Fluchtgeschichten: Literarische Begegnungen mit Flucht und Migration [1 ed.] 9783666406676, 9783525406670

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Fluchtgeschichten: Literarische Begegnungen mit Flucht und Migration [1 ed.]
 9783666406676, 9783525406670

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Barbara Bräutigam

Fluchtgeschichten Literarische Begegnungen mit Flucht und Migration

Geflüchtete Menschen psychosozial unterstützen und begleiten Herausgegeben von Maximiliane Brandmaier Barbara Bräutigam Silke Birgitta Gahleitner Dorothea Zimmermann

Barbara Bräutigam

Fluchtgeschichten Literarische Begegnungen mit Flucht und Migration

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Nadine Scherer Satz und Layout: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2625-6436 ISBN 978-3-666-40667-6

Inhalt

Geleitwort der Reihenherausgeberinnen . . . . . . . . . 7 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Nachdenken über die Rolle der Literatur im Kontext von Flucht und Vertreibung . . . . . . . . . . . . . 12 Belletristik als Brückenmedium im psychosozialen Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Aus der Zeit gefallen – »Gehen, ging, gegangen« von Jenny Erpenbeck (2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Die Verwandlung – »Gott ist nicht schüchtern« von Olga Grjasnowa (2017) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 So viel Wut – »Ohrfeige« von Abbas Khider (2016) 44 Die Qual der Ungewissheit – »Die Rückkehr: auf der Suche nach meinem verlorenen Vater« von Hisham Matar (2017) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Die Kraft der Sprache – »Sechzehn Wörter« von Nava Ebrahimi (2017) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Zwischen Lachen und Weinen – »Sami und der Wunsch nach Freiheit« von Rafik Schami (2017) . . 63 Ärger und gute Bildung – »33 Bogen und ein Teehaus« von Mehrnousch Zaeri-Esfahani (2016) . . . 71 Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81



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Geleitwort der Reihenherausgeberinnen

»Im Fluchtgepäck die Sprache« lautet der Titel einer An­ tho­­logie von und über deutschsprachige(n) Schriftstel-­ ler/-in­­nen im Exil, deren Lebenswege durch den National­ sozialismus jäh unterbrochen wurden (Schoppmann, 1991). Mit Blick auf die aktuellen politischen Entwicklungen scheint das Bewusstsein über diese unsere eigene Geschichte erschreckend weit in die Ferne gerückt und die Bereitschaft zum Verständnis für Menschen, die aus anderen Gebieten fliehen oder migrieren, verstellt. Durch die Auswahl und Präsentation von berührenden Fluchtgeschichten von ganz unterschiedlichen Menschen aus ganz unterschiedlichen Ländern gelingt Barbara Bräutigam mit diesem Band jedoch eine Dichte und Nähe, die unter die Haut geht und uns nicht nur auf der Sachebene, sondern umfassender erreicht. Behutsam gibt sie Einblick in ganz verschiedene Familiengeschichten und Entwicklungsverläufe unter besonderen, erschwerten Bedingungen. Aber die Schwere erfährt ein eindeutiges Gegengewicht: die Faszination an der Kraft der Bewältigungsleistung in Lebensverläufen von Kindern, Jugend­ lichen und Erwachsenen. Es lohnt sich, diese Fiktionen, diese Wahrheiten zu lesen. Und am Ende ist man fast enttäuscht, wie schnell das Bändchen vorbei ist. Silke Birgitta Gahleitner Maximiliane Brandmaier Dorothea Zimmermann

Vorbemerkung »›Ist ein Flüchtling jemand, der von zu Hause hat weggehen müssen?‹, fragte Anna. ›Jemand, der in einem anderen Land Zuflucht sucht‹, sagte Papa. ›Ich glaube, ich habe mich noch nicht ganz daran gewöhnt, dass ich ein Flüchtling bin‹, sagte Anna. ›Es ist ein seltsames Gefühl‹, sagte Papa. ›Man wohnt sein ganzes Leben lang in einem Land. Dann wird es plötzlich von Räubern übernommen, und man findet sich allein, an einem fremden Ort, mit nichts.‹« (Kerr, 1973, S. 81 f.)

Das Zitat stammt aus dem bekannten und stark autobiografisch geprägten Roman »Als Hitler das rosa Kaninchen stahl« von Judith Kerr (1973). Als ich dieses Buch vor etwa zwei Jahren meinen Töchtern vorlas, stellten beide mit einem gewissen Erstaunen fest, dass vor nicht allzu langer Zeit die politische Lage in Deutschland eine wesentliche Fluchtursache darstellte und Deutschland mitnichten ein ersehntes Aufnahmeland war. Auf einen ähnlichen Effekt setzt der Film »Transit« von Christian Petzold (2018), der Anna Seghers gleichnamigen Roman aus den 1940er Jahren (1944/2018) in ein heutiges Setting einbettet, im aktuellen Hier und Jetzt spielen lässt und die Zuschauer*innen damit konfrontiert, dass der Flüchtlingsstatus nicht zwangsläufig an bestimmte Ethnien gekoppelt ist, sondern durchaus auch weiße Europäer betreffen kann. Möglicherweise fällt dieser Band im doppelten Sinne ein wenig aus der »Fluchtaspekte«-Reihe, besteht deren Anspruch ja unter anderem darin, in kompakter und dichter Form theoretisch gesättigte und gleichzeitig praktikable Hinweise zu geben, die die psychosoziale Arbeit mit geflüchteten Menschen unterstützen können. Nach der Lektüre dieses Buchs wird man weder seinen »Hand-

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Vorbemerkung

werkskoffer« – wie es im psychosozialen Jargon so schön heißt – aufgefüllt noch wird man eine Menge mehr nützlicher Fakten im Kopf haben, die man vorher nicht hatte. Wozu sollten sich also Fachkräfte oder auch Ehrenamtliche, die sich tagtäglich viele reale und oftmals schreckliche Geschichten anhören, darüber hinaus in der Fiktion mit Leid, bzw. mit den literarisch verarbeiteten Erfahrungen von Flucht und Migration beschäftigen? Dieser Band versucht darauf eine Antwort zu geben, indem er durch die Vorstellung ausgewählter themenbezogener und aktueller Belletristik einen Einblick in die literarische Verarbeitung von Flucht und einem Leben im Exil gibt. Eventuell wird man nach dem Lesen um ein paar (Sprach-)Bilder und Narrative reicher sein. Im besten Falle treten sogar Verstörungen oder Irritationen auf, weil die hier erzählten literarischen Geschichten so gar nicht zu den Bildern passen wollen, die wir uns von Menschen mit Fluchthintergrund bislang gemacht haben. Im Kern dieses Buchs beschreibe ich exemplarisch sieben ausgewählte und in den letzten vier Jahren erschienene Romane, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Themen und Erlebnissen beschäftigen, die einen Bezug zu Flucht und Migration haben. Dazu zählt die Schilderung individueller Fluchtursachen (»Gott ist nicht schüchtern«, 2017), das beschriebene Ohnmachtserleben im Aufnahmeland (»Ohrfeige«, 2016), die verzweifelte Suche nach dem Verbleib verlorener Liebster (»Die Rückkehr: auf der Suche nach meinem verlorenen Vater«, 2017), das Aufeinandertreffen zweier Welten (»Gehen, ging, gegangen«, 2015) sowie die Erzählung von nachhaltigen Fremdheitsgefühlen (»Sechzehn Wörter«, 2017). Zwei der Romane (»33 Bogen und ein Teehaus«, 2016; »Sami und der Wunsch nach Freiheit«, 2017) betrachten die Erlebnisse von Unterdrückung und Verfolgung im eigenen Land sowie das Fluchterleben

Vorbemerkung11

und die Mühen der Integration explizit aus kindlicher bzw. jugendlicher Perspektive. Gerahmt werden diese Romanbeschreibungen von einigen Überlegungen hinsichtlich der Rolle von Literatur im Kontext von Flucht und Vertreibung und ihrer Rolle als Brückenmedium im psychosozialen Verstehen sowie von einem abschließenden Plädoyer, Romane im umfassenden Sinne zu genießen, und sie nicht zur Pflicht­lektüre zu erheben. Insgesamt gehe ich von der Hypothese aus, dass die ausgewählte Belletristik sehr viel Potenzial und einen kaum ausgeschöpften Fundus an ästhetisch vermitteltem Wissen über Lebenswelten von geflüchteten Menschen enthält, der auch in der realen Begegnung und professionellen psychosozialen Arbeit bessere Zugänge und ein höheres Maß an Verständnis von bestimmten Dynamiken zu entwickeln hilft.

Nachdenken über die Rolle der Literatur im Kontext von Flucht und Vertreibung

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In einem Interview zwischen der Moderatorin Maybrit Illner und dem über ein Jahr in der Türkei wegen angeblicher Terrorpropaganda inhaftierten deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel (2018) sagte dieser, dass die Erfahrung, dass ihn viele Menschen während seiner Zeit im Gefängnis nicht vergessen, sondern ihm ihre Solidarität bekundet hätten, zu den wichtigsten Faktoren zähle, die ihn die Haft hätten einigermaßen überstehen lassen (Yücel, 2018). Es war deutlich spürbar, dass diese Aussage keine PR-Floskel war, da der Journalist dabei im positiven Sinne schwer überwältigt um Fassung rang. Die Erfahrungen von Kenntnisnahme, Erinnerung und Anteilnahme sind offenbar anthropologische Grundkonstanten, die in einer Kultur dazu beitragen, Verbrechen, Repression und Gewalt gegen Menschen immerhin ansatzweise bewältigen zu können. Belletristik, die sich durch eine gewisse Nachhaltigkeit auszeichnet oder sogar eventuell das Potenzial hat, Teil eines Kanons zu werden, thematisiert menschliche Grunderfahrungen bzw. anthropologische Konstanten wie z. B. Liebe, Schmerz oder auch die Bedeutung von Arbeit. In der Kinder- und Jugendliteratur stellen anspruchsvolle und komplex geschriebene Bücher für Kinder archetypische Situationen des Leids, der Freude, der Einsamkeit und des Glücks dar, und geben eventuell auch noch einen Ausblick auf noch nicht gemachte Lebenserfahrungen: »Die literarische Gestaltung der Grundmotive trägt dazu bei, dass Texte zeitüberdauernd auch in verän-

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derter gesellschaftlicher Wirklichkeit relevant bleiben. Unabhängig von der konkreten Bezeichnung wird die menschliche Grunderfahrung durch literarisch-ästhetische Gestaltung (als Denkbild, archetypische Situation, allgemeine Entwicklungsaufgabe oder Grundmotiv) zu einer ernst zu nehmenden Kategorie und damit zu einer anthropologischen Konstante« (Grimm, 2017, S. 35). Laut dem Literaturkritiker Volker Weidemann (2017) entsteht gerade ein neuer literarischer Kanon, der sich mit Flucht, Wanderung, Heimatlosigkeit sowie Sehnsucht und Erinnerung an Heimat befasst. Dieser Kanon hat einen wesentlichen Anteil daran, ein kulturell und gesellschaftlich so großes und bedeutsames Thema wie Flucht und Migration im Kleinen und im Einzelfall verdichtet darzustellen und so den anderen – den Sesshaften und Aufnehmenden – nahezubringen, und zwar anders als es Zahlen und Daten vermögen. Literatur ist allgemein ein Medium, das individuelle Gefühls- und Gedankenwelten in Sprache übersetzt und Geschichten erzählt. Sie bietet eine einzigartige Möglichkeit der Introspektion und des direkten Einblicks in die Innenwelten der Protagonisten, was in der realen Welt mit realen Menschen – glücklicherweise – so nicht möglich ist. Zum Teil darf man ihr durchaus salutogenetische Wirkung unterstellen: »An den ausgewählten Romanen wird aber das nicht intendierte heilsame Potential literarischer Texte deutlich, die sich mit unaufdringlichem und Distanz lassendem Einfühlungsvermögen für die Konflikte und Leiden ihrer Protagonistinnen und Protagonisten interessieren und damit auseinandersetzen. Es sind Bücher, die sehr heterogene Themen in den Vordergrund stellen und dabei die ganze Klaviatur aus Irritation und

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Nachdenken über die Rolle der Literatur

Unverständnis oder großer gefühlter Nähe und Empathie auslösen können« (Bräutigam, 2018, S. 229).

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Insofern lässt sich die Rezeption von poetischen Texten als eine sehr kraftvolle und supportive Methode verstehen, um den mit geflüchteten Menschen arbeitenden Fachkräften einen alternativen Einblick in sehr heterogene Lebenswelten sowie ein Gefühl zu deren kulturellen Stimmen zu ermöglichen. Auch in Bezug auf Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungsleistungen leistet Belletristik einen wichtigen Beitrag: »Gerade literarische Texte sind ein bevorzugtes Medium, um eine Pluralisierung von kollektiven Erinnerungen zu ermöglichen und verschiedene Versionen von Vergangenheit gegeneinanderzustellen […]. Auszugehen ist dabei von der Überlegung, dass sich literarische Texte auf eine konkret-historische Wirklichkeit beziehen können und die Möglichkeit haben, diese in Form von Fiktionen beobachtbar zu machen« (Gansel, 2010, S. 7). Ein wichtiger Aspekt der sogenannten Vertreibungsliteratur des 21. Jahrhunderts ist auch die Frage nach den Langzeitwirkungen und der Dokumentation bzw. der Überlieferung von Erinnerungen von einer Generation an die nächste oder übernächste – ein Beispiel hierfür liefert in den Nachkriegsjahren das kollektive Schweigen in Deutschland. In diesem Zusammenhang bilden Flucht und Vertreibung wesentliche Ausgangspunkte für Probleme und Entwicklungen in den Folgegenerationen, so Karina Berger: »Literatur stellt ein entscheidendes Medium für die Auseinandersetzung mit ›Flucht und Vertreibung‹ so-

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wie für die fortdauernde Verhandlung zwischen privater und öffentlicher Erinnerung dar. Die Literatur ist als Medium besonders gut geeignet, um sich mit den Dilemmata und Komplexitäten, die der heutige nuancierte und weniger ideologisierte Erinnerungsdiskurs zwangsläufig aufwirft, auseinanderzusetzen. Im zeitgenössischen Vertreibungsroman ist es möglich, widersprüchliche Perspektiven gleichzeitig darzustellen, individuelle Motive und Handlungsweisen zu untersuchen sowie Empathie für die Handlungsfiguren aufzubringen« (Berger, 2015, S. 26). Laut Berger (2015) ermöglicht Literatur dabei auch als Teil einer kollektiven Kultur einen Zugang zum Ungesagten, es sei ebenso interessant in ihr zu lesen, was nicht gesagt bzw. verschwiegen wird, und was ungesagt zwischen den Zeilen zu lesen ist: »Hier wird die These vertreten, dass Prosaliteratur, die von Natur aus viele verschiedene Bedeutungsebenen enthält, sich besonders gut eignet, um solche Fälle des ›Ungesagten‹ zu erkunden; Fälle, die anderen Medien möglicherweise verlorengehen« (Berger, 2015, S. 17 f.). Dazu zählt auch das Phänomen, dass die literarische Beschreibung und Verarbeitung historisch bedeutsamer Ereignisse oftmals sehr viel früher erfolgt als eine systematisierte und wissenschaftlich untermauerte Dokumentation, wie man beim Umgang mit dem Nationalsozialismus gut beobachten konnte. Literatur wird dann, so Bill Niven, zum »Medium einer persönlichen Vergangenheitsaufarbeitung und Gewissensbefragung. Teilweise wird sie auch zu einem Ersatzmedium fehlender Geschichtsschreibung, in dem Autoren die politischen und sozialen Umstände zur Zeit des Nationalsozialismus bloßlegen, um

