zuletzt bestehen Möglichkeiten, auch die Irrtumswahrscheinlichkeit der Prognose abzuschätzen. Dies sind viele Gründe, die Verfahren im Rahmen prognostischer Beurteilungen zu nutzen. Schwächen liegen zunächst in methodenimmanenten Begrenzungen, die letztlich in der Logik des auf empirischen Durchschnittserfahrungen und auf Kumulationen von Risiko- und Schutzfaktoren basierenden Ansatzes liegen. So neigen die Summenscores all dieser Instrumente dazu, bei häufiger Anwendung die Form einer Normalverteilung anzunehmen. Dies bedeutet, dass überproportional viele Probanden in den Bereich mittlerer Summenwerte nahe dem Mittelwert eingeordnet werden, was für die Prognose eine unspezifische „mittlere Rückfallerwartung“ ergibt (sog. „Mittelfeldproblem“) – der
Stärken und Schwächen nomothetischer Prognosen
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tatsächlich erzielbare prognostische Erkenntnisgewinn ist in vielen Fällen also eher gering. Eine weitere Konsequenz normalverteilter Risikowerte ist, dass die Wahrscheinlichkeit seltener Ereignisse, wie sie gravierende Gewalt- oder Sexualdelikte im Rückfall darstellen, systematisch überschätzt wird (zu den mathematischen Hintergründen vgl. Wiggins, 1973). Neben methodenimmanenten Begrenzungen weisen die bislang vorliegenden Instrumente aber auch einige inhaltliche Schwächen auf. So gewichten selbst die komplexeren Verfahren der dritten Generation, trotz systematischer Beachtung dynamischer Risikobereiche, den statischen Bereich der Vorgeschichte gewöhnlich recht stark (weil die Vorgeschichte ein starker empirischer Prädiktor ist). Dies führt in der Konsequenz dazu, dass Personen mit ausgeprägter Vordelinquenz mit den Instrumenten kaum eine Chance haben, jemals eine günstige Prognose zugesprochen zu bekommen. Bei prognostischen Fragen nach der etwaigen Änderung einer vormals ungünstigen Prognose – dies ist z. B. bei der Frage nach der Entlassbarkeit eines im Maßregelvollzug befindlichen Patienten definitionsgemäß der Fall – ist ihr Nutzen insofern eingeschränkt. Die wichtigste Einschränkung nomothetischer Instrumente besteht indessen in der bereits eingangs dargelegten Feststellung, dass allein mit Risikoscores und statistischen Wahrscheinlichkeitsschätzungen die rechtlichen Anforderungen an Kriminalprognosen im Strafrecht nicht erfüllt werden. Tabelle 9 fasst die Stärken und Schwächen standardisierter „aktuarischer“ Prognosemethoden nochmal zusammen. Tabelle 9: Grundsätzliche Vorzüge und Begrenzungen standardisierter Instrumente der Kriminalprognose Vorzüge/Stärken
Begrenzungen/Probleme
Transparenz: rationale und nachvollziehbare Prognosebeurteilung
Mittelfeldproblem: überproportional häufige Prognose durchschnittlicher Risiken
Wissenschaftlichkeit: systematische Nutzung empirischer Evidenz
Falsch-Positiven-Problem: Überschätzung der Risiken seltener schwerer Rückfälle
Fairness: sehr hohe Übereinstimmung unabhängiger Beurteiler
Veränderungsresistenz: starke Gewichtung der (strafrechtlichen) Vorgeschichte, dadurch wenig sensibel gegenüber aktuellen Veränderungen
Zuverlässigkeit: prognostische Validität in vielen Studien belegt
Nichterfüllung der gesetzlichen Vorgaben: Orientierung am statistischen Durchschnitt, Vernachlässigung individueller Bezüge
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Standardisierung Individualisierung
nomothetischer Ansatz: empirische Erfahrung
idiografischer Ansatz: retrospektive individuelle Erklärung
statistische Instrumente (statistische Variablen)
3rd-GenerationInstrumente (z. T. dynamische Konstrukte)
Prognosechecklisten
an idiografisch zu begründenden Kriterien orientiert
allgemeine Prognose: z. B. OGRS 3 Gewaltprognose: z. B. Risk-Matrix-V(iolent) Sexualprognose: z. B. Risk Matrix-S(exual)
allgemeine Prognose: z. B. LSI-R Gewaltprognose: z. B. HCR-20 Sexualprognose: z. B. SVR-20
z. B. „Dittmannliste“
allgemeine Prognose: ⎫ Gewaltprognose: Sexualprognose:
Prozessmodell
⎪ klinisch⎬ idiografischer ⎪ Kriminalprognose ⎭
Abbildung 3: Grundlegende methodische Strategien der Kriminal- und Gefährlichkeitsprognose (Instrumentenbeispiele werden in Kapitel 3.2.1 behandelt)
Der idiografische Ansatz vermag hingegen von seiner Anlage her, den rechtlichen Ansprüchen an den Individualisierungsgrad von Kriminalprognosen im Strafrecht durchaus zu genügen. Auch lässt er nicht von vornherein methodenimmanente Probleme, wie das o. g. Mittelfeld- oder Falsch-PositivenProblem, oder die inhaltliche Schwäche einer unangemessenen Gewichtung bestimmter Faktoren (insbesondere die strafrechtliche Vorgeschichte) bei bestimmten Fallkonstellationen erkennen; diese lassen sich vielmehr einzelfallbezogen anpassen. Gegenüber dem aktuarischen Ansatz problematisch erscheinen vielmehr gerade die ausgeprägte Individualisierung und der hohe Komplexitätsgrad der idiografischen Einzelfallbeurteilung, die einer Standardisierbarkeit der Urteilsbildung letztlich entgegenstehen. Zwar lassen sich (z. B. durch die o. g. Prognosechecklisten) durchaus Kontrollprozeduren einbeziehen, die eine gewisse Standardisierung auch inhaltlicher Gesichtspunkte erlaubt. Von seinen eigentlichen Grundlagen und seiner Zielsetzung her erfordert der idiografische Ansatz jedoch notwendigerweise Freiheitsgrade bei der Beurteilung und Gewichtung individuell bedeutsamer Einflussfaktoren. Abbildung 3 fasst die Struktur und Inhalte der grundlegenden methodischen Ansätze zur Kriminal- und Gefährlichkeitsprognose noch einmal abschließend zusammen und führt beispielhaft einige Instrumente auf, die im nächsten Abschnitt näher beschrieben werden.
Stärken und Schwächen idiografischer Prognosen
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3.2 Kriminalprognostische Urteilsbildung Zweigleisiges methodisches Vorgehen
Da die beiden im Vorabschnitt skizzierten methodischen Grundstrategien spezifische, letztlich aber weitgehend konträre methodenimmanente Stärken und Schwächen aufweisen, empfiehlt es sich, im Rahmen einer komplexen kriminalprognostischen Begutachtung beide Ansätze zu nutzen und im Rahmen einer abschließenden Gesamtbetrachtung die hierdurch jeweils gewonnenen Erkenntnisse zu integrieren. Die Zweigleisigkeit des methodischen Herangehens verspricht es am ehesten, die jeweiligen Vorteile der Ansätze für die Prognose zu nutzen und gleichzeitig ihre methodenspezifischen Grenzen zumindest partiell zu überwinden. Dabei spricht vieles dafür, im Gang des gedanklichen Urteilsbildungsprozesses zunächst den nomothetischen Ansatz zu verfolgen und als erstes nach den möglichen Beiträgen empirisch gesicherter Erfahrungen für die Einschätzung des vorliegenden Falls zu fragen. Der Prognostiker erhält auf diese Weise eine fundierte Vorstellung von den (statistischen) Grundrisiken, auf dem sich der zu beurteilende Proband nach Maßgabe eines breiten empirischen Erfahrungswissens mit vergleichbaren Fallkonstellationen bewegt, und kann sich somit im Vorfeld der idiografischen Einschätzungen auf ein realistisches Ausgangsniveau einstellen. Darüber hinaus gewinnt er bei Anwendung der komplexeren Prognoseinstrumente aber auch eine Vorstellung von möglichen inhaltlichen Risikobereichen, die den Probanden auszeichnen und zumindest aus dem Blickwinkel der Empirie prognostisch relevant sind. Dies mag dazu beitragen, dass er sich im Rahmen der komplexen Einzelfallbetrachtung nicht allzu frühzeitig und einseitig auf bestimmte Hypothesen konzentriert und wesentliche Bereiche übersieht.
3.2.1 Aktuarische Einschätzung der (statistischen) Ausgangsrisiken Klassische statistische Verfahren
Versuche, mit statistischen Mitteln und Instrumenten die Rückfallrisiken von Straftätern einzuschätzen, haben eine vergleichsweise lange Tradition. Erste praktisch nutzbare „Prognosetafeln“ stammen aus den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts und basieren auf Risikofaktoren, die retrospektiv anhand von Aktendaten ehemaliger Strafgefangener gewonnen wurden. Trotz ihrer langen Geschichte wurden diese Instrumente bis in die jüngere Zeit im deutschsprachigen Raum kaum zur Kenntnis genommen, allenfalls fanden sie – gewöhnlich abschätzige – Erwähnung im juristisch-kriminologischen Schrifttum, kaum aber Anwendung in der Begutachtungspraxis. Im englischsprachigen Raum erfreuen sich Instrumente dieses Typs hingegen seit jeher recht breiter Beliebtheit und werden dort auch heutzutage vielerorts routinemäßig eingesetzt. Dem entspricht, dass die meisten der derzeit verfügbaren methodischen Entwicklungen aus Großbritannien, aus den USA oder aus Kanada kommen. 76
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3.2.1.1 Standardinstrumente zur Einschätzung allgemeiner Rückfallrisiken Das wohl elaborierteste Instrument zur statistischen Einschätzung der allgemeinen Rückfallwahrscheinlichkeit bei Straftätern stammt aus Großbritannien und wird nach den Vorgaben des Londoner Home Office zur Regelbeurteilung haftentlassener Strafgefangener eingesetzt. Bei der Offender Group Reoffending Scale (OGRS-3, National Offender Management Service, 2008) handelt sich um ein laufend weiterentwickeltes Instrument, die derzeit aktuelle Version 3 basiert auf ausgewerteten Datensätzen von mittlerweile rund 79.000 ehemaligen Strafgefangenen. Sie bezieht lediglich sechs sehr einfach zu erfassende Tätervariablen ein, die mehrfach transformiert und dann nach einem regressionsanalytischen Modell unmittelbar zu einer Schätzung der Rückfallwahrscheinlichkeit innerhalb eines ein- oder zweijährigen Beobachtungszeitraums verrechnet werden (vgl. Kasten).
Die Offender Group Reoffending Scale
Die Offender Group Reoffending Scale – Version 3:
X1 Geschlecht X2 Alter bei letzter (Anlass-)Tat X3 Alter aktuell X4 Anzahl früherer Verurteilungen X5 Alter bei erster Verurteilung X6 Typ des Anlassdelikts A = 1,25512 · (LN ((1 + X4) / (10 + X2 – X5)) B = Geschlechts- und Altersgewichtung aus X1 und X3 (gesonderte Tabelle) C = Deliktgewichtung aus X6 (gesonderte Tabelle) D = Gewichtung Vordelikte (gesonderte Tabelle) p (Rückfall innerhalb eines Jahres) = e(1,40256 + A + B + C + D) / (1 + e(1,40256 + A + B + C + D)) p (Rückfall innerhalb von zwei Jahren) = e(2,1217 + A + B + C + D) / (1 + e(2,1217 + A + B + C + D)) Als diagnostische Datengrundlage bedarf es zur Anwendung der OGRS kaum mehr als eines aktuellen Bundeszentralregisterauszugs. Auch der erforderliche Zeitaufwand ist minimal, da das Londoner Home Office den Mitarbeitern der zuständigen Behörden eine Excel-Tabelle mit den ent77 © 2010 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Volbert/Dahle: Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren.
sprechenden Tabellen und Umrechnungen zur Verfügung stellt. Das Instrument wird als valide für die Vorhersage von Verurteilungen wegen neuerlicher Delikte beschrieben (vgl. Howard, Francis, Soothill & Humphreys, 2009); Untersuchungen an deutschen Stichproben ergaben bislang Gütekoeffizienten zwischen r = .32 und r = .37 bei der Vorhersage erneuter rechtskräftiger Neuverurteilungen (vgl. Dahle, Schneider & Ziethen, 2008). Das Level of Service Inventory – Revised
Einen bekannten Vertreter der komplexen Prognoseinstrumente der neueren Generation zur Einschätzung der allgemeinen Rückfallrisiken stellt das Level of Service Inventory – Revised (LSI-R, Andrews & Bonta, 1995) dar, für das eine leicht modifizierte deutsche Version in Vorbereitung ist. Das Instrument erfasst insgesamt 54 statische und dynamische Merkmale, die 10 Risikobereichen zugeordnet werden, welche nach Maßgabe kognitiv-behavioraler Tabelle 10: Risikobereiche im LSI – Revised (Andrews & Bonta, 1995; in Klammern: Anzahl der jeweils zugehörigen Merkmale bzw. Items) Bereich
Beschreibung
11. Strafrechtliche Vorgeschichte (10)
Umfang und Art früherer Delikte im Jugend- und im Erwachsenenalter sowie Verhaltensvariablen im Rahmen früherer Sanktionen
12. Ausbildung/Beruf/ Arbeit (10)
Schulbildung, Arbeitssozialisation, Motivationsfaktoren im Leistungskontext, Problemverhalten sowie soziale Verhaltensmuster im Leistungsbereich
13. Finanzielle Situation (2)
finanzielle Probleme und Angewiesenheit auf soziale Unterstützungsleistungen
14. Familie und Partnerschaft (4)
Bindungen und kriminogene Einflüsse in Familie und Partnerschaft
15. Wohnsituation (3)
Stetigkeit, Qualität und kriminogene Einflüsse im Wohnumfeld
16. Freizeitbereich (2)
Fähigkeiten zur adäquaten Strukturierung von Freizeit und etwaige Aktivitäten mit Schutzfunktion (bzw. deren Fehlen)
17. Freundschaften/ Bekanntschaften (5)
Vorhandensein und Qualität sozialer Beziehungen außerhalb familiärer Bezüge hinsichtlich etwaiger Schutz- oder kriminogener Einflüsse
18. Alkohol/Drogen (9)
Qualität und Umfang des Suchtmittelgebrauchs sowie Zusammenhänge mit kriminellem Verhalten oder Problemen in Partnerschaft, Beruf oder Schule
19. Emotionale/psychische Probleme (5)
psychopathologische Auffälligkeiten und psychiatrischer oder psychologischer Behandlungsbedarf
10. Orientierung (4)
dissozial-kriminogene Einstellungen, Werthaltungen und Normorientierungen
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und sozialpsychologischer Kriminaltheorien – aber auch nach empirischer Evidenz – mit den Delinquenz- und Rückfallrisiken zusammenhängen (vgl. Tab. 10). Es ermöglicht somit nicht nur eine Globaleinschätzung des Rückfallrisikos (Summenscore der 54 Merkmale), sondern gibt auch inhaltliche Hinweise auf mögliche relevante kriminogene Faktoren i. S. eines Risikoprofils und somit Anhaltspunkte für sinnvolle Behandlungsziele (im Sinne des „risk principle“ und des „need principle“; vgl. Tab. 8). Das LSI-R erfasst statische Merkmale aus der Vorgeschichte des Probanden dichotom (ja/nein), die veränderbaren dynamischen Merkmale werden vom Anwender nach Maßgabe ihres aktuellen Ausprägungsgrades auf einer vierstufigen Skala eingeschätzt. Hierbei handelt es sich zum Teil um komplexe Konstrukte, weshalb das Instrument eine im Vergleich zur OGRS ungleich breitere diagnostische Datenbasis erfordert. Unabdingbar sind dabei umfangreiche Aktenkenntnisse des Diagnostikers und ausführliche Explorationen des Probanden, die ggf. durch Kollateralinformationen (Testbefunde, Fremdexplorationen usw.) ergänzt werden können. Trotz seines hohen Komplexitätsgrades gilt das LSI-R aufgrund seiner klaren Operationalisierungen als hochobjektiv, zumindest für den Gesamtscore wird die Interraterreliabilität mit r > .90 angegeben. Es hat sich mittlerweile in mehreren Meta-Analysen als das vorhersagestärkste standardisierte Prognoseinstrument erwiesen (z. B. bei Gendreau, Goggin & Smith, 2002; mit Mz = .42); Untersuchungen an deutschen Straftäterpopulationen deuten auf die grundsätzliche Übertragbarkeit auf hiesige Verhältnisse und ergaben eine vergleichbare Vorhersagegüte (z. B. Dahle, 2006).
3.2.1.2 Standardinstrumente zur Einschätzung gewalttätiger Rückfallrisiken Zur statistischen Grobeinschätzung der speziell gewalttätigen Rückfallrisiken wurde die Gewaltskala („Violence“) der Risk-Matrix 2000 (RM-V; Thornton et al., 2003) entwickelt. Das Instrument wird ebenfalls vom Londoner Home Office zur Routineuntersuchung bei Gewalttätern empfohlen, im deutschsprachigen Raum ist es bislang kaum verbreitet. Es besteht aus nur drei Items – dem aktuellen Alter des Täters (vierfach gestuft erfasst), der Anzahl gewalttätiger Vordelikte (vierfach gestuft erfasst) und der Frage nach Einbruchdiebstahl in der strafrechtlichen Vorgeschichte (dichotom erfasst) – die entsprechend gewichtet aufsummiert und dann tabellarisch einer von vier Risikostufen zugeordnet werden. Die Validität der Vorhersage gewalttätiger Rückfälle wird mit AUC zwischen .78 und .85 als außergewöhnlich hoch angegeben (ebd.), bei Kreuzvalidierungen an deutschen Gewalttätern erreichte das Instrument eine nicht ganz so hohe, mit Gütewerten zwischen r = . 32 und .46 (dem entspricht etwa eine AUC zwischen .68 und .77) aber durchaus beachtliche Vorhersagegüte (vgl. Dahle et al., 2008).
Risk-Matrix Violence
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Das HCR-20Schema
Während die RM-V, wie fast alle statistischen Instrumente zur Rückfallrisikoklassifikation, hierzulande noch wenig Beachtung findet, hat sich das aus Kanada stammende HCR-20-Schema (Webster, Douglas, Eaves & Hart, 1997) mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum als Standardinstrument bei der Prognosebegutachtung von Gewaltstraftätern weitgehend etabliert. Das Instrument zählt zu den komplexen Instrumenten der dritten Generation und wurde ursprünglich als einfache Prognosecheckliste für psychisch kranke Gewalttäter in forensisch-psychiatrischen Einrichtungen entwickelt. Die Operationalisierungen der im Instrument erfassten Merkmale wurden jedoch weiterentwickelt und die Vorhersagegüte des Summenscore wurde weltweit umfassend untersucht und mittlerweile auch für nicht psychiatrische Tätergruppen aus dem Strafvollzug wiederholt bestätigt (Übersicht bei Douglas, Guy & Reeves, 2008), so dass es in der Literatur als standardisiertes Prognoseinstrument gilt. Das Verfahren selbst besteht aus insgesamt 20 Items:3 Zehn weitgehend statische Items (die „historical“ oder H-Items) erfassen Merkmale aus der Vorgeschichte des Probanden; fünf dynamische Items (die „clinical“ oder C-Items) beziehen sich auf die Gegenwart und enthalten aktuelle Korrelate und Prädiktoren von Gewalt und weitere fünf Items Das HCR-20-Schema (Webster et al., 1997):
H1 H2 H3 H4 H5 H6 H7 H8 H9 H 10 C1 C2 C3 C4 C5 R1 R2 R3 R4 R5
Frühere Gewaltanwendung Geringes Alter bei erster Gewalttat Instabile Beziehungen Probleme im Arbeitsbereich Substanzmissbrauch (gravierende) seelische Störung Psychopathy (PCL) Frühe Fehlanpassung Persönlichkeitsstörung Frühere Verstöße gegen Auflagen Mangel an Einsicht Negative Einstellungen Aktive Symptome Impulsivität Fehlender Behandlungserfolg Fehlen realistischer Pläne Destabilisierende Einflüsse Mangel an sozialer Unterstützung Mangelnde Compliance Stressoren
3 In einer modifizierten deutschen Version wurden drei Items hinzugefügt (vgl. Müller-Isberner, Jöckel & Cabeza, 1998)
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(die „risk“ oder R-Items) beziehen sich auf den sozialen Empfangsraum und potenziell zukünftig destabilisierende Einflüsse und Lebensbedingungen. Der folgende Kasten gibt eine Übersicht über die erfassten Merkmale. Die Anwendung des HCR-20-Schemas setzt eine breite diagnostische Datengrundlage voraus, ähnlich die dem LSI-R. Die Merkmale werden hier nach Maßgabe ihrer Ausprägung dreistufig erfasst (0: Merkmal liegt nicht vor; 1: Merkmal liegt in moderater Ausprägung vor; 2: Merkmal liegt ausgeprägt vor) und über alle drei Bereiche aufsummiert. Untersuchungen der Beurteilerübereinstimmung ergaben vergleichbar gute Ergebnisse wie beim LSI-R und auch die Vorhersagegüte wird mit vergleichbaren Gütewerten angegeben (vgl. Douglas et al., 2008). Sie wurde wiederholt auch für deutsche Tätergruppen bestätigt (z. B. Dahle, 2006).
3.2.1.3 Standardinstrumente zur Einschätzung der Rückfallrisiken bei Sexualdelinquenz Zur statistischen Grobeinschätzung der einschlägigen Rückfallrisiken bei Sexualdelinquenten lässt sich die „Sexual“-Skala der Risk-Matrix 2000 (RM-S; Thornton et al., 2003) heranziehen, die vom Londoner Home Office zur Routineuntersuchung bei Sexualstraftätern empfohlen wird. Sie besteht ebenfalls aus drei Kernitems – dem aktuellen Alter des Täters (vierfach gestuft erfasst), der Anzahl einschlägiger Vordelikte mit Sexualdelinquenz (vierfach gestuft erfasst) und der Anzahl der Vordelikte insgesamt (dichotom erfasst). Sie werden jedoch durch vier etwas schwächer gewichtete „aggravating factors“ – der Opferwahl (männliche Opfer und fremde Opfer), den Beziehungsstatus (je verheiratet gewesen) und den Tattyp (je Sexualdelikte ohne Körperkontakt [z. B. exhibitionistische Handlungen]) – ergänzt. Die Validität der Vorhersage einschlägiger Rückfälle erneuter Sexualdelikte wird von den Autoren mit AUC-Werten zwischen .75 und .77 angegeben, Validierungen an deutschen Sexualstraftätern ergaben Werte um r = .32 (AUC = .71). Trotz grundsätzlicher Belege ihrer Validität und Übertragbarkeit ist die RM-S im deutschen Sprachraum noch nicht sehr bekannt.
Risk-Matrix Sexual
Demgegenüber scheint ein anderes statistisches Instrument zur Einschätzung der Rückfallrisiken bei Sexualdelinquenz, der Static-99 (Hanson & Thornton, 1999; deutsch: Rettenberger, 2006), auch hierzulande etwas verbreiteter. Im Prinzip handelt es sich hierbei um eine inhaltlich ähnliche Vorgängerversion der RM-S, er ist mit insgesamt zehn Items jedoch etwas komplexer und berücksichtigt zusätzlich zu den in der RV-S erfassten Merkmalen auch nicht sexuelle Gewalttaten (im Kontext der Anlasstat und in der Vorgeschichte) und den Verwandtschaftsgrad zum Opfer. Zur Vorhersagevalidität des Static-99 fand man metaanalytisch (Hanson & Morton-
Static-99
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Bourgon, 2004) einen mittleren Zusammenhang des Summenscores mit einschlägigen Rückfällen von M(d) = .63 (entspricht einer mittleren Korrelation von etwa .3), dies deckt sich mit Erfahrungen aus dem deutschsprachigen Raum.
SVR-20
Als komplexes Instrument der dritten Generation für Täter mit Sexualdelikten hat sich im deutschsprachigen Raum wohl das Sexual-Violence-Risk20-Schema (SVR-20, Boer, Hart, Kropp & Webster, 1997; deutsch: Müller-Isberner, Cabeza & Eucker, 2000) am weitesten etabliert. Es stammt von derselben Arbeitsgruppe, die auch das HCR-20 Schema entwickelt hat, und ähnelt ihm in Aufbau und Art der dreistufigen Erfassung der Merkmale. Erfasst werden insgesamt elf Items zur psychosozialen Anpassung des Probanden, sieben Merkmale zur spezifischen Sexualdelinquenz und zwei Aspekte potenziell zukünftig destabilisierender Einflüsse. Der folgende Kasten gibt eine Übersicht über das Instrument.
Das SVR-20 Schema (Boer et al., 1997):
A. A1 A2 A3 A4 A5 A6 A7 A8 A9 A 10 A 11
Psychosoziale Anpassung Sexuelle Deviation Opfer von Kindesmissbrauch Psychopathy (PCL) (gravierende) seelische Störung Substanzmissbrauch suizidale/homicide Gedanken Beziehungsprobleme Beschäftigungsprobleme nicht-sexuelle gewalttätige Vordelikte gewaltfreie Vordelikte früheres Bewährungsversagen
B. B1 B2 B3 B4 B5 B6 B7
Sexualdelinquenz hohe Deliktfrequenz multiple Formen von Sexualdelinquenz physische Verletzung des Opfers Waffengebrauch/Todesdrohung Zunahme der Deliktfrequenz oder -schwere extremes Bagatellisieren oder Leugnen deliktfördernde Einstellungen
C. C1 C2
Zukunftspläne Fehlen realistischer Pläne Ablehnung weiterer Unterstützung/mangelnde Compliance
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Wie alle komplexen Prognoseinstrumente der dritten Generation setzt auch das SVR-20 Schema eine breite diagnostische Informationsgrundlage einschließlich sorgfältiger sexualanamnestischer Daten voraus. Die mittlere Vorhersagegüte einschlägiger Rückfälle wurde in der bereits erwähnten Meta-Analyse mit M(d) = .77 (entspricht etwa r = .36) ermittelt, die meisten deutschsprachigen Studien ergaben leicht niedrigere Gütewerte. Grundsätzlich ist die Vorhersagegüte vieler Prognoseinstrumente zur Einschätzung der einschlägigen Rückfallrisiken bei Sexualdelinquenz international vergleichsweise breit beforscht worden und die allermeisten Studien belegen ihre prädiktive Validität. Im Vergleich zu den Instrumenten für allgemeine oder speziell gewalttätige Rückfallrisiken fällt jedoch eine insgesamt deutlich höhere Fluktuation der Vorhersagestärke zwischen einzelnen Studien auf, mitunter stehen gänzlich unvalide Ergebnisse sehr beachtlichen Gütewerten mit Korrelationen oberhalb von .4 gegenüber. Die Schwankungen erklären sich teilweise durch unterschiedliche Beobachtungszeiträume sowie durch Spezifika der jeweils untersuchten Stichproben, wobei die genauen Zusammenhänge jedoch noch nicht abschließend geklärt sind (vgl. hierzu Ziethen & Dahle, 2005).
Bemerkungen zur Validität der Prognoseinstrumente für Sexualdelinquenz
3.2.1.4 Spezielle Prognoseinstrumente Es liegen mittlerweile sehr viele und vergleichsweise gut untersuchte standardisierte Prognoseinstrumente insbesondere der dritten Generation vor. Darunter finden sich Instrumente für unterschiedliche spezielle Zielgruppen, wie z. B. für junge Tätergruppen oder für Täter mit Gewalt im partnerschaftlichen Umfeld, auf die im begrenzten Rahmen des Kompendiums nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. Eine entsprechende Übersicht mit Angaben speziell auch zu deutschsprachigen Validierungsstudien findet sich aber bei Dahle, Schneider und Ziethen (2007). Ein besonderes Instrument, das jeder Prognostiker kennen sollte, stellt die Psychopathy Checklist – Revised (PCL-R, Hare, 1991, 2003) dar. Die PCLR ist kein Prognoseinstrument im herkömmlichen Sinn, sondern ein Verfahren zur Diagnose einer seltenen, aber speziellen Persönlichkeitskonfiguration – psychopathy. Hierbei handelt es sich um ein Persönlichkeitskonstrukt, das durch eine Anzahl spezifischer affektiver Merkmale (z. B. die Unfähigkeit zum Empfinden tiefer Gefühle oder zu echten Schuld- und Reuegefühlen), interpersoneller Verhaltensbesonderheiten (z. B. ein charmanter, aber selbstbezogener, betrügerisch-manipulativer Interaktionsstil) und behavioraler Kriterien (z. B. spontan-impulsives Verhalten, oberflächlich-promiskes Sexualverhalten) sowie antisozialer Einstellungen definiert wird. Das Konstrukt hat sich in besonderer Weise als Hochrisikofaktor für persistierende Delinquenz und Gewaltneigung erwiesen (zum Konstrukt und zur Forschungslandschaft vgl. z. B. Dahle & Haase, 2008).