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so den Hintergrund zu ›Flucht und Vertreibung‹ zu erläutern« (Niven, 2015, S. 37). Literatur erzählt seit Jahrtausenden zahllose Geschichten zum Thema Heimkehr/Heimat, Begriffe, die ja gerade in Deutschland aktuell wieder eine gewisse Renaissance erleben. Homers Epos »Die Odyssee« (ca. 8. Jh. v. Chr.), das quasi als die Wurzel literarischer Geschichten schlechthin gilt, setzt sich im Grunde mit nichts anderem auseinander. Beschrieben werden dort unterschiedliche Motive, u. a. die Sehnsucht aus der Fremde, verklärte Bilder des Heimatlandes, und gleichzeitig ist mit der fantasierten oder auch geplanten Heimkehr immer eine Konfrontation mit der Vergangenheit verbunden, die oftmals mit einer Art Inventur oder Rechenschaft vor dem eigenen Gewissen einhergeht. »Die Odyssee« thematisiert aber auch verborgene Gründe der Flucht und der Heimatlosigkeit – und so entstehen dann Fragen nach dem Sinn der Heimkehr und dem Recht auf Heimat: »Das literarische Recht auf Heimat erscheint nicht zuletzt unter dieser Perspektive ein höchst fragwürdiges Recht, als ein Recht, das, wie und wo immer es zur würdigen Frage wird, eine zwiespältige Antwort provoziert […]. Wie sagte doch das Mädchen Lenka [aus Christa Wolfs Roman »Kindheitsmuster«, B. B.]: ›Heimat ist für mich kein Wort, bei dem ich mir was denken kann. […] Zuhause, ja. Da sind ein paar Leute. Wo die sind, ist Zuhause‹« (Arendt, 2001, S. 30). Zum Teil wird die Literatur, die sich mit Flucht und Vertreibung beschäftigt, auch als Literatur des Verlustes angesehen. Achim Nuber (2001) bezieht sich dabei auf Martin Walser, der Verlust und Mangel als eine der Haupt­ motivatoren bezeichnet, überhaupt Literatur zu rezipieren: Wenn der Welt, in der man lebe, nicht ernsthaft etwas fehle,

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würde man nicht lesen. So betrachtet könne man Literatur als eine Poetik der Abwesenheit bezeichnen: »Die Vertreibungsliteratur wäre dann eine Spielart, wo der Verlust auf die Heimat und die entsprechenden historischen Vorgänge bezogen und präzisiert wird. Denkbar wäre auch eine Subsumierung der Exil-und Holocaustliteratur unter den Oberbegriff einer Literatur des Verlusts« (Nuber, 2001, S. 279). Bei der Kinder- und Jugendliteratur, die sich mit den Phänomenen von Flucht und Vertreibung beschäftigt, steht zum einen oftmals das Lesevergnügen im Vordergrund, um die jungen Leser*innen überhaupt zum Lesen zu bewegen, zum Teil werden Flucht und Vertreibung dann Hintergrundthemen für Abenteuer- und Liebesgeschichten. Zum anderen wird aber auch versucht, in vereinfachter Form historische Hintergründe für den Verlust der Heimat zu liefern (Berger u. Niven, 2015). Literatur, die im Kontext von Flucht und Vertreibung entsteht, kann aber auch dazu beitragen, der Verlusterfahrung etwas Neues und in gewisser Weise auch Heilsames hinzuzufügen. Die iranische Autorin Mehrnousch Zaeri-Esfahani (2016) beschreibt die Rolle von Literatur bei ihrem Prozess des Ankommens in Deutschland so: »Nach mehr als 30 Jahren sind nicht nur Bücher geschrieben, sondern eine Quelle von Geschichten ist aufgetan, der Schmerz der Trauer ist gelindert, meine iranischen Wurzeln sind wiederbelebt und meine deutschen Wurzeln lebendiger und schöner denn je. Ich bin voll Dankbarkeit und Demut, dass die Literatur mir bei meiner Integration, bei dieser beschwerlichen, manchmal heiteren und manchmal verdrießlichen Identitätsbildung geholfen hat« (Zaeri-Esfahani, 2017, S. 18).

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Belletristik als Brückenmedium im psychosozialen Verstehen

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»Es ist schwer, vielleicht unmöglich, einen Roman zu schreiben, der erkennbar ein Roman über das Leben eines Menschen ist, der von Anfang bis Ende auf bequeme Weise von Fiktionen getragen wird. Wir schaffen einen Roman nur durch das Aufdecken von Fiktionen. Als Genre scheint der Roman ein grundsätzliches Interesse an der Behauptung zu haben, dass die Dinge nicht sind, was sie zu sein scheinen, dass unser scheinbares Leben nicht unser wirkliches Leben ist. Und die Psychoanalyse, würde ich meinen, hat ein vergleichbares Interesse« (Coetzee u. Kurtz, 2016, S. 242 f.).

Der Gedanke, den der südafrikanische Autor und Nobelpreisträger John Maxwell Coetzee im Dialog mit der Psychoanalytikerin Arabella Kurtz hier beschreibt, zielt darauf ab, dass bequeme Fiktionen weder durch einen Roman noch durch ein Leben tragen. Coetzee und Kurtz beschäftigen sich in ihrem gemeinsamen Buch »Eine gute Geschichte. Ein Gespräch über Wahrheit, Erfindung und Psychotherapie« (2016) in Form eines verschriftlichten Gedankenaustauschs unter anderem mit der schwierigen Frage, inwiefern wir zwischen einem echten und einem vorgetäuschten Dialog, bzw. einer wahren oder einer ausgedachten Erzählung überhaupt unterscheiden können und wozu das eigentlich wichtig sein könnte. Immer wieder scheinen Parallelen zwischen stimmigen Geschichten in der Literatur und in realen Begegnungen auf, die unsere Herzen durch ihre emotionale Wahrhaftigkeit berühren: »Die Geschichten, die wir über unser Leben erzählen, sind vielleicht keine akkurate Widerspiegelung dessen, was wirklich geschehen ist, sie können in der Tat bemerkenswerter wegen ihrer Ungenauigkeiten sein als

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wegen sonst noch was. (Ich will sie nicht Lügen nennen, obwohl die Menschen allerdings manchmal lügen, aus Zynismus oder aus Scham.) Aber sie sind schlicht das Einzige, was wir haben, um damit zu arbeiten, oder alles, von dem wir wissen, dass wir es haben; und wir können eine ganze Menge mit diesen Geschichten anfangen, besonders wenn wir sie für Wahrheiten ansehen, Wahrheiten der subjektiven und der intersubjektiven Art, die durch ihre Erzählweise aufgedeckt werden können« (Coetzee u. Kurtz, 2016, S. 86). Ergebnisse der Lesesozialisationsforschung zeigen, dass ein enger Zusammenhang zwischen der Rezeption von Geschichten, der Ausbildung narrativer Fähigkeiten und der Kompetenz in der Bearbeitung eigener Lebensprobleme zu verzeichnen ist. Ausgebildete Narrative tragen dazu bei, sich kognitiv zu strukturieren und Strukturierung zu erzeugen sowie Kohäsion durch Lückenschließung herzustellen. Bei der Untersuchung von literarischen und Alltagserzählungen wurden parallele Strategien gefunden, die als worldmaking (Ereignisse werden in einem zeitlichen Zusammenhang geschaffen und dadurch wird Sinn hergestellt) und world disruption (eine narrative Form wird genutzt, um ein Problem zu verarbeiten) bezeichnet werden: »Das Erzählen ermöglicht Personen, sich ihrer Identität zu vergewissern, indem es Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufeinander beziehen lässt und die Möglichkeit bietet, Permanenz und Veränderung in gleicher Weise zu arrangieren« (Behrendt, 2018, S. 29). In der Literaturdidaktik spielen die Fähigkeit zur Empathie sowie Alterität eine zentrale Rolle. Als Empathie bezeichnet Frederking (2010) die Fähigkeit des Fremdverstehens,

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um das Erleben und die Deutungen von anderen perspektivisch nachzuvollziehen. In der psychosozialen Praxis ist eine anteilnehmende und empathische Haltung gegenüber Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, schwer gelitten haben, zum Glück eher die Regel denn die Ausnahme. Die Ausbildung von Empathie basiert zum großen Teil auf der eigenen biografischen Geschichte, d. h. also durch welches Maß an Feinfühligkeit und der Fähigkeit zur Perspektivübernahme sich die relevanten Bezugspersonen ausgezeichnet haben. Neben dieser unbestreitbar wichtigsten Quelle zur Empathieentwicklung kann aber auch die Rezeption von Literatur dazu beitragen, sich in andere Menschen einzufühlen und Horizonte zu öffnen, die das Denken und Fühlen facettenreicher machen. »To empathize is to understand another’s experience through feeling or thinking something similar oneself. Although it commonly occurs without any deliberate plan or intention, empathy is facilitated by the willingness to meet, engage and be moved by the other« (Kirmayer, 2008, S. 144). Petra Götte (2018) weist allerdings zu Recht auf die Diskrepanz zwischen literarischem (Fremd-)Verstehen, das sich auf dem Feld des Imaginären bewegt, und lebensweltlichem (Fremd-)Verstehen hin, das sich auf die reale Alltagswelt bezieht und das beinhaltet, die Perspektive eines realen fremden Gegenübers einzunehmen. Sprich: Literarisches Fremdverstehen oder Identifikation mit dem fiktionalisierten Anderen ist nicht zu verwechseln mit einer empathischen Haltung einem realen Menschen gegenüber – aber Ersteres erleichtert möglicherweise Letzteres. Was aber bedeutet Alterität eigentlich genau? Laut Susanne Helene Becker (2017) eignet sich der Begriff der Alterität »am besten, um literarische Begegnungen mit

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dem Anderen zu beschreiben, weil der die Differenzerfahrung bzw. die Erkenntnis des Eigenen im Fremden einschließt – egal, ob es sich um kulturelle oder soziale Diversität handelt« (S. 26). Die Erfahrung der Alterität, also die Begegnung mit etwas als fremd Erlebten, lässt sich als Differenzerfahrung fassen und kann sich zwischen den Polen von Faszination (Xenoromantik) und erlebter Bedrohung (Xenonegativität) abspielen. Die Literaturwissenschaftlerin und Psychoanalytikerin Johanna Bossinade (2011) versteht den Alteritätsbegriff weniger als Differenzerfahrung mit einem realen oder fiktiven Gegenüber, sondern vielmehr als einen intrapsychischen Bestandteil, als einen Höreffekt, »mit dem ›ich‹ in einer intimen Entfremdung im Anfang verwurzelt bin« (S. 44). Und weiter: »Das Andere wird traditionell a. als Gegenüber, b. als Fremdes, c. als Umkehrverhältnis und d. gemäß einer Dialektik von Ausnahme und Regel gedacht, was die Kulturwissenschaft ›Othering‹ nennt. Das Andere ist entweder die Ausnahme zu ›unserer‹ Regel oder ›wir‹ sind das Andere qua Regel […]. Mein Vorhaben, die Alterität aus diesem Zirkel zu lösen, verwirft nicht das System, sondern überschreitet seine Grenzen. Das Andere soll weder auf eine Devianz noch auf ein Defizit und auch nicht auf die Alteregos in Agentenromanen reduziert werden können, die über die Achse rein unrein gut böse das immer gleiche Plotschema erfüllen« (Bossinade, 2011, S. 30). Im Grunde wird Alterität also entwicklungspsychologisch bereits in dem Moment erworben, in dem vom Kind eine Subjekt-Objekt-Trennung vorgenommen und eine fremde Stimme bzw. ein anderes Wollen gehört werden kann. Daraus entsteht der ambivalente Wunsch, diese andere Stimme in sich gleichzeitig hören und nicht hören

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zu wollen, und gleichzeitig der Affekt, dass der Andere eigentlich zu viel für mich ist: »Der Wunsch, etwas von außen Kommendes aufzunehmen, ist mit der Angst gekreuzt, von diesem Fremden ›in sich‹ vernichtet zu werden« (­Bossinade, 2011, S. 35). Im Rahmen des psychoanalytischen Settings bezieht sich Bossinade (2011) auf Jessica Benjamin, um mit dem Phänomen der Alterität umgehen zu können: Damit die Analytikerin nicht die im Omnipotenzgefühl verwurzelte Gewalt gegen die Andersheit des Anderen strafend erwidert, muss sie unterschiedliche Stimmen aushalten und zur doppelten Identifikation fähig sein: »Die primäre Verantwortung eines Subjekts für das andere Subjekt besteht darin, ›dessen intervenierender und überlebender Anderer zu sein‹« (Bossinade, 2011, S. 125, Herv. i. O.). Wenn man Bossinades (2011) Gedanken auf andere psychosoziale Kontexte überträgt, könnte das heißen, dass die aufkommenden und ängstigenden Fremdheitsgefühle im Kontakt mit Menschen, die nach Deutschland geflüchtet sind, stärker als intrasubjektive denn als intersubjektive Gefühle zu begreifen sind. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Projektionen und inneren Bildern bzw. Stimmen kann durch die Rezeption literarischer Texte mitunter zunächst stärker und radikaler betrieben werden als in der Begegnung mit realen Menschen, weil Hilfe- oder andere Handlungsimpulse, die diese Gefühle überdecken, keine oder nur eine geringe Bedeutung haben. Joseph Roth spricht in seinem 1927 verfassten Essay über die wandernden Ostjuden die potenziellen Leser*innen direkt an. Seine Ansprache liest sich nicht so, als sei sie mehr als neunzig Jahre her: »Dieses Buch verzichtet auf die ›objektiven‹ Leser, die mit einem billigen und sauren Wohlwollen von den schwankenden Türmen westlicher Zivilisation auf den

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Nahen Osten hinabschielen und auf seine Bewohner; aus purer Humanität die mangelhafte Kanalisation bedauern und aus Furcht vor Ansteckung arme Emigranten in Baracken einsperren, wo die Lösung eines sozialen Problems dem Massentod überlassen bleibt […]. Der Verfasser hegt die törichte Hoffnung, dass es Leser gibt […], die Achtung haben vor Schmerz, menschlicher Größe und vor dem Schmutz, der überall Leid begleitet; Westeuropäer, die auf ihre sauberen Matratzen nicht stolz sind; die fühlen, dass sie vom Osten viel zu empfangen hätten« (Roth, 1927/2015, S. 5 f.). In diesem Sinne hoffe ich auf Leser*innen, die Lust und Interesse haben, sich von literarischen Texten inspirieren und berühren zu lassen, und auf diese Weise vielleicht nochmal einen neuen Zugang zu diversen Themen erhalten, die im Kontext von Flucht und Migration oftmals eine Rolle spielen.

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Aus der Zeit gefallen – »Gehen, ging, gegangen« von Jenny Erpenbeck (2015) »Die Zeit macht etwas mit einem Menschen, weil ein Mensch keine Maschine ist, die man an- und ausschalten kann. Die Zeit, in der ein Mensch nicht weiß, wie sein Leben ein Leben werden kann, füllt so einen Untätigen vom Kopf bis zu den Zehen« (Erpenbeck, 2015, S. 293).