Psychopathy
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Definition Psychopathy:
Psychopathy ist ein Persönlichkeitskonstrukt, das durch eine spezifische Konstellation affektiver, interpersonaler, Lebensstil- und antisozialer Merkmale definiert ist und sich u. a. durch Egozentrismus, Impulsivität, Verantwortungslosigkeit, dem Mangel an tiefen Affekten, Empathie, Gewissen und Schuldgefühlen auszeichnet sowie durch manipulativ-betrügerisches interpersonelles Verhalten und die beharrliche Tendenz, Normen, Regeln und soziale Erwartungen zu übertreten (in Anlehnung an Hare, 2003).
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Die Psychopathy-Checklist
Da die Diagnose psychopathy im Rahmen einer kriminalprognostischen Einschätzung als Hochrisikofaktor gilt, wird die PCL-R (und ihre Kurzform PCL:SV) gewöhnlich den Prognoseinstrumenten der dritten Generation zugerechnet. Sie erfasst in ihrer Langform die vier Facetten des Konstrukts mit insgesamt 20 Items (Kurzform mit 12 Items), die, ähnlich dem HCR-20Schema, dreistufig nach dem Ausmaß ihrer jeweiligen Ausprägung (0 bis 2 Punkte) gewichtet und dann zu einem Gesamtscore aufsummiert werden. Der Autor nennt als Schwellenwerte für die Diagnose 20 (Verdachtsdiagnose) bzw. 30 Punkte (sichere Diagnose), wobei itemresponsetheoretische Untersuchungen darauf hindeuten, dass in Europa die Schwelle einer sicheren Diagnose vermutlich eher im Bereich zwischen 24 und 26 Punkten liegt. Es deutet viel darauf hin, dass das Instrument in seinen unteren Messbereichen (unterhalb der Diagnoseschwellen) vor allem das Ausmaß dissozialer Persönlichkeitszüge erfasst. Dem entspricht, dass korrelative Untersuchungen der prognostischen Validität der PCL-R zwar regelmäßig substanzielle, aber letztlich nur moderat ausgeprägte Zusammenhänge aufweisen und sich der prognostische Wert hierbei vor allem auf die antisoziale Facette zu konzentrieren scheint (vgl. Walters, Knight, Grann & Dahle, 2008). Kategorial angelegte Untersuchungen zeigen indessen, dass Tätergruppen mit hohen PCL-Scores entsprechend der diagnostischen Empfehlungen tatsächlich erhebliche Rückfallrisiken aufweisen, so dass offenbar erst die Kombination einer gleichermaßen hohen Ausprägung auf allen vier Facetten des Konstrukts die Bedeutung als Hochrisikofaktor ausmacht.
3.2.1.5 Integrative Beurteilung der aktuarischen Ausgangsrisiken Gesichtspunkte bei der Auswahl standardisierter Instrumente
Da mittlerweile ein recht breit gefächertes und in vielen Fällen auch gut evaluiertes Angebot standardisierter Instrumente vorliegt, die entsprechend dem nomothetischen Ansatz empirisches Erfahrungswissen systematisch für prognostische Zwecke nutzbar machen sollen, stellt sich dem Prognostiker im Rahmen der Begutachtung die Frage nach einer im vorliegenden Fall sinnvollen Auswahl geeigneter Instrumente. Eine erste Hilfestellung bei der Indikationsentscheidung stellt zunächst der zumindest in Teilbereichen unterschiedliche Anspruch der Instrumente dar, d. h. der Prognostiker 84
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sollte zunächst entscheiden, ob es ihm um die Einschätzung allgemeiner Rückfallrisiken oder stärker um die Gewaltpotenziale des Täters (oder um beides) gehen soll, bzw. bei Tätern mit Sexualdelikten auch um die Frage des einschlägigen Rückfallrisikos. Weitere Gesichtspunkte sind der Grad empirischer Bewährung und, da die allermeisten Instrumente im angloamerikanischen Sprachraum entwickelt wurden, die Frage empirischer Belege ihrer Prognosegüte bei deutschen Tätern. Unter diesen Aspekten stellen die in den Vorabschnitten beispielhaft skizzierten Verfahren eine Auswahl von vergleichsweise gut evaluierten Instrumenten dar, die sich mittlerweile auch an deutschen Tätergruppen bewährt haben und teilweise auch hierzulande verbreitet sind. Eine weitere Frage ist die nach der Sinnhaftigkeit der multiplen Anwendung mehrerer Verfahren mit vergleichbarer Zielstellung. Tatsächlich korrelieren die Instrumente derselben Generation und Zielstellung gewöhnlich sehr hoch miteinander. Selbst die Instrumente zur Erfassung der allgemeinen Delinquenzrisiken und die stärker auf Gewaltrisiken abzielenden Verfahren weisen oftmals Interkorrelationen jenseits r = .8 auf, so dass durch die Anwendung mehrerer Instrumente mit ähnlicher Zielstellung und vergleichbarem Komplexitätsgrad kaum ein Gewinn bei der Einschätzung der aktuarischen Ausgangsrisiken zu erwarten ist.
Multiple Anwendung mehrerer Instrumente
Etwas anders stellt sich die Frage dar, ob der Aufwand der komplexen Instrumente der dritten Generation gegenüber den simplen statistischen Verfahren lohnt. Auch hier ist zunächst festzuhalten, dass sich deren prognostische Güte kaum nennenswert unterscheidet. Gleichwohl sprechen zunächst inhaltliche Argumente dafür, auch komplexe Instrumente einzusetzen und den hiermit verbundenen Aufwand in Kauf zu nehmen. So berücksichtigen nur die komplexeren Verfahren auch dynamische Risikobereiche und geben damit Hinweise auf potenzielle Veränderungen und die grundsätzliche Veränderbarkeit der Risikopotenziale beim Probanden. Zudem bieten Instrumente wie das LSI-R inhaltliche Informationen über das spezifische individuelle Risikoprofil und können damit auch die idiografische Fallbeurteilung unterstützen. Nicht zuletzt sprechen aber auch statistische Gründe für den Einsatz der komplexeren Verfahren. Trotz vergleichbarer Prognosegüte weisen diese nämlich inkrementelle Validität gegenüber der bloßen Einschätzung des rein statistischen Risikos auf, es werden mit den Instrumenten insoweit in Teilbereichen unterschiedliche prognostisch bedeutsame Facetten erfasst. Dies gilt auch für die zusätzliche Prüfung des Hochrisikofaktors psychopathy mit Hilfe der PCL-R bei Gewalttätern, die z. B. gegenüber der statistischen Ausgangsschätzung mittels RM-V und der zusätzlichen Berücksichtigung des HCR-20-Score4 einen weiteren in4 Zwar findet die Diagnose psychopathy im HCR-20 bereits Berücksichtigung, wird dort in der formalen Verrechnung mit nur einem von 20 Items jedoch nur sehr schwach gewichtet.
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krementellen Beitrag liefern kann (vgl. z. B. Dahle, 2005, 2006). Dies sind starke Argumente, Instrumente der unterschiedlichen Familien zu nutzen. Empirisches Erfahrungswissen jenseits der Standardinstrumente
Insgesamt betrachtet decken insbesondere die komplexen standardisierten Prognoseinstrumente einen breiten Fundus empirischen Erfahrungswissens ab und bereiten ihn auch zweckmäßig für prognostische Zwecke auf. Allerdings gibt es einige Bereiche prognostisch relevanter empirischer Forschung, die in den bisherigen Verfahren weitgehend unberücksichtigt geblieben sind. Hierzu zählen beispielsweise Untersuchungen über dezidierte „Lowrisk“ Konstellationen, wie sie z. B. bei bestimmten Affekttäteroder bestimmten Inzesttätergruppen vorliegen. Bei diesen Konstellationen wird man in den Prognoseinstrumenten zwar grundsätzlich eine unterdurchschnittliche Anhäufung der klassischen Risikofaktoren erwarten können. Sie werden durch die (bisherigen) Instrumente aber nicht als dezidierte Niedrigrisikokonstellation identifiziert, so dass im Kontext einer Untersuchung der aktuarischen Ausgangsrisiken eines Probanden eine gesonderte Betrachtung lohnt. Sie lohnt freilich nur unter der Voraussetzung tatsächlich klar unterdurchschnittlich ausgeprägter Risikofaktoren, da eine bereits im Vergleich zu Straftätern im Allgemeinen durchschnittliche Anhäufung kriminogener Merkmale das Vorliegen einer solchen Konstellation ausschließt. Weitgehend vernachlässigt wird in den standardisierten Verfahren auch die Frage, ob bei einem Strafgefangenen ggf. gezielt Maßnahmen, wie z. B. eine sozialtherapeutische Behandlung, stattgefunden haben, um die Rückfallrisiken zu senken. Auch hier werden zwar indirekt Effekte durch die Erfassung etwaiger Veränderungen in dynamischen Risikobereichen berücksichtigt. Der vergleichsweise breite Fundus empirischer Evaluationsforschung zur Straftäterbehandlung bleibt hingegen weitgehend außen vor. Aus Meta-Analysen lassen sich hier immerhin durchschnittliche Effekte von um etwa 10 % reduzierte Rückfallrisiken erwarten (z. B. Lösel, 2003) – bei guten Programmen entsprechend der in Tabelle 8 genannten Wirkprinzipen aber bis zu 30 %. Dies trifft allerdings nur für Tätergruppen außerhalb von High- oder Lowrisk-Konstellationen zu, da Hochrisikogruppen als ausgesprochen schwer zu behandeln gelten und Niedrigrisikogruppen ohnehin ein geringes Rückfallrisiko aufweisen. Nicht zuletzt gelten die Effekterwartungen auch nur für eine beendete Behandlung. Täter mit einem Behandlungsabbruch aus motivationalen oder disziplinarischen Gründen weisen hingegen regelmäßig erhöhte Rückfallquoten auf.
Integration aktuarischer Befunde 1. Statistisches Ausgangsrisiko?
Da die Berücksichtigung unterschiedlicher Informationsquellen zur Einschätzung der Ausgangsrisiken sinnvoll ist, stellt sich die Frage nach ihrer Integration im Rahmen der Urteilsbildung. Ein in der Praxis, aber auch empirisch bewährtes Modell der integrativen Urteilsbildung zerlegt die Überlegungen hierzu in mehrere Stufen. (1) Ausgangspunkt ist dabei eine erste 86
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grobe Einschätzung der durchschnittlichen Häufigkeit des interessierenden Rückfallverhaltens (also die Grundwahrscheinlichkeit für einen allgemeinen Rückfall, für eine erneute Gewalttat oder für ein erneutes Sexualdelikt o. Ä.) bei vergleichbarer Fallkonstellation. Eine solche Einschätzung kann auf der Grundlage entsprechender Rückfallstudien erfolgen; prädestiniert erscheinen zu diesem Zweck jedoch die klassischen statistischen Prognoseinstrumente der zweiten Generation, die ja weitergehende rückfallrelevante Differenzierungen der Täter auf der Grundlage prognostisch bedeutsamer demografischer Eckdaten und der strafrechtlichen Vorgeschichte vornehmen und hierdurch genauere Einschätzungen ermöglichen. (2) Nach dieser ersten groben Orientierung über die Größenordnung der statistisch erwartbaren Rückfallwahrscheinlichkeit geht es dann um die Frage, ob und inwieweit bei dem zu beurteilenden Probanden über die bloßen Eckdaten hinausgehend kriminogene Risikofaktoren kumulieren und in welchem Ausmaß den Risiken Schutzfaktoren gegenüber stehen. Diese Frage lässt sich derzeit am sinnvollsten mit den komplexen Prognoseinstrumenten der dritten Generation beantworten, die ja genau zu diesem Zweck potenziell in Frage kommende Merkmale systematisieren und verknüpfen. Zwar verfügen nur wenige dieser Instrumente über dezidierte Normwerte; aus den mittlerweile vielfältigen vorliegenden Studien lässt sich aber allemal beurteilen, ob der Proband im Licht dieser Instrumente eher im weiten Bereich mittlerer Risikoausprägung liegt oder ob ein klares Profil deutlich unteroder überdurchschnittlicher Ausprägung vorliegt. (3) Vor allem in Fällen gravierender Gewaltstraftaten und einem erkennbar biografisch persistierenden dissozialen Lebensstil sollte in einem dritten Schritt gezielt die Ausprägung der typischen Merkmale einer psychopathy mittels PCL-R untersucht werden, in Fällen von Sexualdelinquenz auch eine mögliche (verfestigte oder gar progrediente) sexuelle Deviation entsprechend der Kriterien der einschlägigen Diagnosemanuale (ICD-10 oder DSM-IV). Es geht also um die gezielte Prüfung des Vorliegens einer etwaigen Hochrisikokonstellation, die nach empirischer Erfahrung auf ein sehr deutlich erhöhtes Risiko für Rückfälle hindeuten würde. (4) Analog kann in Fällen deutlich unterdurchschnittlich ausgeprägter aktuarischer Risiken eine mögliche Niedrigrisikokonstellation geprüft werden. Hierzu liegen bislang keine diagnostischen Hilfsmittel im engeren Sinn vor, es geht jedoch um bestimmte kriminologisch beschriebene Tatkonstellationen bei Tätern ohne weitere strafrechtliche Vorgeschichte und dissoziale Züge, wie sie beispielhaft im Vorabschnitt erwähnt sind, deren mögliches Vorhandensein im Einzelfall zu beurteilen ist. (5) Sofern eine dezidierte Straftäterbehandlung zur Verbesserung der Legalprognose stattgefunden hat, wäre schließlich nach den erwartbaren Effekten dieser Maßnahme zu fragen und diese in die Überlegung einzubeziehen. Konkret geht es also um eine Einschätzung, ob über die bloße etwaige Verbesserung einiger dynamischer Risikofaktoren (diese wurden ggf. bereits im zweiten Schritt erfasst) weitere Effekte der Maßnahme auf die Rückfallrisiken zu erwarten sind. Hier wird
2. Ausmaß komplexer Risikofaktoren?
3. Zugehörigkeit zu einer Hochrisikogruppe?
4. Zugehörigkeit zu einer Niedrigrisikogruppe?
5. Behandlungseffekte?
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man sicher keine Wunder erwarten dürfen, allemal lässt sich bei Tätern mit mittelgradig ausgeprägten Ausgangsrisiken und zufriedenstellend beendeter Behandlung jedoch ein moderat herabgesenktes Rückfallrisiko konstatieren. Voraussetzung ist freilich, dass die Maßnahme einen gewissen Intensitätsgrad hatte (vgl. risk principle), die gezielte Arbeit an den kriminogenen Risikofaktoren bezweckte (vgl. need principle) und sich hierfür geeigneter Behandlungsmethoden bediente (vgl. responsivity principle).
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statistisches Grundrisiko/Basisrate?
3rd Generation-Instrumente, z. B. LSI-R, HCR-20, SVR-20
Risikofaktoren? gering –
mittel
hoch +
High Risk? nein
nein
insbesondere PCL-R und Diagnosemanuale und -kriterien
ja + definierte Tat- und Täterkonstellationen
Low Risk? ja –
Studien oder statistische Instrumente, z. B. OGRS, RM-V, RM-S, Static99
nein
Behandlung? ja und – beendet
nein
dezidierte Maßnahmen zur Senkung der Risiken? Intensität der Maßnahmen?
abge+ brochen
Einschätzung des Ausgangsniveaus aktuarischer Rückfallrisiken –/+ reduziertes/erhöhtes Risiko
Abbildung 4: Integrative Einschätzung der aktuarischen Ausgangsrückfallrisiken
Ziel der integrativen Beurteilung nach dem in Abbildung 4 zusammenfassend skizzierten Modell ist die fundierte Einschätzung des Ausgangsniveaus der Rückfallrisiken, auf dem sich der Proband nach Maßgabe eines breiten empirischen Erfahrungswissens unterschiedlichster Provenienz bewegt. Dabei geht es weniger um deren konkrete Quantifizierung; zumindest lässt sich jedoch beurteilen, ob der Proband von der Grundeinschätzung erneuter Straftaten (Schritt 1) in seinem spezifischen Risikoniveau deutlich nach oben oder unten abweicht. Zwar ließen sich mit Bezug auf Studien und Meta-Analysen auch für die anderen Beurteilungsstufen Effektgrößen angeben, die auch quantitative Einschätzungen erlauben würden. Die einzelnen Beurteilungsschritte sind jedoch nicht unabhängig vonein88 © 2010 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Volbert/Dahle: Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren.
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ander und die wenigen bislang vorliegenden Erfahrungen über die tatsächlichen inkrementellen Effekte reichen für einzelfalldiagnostische Ansprüche noch nicht aus. In Gruppenstudien bestätigen sie jedoch nicht nur eine insgesamt höhere prognostische Validität der Gesamtbeurteilung gegenüber Einzelinstrumenten – dies war wegen der inkrementellen Beiträge zur Prognosegüte ja zu erwarten. Die Einschätzungen scheinen darüber hinaus auch robuster gegenüber Besonderheiten der Zielgruppe; zumindest zeigten sich bislang keine größeren Validitätsunterschiede zwischen Tätern mit und ohne Migrationshintergrund, mit und ohne verschiedene(n) psychopathologische(n) Besonderheiten oder aber mit und ohne dissoziale(n) Persönlichkeitszüge(n), wie sie bei Einzelinstrumenten mitunter beobachtet werden (vgl. Dahle, 2006; Dahle et al., 2008).
3.2.1.6 Spezielle Gesichtspunkte bei der Interpretation und Darstellung aktuarischer Befunde Bei der abschließenden Interpretation der Befunde und ihrer Darstellung im Gutachten gibt es einige Besonderheiten zu beachten, auf die abschließend eingegangen werden soll. Zunächst stellt sich die Frage, wie profiliert sich das Rückfallrisiko des Probanden im Licht der zusammengetragenen nomothetischen Befunde eigentlich abbildet. Verbleibt er blass im unspezifischen Mittelfeld bloß durchschnittlicher Rückfallrisiken (hat er also ein mittleres statistisches Ausgangsrisiko sowie eine durchschnittliche Ausprägung von Risiko- und Schutzmerkmalen und gehört weder zu einer dezidierten Hoch- noch zu einer Niedrigrisikogruppe), so dürfte die aus der Perspektive gruppenstatistischer Erfahrungen heraus erzielbare Einschätzung eines mittleren Rückfallrisikos vermutlich wenig zuverlässig sein. In diesen Fällen kommt augenscheinlich der idiografischen Einzelfallbeurteilung eine größere Bedeutung bei der Klärung zu, ob bei diesem Probanden die Rückfallrisiken möglicherweise stark von Umgebungsvariablen abhängen oder ob eher seltene individuelle Besonderheiten vorliegen, die im vorliegenden Fall eine besondere kriminogene Bedeutung haben könnten. Ergibt sich hingegen das Bild ausgeprägt über- oder aber unterdurchschnittlicher aktuarischer Risiken, so wird man ein höheres Maß der Zuverlässigkeit dieser Einschätzung erwarten können und es bedarf schon überzeugender Argumente, im Rahmen der späteren idiografischen Einzelfallbetrachtung zu einer dieser Einschätzung gänzlich widersprechenden Beurteilung zu gelangen. Grundsätzlich, vor allem aber bei Probanden mit besonderen und seltenen Merkmalen von erkennbar kriminogener Bedeutung, stellt sich weiterhin die Frage, wie repräsentativ das dem nomothetischen Ansatz zugrunde liegende empirische Erfahrungswissen für den vorliegenden Fall eigentlich ist. So dürften Ersttäter im höheren Seniorenalter in den gängigen empiri-
Die individuelle Facette des Mittelfeldproblems
Repräsentativität
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schen Studien eine seltene Ausnahme darstellen und selbst in Fällen weiblicher oder sehr junger Täter ist die empirische Grundlage für aktuarische Einschätzungen derzeit noch deutlich eingeschränkt. In solchen Fällen geringer Repräsentativität der üblichen Klientel kriminalpsychologischer Studien für die vorliegende Fallkonstellation wird man insofern Abstriche an der Zuverlässigkeit der mit nomothetischer Methodik erzielbaren Erkenntnisse vornehmen müssen und ein (noch) stärkeres Gewicht auf die idiografische Einzelfallbetrachtung legen. Der ehemals sehr gefährliche Täter
Ein besonderes Problem stellt sich bei der Beurteilung von Tätern mit ursprünglich deutlich erhöhter Wahrscheinlichkeit für schwere Rückfallkriminalität bei der Frage, ob sich an dieser ehemals hohen Gefährlichkeit nunmehr erkennbare Milderungen ergeben haben. Dies ist regelhaft bei der gerichtlichen Frage nach der Entlassbarkeit eines im Maßregelvollzug und insbesondere eines in der Sicherungsverwahrung befindlichen Probanden der Fall, weil die erhebliche Gefährlichkeit die Voraussetzung seiner Unterbringung in der Maßregel war. Ein solcher Proband hat jedoch kaum Chancen, bei der schematischen Standardanwendung aktuarischer Instrumente jemals eine günstige Einschätzung zu erzielen. Bei den rein statistischen Instrumenten kann er allenfalls auf Alterseffekte hoffen – wird allein hierdurch aber kaum in die unteren Risikogruppen gelangen – und selbst die komplexen Instrumente der dritten Generation berücksichtigen zwar dynamische Faktoren, gewichten aber in aller Regel den unveränderbaren Bereich der strafrechtlichen und sonstigen Vorgeschichte sehr stark. Immerhin gehört ja beispielsweise im HCR-20-Schema die Hälfte aller Items zum nicht mehr verbesserbaren H(istorical)-Bereich. Auch hier wird man also günstigenfalls erwarten können, dass die auf diese Weise erfassten Risiken von einem ursprünglich sehr hohen Niveau in die Nähe mittlerer Risikobereiche gelangen, das Ergebnis einer tatsächlich unterdurchschnittlichen Risikoeinschätzung ist für einen solchen Probanden mit den derzeit gängigen Instrumenten jedoch nicht erreichbar. Auf diese methodenimmanenten Begrenzungen sollte im Gutachten hingewiesen und eingegangen werden, um Missverständnissen vorzubeugen, und es bietet sich an, die dynamischen und statischen Faktoren differenziert zu interpretieren.
Der scheinbar harmlose Gewalttäter
Eine besondere Achtsamkeit ist bei erwachsenen Ersttätern mit gravierender Anlasstat angebracht, sofern nicht eine klassische, kriminalpsychologisch bekannte Niedrigrisikokonstellation vorliegt. Solange ein solcher Proband nicht eine Vorgeschichte zwar milder (jedenfalls unterhalb der strafrechtlichen Sanktionsschwelle liegender), aber chronisch dissozialer Verhaltensmuster aufweist, wird er mit aktuarischer Methodik sehr wahrscheinlich ein deutlich unterdurchschnittliches Rückfallrisiko bescheinigt bekommen. Indessen wäre aus dieser Perspektive auch das Risiko für die Anlasstat sehr gering gewesen, gleichwohl hat der Proband sie begangen. Es besteht bei solchen Konstellationen daher ein gewisses Risiko, dass un90
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gewöhnliche individuelle – ggf. auch situationale – Besonderheiten, die in der gruppenstatistischen Optik empirischer Studien untergehen, eine spezifische Rolle im Tatgeschehen gespielt haben könnten. Auch hier wäre insoweit mit Einschränkungen der Repräsentativität empirischen Erfahrungswissens zu rechnen und ein (noch) stärkeres Gewicht auf die Einzelfallbetrachtung zu legen. Nicht zuletzt kommt es in einem solchen Fall ja wesentlich auf die Klärung der Fragen an, was für Besonderheiten denn welche Rolle gespielt haben, ob diese ungewöhnlichen Spezifika veränderbar sind und ob sie sich dann tatsächlich in eine günstige Richtung entwickelt haben. Bei Probanden aus dem Ausland mit nur kurzer Aufenthaltsdauer vor dem Anlasstatgeschehen in Deutschland ergeben sich regelmäßig Einschränkungen dergestalt, dass Aktenunterlagen zur biografischen und strafrechtlichen Vorgeschichte nicht verfügbar sind. Man ist hier also auf die Angaben des Probanden angewiesen und nicht immer können oder wollen sie freimütig und vollständig über ihre Vorgeschichte und etwaige Vordelikte berichten. Die diagnostische Datengrundlage ist in diesen Fällen insoweit dünn, was letztlich aber auch die idiografische Einzelfallbeurteilung erschwert.
Menschen ohne bekannte Vorgeschichte
Kontrovers wird die Frage diskutiert, ob im Gutachten im Dienst einer transparenten Wiedergabe des Beurteilungsprozesses die Einschätzungen des Probanden auf Itemebene der einzelnen Instrumente diskutiert, ob Scorewerte von Unterskalen genannt oder lediglich bereits interpretierende Gesamtergebnisse referiert werden sollen. Bei sehr komplexen Instrumenten wie dem LSI-R mit seinen immerhin 54 Items erscheint eine itembezogene Wiedergabe allerdings schon aus Platzgründen abwegig, bei Instrumenten mittleren Umfangs wie etwa dem HCR-20-Schema oder der PCL-R finden sich indessen häufiger solche – sich dann aber bereits über viele Seiten hinziehende – Erörterungen. Von Vorteil ist eine solche dezidierte Wiedergabe einzelner Itembewertungen ohne Zweifel für einen etwaigen nachfolgenden Gutachter, der – ohne die Originaldaten umständlich beim Vorgutachter anfordern zu müssen – etwaige Veränderungen schneller einschätzen, ggf. auch Abweichungen seiner eigenen Einschätzungen bei einzelnen Items erkennen kann. Für den Dialog mit dem juristischen Auftraggeber kann eine solche Einzelerörterung aber auch zu Missverständnissen beitragen. Nicht wenige der Itemformulierungen der komplexeren Instrumente haben eine deutlich spezifischere Bedeutung als in der Alltagssprache und viele Items werden auch erst durch Kenntnis der zugrunde liegenden Konstrukte und ihrer theoretischen Bezüge verständlich. Insoweit erscheint es zumindest fraglich, ob die Diskussion von Einzelitems tatsächlich stets zur Transparenz beiträgt oder ob sie im interdisziplinären Diskurs des Gutachtens mitunter nicht eher das Gegenteil bewirkt. Demgegenüber erscheint die inhaltliche Erörterung besonders auffälliger und
Darstellung im Gutachten
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unauffälliger Risikobereiche (etwa entlang der Skalen des LSI-R) durchaus nicht unzweckmäßig, weil hierdurch erkennbar wird, weshalb aus Sicht des jeweiligen Instruments ggf. erhöhte oder geringe Rückfallrisiken bestehen. Wissenschaftliche Präzision versus Scheingenauigkeit
Eine weitere gelegentlich kontrovers diskutierte Frage betrifft die Angabe mehr oder weniger exakter quantitativer Wahrscheinlichkeitszahlen im Gutachten. Die tatsächliche empirische Grundlage für exakte Zahlenwerte ist indessen eher schwach. Freilich dient es auch der Transparenz, nicht nur bei sprachlichen Umschreibungen zu verbleiben, sondern auch einmal deutlich zu machen, auf welchem Niveau man sich als Gutachter eigentlich bewegt, wenn man von einem „mittleren“, „hohen“ oder „geringen“ Risiko spricht. Allerdings verfügen bereits die meisten komplexeren Standardinstrumente über keine dezidierten Normwerte der mit bestimmten Scores einhergehenden Rückfallquoten – hier ließen sich also allenfalls unter beispielhaftem Rückgriff auf entsprechende Studien Erfahrungswerte anführen. Spätestens bei der Integration mehrerer auf nomothetischem Weg gewonnener Befunde zu einer Gesamteinschätzung reicht die empirische Erfahrungsbasis für subtile Berechnungen, wie im Vorkapitel dargelegt, aber nicht mehr aus. Zweckmäßig erscheint daher ein Vorgehen, dass von einer noch hinreichend soliden Grundlage ausgehend zunächst einen realistischen Durchschnittsbereich der empirisch bei vergleichbaren Tätern zu erwartenden einschlägigen und allgemeinen Rückfallrisiken benennt. Dies wäre beispielsweise bei Strafgefangenen mit gravierenden Sexualdelikten auf längere Sicht die Durchschnittserfahrung von rund 20 bis 30 % rechtskräftig verurteilter Rückfälle mit erneuten Sexualdelikten sowie gut doppelt so hohe Quoten erneuter Haftstrafen auch wegen anderweitiger Delikte. Hiervon ausgehend sollten die übrigen aktuarischen Befunde dann eher zur abschließenden Feststellung verdichtet werden, dass bei diesem speziellen Probanden nach Maßgabe empirischen Erfahrungswissens Merkmale vorliegen, die die Annahme eines gegenüber dieser Durchschnittserfahrung deutlich erhöhten oder verringerten Ausgangsrisikos nahelegt – sofern nicht ein typischer Durchschnittsfall mit entsprechend durchschnittlichen Risiken vorliegt.
3.2.2 Idiografische Einschätzung der individuellen Rückfallrisiken Eine sorgfältige und systematische Einschätzung mittels nomothetischer Methodik vermittelt dem Gutachter (und dem Rezipienten des Gutachtens) eine fundierte Vorstellung vom Niveau der Ausgangsrisiken, auf dem sich der Proband unter Berücksichtigung eines breiten empirischen Erfahrungswissens bewegt. Er verfügt ferner über erste inhaltliche Hypothesen zu potenziellen Risikobereichen, die den Probanden charakterisieren und zu92 © 2010 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Volbert/Dahle: Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren.
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mindest aus dem Blickwinkel der Empirie eine kriminogene Bedeutung haben. Auf dieser Grundlage kann nun eine Einzelfallbetrachtung erfolgen, bei der der Proband nicht mehr nach Maßgabe gruppenstatistischer Durchschnittszusammenhänge beurteilt wird, sondern vielmehr nach seinen individuellen Besonderheiten und Gesetzmäßigkeiten. Ziel des idiografischen Vorgehens ist es also, diese individuellen Besonderheiten zu erkennen, ihre spezifischen Zusammenhänge mit dem strafrechtsrelevanten Verhalten dieses Probanden herauszuarbeiten und durch Fortschreibung dieser Zusammenhänge zu einer Einschätzung der Wahrscheinlichkeit zukünftiger Rechtsbrüche zu gelangen. Das hier vorgeschlagene methodische Vorgehen zerlegt diese Aufgabe in eine systematische Abfolge mehrerer Teilschritte, die den Gang des Urteilsbildungsprozesses skizzieren und eine Anzahl von Qualitätskriterien und Prüfschritte bereithalten.
3.2.2.1 Schritt 1: Die Begründung einer individuellen Kriminaltheorie Die erste und grundlegende Aufgabe des Prognostikers auf dem Weg zu einer idiografischen Prognosebeurteilung ist die Beantwortung der Frage, warum dieser Proband sich in der speziellen Situation des Tatgeschehens auf die spezifische von ihm gezeigte Art und Weise verhalten hat und straffällig geworden ist.5 Es ist dies eine zwar komplexe, letztlich aber rein retrospektive Aufgabe der Analyse bereits vergangener Entwicklungen und Ereignisse. Sie setzt aber voraus, dass man zunächst weiß, um was für einen Menschen es sich beim Täter zum Zeitpunkt der Tat gehandelt hat. Es geht also als erstes darum, die Persönlichkeitsentwicklung des Probanden in ihren jeweiligen psychosozialen Bezügen und Verzweigungen zu rekonstruieren und hierbei die Entwicklung seiner spezifischen Verhaltensmuster, Denkgewohnheiten, Handlungskompetenzen und -defizite, seine sozialen Interaktionsmuster sowie seine überdauernden Bedürfnisse herauszuarbeiten, die Entwicklung etwaiger psychischer Akzentuierungen, Störungen und ggf. anderer relevanter Krankheiten nachzuzeichnen und – vor allem – dann auch seine strafrechtliche Vorgeschichte in ihrer jeweiligen soziobiografischen Einbettung und Verflechtung zu rekonstruieren und zu verstehen. Idealerweise beginnt diese Rekonstruktion mit der Analyse der familiären und sozialen Ausgangssituation, in die der Proband hineingeboren wurde, sowie seiner Geburt und seiner frühen Entwicklung, da nur hierdurch klassische entwicklungskriminologische „Major Risk Factors“ für frühdissoziale Entwicklungen erkennbar werden. Für die weiteren
Mehrdimensionale Rekonstruktion der Biografie des Täters
5 Sicherlich lässt sich diese Frage nicht in einem streng wissenschaftstheoretischen Sinn beantworten. Allemal lassen sich jedoch begründete Hypothesen formulieren und auf ein breites Fundament biografischer, persönlichkeitspsychologischer oder anderweitiger Fakten stützen.
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Rekonstruktionen bietet sich ein mehrdimensionales Vorgehen an, um nicht einzelne Bereiche zu übersehen. Zumindest geht es darum, die weitere Entwicklung familiärer Bindungen des Probanden, dann aber auch seine weitere soziale, partnerschaftliche und psychosexuelle Biografie (also Peerkontakte, Freundschaften und Bekanntschaften, Partnerschaften und Sexualität usw.), seine Entwicklungen im Freizeitbereich und in Leistungskontexten (Schule, Berufsausbildung, Beruf usw.) und nicht zuletzt auch etwaige psychopathologische Entwicklungen herauszuarbeiten. Ziel ist es letztlich, all diese Stränge zu einem möglichst vollständigen Bild der Entwicklung der Persönlichkeit des Probanden mit all ihren Besonderheiten, Defiziten und spezifischen Kompetenzen zusammenzufügen. Strafrechtliche Vorgeschichte
Eine besondere Dimension bei der Rekonstruktion der Biografie des Probanden stellt seine strafrechtsrelevante Vorgeschichte einschließlich ihrer Vorgestalten dissozialen Verhaltens unterhalb strafrechtlicher Sanktionsschwellen oder mit Delinquenz vor dem strafrechtlichen Eingangsalter von 14 Jahren dar. Konkret geht es darum, diese Verhaltensweisen von ihrem ersten Auftreten an in ihre jeweiligen biografischen und sozialen Zusammenhänge einzubetten, hierbei nach ihren wahrscheinlichen Hintergründen und Motiven zu fahnden und die in den jeweiligen Handlungen zum Ausdruck kommenden Verhaltensbereitschaften und Kompetenzen zu analysieren. Hierdurch lässt sich nachvollziehen, ob die Bereitschaft zum Normübertritt an bestimmte (situationale, soziale, gruppendynamische oder besondere psychische) Rahmenbedingungen geknüpft war, ob insgesamt ein progredienter Verlauf im Sinne der Bereitschaft, zunehmend höhere Normschwellen zu übertreten zu beobachten war, ob hierbei auch qualitative Entwicklungen zu erkennen sind und – vor allem – wie sich die Bereitschaft zur Gewalt als Handlungsoption zur Konfliktbewältigung oder zur Erreichung instrumenteller Ziele entwickelt hat. Auf der anderen Seite gilt es, die Entwicklung potenziell handlungshemmender Kognitionen und Emotionen, wie Mitleid, Scham oder Gewissensbisse, zu rekonstruieren einschließlich der Mechanismen und Techniken, etwaige Hemmungen dann doch zu überwinden.
Datengrundlagen
Freilich sind eine wichtige Informationsquelle für all diese Rekonstruktion der biografischen Entwicklungen eines Probanden seine Angaben im Rahmen der Begutachtung. Dies ist allerdings nicht notwendigerweise die verlässlichste Grundlage, da Verarbeitungs- und Bewältigungsprozesse die biografische Erinnerung verzerrt haben mögen, aber auch persönlichkeitsbedingte Selbstdarstellungsbedürfnisse die biografischen Schilderungen geprägt und nicht zuletzt auch anlassbezogene Intentionen Versuchen einer (zumindest partiellen) lebensgeschichtlichen Legendenbildung Vorschub geleistet haben können. Immerhin geht es für den Probanden im Kontext einer kriminalprognostischen Begutachtung in aller Regel um viele Jahre Lebenszeit in Freiheit oder mit Freiheitsentzug. Aus diesem Grund spielen Akteninformationen für die biografische Rekonstruktion 94
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eine sehr zentrale Rolle. Das Bundeszentralregister gibt beispielsweise Auskunft über Teile der tatsächlichen strafrechtsrelevanten Vorgeschichte. Früheren Ermittlungsakten über gravierende Vordelikte ist nicht nur der jeweilige Tathergang zu entnehmen, sondern es finden sich oft auch Informationen zu den damaligen Lebensverhältnissen. Gerichtshilfeberichten und Jugendgerichtshilfeberichten sind oftmals wertvolle biografische Eckdaten zu entnehmen und vor allem finden sich oft vielerlei Hinweise, wie der Proband (manchmal aber auch Freunde, Partner und Verwandte) zu früherer Gelegenheit und in anderen Kontexten über seine Lebensgeschichte berichtet hat. Bei jüngeren Probanden bietet es sich mitunter an, auch die Jugendamtsakten6 einzusehen und in Fällen einer gravierenderen psychopathologischen Vorgeschichte sollten auf alle Fälle Unterlagen aus etwaigen früheren psychiatrischen Klinikaufenthalten oder ambulanten psychiatrischen oder psychologischen Behandlungen angefordert werden (was das grundsätzliche Einverständnis des Probanden und dessen Schweigepflichtsentbindung der behandelnden Ärzte und Psychologen voraussetzt). Akten bieten insoweit eine Fülle an Material und Fakten, mit denen die Angaben des Probanden abgeglichen und ggf. korrigiert werden können. Idealerweise weiß der Gutachter alles, was man aufgrund von Aktenkenntnis über den Probanden und seine Vorgeschichte erfahren kann. Der Gutachter sollte also bereits eine ziemlich präzise Vorstellung von dem Probanden, seiner Persönlichkeit und seinen grundsätzlichen delinquenten Handlungsbereitschaften zum Tatzeitpunkt sowie von seiner spezifischen Lebenssituation im zeitlichen Umfeld der Anlasstat haben, bevor er sich schließlich der Tathergangsanalyse des Anlassgeschehens zuwendet. Diese Analyse beginnt mit etwaigen Vorgestalten der Tat, also der Untersuchung etwaiger krimineller Verstrickungen, kriminogener sozialer Einflüsse oder gar von Vorgestalten in der Fantasie des Täters. Sie rekonstruiert weiterhin den Prozess der Tatentscheidung ggf. vom ersten Aufkommen diffuser Ideen bis zur definitiven Handlungsentscheidung, den Umgang mit potenziell tathemmenden Kognitionen und Affekten sowie die etwaigen Planungen und konkreten Vorbereitungshandlungen auf dem Weg von der Tatentscheidung bis zu ihrer Durchführung. Sie zeichnet weiterhin den genauen Hergang der Handlungsdynamik bei der Tatdurchführung und der situationalen Einflüsse hierbei nach und endet schließlich mit der Analyse des Nachtatverhaltens und der dieses begleitenden Kognitionen und Affekte. Ziel der Tathergangsanalyse ist die Formulierung von Hypothesen über die Motive und sonstigen Hintergründe für das Anlasstatgeschehen, die einerseits auf einer möglichst breiten Grundlage von Fakten aus der biografischen Entwicklung des Probanden zu stützen sind, an-
Tathergangsanalyse
6 Dies ist aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht in jedem Fall möglich. Bei entsprechender Indikation bietet es sich jedoch an, mit einiger Nachdrücklichkeit nachzuhaken.
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dererseits aber auch auf den objektiven Gegebenheiten im Kontext des Tatgeschehens. Bei dieser Hypothesenbildung wird der Gutachter regelmäßig auf allgemeine Kriminaltheorien, aber auch auf ggf. relevante sozialpsychologische, konflikt- und wahrnehmungspsychologische oder anderweitige Theorien Bezug nehmen. Hilfreich sind zudem oft typologische Konzepte und Modelle über prototypische Tatkonstellationen, wie sie für bestimmte Deliktformen (insbesondere für Sexualdelikte) vorliegen, weil sich durch deren Bezugnahme Hinweise auf tattypische Elemente ebenso ergeben wie auf Besonderheiten dieses konkreten Tatgeschehens. Ziel ist es, aus der theoretisch fundierten Analyse des Tatgeschehens die relevanten Erlärungsfragmente derart ineinanderzufügen, dass sich ein in sich schlüssiges und hinreichendes Erklärungsmodell der Tat ergibt. Es geht mithin um die auf Täterpersönlichkeit, Tatsituation und Tatgeschehen gestützte Begründung einer individuellen Kriminaltheorie dieses speziellen Probanden. Abbildung 5 veranschaulicht den Prozess der idiografischen Begründung einer individuellen Kriminaltheorie zusammenfassend.
individuelle Kriminaltheorie
Tathergangsanalyse allgemeine Theorie
Persönlichkeit bei Anlasstat
Lebenssituation bei Anlasstat
empirische Erfahrungen
Rekonstruktion der biografischen und strafrechtlichen Entwicklung
Diagnostische Datenerhebung (Akten, Explorationen …) Die Analyse des Täters
Abbildung 5: Idiografische Begründung einer „individuellen Kriminaltheorie“ Datengrundlage
Wie schon bei der Rekonstruktion der Vorgeschichte wird der Gutachter auch im Kontext der Tathergangsanalyse den Probanden sorgfältig zum Tatgeschehen explorieren, wiederum wird man das Risiko von Verzerrungen seiner Darstellungen aufgrund zwischenzeitlich eingetretener Verarbeitungsprozesse, möglicher Schamgefühle oder auch aus anlassbezogenen Motiven in Betracht ziehen. Die wichtigsten Datenquellen sind daher einerseits die Feststellungen, die das erkennende Gericht zum Tathergang 96
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und den zugrundeliegenden Motiven getroffen hat (sofern das Gutachten im Kontext des Vollstreckungsverfahrens erfolgt), sowie ergänzend die vollständigen Ermittlungsunterlagen zur Tat einschließlich sämtlicher etwaiger Zeugenvernehmungen, Verhören des Probanden, Tatortberichten, -skizzen und -fotos, kriminalistischen Befunden, etwaigen Pathologieuntersuchungen usw. Die zielgerichteten erklärenden Rekonstruktionen der Entwicklungen des Probanden einschließlich des Anlasstatgeschehens sind der wichtigste, aber auch komplexeste Teilschritt im Gang der idiografischen Beurteilung der individuellen Kriminal- und Gefährlichkeitsprognose. Sie stellen erhebliche Anforderungen an den Prognostiker und das größte Risiko besteht darin, dass dieser sich im Verlauf des Urteilsbildungsprozesses zu frühzeitig und einseitig auf eine plausibel erscheinende Hypothese konzentriert und andere wichtige Einflussfaktoren, die er bei hinreichender Offenheit durchaus hätte erkennen können, übersieht. Zwar lässt sich dieses Risiko bei einem dezidiert idiografischen Vorgehen nicht gänzlich ausschließen, allerdings deutlich durch gezielte Prüfschritte reduzieren. So tut der Gutachter gut daran, sich im Kontext der Begründung seiner individuellen Erklärungshypothesen auch noch einmal diejenigen Faktoren ins Gedächtnis zu rufen, die bei der anfänglichen nomothetischen Einschätzung der aktuarischen Ausgangsrisiken auffällig waren. Immerhin stellen ja beispielsweise die verschiedenen Bereiche des LSI-R Faktoren dar, die im Licht von Kriminaltheorien und Empirie gehäuft mit Delinquenz- und Rückfallrisiko einhergehen. Sofern der Proband hier Auffälligkeiten aufweist, besteht daher Anlass zur Prüfung, welche inhaltliche Bedeutung diese Faktoren denn im Rahmen der individuellen Kriminaltheorie für das Tatgeschehen (ggf. auch für Vordelikte) aufweisen. Sie mögen im Einzelfall unbedeutend gewesen sein (da z. B. ein Suchtmittelproblem zwar oft mit erhöhten Delinquenzrisiken einhergeht, im vorliegenden Fall jedoch ein solches Problem zwar vorhanden ist, aber nicht die spezielle Delinquenz des Täters beeinflusst). Allemal stellt eine systematische Prüfung jedoch einen gewissen Schutz davor dar, wesentliche Faktoren schlicht zu übersehen. Genau zu diesem Zweck eignen sich neben den komplexen standardisierten Prognoseinstrumenten auch die eingangs am Rande erwähnten Prognosechecklisten. Diese sind zwar nicht dezidiert als Prognosemethoden im engeren Sinn entwickelt worden und meist auch kaum oder gar nicht beforscht. Checklisten, wie z. B. die sogenannte „Dittmannliste“ (Dittmann, 2000), stellen jedoch umfangreiche Kataloge potenziell relevanter Merkmale aus der Literatur zusammen. Für reine Prüfungszwecke, im Rahmen der Einzelfallbetrachtung nichts Relevantes übersehen zu haben, eignen sie sich insoweit durchaus.
Gütekontrolle 1: Vollständigkeit
Ziel des ersten Teilschritts auf dem Weg der idiografischen kriminalprognostischen Einzelfallbeurteilung ist zusammenfassend also die Formulierung
Gütekontrolle 2: Qualität der Theorienbildung
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einer Anzahl von Hypothesen, die im vorliegenden Fall ein Erklärungsmodell für das Anlasstatgeschehen bieten, und die Stützung dieser Hypothesen auf einer möglichst breiten Grundlage aus Fakten und Belegen aus der Biografie des Probanden und seiner konkreten Handlungen beim Anlassgeschehen. Es wurde bereits erwähnt, dass es sich hierbei letztlich um die Begründung einer auf den Einzelfall zugeschnittenen Theorie handelt. Um wissenschaftlichen Kriterien zu genügen, muss sich diese Theorie mithin an denselben Beurteilungskriterien messen lassen, an denen Theorien auch sonst gemessen werden: Zu prüfen ist also, inwieweit diese Individualtheorie das Anlassgeschehen tatsächlich hinreichend und nicht nur in Teilaspekten erklärt (Erschöpfungsgrad), inwieweit sie in sich selbst und im Verhältnis zu bewährten Theorien und empirischen Erfahrungen kompatibel ist (Widerspruchsfreiheit), inwieweit sie auf ein einheitliches, zumindest kompatibles theoretisches Begriffssystem Bezug nimmt (semantische Konsistenz) und, vor allem, ob sie auf einer hinreichenden Grundlage belegbarer Fakten beruht oder inwieweit nicht belegte oder nicht belegbare Vorannahmen eingehen (Einfachheit)7. Der folgende Kasten fasst die beiden wesentlichen Prüfschritte zur Gütekontrolle des im ersten Teil der idiografischen Fallbeurteilung herausgearbeiteten Erklärungsmodells zusammen. Gütekontrollen der individuellen Kriminaltheorie:
1. Kontrolle der Vollständigkeit des Erklärungsmodells. Prüfung potenziell relevanter, empirisch bedeutsamer Risiko- und Schutzfaktoren anhand der Befunde standardisierter Prognoseinstrumente (z. B. LSI-R und HCR-20), etwaiger Hochrisikokonstellationen (insb. PCL-R und etwaiger Diagnosen sexueller Deviation) und ergänzend der Merkmale aus Prognosechecklisten (z. B. Dittmannliste). 2. Kontrolle der Qualität des Erklärungsmodells. Prüfung von Erschöpfungsgrad, innerer und äußerer Widerspruchsfreiheit, semantischer Konsistenz und Einfachheit des Erklärungsmodells. Die Zerlegung des Anlasstatgeschehens in seine personalen und situationalen Bedingungsfaktoren
Die Anforderung der ersten diagnostischen Teilaufgabe geht jedoch noch einen Schritt weiter, da auf der Grundlage der individuellen Kriminaltheorie eine Untersuchung des Anlasstatgeschehens (ggf. auch ähnlicher Vordelikte) hinsichtlich seiner Bedingungsmodalitäten erforderlich ist. Notwendig ist zumindest eine Analyse der Anlasstat im Hinblick auf ihre personalen Voraussetzungen auf Seiten des Probanden und die situationalen Rahmenbedingungen sowie im Hinblick auf die zeitliche Stabilität dieser Faktoren, um zufällige bzw. zeitlich befristete Konstellationen von 7 Zur wissenschaftlichen Beurteilung und Bewertung psychologischer Theorienbildung siehe im Einzelnen Gadenne (1994).
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stabilen Gegebenheiten unterscheiden zu können. Die zeitlich stabilen personalen Bedingungsfaktoren als Ergebnis dieses Analyseschritts stellen dabei die erforderliche Übersetzung der eingangs erwähnten gesetzlichen Frage nach der „in der Tat zutage getretenen Gefährlichkeit“ (§ 454 II StPO) in ein psychodiagnostisch handhabbares Begriffssystem dar. Ziel ist also die Zerlegung des Anlassgeschehens in seine personalen und situationalen Bedingungsfaktoren nach Maßgabe der individuellen Kriminaltheorie und die Einschätzung der zeitlichen Stabilität dieser Faktoren. Zweckmäßige Leitfragen, anhand derer man diese Zerlegung vornehmen kann, sind im folgenden Kasten aufgeführt. Fragen an die individuelle Kriminaltheorie:
• Welche personalen Bedingungsfaktoren haben sich in der Tatdynamik realisiert? (kriminogene Bedürfnisse und Werthaltungen, Überforderung oder Auswirkung spezifischer Defizite im Tatgeschehen, allgemeine Verhaltensbereitschaften, psychopathologische Faktoren, Suchtmitteleinfluss mit und ohne chronischen Abusus usw.) • Biografische Stabilität dieser personalen (Risiko-)Faktoren? (situational spezifisch oder lebensphasisch gebunden oder chronisch persistierend oder sich gar progredient steigernd; delinquente Lerngeschichte usw.) • Grundsätzliche Änderbarkeit dieser personalen (Risiko-)Faktoren? (prinzipiell änderbar durch Reifung, Einsicht oder mit therapeutischer Unterstützung oder erkennbare/wahrscheinliche Persistenz) • Welche Schutzfaktoren bestehen? Welche kompensatorischen Faktoren könnten persistierende Risiken ggf. ausgleichen oder hemmen? (über welche dieser Faktoren verfügt der Proband, welche wären potenziell entwickelbar?) • In welchen situativen und lebensphasischen Bedingungen hat sich die Tatdynamik realisiert? (gruppendynamische Einflüsse, allgemeine Lebenssituation, etwaige destabilisierende Einflüsse usw.) • Stabilität, Wahrscheinlichkeit und aktive Herbeiführung situationaler Bedingungen? (alltägliche Lebenssituation oder ungewöhnliche spezielle Konstellation? Gelegenheit genutzt oder aktiv herbeigeführt? usw.)
3.2.2.2 Schritt 2: Die Begründung einer individuellen Entwicklungstheorie Auf der Grundlage der individuellen Kriminaltheorie und der hieraus abgeleiteten spezifischen personalen Risikofaktoren geht es im zweiten Teilschritt der idiografischen kriminalprognostischen Einzelfallbeurteilung um
Untersuchung und Erklärung der Änderungspotenziale des Probanden
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die Analyse der Entwicklungen des Probanden seit der Anlasstat im Hinblick auf diese spezifischen Dispositionen. Der Fokus liegt nun also auf der Frage nach der grundsätzlichen Veränderbarkeit dieses Menschen speziell im Hinblick auf seine spezifischen kriminogenen Risikopotenziale und ergänzend auf der Frage nach dem Aufbau etwaiger kompensatorischer Schutzfaktoren. Dabei geht es um belastbare Hinweise in Form konkreter Verhaltensweisen und Reaktionsmuster aus der Zeit seit der Tat (meist also aus der Zeit des Straf- oder Maßregelvollzugs), aus denen eine substanzielle Veränderung der ursprünglichen Risikodispositionen – oder deren Persistenz – erkennbar wird oder die eine Entwicklung potenziell kompensatorischer Kompetenzen implizieren. Ein solcher Aufbau von Schutzfaktoren könnte sich etwa in veränderten Attributionsschemata zeigen oder durch einen kompetenteren Umgang mit spezifischen Belastungen und Provokationen. Sie könnten aber auch in potenziell hemmenden Faktoren bestehen, wie z. B. ausgeprägten Scham- und Mitleidsaffekten im Nachgang einer unüberlegt begangenen Gewalttat, oder durch neu hinzugekommene soziale Bindungen. Neben der bloßen Feststellung solcher etwaigen Veränderungen geht es aber auch um Fragen nach ihren wahrscheinlichen Ursachen (z. B. alters- oder erfahrungsbedingte Reifungsprozesse, Therapieeffekte, bloß Konsequenz der rigiden Außenstruktur in der Unterbringung oder Effekte der Anpassung des Probanden an äußere Erwartungen), ihrer Entwicklungsdynamik und nicht zuletzt ihrer Nachhaltigkeit. Zu berücksichtigen ist, dass sich der Beobachtungsrahmen ja im Regelfall auf den sehr artifiziellen Lebensbereich einer Vollzugsanstalt beschränkt, der allenfalls durch gegebenenfalls erfolgte Lockerungen etwas erweitert wird. Datengrundlagen
Auch bei diesen Analysen handelt es sich um erklärende Rekonstruktionen bereits vergangener Ereignisse. Die zentrale diagnostische Datengrundlage hierfür stellen insoweit wiederum Akteninformationen dar, insbesondere die Gefangenenpersonalakte aus der Strafvollzugsanstalt bzw. die Behandlungsunterlagen aus der Maßregelklinik. Sie enthalten nicht nur die Eckdaten des Vollzuges, sondern auch Vollzugs- oder Behandlungsplanungen und ihre Fortschreibungen, Verhaltenseinschätzungen aus unterschiedlichen Kontexten, Daten zu sozialen Außenbezügen (Besuchskontakte, Briefkontakte usw.), Informationen zu speziellen Maßnahmen (Behandlungsmaßnahmen, Ausbildungen, spezielle Gruppenprogramme usw.) sowie Angaben zu besonderen Vorkommnissen im Vollzugsverlauf. Hierzu gehören Regelverstöße, insbesondere aggressive Vorkommnisse, Delikte, Suchtmittelmissbrauch, etwaige Hinweise auf Selbstbeschädigungen, suizidale Phasen oder gar Suizidversuche, mitunter finden sich aber auch Informationen zu besonderen prosozialen Aktivitäten oder Hinweise auf eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Tatgeschehen. Ergänzend lassen sich bei der zuständigen Staatsanwaltschaft auch die Vollstreckungsunterlagen mit weiteren Hinweisen zum formalen Verlauf anfordern sowie in Fällen stattgefundener psychiatrischer oder sonstiger relevanter medizinischer 100
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Maßnahmen auch die entsprechenden Untersuchungs- und Behandlungsunterlagen (Schweigepflichtsentbindung erforderlich). Zusätzlich zu den Aktendokumenten kann oft auch die gezielte Exploration von Drittpersonen hilfreich sein (etwa von Betreuungspersonal, das den Probanden seit langen Jahren kennt), da sich hierdurch mitunter gezielt Fragen nach bestimmten Verhaltensbesonderheiten klären lassen, die in der Selektion von Aktendokumentationen vernachlässigt werden. Ergänzend sollte selbstverständlich aber auch eine sorgfältige Exploration des Probanden zu den relevanten Entwicklungen im Vollzugsverlauf erfolgen, da sich nur auf diese Weise etwaige Motive und Hintergründe für besondere Verhaltensweisen klären lassen. Zu beachten sind hierbei wiederum mögliche Verzerrungen. Ziel der Analysen der relevanten Verhaltensmuster seit dem Tatgeschehen ist letztlich wiederum die Begründung einer Individualtheorie; hier: einer individuellen Entwicklungstheorie der Persönlichkeit des Täters im Hinblick auf ihre spezifischen kriminogenen Risikodispositionen. Mithin muss sich auch diese Theorie an allgemeinen Gütekriterien messen lassen: Ist die Entwicklung in sich konsistent beschrieben und hinreichend mit Fakten belegt bzw. belegbar? Sind die reklamierten Veränderungen mit allgemeinen Theorien und empirischen Erfahrungen verträglich? Oder betreffen sie Kernbereiche der Persönlichkeit, die gemeinhin als eher wenig änderbar gelten? Darüber hinaus wäre die Frage nach der Bedeutung des Unterbringungskontextes zu erörtern, ob also etwaige Verhaltensänderungen bislang nur im unmittelbar kontrollierten Haft- oder Unterbringungskontext zu beobachten waren oder ob sie sich auch bei nachlassender Außenkontrolle (etwa bei Lockerungen) stabil zeigten. Weiterhin lassen sich zur Prüfung der Vollständigkeit der Überlegungen wiederum standardisierte Instrumente und Checklisten heranziehen, da auch diese teilweise Entwicklungen im Vollzugsverlauf direkt erfassen. Der Prognostiker sollte sich aber davor hüten, hierbei jedwede vermeintlich günstige Veränderung vorschnell auf die Legalprognose zu beziehen. Von Relevanz sind belegbare Veränderungen der individuellen Risikodispositionen sowie erkennbare Fortschritte beim Aufbau möglicher Schutzfaktoren, bei denen man begründet einen kompensatorischen Schutzeffekt erwarten kann – nicht aber Veränderungen in Bereichen, die im vollzuglichen Kontext zwar angenehm sein mögen (etwa die Anpassungsleistung an die Anfordernisse im Vollzug), im konkreten Fall aber nichts mit den spezifischen kriminogenen Risiken des Probanden zu tun haben.