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Als ersten Roman, der sich mit Flucht und Exil auseinandersetzt und dessen Lektüre für psychosoziale Fachkräfte Erkenntnisse hinsichtlich eigener innerer Bilder verspricht, habe ich einen Roman von Jenny Erpenbeck gewählt. Die Autorin wurde 1967 in Ostberlin geboren, absolvierte eine Lehre als Buchbinderin und ein Studium der Theaterwissenschaften. Anschließend studierte sie Musiktheater­regie an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin und arbeitete als Regieassistentin und freischaffende Regisseurin. Ihr Debüt als Schriftstellerin gab sie 1999 mit der »Geschichte vom alten Kind«. Ihre Werke wurden vielfach ausgezeichnet und in 18 Sprachen übersetzt. Der Hauptprotagonist von Erpenbecks 2015 erschienenem Roman »Gehen, ging, gegangen« ist Richard, Altphilologe und kürzlich emeritierter Professor der Berliner Humboldt-Universität. Seine Frau ist gestorben, seine Geliebte auf und davon und Richard hat auf einmal viel Zeit. Mehr als ihm lieb ist. Nahe seinem Grundstück liegt ein See, in dem kürzlich ein Mensch ertrunken ist, die Leiche partout nicht an die Oberfläche kommen will und so dort niemand mehr schwimmen gehen möchte. Erst am Romanende löst sich dieses metaphorisch starke Bild vollends auf, das vermutlich nicht nur an die vielen im Mittelmeer ertrunkenen Menschen rührt, sondern auch die inneren, verschütteten »Leichen« betrifft, die nicht auftauchen können und dürfen – Richard findet zu seiner eige-

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nen schließlich eine Zugangsmöglichkeit. Der gesamte Roman ist konsequent aus Richards – sprich also aus einer saturierten, bildungsbürgerlichen Wohlstandsperspektive – geschrieben, die alles, was sie an anderen Sicht- und Denkweisen aufnimmt, immer wieder zu sich in Bezug setzt. Das nimmt den Lesenden Distanzierungsmöglichkeiten, denn vieles, was Richard im Verlauf des Romans denkt, reflektiert und sich dafür teilweise auch schämt, hat man selbst möglicherweise ebenfalls schon mal gedacht, auch wenn man es vielleicht nicht wollte: »Tannengrün am letzten Sonntag vor dem Advent, und eine Kerze auf dem Grab anzünden, die der Wind irgendwann auslöscht, und dann Winterruhe, ein paar Wochen später ist nur noch der Buchsbaum grün unter dem Schnee – all das genauso seit bald sechzig Jahren. Einen Grabplatz zu haben, in dem fast zwei Generationen ruhen, ist, wenn man so will, auch ein Luxus, aber der Gedanke ist Richard erst in den letzten Wochen gekommen. Die längste Zeit seines Lebens hat er im hintersten Winkel seiner Seele gehofft, dass die Menschen in Afrika weniger um ihre Toten trauern, weil das Sterben dort schon seit jeher massenhaft auftritt. Jetzt saß in diesem hintersten Winkel seiner Seele stattdessen die Scham darüber, dass er es sich die längste Zeit seines Lebens so leichtgemacht hat« (Erpenbeck, 2015, S. 209).

Richard ist ein Sympathieträger, ein Feingeist, alles andere als mitgefühlsarm, aber angefüllt mit der einen oder anderen Borniertheit oder alltagsrassistischen Gedanken, die den meisten von uns nicht fremd sind. Relativ zu Beginn des Buchs kommt er auf seinen Streifzügen durch Berlin auch am Alexanderplatz vorbei und sieht manches, was er aus der Nähe zunächst nicht einordnen und erst beim Fernsehen besser begreifen kann:

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»Er setzt sich zu Tisch und schaltet den Fernseher ein, in der Abendschau bringen sie Nachrichten aus Stadt und Region: ein Überfall auf eine Bank, der Streik der Flughafenbelegschaft, das Benzin wird wieder teurer, auf dem Alexanderplatz haben sich zehn Männer versammelt, Flüchtlinge offensichtlich, und sind in einen Hungerstreik getreten, einer der Hungerstreikenden ist zusammengebrochen und wurde ins Krankenhaus abtransportiert. Auf dem Alexanderplatz? Man sieht, wie ein Mann auf einer Liege in einen Krankenwagen geschoben wird. Dort wo Richard heute gewesen ist? Eine junge Journalistin spricht in ein Mikrofon, im Hintergrund hocken und liegen ein paar Gestalten, man sieht einen Campingtisch mit einem Pappschild: We become visible« (Erpenbeck, 2015, S. 27, Herv. B. B.).

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»We become visible«, wir werden sichtbar– könnte der Untertitel dieses Romans sein, da in ihm verschiedene Persönlichkeiten hinter scheinbar einheitlichen Fluchtgeschichten sicht- und erkennbar werden. Jenny Erpenbeck hat für ihren Roman zwölf Männer aus verschiedenen afrikanischen Ländern interviewt, die beschriebenen biografischen Erzählungen sind also nicht fiktiv. Die Fiktion – denn es ist ja dennoch ein Roman und keine Dokumentation – ermöglicht es aber, Verknüpfungen und Verbindungen zwischen den »Fremden« und den »Hiesigen« enger zu ziehen, und zugespitzte Fragen und Ambivalenzen in Worte und Sprachbilder zu fassen. In der Geschichte trifft Richard die Entscheidung, sich für die Geflüchteten zu interessieren, und zwar zunächst nicht aus einem Hilfe-, sondern dem ihm vertrauten Forschungsimpuls: »Und plötzlich weiß er, warum er heute zwei Stunden auf dem Oranienplatz gesessen hat. Er hat es schon gewusst, als er im August von den Hungerstreikenden hörte, die ihre

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Namen nicht nennen wollten, und hat es auch gewusst, als er gestern den schwarzen Schulhof betrat, aber erst jetzt, in diesem Moment weiß er es wirklich. Über das sprechen, was Zeit eigentlich ist, kann er wahrscheinlich am besten mit denen, die aus ihr hinausgefallen sind. Oder in sie hineingesperrt, wenn man so will« (Erpenbeck, 2015, S. 51).

Richard geht in die Sammelunterkunft  – ein ehemaliges Altersheim – in der die afrikanischen Männer jetzt untergebracht sind und löst zunächst Irritation aus, weil er weder etwas spenden noch über irgendeine amtliche Funktion mit den Männern sprechen will. Er ist zunächst lediglich ein wenig neugierig, wer diese Männer sind, woher sie kommen und wie sie mit ihrer Lebenszeit umgehen. Er hört zu: »Der Krieg zerstört alles, sagt Awad: die Familie, die Freunde, den Ort, an dem man gelebt hat, die Arbeit, den Alltag. Wenn man ein Fremder wird, sagt Awad, hat man keine Wahl mehr. Man weiß nicht, wohin. Man weiß nichts mehr. Ich kann mich selbst nicht mehr sehen, das Kind, das ich war. Ich habe kein Bild mehr von mir […]. Ist es nicht so, sagt Awad, dass jeder erwachsene Mensch – ob Mann, ob Frau, ob reich oder arm, ob er Arbeit hat oder nicht, ob er in einem Haus wohnt oder obdachlos ist, ganz egal –, dass jeder Mensch seine paar Jahre zum Leben hat und dann stirbt? Ja, so ist es, sagt Richard« (Erpenbeck, 2015, S. 81 f.).

Spätestens an dieser Stelle brechen die scheinrationalen Argumente, die in den Jahren nach dem Erscheinen des Romans bis heute eher zu- als abnehmen – »Wir können nicht alle Menschen aufnehmen«, »Deutschland darf sich nicht überfordern« etc. – wie ein Kartenhaus zusammen. Es geht nur noch um das Menschsein, um Humanität in seiner Reinform und um eine schlichte Argumentation,

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der man sich im persönlichen Kontakt nicht entziehen kann. Je mehr Richard den Männern zuhört, je mehr er ihre Geschichten in sich hineinlässt, desto weniger wird sein forscherisches und je größer wird sein Begegnungsinteresse:

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»Von einem Tag auf den anderen hatte ich keinen Vater mehr, keine Familie, kein Haus, keine Werkstatt. Von einem Tag auf den anderen war unser ganzes Leben vorbei. Wir konnten unseren Vater nicht einmal begraben. Ich bin noch einmal zu meiner Mutter gegangen, um Abschied zu nehmen, dann bin ich nach Niger gefahren. Das war das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben. Vor dreizehn Jahren. Wenn meine Mutter mich am Telefon fragt, wie es mir geht, sage ich immer: Gut« (Erpenbeck, 2015, S. 114).

Richard fängt auf seine Weise an, stärker in den Kontakt mit Einzelnen zu gehen. Da ist Awad, der in Ghana geboren wurde, dann mit seinem Vater als Kind nach Libyen gegangen und dort Automechaniker geworden ist. Awad, dessen Vater erschossen, der auf ein Flüchtlingsboot nach Italien gezwungen wurde und fest davon ausgeht, dass man nichts verbergen dürfe, wenn man irgendwo ankommen wolle. Awad erzählt und berichtet Richard bereitwillig, weil er seine Geschichte als Teil seiner Identität begreift, einen Teil, der nicht verleugnet, sondern erinnert und erzählt werden will, um sich zumindest auf diese Weise des eigenen Daseins zu versichern. Als besonders identitätssichernd erlebt er den Besitz seines Handys. »Tatsächlich ist das einzige, was jeder von den Flüchtlingen, besitzt, ein Handy, manche haben eines mit zersplittertem Display, manche ein neueres Modell, manche eines mit Internetzugang, manche eins ohne – aber jeder besitzt irgendeines. Broke the memory, hat Tristan gesagt, als er Richard

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davon erzählt hat, wie die Soldaten die Speicherkarten der Mobiltelefone aller Gefangenen zerbrochen haben, damals in Libyen« (Erpenbeck, 2015, S. 219).

Da ist Raschid, eine Art Chef dieser Gruppe von Geflüchteten, aus Nigeria, Schlosser und gläubiger Muslim, der Richard mit den fünf Säulen des Islams vertraut macht. Raschid, der bei wiederaufkeimenden Landesunruhen gezwungenermaßen ohne seine Frau aber mit seinen beiden kleinen Kindern von Libyen aus auf einem überladenen Boot nach Italien flieht – eine Überfahrt, bei der beide Kinder ertrinken: »Fünf Tage insgesamt ohne Essen und Trinken. Es ging uns allen sehr schlecht. Einige sind gestorben. Und die, die noch lebten, hatten überhaupt keine Kraft mehr. Ich war so schwach. So schwach. Ich hab alles nur noch verschwommen gesehen. Aber dann war plötzlich das Rescue-Boot da. Es gab einen Tumult. Die vom Rettungsboot wollten uns helfen. Sie warfen Essen und Wasserflaschen zu uns herüber, alle versuchten, etwas zu fangen, und das Boot geriet dadurch ins Schwanken. Und dann kippte es plötzlich um. Einfach so. Von einem Moment auf den anderen. Es ging so schnell. Innerhalb von fünf Minuten, nicht länger, innerhalb von nur fünf Minuten waren hunderte, hunderte Menschen tot. Die, neben denen ich eben noch gesessen hatte. Mit denen ich eben noch gesprochen hatte. Cut, denkt Richard. Cut. Ich kann nicht schwimmen, aber ich habe irgendwie ein Kabel zu fassen bekommen. Manchmal war ich über, manchmal unter Wasser. Unter Wasser hab ich all die Leichen gesehen« (Erpenbeck, 2015, S. 239 f.).

Da ist Karon aus Ghana, der fast verrückt wird aus Sorge um seine Familie in seiner Heimat, und für den Richard schließlich für 3.000 Euro ein Grundstück in Karons Hei-

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matdorf kauft, damit für die zurückgebliebene Familie eine kleine Existenzgrundlage geschaffen ist. Die spontane Freude- und Dankbarkeitsreaktion, mit der Richard gerechnet hat, bleibt zunächst aus. »Du müsstest dir zumindest um deine Familie keine Sorgen mehr machen. Karon sagt immer noch nichts. Was ist das Problem? Es dauert ein Jahr, bis man zum ersten Mal ernten kann. Karon hat Recht. Aber noch etwas anderes, versteht Richard in diesem Moment: dass Karons Sorgen ihn schon so aufgefressen haben, dass er sogar Angst davor hat, zu hoffen« (Erpenbeck, 2015, S. 255).

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Und da ist noch der 18-jährige Osaburo aus Nigeria, der seit drei Jahren ohne seine Familie in Europa unterwegs und äußerst einsilbig ist. Richard fragt ihn schließlich nach seinen Wünschen und erhält die verblüffende Antwort »Klavierspielen«. Und so kommt es einerseits zu gemeinsamen Klavierstunden in Richards Haus und andererseits zu einem Einbruch in selbigem, der wahrscheinlich von Osaburo verübt wurde. Beides hat Richard sich vorher nicht vorstellen können, beides irritiert ihn – wie uns Leser*innen – in unterschiedlicher Weise nachhaltig. Diese im Buch öfter auftauchenden Irritationen lösen sich nicht auf, vielmehr veranlassen sie Richard, seine Innenwelt mehr und mehr von anderen/anderem berühren zu lassen: »Richard liest, und während er liest, verrückt sich für ihn plötzlich auch der griechische Götterhimmel, der doch eigentlich sein Spezialgebiet ist, und er versteht plötzlich neu, was es bedeutet, dass sich für die Griechen das Ende der Welt da befand, wo heute Marokko ist, am Atlasgebirge, dort stemmte Atlas Himmel und Erde auseinander, damit Uranus nicht wieder in Gaia hineinstürzt und ihr Gewalt antut. Die Gegenden, die heute Libyen, Tunesien, Algerien heißen,

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waren in der Antike das Gebiet vor Ende der Welt, also die Welt« (Erpenbeck, 2015, S. 176).

Es gibt noch weitere Stellen in diesem Roman, bei denen die Grenzen zwischen den »Fremden« und den »Hiesigen« immer mehr verschwimmen bzw. sich berühren. Außerdem wird deutlich, dass die sich auch unter Bildungsbürgerinnen und -bürgern ausbreitenden Deutschtümeleien sowie der argumentierende Rückgriff auf vermeintlich reinheitsbewahrende germanische Wurzeln kulturgeschichtlich durchaus problematisch sind. So zitiert ein Anwalt, den Richard zusammen mit einem der geflüchteten Männer aufsucht, listig aus Tacitus’ Germania: »Und nun beginnt der Anwalt zu rezitieren: Es gilt bei den Germanen als Sünde, einem Menschen sein Haus zu verschließen, wer es auch sei; jeder empfängt ihn mit seinen wirtschaftlichen Verhältnissen entsprechend reich zubereiteten Mahle. Sind die Vorräte aufgezehrt, dann weist der, der eben noch Gastgeber gewesen war, den Weg zu einem anderen gastlichen Hause und geht selbst mit, uneingeladen betreten sie den nächsten Hof und der Empfang ist nicht weniger herzlich. Im Gastrecht macht keiner einen Unterschied zwischen Bekannten und Unbekannten. Zwischen Gastgeber und Gast gibt es keinen Unterschied zwischen mein und dein. Der Anwalt klappt das Buch wieder zu und fragt Richard: Und jetzt? Und jetzt?, fragt Richard mit einem Anflug von Hoffnung zurück. Jetzt, 2000 Jahre später, gibt es dafür den Paragraphen 23, Absatz 1, Aufenthaltsgesetz« (Erpenbeck, 2015, S. 309 f., Herv. i. O.).

Je mehr Zeit Richard mit den Männern aus Afrika verbringt, je weniger sie sich auf ihre Fluchtgeschichte reduzieren lassen und sie für ihn Individuen, mitunter zu Freunden werden, die ihm näher sind als manche seiner

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alten Bekannten, desto weniger versteht er die Logiken der gesetzlichen und politischen Regelungen im Umgang mit geflüchteten Menschen, desto unklarer werden ihm als selbstverständlich vorausgesetzte Privilegien, die den »Hiesigen« zustehen und den »Fremden« verwehrt bleiben. Schließlich werden harte Entscheidungen getroffen:

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»Anfang Februar treffen für alle Männer der Oranienplatz-­ Gruppe, die in Deutschland nie einen Asylantrag gestellt haben, aber trotzdem da sind, die Briefe von der Ausländer­ behörde ein. Einzelfall für Einzelfall ist nun geprüft und entschieden. Es hat sich herausgestellt, was man auch bei der Räumung des Platzes im Herbst letzten Jahres schon wusste: dass nur Italien für die Männer, die in Italien angekommen sind, zuständig ist. Ali aus dem Tschad, der bei Annes Mutter als Pfleger gearbeitet hat, muss gehen, Khalil, der nicht weiß, wo seine Eltern sind und ob sie noch leben, muss gehen. Zani, der mit dem kaputten Auge, der die Artikel über das M ­ assaker in seiner Heimatstadt zusammengetragen hat, muss gehen […]. Gehen muss auch Raschid. An dem Montag, an dem er den Brief erhält, übergießt er sich auf dem Oranienplatz mit Benzin und will sich verbrennen« (Erpenbeck, 2015, S. 326 f.).