Gütekontrolle
3.2.2.3 Schritt 3: Kriminalpsychologische IST-Stand Diagnose Auf der Basis der individuellen Kriminaltheorie und einer fundierten Vorstellung von der Entwicklungsdynamik der sich hieraus ergebenden relevanten personalen Risikofaktoren und potenziellen Schutzfaktoren lässt
Querschnittsdiagnostik der Risikopotenziale
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sich im dritten Schritt des idiografischen Urteilsbildungsprozesses nach deren gegenwärtigem Status Quo fragen. Ziel ist es also, die längsschnittliche Veränderungsdiagnostik der kriminogenen Risiko- und Schutzfaktoren durch eine aktuelle querschnittliche Diagnose zu ergänzen, um im Licht der „individuellen Entwicklungstheorie“ den Stand des bislang Erreichten zu erkunden und verbleibende (Rest-)Risikopotenziale auszuloten. Es handelt sich dabei um eine klassische psychodiagnostische Querschnittsdiagnostik, das methodische Vorgehen entspricht mithin allgemeinen klinisch-diagnostischen Standards. Der inhaltliche Fokus liegt freilich auf dem aktuellen Entwicklungsstand der Person im Hinblick auf ihre spezifischen Risikopotenziale. Datengrundlagen
Potenziell kommt für diese Aufgabe die gesamte Bandbreite psychodiagnostischer Methoden infrage, also testpsychologische Erhebungen ebenso wie Explorationen, Verhaltensbeobachtungen oder mitunter auch Verhaltensproben. Allerdings ist der Wert der üblichen testpsychologischen Selbstbeschreibungsinventare oftmals begrenzt und objektive Persönlichkeitstests für die hier relevanten Bereiche liegen kaum vor. Ihr eingeschränkter Wert ist dabei wiederum zunächst möglichen intentionalen Verzerrungsrisiken bei der Selbstdarstellung geschuldet. Für den Probanden geht es immerhin um seine Freiheit und viele der verfügbaren Inventare haben in ihren Itemformulierungen eine auch für ihn ohne Weiteres erkennbare Augenscheinvalidität – ein Proband mit multiplen Aggressionsdelikten mag sich insofern durchaus nachvollziehbar im Kontext einer Prognosebegutachtung mit der Feststellung, dass er schon als Kind gern Blumen die Köpfe abgeschlagen hat, schwertun. Vor allem bei langer Haftzeit kommen aber auch mögliche Verzerrungen aufgrund von Bezugsgruppeneffekten hinzu (vgl. bereits Steller, 1983). Immerhin ist ein solcher Proband seit Jahren von einer sehr speziellen Gruppe von Menschen umgeben, wodurch seine Selbstwahrnehmungen und -einschätzungen im sozialen Vergleich mit der Umgebung durchaus beeinflusst sein kann – dezidierte Normierungen von Persönlichkeitsinventaren an Gefangenenpopulationen, insbesondere an Langzeitinhaftierten, finden sich indessen kaum. Eine zentrale Rolle spielen daher dezidierte und ausführliche Explorationen des Probanden zu seiner eigenen subjektiven Kriminaltheorie, die in keiner kriminalprognostischen Begutachtung fehlen sollte. Es geht also um die Tiefgründigkeit und Vollständigkeit seiner eigenen Erklärungsmodelle für seine (bisherigen) Tathandlungen, um die Plausibilität seiner eigenen Begründungen und die Qualität der von ihm angeführten Belege für relevante Änderungsprozesse an den hierbei verantwortlichen Faktoren. Nicht zuletzt sollte seine Fähigkeit, potenzielle zukünftige Szenarien und Konstellationen zu beschreiben, in denen er selbst wieder vermehrte Delinquenzrisiken befürchten würde, sorgfältig exploriert werden und seine Absichten und Strategien, hiermit adäquat umzugehen. Allemal lässt sich aus der Qualität seiner Angaben zu diesen Themen das Niveau seiner Auseinandersetzung mit sich und seiner 102
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Delinquenz ablesen und zumindest sein kognitives Verständnis der relevanten Zusammenhänge abschätzen. Insoweit es sich letztlich um eine klassische Querschnittsdiagnostik handelt, bemisst sich die Güte des Vorgehens an den allgemeinen Standards psychodiagnostischer Datenerhebung und -bewertung. Inhaltlich liegt der Fokus freilich auf dem IST-Stand der Ausprägung der individuell relevanten kriminogenen Risikofaktoren und etwaiger kompensatorischer Faktoren, die, soweit möglich, vollständig zu beurteilen sind.
Gütekontrolle
Unter Bezugnahme auf den derzeitigen Entwicklungsstand der personalen Risikodispositionen und Schutzfaktoren lassen sich abschließend mögliche hypothetische Rahmenbedingungen konkretisieren, unter denen eine vergleichbare Handlungsdynamik wie bei der Anlasstat und insoweit entsprechende Wiederholungstaten zu befürchten wären. Ziel dieses gedanklichen Zwischenschritts ist also die Identifikation und Explizierung potenzieller situationaler Risikokonstellationen, z. B. in Form entsprechender Wenn-Dann-Aussagen. Bei der Konkretisierung solcher hypothetischer Konstellationen ist der Gutachter indessen keineswegs blind. Er verfügt ja bereits über Kenntnisse bisheriger Rahmenbedingungen, die in der Vorgeschichte und bei der Anlasstat die Risikodispositionen des Probanden sich haben entfalten lassen.
Wenn-DannAnalyse
3.2.2.4 Schritt 4: Die Projektion in die Zukunft Die aktuell noch als vorhanden registrierten (Rest-)Risikofaktoren und die Analyse der für ihre Entfaltung relevanten situationalen Rahmenbedingungen bildet schließlich die Grundlage für den vierten und letzten Teilschritt. Er besteht letztlich in der Einschätzung der Wahrscheinlichkeit des zukünftigen Eintreffens dieser potenziellen Risikokonstellationen anhand einer sorgfältigen Aufklärung der zukünftigen Lebensperspektiven des Probanden. Es geht also um seine wahrscheinliche berufliche Einbindung, seine finanzielle, soziale und familiäre/partnerschaftliche Situation, sein zukünftiges Wohnumfeld, seine Freizeitvorlieben, seine zukünftige Tagesstruktur und seine Entfaltungsmöglichkeiten, aber auch um seine subjektiven Bedürfnisse, Wünsche, Pläne und Zukunftsvorstellungen im Abgleich mit seinen realistischen Möglichkeiten und Kompetenzen. Sind bei diesen Analysen bereits Frustrationen, Belastungen oder anderweitige potenziell destabilisierende Einflüsse absehbar (oder zumindest nicht unwahrscheinlich), ist die Frage zu klären, über welche personalen und sozialen Ressourcen der Proband verfügt, hiermit angemessen umzugehen, und ob er bereit und in der Lage ist, sich gegebenenfalls weitere Unterstützung zu holen. Voraussetzung ist freilich, dass der Proband erkennbar ein Bemühen zeigt, zukünftig ein straffreies Leben führen zu wollen, und dass nicht von vornherein einem legalen Lebenswandel unüberwindbare Hürden entgegenstehen.
Die Analyse von Entlassumfeld und Zukunftsperspektiven
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Zusätzliche Überlegungen zum Risikomanagement
Die Anforderungen gehen freilich über die bloße Analyse der zu erwartenden, wahrscheinlichen Lebenssituation nach einer etwaigen Entlassung aus dem Straf- oder Maßregelvollzug und der hierauf fußenden Einschätzung der Art und Wahrscheinlichkeit potenzieller Gefährdungen und destabilisierender Einflüsse und Entwicklungen hinaus. Soweit solche Gefährdungen nicht gänzlich unwahrscheinlich erscheinen, geht es zudem um die Frage, ob und welche Maßnahmen möglich und geeignet sind, solchen Gefährdungen vorzubeugen und etwaige risikosteigernde Entwicklungen frühzeitig zu erkennen. Die konkreten Überlegungen hierzu hängen dabei stark von den spezifischen Risiken im Einzelfall ab, gleichwohl lohnt sich auch hier eine gewisse Systematik der Überlegungen. Zumindest sollte der Gutachter im Einzelnen prüfen, ob und welche Restriktionen angezeigt sind, ob und welche Kontrollen erforderlich sind und ob konkreter Hilfebedarf zur Unterstützung des Probanden besteht. Bei spezifischen Gefährdungen in Richtung der Befürchtung nachlassender Selbstaufmerksamkeit im Alltag (z. B. durch eine sich einschleichende Bagatellisierung einer Suchtmittelproblematik) wären Möglichkeiten zur Stützung des Selfmonitoring zu überlegen (im Beispiel etwa die Einbindung in eine Selbsthilfegruppe), bei Gefährdung einer klar definierbaren Opfergruppe (z. B. bei Gewalttätern im familiären oder partnerschaftlichen Nahraum) auch Maßnahmen zum konkreten Opferschutz (etwa eine regelmäßige Partnerberatung). Klar sollte indessen sein, welchen Zweck die im Einzelnen erwogenen Maßnahmen haben sollen, in welchem Verhältnis sie zu den spezifischen Risiken und Gefährdungen des Probanden stehen und welche Effekte man von ihnen erwartet. Ein postmurales Risikomanagement bedeutet einen Eingriff in die Freiheiten des Probanden, der sich nur durch die Erwartung einer substanziellen Senkung der erwartbaren Risiken legitimieren lässt. Bei all diesen Überlegungen sollte daher der Proband einbezogen und sein Verständnis für die erwogenen Maßnahmen geweckt werden, nicht zuletzt weil ohne seine Bereitschaft und Compliance ein postmurales Risikomanagement wenig erfolgversprechend erscheint. Der folgende Kasten fasst die die relevanten Fragen nach dem postmuralen Risikomanagement zusammen.
Datengrundlagen
Insofern die wesentlichen Inhalte dieses letzten Beurteilungsschritts in der Einschätzung der zukünftigen Lebensperspektiven bestehen, kommen als diagnostische Datenquellen im wesentlichen Explorationen des Probanden über dessen Absichten, Wünsche, Pläne, und Einschätzungen sowie über seine bislang erfolgten konkreten Vorbereitungen in Frage, gegebenenfalls und mit Einverständnis der Beteiligten auch die ergänzende Exploration relevanter Drittpersonen aus dem künftigen sozialen Nahbereich. Gelegentlich lassen sich für Detailfragen ergänzende Belege (Arbeitsverträge, Zwischenzeugnisse, Mietverträge o. Ä.) heranziehen, geeignete testpsychologische Verfahren zur systematisierten Erfassung zukünftiger Lebensplanungen und -orientierungen liegen für die hiesigen Zwecke kaum vor. Zur Einschätzung des aktuellen Bedarfs im Hinblick auf ein geeignetes Risikomanage104
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Überlegungen zum postmuralen Risikomanagement:
• Sind Restriktionen angezeigt? z. B. Alkoholverbot, Kontaktverbote, Verbote zum Besuch bestimmter Orte, Vorgaben zum Arbeitsplatz oder zum Wohnort usw. • Sind Kontrollen angezeigt? z. B. regelmäßige oder intermittierende Alkohol- oder Drogenscreenings, regelmäßige Konsultationen, Hausbesuche usw. • Sind Hilfen angezeigt? z. B. Therapieweisungen, geschützte Wohnumgebung, Einbindung in ein komplementäres Versorgungssystem, Schuldnerberatung usw. • Ist eine Stützung des Selfmonitoring angezeigt? z. B. Einbindung in Selbsthilfegruppen, regelmäßige thematische Gespräche und Berichte, Tagebuch usw. • In Fällen benennbarer Opfergefährdung: Bestehen spezifische Opferschutzmöglichkeiten? z. B. Aufklärung, Einbindung in Partnerschaftsberatung, Implementation einer Einzelfallhilfe usw.
ment sind indessen querschnittliche Daten über aktuell noch bestehende Defizite bedeutsamer, die jedoch weitgehend im Kontext der aktuellen Risikobeurteilung in Schritt 3 erfasst sein sollten. Auch für die Analyse des Entlassumfeldes und der Zukunftsperspektiven halten einige Standardinstrumente und Checklisten Hilfestellungen zur Prüfung der Vollständigkeit der Überlegungen bereit. Für spezielle Fälle wurden verschiedentlich auch Manuale zum Risikomanagement entwickelt, die mitunter hilfreich sein können, aber im deutschsprachigen Raum bislang kaum verbreitet sind. Grundsätzlich sollte aber auch hier die Aufmerksamkeit der Abschätzung der im individuellen Fall spezifischen Risikokonstellationen gelten – nicht in jedem Fall muss eine absehbar schwierige berufliche Einbettung prognostisch von Bedeutung sein.
Gütekontrolle
3.2.2.5 Die idiografische Kriminalprognose Zusammenfassend besteht die Kriminalprognose nach dem skizziertem idiografischen Urteilsbildungsmodell also in der Fortschreibung der individuellen Delinquenztheorie des Probanden (1. Schritt) nach den Prinzipien der spezifischen Entwicklungsdynamik seiner Persönlichkeit in den kriminologisch relevanten Bereichen (2. Schritt) bei Zugrundelegung seines aktuell erreichten Entwicklungsstandes (3. Schritt) unter Annahme wahrscheinlicher zukünftiger situationaler Rahmenbedingungen (4. Schritt). Abbildung 6 fasst das Modell in seinen wesentlichen Denkschritten, Inhalten und Zielstellungen noch einmal zusammen. Es erfüllt die rechtlichen Vor105 © 2010 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Volbert/Dahle: Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren.
1. Schritt Rekonstruktion der Biografie und strafrechtlichen Vorgeschichte, Tathergangsanalyse(n)
Ableitung einer individuellen Delinquenztheorie
Kontrolle der Vollständigkeit und Güte
Bedingungsanalyse (personale Faktoren und situationale Bedingungen)
personale Risikopotenziale 2. Schritt Analyse der relevanten Verhaltensmuster seit der letzten Tat
Ableitung einer individuellen Entwicklungstheorie der Persönlichkeit bzgl. personaler Risiko- und Schutzpotenziale
Entwicklungsdynamik der personalen Risikound Schutzfaktoren 3. Schritt Aktuelle Querschnittsdiagnostik personaler Risiko- und Schutzfaktoren
Kontrolle der Vollständigkeit, Güte und Relevanzbezüge
(bisherige) situationale Risikopotenziale
Feststellung des aktuellen Entwicklungsstandes bzgl. der personalen Risikopotenziale
Kontrolle der Vollständigkeit, Güte und Relevanzbezüge
Wenn-dann-Analyse der verbleibenden Risiken spezifische Risikokonstellationen 4. Schritt Analyse des Entlassungsumfeldes und der Perspektiven künftiger Lebensgestaltung
Einschätzung der Wahrscheinlichkeit zukünftiger „riskanter“ Konstellationen
Kontrolle der Vollständigkeit und Relevanzbezüge; Möglichkeiten eines Risikomanagements
Ablauf des Urteilsbildungsprozesses Kontrollschleife
Abbildung 6: Prozessmodell der Urteilsbildung idiografischer Rückfall- und Gefährlichkeitsprognosen (nach Dahle, 2000)
gaben an die einzubeziehenden Inhalte und an den Individualisierungsgrad kriminalprognostischer Beurteilungen ebenso wie die in den Mindestanforderungen für Prognosegutachten formulierten Kriterien für die Informationsgewinnung und -bewertung – jedenfalls solange allgemeine diagnostische Standards eingehalten werden. Es ermöglicht eine weitgehend transparente 106 © 2010 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Volbert/Dahle: Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren.
Praxisanwendung (vgl. z. B. Dauer & Ullmann, 2002), wurde von der Rechtsprechung akzeptiert (z. B. KG Berlin – 5 Ws 672/98) und hat nicht zuletzt auch Berücksichtigung in den eingangs erwähnten „Mindestanforderungen für Prognosegutachten“ (Boetticher et al., 2007) gefunden.
3.2.3 Abschließende integrative Beurteilung Das zweigleisige methodische Vorgehen führt zu zwei zwar nicht völlig unabhängigen, jedoch auf gänzlich unterschiedlichen Wegen gewonnenen Einschätzungen der Kriminal- und Gefährlichkeitsprognose des Probanden (vgl. Abb. 7). Es stellt sich insoweit abschließend die Frage, ob beide Zugänge zu vergleichbaren Ergebnissen geführt haben. Sofern dies der Fall ist, ist die Prognose eindeutig. Sofern jedoch zwischen den erfahrungsbasierten nomothetischen Einschätzungen und den auf den Besonderheiten des Einzelfalls beruhenden idiografischen Überlegungen Diskrepanzen bestehen, stellt sich die Frage nach deren Ursachen.
Teil 1 Nomothetische Prognose
empirisches Ausgangsrisiko
Teil 2 Idiografische Prognose
+ empirisches Risikoprofil
idio gra Pro fische gno se
he tisc othe nom gnose Pro
Prognosen konkordant?
ja
nein
Diskrepanz aufgeklärt?
nein
ja
PROGNOSE
Abbildung 7: Integration nomothetischer und idiografischer Einschätzung
Bereits an früherer Stelle wurde darauf hingewiesen, dass Einschätzungen der aktuarischen Ausgangsrisiken, bei denen der Proband nach Maßgabe des empirischen Forschungsstandes in allen potenziell relevanten Einflussbereichen im unspezifischen Mittelbereich bloß durchschnittlicher Rückfallrisiken verbleibt, vermutlich wenig zuverlässig sind. Diese Probanden werden mit der auf Empirie fußenden Methoden offenbar nur unzureichend erfasst – jedenfalls solange nicht weitere Erkenntnisse vorliegen, die ge-
Gründe für diskrepante Einschätzungen
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eignet wären, die spezifischen Bedingungsfaktoren für Rückfall und Bewährung zu erhellen – und es kommt stärker auf die Einzelfallbeurteilung an. Bei eindeutig profilierten aktuarischen Ausgangsrisiken bedarf es hingegen deutlich stärkerer Argumente. Solche Argumente können in gut belegbaren Hinweisen auf nachhaltige Änderungen in ehemals deutlich ausgeprägten relevanten Risikobereichen (sofern dynamisch) bestehen. Sie können auch auf solchen ungewöhnlichen – aber kriminalpsychologisch belegbar relevanten – Merkmalen des Probanden beruhen, die die Annahme mangelnder Repräsentativität empirischen Erfahrungswissens für die spezifische zu beurteilende Fallkonstellation begründen, wie z. B. eine deutlich einschränkende körperliche Erkrankung oder auch ungewöhnliche Lebensereignisse („turning points“ i. S. von Sampson & Laub, 1993) mit nachhaltigen Veränderungen der Lebensorientierung des Probanden und der auf ihn einwirkenden sozialen Einflüsse (weitere Konstellationen siehe Kapitel 3.2.1.6). Unerlässlich ist es indessen, die Ursachen solcher Diskrepanzen tatsächlich zu klären, sie dürfen keinesfalls unverbunden und ohne Diskussion der Hintergründe nebeneinander stehen bleiben. Gelingt indessen eine Klärung der Hintergründe nicht mit hinreichender Vollständigkeit, so hat der Gutachter im Gang seiner idiografischen Einzelfallbeurteilung vermutlich wesentliche Aspekte übersehen und somit allen Grund, seine bisherigen Überlegungen noch einmal kritisch zu hinterfragen und auf Vollständigkeit hin zu überprüfen.
3.3 Zum praktischen Ablauf der Begutachtung und zum Aufbau des Prognosegutachtens Gutachtenauftrag
Den Beginn einer kriminalprognostischen Begutachtung stellt der Auftrag des Gerichts, der Vollzugseinrichtung oder deren Aufsichtsbehörde an den Sachverständigen dar. Er besteht gewöhnlich aus der Zitierung des relevanten Gesetzestextes der anstehenden Rechtsentscheidung, neuerdings werden häufiger auch zusätzlich die in den Mindestanforderungen für Prognosegutachten präzisierten Fragen (vgl. Kapitel 3.1.1) zitiert. Vor allem im Kontext vollzuglicher Entscheidungen über Lockerungsmaßnahmen werden darüber hinaus auch oftmals konkrete Fragen zum Einzelfall formuliert, die sich beispielsweise auf die weitere Vollzugsgestaltung, auf konkrete Zeitplanungen und Lockerungsschritte, auf die Indikation für bestimmte Maßnahmen oder auf bestimmte Fragen zum Risikomanagement beziehen können.
Aktenmaterial
Die erste Grundlage der Begutachtung ist zunächst die sorgfältige Auswertung des erreichbaren relevanten Aktenmaterials. Im Idealfall sollten dem Gutachter alle verfügbaren Akten vorliegen und er sollte wissen, was man 108
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aus Akten über den Probanden erfahren kann (vgl. Kröber, 2006a). Obligatorisch gehören die Ermittlungsakten zum Anlassdelikt und zu relevanten Vordelikten sowie die Akten zum Verlauf der Freiheitsentziehung (also die Gefangenenpersonalakte oder die Krankenakte der Maßregelklinik sowie das Vollstreckungsheft der Staatsanwaltschaft) dazu, darüber hinaus gegebenenfalls Krankenakten aus früheren klinischen Behandlungen, manchmal auch Akten aus früheren Freiheitsstrafen oder Maßregelunterbringungen, bei jüngeren Tätern mitunter auch Unterlagen des Jugendamts, der Jugendgerichtshilfe oder aus etwaigen Heimaufenthalten. Einige der Unterlagen werden gewöhnlich bereits vom Auftraggeber übersandt; eine der ersten Aufgabe des Prognostikers ist es also herauszufinden, welche zusätzlichen Akten von Belang und verfügbar sind und die fehlenden Unterlagen anzufordern. Das Material wird mit Fokus auf den kriminalprognostischen Fragestellungen analysiert und die für die Beurteilung zentralen Ergebnisse werden im Gutachten dokumentiert. Dabei handelt es sich nicht um eine bloße Zusammenfassung von Ausschnitten des Akteninhalts, vielmehr sind die für die prognostische Beurteilung wesentlichen Inhalte zu verdichten und im Sinne der Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Anknüpfungstatsachen und Beurteilungsgrundlagen schriftlich und nach Quellen geordnet festzuhalten. Bei Probanden mit entsprechender Vorgeschichte ist der Umfang der auszuwertenden Unterlagen dabei mitunter sehr beträchtlich; schon aus diesem Grund sollte die Wiedergabe von Akteninhalten im Gutachten auf das tatsächlich Notwendige konzentriert werden. Inhaltlich geht es zunächst um die Gewinnung von Daten zur Rekonstruktion der Lebens- und Delinquenzgeschichte des Probanden, gegebenenfalls auch seiner Krankheitsgeschichte, und zwar sowohl hinsichtlich der objektivierbaren Fakten als auch hinsichtlich dessen, was der Proband selbst bei früherer Gelegenheit geäußert hat. Diese Informationen werden bereits bei Anwendung standardisierter Prognoseinstrumente im Rahmen der nomothetischen Einschätzung der aktuarischen Ausgansrisiken benötigt, für die biografischen Rekonstruktionen im ersten Schritt der idiografischen Fallbeurteilung sind sie unerlässlich. Darüber hinaus geht es aber auch um die möglichst exakte Rekonstruktion der objektivierbaren Ereignisse im Tatumfeld und vor allem der eigentlichen Tathandlungen. Der Gutachter benötigt daher die vollständigen Ermittlungsakten, einschließlich Tatortskizzen und -fotos, kriminalistische Untersuchungsergebnisse, Labor- und Obduktionsberichte und etwaige Gutachten zum Tatgeschehen. Nicht immer bilden die im Urteilstext genannten Feststellungen eine für psychologische Analysen hinreichende Basis. Unter Umständen mögen sich bei der sachverständigen Rekonstruktion gegenüber dem Urteil daher genauere, mitunter auch etwas abweichende Einschätzungen beispielsweise der Motivlage des Täters oder relevanter äußerer Einflussfaktoren auf das Tatgeschehen aufdrängen. Sofern es sich hierbei tatsächlich um Widersprüche von einiger Bedeutung für die Prognose handelt (und nicht nur um Ergänzungen in
Inhalte der Aktenanalyse
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psychologischen Detailfragen, die mit den Feststellungen im Urteilstext kompatibel sind), die aus sachverständiger Sicht gleichwohl naheliegen und sehr gut begründbar erscheinen, sollte der Gutachter diese Widersprüche und ihre Konsequenzen für die Einschätzung im Gutachten sorgfältig erörtern (vgl. Bötticher et al., 2007) und nicht einfach darüber hinweggehen. Nicht zuletzt sind die Ergebnisse und Befunde zum Tatgeschehen eine ganz wesentliche Grundlage für die zu entwickelnde individuelle Kriminaltheorie über den Probanden. Der Gefangenenpersonalakte bzw. der Akte der Maßregelklinik und dem Vollstreckungsheft sind schließlich die wesentlichen objektivierbaren Daten aus der Zeit der Unterbringung zu entnehmen. Auch diese Informationen werden für einige Standardinstrumente benötigt. Sie sind indessen die wesentliche Grundlage zur Einschätzung etwaiger Entwicklungsprozesse beim Probanden im Hinblick auf relevante Risiko- und Schutzmerkmale und insoweit für den zweiten Schritt der idiografischen Einzelfallbeurteilung unverzichtbar. Untersuchung des Probanden
Die den Akten entnommenen Fakten zur Biografie des Probanden und zu seiner Vordelinquenz, zu all dem, was über die Anlasstat und ihren Kontext bekannt ist sowie zu den Entwicklungen während der Haft oder Unterbringung bilden auch die Grundlage für die Exploration und Untersuchung des Delinquenten. Dabei mag es mitunter hilfreich sein, bei den ersten Terminen nur grob über die wesentlichen Eckdaten informiert zu sein, um dem Probanden mehr Gelegenheit zu geben, seine Angaben nach eigenen Relevanzkriterien zu strukturieren und zu gewichten. Spätestens im weiteren Verlauf sollte der Gutachter dann jedoch die Akten genau kennen. Nicht zuletzt ist es unabdingbar, noch im Verlauf der Begutachtung die aktuellen Angaben des Probanden mit dem abgleichen zu können, was Zeugen gesagt haben, was polizeilich ermittelt wurde, was im Urteil steht und was er selbst bei früherer Gelegenheit angegeben hat. Hierbei geht es auch darum, ihn mit etwaigen Diskrepanzen zu konfrontieren, um Missverständnisse aufzuklären, Legendenbildungen zu erkennen oder Bagatellisierungs- oder Verleugnungstendenzen zu identifizieren. Neben der Aktenanalyse nimmt diese Exploration eine ganz wesentliche Stellung im Rahmen des diagnostischen Erhebungsprozesses ein. Die Notwendigkeit der Besprechung einer Vielzahl von Themen erfordert dabei zumindest zwei, im Regelfall aber wohl noch weitere Untersuchungstermine. Nicht zuletzt sollen im Rahmen der Begutachtung ja nicht nur die aktuelle Lebenssituation, der potenzielle soziale Empfangsraum, die Zukunftsperspektiven und der bisherige Haft- oder Unterbringungsverlauf des Probanden thematisiert werden. Inhalte sind auch seine vollständige Biografie inklusive früherer und aktueller sozialer Bindungen und Partnerschaften, seines schulischen und beruflichen Werdegangs, etwaiger Krankheiten und psychischer Krisen, seiner strafrechtlichen Vorgeschichte sowie nicht 110
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zuletzt die sorgfältige Exploration des Anlassgeschehens und ihrer Antezedenzen mit allen zugehörigen Motiven und Hintergründen. Beim ersten Termin bietet es sich an, dem Probanden Gelegenheit zu geben, zunächst weitgehend frei zu seiner aktuellen Situation, seinen Plänen, zum Verlauf des Freiheitsentzuges, aber auch zur Lebens- und Delinquenzgeschichte Stellung zu nehmen. Nicht zuletzt geht es bei der Exploration ja nicht allein um die Erhebung bloßer Fakten, sondern auch um die Feststellung des Entwicklungsstandes der Persönlichkeit des Probanden, seiner Einstellungen und Verhaltensbereitschaften sowie seiner Wahrnehmungen, Attributionen und Denkstile, die man weniger durch direkte Fragen ergründet. Sie spiegeln sich auch darin wider, wie jemand seine Lebensgeschichte strukturiert, wie er zentrale Bezugspersonen in seinem Leben beschreibt und bewertet und inwieweit er sich auf einen Dialog und eine tiefer gehende Auseinandersetzung auch über problematische Anteile seiner Person einlassen kann. Gesichtspunkte, auf die der Gutachter achten sollte, umfassen daher auch die Authentizität und emotionale Beteiligung im Gespräch, etwaige unterwürfige oder theatralische Tendenzen, Fähigkeiten zur Wahrnehmung und Einbeziehung des Gutachters als Person, die Konstanz seiner Angaben, die Verwendung stereotyper Floskeln, etwaige Bagatellisierungs- oder Externalisierungsneigungen u. v. m. (ausführlich: Kröber, 1999, 2006a). Spätestens beim letzten Termin der Untersuchung sollte der Gutachter dann aber unter Rückgriff auf sein fundiertes Aktenwissen auch genauer nachfragen und den Probanden mit möglichen Diskrepanzen konfrontieren können. Im Gutachten werden die Gesprächsinhalte wiederum hinsichtlich ihrer prognostisch relevanten Bezüge verdichtet zusammengefasst wiedergegeben.
Exploration des Probanden
Neben den aus Akten und persönlichem Gespräch gewonnenen Informationen und Befunden können weitere diagnostische Erhebungen sinnvoll sein. Im Rahmen von Prognosebegutachtungen sind dies vor allem testpsychologische Untersuchungen, dezidierte medizinische Zusatzuntersuchungen spielen seltener eine Rolle. Die Auswahl im Einzelfall sinnvoller psychometrischer Testverfahren erfolgt indessen hypothesengeleitet im Hinblick auf die sich fallspezifisch ergebenden relevanten diagnostischen Fragen (z. B. im Hinblick auf die im dritten Schritt der idiografischen Fallbeurteilung erforderliche Beurteilung des aktuellen Ausprägungsgrades personaler Risikofaktoren). Vor allem bei der Verwendung klinischer oder persönlichkeitspsychologischer Selbstbeschreibungsinventare sollte dabei auf mögliche anlassbezogene oder bezugsgruppenbegründete Verzerrungstendenzen im Antwortverhalten geachtet werden (vgl. hierzu Kapitel 3.2.2.4). Weitere Gesichtspunkte für die Auswahl der Verfahren und die Planung einer sinnvollen Reihenfolge sind die Länge der Tests und der Komplexitätsgrad der Itemformulierungen – viele Probanden in Vollzugseinrichtungen sind nicht geübt im Lesen langer und komplexer Texte. Die
Zusatzuntersuchungen
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Entscheidung, ob im Rahmen der Begutachtung darüber hinausgehend weitere Fremdexplorationen von Betreuungspersonal, von Partnern oder anderen Personen erforderlich sind, hängt vom Einzelfall ab. Solche Befragungen können mitunter anderweitig nicht eruierbare Informationen ergeben oder auch zusätzliche Belege für ansonsten nur schwach begründete Hypothesen liefern. Fremdexplorationen mit Personen aus dem persönlichen sozialen Umfeld des Probanden sollten aber nur mit Einverständnis aller Beteiligten durchgeführt werden, sind aber im Rahmen eines Vollstreckungsverfahrens (sogenanntes Freibeweisverfahren) durchaus möglich. Verhaltensbeobachtung
Ein weiterer Aspekt im Gutachten besteht in der ausführlichen Wiedergabe der Beobachtungen des Untersuchungsverhaltens des Probanden im Rahmen der Explorationen und Testuntersuchungen. Diese umfasst auch eine ausführliche Darstellung seines psychischen IST-Zustandes inklusive der Beschreibung seiner im Rahmen der Begutachtung gezeigten Einstellungsmuster, Denkstile und Attributionen, seiner Wahrnehmungsbesonderheiten, seiner Gestimmtheiten und Handlungsmotive, aber auch seiner spezifischen sozialen, emotionalen und kognitiven Kompetenzen und Defizite. In diesem Rahmen kann erforderlichenfalls auch eine diagnostische Bewertung und differenzialdiagnostische Abgrenzung (dann unter Bezugnahme auf eingeführte Diagnosesysteme) erfolgen. Bei besonderem Stellenwert kann sie aber auch erst ausführlich im Bewertungsteil des Gutachtens vorgenommen werden.
Bewertungsteil
Im Gutachten schließt sich der Wiedergabe der relevanten Untersuchungsbefunde im Befundteil dann der eigentliche Bewertungsteil an, der eine allgemeine Beurteilung der kriminalprognostischen Fragestellung, erforderlichenfalls einschließlich klinisch-diagnostischer Bewertungen (dann aber unter Bezugnahme auf eines der eingeführten Diagnosemanuale für psychische Störungen, ICD-10 oder DSM-IV-TR) ebenso umfasst wie die dezidierte Beantwortung der an den Sachverständigen herangetragenen Fragen. Hier werden also die zentralen Befunde noch einmal zusammengefasst, verdichtet und hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Kriminalprognose bewertet. Diese Bewertung muss den komplexen Urteilsbildungsprozess in seiner Logik und in seinen wesentlichen inhaltlichen Bezügen und Grundlagen transparent wiedergeben und für den Rezipienten des Gutachtens nachvollziehbar machen. Aus diesem Grund nimmt der allgemeine Beurteilungsteil regelmäßig einen erheblichen Raum im Gutachten ein. Es empfiehlt sich, mehrschrittig vorzugehen, die nomothetischen und idiografischen Analysen und Überlegungen zunächst getrennt wiederzugeben und sich beim Aufbau der jeweiligen Abschnitte an der Struktur der zugehörigen Urteilsbildungsmodelle (vgl. Abb. 4 und 6) zu orientieren. Sie ermöglichen ja nicht nur für den Gutachter einen logisch stringenten Urteilsbildungsprozess, sondern erleichtern es auch dem Leser des Gutachtens, die hierbei erfolgten Denk- und Urteilsschritte nachzuvollziehen. In einer sich 112
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Aufbau eines Prognosegutachtens: Gliederungsbeispiel
EINLEITUNG (Auftraggeber, Fragestellung, Eckdaten zur Untersuchung usw.) BEFUNDLAGE
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Aktenlage Ermittlungsakte zu AZ 1 Kap JS 123/45 Gefangenenpersonalakte zu Buch-Nr. 1234/56 Krankenunterlagen der Philip-Klinik Vorgutachten Dr. H. zur strafrechtlichen Schuldfähigkeit Fremdexploration Frau A. Untersuchung von Herrn A. Explorationsangaben – Herkunftsfamilie und eigene Kinder – Lebenslauf – Zu Vordelikten – Zur Anlasstat – Zur aktuellen Haftzeit – Zukunftspläne, Außenorientierung und soziale Kontakte – Selbstbild und Selbstwahrnehmung – Risikowahrnehmung und -attributionen – Spezielle Anamnesen Testpsychologische Befunde Untersuchungsverhalten BEWERTUNG DER UNTERSUCHUNGSBEFUNDE Klinisch-diagnostische Bewertung Kriminalprognostische Einschätzung Ausgangsrisiken erneuter Straf- und Gewaltdelikte Individuelle Rückfallrisiken – Idiografische Analyse der Risikodispositionen – Entwicklung der Risikodispositionen seit der Tat – Aktuelle Ausprägung der Risikodispositionen – Zukunftspläne und soziale Einbettung Zusammenfassende Beurteilung der Rückfallprognose Erfordernisse und Möglichkeiten eines Risikomanagements Abschließende Bewertung und Beantwortung der Fragestellung Zur Frage nach dem Fortbestehen der Gefährlichkeit Vorschläge zum Risikomanagement Vorschläge zum weiteren Vorgehen 113 © 2010 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Volbert/Dahle: Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren.
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anschließenden Gesamtbetrachtung sind die Abschnitte dann zu integrieren, wobei etwaige Widersprüche zwischen nomothetischen und idiografischen Beurteilungen zu diskutieren und inhaltlich aufzuklären und die Ergebnisse dann zu einer Gesamteinschätzung zusammenzuführen sind. Auf der Grundlage des so zusammengetragenen Materials lassen sich abschließend die explizit an den Gutachter herangetragenen Fragen beantworten. Der Kasten auf S. 113 gibt ein Beispiel für eine mögliche Gliederung eines kriminalprognostischen Gutachtens.
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4 Die Begutachtung der Schuldfähigkeit, strafrechtlichen Verantwortlichkeit und Entwicklungsreife Klaus-Peter Dahle und Renate Volbert
Das deutsche Strafrecht macht die Strafbarkeit und Strafzumessung eines strafrechtsrelevanten Verhaltens davon abhängig, dass dem Täter sein Verhalten persönlich vorzuwerfen ist und dass man von ihm hätte erwarten können, dass er auch anders hätte handeln können, als er es mit der Tat getan hat. So formuliert § 46 StGB, der die Grundsätze der Strafzumessung regelt, gleich im ersten Satz: „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe“. Kinder bis zum vollendeten 14. Lebensjahr gelten dabei generell als schuldunfähig (§ 19 StGB) und Jugendliche vom vollendeten 14. Lebensjahr bis zum vollendeten 18. Lebensjahr als nur bedingt schuldfähig, d. h. die Schuldfähigkeit muss bei jugendlichen Tätern in jedem Einzelfall erst positiv festgestellt werden (§ 3 JGG). Bei Personen ab dem 18. Lebensjahr geht das Gesetz indessen davon aus, dass sie im Regelfall für ihre Verfehlungen verantwortlich sind und knüpft Gründe für eingeschränkte oder gar fehlende strafrechtliche Schuld an definierte Ausnahmesachverhalte. Die meisten dieser Ausnahmen, wie z. B. Irrtumssachverhalte (§§ 16, 17 StGB), Notwehr (§§ 32, 33 StGB) oder rechtfertigende Tatumstände (§§ 34, 35 StGB) sind im Regelfall nicht Gegenstand psychologisch sachverständiger Einschätzungen, sondern werden vom Richter in eigener Sachkompetenz beurteilt. Demgegenüber wird bei der Frage möglicher Schuldeinschränkung aufgrund psychopathologischer Besonderheiten des Täters (§§ 20, 21 StGB) zumeist ein Sachverständiger hinzugezogen, der die psychische Störung und ihre Zusammenhänge mit dem Tatgeschehen beurteilen soll.
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4.1 Die Begutachtung der Schuldfähigkeit gemäß §§ 20, 21 StGB
4.1.1 Rechtliche Grundlagen § 20 StGB Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen
Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
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§ 21 StGB Verminderte Schuldfähigkeit
Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei der Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden. Zweistufigkeit des Verfahrens
Für die Bestimmung der Schuldfähigkeit sieht das Gesetz ein zweistufiges Verfahren vor. Weil es um die Auswirkungen der psychischen Befunde auf die normativ verstandene Fähigkeit des Täters zur Einsicht und Steuerung geht, spricht man von einer „psychisch-normativen Methode“ (Jeschek & Weigend, 1996): 1. Auf der ersten Stufe wird das Vorliegen einer psychischen Störung anhand der vier Eingangsmerkmale des § 20 StGB geprüft. 2. Auf der zweiten Stufe geht es um die Frage, ob der festgestellte psychopathologische Zustand Auswirkungen auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Täters hatte. Die §§ 20 und 21 StGB setzen die gleichen psychischen Störungen voraus. Die Unterscheidung zwischen Ex- oder Dekulpation erfolgt ausschließlich über die auf der zweiten Stufe vorzunehmende Wertung.
Rechtsfolgen bei Schuldunfähigkeit
Actio libera in causa
Liegen die Voraussetzungen des § 20 StGB vor, ist der Angeklagte freizusprechen. Wenn weitere Voraussetzungen gegeben sind, kann eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) oder auch andere Maßregeln, die nicht an das Vorliegen einer Verminderung der Schuldfähigkeit gebunden sind, in Frage kommen. Ausnahmen bieten Fälle der actio libera in causa (Geschehen, in welchem der schuldfähige Täter in der ersten Phase einer Tat eine Ursache für die eigentliche Tathandlung setzt, die er dann in der zweiten Phase als inzwischen Schuldunfähiger ausführt). Für die Fälle rauschbedingter Schuldunfähigkeit kommt eine Bestrafung gemäß § 323a StGB wegen Vollrausches in Betracht (Schöch, 2007). Nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ ist auch freizusprechen, wenn die Schuldunfähigkeit nicht ausgeschlossen werden kann, sofern die Zweifel 116
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die tatsächlichen Grundlagen des § 20 StGB (also die Art und das Ausmaß einer den vier Eingangsmerkmalen zu subsumierenden Störung) betreffen. Der Zweifelsgrundsatz ist nicht anwendbar im Hinblick auf die Einsichtsund Steuerungsfähigkeit (Schöch, 2007). Die verminderte Schuldfähigkeit ist ein fakultativer gesetzlicher Strafmilderungsgrund, der gemäß § 49 I StGB zu einem milderen Strafrahmen führt. Das gleiche gilt auch, wenn nicht sicher festgestellt werden kann, ob der Täter zur Tatzeit voll oder vermindert schuldfähig war. Eine Unterbringung gemäß § 63 StGB ist bei dem Vorliegen einer verminderten Schuldfähigkeit möglich, aber nicht zulässig, wenn die verminderte Schuldfähigkeit lediglich nicht ausgeschlossen werden kann.
Rechtsfolgen bei verminderter Schuldunfähigkeit
4.1.2 Die Eingangsmerkmale des § 20 StGB Zunächst ist zu prüfen, ob überhaupt eine psychische Störung vorliegt. Hier gelten die allgemeinen Regeln der Diagnostik psychischer Störungen. Im Gutachten erwartet wird eine Bezugnahme auf ICD-10 oder DSM-IV-TR bzw. eine Erläuterung, wenn von diesen Diagnosesystemen abgewichen wird (Bötticher, Nedopil, Bosinski & Saß, 2005). Für die weitere Prüfung der Schuldfähigkeit sind aber nur solche Störungen relevant, die einem der in § 20 StGB genannten vier Rechtsbegriffe zuzuordnen sind. Im Folgenden wird auf diese Rechtsbegriffe näher eingegangen.
4.1.2.1 Krankhafte seelische Störung Krankhaft im Sinne des § 20 StGB ist eine Störung, wenn sie auf eine körperliche Ursache zurückgeht oder eine solche Ursache vermutet werden muss. Hierzu gehören insbesondere: psychotische Störungen aus dem schizophrenen und manisch-depressiven Formenkreis, psychotische Residualsyndrome, hirnorganisch bedingte psychische Störungen und akute hirnorganische Störungen wie Intoxikationen, insbesondere akute Berauschung (Kröber, 2007).
Nachweisbare oder postulierte organische Begründung
4.1.2.2 Schwachsinn Mit diesem Merkmale werden angeborene Intelligenzschwächen ohne nachweisbaren Organbefund erfasst. Intelligenzdefekte mit bekannter körperlicher Ursache (z. B. als Folge einer intrauterinen Hirnschädigung oder eines hirnorganischen Krankheitsprozesses) fallen unter die „krankhaften seelischen Störungen“.
Intelligenzschwächen ohne organischen Befund
4.1.2.3 Schwere andere seelische Abartigkeit Erfasst werden hier psychische Auffälligkeiten, die nach bisherigem Erkenntnisstand nicht auf einem organischen Prozess beruhen und auch nicht der Kategorie „Schwachsinn“ oder „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ 117 © 2010 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Volbert/Dahle: Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren.
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Beurteilung des Schweregrads
zuzuordnen sind. Es handelt sich um schwere Persönlichkeitsstörungen, suchtbedingte Persönlichkeitsveränderungen, sexuelle Deviationen und intensive länger dauernde Anpassungsstörungen (Kröber, 2007). Anders als bei den schizophrenen und affektiven Psychosen oder den hirnorganisch bedingten psychischen Störungen, die eo ipso als krankhafte seelische Störungen im Sinne des § 20 StGB eingeordnet werden, stellt nicht jede diagnostizierte Persönlichkeitsstörung eine schwere andere seelische Abartigkeit im Sinne des Gesetzes dar. Das Adjektiv „schwer“ verweist darauf, dass es sich um Störungen mit einer besonderen Ausprägung handeln muss. Nur solche Persönlichkeitsstörungen sollten als schwere andere seelische Abartigkeit eingeordnet werden, die in ihrem Gewicht den krankhaften seelischen Störungen entsprechen und Symptome aufweisen, die in ihrer Gesamtheit das Leben des Täters vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen stören, belasten und einengen (vgl. Schreiber & Rosenau, 2009). Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe aus Juristen, forensischen Psychiatern, Psychologen und Sexualmedizinern hat im Rahmen der Formulierung von Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten Gründe formuliert, die für oder gegen die Einstufung einer Persönlichkeitsstörung als schwere andere seelische Abartigkeit sprechen (Bötticher et al., 2005).
Beurteilung des Schweregrads bei Persönlichkeitsstörungen
Gründe für die Einstufung einer Persönlichkeitsstörung als schwere andere seelische Abartigkeit (Bötticher et al., 2005):
• Erhebliche Auffälligkeiten der affektiven Ansprechbarkeit bzw. der Affektregulation • Einengung der Lebensführung bzw. Stereotypisierung des Verhaltens • Durchgängige und wiederholte Beeinträchtigung der Beziehungsgestaltung und psychosozialen Leistungsfähigkeit durch affektive Auffälligkeiten, Verhaltensprobleme sowie unflexible, unangepasste Denkstile • Durchgehende Störung des Selbstwertgefühls • Deutliche Schwäche von Abwehr- und Realitätsprüfungsmechanismen Gründe gegen die Einstufung einer Persönlichkeitsstörung als schwere andere seelische Abartigkeit (Bötticher et al., 2005):
• Auffälligkeiten der affektiven Ansprechbarkeit ohne schwerwiegende Beeinträchtigung der Beziehungsgestaltung und psychosozialen Leistungsfähigkeit • Weitgehend erhaltene Verhaltensspielräume • Selbstwertproblematik ohne durchgängige Auswirkungen auf die Beziehungsgestaltung und psychosoziale Leistungsfähigkeit • Intakte Realitätskontrolle, reife Abwehrmechanismen • Altersentsprechende biografische Entwicklung. 118 © 2010 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Volbert/Dahle: Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren.
Zur Beurteilung des Schweregrads von Paraphilien sind von der Expertenkommission zu prüfende Bereiche sowie Anhaltspunkte formuliert worden, die für die Einstufung einer Paraphilie als schwere andere seelische Abartigkeit sprechen (Bötticher et al., 2005; vgl. auch Pfäfflin, 2009).
Beurteilung des Schweregrads bei Paraphilien
Geprüft werden muss: • der Anteil der Paraphilie an der Sexualstruktur, • die Intensität des paraphilen Musters im Erleben, • die Integration der Paraphilie in das Persönlichkeitsgefüge, • die bisherigen Fähigkeiten des Probanden zur Kontrolle paraphiler Impulse. Gründe für die Einstufung einer Paraphilie als schwere andere seelische Abartigkeit (Bötticher et al., 2005):
• Die Sexualstruktur ist weitestgehend durch die paraphile Neigung bestimmt. • Eine ich-dystone (ich-fremde) Verarbeitung führt zur Ausblendung der Paraphilie. • Eine progrediente Zunahme und „Überflutung“ durch dranghafte paraphile Impulse mit ausbleibender Satisfaktion beherrscht zunehmend das Erleben und drängt zur Umsetzung auf der Verhaltensebene. • Andere Formen soziosexueller Befriedigung stehen dem Beschuldigten aufgrund (zu beschreibender) Persönlichkeitsfaktoren und/oder (zu belegender) sexueller Funktionsstörungen erkennbar nicht zur Verfügung.
4.1.2.4 Tiefgreifende Bewusstseinsstörung Hierunter werden normalpsychologische Bewusstseinseinengungen erfasst. Das Adjektiv „tiefgreifend“ bringt wiederum zum Ausdruck, dass nur solche Bewusstseinsstörungen gemeint sind, die das Persönlichkeitsgefüge in vergleichbar schwerwiegender Weise beeinträchtigen wie eine krankhafte seelische Störung. Zu einem geringen Teil handelt es sich hier um Übermüdungs-, Erschöpfungs- und Dämmerzustände. Der bedeutsamste Anwendungsfall ist jedoch der hochgradige Affekt (vgl. Schöch, 2007). Dieses Eingangsmerkmal fällt insofern aus der übrigen Systematik des § 20 StGB heraus, weil Ausnahmesituationen psychisch gesunder Menschen erfasst werden. Im Vergleich zu den anderen Merkmalskategorien des § 20 StGB ergeben sich deswegen besondere Beurteilungsprobleme: Bei den affektiven Durchbrüchen handelt es sich um kurzdau-
Ausnahmezustände psychisch gesunder Menschen
Affekttaten
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ernde, meist aus einer Konflikt- oder Belastungssituation entstehende seelische Ausnahmezustände bei Menschen, die zwar nicht im engeren Sinne psychisch erkrankt sind, die aber dennoch psychische Auffälligkeiten zeigen können. Die Tatzeitverfassung wird dabei weitgehend über das subjektive Erleben des Täters erfasst, wobei die besondere Schwierigkeit darin besteht, dass die Untersuchung meist erst Monate, manchmal Jahre nach der Tat durchgeführt wird (Foerster & Venzlaff, 2009). Letztlich bestehen bereits Schwierigkeiten, überhaupt definierende Merkmale zu formulieren, die eine Erfassung auf der ersten Stufe des Beurteilungsprozesses erlauben. Gängige Merkmalssysteme zur Beurteilung von Affektdelikten erfassen immer auch Aspekte der spezifischen Tat, die bei Störungen, die den anderen drei Merkmalen des § 20 StGB zuzuordnen sind, erst auf der zweiten Stufe relevant sind (zu den Merkmalssystemen siehe Kapitel 4.1.4).
4.1.3 Beurteilung der Einsichtsund Steuerungsfähigkeit Ist mindestens eins der vier Eingangsmerkmale erfüllt, ist im nächsten Schritt zu prüfen, ob sich der psychopathologische Zustand ursächlich auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat und falls ja, wie schwerwiegend das Ausmaß der Beeinträchtigung war. Bezug zur konkreten Tat
Einsichts- und Steuerungsfähigkeit sind jeweils im Hinblick auf die konkrete Tat zu prüfen und können für eine Tat bejaht, für eine andere Tat aber verneint werden, selbst bei tateinheitlichem Zusammenwirken mehrerer Delikte (Schöch, 2007).
4.1.3.1 Einsichtsfähigkeit Die Einsichtsfähigkeit bezieht sich auf die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der begangenen Tat einzusehen. Zu beachten ist, dass teilweise die Auffassung vertreten wird, das Fehlen der Einsichtsfähigkeit stelle nur einen besonderen Anwendungsfall des umfassenderen Verbotsirrtums gemäß § 17 StGB dar. Dort wird der Schuldausschluss bzw. die Schuldminderung ohne Bindung an bestimmte psychische Voraussetzungen von der Unvermeidbarkeit des Irrtums abhängig gemacht. Schöch (2007) weist allerdings darauf hin, dass Maßnahmen nach §§ 63, 64 und 69 Abs. 1 StGB nur bei Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB, nicht aber bei bloßer Verbotsunkenntnis möglich sind, deswegen könne bei Einsichtsunfähigkeit die Zuordnung zu einem der Eingangsmerkmale des § 20 StGB nicht unterbleiben.
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4.1.3.2 Steuerungsfähigkeit Die Steuerungsfähigkeit ist nur zu prüfen, wenn der Täter die Rechtswidrigkeit der Tat entweder eingesehen hat oder einsehen konnte. Bei der Steuerungsfähigkeit geht es um die Fähigkeit, die Anreize zur Tat und die ihr entgegenstehenden Hemmungsvorstellungen gegeneinander abzuwägen und danach einen Willensentschluss zu normgemäßen Verhalten zu bilden. Sie ist nur dann auszuschließen, wenn der Täter auch bei Aufbietung aller Widerstandskräfte zu einer normgemäßen Motivation nicht imstande ist (Schöch, 2007). Es existieren keine, für alle Konstellationen gültigen Entscheidungskriterien für die Steuerungsfähigkeit; vielmehr ist immer eine einzelfallorientierte und störungsspezifische Gesamtbeurteilung notwendig.
4.1.4 Grundlagen zur Beurteilung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit bei verschiedenen Störungen Im Rahmen dieses Kompendiumbandes kann nicht auf Begutachtungsprobleme bei jedem Störungsbild eingegangen werden, vielmehr können nur für die praktische Begutachtung besonders relevante Konstellationen exemplarisch aufgegriffen werden (für ausführliche Darstellungen zu Einzelfragen siehe z. B. Foerster & Dreßing, 2009b; Kröber, 2007; Schöch, 2007). Der Sachverständige hat neben der Diagnose der Störung anhand der vier Eingangsmerkmale des § 20 StGB dem Gericht dazulegen, in welcher Weise und in welchem Ausmaß aus seiner fachwissenschaftlichen Sicht Einsichts- und Steuerungsfähigkeit durch die festgestellte Störung bei der Tat beeinträchtigt war. Das abschließende normative Urteil über die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ist ausschließlich Aufgabe des Gerichts.
Gutachterliche Bewertung
Die der Gruppe der krankhaften seelischen Störungen zuzurechnenden Krankheitsbilder werden in der Regel kaum von psychologischen, sondern von psychiatrischen Sachverständigen begutachtet. Hier ergeben sich meist vergleichsweise geringe Begutachtungsprobleme. Liegt eine akute Schizophrenie vor und handelt es sich um eine wahnhaft motivierte Tat, wird in der Regel bereits von einer Aufhebung der Einsichtsfähigkeit auszugehen sein. Aber auch in den Fällen, in denen in akuten Phasen noch eine Resteinsicht in das Unrecht des Tuns anzunehmen ist, führen Denkstörungen und Wahndynamik meist zu einer Aufhebung des Hemmungsvermögens und der Steuerungsfähigkeit. In subakuten Zuständen kommt es bei der Frage der Abgrenzung zwischen aufgehobener
Schizophrenien
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und erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit darauf an, inwieweit sich im Tatzeitraum außerhalb des delinquenten Handelns Elemente sinnvollrationaler Handlungssteuerung finden lassen. Bestand zum Tatzeitpunkt keine produktive Symptomatik, liegen aber Negativsymptome und kognitive Beeinträchtigungen vor, rechtfertigen diese – sofern es sich um eindeutige und erhebliche Störungen handelt – auch ohne Produktivsymptomatik oft die Annahme einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit. Bei voll remittierten oder deutlich gebesserten Schizophrenien ist dagegen von voller Schuldfähigkeit auszugehen, wobei allerdings besonders sorgfältig geprüft werden muss, ob die Straftat eventuell den Beginn einer psychotischen Exazerbation darstellt (Müller-Isberner & Venzlaff, 2009). Akute Alkoholisierung
Blutalkoholkonzentration
Bei akuten Alkoholisierungen ist zur Schweregradbestimmung der Alkoholisierung eine umfassende und detaillierte Beschreibung des psychischen, körperlichen und sozial-kommunikativen Funktionsniveaus des Probanden erforderlich. Zu beurteilen sind dabei körperlich-neurologische Symptome, kognitive Symptome, affektive Veränderungen sowie Verhaltensauffälligkeiten. Die Bedeutung der Blutalkoholkonzentration für die Einschätzung des Schweregrads einer Alkoholisierung ist demgegenüber gering, da keine lineare Abhängigkeit der Symptomatik einer Alkoholisierung von der Blutalkoholkonzentration besteht (Kröber, 2001). Traten ausgeprägte Orientierungsstörungen mit Personen- und Situationsverkennungen auf oder Zustände, in denen das Verhalten von Halluzinationen und Wahnvorstellungen bestimmt war, ist vom Vorliegen einer aufgehobenen Steuerungsfähigkeit auszugehen. Bei der Beurteilung alkoholintoxikierter Täter ist die psychopathologische Symptomatik jedoch meist sehr viel weniger eindeutig. Hinweise auf das Vorliegen einer erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit bei akuter Alkoholisierung ergeben sich beispielsweise aus: deutliche Beeinträchtigungen von Motorik und Koordination, Beeinträchtigungen im formalen Denkablauf (Perseverationen, verminderte Flexibilität, reduziertes Auffassungsvermögen), verminderte Reagibilität auf Außenreize, deutliche affektive Veränderungen, ausgeprägte emotionale Labilität, hohe Impulsivität des Tatablaufs mit Fehlen von Tatplanung und Risikoabsicherung. Dagegen sprechen folgende Aspekte trotz Alkoholisierung gegen eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit: genaue Vorbereitung und planmäßige Ausführung der Tat; logische und schlüssige Handlungssequenzen; motorische Koordinationsleistungen mit zielgerichteter Gestaltung der Tat und lang hingezogenem Tatgeschehen bei komplexem Handlungsablauf; umsichtiges Reagieren auf plötzlich und unerwartet sich ändernde Situationen; geordnetes Rückzugsverhalten mit Spurenverdeckung (Foerster, 2009a). 122
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Auch bei der Beurteilung akuter Drogenwirkungen ist zunächst zu klären, welche konkreten psychopathologischen und körperlichen Symptome aufgrund der eingenommenen Substanzen vorlagen. Je nach Ausprägungsgrad und Qualität der psychopathologischen Symptomatik ergeben sich Auswirkungen auf die Steuerungsfähigkeit. Auch eine psychopathologisch oder körperlich ausgeprägte Entzugssymptomatik kann zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit führen (Foerster, 2009b).