Dieser Moment stellt einen Wendepunkt im Roman dar, bei dem sich das Denken und das Sich-berühren-Lassen in Handlungen und aktive Hilfe wandelt, die hart am Rande des Gesetzes agiert. Richard fängt an, sich aktiv darum zu bemühen, dass die abgelehnten Männer irgendwo unterkommen, bei Freunden, im Kirchenasyl, bei sich zu Hause. Manchen Lesenden mag das aus heutiger Sicht romantisch vorkommen, de facto gab es nicht wenige, genau solcher Aktionen im Jahr 2015, als die Willkommenskultur noch einen weniger schalen Beigeschmack hatte, sondern sich tatsächlich an der einen oder anderen Stelle in Reinform manifestierte.

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Das Buch endet mit einem Fest, das Richards deutsche und afrikanische Freunde zusammen feiern, und das von der schweren Erkrankung der Ehefrau von Richards bestem deutschen Freund überschattet wird. Hier bricht nochmal die Erkenntnis über alle Leser*innen herein, dass wir bei den existenziellen Fragen alle im selben Boot sitzen und dass Wohlstand nicht vor Tod schützt. Und an dieser Stelle taucht auch die anfangs erwähnte gut gehütete und tief in ihm versunkene »Leiche« von Richard an die Oberfläche: ein vor langer Zeit und auf seinen Wunsch abgetriebenes Kind, das zu einer kinderlosen Ehe und Alkoholabhängigkeit seiner verstorbenen Frau geführt hat: »Ich hab mich damals für sie geschämt. Ich musste mich um sie kümmern, aber es war mir furchtbar peinlich. Richard schüttelt den Kopf, als könne er selbst nicht glauben, was er da sagt. Warum hast du dich für deine Frau geschämt?, fragt Ali. Ich glaube, dass es mir eigentlich Angst gemacht hat. Angst wovor? Dass sie stirbt. Ja, sagt Richard, ich habe sie in dem Moment dafür gehasst, dass sie vielleicht stirbt. Das kann ich verstehen, sagt Detlev. Damals, glaube ich, sagt Richard, ist mir klargeworden, dass das, was ich aushalte, nur die Oberfläche von all dem ist, was ich nicht aushalte. So wie auf dem Meer?, fragt Khalil. Ja, im Prinzip genauso wie auf dem Meer« (Erpenbeck, 2015, S. 348).

Der Gedanke, dass das, was man aushält, nur die Oberfläche von all dem sein könnte, was man nicht aushält, ist einerseits fast banal und lässt andererseits kurz den eigenen Atem stocken. Er bringt sehr verdichtet eine der Grundaussagen des Romans auf den Punkt: Das unermesslich große Leid von unzähligen Menschen, die sich zur Flucht entschließen, die zur Flucht gezwungen sind, die hier wie dort ihre Liebsten verloren haben oder sie vermissen, ist zu einem sehr großen Teil ungesehen. Wir

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sehen, wenn überhaupt, nur die Spitze, die Oberfläche, und geraten dabei oft an unser Limit, auch Empathieerschöpfung genannt. Und dennoch – das kann man diesem Roman auch entnehmen – ist die Konfrontation mit der Oberfläche wertvoll und lohnend sowie alles andere als oberflächlich.

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Die Verwandlung – »Gott ist nicht schüchtern« von Olga Grjasnowa (2017)

Im Unterschied zu Erpenbecks Roman, der seinen Fokus auf das Leben nach der Flucht richtet, widmet sich der nächste Text auch Situationen vor der Flucht und insbesondere der Flucht selbst. Er beschreibt den ungeheuren Druck von politischer Repression, der Menschen dazu veranlasst, sich auf eine gefährliche Reise ins Ungewisse zu begeben. Die Autorin Olga Grjasnowa stammt aus Aserbaidschan, lebt seit ihrem zwölften Lebensjahr in Deutschland und ist mit einem Syrer verheiratet. »Gott ist nicht schüchtern« (2017) ist ihr dritter Roman. Er zeichnet das Leben während und nach der Flucht zweier junger syrischer Menschen aus der Mittel- bis Oberschicht nach. Die beiden Protagonisten Amal und Hammoudi erleben im Verlauf der Geschichte vieles von dem, was Leser*innen potenziell mit geflüchteten Menschen aus Syrien assoziieren. Dazu gehört der Wunsch, die politischen Verhältnisse im Land zu ändern, und dafür in der Konsequenz bespitzelt, bedroht, verfolgt, inhaftiert und gefoltert zu werden, mit Krieg, Zerstörung und Tod in Berührung zu kommen sowie ungewollt zum*zur Flüchtenden zu werden und nach der Flucht Ausgrenzung, Langeweile und existenzielle Verunsicherung zu erfahren. Liest man die 2016 veröffentlichten Kriegsreportagen »Der Morgen als sie uns holten. Berichte aus Syrien« von Janine di Giovanni, dann wird deutlich, dass Grjasnowas Roman an den vereinzelten Stellen, in denen von Folter und Gewalt die Rede ist, die Leser*innen eher schont als konfrontiert. Der Roman erzählt die Geschichten von Amal und Hammoudi parallel, nur an zwei Stellen kreu-

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zen sich ihre Wege – einmal zu Beginn des Romans in Damaskus und einmal gegen Ende in Berlin. Beide Begegnungen erscheinen auf einer metaphorischen Ebene kennzeichnend für die von der Autorin geschilderte Situation in Syrien und die das Leben umstülpenden Ereignisse auf der Flucht. Die Geschichte beginnt, als die ersten Demonstrationen in Syrien stattfinden. Hammoudi, der in Paris kürzlich sein Medizinstudium absolviert hat und eigentlich nur seinen Pass in der Heimat verlängern will, und die Schauspielerin Amal nehmen die veränderte Stimmung im Land und in Damaskus mit Interesse zunächst nur als Zaungäste wahr:

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»Die Menschen hatten es nämlich satt. Amal hatte es satt, ihr Bruder hatte es satt, ihre Freunde, ihre Kommilitonen, Bekannten, Fremde auf den Straßen, die ganze vulgäre Boheme hatte es satt. Sie hatten die Korruption, die Willkür der Geheimdienste, die eigene Machtlosigkeit und die permanenten Demütigungen satt. Sie hatten es satt, dass alle öffentlichen Bibliotheken, Flughäfen, Stadien, Universitäten, Parks und sogar Kindergärten nach den Assads benannt waren. Sie hatten es satt, dass ihre Väter, Brüder und Onkel in Gefängnissen saßen […]. Sie hatten es satt, wie Tiere behandelt zu werden. Und vor allem hatten sie es satt, dass sie all das nicht aussprechen durften« (Grjasnowa, 2017, S. 18).

Amal und Hammoudi begegnen sich in Damaskus in einem Hausflur, aus einem freundlich-oberflächlichen Kontakt erwächst schnell Misstrauen, keiner weiß, wie er den*die andere einordnen kann, zu welcher Seite er oder sie gehört: »›Woher kommst du?‹, fragt Amal. ›Aus Deir az Zour‹. ›Ein Junge aus der Provinz also‹, sagt sie mit großer Unbeküm-

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mertheit. ›Ich war die letzten sieben Jahre in Paris‹, antwortet Hammoudi und ärgert sich sofort darüber, dass er versucht, Amal zu beeindrucken. Dann fügt er hinzu: ›Die Stadt hat sich verändert.‹ ›Deir az-Zour?‹ ›Damaskus.‹ ›Was meinst du?‹, fragt Amal und studiert ihn aufmerksam. ›Die Stimmung ist ganz anders, so als würde irgendetwas passieren. Die Menschen verstecken sich nicht mehr.‹ Amal steht hastig auf, und Hammoudi bemerkt nun, dass er zu weit gegangen ist: Sie muss davon ausgehen, dass er zum Geheimdienst gehört und sie über die stillen Proteste in der Stadt ausfragen will, denkt Hammoudi« (Grjasnowa, 2017, S. 47).

Hammoudi erhält keine Ausreiseerlaubnis und darf zunächst nicht als Arzt in Syrien praktizieren. Widerwillig legt er eine erneute Prüfung ab, er sehnt sich nach Paris und seiner Freundin, zieht schließlich wieder zu seiner Familie nach Deir az-Zour und beginnt zunehmend, in die politischen Geschehnisse einzutauchen: »Seine Stadt steht vor einem Wendepunkt, und alle wissen, dass es kein Zurück gibt. Hammoudi hat Feuer gefangen. Er skandiert Parolen, die nicht vom Regime vorgegeben worden sind, und das ist das erste Mal in den letzten Monaten, dass er über sich selbst bestimmt. Er spürt, dass er die Kontrolle über das eigene Leben zurückerlangt und möchte sie nie wieder abgeben. Vielleicht ist ja dies die Freiheit, sagt er zu sich selbst« (Grjasnowa, 2017, S. 73).

Auch Amal beginnt verstärkt zu Demonstrationen zu gehen, sie und ihre Freundin werden Zeuginnen, wie Demonstranten von den Milizen angegriffen und zusammengeschlagen werden. Ihr Vater warnt sie, sich weiter an den Demonstrationen zu beteiligen, Syrien sei weder für eine Revolution noch für eine Zivilgesellschaft bereit, es sei zu durchdrungen von Korruption und undurchsichti-

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gen Bündnissen. Auf Amals Hinweis, dass sich die Veränderungen nicht mehr aufhalten ließen, erinnert ihr Vater sie an das Massaker in Hama 1982:

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»Hama ist zu einem Code-Wort geworden, das Erinnerungen an den letzten Aufstand gegen das Regime heraufbeschwört und den jetzigen einzudämmen versucht. Damals kam es in Hama zu einer Rebellion der Muslimbrüder. Um seine Macht zu festigen, ließ Hafiz al Assad das Militär einmarschieren und die ganze Stadt dem Erdboden gleich­machen: Menschen wurden an die Wand gestellt und erschossen, vergewaltigt, aus den Fenstern geworfen, von Panzern überrollt und in den Krankenhäusern abgeschlachtet. Diese Bestrafung dauerte drei Wochen an, ganze Stadtteile wurden in Schutt und Asche gelegt. Niemand sprach über die Ereignisse in Hama, niemand berichtete darüber, niemand dokumentierte sie. Noch heute weiß man nicht, wie viele Menschen damals ermordet worden sind. Aber man weiß, welchen Preis das Regime bereit war zu zahlen, um an der Macht zu bleiben« (Grjasnowa, 2017, S. 81).

Amal hält sich nicht an die Warnungen ihres Vaters und registriert bald, dass sie vom syrischen Geheimdienst observiert wird. Sie wird von eben jenem vorgeladen, ihr wird unmissverständlich klargemacht, dass man sie im Auge behalten werde. Als sie erneut an einer Demonstration teilnimmt, wird sie für einige Tage inhaftiert: »Sie werden nicht gefoltert, aber durch einen Spalt in der Wand, der vorsätzlich eingelassen wurde, können sie sehen, wie nebenan die Männer gefoltert werden. Ihre Schreie erschüttern Amal. Das grelle Neonlicht wird auch in der Nacht nicht ausgeschaltet und bald verliert Amal jedes Zeitgefühl. Keine der Frauen wurde angeklagt, manche sind nur wegen eines falschen Bildes auf ihrem Handy hier, andere,

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weil ihre Väter und Brüder bereits jahrzehntelang in syrischen Gefängnissen eingesessen haben« (Grjasnowa, 2017, S. 96).

Die dezenten und wie gesagt alles andere als dramatisierenden Beschreibungen Grjasnowas von Einschüchterungen, Haftbedingungen und Folterungen tragen dazu bei, dass die Abwehr beim Lesen gering bleibt und man sich gleichsam gezwungen sieht, zur Kenntnis zu nehmen, dass sich genau diese Szenen real, zeitgleich und in potenzierter Form ereignen. Alle diese Schilderungen sind keine historischen Beschreibungen, sondern sie zeigen Situationen, die jetzt passieren, während ich diese Zeilen lese bzw. schreibe. Hammoudi schließt sich der Opposition an, erklärt sich bereit, im Krankenhaus Beweise für die Verbrechen des Regimes zu sammeln, indem er Fotos von verstümmelten Leichen an internationale Zeitungen verschickt. Das Unterfangen scheitert, und er beginnt mit wenigen Kollegen ein provisorisches medizinisches Lager einzurichten, um auch verletzte Demonstranten medizinisch zu versorgen. Inzwischen entdeckt Amal das Doppelleben ihres Vaters; er, der schon einmal vorgetäuscht hatte, dass Amals Mutter gestorben sei. Sie findet heraus, dass ihr Vater parallel eine zweite Familie gegründet hat, Kinder gezeugt und von diesen deutlich anders – strenger, konservativer, herrischer – wahrgenommen wurde, als sie ihren Vater bislang immer selbst eingeschätzt hatte: »Er hatte ihnen damals erklärt, ihre Mutter sei gestorben. Niemand sagte ihnen, woran, alle Fragen wurden abgeblockt. Es gab zwar kein Grab, keine trauernden Freunde oder sonstigen Hinweise auf einen Tod, doch Amal stellte ihren Vater nicht in Frage und glaubte ihm. Jahrelang weinte sie um ihre Mutter. Zumindest bis Bassel ihr in einer mondlosen

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Nacht, kurz bevor Amal ihre Jungfräulichkeit verlieren sollte, erzählte, Swetlana hätte die Familie verlassen und würde nun in Russland leben. Sie hätte ihre Kinder verraten. Nachdem Bassel seine Sätze aufgesagt hatte, schwieg Amal. Etwas in ihr zerbrach – es war ihr kindlicher Glaube an das Gute und die Gerechtigkeit, genau genommen war es ihre Unschuld, die da vor die Hunde ging« (Grjasnowa, 2017, S. 37).

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Dieser doppelte innerfamiliäre Verrat sowie die nicht enden wollenden Bespitzelungen durch den syrischen Geheimdienst lassen Amal in den Libanon flüchten. In Beirut fühlt sie sich nicht wohl und registriert langsam, dass sie nicht zurückkann, aber auch keine Idee davon hat, wohin sie gehen, geschweige denn, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Sie jobbt in einem Restaurant und muss sich die Anfeindungen ihres Chefs anhören – Anfeindungen, die ihr Leid in eine Reihe mit so vielen anderen leidvollen Geschichten stellt, ohne es dadurch relativieren zu können. Auch an dieser Stelle macht Grjasnowas Roman deutlich, dass das Unrecht und die Verletzungen eine globale Vorgeschichte haben, und dass Gott wahrhaftig nicht schüchtern sein kann – weder in seinen Strafen noch in seiner Großherzigkeit, Menschen nach alledem noch Glück fühlen zu lassen: »›Zwanzig Jahre lang habt ihr unser Land besetzt, und nun kommt ihr wieder. Du kannst dir nicht mal vorstellen, was wir im Bürgerkrieg alles erlebt haben. Für Brot mussten wir stundenlang anstehen, kein Strom weit und breit. Und Leichen, immer wieder Leichen in den Straßen. Die ganze Stadt haben sie zerstört. Das, was ihr erlebt, ist nichts im Vergleich zu unserem Leid.‹ Eine Schreckensgeschichte folgt der nächsten. Amal sagt kein Wort. Sie weiß, dass diese Geschichten sonst niemals erzählt werden würden, doch sie weiß auch, dass Leid nicht vergleichbar ist« (Grjasnowa, 2017, S. 181).

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Hammoudi operiert indessen Tag und Nacht im eingeschlossenen Deniz az-Zour, während seine Eltern das Land verlassen und sein Bruder sich kämpfenden Rebellen anschließt. Grjasnowa schildert sparsam die vergeblichen Versuche, an die Güter der humanitären Hilfe zu gelangen, sowie die verschiedenen Szenen, die sich im Krankenhaus abspielen. Gerade der gedämpfte und fast abmildernde Sprachduktus macht das Lesen dieser Beschreibungen nahezu unerträglich: »Ein Mann bringt die Leiche seines Sohnes. Seine Tochter wird von Helfern getragen, ihr wurden beide Beine abgerissen, die Mutter und die jüngste Tochter, noch ein Säugling, starben in den Trümmern ihres Wohnhauses. Der Mann blickt ins Leere. Er war auf dem Markt, auf der Suche nach Essen, als die Bombe abgeworfen wurde. Hammoudi operiert die Tochter. Sie wird durch ein umfunktioniertes Intubationsgerät für Asthmatiker beatmet. Eine von Hammoudis Innovationen für die Versorgung der Patienten mit Sauerstoff während der Operationen. Doch wenn sauberes Wasser, Strom und Betäubungsmittel fehlen, hilft auch die beste Improvisationskunst nicht. Das Mädchen stirbt. Es ist keine acht Jahre alt geworden. Der Vater wiegt den Körper in den Armen und streichelt ihr zärtlich über die Wange. Das Krankenhaus verlässt er mit den Leichen seiner beiden Kinder« (Grjasnowa, 2017, S. 197  f.).