Akute Drogenwirkungen
Bei der Beurteilung der intellektuellen Beeinträchtigungen treten in der Regel ebenfalls keine erheblichen Begutachtungsprobleme auf. Zu warnen ist allerdings vor einer schematischen Beurteilung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit aufgrund der rein numerischen Feststellung einer Intelligenzminderung aufgrund eines unter 70 liegenden Intelligenzquotienten. Insbesondere bei ausgeprägten und hochgradigen intellektuellen Beeinträchtigungen ist ein Intelligenzquotient nur sehr ungenau zu messen. Daher sind immer auch lebenspraktische Fertigkeiten zu erfassen, um das Ausmaß der Beeinträchtigung zu beschreiben. Bei ausgeprägten und hochgradigen Beeinträchtigungen der geistigen Entwicklung sind die Möglichkeiten des sozialen Verständnisses derart begrenzt, dass Einsichtsfähigkeit in das Unrecht von Straftaten nicht anzunehmen ist. Allerdings spielt die Begutachtung von Personen mit derart gravierenden intellektuellen Beeinträchtigungen in der Praxis kaum eine Rolle. Zu begutachten sind in der Regel Probanden mit leichten bis allenfalls mittelgradigen Beeinträchtigungen der geistigen Entwicklung. Bei diesem Personenkreis besteht trotz kognitiver Einschränkungen häufig noch Einsichtsfähigkeit im Hinblick auf einfache strafrechtlich relevante Sachverhalte wie Diebstahl oder Körperverletzung. Bei komplexeren Delikten, deren Strafbarkeit nicht gut überschaubar ist oder bei denen ein geistig Behinderter von anderen gezielt eingesetzt wurde, ist die Einsichtsfähigkeit demgegenüber möglicherweise nicht mehr gegeben. Häufig ist jedoch eher die Steuerungsfähigkeit als die Einsichtsfähigkeit beeinträchtigt (Günter, 2009a).
Intellektuelle Beeinträchtigungen
Bei der Beurteilung der sogenannten schweren anderen seelischen Abartigkeiten ist zunächst darauf hin zu weisen, dass die Stellungnahme zum Schweregrad der Störung (vgl. hierzu Kapitel 4.1.2.3) getrennt werden sollte von der Diskussion der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit (Bötticher et al., 2005). Auch bei schweren Persönlichkeitsstörungen kommt eine Beeinträchtigung der Einsichtsfähigkeit in der Regel nicht in Betracht. Ebenso ist eine völlig aufgehobene Steuerungsfähigkeit bei dieser Kategorie nur in ganz begründeten Ausnahmefällen denkbar. Im Wesentlichen geht es also um die Frage, ob die Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt gewesen ist oder nicht. Zur Beantwortung der Frage ist eine detaillierte Analyse der Tatumstände erforderlich (u. a. Verhalten vor, während und nach der Tat, Beziehung; Dreßing, 2009).
Persönlichkeitsstörungen
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Anhaltspunkte für forensisch relevante Beeinträchtigungen der Steuerungsfähigkeit bei Persönlichkeitsstörungen (Bötticher et al., 2005):
• Konflikthafte Zuspitzung und emotionale Labilisierung in der Zeit vor dem Delikt, • abrupter und impulshafter Tatablauf, • relevante konstellative Faktoren (z. B. Alkoholintoxikation), • enger Zusammenhang zwischen („komplexhaften“) Persönlichkeitsproblemen und der Tat.
Anhaltspunkte gegen eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit bei Persönlichkeitsstörungen (Bötticher et al., 2005):
• • • • • • • Paraphilien
Tatvorbereitung, Hervorgehen des Deliktes aus dissozialen Verhaltensbereitschaften, planmäßiges Vorgehen bei der Tat, Fähigkeit zu warten, langhingezogenes Tatgeschehen, komplexer Handlungsablauf in Etappen, Vorsorge gegen Entdeckung, Möglichkeit anderen Verhaltens unter vergleichbaren Umständen
Für die Beurteilung der Steuerungsfähigkeit bei schweren Paraphilien gelten zunächst dieselben allgemeinen Überlegungen wie bei den schweren Persönlichkeitsstörungen. Anhaltspunkte für forensisch relevante Beeinträchtigungen der Steuerungsfähigkeit bei Paraphilien (Bötticher et al., 2005):
• Konflikthafte Zuspitzung und emotionale Labilisierung in der Zeit vor dem Delikt mit vorbestehender und länger anhaltender triebdynamischer Ausweglosigkeit, • Tatdurchführung auch in sozial stark kontrollierter Situation, • abrupter, impulshafter Tatablauf, wobei jedoch ein paraphil gestaltetes und zuvor (etwa in der Fantasie) „durchgespieltes“ Szenario kein unbedingtes Ausschlusskriterium für eine Verminderung der Steuerungsfähigkeit ist, sofern dieses Szenario der (den) diagnostizierten Paraphilie(n) entspricht und eine zunehmende Progredienz nachweisbar ist, • archaisch-destruktiver Ablauf mit ritualisiert wirkendem Tatablauf und Hinweisen für die Ausblendung von Außenreizen, 124 © 2010 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Volbert/Dahle: Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren.
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• konstellative Faktoren (z. B. Alkoholintoxikation, Persönlichkeitsstörung, eingeschränkte Intelligenz), die u. U. auch kumulativ eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit bedingen können. Auch bei alleinigem Vorliegen einer Alkohol- oder Drogenabhängigkeit sind die Voraussetzungen einer aufgehobenen Steuerungsfähigkeit nicht gegeben, sie können beim Bestehen weiterer Komplikationen, etwa beim Vorliegen alkoholischer Psychosen, in Betracht kommen. Eine eingeschränkte Steuerungsfähigkeit ist vor allem dann zu diskutieren, wenn es im Verlauf einer chronischen Abhängigkeit zu schweren Persönlichkeitsveränderungen gekommen ist. Wenn es bei der Beurteilung nachgewiesen chronisch drogenabhängiger Täter um indirekte Beschaffungskriminalität geht, sind in der Regel ebenfalls die Voraussetzungen einer eingeschränkten Steuerungsfähigkeit gegeben (Foerster, 2009a, 2009b).
Substanzabhängigkeit
Von verschiedenen Autoren sind Kriterienkataloge zur Beurteilung von affektiven Ausnahmezuständen entwickelt worden. Diese Merkmalskataloge sind von verschiedenen Seiten kritisiert worden (z. B. Steller, 1993), haben aber große Resonanz in der Literatur und der Rechtsprechung gefunden (Schöch, 2007). Von Saß (1983, 1985) wurde ein Katalog mit Positiv- und Negativmerkmalen aufgestellt (vgl. Tab. 11).
Affekttaten
Tabelle 11: Merkmalskatalog für Affekttaten (Saß, 1985) Für eine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit sprechen demnach:
Gegen eine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit sprechen dagegen:
11. Spezifische Vorgeschichte und Tatanlaufzeit 12. Affektive Ausgangssituation mit Tatbereitschaft 13. Psychopathologische Disposition der Persönlichkeit 14. Konstellative Faktoren (Alkohol, Medikamente, Übermüdung) 15. Enger Zusammenhang Provokation – Erregung – Tat 16. Abrupter elementarer Tatablauf ohne Sicherungstendenzen 17. Einengung des Wahrnehmungsfeldes und der seelischen Abläufe 18. Vegetative psychomotorische und psychische Begleiterscheinungen heftiger Affekterregung 19. Charakteristischer Affektaufbau und -abbau 10. Folgeverhalten mit schwerer Erschütterung
1. Vorbereitungshandlungen für die Tat 2. Konstellation der Tatsituation durch den Täter 3. Zielgerichtete Gestaltung des Tatablaufs vorwiegend durch den Täter 4. Komplexer Handlungsablauf in unterschiedlichen Etappen 5. Länger hingezogenes Tatgeschehen 6. Exakte, detaillierte Erinnerung 7. Vorgestaltung in der Fantasie, Tatankündigung und aggressive Handlung in der Tatanlaufzeit
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Merkmalskataloge dürfen keinesfalls als „Checklisten“ missverstanden werden, bei denen man durch das bloße Verrechnen von Kriterien zu einer diagnostischen Aussage kommen kann. Sie können aber als Heuristik dienen für die Beschreibung der Tathandlung und die in ihr verbleibenden Freiheitsgrade vor dem Hintergrund einer Bestandsaufnahme des Verhaltensrepertoires der Person, ihrer kognitiven Bewertungsschemata und emotionalen Reaktionsmuster, ihrer psychischen Defizite und Ressourcen, speziell ihres Bindungsstils und ihrer Muster der Konfliktbewältigung, jeweils bezogen auf die Anforderungen der Situation und verglichen mit vorausgegangenen Bewältigungsversuchen in früheren ähnlichen Konflikten (Endres, 2008).
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Merke: Für die Beurteilung von Affekttaten sind Befunde aus folgenden Bereichen zu berücksichtigen (Foerster & Venzlaff, 2009): • Persönlichkeit, • Affektentwicklung, • Tatablauf, • Nachtatverhalten, • Konstellative Faktoren. Die Datenintegration bleibt eine auf den Einzelfall bezogene klinische Urteilsbildung (Steller, 1993).
4.2 Die Begutachtung der strafrechtlichen Entwicklungsreife junger Täter
4.2.1 Rechtliche Grundlagen Das Jugendstrafrecht
Obwohl es historisch und länderübergreifend einen weitreichenden Konsens über den strafrechtlichen Milderungsgrund der Minderjährigkeit eines Täters zu geben scheint (z. B. Hommers, 2005), existiert ein dezidiertes Sonderstrafrecht für junge Täter hierzulande erst seit 1923 mit Einführung des Jugendgerichtsgesetzes (JGG). Es sieht die weitgehende Entkopplung der Rechtsfolgen einer Straftat vom Strafrahmen des Erwachsenenstrafrechts, eine Anzahl spezifischer Sanktions- und Reaktionsmöglichkeiten und weitere Sonderregelungen vor. Gleichwohl ist das JGG historisch gesehen aus dem Erwachsenenstrafrecht hervorgegangen und nicht aus einer entwicklungspsychologisch fundierten Analyse der spezifischen Bedürfnisse jugendlicher Rechtsbrecher. Es spiegelt daher zuvorderst die Bedürfnisse der Erwachsenenwelt wieder (Lempp, 1997) und „repräsentiert das Ergebnis einer von außen an den Jugendlichen herangetragenen sozialen Erwartung“ (Streng, 1997) an die Sozialverträglichkeit seines Verhaltens. 126
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Neben der grundsätzlichen Privilegierung jugendlicher Täter durch die Möglichkeit milderer Sanktionen8 ist eine wesentliche Besonderheit des Jugendstrafrechts die gegenüber dem Erwachsenenstrafrecht ganz erheblich stärkere Betonung spezialpräventiver (an den Täter als Adressat gerichteter und auf Rückfallverhütung zielender) Sanktionszwecke gegenüber Gesichtspunkten des Schuldausgleichs oder der (an die Gesellschaft als Adressat gerichteten) Generalprävention. Demnach sollen in erster Linie erneuten Straftaten des jungen Täters entgegengewirkt und zu diesem Zweck sowohl die Rechtsfolgen als auch das Strafverfahren selbst vorrangig am Erziehungsgedanken ausgerichtet werden (§ 2 Abs. 1 JGG). Es handelt sich also um ein dezidiertes „Erziehungsstrafrecht“ (Streng, 2003), das sich primär am Täter und an dessen (kriminogenen) Bedürfnissen zu orientieren hat („Täterstrafrecht“, ebd.) und weniger an der Art und Schwere der von ihm begangenen Verfehlungen. Dölling (2007) zufolge legitimiert sich eine strafrechtliche Sanktion bei Jugendlichen ausschließlich durch seinen Erziehungsbedarf. Art und Ausmaß der Sanktion werden demnach allein durch das erzieherisch Erforderliche bemessen und nur in der Sanktionshöhe nach oben durch Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkte begrenzt.
Ziele des Jugendstrafrechts
Zu diesen erzieherischen Zwecken hält das JGG neben der – bei expliziter Feststellung „schädlicher Neigungen“ (§ 17 Abs. 2 JGG) zu verhängenden – Freiheitsstrafe (Jugendstrafe gem. §§ 17 f JGG) und den Maßregeln der Besserung und Sicherung (§ 7 JGG) weitere und mildere Reaktionsmöglichkeiten in Form sogenannter Erziehungsmaßregeln (richterliche Weisungen und die Anordnung von Hilfen zur Erziehung gem. §§ 9 ff JGG) und Zuchtmittel (richterliche Verwarnung, Auflagen und Jugendarrest gem. §§ 13 ff JGG) für den Jugendrichter bereit, die das Erwachsenenstrafrecht in dieser Form nicht kennt. Weiterhin bietet das JGG mehr Möglichkeiten der Reaktion auf die Verfehlung eines Jugendlichen unter Umgehung einer förmlichen strafrechtlichen Verfolgung („Diversion“, §§ 45, 47 JGG) und das Jugendstrafrecht schließt einige strafrechtliche Nebenfolgen, wie den Verlust passiver und aktiver öffentlicher Rechte, explizit aus (§ 6 JGG). Nicht zuletzt dienen weitere Sonderbestimmungen im JGG (aber auch in anderen Gesetzen, wie z. B. dem Bundeszentralregistergesetz) dem Ziel, bei jugendlichen Tätern schädigenden und stigmatisierenden Nebenfolgen der Strafe und der Strafverfolgung vorzubeugen. Der folgende Kasten fasst die wesentlichen Spezifika des Jugendstrafrechts zusammen.
Weitere Besonderheiten des Jugendstrafrechts
8 Die grundsätzliche zeitliche Befristung freiheitsentziehender Sanktionen für nicht dezidiert psychisch gestörte jugendliche Straftäter wurde allerdings durch die am 12. 7. 2008 neu eingeführte nachträgliche Sicherungsverwahrung für Jugendliche unlängst aufgeweicht.
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Besonderheiten des Jugendstrafrechts gegenüber dem Erwachsenenstrafrecht
• Auswahl und Bemessung der Rechtsfolgen einer Tat primär am erzieherischen Bedarf, demgegenüber geringere Bedeutung von Tatschuld und generalpräventiven Erwägungen (Erziehungsstrafrecht). • Hierdurch stärkere Orientierung am Täter und seinen spezifischen Bedürfnissen im Vergleich zu seiner konkreten Tat (Täterstrafrecht). • Weitgehende Entkopplung der Sanktionsbemessung vom Strafrahmen des StGB. • Differenzierteres und feiner abgestuftes System möglicher Sanktionen und Maßnahmen als Rechtsfolge einer Straftat. • Erweiterte Möglichkeiten von Reaktionen auf jugendliche Delinquenz unter Umgehung/Aussetzung einer förmlichen Strafverfolgung („Diversion“). • Schutzbestimmungen, um schädlichen Nebenfolgen der strafrechtlichen Verfolgung einer Straftat vorzubeugen. Geltungsbereich des Jugendstrafrechts
Der Geltungsbereich des JGG wurde vom Gesetzgeber durch die Vorgabe von Altersgrenzen festgelegt. Demnach gelten Personen unter 14 Jahren als grundsätzlich strafrechtlich schuldunfähig (Kinder i. S. des § 19 StGB), auf deren Verfehlungen nicht mit strafrechtlichen Mitteln reagiert werden darf, sondern allenfalls mit den Eingriffsmöglichkeiten, die das Kinderund Jugendhilferecht bietet.9 Nach oben hin ist das JGG zunächst auf Personen bis zum Alter von 18 Jahren begrenzt (Jugendliche i. S. des § 1 Abs. 2 JGG). Für ältere Personen bis zum Alter von 21 Jahren (Heranwachsende i. S. des § 1 Abs. 2 JGG) können jedoch unter bestimmten Voraussetzungen wesentliche Teile des Jugend- anstelle des Erwachsenenstrafrechts Anwendung finden. Die Vorgabe von Altersschwellen und vor allem auch ihre konkrete Bestimmung sind nicht ohne Kritik geblieben. Vielfach wird die Willkürlichkeit der Altersgrenzen beklagt und darauf hingewiesen, dass es angesichts der Vielschichtigkeit und Differenziertheit von Entwicklungs- und Reifungsprozessen im Jugend- und Heranwachsendenalter hierfür weder überzeugende reifungsbiologische noch entwicklungspsychologische oder entwicklungsneurologische Begründungen gibt. Auf der anderen Seite scheinen die Altersschwellen im internationalen Vergleich, trotz teilweise sehr unterschiedlicher Sanktionssysteme, weitgehend im Mittelfeld zu liegen (z. B. Ostendorf, 1997). Zudem mehren sich empirische Hinweise und Belege, dass in den Lebensphasen um die jugendstrafrechtlichen Eingangs- und Ausgangsschwellen durchaus relevante kogni9 Hiervon unberührt ist die zivilrechtliche Frage nach der Delikthaftung für einen von einem Kind verursachten Schaden, für die der Gesetzgeber eine Altersschwelle von 7 Jahren – bei Verkehrsdelikten von 10 Jahren – vorsieht (§ 828 BGB).
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tive, psychische und neurologische Entwicklungsprozesse mit Implikationen für die Kompetenzen zur Handlungsreflexion und -steuerung stattfinden (vgl. Hommers & Lewand, 2001; Hommers 2005; Klosinski, 2009 sowie Ritz-Schulte, 2008; Silbereisen, 2005; Steinberg & Scott, 2003 u. v. m.). Deren Reichweite ragt teilweise durchaus noch bis ins jüngere Erwachsenenalter hinein (z. B. Gogtay et al., 2004), gleichwohl endet mit Vollendung des 21. Lebensjahrs die Zuständigkeit des Jugendstrafrechts endgültig und es gilt das Erwachsenenstrafrecht. Entwicklungsfaktoren finden hiernach allenfalls noch bei der Frage der strafrechtlichen Schuldund Sanktionszumessung innerhalb der Strafrahmen des StGB strafmildernde Berücksichtigung. Trotz grundsätzlicher Anwendbarkeit des (Jugend-)Strafrechts für Täter jenseits des 14. Lebensjahrs hat der Gesetzgeber die Strafmündigkeit des Jugendlichen an die weitere Voraussetzung geknüpft, dass dieser bei Tatbegehung auch in der Lage war, das Unrecht der Tat zu erkennen und entsprechend zu handeln (bedingte Strafmündigkeit). Bereits hingewiesen wurde darauf, dass der Gesetzgeber zudem die obere Altersschwelle des JGG insoweit aufgeweicht hat, als dessen Reichweite zwar grundsätzlich bis zum Alter von 18 Jahren, gegebenenfalls aber auch noch bis 21 Jahre reicht. Im Kern geht es bei diesen Relativierungen der altersmäßigen Eingangs- und Ausgangsschwellen des Jugendstrafrechts um das Ausmaß der strafrechtlichen Vorwerfbarkeit einer Verfehlung des jungen Täters im Lichte seiner Entwicklungsreife und insoweit um die Frage nach der Bedeutung etwaiger entwicklungsabhängiger Kompetenzdefizite für die Tatbegehung. Diese Entwicklungsreife hat das Gericht bei jugendlichen und heranwachsenden Tätern in jedem Einzelfall zu prüfen. Schon wegen des hiermit verbundenen quantitativen Aufkommens wird das Gericht diese Prüfung – mit Unterstützung der Jugendgerichtshilfe – im Regelfall in eigener Sachkompetenz vornehmen und die Herbeiziehung sachverständiger Hilfe auf besondere und auffällige Fallkonstellationen beschränken (Dölling, 2007; Streng, 1997). Nicht zuletzt sprechen aber auch Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkte für die Begrenzung sachverständiger Zuarbeit auf besondere Fälle. Die sorgfältige diagnostische Abklärung des Entwicklungsstandes eines jungen Täters erfordert ja nicht nur einen beträchtlichen Zeitaufwand für die Beteiligten, sondern bedeutet auch tiefe Einblicke in das Leben und die Persönlichkeit des Betroffenen (vgl. Dölling, 2007), die nicht ohne Weiteres in jedem Fall gerechtfertigt erscheinen.
Rechtliche Relativierungen der Strafmündigkeit und Schuldzumessung junger Täter
Wegen der Beschränkung auf besondere Fallkonstellationen erfolgen Aufträge an Sachverständige selten allein mit der Frage nach der strafrechtlichen Entwicklungsreife, sondern oft im Verbund mit weiteren Fragestellungen – häufig nach möglichen Schuldeinschränkungen wegen seelischer Störung (§§ 20, 21 StGB, siehe hierzu Kapitel 4.1), vielfach auch ergänzt
Begutachtung junger Täter durch Sachverständige
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durch die prognostische Frage nach einer etwaig störungsbedingten Gefährlichkeit als Voraussetzung für eine Unterbringung im Maßregelvollzug (§ 7 JGG in Verbindung mit §§ 63 ff StGB; vgl. Kapitel 3). Man mag spekulieren, ob möglicherweise aus diesem Grund die juristischen Vorgaben an das konkrete inhaltliche und methodische Vorgehen des Sachverständigen bei der Beurteilung der strafrechtlichen Entwicklungsreife vergleichsweise gering sind. Einschlägige Rechtsprechung hierzu liegt nur wenig vor und dezidierte „Mindeststandards“ für die Beurteilungsmethodik, wie sie für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung von Zeugenaussagen höchstrichterlich festgeschrieben wurden (vgl. Kapitel 2), aber auch für die sachverständige Prognose- (vgl. Kapitel 3) und für die Schuldfähigkeitsbeurteilung nach §§ 20, 21 StGB (vgl. Kapitel 4.1) vorliegen, stehen zumindest derzeit noch aus. Aber auch auf Seiten der forensischen Psychowissenschaften fristet die Begutachtung der strafrechtlichen Entwicklungsreife im Vergleich zu anderen forensischen Fragestellungen eher ein Schattendasein (Literaturübersicht bei Karle, 2003).
4.2.2 Die Begutachtung der strafrechtlichen Entwicklungsreife jugendlicher Täter 4.2.2.1 Die bedingte Strafmündigkeit Jugendlicher Die bedingte Strafmündigkeit jugendlicher Täter ergibt sich aus dem Wortlaut des § 3 JGG: § 3 JGG Strafrechtliche Verantwortlichkeit Jugendlicher
Ein Jugendlicher ist strafrechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Zur Erziehung eines Jugendlichen, der mangels Reife strafrechtlich nicht verantwortlich ist, kann der Richter dieselben Maßnahmen anordnen wie das Familiengericht. Methodische Implikationen der zweiteiligen Rechtsvorschrift
Von seiner Struktur her erinnert die zweiteilige – einen psychischen Zustand (des Täters) und dessen Folgen (für das Tatgeschehen) differenzierende – Vorschrift an die gesetzlichen Vorgaben zur Beurteilung der strafrechtlichen Schuldfähigkeit bei psychischen Störungen. Es werden daher gewöhnlich Parallelen zum zweistufigen methodischen Vorgehen bei der Begutachtung gem. §§ 20, 21 StGB („psychologisch-normative Methode“; vgl. Kapitel 4.1) gezogen, wenn es um die Beurteilung der Entwicklungsreife nach § 3 JGG geht. Die Analogie hat freilich Grenzen. Zunächst besteht ein grundsätzlicher Unterschied in der Prüfrichtung, demnach es bei 130
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der Schuldfähigkeit bei psychischer Störung um die Frage fehlender oder zumindest erheblich eingeschränkter Fähigkeiten geht, demgegenüber § 3 JGG in jedem Einzelfall die entgegengesetzte positive Feststellung von Fähigkeiten verlangt. Es erscheint sehr zweifelhaft, ob eine solche positive Feststellung hinreichender Kompetenzen für ein dem Jugendlichen vorhaltbares Andershandelnkönnen ohne äußere Setzungen in Form normativer Verantwortungszuschreibungen überhaupt gelingen kann; überzeugende psychologische Konzepte gibt es hierzu nicht. Noch bedeutsamer erscheint jedoch, dass mit den vier Eingangsmerkmalen des § 20 StGB psychische Ausnahmesachverhalte umschrieben werden, die mehr oder weniger klar definierbar sind. Ihnen lassen sich jeweils klinische Störungsdiagnosen zuordnen, die allenfalls durch ergänzende Einschätzungen ihres Umfangs und Schweregrades noch näher zu spezifizieren sind. Demgegenüber nimmt § 3 JGG im ersten Teil der Vorschrift auf einen vielschichtigen psychischen Entwicklungsprozess Bezug, der bei jedem Menschen letztlich ein Leben lang anhält. Eine analog den „Eingangsmerkmalen“ des § 20 StGB definierte „Eingangsschwelle“ hinreichender geistiger und sittlicher Entwicklungsreife gibt es nicht und dürfte unabhängig von einem konkreten Tatgeschehen auch kaum zu definieren sein (vgl. hierzu Lempp, 1997). Wohl aufgrund dieser grundlegenden Schwierigkeiten in der Konstruktion der Rechtsvorschrift wird gelegentlich gefordert, dass die Verneinung der strafrechtlichen Schuldreife nach § 3 JGG grundsätzlich die vorherige Feststellung einer vom Tatgeschehen unabhängigen relevanten Entwicklungsverzögerung beim jugendlichen Täter voraussetze (so z. B. Schütze, 1997) – gewissermaßen als Eingangsschwelle für die weitere Prüfung ihrer etwaigen Bedeutung für das Tatgeschehen im zweiten Schritt. Diese Forderung würde zunächst eine vom konkreten Tatgeschehen unabhängige Entwicklungsnorm von Fähigkeiten zum Rechtsbewusstsein und zur Handlungskontrolle implizieren, die es zumindest derzeit nicht gibt, aber angesichts der Vielschichtigkeit denkbarer Tatkonstellationen und hiermit einhergehender potenziell relevanter Einflussfaktoren wohl auch zukünftig nicht zu erwarten ist. Eine dezidierte Retardation als Eingangsvoraussetzung zur Exkulpation jugendlicher Täter entspricht aber auch nicht der gesetzlichen Vorgabe und wurde, soweit erkennbar, bislang auch nicht von der Rechtsprechung erwartet.10 Demgegenüber betont die juristische Literatur eher das Verhältnis zwischen dem Entwicklungsstand des Täters und seinen damit einhergehenden Kompetenzen zum Tatzeitpunkt auf der einen Seite und den spezifischen Anforderungen im Kontext eines Tatgeschehens auf der anderen Seite (z. B. Streng, 1997). Letztlich geht es also um die Frage der Zumutbarkeit rechtmäßig-verantwortlichen Handelns in einer konkreten
Entwicklungsreife versus Entwicklungsverzögerung
10 Vgl. die seit 1981 weitgehend regelmäßigen jährlichen Rechtsprechungsübersichten zum Jugendstrafrecht von Böhm und zuletzt von Dölling (in NStZ und NStZ-RR publiziert).
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Tatsituation in Anerkennung der tatsächlichen Kompetenzen des Täters und seiner unverschuldeten Defizite. Die Bezugnahme auf einen Reifebegriff im ersten Teil der Rechtsvorschrift des § 3 JGG schränkt indessen die Gründe für exkulpierende Kompetenzdefizite auf entwicklungsabhängig kompensierbare Faktoren ein. Sie grenzt diese Gründe somit (1) von Fehlentwicklungen, die aus sich heraus eine Kompensation der relevanten Defizite nicht erwarten lassen, (2) von psychopathologisch begründeten Defiziten (die ggf. unter die Norm der §§ 20, 21 StGB fallen würden) und (3) von reinen Irrtumssachverhalten im Hinblick auf die Unrechtmäßigkeit und Verwerflichkeit der Tat (die ggf. unter die Norm des § 17 StGB fallen würden) ab.
4.2.2.2 Sittliche und geistige Entwicklungsreife Die Rechtsbegriffe der sittlichen und geistigen Entwicklungsreife im ersten Teil des § 3 JGG sind letztlich unbestimmt (vgl. Ostendorf, 2003). Um die Begriffe dennoch inhaltlich zu füllen, wird nahezu durchgängig – oft exklusiv – auf das Stufenkonzept der Moralentwicklung sensu Kohlberg (sittliche Reife) und auf Modelle der kognitiv-intellektuellen Entwicklung (geistige Reife) Bezug genommen (z. B. Schütze & Schmitz, 2003). Ohne Zweifel sind diese entwicklungspsychologischen Konzepte für die Frage der strafrechtlichen Entwicklungsreife jugendlicher Täter von gewisser Augenscheinrelevanz. Sie greifen aber zu kurz, um die tatsächlich für ein normgerechtes Verhalten erforderlichen Kompetenzen im Kontext konkreter Tathandlungen hinreichend zu erfassen. In Abhängigkeit von den Umständen eines Tatgeschehens mögen beispielsweise in einem Fall vor allem soziale Kompetenzen, wie z. B. Fähigkeiten der adäquaten sozialen Wahrnehmung und Informationsverarbeitung (vgl. z. B. Lösel & Bliesener, 1997) oder wirksame Strategien der sozialen Frustrations- und Bedrohungsabwehr, bei Gruppentaten ggf. auch Selbstabgrenzungskompetenzen gegenüber gruppendynamischen Einflüssen eine größere Rolle spielen. In anderen Fällen könnten hingegen eher Kompetenzen zur Selbstreflexion, zum Belohnungsaufschub, zur wirksamen Affektregulation, zur Handlungsinhibition oder zur Risikowahrnehmung gefragt sein. Je nach Kontext eines Tatgeschehens können sich also ganz unterschiedliche Anforderungen an die – entwicklungsabhängigen (!) – Kompetenzen eines Jugendlichen ergeben, die für ein normgerechtes Verhalten in der Tatsituation erforderlich wären. Ein multidimensionales Konzept sittlicher und geistiger Reife
Man mag einwenden, dass sich die hier beispielhaft aufgeführten Kompetenzen bei enger sprachlicher Auslegung von den Rechtsbegriffen der sittlichen und geistigen Entwicklungsreife entfernen. Auf der anderen Seite erscheint ein eng gewähltes Konzept, dass letztlich nur auf kognitive Komponenten Bezug nimmt,11 unzureichend, wenn die Vorgaben des § 3 JGG 11 Auch in der Moralpsychologie nach Kohlberg (1995) geht es ja nicht um moralisches Empfinden oder moralische Handlungskompetenz, sondern um kognitive Fähigkeiten, moralische Werturteile zu fällen und zu begründen.