Hammoudi wird schließlich vom IS gebeten, für sie als Privatarzt zu arbeiten, bis es ihm mithilfe seines Bruders gelingt, zu fliehen. Der Roman erzählt nun parallel Hammoudis und Amals Flucht, die über die Türkei nach Europa verläuft. Beide fliehen in unterschiedlichen Booten, beide erleben Langeweile, Ohnmacht, ewiges Warten und Ungewissheit. Zudem werden sie weiterhin Zeugen von Tod und Vernichtung:

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»Auch Istanbul ist voller geflohener Syrer, in Bäckereien und Handygeschäften hört man Arabisch, syrische Kinder versuchen Rosen an die Touristen zu verkaufen und werden wie lästige Fliegen verscheucht, ganze Familien hausen in Unterführungen und warten auf nichts« (Grjasnowa, 2017, S. 221).

Beide kommen irgendwann in Berlin an, sie schlagen sich mit Ämter- und Behördengängen herum sowie dem Versuch, im Äußeren wie im Inneren Fuß zu fassen. Hammoudi glaubt sich selbst sowie seiner Geschichte nicht mehr und scheitert bei dem Versuch, der eigentlich wohlwollenden Mitarbeiterin der Ausländerbehörde, eine konsistente Fassung seiner Fluchtgeschichte zu erzählen. Amal wird für das Fernsehen entdeckt und schwankt zwischen den dringenden Bedürfnissen, keine Chance zu verpassen und nicht erneut ihre Würde zu verlieren, hin und her: 4

»Amal hasst es, sich als Flüchtling durch die Stadt zu bewegen – zögerlich und eingeschüchtert. Sie hasst ihre ganze Existenz. Sie hasst es, sich nicht auf Deutsch verständlich machen zu können und dass in den Behörden niemand außer den Security-Männern in der Lage ist, auch nur das primitivste Englisch zu sprechen. Sie hasst es, als Muslimin und Schmarotzerin angesehen zu werden und sie hasst sich selbst. Die Welt hat eine neue Rasse erfunden, die der Flüchtlinge, Refugees, Muslime oder Newcomer. Die Herablassung ist mit jedem Atemzug spürbar« (Grjasnowa, 2017, S. 281).

Der Roman endet mit Hammoudis Tod und Amals Versuch, in sich heimisch zu werden und die für sie relevanten Beziehungen so gut wie möglich zu händeln. Kurz zuvor treffen sich beide zufällig. Diese zweite Begegnung verläuft spiegelbildlich zur ersten. Aus dem vorsichtigen Abtasten und Abchecken der gegenseitigen Positionen im Heimatland ist in Berlin eine Unmittelbarkeit im Kontakt

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entstanden, der nur darum möglich ist, weil sie einerseits ein ähnliches Schicksal teilen und andererseits einander ausreichend fremd sind, um sich ihr Allerintimstes anvertrauen zu können. Amal berichtet Hammoudi, dass sie zusammen mit ihrem Freund während der Bootsüberfahrt ein kleines Mädchen gerettet haben, das sie nun als ihr eigenes Kind ausgeben: »›Ich weiß, dass ich kein Anrecht auf meine Tochter habe, und gleichzeitig ist es meine größte Angst, dass jemand sie mir wieder wegnimmt. Eine Tante oder eine Großmutter. Wir haben zuerst nach ihnen gesucht, aber dann haben wir uns an Amina so gewöhnt, dass wir angefangen haben, unsere Spuren zu verwischen […]. Und was stimmt mit dir nicht?‹ ›Ich habe zugesehen, wie neunhundertsiebzehn Menschen starben.‹ Amal hält sich die Hand vor den Mund« (Grjasnowa, 2017, S. 300 f.).

»Gott ist nicht schüchtern« ist in seiner oftmals unterkühlten Sprache und in den angedeuteten Bildern von kumulativem Leid eine ziemliche Zumutung für die Leser*innen. Trotzdem oder gerade deswegen vermittelt die Autorin, die beim Schreiben eben auch nicht schüchtern ist, ein gewisses Zutrauen in die Leserschaft. Eine Botschaft könnte lauten: Ihr werdet das Gelesene schon aushalten, die Schicksale der beiden Stellvertreter*innen Hammoudi und Amal werden euch nicht kalt lassen, ihr werdet Mitgefühl haben und nicht mehr so oft wegschauen und ausblenden, was in Syrien passiert. Das ist ein Anfang.

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So viel Wut – »Ohrfeige« von Abbas Khider (2016) »Sie, Frau Schulz, gehören zu jenen, die hier darüber entscheiden, auf welche Weise ich existieren darf oder soll. Stellen Sie sich mal umgekehrt vor, in meiner Position zu sein. Würden Sie nicht gern wissen, wie diese gottesgleiche Figur mit Vornamen heißt? Jene Person, die ihr Leben nach eigenem Gutdünken paradiesisch oder höllisch gestalten kann?« (Khider, 2016, S. 11).

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Der jetzt folgende Abschnitt befasst sich mit einem Roman, der sich ganz auf die pointierte und oftmals überspitzt formulierte Schilderung des Erlebens einer geflüchteten Person im Aufnahmeland zentriert. Sein Autor Abbas Khider wurde 1973 im Irak, in Bagdad, geboren und erhielt nach Verfolgung, Inhaftierung und Flucht im Jahr 2000 in Deutschland Asyl. Er studierte Literatur und Philosophie und ist seit 2007 deutscher Staatsbürger. »Ohrfeige« ist sein vierter Roman und erschien 2016. Die Hauptperson in »Ohrfeige« ist Karim, ein Ich-Erzähler, dem man als Leser*in zunächst kaum Sympathie entgegenbringt. Gerahmt wird die Geschichte von Karims wüstem und gewalttätigem Auftritt in der Asylbehörde, kurz vor seiner Abschiebung, in der er die zuständige Sachbearbeiterin fesselt und knebelt, damit ihm die in ihr verkörperte deutsche Bürokratie endlich zuhören muss. Das Geschilderte liest sich zunächst nicht angenehm, vielmehr gewalttätig und frauenverachtend. Gleichzeitig führt diese aggressive und übergriffige Handlung die ungeheure Ohnmacht vor, als geflüchteter Mensch so großer unverständlicher Willkür ausgesetzt zu sein, und der Wunsch, diesen Spieß einmal umzudrehen, wird sehr eindrucksvoll deutlich – als Leser*in vergisst man diese Szene nicht so schnell. In diese Rahmenhandlung eingebettet, schildert Karim die Ge-

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schichte seiner Ankunft in Deutschland und seine ersten Begegnungen mit den Deutschen: »Anfangs wollte ich gern die Einheimischen kennenlernen und freute mich darüber, wenn sich jemand zu mir gesellte. Oft setzte ich mich selber in Bussen oder Zügen zu einem Blondschopf und versuchte mit ihm ins Gespräch zu kommen. Ich betrachtete es als kulturellen Austausch und lernte so die Sprache anzuwenden. In letzter Zeit vermeide ich den Kontakt jedoch zunehmend und will lieber für mich allein bleiben. Ich bin es leid, über Dinge zu reden, die mit meinem jetzigen Leben nichts mehr zu tun haben. Die permanenten Fragen zur Vergangenheit erledigen mich. Seit Monaten bemühe ich mich, den Nachrichten aus der Heimat auszuweichen, höre oder lese sie höchstens einmal wöchentlich, und das so oberflächlich wie möglich« (Khider, 2016, S. 18).

Karim verbalisiert das wohl von vielen geflüchteten Menschen geteilte Gefühl, dass sie primär als von außen/ draußen kommende Menschen wahrgenommen werden, die eine Vergangenheit aber keine Gegenwart haben, bzw. die den Eindruck haben, dass sie sich in erster Linie anpassen, vieles aushalten und erdulden müssen: »Nie macht sich einer mal Gedanken über mein gegenwärtiges Leben. Über die Schwierigkeiten mit der Aufenthaltserlaubnis, die Folter in der Ausländerbehörde, die Schikanen des Bundeskriminalamtes, über die Peinlichkeiten des Bundesnachrichtendienstes oder die Banalitäten des Verfassungsschutzes. Und warum fällt niemandem die Tatsache des Polizeirassismus auf? Was bedeutet es für mich, wenn ich weder in der Heimat noch in der Fremde leben darf? Frau Schulz?« (Khider, 2016, S. 19).

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Der Abschiebebescheid macht Karim fassungslos. Der Zynismus, wenn wir von sicheren Ländern sprechen – man denke an Afghanistan –, wird im folgenden Plädoyer auf den Punkt gebracht, der Weg in die Illegalität erscheint den Lesenden mehr als plausibel:

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»Im Irak gibt es zwar keine Diktatur mehr, aber ein heilloses Chaos. Täglich Bombenanschläge. Armeen aus allen Teilen der Welt und die Saddamisten erschießen sich gegenseitig. Terroristen fühlen sich angelockt und mischen mit. Der Irak ist kein Land mehr, sondern die Kampfarena der Weltmächte und Verrückten. Selbst die Iraker wissen bei den meisten Anschlägen und Scharmützeln überhaupt nicht mehr, wer jetzt gerade gegen wen kämpft. Und ehe man sich’s versieht, gerät man ins Kreuzfeuer und endet als einer der Zehntausenden von Kollateralschäden. Ich bin gerade eifrig dabei meiner Familie zu helfen, das Land zu verlassen – und jetzt soll ich in dieses Minenfeld zurückkehren? Die deutschen Behörden können mich genauso gut vor Ort erschießen, dann muss ich wenigstens nicht warten, bis ich beim Einkaufen von einer Bombe zerfetzt werde« (Khider, 2016, S. 32).

Der Roman enthält auch mehrere witzige und skurrile Passagen, die allerdings immer einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. So wird beschrieben, wie Karim und seine Freunde sich gegenseitig briefen, um die diversen Anhörungen gut zu überstehen und so ihre Chancen auf einen positiven Aufenthaltsbescheid zu erhöhen. Die Absurditäten deutscher Rechtsprechung, gerade bei der Befragung traumatisierter geflüchteter Menschen, wird hier sehr deutlich: »›Denk an die Details deiner Geschichte! Du musst die Daten und Namen auswendig lernen. Das gilt natürlich auch für die Orts- und Zeitangaben. Der Richter wird dich noch ein-

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mal nach Angaben fragen, die du schon vorher irgendwo gemacht hast, nur um zu sehen, ob du dir nicht selbst widersprichst. Du musst alles auswendig können! Erzähle dir deine Geschichte selbst so oft, bis du glaubst, alles wäre in Wirklichkeit genau so geschehen. Geh die Lüge so lange im Kopf für dich durch, bis du wirklich glaubst, sie sei wahr‹« (Khider, 2016, S. 74 f.).

Der Roman schont nicht nur die Deutschen nicht, auch die in den Sammelunterkünften zusammengepferchten Menschen kommen nicht immer gut weg. Die immer wieder entstehenden Konflikte und eskalierenden Streitereien, die – diese sarkastische Nebenbemerkung sei gestattet – durch die Einrichtung von Ankerzentren sicherlich nicht entschärft werden würden, stellt Khider pointiert dar: »Im Heim selbst erlebten wir fast stündlich Konflikte. Immer wieder behauptete irgendeiner, dass jemand etwas aus seinem Essenspaket gestohlen habe, das wir vom Staat bekamen. Oftmals endete so ein Streit mit einer Schlägerei und einem Polizeieinsatz. In der Orient-Express-Haltestelle hingegen waren oft die Frauen der Anlass für die Streitereien, obwohl die Frauen ja selbst überhaupt nicht anwesend waren. Aber einer hatte die Schwester oder die Mutter eines anderen verbal gefickt, und schon folgten Schläge oder Messerstiche. Es war immer viel los bei uns. Trotzdem war es unsäglich langweilig. Wir konnten nichts Anderes tun als zu warten, und wurden von Tag zu Tag dämlicher« (Khider, 2016, S. 120).

Eine befremdliche aber möglicherweise genau deshalb so eindrucksvolle Romanpassage besteht in der Erinnerung Karims an den 11. September 2001. Er beschreibt seine anfängliche Schadenfreude, dass der Terror nun auch endlich einmal die selbstzufriedene und immer nur andere

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Länder zerbombende Nation der Amerikaner getroffen habe, sowie die sich darauf einstellende große Scham, angesichts vieler getöteter Menschen zunächst so empfunden zu haben:

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»Diese diffuse Genugtuung, liebe Frau Schulz, spürte ich anfangs auf gewisse Weise auch. Ich konnte mich nicht dagegen wehren, sie überkam mich einfach. Als Iraker war das auch kein Wunder. Von den Amerikanern kannte ich seit meiner Kindheit nur ihre Kampfflugzeuge, ihre Bomben und Raketen. Etwas Anderes haben sie nie in meine Heimat mitgebracht. Als ich jedoch im Laufe des Tages verstand, dass die beiden Türme nicht der CIA gehörten und dass in diesen Bürogebäuden keine Soldaten oder Spione gearbeitet hatten, und dass sich in den Flugzeugen ganz normale Passagiere befunden hatten, wurde ich unendlich melancholisch. Ich schwöre Ihnen, Frau Schulz, ich schämte mich für meine anfängliche Schadenfreude. Noch heute schäme ich mich dafür« (Khider, 2016, S. 164).

Erst nach ungefähr der Hälfte des Romans erfährt man, warum für Karim der Weg zurück in den Irak doppelt unmöglich ist. Er leidet an Gynäkomastie, d. h., er hat Brüste, und wünscht sich sehnlichst, so viel Geld zu verdienen, um in Europa eine Operation bezahlen zu können. Karim lebt also im mehrfachen Sinne zwischen den Welten und sehnt sich nach Zugehörigkeit, die ihm aber konsequent verweigert wird: »Drei Jahre und vier Monate habe ich hier gelebt […]. Es geschah viel in dieser Zeit, aber nichts, worauf ich stolz bin. Noch immer bin ich kein normaler Mann, noch immer hab ich die verdammten Brüste. Wissen Sie was? Hätte ich früher angefangen schwarzzuarbeiten, hätte ich die Operation vermutlich längst finanzieren können. Aber ich bin eben doch

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ein aufrichtiger Trottel. Alles, was ich erreicht habe, ist ein gigantisches Nichts. Der einzige, der sich freut, ist mein Schlepper Abu Salwan. Statt in der Universität war ich im Obdachlosenheim, in der Goethemoschee und im Enlil. Statt mit Studenten und Professoren gab ich mich mit Kriminellen, Fanatikern und Strichern ab. Und jetzt? Ich stehe wieder ganz am Anfang. Wieder muss ich mit einem Schlepper weiterziehen, die ganze Prozedur und Sinnlosigkeit beginnt wieder bei Null. Was würden Sie an meiner Stelle tun, Frau Schulz? Ich hab keine Wahl, obwohl dieser Planet riesig ist. In Bagdad konnte ich nicht bleiben, in Deutschland darf ich nicht bleiben« (Khider, 2016, S. 218).

Dieses Fazit, das Karim am Ende des Romans zieht, ist die Kulmination von Aussichtslosigkeit, die wir im Kontext psychosozialen Handelns oft nicht wahrhaben wollen oder auch dürfen, weil sie uns alle Kraft und Zuversicht nimmt, doch etwas zu bewegen und schlicht helfen zu können. Dennoch trifft diese Beschreibung das Lebensgefühl von vielen Menschen, die nach monate- oder jahrelangem Bangen und Hoffen einen Abschiebebescheid erhalten und die mit Recht daran zweifeln dürfen, ob die Welt einen Platz für sie vorgesehen hat.

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Die Qual der Ungewissheit – »Die Rückkehr: auf der Suche nach meinem verlorenen Vater« von Hisham Matar (2017) Dieser Roman fällt ein wenig aus dem Rahmen der hier vorgestellten Bücher. Es handelt sich bei ihm weniger um einen fiktiven, sondern vielmehr um einen autobiografischen Bericht über die Suche des Autors nach seinem Vater, dem sehr prominenten libyschen Oppositionellen der Gaddafi-Diktatur Jaballah Matar. Die im Buch benannten Personen leben/lebten wirklich. Der Autor legt den Fokus auf sein persönliches Erleben der Suche und verwebt diese mit Erinnerungen, die bis in die Kindheit zurückreichen. Das Buch beginnt mit Hisham Matars Entschluss, mit seiner Frau und seiner Mutter von London aus in sein Heimatland Libyen zu reisen:

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»Nach all den Jahren zurückzukehren war keine gute Idee, dachte ich plötzlich. Meine Familie hatte Libyen 1979 verlassen, vor dreiunddreißig Jahren. Das war die Kluft, die den Mann vom damals achtjährigen Jungen trennte. Das Flugzeug würde sie überqueren, und so eine Reise barg zweifellos Gefahren. Sie konnte mir eine Fähigkeit rauben, an deren Erwerb ich hart gearbeitet hatte, die Fähigkeit, fern von Orten und Menschen zu leben, die ich liebe. Joseph Brodsky, Nabokov und Conrad, sie alle hatten recht gehabt. Diese Schriftsteller waren nie in ihre Heimat zurückgekehrt, sondern hatten versucht, jeder auf seine Weise, ohne sie auszukommen. Was du hinter dir zurücklässt, löst sich auf. Kehre zurück, und du siehst dich mit dem Verschwinden oder der Entstellung dessen konfrontiert, was du einmal geliebt hast« (Matar, 2017, S. 10).

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Bereits zu Beginn schildert der Autor die zunächst bestehende Akzeptanz der schmerzlichen Wahrheit, dass sein Vater tot ist und die nicht auszuhaltende Ungewissheit, wann und unter welchen Umständen dieser ums Leben gekommen ist: »Zum ersten Mal ließ sich die Wahrheit nicht mehr verleugnen. Es war klar, dass er erschossen, gehängt, verhungert oder zu Tode gefoltert worden war. Niemand weiß, wann, und die es wussten oder wissen, sind tot oder geflohen, haben zu große Angst zu reden, oder es interessiert sie nicht. War es im sechsten Jahr seiner Gefangenschaft, als seine Briefe aufhörten? War es bei dem Massaker in jenem Jahr in Abu Salim, als 1270 Gefangene zusammengetrieben und erschossen wurden? Oder ist er einsam und allein umgekommen, vielleicht im siebten, achten oder neunten Jahr? Oder erst im einundzwanzigsten, als die Revolution ausbrach?« (Matar, 2017, S. 20).

Immer wieder blendet Hisham Matar die Perspektiven seiner Angehörigen ein, die das Nicht-Wissen über das Schicksal von Jaballah Matar zwar ebenso quält, die sich aber auch Sorgen um ihn, Hisham Matar, machen, weil sie spüren, wie er sich durch diese Suche realen Gefahren aussetzt, aber auch innerlich von ihr zermürbt und aufgesogen wird: »Die ganze Zeit war Mutter voller Sorge gewesen. Ich vermutete schon seit langem, dass ihre Ängste nicht nur den Gefahren galten, denen ich mich durch die Suche nach meinem Vater aussetzte, oder dem, was ich womöglich herausfinden könnte, sondern auch etwas weit Spezifischerem, nämlich der täglichen Rastlosigkeit, die eine solche Suche hervorruft, weil sie deinen Körper erfasst, deine Tage und alles, was du tust. Mutter wusste, dass mein Wille, heraus-

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zufinden, was geschehen war, zu einer Obsession geworden war« (Matar, 2017, S. 47).

Die Suche nach seinem Vater bedeutet für den Autor auch eine Auseinandersetzung mit seiner männlichen Identität, seinen Wurzeln und der Unmöglichkeit, sich von seinem Vater, um der eigenen Autonomie willen, zu lösen, wenn dessen Verbleib weder greifbar noch betrauerbar ist: »Ein Mann zu sein bedeutet, Teil einer Kette aus Dankbarkeit und Erinnerung zu sein, aus Vorwurf und Vergessen, Unterwerfung und Rebellion, bis der Blick des Sohnes so wund und gespannt ist, dass er zurückblickend nur mehr Schatten sieht. Mit jedem neuen Tag entschwindet der Vater in der Nacht, tiefer im Nebel, lässt einzelne Dinge von sich zurück und die so gewaltige wie offensichtliche Tatsache, dass wir, so sehr wir uns auch bemühen, unsere Väter doch nie ganz werden kennen können – was gleichermaßen frustrierend wie gnädig ist, denn wie soll ein Sohn weiterleben, wenn er nicht auch vergisst?« (Matar, 2017, S. 65 f.).

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Dazwischen enthält der Roman pointierte und metaphernreiche Analysen der politischen Situation Libyens, der Geschichte des Landes und auch ein mehr oder weniger bitteres Eingeständnis, dass revolutionäre Bewegungen einen extrem hohen Preis für die Beteiligten haben: »Revolutionen haben ihre eigene Dynamik, und wenn man sich dem Fluss erst angeschlossen hat, ist es sehr schwer, den Stromschnellen zu entgehen. Revolutionen sind keine festen Tore, durch die eine Nation tritt, sondern Stürme, die alles vor sich herfegen« (Matar, 2017, S. 118).

Matar beschreibt mit ungeheurer Intensität sein Gefühl von Isolation und seine Fixierung auf die ungelöste Frage,

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was mit seinem Vater geschehen ist. Es wird deutlich, dass sich eigentlich alle anderen Lebensfragen dieser existenziellen Frage unterordnen müssen; nichts erscheint so wichtig, als diesbezüglich Gewissheit zu erlangen, kein Preis scheint dafür zu hoch zu sein: »Alle Hilfsmittel, die ich besaß, um mit meinem Land in Verbindung zu treten, gehörten der Vergangenheit an. Seit wir Libyen verlassen hatten, war Wut wie ein vergifteter Strom durch mein Leben geflossen und hatte sich bis jetzt in die Verästelungen meiner Anatomie gegraben. Trauer als Virus. Aber jetzt konnte ich die Mauern sehen, die so alt waren, dass ich sie nie bemerkt hatte; zwischen mir und allen, die ich je gekannt hatte, standen sie, zwischen mir, jedem Buch und jedem Gemälde, jeder Sinfonie und jedem Kunstwerk, das mir je etwas bedeutet hatte, plötzlich schien alles unbeständig« (Matar, 2017, S. 126).

Trost bieten dem Autor die wenigen schriftlichen Vermächtnisse seines Vaters, die aus dessen Gefängniszeit erhalten geblieben sind. Jaballah Matar, der Bildung im Allgemeinen und dem poetischen Tun im Besonderen große Bedeutung beigemessen hat, hat während der Haft einige Erzählungen geschrieben, die der Sohn immer wieder liest und so die Botschaften des Vaters verinnerlicht: »Danach geht er hinaus in die Welt, und die Geschichte endet mit der Erklärung: ›Ich beschloss, zu arbeiten und zu überleben.‹ Dieser letzte Satz packte mich. Die Worte des Jungen glichen der geheimnisvollen Mahnung, die mich durch die dunkelsten Momente des Vierteljahrhunderts, seit ich meinen Vater verloren hatte, begleitete und wie eine schrille Warnglocke immer wieder tönte: Arbeite und überlebe, arbeite und überlebe. Ich hörte sie an der Universität. Ich hörte sie bei meiner Arbeit als Steinmetz im Anschluss an mein Studium,

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als Zeichner und schließlich auch als entwerfender Architekt […]. Noch heute höre ich sie. Sie hat mich nie verlassen und scheint doch nicht ganz zu mir zu gehören. Sie ist Teil einer anderen, mir implantierten Existenz, eines Ichs, das weit besser als jeder andere, vielleicht sogar besser als ich selbst begreift, dass ich weit näher am Abgrund stehe, als ich es mir vorzustellen vermag« (Matar, 2017, S. 149, Herv. i. O.).

Eine weitere Facette dieses autobiografischen Romans bilden die philosophischen und spirituellen Überlegungen Hisham Matars angesichts der Relativität von Sein und Nicht-Sein, bzw. eines fließenden Übergangs zwischen Existenz und Nicht-Existenz:

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»Der Körper meines Vaters ist nicht mehr da, aber sein Raum existiert noch und wird von etwas eingenommen, das nicht nur Erinnerung genannt werden kann. Es lebt und ist Teil des Jetzt. Wie kann die Komplexität des Seins, die Mechanik unserer Anatomie, die Intelligenz unserer Biologie und das endlose Firmament unseres Inneren mit seinen Gedanken, Fragen, Sehnsüchten und Hoffnungen, seinem Hunger, seinem Verlangen und den tausendfachen, uns in jedem Moment erfüllenden Widersprüchen je ein Ende haben, das durch ein Datum auf einem Kalender definiert ist?« (Matar, 2017, S. 173  f.).

Als britischer Staatsbürger und aufgrund seiner eigenen Prominenz ist Hisham Matar in der Lage, auf höchster politischer Ebene Druck auszuüben, um Antworten zum Schicksal seines Vaters zu bekommen. Er kann schließlich mit dem Erben und Nachfolger Gaddafis in Kontakt treten und Forderungen an ihn stellen. Er wird scheinbar wohlwollend angehört, doch auch immer wieder vertröstet, letztlich erhält er keine ihn befriedenden Antworten auf seine Fragen:

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»›Wir wollen wissen, wann, wo und wie es passiert ist‹, sagte ich. ›Und wir wollen seinen Körper, damit wir ihn auf unsere Weise begraben können. Wir wollen eine Beerdigung, und dann sind die Verantwortlichen zu klären. Wenn Sie davon sprechen »die Akte zu schließen«, gehört das dazu.‹ Ich war verblüfft über die kalte Mechanik in meiner Stimme. Es war, als wüsste ich bereits, dass nichts von alledem geschehen würde« (Matar, 2017, S. 212).

Hisham Matars Suche führt nicht zu der erhofften Klarheit über den Verbleib seines Vaters. Aber sie führt zu einer Begegnung mit seinem zwanzig Jahre lang inhaftierten Cousin, um dessen Freilassung er sich brieflich mehrfach bemüht hatte. Er freut sich sehr, seinen Cousin endlich zu treffen, der ihm für seinen Einsatz dankt und gleichzeitig die demütigende Prozedur seiner Entlassung beschreibt. Er wurde gezwungen, eine Erklärung zu unterschreiben, dass er sich gegen den »Großen Führer« gestellt habe und sich dafür entschuldige. Diese Passage nimmt dem*der Lesenden fast den Atem – so bodenlos tritt sie die Gerechtigkeitsfantasien all derer, die »Der Graf von Monte Christo« (1844–46/2011) gelesen haben, mit Füßen, dass zumindest am Ende die Verbrecher bezahlen müssen: »Nach einundzwanzig Jahren grausamer, ungerechter Einkerkerung eine Entschuldigung unterschreiben zu müssen, kann einen Mann zerbrechen. Hätte ich nichts unternommen, wären sie auch herausgekommen – als die Revolutionäre Abu Salim einnahmen und die Türen aufbrachen. Aber ich handelte nach den aktuellen Umständen. Saif hatte nie etwas von einer Entschuldigung gesagt, und selbst wenn, wäre es nicht meine Sache gewesen, meinen Onkels und Cousins die Entscheidung abzunehmen. Trotzdem verdarb diese neue Information alles, und wann immer mir von nun an einer für die Rolle, die ich bei der Freilassung meiner

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Verwandten gespielt hatte, dankte oder mich zu meinem Erfolg beglückwünschte, wechselte ich schnell das Thema« (Matar, 2017, S. 264).

Gegen Ende des Buchs setzt sich Hisham Matar nochmals mit dem großen intergenerationellen Schmerz auseinander, von seinem Vater nicht in Ruhe und Frieden Abschied nehmen zu können, ihn selbst als Toten nicht in Sicherheit zu wissen, und sich so endlich von ihm abwenden und dem eigenen Leben widmen zu können:

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»Wieder musste ich an Telemachs Worte denken: Wäre ich doch lieber der Sohn von einem glücklichen Manne, den bei seiner Habe das ruhige Alter beschliche! Aber der Unglückseligste aller sterblichen Menschen ist, wie man sagt, mein Vater. Und zum ersten Mal veränderten und erweiterten die mir seit Jahren so vertrauten Worte ihre Bedeutung und betrafen genauso sehr Odysseus wie Telemach, den Vater wie den Sohn. Sie handelten vom Wunsch des Sohnes, den Vater für den Rest seiner Tage in der Geborgenheit und Würde seines eigenen Hauses zu wissen, aber auch von dem Wunsch, den Vater zu Hause lassen, sich endlich umdrehen und nach vorne sehen und hinaus in die Welt ziehen zu können. Solange Odysseus vermisst wird, kann Telemach sein Zuhause nicht verlassen. Solange Odysseus nicht zu Hause ist, ist er überall und nirgends« (Matar, 2017, S. 280 f., Herv. i. O.).

»Die Rückkehr: auf der Suche nach meinem verlorenen Vater« steht sinnbildlich für die Unerträglichkeit einer sich nicht schließen wollenden Leerstelle. Die Unmöglichkeit, endlich in Gewissheit Abschied nehmen zu können, durchzieht das ganze Buch und gibt einen Einblick in das besondere Leid der Menschen, die ihre Liebsten vermissen und nicht finden können.

Die Kraft der Sprache – »Sechzehn Wörter« von Nava Ebrahimi (2017)

Der fünfte von mir ausgewählte Text zu Flucht und Exil beschäftigt sich mit der Lebensgeschichte einer jungen Frau aus dem Iran. Seine Autorin Nava Ebrahimi wurde 1978 in Teheran geboren. Sie studierte und arbeitete in Köln als Journalistin und Redakteurin, seit 2012 lebt sie in Graz. »Sechzehn Wörter« (2017) ist ihr erster Roman, der im Rahmen des österreichischen Literaturpreises die Auszeichnung für das beste Debüt gewann. Nava Ebrahimi widmete dieses Buch ihrer Großmutter. Der Roman beginnt mit dem Tod der Großmutter der Ich-Erzählerin Mona. Gemeinsam mit ihrer Mutter reist Mona in den Iran, um ihre Großmutter würdig zu verabschieden, eine Frau, die als extrem vital, leicht schrill und expressiv sowie sich ihrer Weiblichkeit und ihrer Sexualität sehr bewusst beschrieben wird; »Kos« – das persische Wort für Vagina – war ihr Lieblingswort: »Bei Maman-Bozorg fiel einem nichts ein, dass sie noch hätte erleben, sehen oder essen wollen. Sie hat sich immer geholt, was sie brauchte. Wenn sie Eintopf kochte, fischte sie das beste Fleisch für sich heraus, bevor sie ihn servierte. Wenn sie ein Bad nahm, ließ sie sich von ihrer Tochter den Rücken abrubbeln, bis ihre Haut leuchtete wie eine rote Ampel und Maman der Schweiß von der Stirn rann. Deshalb hatte meine Großmutter bis zum Schluss eine Haut wie eine Dreizehnjährige« (Ebrahimi, 2017, S. 29 f.).