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in ihrem zweiten Teil nicht nur die hinreichende Reife zur Unrechtseinsicht verlangen, sondern auch die erforderliche Reife, eine solche Einsicht gegebenenfalls entgegen anderweitigen Handlungsimpulsen und äußeren Einflüssen in der Tatsituation handlungswirksam umsetzen zu können. Letztlich geht es bei der Frage nach der strafrechtlichen Vorwerfbarkeit einer Tat ja um die Erwartung grundlegender Kompetenzen für ein normgerechtes und sozialverträgliches Verhalten an den jungen Täter (Streng, 1997). Diese Vorgabe legt insofern einen über bloß kognitive Aspekte hinausgehenden Begriff der sittlichen und geistigen Reife unter Einbezug auch der erforderlichen sozialen, motivationalen, affektiven und ggf. weiterer Fähigkeiten nahe. Dies impliziert eine umfassende multidimensionale Diagnostik des Entwicklungsstandes des jugendlichen Täters (vgl. hierzu auch Karle, 2003). Auf der Linie eines solchen komplexen Begriffsverständnisses liegen auch beispielhaft in der Literatur genannte prototypische Tatkonstellationen, die spezifische Anforderungen an den jugendlichen Täter stellen und daher bei der Beurteilung der strafrechtlichen Entwicklungsreife besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Es handelt sich um Konstellationen, in welchen nach Meinung der Autoren „ein Verantwortlichkeitsausschluss naheliegt“ (Streng, 1997) oder in denen die Strafreife zumindest „möglicherweise verneint werden muss“ (Günter, 2009b). Aufgeführt werden beispielsweise Taten im Kontext starker gruppendynamischer Einflüsse, aber auch Taten unter Einbindung in kriminelle familiäre Aktivitäten (insbesondere bei Delegation durch Autoritätspersonen), Taten durch Jugendliche mit Migrationshintergrund im Kontext kulturell bedingter Normkonflikte oder auch Verzweiflungstaten durch Überforderung der Bewältigungskompetenzen eines Jugendlichen, wie sie etwa bei Kindstötung durch junge Mütter vorliegen können. Bei all diesen Tatkonstellationen – und es ließen sich weitere denken – leuchten erhöhte Anforderungen an die Kompetenzen des Jugendlichen ohne weiteres ein. Es handelt sich jedoch auch hierbei um mehr als nur kognitive Fähigkeiten, die erforderlich wären, in diesen spezifischen Tatsituationen die Erwartung an ein normgerechtes Verhalten erfüllen zu können.
Besondere Tatkonstellationen
In der Konsequenz verlangt die Rechtsvorschrift in § 3 JGG in ihrem ersten Abschnitt also eine vergleichsweise komplexe Beurteilung des individuellen Entwicklungsstandes des jungen Täters in den unterschiedlichsten Bereichen und seiner damit einhergehenden spezifischen Möglichkeiten und Begrenzungen zum Zeitpunkt des Tatgeschehens. Dezidierte diagnostische Methoden und feste Außenkriterien liegen hierfür jedoch nicht vor. Zwar lassen sich für bestimmte Teilaspekte, wie z. B. der Entwicklung von Fähigkeiten zur moralischen Urteilsbildung (Hommers, 2005; NunnerWinkler, 2008), der Entwicklung von Rechtsbewusstsein (Uslucan, 2005) oder von Fähigkeiten zur sozialen Wahrnehmung und Informations-
Idiografische Beurteilung der Entwicklungsreife
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verarbeitung (Lösel & Bliesener, 1997), aber auch hinsichtlich des allgemeinen Entwicklungsstandes der Wert- und Lebensorientierungen (z. B. Dreher & Dreher, 1985; Havighurst, 1952) durchaus spezifische inhaltliche und methodische Konzepte aus der Entwicklungspsychologie heranziehen. Diese bilden jedoch stets nur Ausschnitte der relevanten Voraussetzungen ab. Die eigentliche Gesamtbeurteilung erfordert eine Integration dieser unterschiedlichen Facetten und Entwicklungsstränge zu einem Gesamtbild des Entwicklungsstandes des Jugendlichen und seiner spezifischen Fähigkeiten und Grenzen zum Tatzeitpunkt. Dies ist nur im Rahmen eines komplexen klinisch-idiografischen Urteilsbildungsprozesses möglich.
4.2.2.3 Einsichtsfähigkeit und Fähigkeit zum einsichtsgemäßen Handeln Der zweite Teil des § 3 JGG gibt vor, dass der jugendliche Täter aufgrund seiner Entwicklungsreife prinzipiell in der Lage gewesen sein muss, im Kontext des Tatgeschehens das Unrecht der Tat zu erkennen (Einsichtsfähigkeit) und entsprechend dieser Einsicht zu handeln (Steuerungsfähigkeit); mithin dass er bei zumutbarer Gewissensanspannung und Anstrengung in Anbetracht des Entwicklungsstands seiner Fähigkeiten und Möglichkeiten auch hätte anders handeln können, als er es mit der Tat getan hat. In Analogie zur insoweit wortgleichen Formulierung des § 20 StGB wird dieser Teil der Vorschrift gewöhnlich als kognitive und voluntative Voraussetzung der (hier nun reifeabhängigen) Schuldfähigkeit des jugendlichen Täters interpretiert. Einsichtsfähigkeit
Einsichtsfähigkeit: Mit Unrechtseinsicht ist weniger die genaue Kenntnis der strafrechtlichen Dimension einer Tathandlung gemeint als die grundlegende Fähigkeit, ihren Unrechtsgehalt erkennen zu können. Dabei kommt es nach Streng (1997) nicht darauf an, ob der junge Täter diese Einsicht bei Tatbegehung tatsächlich auch hatte, sondern ob er sie nach seinem persönlichen Entwicklungsstand hätte haben können. Kontrovers wird dabei die Frage nach dem Umfang und dem Gehalt der abverlangten Einsichten diskutiert. Wird auf der einen Seite das bloße Wissen um die Unrechtmäßigkeit der Tat erwartet (so etwa Rasch, 1999), stellen andere Autoren höhere Anforderungen. Vergleichsweise weit geht hier etwa die vielzitierte Auffassung von Peters (1967), demnach der Täter die Fähigkeit gehabt haben muss, „das Unrecht aus der Sozialbindung zu begreifen und um dieser Sozialbindung willen sein Handeln rechtmäßig zu gestalten“. Trotz dieser Kontroversen scheint weitgehende Einigkeit darüber zu bestehen, dass auf der Ebene der bloßen Einsichtsfähigkeit die meisten Jugendlichen die erforderlichen Kompetenzen im Regelfall mitbringen und mangelnde Kompetenzen in der Praxis nur in seltenen Ausnahmefällen schwerer kognitiver Retardationen (die dann aber in Konkurrenz zur Frage der Schuld134
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fähigkeit bei psychischer Störung gem. §§ 20, 21 StGB treten) oder ungewöhnlich komplexer und unüberschaubarer Rechtslage (die dann in Konkurrenz zum Verbotsirrtum gem. § 17 StGB treten) zur Verneinung der Einsichtsfähigkeit führen können (z. B. Günter, 2009b). Dem entspricht die Feststellung von Schepker und Toker (2007), die empirische Forschungsbefunde altersabhängiger Durchschnittskompetenzen zur Unrechtserkenntnis von Kindern und Jugendlichen zusammengetragen haben (vgl. Tab. 12). Demnach verfügen die meisten Kinder deutlich vor Vollendung des 14. Lebensjahrs bei den meisten Tatkonstellationen über die grundlegende Fähigkeit zur Unrechtseinsicht. Soweit erkennbar, geht auch die Rechtsprechung eher von niedrigen Voraussetzungsschwellen der erforderlichen Kompetenzen für die Annahme hinreichender Einsichtsfähigkeit aus. Tabelle 12: Grundlegende Fähigkeiten zur Unrechtseinsicht in Abhängigkeit von Alter und Tatgeschehen (nach Schepker & Toker, 2007)
Tatbestand
Alter (Jahre)
Schummeln, absichtliche Täuschung Absprachen („mündliche Verträge“) brechen Anstiftung, Beihilfe Wegnahme, Diebstahl absichtliche Körperverletzung fahrlässige Körperverletzung Gefährdung und Schädigung anderer im Straßenverkehr durch Unfall Frisieren eines Mofas als Betrug und Verstoß gegen Versicherungspflicht Vorteilsnahme im Amt, Ausnutzen einer Dienststellung
4 4–5 4–5 2–6 8 10 10 16–18 18
Steuerungsfähigkeit: Es wurde bereits erörtert, dass es eine befriedigende fallunabhängige Definition hinreichender Kompetenzen für ein einsichtsgemäßes und normgerechtes Andershandelnkönnen nicht gibt und aus konzeptionellen Gründen auch nicht zu erwarten ist. In der Literatur werden entsprechende Versuche daher oft gar nicht erst unternommen, oder man versucht eine begriffliche Annäherung durch den beispielhaften Verweis auf die Anforderungen in besonderen prototypischen Tatkonstellationen (vgl. Kapitel 4.2.2.2). Gelegentliche Ansätze, unter Umkehr der Prüfrichtung und in Analogie zur Frage störungsbedingt aufgehobener oder erheblich eingeschränkter Kompetenzen in §§ 20, 21 StGB nach Beeinträchtigungen (zumal bei vorausgesetzten Retardationen) zu fragen (z. B. Schütze & Schmitz, 2003), entsprechen hingegen nicht der gesetzlichen Vorgabe. Letztlich lassen sich die Steuerungsfähigkeiten nur fallbezogen abschätzen, im Abgleich der genauen Kenntnis des Entwicklungsstands des jugendlichen Täters zum Tatzeitpunkt und seinen damit einhergehenden entwicklungsabhängigen Kompetenzen und Defiziten einerseits und der aus der Analyse der Tatsituation abgeleiteten Kenntnis des Tatgeschehens und
Steuerungsfähigkeit
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ihrer Einflüsse, Anreize und Anforderungen andererseits. Diesen Abgleich vorzunehmen und die hierfür erforderlichen Datengrundlagen zu schaffen ist Aufgabe einer sachgerechten idiografischen Einzelfalldiagnostik. Die Frage, ob in der Konsequenz dieses Abgleichs die erkennbar vorhandenen Kompetenzen zur Steuerungsfähigkeit im vorliegenden Fall als hinreichend zu werten sind, ist indessen letztlich eine Frage normativer Verantwortungszuschreibung. Die Aufgabe des Gutachters
Zusammenfassend lässt sich insoweit festhalten, dass die Vorgabe des § 3 JGG dem Sachverständigen weniger eine (Entwicklungs-)normorientierte Diagnostik der Entwicklungsreife abverlangt als vielmehr eine individuelle kriteriumsorientierte Diagnostik entwicklungsabhängiger Kompetenzen und Defizite. Dabei ergibt sich freilich die besondere Schwierigkeit, dass die relevanten Kriterien nicht von vornherein feststehen, sondern sich erst fallspezifisch aus der Analyse des Anforderungscharakters einer konkreten Tatkonstellation ergeben und daher im Einzelfall herauszuarbeiten sind.
4.2.2.4 Vorgehen bei der idiografischen Einschätzung der strafrechtlichen Strafmündigkeit Es ist deutlich geworden, dass die sachverständige Beurteilung der strafrechtlichen Entwicklungsreife jugendlicher Täter auf der einen Seite eine komplexe multidimensionale Diagnostik des Entwicklungsstandes des Jugendlichen voraussetzt, um seine entwicklungsabhängigen Kompetenzen und Defizite zu erkennen. Auf der anderen Seite erfordert sie eine genaue Analyse des Tatgeschehens und dessen Umstände, um die Anforderungen einschätzen zu können, die sich dem jungen Täter im Falle normgerechten Verhaltens gestellt hätten. Erst aus dem Abgleich dieser spezifischen Anforderungen mit den individuellen Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten des Täters ergeben sich sinnvolle Kriterien zur Beurteilung der in § 3 JGG genannten Voraussetzungen. Das diagnostische Vorgehen hierbei muss also zunächst die erforderliche Datengrundlage schaffen, bevor es diesen Abgleich vornimmt. Das hier vorgeschlagene Vorgehen zerlegt diese Aufgabe in eine systematische Abfolge von Teilschritten, die den Gedankengang strukturieren und transparent machen sollen. Schritt 1: multidimensionale Rekonstruktion der biografischen Entwicklung
Eine Entwicklungsdiagnostik kann nicht allein querschnittlich erfolgen und sich auf die Feststellung eines Status Quo zu einem definierten Zeitpunkt beschränken. Um Entwicklungsprozesse überhaupt erkennen zu können, muss vielmehr die Dynamik und Richtung entwicklungsabhängiger Veränderungen und Prozesse und die auf sie jeweils einwirkenden Einflüsse nachgezeichnet werden. Der erste Schritt besteht daher in der retrospektiven Rekonstruktion der biografischen Vorgeschichte des jungen Täters und reicht idealerweise von der Analyse der sozialen und familiären 136
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Ausgangssituation, in die er hineingeboren wurde, bis zum Zeitpunkt des fraglichen Tatgeschehens. Inhaltlich gleichen Anspruch und Vorgehen der bereits an früherer Stelle skizzierten biografischen Rekonstruktion der Vorgeschichte bei der Einschätzung der Kriminalprognose (vgl. Kapitel 3.2.2). Bei beiden Fragestellungen geht es letztlich um das Ziel, zu ergründen, warum der zu beurteilende Mensch sich in der speziellen Tatsituation auf die spezifische von ihm gezeigte Art und Weise verhalten hat – freilich hier ergänzt um die weitere spezielle Frage nach seinen Kompetenzen, die es ihm in dieser Situation ermöglicht hätten, sich gegebenenfalls auch anders zu verhalten. Es geht also zunächst darum, die bisherige Persönlichkeitsentwicklung des Probanden und seine sich damit entwickelnden Bedürfnisse, Kompetenzen und Werte- und Handlungsorientierungen in ihren jeweiligen psychosozialen Bezügen und Verflechtungen und in ihren relevanten Dimensionen (also soziale, psychosexuelle, kognitive Entwicklung usw.) nachzuzeichnen. Da es sich um eine erklärende Rekonstruktion des Entwicklungsverlaufes handelt, kann man in Analogie zum Beurteilungsmodell bei der Kriminalprognose und bei der Entwicklungsreife Heranwachsender (Busch, 2006; vgl. auch Kapitel 4.2.3) auch formulieren, dass das eigentliche Ziel dieses ersten Schrittes die Begründung einer auf den vorliegenden Einzelfall zugeschnittenen individuellen Entwicklungstheorie der Persönlichkeit des Täters ist. Besondere Aufmerksamkeit sollte man dabei etwaigen entwicklungspsychopathologischen Besonderheiten widmen, da sie im Falle unzureichender Einsichts- oder Steuerungsfähigkeiten das erforderliche Material liefern, in Konkurrenz zur Frage der Schuldeinschränkung infolge psychischer Störung die Ursachen für die Defizite zu klären. Spezielle Aufmerksamkeit sollte man darüber hinaus auch etwaigen entwicklungskriminologischen Besonderheiten widmen und nach dem Ausgangspunkt und dem Verlauf dissozialer Einstellungsund Verhaltensmuster, nach delinquenten sozialen Einflüssen und nach etwaigen Vorgestalten strafrechtsrelevanten Verhaltens fragen, hierbei kriminogene Risikostrukturen und Schutzfaktoren aufklären sowie etwaige Einstiegspfade in delinquente Entwicklungen nachzeichnen. Diese Analysen liefern gegebenenfalls das erforderliche Material, um im Falle unzureichender Einsichts- oder Steuerungsfähigkeiten die Frage zu klären, ob hierfür tatsächlich Entwicklungsdefizite verantwortlich sind oder eher eine dissozial-delinquente Fehlentwicklung vorliegt. Eine wichtige Grundlage für die biografischen Rekonstruktionen stellt die Exploration des Probanden dar, die nach Möglichkeit – mit Einverständnis aller Betroffenen (einschließlich des Auftraggebers) – durch Explorationen von Erziehungs- und unmittelbaren Betreuungspersonen ergänzt werden sollte. Zusätzlich lassen sich bei entsprechender Indikation auch gängige standardisierte Instrumente und Verfahren zur biografischen Erfassung oder zur Fremdbeurteilung früherer Verhaltensbesonderheiten, psychischer Auffälligkeiten oder auch familiärer Strukturen heranziehen. Eine weitere wich-
Datengrundlagen
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tige Informationsquelle stellen ferner Aktenunterlagen dar. Hierzu zählen insbesondere Jugendamtakten, die, sofern es sie gibt, nach Möglichkeit eingesehen werden sollten,12 sowie Jugendgerichtshilfeberichte. Bei einer bereits vorliegenden strafrechtlichen Vorgeschichte zählen weiterhin die Gerichtsakten früherer Strafverfahren dazu, die bei den zuständigen Staatsanwaltschaften anzufordern sind. In Fällen einer psychiatrischen oder psychotherapeutischen Vorgeschichte gehören schließlich die entsprechenden Behandlungsunterlagen dazu, hierzu ist eine entsprechende Schweigepflichtsentbindung der Erziehungsberechtigten erforderlich. Die Exploration weiterer Personen, etwa aus dem Freundeskreis oder dem schulischen Umfeld des Täters, gehören demgegenüber im Regelfall aus strafprozessualen Gründen nicht zum Zuständigkeitsbereich des Sachverständigen. Er kann und sollte aber im Gutachten bei entsprechender Indikation und zu erwartendem relevanten Erkenntnisgewinn deren gerichtliche Anhörung anregen. Schritt 2: Retrospektive Ist-Stand Diagnose
Datengrundlagen
Auf der Grundlage einer biografisch fundierten Vorstellung der Entwicklungsdynamik des Täters im Hinblick auf seine relevanten Bedürfnisse, Orientierungen, Einsichten und Handlungskompetenzen sowie der sorgfältigen Rekonstruktion der Lebenssituation und sozialen Bezüge im zeitlichen Umfeld des Tatgeschehens kann dann die retrospektive Einschätzung der spezifischen Kompetenzen und Defizite zum Zeitpunkt der Tat vorgenommen werden. Wie an früherer Stelle bereits erläutert, steht hierbei weniger die Beurteilung des grundsätzlich erreichten Entwicklungsniveaus im Vordergrund als vielmehr die qualitative Einschätzung der spezifischen personalen Reflexions-, Selbstkontroll- und Handlungsmöglichkeiten in Reaktion auf Verführung, äußere Verhaltenserwartung, Provokation und innere Bedürfnisse des jungen Täters. Die längs- und querschnittliche Rekonstruktion des Entwicklungsstandes soll die erforderliche personale Grundlage für den späteren Abgleich der entwicklungsabhängigen Kompetenzen mit den spezifischen Anforderungsstrukturen des Tatgeschehens schaffen. Auch hierbei wird man die wesentlichen Informationen vor allem aus der Exploration des Täters und ggf. weiterer Erziehungs- oder Betreuungspersonen gewinnen, die durch testpsychologische Methoden zur Persönlichkeits- und Entwicklungsdiagnostik, zur Diagnostik kognitiver Kompetenzen (ggf. einschließlich der zu moralischen Urteilsbildung) und erforderlichenfalls zur klinischen Störungsdiagnostik zu ergänzen sind. Zusätzlich bietet die Ermittlungsakte (etwa Protokolle von Vernehmungen relevanter Personen aus dem Umfeld des Täters oder Berichte der Jugendgerichtshilfe) oftmals wertvolle ergänzende Informationen zu den näheren Lebensumständen und dem Umfeld des Täters im Kontext des Tatgeschehens.
12 Es wurde bereits an früherer Stelle darauf hingewiesen, dass dies aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht in jedem Fall möglich ist.
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Um den Anforderungsgehalt des Tatkontextes an die Kompetenzen des jugendlichen Täters abschätzen zu können, ist schließlich eine sorgfältige und möglichst vollständige Rekonstruktion des Tatgeschehens erforderlich. Sie erstreckt sich zeitlich von etwaigen ersten Vorgestalten, über mögliche Planungsphasen, dem Tatanlauf, dann dem eigentlichen Tatgeschehen bis zur Analyse des Nachtatverhaltens. Inhaltlich geht es dabei einerseits um die Klärung der Beweggründe und Motive der einzelnen Handlungsfacetten des Täters einschließlich äußerer Einflussfaktoren (wie z. B. der Rolle von Provokation, Delegation und Gruppendynamik), der subjektiven Wahrnehmung der Tatsituation durch den Täter und seiner im Tatgeschehen zum Ausdruck gekommenen Bedürfnisse und Handlungsbereitschaften. Andererseits geht es aber auch darum, im Tatgeschehen mögliche Hinweise auf ein bereits virulentes Unrechtsbewusstsein zu erkennen (etwa bei gezielten Planungen und Maßnahmen zum Schutz vor Entdeckung, der gezielten Spurenbeseitigung oder bei gezielten Tatortinszenierungen zum Zwecke der Verdachtsablenkung), gegebenenfalls auch Hinweise auf die Beschäftigung mit alternativen Handlungsoptionen oder dem Rücktritt vom Tatentschluss im Tatverlauf. Die Rekonstruktion sollte daher sowohl hinsichtlich der objektivierbaren Fakten (bei fraglicher, weil noch offener Faktenlage notfalls auch hinsichtlich verschiedener Varianten) als auch im Hinblick auf die subjektive Perspektive des Täters erfolgen. Wesentliche Grundlagen dieser Rekonstruktion bilden aus diesem Grund sowohl die Angaben des Täters im Hinblick auf seine Sicht des Tatgeschehens und im Hinblick auf seine Einschätzungen alternativer Handlungsoptionen im Verlauf der Tathandlungen, als auch der Abgleich seiner Angaben mit Informationen, die man der Ermittlungsakte und der Anklageschrift (soweit diese bereits vorliegt) entnehmen kann.
Schritt 3: Tatgeschehensanalyse
Das eigentliche Ziel der Beurteilung besteht schließlich im Abgleich der spezifischen Tatanreize und Einflüsse im Kontext des konkreten Tatgeschehens und den hiermit einhergehenden Anforderungen, die ein normgerechtes Verhalten an den jungen Täter gestellt hätten (Schritt 3) auf der einen Seite mit dessen tatsächlichen entwicklungsbedingten Möglichkeiten, diesen Anforderungen auch entsprechen zu können (Schritte 1 und 2) auf der anderen Seite. Aufgabe des Sachverständigen ist es dabei, die tatsituativen Bedingungen herauszuarbeiten, zu analysieren und zu beschreiben sowie sie den personalen Kompetenzen und Defiziten des Täters bewertend gegenüberzustellen. Ob im Licht dieses Abgleichs dem Täter ein tatalternatives normkonformes Verhalten zumutbar gewesen wäre, er mithin für die Tat strafrechtlich zu Verantwortung zu ziehen ist, ist indessen mit psychologischen Mitteln allein nicht mehr abschließend zu beurteilen und bedarf letztlich der normativen Verantwortungszuschreibung durch den Richter.
Abgleich zwischen Tatkontext und Entwicklungsreife
Gleichwohl stellt sich in Fällen sichtlicher Überforderung des Täters mit der ihm zugeschriebenen Aufgabe normkonformen Verhaltens im Kontext
Datengrundlagen
Analyse der Ursachen mangelnder Kompetenzen
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2. Schritt Rekonstruktion der Lebenssituation, der sozialen Bezüge, des Entwicklungsstands sowie des entwicklungskriminologischen und -psychopathologischen Status zum Tatzeitpunkt
Ableitung einer „individuellen Entwicklungstheorie“ der Persönlichkeit und Delinquenz le uel ivid ngs Ind icklu tw erEn ond bes eiten h
Längs- und querschnittliche Beurteilung des Entwicklungsstandes bzgl. Orientierung, Kompetenz, Vulnerabilität und Defizite sung gen ndl Ha tierun he n c orie pezifis ten s ilitä und nerab Vul
eher §§ 20, 21 StGB
eher § 17 StGB
hinreichende
Kompetenzen
defizitäre Kompetenzen
) le ng ia oz cklu i iss (d ntw e hl Fe
eher nicht strafmündig
Störung
Einschätzung der Ursachen für die relevanten Kompetenzdefizite
Einschätzung der Möglichkeiten zu Unrechtseinsicht und einsichtsgemäßem Handeln im Abgleich zwischen Anforderungen und Kompetenzen beim Tatgeschehen
psychische
Identifikation/Beurteilung spezifischer Handlungsanreize, Hemmnisse und äußerer Einflüsse beim Tatgeschehen
kompe nsierb are Entwic klungs defizit e
3. Schritt Rekonstruktion der Tatsituation sowie des objektiven und subjektiven Tatablaufs
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1. Schritt Multidimensionale Rekonstruktion der biografischen Vorgeschichte einschließlich entwicklungspsychopathologischer und -kriminologischer Einschätzungen
eher strafmündig
Abbildung 8: Prozessmodell der idiografischen Beurteilung der strafrechtlichen Entwicklungsreife Jugendlicher (in Anlehnung an Dahle, 2000 und Busch, 2006)
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des Tatgeschehens die Frage nach den Ursachen. Nur wenn entwicklungsabhängige und mithin im Kontext der weiteren absehbaren Entwicklung kompensierbare Defizite diese Überforderung bedingt haben, wäre eine hinreichende strafrechtliche Entwicklungsreife im Sinne des § 3 JGG zu verneinen. In allen anderen Fällen greifen die de- oder exkulpierenden Sonderregelungen des allgemeinen Strafrechts oder der Täter ist grundsätzlich strafrechtlich für seine Taten verantwortlich. Abbildung 8 fasst das Vorgehen bei der Beurteilung der strafrechtlichen Entwicklungsreife Jugendlicher noch einmal abschließend zusammen.
4.2.2.5 Spezielle Probleme Oft ergeben sich bei der Begutachtung der strafrechtlichen Entwicklungsreife Jugendlicher besondere Probleme, auf die abschließend hingewiesen werden soll. Ein regelmäßiges Problem stellt etwa der zeitliche Abstand zwischen Begutachtung und Tatgeschehen dar. Dieser Abstand kann mitunter – vor allem auch bei schweren Delikten mit umfänglichem Ermittlungsbedarf – beträchtlich sein, der Autor des Beitrags hat schon Zeitabstände von deutlich über zwei Jahren bis zum Gutachtenauftrag erlebt. Die Möglichkeiten zur Beurteilung des tatsächlichen Entwicklungsstands zum Tatzeitpunkt sind in solchen Fällen zwangsläufig mit Einschränkungen verbunden, zumal die Zeitspanne ja gerade auch eine dynamische Lebensphase der noch jugendlichen Täter betrifft.
Zeitlicher Abstand zum Tatzeitpunkt
Vor allem bei in Frage stehenden Einsichtsfähigkeiten, aber auch sonst, ergibt sich das weitere Problem, dass spätestens mit der strafrechtlichen Ermittlung und Verfolgung der Tat, gelegentlich aber auch schon durch die bloße Konfrontation des Täters mit den unmittelbaren Tatfolgen, dem Betroffenen von außen das Unrecht seiner Handlung herangetragen und deutlich vor Augen geführt wurde. Man kann also erwarten, dass allein durch diese im Nachgang der Tathandlung auf den Täter einwirkenden Erlebnisse und Erfahrungen Entwicklungs- und ggf. Bewältigungsprozesse angestoßen wurden, die seine „Entwicklungsreife“ in den hier relevanten Dimensionen gegenüber dem Zeitpunkt der Tatbegehung verändert haben können. Auch diese Rückwirkungen erschweren die Möglichkeiten der rückblickenden Rekonstruktion des Entwicklungsstands zum Tatzeitpunkt.
Rückwirkungen der Tat und ihrer strafrechtlichen Verfolgung auf die Entwicklungsreife
Bereits hingewiesen wurde auf die mögliche – häufige – Konkurrenz schuldausschließender (oder -mindernder) Kompetenzdefizite aufgrund von Entwicklungsfaktoren oder aufgrund psychischer Störungen. Nun gehen viele psychische Störungen gerade im jungen Alter mit (partiellen) Entwicklungsverzögerungen und –disparitäten einher, sie erscheinen gewissermaßen als Symptom der Störung selbst. Soweit solche störungsbedingten Entwicklungsverzögerungen tatsächlich die wesentliche Ursache der Überforderung des Täters bei der Erwartung normgerechten Verhal-
Entwicklungsverzögerung als Symptom psychischer Störung
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tens bei der Tat gewesen sind, stellt sich also in besonderer Weise die Frage, ob diese kompensierbaren Kompetenzdefizite eher unter § 3 JGG oder unter §§ 20, 21 StGB fallen. Literatur und Rechtsprechung äußern sich für solche Konstellationen zur Vorrangigkeit oder Gleichrangigkeit nicht eindeutig. Es finden sich vielmehr divergierende Auffassungen (zusammenfassend: Hummel, 1995), auch wenn die weniger stigmatisierenden Folgewirkungen eher für einen gewissen Vorrang der Wertung unter den Entwicklungsgesichtspunkten des § 3 JGG sprechen könnten. Eine eindeutige Rechtsprechung gibt es hingegen zur Frage der Unterbringung im psychiatrischen Maßregelvollzug gefährlicher Täter in diesen Fällen. Trifft fehlende Schuldfähigkeit aus Reifungsmängeln gem. § 3 JGG mit Schuldunfähigkeit oder erheblich verminderter Schuldfähigkeit gem. §§ 20, 21 StGB zusammen, ist eine Unterbringung des Jugendlichen gem. § 7 JGG, § 63 StGB demnach nicht ausgeschlossen (OLG Jena – 1 Ws 16/07; vgl. hierzu Dölling, 2009). Sie kann also trotz fehlender strafrechtlicher Schuld aufgrund fehlender entwicklungsbedingter Strafmündigkeit richterlich angeordnet werden.
4.2.3 Die Begutachtung der strafrechtlichen Zuweisung heranwachsender Täter 4.2.3.1 Die relativierte Strafmündigkeit Heranwachsender Mit Eintritt in das 19. Lebensjahr endet der gesetzliche Vorbehalt der grundsätzlich zu hinterfragenden strafrechtlichen Entwicklungsreife und der nunmehr heranwachsende Täter ist für seine ihm nachgewiesenen Verfehlungen verantwortlich, soweit keine schuldausschließenden Gründe des allgemeinen Strafrechts vorliegen (z. B. eine psychische Störung; vgl. Kapitel 4.1). Mit der Reform des Jugendgerichtsgesetzes im August 1953 hat der Gesetzgeber für junge Täter zwischen 18 und 21 Jahren aber die Möglichkeit geschaffen, strafrechtliche Verfehlungen nach den milderen und stärker dem Erziehungsgedanken verpflichteten Vorgaben des Jugendstrafrechts zu verfolgen, sofern Gründe seiner Entwicklungsreife hierfür sprechen. Liegt hinreichende Entwicklungsreife vor, gilt allerdings das allgemeine (Erwachsenen-) Strafrecht und es kann allenfalls noch eine lebenslange Freiheitsstrafe aus Gründen des jungen Alters gemildert werden (§ 106 Abs. 1 JGG). Auch für heranwachsende Täter sind insoweit in jedem Einzelfall Fragen der Entwicklungsreife zu prüfen, zuständig sind die Jugendstaatsanwaltschaft und das Jugendgericht. Die gesetzlichen Vorgaben für diese Prüfung ergeben sich aus § 105 JGG Abs. 1 (vgl. Kasten).
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§ 105 JGG Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende
(1) Begeht ein Heranwachsender eine Verfehlung, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist, so wendet der Richter die für einen Jugendlichen geltenden Vorschriften der §§ 4 bis 8, 9 Nr. 1, §§ 10, 11 und 13 bis 32 entsprechend an, wenn 1. die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, oder 2. es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt. Der Gesetzgeber hat somit zwei alternative Wege zur Anwendung des Jugendstrafrechts bei Heranwachsenden eröffnet, die einerseits tatunabhängig in der Person des Täters und seiner mangelnden Entwicklungsreife liegen, andererseits aber auch in der Art und den Hintergründen seiner Straftat begründet sein können. Unrechtseinsicht und mangelnde Fähigkeiten zu einsichtsgemäßem Handeln spielen hingegen keine Rolle, da der Täter grundsätzlich strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen ist. Die Vorschrift des § 105 JGG hat strafprozessuale, aber auch kriminalpolitische und rechtspsychologische Fragen und Probleme hinterlassen, was nicht zuletzt an einer im Vergleich zu § 3 JGG ungleich umfangreicheren Rechtsprechung der Obergerichte13 abzulesen ist. Tatsächlich scheint die Rechtspraxis bereits im Hinblick auf die Anwendungshäufigkeit des Jugendstrafrechts bei heranwachsenden Tätern anhaltend heterogen; berichtet wird über Quotenunterschiede von fast 50 % im Vergleich der einzelnen Bundesländer (Busch, 2006; Günter, 2009b). Dem Statistischen Jahrbuch 2009 zufolge werden dabei im Bundesdurchschnitt rund 60 % aller Delikte heranwachsender Täter nach Jugendstrafrecht geahndet, wobei aber offenbar ein sehr klarer Trend zur überproportionalen Anwendung bei zunehmender Schwere der Verfehlung besteht. Vor allem seltene Formen schwerer Gewaltdelikte scheinen demnach deutlich überwiegend nach Jugendstrafrecht geahndet zu werden.14 Dem mag eine größere Sorgfalt der Gerichte bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 105 JGG bei schweren Anlasstaten zugrunde liegen.
Probleme und Rechtspraxis des § 105 JGG
13 Vgl. die jährlichen Rechtsprechungsübersichten zum Jugendstrafrecht von Böhm und zuletzt von Dölling (in NStZ und NStZ-RR publiziert). 14 So berichtet Günter (2008) beispielsweise über das Jahr 2006 von Anwendungsquoten des JGG von 81 % bei Mord- und Totschlagsdelikten, 84 % bei Sexualdelikten und sogar von 97 % bei Raub und Erpressung.
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Die Praxis deckt sich aber auch mit neueren entwicklungsneurologischen Befunden, demnach gerade die neurologisch verankerten Grundlagen und Funktionen zur Impulssteuerung, die bei diesen Taten vermutlich häufig eine besondere Rolle spielen, erst in der zweiten Hälfte des dritten Lebensjahrzehnts ausreifen (u. a. Günther, 2009b; Ritz-Schulte, 2008). Sittliche und geistige Entwicklungsreife
Der heterogenen gerichtlichen Anwendungspraxis des § 105 JGG liegt letztlich die Unbestimmtheit der zugehörigen Rechtsbegriffe zugrunde (vgl. Ostendorf, 2003). Auf Problematik und Lösungsansätze der im ersten Teil der Vorschrift genannten Begriffe der sittlichen und geistigen Entwicklungsreife wurde bereits an früherer Stelle ausführlich eingegangen (vgl. Kapitel 4.2.2.2). Im hiesigen Kontext ergibt sich durch die Bezugnahme auf einen definierten Lebensabschnitt (jugendlich) freilich die weitere Schwierigkeit einer impliziten Anlehnung an eine Entwicklungsnorm, die es in dieser strafrechtsrelevanten Form nicht gibt und die entwicklungspsychologisch auch nur schwerlich zu begründen ist. Da der heranwachsende Täter von seinem Entwicklungsstand her noch einem Jugendlichen – mithin einem Menschen in einer früheren Lebensphase – gleichen soll, verlangt der Wortlaut des ersten Teils der Rechtsvorschrift aber letztlich eine Entwicklungsverzögerung beim heranwachsenden Täter. Soweit erkennbar, hat sich die Rechtsprechung allerdings von dieser Voraussetzung entfernt und einer stärker die Entwicklungsdynamik des heranwachsenden Täters betonenden Sichtweise angenähert – ohne Bezugnahme auf eine vom Täter unabhängige Entwicklungsnorm. Demnach entspricht es schon seit längerem der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH), dass Jugendstrafrecht anzuwenden ist, wenn bei einem noch prägbaren heranwachsenden Täter „in größerem Umfang Entwicklungskräfte wirksam sind“ (vgl. Dölling, 2007). Auf der anderen Seite hat der BGH mehrfach unterstrichen, dass es sich bei den Tatursachen um kompensierbare Entwicklungsfaktoren handeln müsse und hiervon durch die weitere Entwicklung nicht kompensierbare Charaktermängel bzw. eine sich abzeichnende Persönlichkeitsstörung als tatbedingende Faktoren abzugrenzen sind. In diesen Fällen verlangt er jedoch eine sorgfältige Prognose der weiteren Entwicklung und eine hohe Sicherheit der pessimistischen Einschätzung (Böhm, 2003).
Jugendverfehlung
Unbestimmt ist ferner das Konzept einer nach Art, Umständen oder Beweggründen jugendtypischen („jugendtümlichen“) Tat im zweiten Teil des § 105 Abs. 1 JGG. Weitgehender Konsens scheint darüber zu bestehen, dass es sich bei der Art der Tat weniger um bestimmte Deliktkategorien handelt, wie sie in den speziellen Abschnitten des Strafgesetzbuchs definiert sind. Tatsächlich gibt es keine spezifischen Delikte, die ausschließlich oder auch nur derart überwiegend von jugendlichen Tätern begangen werden, dass man allein aus der Art des Rechtsbruchs auf ihre Jugendtümlichkeit schließen könnte. Die Rechtsprechung betont daher auch eher die Kontextbedingungen einer Tat, ihre zugrundeliegenden Motive oder die personalen und 144
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situativen Faktoren, die die Handlungsdynamik eines konkreten Tatgeschehens in Gang gesetzt und aufrechterhalten haben, als die wesentlichen Momente bei der Beurteilung ihrer Jugendtümlichkeit (vgl. im Einzelnen Tab. 13). Auf dieser Linie liegen auch entwicklungskriminologische Ansätze zur Konzeptualisierung „jugendtypischer“ Delinquenz. So unterscheidet beispielsweise Moffitt (1993 u. a.) Täter mit jugendspezifischer Delinquenz von Tätern mit persistierender Delinquenz („adolescence-limited“ und „life-course-persistent antisocial behavior“) und macht die Ursachen und Hintergründe der jugendtypischen Variante vor allem an kontextuellen und motivischen Faktoren fest (Diskrepanz zwischen entwicklungsbedingten Bedürfnissen [nach Autonomie, Selbstbestätigung, Verantwortung usw.] und fehlenden Möglichkeiten, diese in akzeptierter Weise zu befriedigen; Gruppeneinflüsse usw.). Durch die Betonung kontextueller und motivischer Tatumstände bei der Beurteilung der Jugendtümlichkeit einer Tat verfließen freilich die Grenzen zum ersten Teil des § 105 JGG Abs. 1, der ja die (allgemeine) Entwicklungsreife des Täters im Auge hat. Insoweit lassen sich die Konkretisierungen der Rechtsprechung zur Frage der Jugendtümlichkeit einer Tat wohl am ehesten so verstehen, dass es darum geht, bei der Analyse eines konkreten Tatgeschehens nach möglichen Manifestationen entwicklungsabhängiger Bedürfnisse und Defizite (der Affekt- und Handlungsregulation, der sozialen Informationsverarbeitung usw.) zu fahnden. Tabelle 13: Rechtsprechung zu § 105 JGG (Auswahl)a Allgemein
– breiter Ermessens- und Beurteilungsspielraum der Gerichte – kein Verhältnis von Ausnahme und Regel bei Anwendung von Jugend- bzw. Erwachsenenstrafrecht – bei verbleibenden nicht ausräumbaren Zweifeln Anwendung von Jugendstrafrecht („in dubio pro reo“)
Entwicklungsreife
– Jugendstrafrecht, wenn bei einem noch prägbaren Heranwachsenden in größerem Umfang Entwicklungskräfte wirksam sind – kein Jugendstrafrecht, wenn Tat auf grundlegende, nicht durch die weitere Entwicklung kompensierbare Charaktermängel bzw. eine sich abzeichnende Persönlichkeitsstörung zurückgeht; hierbei jedoch sorgfältige Prognose und hinreichende Sicherheit der pessimistischen Einschätzung erforderlich
Jugendverfehlung
– Beweggründe der Tat entsprechen den Antriebskräften einer jugendtümlichen Entwicklung – Tat geht zurück auf: Leichtsinn, Unüberlegtheit oder soziale Unreife, Imponiergehabe oder Geltungsbedürfnis, Drang zu Selbstbestätigung, falsch verstandener Kameradschaft, Freundschaft oder Liebe, fehlende Beherrschung von Zorn, Mutprobe oder allgemeine Unausgeglichenheit – Tatgeschehen aus der Dynamik einer Gruppe heraus entstanden
Anmerkung: a Aus der (nahezu) jährlichen Rechtsprechungsübersicht zum Jugendstrafrecht von Böhm und zuletzt von Dölling (NStZ und NStZ-RR)
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4.2.3.2 Spezielle methodische Ansätze zur Beurteilung des Entwicklungsstands Heranwachsender Schon früh wurden Ansätze unternommen, dezidierte Methoden für die im § 105 JGG vorgesehene Einschätzung des Entwicklungsstandes des heranwachsenden Täters zu entwickeln. Im Kern geht es bei diesen Bemühungen um den Versuch, die dort abverlangte Bezugnahme auf einen jugendlichen Entwicklungsstand als Referenzmaßstab methodisch zu unterfüttern. Marburger Richtlinien
Bereits kurz nach Inkrafttreten der Reform des JGG wurde von einer interdisziplinären Arbeitsgruppe hierzu ein erster Vorschlag unterbreitet, der als „Marburger Richtlinien“ (Anonymous, 1955) in die Literatur eingegangen ist. Es handelt sich dabei um Auflistungen möglicher negativer und positiver Kriterien, die nach Meinung der Autoren für eine noch unzureichende Entwicklungsreife des heranwachsenden Täters sprechen sollen und insoweit die Anwendung des Jugendstrafrechts nahelegen. Der Ansatz ist nicht ohne Kritik geblieben. Neben zeitgeisttypischen Elementen wurde vor allem die starke Orientierung an ein abstraktes Ideal von einem reifen Erwachsenen beklagt, aber auch einige moralisch wertende und methodisch unzureichend fassbare Details (siehe i. E. Karle, 2003). Gleichwohl spielen die Marburger Richtlinien bis heute in der – vor allem auch juristischen – Literatur und in der Rechtspraxis eine gewisse Rolle, weswegen sie an dieser Stelle genannt werden sollen (vgl. Tab. 14).
(Un-)Reifekriterien nach Esser et al. (1991)
Ein inhaltlich und methodisch deutlich elaborierterer Ansatz wurde 35 Jahre später von Esser, Fritz und Schmidt (1991) vorgelegt. Ausgehend von den – um entwicklungspsychologisch fundierte Überlegungen ergänzTabelle 14: Marburger Richtlinien (Anonymous, 1955) Negativliste
Positivliste
Fehlen … … einer gewissen Lebensplanung … der Fähigkeit zum selbstständigen Urteilen und Entscheiden … der Fähigkeit zum zeitlich überschauenden Denken … der Fähigkeit, Gefühlurteile rational zu untermauern … einer ernsthaften Einstellung zur Arbeit … einer gewissen Eigenständigkeit zu anderen Menschen
Vorliegen… … einer ungenügenden Ausformung der Persönlichkeit … von Hilflosigkeit (die sich nicht selten hinter Trotz und Arroganz versteckt) … eines naiv-vertrauensseligen Verhaltens … einer starken Anlehnungsbedürftigkeit … einer spielerischen Einstellung zur Arbeit … einer Neigung zu Tagträumen … eines Hangs zu abenteuerlichen Handeln … eines Hineinlebens in selbstwerterhöhende Rollen … eines mangelnden Anschlusses an Altersgenossen … eines Lebens im Augenblick
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ten – Marburger Richtlinien entwickelten sie zehn Dimensionen des Entwicklungsstands heranwachsender Täter (vgl. folgender Kasten), die sie jeweils durch spezifische Beurteilungskriterien näher zu fassen versucht und anhand von vierstufigen Zuordnungen operationalisiert haben (kindlich-jugendlich-heranwachsend-erwachsen). Die Operationalisierungen erwiesen sich als objektiv (Interraterreliabilität: rpc .88 bis 1.0) und für eine Zufallsstichprobe von 181 gerade 18 Jahre alter junger Heranwachsender ergab sich erwartungsgemäß bei neun der zehn Dimensionen ein mittlerer Entwicklungsstand zwischen den Stufen 2 (jugendlich) und 3 (heranwachsend; im Mittel 2,67; SD = 0,21). Eine spätere Nachuntersuchung der Probanden im Alter von 25 Jahren zeigte ferner, dass sich zwischenzeitlich alle zehn Beurteilungsdimensionen hochsignifikant verändert hatten (im Mittel nunmehr 3,6; SD = 0,29) und insoweit offenbar tatsächlich entwicklungsabhängige Kriterien erfasst wurden (Esser, 1999). (Un-)Reifedimensionen nach Esser et al. (1991):
• Realistische Lebensplanung versus Leben im Augenblick. • Eigenständigkeit gegenüber Eltern versus aktuelle Autonomiebestrebungen. • Eigenständigkeit gegenüber Peers versus Anlehnungs- und Orientierungsbedürfnis. • Ernsthafte versus spielerische Einstellung („notwendiges Übel“) zu Arbeit. • Altersgemäßer versus deutlich jünger wirkender äußerer Gesamteindruck. • Realistische versus hedonistische Alltagsbewältigung. • Altersadäquate versus deutlich jüngere Freunde. • Bindungsfähigkeit versus labile Bindungen ohne Offenheit und Vertrauen. • Integration versus mangelnde Integration von Eros und Sexus. • Konsistent-berechenbare versus labile Stimmungslage. Ein methodisch ganz anderweitig entwickelter Vorschlag zur Beurteilung der Reifefragen des § 105 JGG wurde 2006 von Busch vorgelegt. Der Autor entwickelte in einer mehrwelligen Sequenz von Expertenbefragungen zu relevanten Beurteilungskriterien (Delphi-Technik) einen umfassenden Satz von Items, die sich insgesamt sieben Dimensionen (Skalen) zum Entwicklungsstand der zu beurteilenden Person, einer Dimension zu relevanten Umweltbedingungen sowie zwei Dimensionen zur Jugendtümlichkeit des Tatgeschehens zuordnen ließen (vgl. Tab. 15 und 16). Die Skalen erwiesen sich als reliabel und zeigten sich auch bei einer Kreuzvalidierung durch Nicht-Experten als trennscharf. Auf dieser Basis hat der Autor schließlich für jede der zehn Beurteilungsdimensionen Entscheidungsalgorithmen
Evidenzbasierte Zuweisung nach Busch (2006)
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(mittels CHAID-Analysen) entwickelt, die sich als valide für die Zuordnung prototypischer (hypothetischer) jugendlicher und erwachsener Täter zeigten (Irrtumsrisiko der einzelnen Skalen bzw. Algorithmen zwischen p = .07 und p = .17). Ob und inwieweit der Ansatz Eingang in die Rechtspraxis finden wird, erscheint derzeit noch offen. Soweit bekannt, liegen Untersuchungen aus dem forensischen Feld bislang nicht vor.
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Tabelle 15: Skalen zur Beurteilung der personalen Entwicklungsreife und (verkürzte) Beispiele besonders trennscharfer Itemsa nach Busch (2006) Autonomie
– Eigener Hausstand (+) – Delinquenz aus Gruppenaktivitäten heraus (–)
Qualifikation und Ziele
– Häufiger Interessenwechsel (–) – Politische Interessen (+)
Problem- und Konfliktmanagement
– Bemühen um aggressionsfreie Konfliktlösung (+) – Nutzung sozialer Normen zur Konfliktlösung (+)
Werte und Normen
– Bereitschaft normative Grenzen auszutesten (–) – An Gruppennormen orientiert (–)
Beziehung und Partnerschaft
– Verantwortungsübernahme in Partnerschaft (+) – Auflehnen gegen relevante Bezugspersonen (–)
Emotionalität und Impulsivität
– Bereitschaft zu spontanen Gruppenaktionen (–) – Starke Experimentierfreude (z. B. Drogen) (–)
Kommunikation und Reflexivität
– Unangemessene Sprache (–) – Abwägen von Handlungsfolgen (+)
Umwelt
– Keine eigene Wohnung (–) – Fehlende Vermittlung von Normen/Werten durch Umwelt (–)
Anmerkung: a Zu beachten sind wechselnde Richtungen bei den Itemformulierungen der eher für (+) und eher gegen (–) hinreichende Entwicklungsreife sprechenden Beurteilungskriterien
Tabelle 16: Skalen zur Beurteilung der Jugendtümlichkeit einer Straftat und (verkürzte) Beispiele besonders trennscharfer Items nach Busch (2006) Tatumstände
– – – – –
Tat Tat Tat Tat Tat
als Wettstreit unter Gleichaltrigen unter Außendruck (Gruppe, Bezugspersonen) erscheint Außenstehenden sinnlos aus mangelndem Situationsüberblick
Beweggründe der Tat
– – – –
Mutprobe Vorbildern nacheifern Anerkennung erlangen Anschluss an Dritte erlangen
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4.2.3.3 Vorgehen bei der idiografischen Einschätzung der Entwicklungsreife Heranwachsender und ihrer Tat(en) Unabhängig von den im Vorabschnitt skizzierten methodischen Ansätzen verlangt auch die Beurteilung eines heranwachsenden Täters nach § 105 JGG eine sorgfältige Untersuchung jedes Einzelfalls entlang eines idiografischen Urteilsbildungsprozesses. Wie bei der Einschätzung der strafrechtlichen Entwicklungsreife jugendlicher Täter geht es dabei in erster Linie um die Analyse entwicklungsabhängiger Faktoren der Persönlichkeit. Die ersten Teilaufgaben im Gang dieser Beurteilung – die multidimensionale längsschnittliche Rekonstruktion der bisherigen Entwicklung des Täters einschließlich ihrer entwicklungskriminologischen und etwaigen entwicklungspsychopathologischen Facetten sowie die sorgfältige querschnittliche Rekonstruktion seines Entwicklungsstandes zum Tatzeitpunkt – entsprechen inhaltlich, methodisch und von ihren Datengrundlagen her daher dem Vorgehen bei der Beurteilung gemäß § 3 JGG (siehe hierzu i. E. Kapitel 4.2.2.4); freilich hier nun bis in einen etwas späteren biografischen Lebensabschnitt fortgesetzt. Im Hinblick auf die Rechtsprechung zum § 105 JGG ließe sich ergänzen, dass es hierbei explizit auch um die Einschätzung der Entwicklungsdynamik zum Tatzeitraum gehen soll („noch im größerem Umfang Entwicklungskräfte wirksam“, vgl. Tab. 13 auf S. 145). Allerdings ergibt sich diese Einschätzung ja aus der Verknüpfung der längs- und querschnittlichen Analysen und auch der nach § 3 JGG gefragte sorgfältig arbeitende Gutachter wird eine Einschätzung der Dynamik von Entwicklungsprozessen des jugendlichen Täters zum Tatzeitpunkt vornehmen, schon um etwaige Veränderungen bis zum Begutachtungszeitpunkt beurteilen zu können. Vom Wortlaut des § 105 JGG her könnte, soweit die Einschätzung der Person des Täters ergibt, dass er zum Tatzeitpunkt in wesentlichen Facetten seiner Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, auf eine dezidierte Tatgeschehensanalyse verzichtet werden. Die rechtlichen Voraussetzungen für die Anwendung von Jugendstrafrecht wären bereits erfüllt. Allerdings erwartet das Gericht von seinem sachverständigen Gutachter in aller Regel durchaus Aussagen zum konkreten Tatgeschehen und den Tathintergründen. Nicht zuletzt sind Tatmotive, hierin zum Ausdruck gekommene Handlungsbereitschaften, aber auch seine konkret zutage getretenen Defizite für andere rechtliche Entscheidungen im Rahmen der Hauptverhandlung von Belang; insbesondere für die Beurteilung seines Erziehungsbedarfs als Grundlage für die Sanktionszumessung. Insoweit sollte auch in diesen Fällen eine sorgfältige Tatgeschehensanalyse erfolgen. Inhaltlich, methodisch und von ihrer Datengrundlage her entspricht sie indessen wiederum dem Vorgehen gemäß dem dritten Schritt bei der Beurteilung der strafrechtlichen Entwicklungsreife jugendlicher Täter. Primäres Ziel dieses
Die multidimensionale Rekonstruktion der Entwicklung des Täters
Tatgeschehensanalyse
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2. Schritt Rekonstruktion der Lebenssituation, der sozialen Bezüge, des Entwicklungsstands sowie des entwicklungskriminologischen und -psychopathologischen Status zum Tatzeitpunkt
Ableitung einer „individuellen Entwicklungstheorie“ der Persönlichkeit und Delinquenz le uel ivid ngs Ind icklu tw erEn ond bes eiten h
Längs- und querschnittliche Beurteilung von IST-Stand und „Dynamik“ der Entwicklung zum Tatzeitpunkt sung gen ndl Ha tierun he n c orie pezifis ten s ilitä und nerab Vul
3. Schritt Rekonstruktion der Tatsituation sowie des objektiven und subjektiven Tatablaufs
Identifikation/Beurteilung der Motive, Umstände und Hintergründe des Tatgeschehens
Jugendtypische Tatelemente?
ja
Entwicklungsfortschritte realistisch?
Jugendtypischer Entwicklungsstand?
ja
Empfehlung Jugendstrafrecht
noch
ja
nein
weder
nein
) ng lu ck wi nt in ne ehle F e nd ge le nd ru (g
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1. Schritt Multidimensionale Rekonstruktion der biografischen Vorgeschichte einschließlich entwicklungspsychopathologischer und -kriminologischer Einschätzungen
Empfehlung Erwachsenenstrafrecht
Abbildung 9: Prozessmodel der idiografischen Beurteilung der Entwicklungsreife heranwachsender Täter gemäß § 105 JGG (in Anlehnung an Busch, 2006)
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Schritts ist dabei nunmehr aber die Identifikation der Tatbeweggründe, der situativen Einflüsse und der sonstigen Tathintergründe. Auf der auf diese Weise zusammengetragenen Datengrundlage lassen sich einerseits Einschätzungen zum (tatunabhängigen) Entwicklungsstand des Täters und andererseits zu etwaigen jugendtypischen Elementen im Kontext des Tatgeschehens vornehmen. Für den im Gesetzestext verlangten Abgleich des Entwicklungsstands des Täters mit einem Jugendlichen als Referenzmaßstab können die im Vorabschnitt skizzierten methodischen Konzepte hilfreich sein, die jedoch fallabhängig durch weitere entwicklungspsychologische (zur kognitiven und moralischen Entwicklung, zur Entwicklung der sozialen Wahrnehmung, zu den Fähigkeiten der Risikowahrnehmung usw.) und entwicklungskriminologische (zum Einstiegspfad und bisherigen Verlauf der Delinquenz) Überlegungen zu ergänzen sind. Zur Einschätzung jugendtypischer Tatelemente lassen sich, neben den Hinweisen aus der Rechtsprechung (vgl. Tab. 13 auf S. 145), die von Busch (2006) zusammengetragenen Kriterien heranziehen; hilfreich sind ferner jugend- und entwicklungskriminologische Konzepte „jugendtypischer“ Delinquenz und ihrer jeweiligen Ursachen, Hintergründe und Ausdrucksformen (z. B. Moffitt, 1993). Nur wenn beide Prüfungen sowohl zur positiven Feststellung eines altersadäquaten Entwicklungsstands führen als auch keine jugendtypische Tatelemente und -hintergründe erkennbar sind, wäre nach § 105 JGG die Anwendung des Erwachsenenstrafrechts zu empfehlen.
Beurteilung
In allen anderen Fällen stellt sich die abschließende Frage nach den Ursachen der in der Person und/oder im Tatgeschehen erkennbaren Defizite. Die Rechtsprechung verlangt für die Anwendung von Jugendstrafrecht solche Defizite, die entwicklungsbedingt und daher durch weitere Entwicklungsschritte zu kompensieren sind. Hiervon sind Fehlentwicklungen („Charaktermängel“, eine sich anbahnende Persönlichkeitsstörung, vgl. Tab. 13 auf S. 145) entsprechend abzugrenzen. In diesen Fällen wäre insoweit eine Einschätzung der weiteren delinquenten Entwicklung erforderlich. Eine Empfehlung des Erwachsenenstrafrechts bei diesen Heranwachsenden erfordert dabei ein hohes Maß an Sicherheit der pessimistischen Einschätzung unzureichender Aussicht zur Kompensation der Defizite im Zuge der weiteren Entwicklung, sie dürfte daher in der Konsequenz eher die Ausnahme darstellen. Abbildung 9 fasst abschließend den Gang des Urteilsbildungsprozesses bei der Beurteilung der Entwicklungsreife heranwachsender Täter nach § 105 JGG noch einmal zusammen.
Entwicklungsbedingte Defizite versus Fehlentwicklung
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