Der Roman ist in 16 Kapitel unterteilt, die jeweils mit einer persischen Formulierung überschrieben sind. Jeder die-

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ser Begriffe erhellt allmählich die ambivalente und leidenschaftliche Beziehung, die die Erzählerin Mona zu ihrem Heimatland hat, obwohl sie sich in Deutschland fest verwurzelt fühlt, Schubert und die Mäßigkeit deutscher Männer liebt. Die Rahmenhandlung bildet also die etwas unfreiwillig angetretene Reise in den Iran, in dem sich Mona zuletzt vor neun Jahren für längere Zeit als Journalistin aufgehalten hat. Bis zum Tod ihrer Großmutter zeigte sie schon seit geraumer Zeit keinerlei Ambitionen mehr, wieder in den Iran zu reisen: »Nach kurzer Zeit des Gedenkens, dachte ich, würde ich schon wieder wie jeden Tag mit dem Fahrrad ins Büro fahren und mittags einen Salat im Bio-Supermarkt abwiegen, als wäre nichts geschehen. Der Iran und ich, diese anstrengende On-Off-Beziehung, das wäre endgültig beendet gewesen« (Ebrahimi, 2017, S. 40).

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Episodenhaft eingebettet in diese Rahmenhandlung werden Begebenheiten und Erinnerungen aus Monas Leben in Deutschland, in dem sie sich oftmals fremd und falsch fühlt, bzw. das Gefühl hat, dass sie eher als Typus denn als Individuum wahrgenommen wird: »Ich hatte zugehört, als eine Bekannte ihre Doktorarbeit verteidigte, der Titel enthielt die Wörter Fremd- und Selbstwahrnehmung, Muslima und Deutschland. Unbehagen verspürte ich schon nach wenigen Minuten, doch als mir auf einmal bewusst wurde, dass ich gemeint, dass meine Fremd- und Selbstwahrnehmung Untersuchungsgegenstand, ich die beschriebene Muslima war, verließ ich den Hörsaal. Allein wie sie das Wort ›Muslima‹ aussprach, ließ mich schaudern. Wie sehr sich jeder in diesem Land bemühte, alles richtig zu machen. Es war unerträglich. Wenn die wüsste, wie früh ich das persische Wort für Fotze gekannt habe, dachte ich,

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als die schwer gepolsterte Tür hinter mir zufiel und ich allein auf dem Gang stand« (Ebrahimi, 2017, S. 61).

Nach und nach erfahren die Leser*innen etwas über die Herkunft von Mona und über ihre Wurzeln. Da ist der Vater, der bereits in den 1970er Jahren in Deutschland studiert hat und dann voll Euphorie in den Iran zurückgekehrt ist, um dort etwas zu bewegen und zu verändern. Sein Scheitern, die Inhaftierung und die innere Gebrochenheit nach der Entlassung werden nur in Andeutungen geschildert: »Ich besaß neben einer Handvoll Fotos kein anderes Erinnerungsstück an meinen Vater, er hatte nicht viel aufgehoben. Ich hatte nur dieses Papier aus seinen Aktenordnern gefischt. Mir gefiel, wie er beschrieben wurde. Mir gefiel ›hervorragende Auffassungsgabe‹ und besonders ›ohne Tadel‹. Mir gefiel auch, dass er in den Iran zurückkehren und dort etwas für die ›Entwicklung seines Heimatlandes‹ leisten wollte. Das klang heldenhaft. Nirgends stand geschrieben, wie die Geschichte ausging. Da stand nicht: Er ist dann aber, knapp zwanzig Jahre später, wieder zurück nach Deutschland gekrochen, nachdem er im Iran eine aussichtslose Ehe begonnen, ein überflüssiges Kind gezeugt, die Entführung des US-Botschafters vermasselt, lebenslänglich bekommen, sich nach der plötzlichen Freilassung naiv in eine Revolution gestürzt und sie schließlich vergeigt hat« (Ebrahimi, 2017, S. 143).

Immer wieder thematisiert die Autorin die Bedeutungen und Funktionen der unterschiedlichen Sprachen, die ja auch in Fachkreisen gut bekannt sind und dennoch in der allgemeinen Ansicht, dass das Erlernen und der Gebrauch der deutschen Sprache Voraussetzungen für ein gutes Ankommen sind, manchmal untergehen. Deutsch wird im Text als die Sprache der Organisation und der Absprachen

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beschrieben, die sich aber nicht dafür eignet, existenzielle sowie emotional bewegende Themen zu formulieren: »Als er im Krankenhaus gelegen und ich viele Stunden schweigend neben ihm gesessen hatte, hätte ich fragen können. Aber meine Lippen lagen so schwer aufeinander, dass es ein Brecheisen gebraucht hätte. Wir hatten in Deutschland nach der Immigration eine Sprache vorgefunden, mit der sich praktische Dinge wie Elternsprechtag, Weihnachtsgeschenke oder Umgangsrecht hervorragend regeln ließen. Aber für ein Gespräch auf Zimmer 0034 der Onkologie an der Universitätsklinik Köln war die neue Sprache ungeeignet. Und die alte war uns abhandengekommen« (Ebrahimi, 2017, S. 156).

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Sehr einfühlsam wird anhand der Figur von Monas Vater beschrieben, wie Integration auf rationale Weise bestens gelingen kann, wie von der ersten Generation geflüchteter Menschen der Verlust der Heimat oftmals nicht als solcher benannt werden kann, und dass es dafür die feinen Antennen der folgenden Generationen braucht, die diesen Mangel und diese Verlorenheit spüren und für beides Worte finden: »Wie er sich in einer vertrauten Umgebung bewegte, wie er Bekannte auf der Straße grüßte, wie es wäre, wenn er einen Anar direkt vom Baum pflückte und ihn mir reichte, würde ich nie erfahren. Ich kannte ihn nur als einen Fremden. Als jemanden, der keinen Platz mehr auf dieser Welt gefunden hatte. Er hatte immer so getan, als suchte er gar keinen. Aus Stolz, schätze ich. Er bemühte sich, vor mir das Bild eines unabhängigen Geistes abzugeben, der jede Art von Verankerung, von Zugehörigkeit zu einer Nation zum Beispiel, als niederes menschliches Bedürfnis entlarvt hatte und als Illusion sowieso. Es entsprach zufällig auch seiner politischen

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Überzeugung, so zu fühlen. Dennoch: keine Ideologie dieser Welt konnte verhindern, dass er sich nach Vertrautheit sehnte« (Ebrahimi, 2017, S. 228).

Monas Mutter hingegen, um vieles jünger als der Vater, wird als blass und schüchtern skizziert, was Mona durchaus aggressiv macht und bei ihr auf diese Weise auch Zweifel an der Echtheit der familiären Beziehungen aufkommen lässt. Die Verbindung zwischen Großmutter und Vater wirkt im Nachhinein mehr als eng, die Ehe auf dringenden Wunsch der Großmutter eingefädelt. Mona und ihre Mutter haben auf Wunsch von Vater und Großmutter den Iran verlassen, beide fühlten sich fremd und haltlos, fürchteten sich vor der neuen Heimat in Köln, in die sie geworfen wurden: »›Während ich telefonierte, stand ich meist am Fenster und betrachtete die gewaltigen Kirchtürme. Sie ängstigten mich, diese ganzen Spitzen und Zacken und düsteren Gesichter. Wenn wir tagsüber daran vorbeigingen und uns der Wind fast wegblies, starrten mich die Wasserspeier an, sodass ich dich am liebsten auf den Arm genommen hätte und weggerannt wäre. Jede Nacht träumte ich, der Wind hätte mich in die Luft geschleudert und ich hinge aufgespießt auf einem dieser Zacken, meine Mutter stünde unten und wischte unablässig das Blut weg, das aus meiner Wunde hinuntertropfte, und sagte immerzu »Scheidung? Hier hast du deine Scheidung.«‹« (Ebrahimi, 2017, S. 289).

Eine Quintessenz des Romans scheint, dass die Zerrissenheit zwischen zwei Ländern, zwischen sprachlichen, kulturellen und emotionalen Bindungen es schwer bis unmöglich macht, eine innere Ruhe und ein Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln, die eigentlich die Voraussetzungen für ein Ankommen darstellen:

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»›Von einem neuen Ort angezogen werden allein reicht nicht. Der alte Ort muss einen auch wegschieben.‹ Er nahm einen Schluck Kaffee, behielt mich dabei im Blick. ›Ich glaube‹, sagte er, nachdem er die Tasse wieder abgestellt hatte, ›dass man immer eher weggeschoben wird, auch, wenn man glaubt, angezogen zu werden.‹« (Ebrahimi, 2017, S. 278).

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Zwischen Lachen und Weinen – »Sami und der Wunsch nach Freiheit« von Rafik Schami (2017)

In diesem Roman steht die kindliche Perspektive auf die massiven Formen politischer Unterdrückung und Gewalt in einem Land wie Syrien im Vordergrund. Sein Autor Rafik Schami wurde 1946 in Damaskus geboren und floh 1970 über den Libanon nach Deutschland. Er ist promovierter Chemiker und lebt seit 1982 als freier Schriftsteller in der Pfalz. Er besitzt die deutsche und die syrische Staatsbürgerschaft, hat zahlreiche Romane geschrieben, etliche Preise gewonnen und viele renommierte Auszeichnungen erhalten. »Sami und der Wunsch nach Freiheit« (2017) widmete er den »tapferen Kindern« von Daraa, die 2011 gegen das Regime rebellierten und einen wesentlichen Anstoß für die weiteren Proteste darstellten. Schami bettet die Romanhandlung in die Begegnung mit einem jungen Syrer namens Sharif ein, der aus Syrien geflüchtet über große Umwege nach Deutschland gekommen ist, und ihm, dem Schriftsteller, gern von seinem Freund Sami berichten möchte: »Vielleicht interessiert Dich die Geschichte meines Freundes Sami. Und vor allem die Geschichte seiner Narben. Was dieser Junge durchgemacht hat, ist unglaublich. Aber wenn Du keine Zeit hast, macht das nichts. Ich kann warten« (Schami, 2017, S. 11, Herv. i. O.).

Erzählt wird im Folgenden die Geschichte einer engen und absolut loyalen Freundschaft zweier Jungen, die in Nachbarschaft zueinander in Damaskus aufwachsen. Ihre

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Mütter sind ebenfalls befreundet, ihre Väter hingegen, obgleich beides Polizisten, nahezu verfeindet: »Wir, Sami und ich, sahen uns merkwürdigerweise sehr ähnlich, und auch vom Charakter her waren wir wie eineiige Zwillinge. Daher waren wir unzertrennlich. Und sehr schnell begriffen wir, dass wir einander absolut vertrauen und uns aufeinander verlassen können. Es gab Versuche, uns auseinanderzubringen. Ob von Lehrern, Verwandten oder blöden Jungen, bald waren wir geübt darin, solche Angriffe ins Leere laufen zu lassen« (Schami, 2017, S. 19 f.).

Nahezu jedes Kapitel beschreibt, manchmal auf lustige, manchmal auf tragische und anrührende Art und Weise, wie Sami sich innere und äußere Blessuren zuzieht und dennoch unerschrocken und couragiert seinen Weg geht, und sich nicht in seinem Gefühl von Recht und Unrecht beirren lässt. So stellt er sich auch seinem gewalttätigen Vater entgegen, als dieser wieder einmal die Mutter zu malträtieren droht:

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»Sami stürzte sich auf seinen Vater und versetzte ihm einen solchen Tritt in den Schritt, dass dieser von seiner Mutter abließ. Erstaunt, ja fast erschrocken, sah er seinen Sohn an, der sich zwischen ihn und seine Frau gestellt hatte« (Schami, 2017, S. 34).

Sharif und Sami besuchen dieselbe Klasse, sie leiden unter der gnadenlosen Hierarchie und Spitzelei im Mikrosystem Schule, das die gesellschaftlichen Verhältnisse im Kleinen spiegelt: »Jede Klasse hatte einen Aufseher. In der Regel war das ein charakterloser oder ein bärenstarker Aufseher. Über ihm standen die ›Aufseher der Disziplin‹ und der Oberaufseher,

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beide waren Beamte in der Schulverwaltung. Über alle Aufseher wachte der Direktor und über den Direktor wiederum der Parteivertreter, und der stand in direkter Verbindung mit dem Geheimdienst, der alles kontrollierte« (Schami, 2017, S. 45).

Zum Teil haben die Episoden etwas sehr Skurriles und ähneln einer Farce, so z. B. wenn beschrieben wird, wie das politische System sich durch seine Paranoia und dem Drang, alles unter Kontrolle bringen zu wollen, selbst ad absurdum führt: »Sami und ich lachten sehr, als mir ein Schüler einer anderen Schule, der neben uns stand, ein lustiges Ereignis erzählte. Sein Vater, ein Beamter im Einwohnermeldeamt, musste ihn vor drei Jahren auf eine ähnliche Demonstration mitnehmen. Das war ein Befehl, jede und jeder sollte ein Kind mitbringen. Tausende von Beamten und deren Kinder mussten am Präsidentenpalast vorbeiziehen. Die Massen defilierten vorbei, als kämen sie spontan, und der Präsident winkte vom Balkon und tat überrascht und glücklich, als hätte er nicht gewusst, dass sein Geheimdienst das alles organisiert hatte. Die arabischen Diktatoren sind misstrauisch, deshalb wollen sie jede auch noch so harmlose Aktion ihrer Geheimdienste oder Minister im Voraus wissen« (Schami, 2017, S. 84).

Und doch gibt es in dem System Schule, in dem planmäßig gedemütigt und misshandelt wird und in dem es alles andere als fair und gerecht zugeht, auch integre und außergewöhnliche Lehrerfiguren, die die Kinder ermutigen und sie in ihrer Kreativität sowie gedanklichen Weite bestärken. So wird eine Situation beschrieben, in der Sharif eine Geschichte über seine Sehnsucht nach Freiheit schreibt, und sein Lehrer ihn auf subtile Art und Weise unterstützt und gleichzeitig warnt:

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»Der Text war eine Seite lang. Ich nannte die Geschichte pathetisch: Ich will frei sein. Der Lehrer lobte die Geschichte, empfahl mir aber, den Titel Der Traum der Raupe zu nehmen. Und er meinte, ich solle das Ende der Geschichte offen lassen, denn ich hätte, wie alle Kinder der Welt, ein Happy End für die Raupe gewünscht und geschrieben. ›Soll sie denn im Kokon sterben?‹, fragte ich. ›Nein‹, erwiderte er, ›das wäre zu dramatisch. Unterbrich die Geschichte einfach dort, wo die Raupe gerade mit dem Weben des Kokons fertig ist und vom Schmetterlingsflug träumt‹, sagte er, dachte kurz nach und sagte dann einen Satz, den ich erst Jahrzehnte später verstehen sollte. ›Wir träumen alle davon, Schmetterlinge zu werden, doch man will uns nur als Raupe leben lassen.‹« (Schami, 2017, S. 117, Herv. i. O.)

Nebenbei erzählt und dokumentiert Schamis Roman kindgerecht Zeitgeschichte. Er schildert die nicht zu unterschätzende Rolle von Kindern und Jugendlichen, die noch nicht vom politischen System komplett vereinnahmt, eingeschüchtert und korrumpiert worden sind, und die 2011 den ungeheuren Mut aufbrachten, Widerstand laut zu artikulieren:

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»Im Jahre 2011, und zwar genau wie Hassan prophezeit hatte im Frühjahr, bebte der Boden in Syrien. Kinder in der Stadt Daara zettelten den Aufstand an. Sie schrieben mit Kreide und sprayten an die Mauern und Häuser, was die Erwachsenen dachten, aber nicht wagten zu sagen. Sie wollten keine Diktatur mehr, sondern ihre Würde und Freiheit. Das war der erste Aufstand der arabischen Geschichte, der von Kindern ausgelöst wurde. Nach Jahren waren es tatsächlich Millionen, die seither auf der Flucht sind. Aber davon erzähle ich dir ein anderes Mal […]« (Schami, 2017, S. 147  f.).

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Sami und Sharif beobachten, dass die politischen Spannungen und die repressiven Handlungen des Regimes zunehmen, Freunde und Bekannte werden verhaftet oder verschwinden einfach von der Bildfläche. Falls diese wiederkommen, berichten sie solche oder ähnliche Erlebnisse: »Ich bin durch die Hölle gegangen. So etwas kann sich kein Mensch vorstellen. Sie quälten mich jeden Tag und warfen mich in eine Zelle mit über vierzig Leuten. Die Zelle hatte höchstens Platz für zehn Menschen. Jugendliche und auch drei Kinder. Ich fragte sie, warum sie hier seien. Sie wussten es nicht. Ein alter Mann gab mir die Antwort, dass sie genau wie er vom Geheimdienst als Geisel geholt worden waren, bis sich ihre Angehörigen, die gesucht wurden, ergaben und sich stellten. Die Kinder seien wie er seit zwei Jahren da« (Schami, 2017, S. 196).

Nicht nur Verfolgung, Inhaftierung und Gewalt durch die Geheimpolizei, sondern auch andere perverse Mechanismen und Rituale, die von dem Regime initiiert und verantwortet werden, schildert Schami eindrücklich auf bildhafte Art und Weise. So verfolgen Sharif und Sami die Beerdigung eines jungen Mannes, die als eine Art Siegesfeier zelebriert wird, was die Freunde stark befremdet: »›Die Regierung, seine Kampfgruppe und die krankhafte Umgebung hier, alle wollen, dass die Mutter den Tod ihres Sohnes bejubelt. Es ist ein seltsames Ritual, eine Unart unserer Zeit, die von der Regierung unterstützt wird, wenn der Tote vorher im Auftrag des Präsidenten gegen dessen Feinde gekämpft hat. Ansonsten muss der Tote leise begraben werden, und seine Familie muss lügen und erzählen, er sei bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Vermutlich war der Mann ein Anhänger unseres Präsidenten« (Schami, 2017, S. 228).

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Und immer wieder geht es Schami darum, die Rolle der Kinder beim Widerstand gegenüber einem seit Jahrzehnten existierendem repressivem und diktatorischem Regime hervorzuheben und dabei zu unterstreichen, dass nur Kinder die Kraft besaßen, gegen bestehende Verhältnisse aufzubegehren: »Nur Kinder konnten in Syrien diesen heroischen Aufstand auslösen. Sie hatten trotz ihres jungen Alters vieles aus aller Welt erfahren und hörten und sahen täglich das Unrecht, von dem ihre Eltern leise sprachen. Aber im Gegensatz zu ihnen träumten sie noch von Freiheit und Würde, weil sie noch nicht genug Angst erfahren hatten. Heute steht viel im Internet über die Kinder von Daara, vor allem auf Arabisch. Kurz und gut, vor dem Aufstand herrschte eine Friedhofsstille im Land. Es gab keine Opposition, wer noch nicht umgebracht worden war, war im Exil oder im Gefängnis« (Schami, 2017, S. 280 f.).

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Für Sharif und Sami wird die Situation in Syrien immer unerträglicher, sie bietet ihnen keine Zukunft mehr. Die permanente Bedrohung nimmt ihnen die Luft zum Atmen und macht Entfaltung für sie unmöglich. An der Person des Diktators werden die komplette Irrationalität des Systems und die Unausweichlichkeit, daran zu zerbrechen oder vor ihm zu fliehen, deutlich: »Der syrische Diktator war eine Verkörperung der unsichtbaren Herrschaft, die auf Angst baut, wie sie George Orwell in seinem genialen Roman 1984 beschrieben hat. Dieses System lässt sich am besten mit dem legendär gewordenen Satz ›Big Brother is watching you‹ beschreiben. Der Diktator war kein Präsident, auch kein Vorsitzender einer Partei oder Sekte, sondern ein Gott auf Erden. Er war überall und wusste alles. Syrien und Nordkorea waren die Bühnen für solche schäbigen Götter. Doch die große bronzene Statue

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des syrischen Despoten konnte nur mit großen Hämmern zerschlagen werden« (Schami, 2017, S. 292).

Als der Bruder von Samis angebeteter Freundin verschwindet, begibt sich Sami auf eine gefährliche Suche nach ihm. Sharif entscheidet sich dafür, mit seiner Freundin Nelly das Land zu verlassen. Die Flucht hat einen hohen Preis, unter anderem den Verlust der Familie, eine mehr als gefährliche Reise, die Aussicht auf ein Leben in der Fremde und nicht zuletzt der Verlust seines besten Freundes. Auf eine einfache aber dennoch sehr eindringliche Art beschreibt Schami die Angst der zurückbleibenden Familienangehörigen sowie die Lähmung, die durch die Diktatur hervorgerufen wird: »Auch meine Eltern sind ängstlich, sehr ängstlich sogar. Die Angst frisst unser Herz, die Heimat des Mutes, und lässt an seiner Stelle nur noch eine Pumpe. Sie funktioniert, aber sie ist dumpf. Unser Hirn empfiehlt uns dauernd, uns anzupassen und zu unterwerfen, damit wir überleben. Das Hirn kann nichts dafür. Es ist aufs Überleben programmiert. Wir überleben als Schafe. Das ist keine poetische Beschreibung, sondern das Programm der Diktatur« (Schami, 2017, S. 316).

Der Roman endet mit einem Telefonat zwischen Sami und Sharif – das erste Mal nach langer Zeit, dass sie wieder im direkten Kontakt miteinander sind. Beide leben nun an unterschiedlichen Orten und haben unterschiedliche Wege gewählt, um mit der Situation in Syrien für sich umgehen zu können. Sami arbeitet als Computerfachmann in einem Flüchtlingscamp in Jordanien und hofft, irgendwann nach Syrien zurückgehen zu können. Sharif befindet sich in Deutschland und ist auf dem Weg nach Kanada, um sich dort ein neues Leben aufzubauen.

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Schami macht sehr deutlich, dass diese in gewisser Weise prototypischen Lebensentscheidungen und Lebensgeschichten an sich nicht abgeschlossen sind, sondern den Teil einer größeren, generationsübergreifenden, dramatischen Geschichte bilden, die noch über Jahrzehnte hinaus Menschen berühren und unter dem Aspekt der zahlreich erlittenen Verluste schmerzen wird: »›Das ist wahr, aber eine gute Geschichte endet nicht, sondern sie stößt nur die Tür zu neuen Geschichten auf. Ich bin gespannt auf die Fortsetzung, die vielleicht mein Enkelkind von deinem Enkelkind hören wird‹, sagte ich […]. ›Das Leben im Exil ist eine Kette von Trennungen‹, schrieb ich einst und an Trennungen gewöhnen sich nur Steine« (Schami, 2017, S. 324 f.).

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Ärger und gute Bildung – »33 Bogen und ein Teehaus« von Mehrnousch Zaeri-Esfahani (2016)

Auch in dem letzten Roman, den ich hier vorstellen möchte, geht es um die Sicht- und Erlebensweise eines Kindes. Seine Autorin Mehrnousch Zaeri-Esfahani wurde 1974 in Isfahan im Iran geboren. Sie verließ das Land mit ihrer Familie elf Jahre später. Über die Türkei gelangte sie nach Deutschland, wo sie in Heidelberg aufwuchs. Sie studierte Sozialpädagogik und arbeitete anschließend in diesem Bereich. »33 Bogen und ein Teehaus« (2016) ist ihr zweiter Roman, er basiert auf ihren eigenen Erinnerungen. Das Buch beginnt mit der Thematisierung des Phänomens, Katastrophen auszublenden, die sich an anderen Orten ereignen und die durch das Gefangensein in eigenen Nöten kaum wahrgenommen werden, wie das Reaktorunglück in Tschernobyl, das für die betroffenen Familien und insbesondere die Kinder verheerende Auswirkungen hatte: »In meiner Welt existierten nur meine Eltern, meine zwei älteren Brüder, meine kleine Schwester und ich, Pilger aus Isfahan, gefangen in unserer eigenen unermesslichen Katastrophe. Im Moment der Katastrophe hatten wir gerade Deutschland erreicht. Nach vierzehn Monaten Flucht hatten wir endlich einen Ort gefunden, wo wir uns ausruhen durften. Wir versteckten uns unter einer Glasglocke. Sie war unser sicheres Heim, eine kleine Dreizimmer-Sozialraumwohnung in Heidelberg. Wir schotteten uns von der Welt ab, um neue Kraft zu tanken, um endlich Zeit zu finden für den Abschied von unserer Heimat und um zu begreifen, was mit uns geschehen war« (Zaeri-Esfahani, 2016, S. 11).

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Einige Jahre zuvor wächst die kleine Mehrnousch noch behütet und in Wohlstand in der iranischen Stadt Isfahan auf. Im Kleinkindalter erlebt sie die Proteste gegen den Shah, die von ihrer Familie unterstützt und begrüßt werden, weil die im Land herrschende Armut und Ungerechtigkeit unerträglich geworden sind; man setzt große Hoffnungen in die Revolution und in Chomeini. Diese Hoffnung wird allerdings bald enttäuscht: »Die Freude über den Weggang des Schahs währte jedoch nicht lange. Nichts wurde besser, im Gegenteil. Alles, was die Menschen unter dem Schah schon kritisiert hatten, wurde noch schlimmer. Noch viel mehr Menschen verloren Arbeit und Einkommen. Die Gefängnisse des Schahs wurden nicht geschlossen. Es wurden neue gebaut. Oft kamen dieselben Menschen, die schon unter dem Schah für die Freiheit gekämpft hatten, wieder ins Gefängnis. Gleichzeitig führte der neue Führer viele Vorschriften ein, die angeblich auf den Vorschriften der Heiligen Schrift der Muslime, des Koran beruhten« (Zaeri-Esfahani, 2016, S. 30 f.).

Mehrnouschs Familie will mit den neuen Regeln und Vorschriften zunächst konstruktiv und hoffnungsvoll umgehen, so versuchen die weiblichen Mitglieder der Familie, Mehrnousch das Tragen eines Kopftuchs schmackhaft zu machen, obgleich sie selbst die neue Regelung als massive Einschränkung empfinden: »Und obwohl die Erwachsenen sich die größte Mühe gaben, das Unheil vor uns Kindern geheim zu halten, merkten wir, dass etwas nicht stimmte. Die neue Regierung erließ fast monatlich neue Vorschriften und Gesetze. Nach der strengen Kleiderordnung für alle kam das Verbot westlicher Musik. In einigen Fernsehprogrammen liefen den ganzen Tag Koran­ gesänge, Kriegslieder und Trauergedichte, rezitiert, gesun-

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gen und vorgetragen von Männerstimmen, denn Frauen durften nicht mehr ihre Stimmen einsetzen« (Zaeri-Esfahani, 2016, S. 40).

Wenig später beginnt der erste Golfkrieg zwischen dem Irak und dem Iran. Bomben- und Raketenangriffe sowie Nächte in Kellern werden zum Alltag. Die Autorin beschreibt, wie sie sich als Kind vor allem um ihre vielen Katzen sorgt und von ihrer Mutter liebevoll beruhigt und getröstet wird. Als allerdings deutlich wird, dass die iranische Armee zunehmend Kinder anwirbt, in den Krieg zu ziehen, bekommt Mehrnouschs Familie große Angst um ihre Söhne. Denn welche Ehre es sei, im Krieg zu sterben, bekommen Kinder auf staatlich organisierten Gruppenfreizeiten, denen man sich kaum entziehen kann, eingeflüstert. »Die Kinder starben, weil sie dafür eingesetzt wurden, über die Minenfelder zu gehen und die im Boden versteckten Minen mit ihren Körpern zur Explosion zu bringen. Die blutroten Stirnbänder um den Kopf gebunden, liefen sie mit Begeisterung zu Hunderten, Hand in Hand, los und räumten die Felder frei, indem sie auf Minen traten und sich in die Luft sprengten. Die irakischen Soldaten wollten nicht auf die Kinder schießen und mussten mit ansehen, wie die Kinder starben. Wenn die Minen gesprengt und die irakischen Soldaten zermürbt waren, wurden die weniger gut ausgebildeten Soldaten in den Kampf gesteckt« (Zaeri-Esfahani, 2016, S. 51 f.).

Als ein Ausreiseverbot für männliche Jugendliche ab 15 erlassen wird und der jüngste Sohn der Familie 14 Jahre alt ist, entscheidet sich die Familie, einen Fluchthelfer zu engagieren und das Land zu verlassen. Sie fliehen zunächst in die Türkei, in der sie sich vorerst mittellos und plötzlich verarmt eine heruntergekommene Wohnung mit anderen

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illegalen Flüchtlingen teilen. Dieser Abschnitt der Reise erscheint in den autobiografischen Schilderungen trotz des Abschiedsschmerzes von zu Hause auch als ein Abenteuer, man fühlt sich an Annas Erzählungen aus »Als Hitler das rosa Kaninchen stahl« (Kerr, 1973) erinnert. Mehrnouschs Eltern ist es offensichtlich auch in dieser extrem schwierigen Zeit gelungen, ihren Kindern ein bestimmtes Sicherheitsgefühl zu vermitteln: »Für mich, die ich bis dahin behütet und abgeschottet in einer Welt der Privilegierten aufgewachsen war, war es ein Abenteuer, dass ich in diese neue Welt eintrat, in der ich mich viel freier bewegen konnte als im Iran« (Zaeri-Esfahani, 2016, S. 69).

Die Einreise nach Ostberlin, der dann bald die geplante Abschiebung nach Westberlin folgt –für die Eltern gleichbedeutend mit einer Eintrittskarte in die Bundesrepublik –, ist allerdings mit großen Ängsten verbunden, die sich auch den Kindern mitteilen. Zur Angst hinzu kommt das deutliche Gefühl, nicht gewollt zu sein und in dem aufnehmenden Land primär »Ärger« zu machen: »Nicht einmal die Babys und die Kleinkinder weinten. Es war so, als ob alle die Angst wahrnahmen. Ich merkte die Anspannung meiner Eltern. Auch meinen Vater überkam große Angst, und ich wusste, dass ich ihm unbedingt auf Schritt und Tritt folgen musste. Ich spürte, dass wir hier in einer bedrohlichen Situation waren. Und ich spürte mit einem Mal, dass wir für die Länder, in die wir einreisten, nur Ärger bedeuteten und dass uns niemand haben wollte« (Zaeri-Esfahani, 2016, S. 85).

Nach einiger Zeit in Westberlin, die die Autorin sehr plastisch beschreibt, z. B. wie sehr das Schlendern durch das

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Einkaufsparadies und den Luxustempel KaDeWe den Kindern Freude bereitet und sie ablenkt, wird die Familie nach Baden-Württemberg verlegt. Jeglicher Entscheidungsfreiheit beraubt, schildert Zaeri-Esfahani, wie überwältigend, unverständlich und ängstigend diese Erfahrung aus kindlicher Sicht erlebt werden kann: »Am Rhein wurde mir und meiner Familie gezeigt, was Unfreiheit für einen Flüchtling bedeutet, der geflüchtet ist, um frei zu sein. In Karlsruhe stürzten wir in ein dunkles, trauriges Loch namens ›Zentrale Anlaufstelle für Flüchtlinge‹. Ende Februar 1986 wurden wir von Berlin nach Karlsruhe gebracht. Ich verstand nicht, warum. Ich verstand nur, dass irgendeine Person in irgendeiner Behörde entschieden hatte, dass wir Baden-Württemberg zugewiesen würden. Wir kamen in ein sehr großes Übergangswohnheim für unzählige Flüchtlinge aus aller Herren Länder, für ihre Träume und Albträume, für ihre Geschichten und Schicksale. Für mich hatten die Menschen an diesem Ort keine Gesichter. Weder die Flüchtlinge noch die Beamten« (Zaeri-Esfahani, 2016, S. 110  f.).

Für die Familie verbessert sich die Situation erheblich, als sie in eine eigene Wohnung in Heidelberg ziehen darf. Als die Familie die Aufforderung bekommt, die Kinder zur Schule zu schicken, brechen sich Euphorie und Dankbarkeit Bahn: »Mein Vater rief uns Kinder zu sich und erklärte uns, was in dem Brief stand: ›Wir sind in einem Land, wo es den Behörden am Herzen liegt, dass alle Kinder eine gute Bildung und eine Chance für die Zukunft bekommen. Versteht ihr? Sie wollen mich zwingen euch in die Schule zu schicken. Das ist so wunderbar« (Zaeri-Esfahani, 2016, S. 123).

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Die Rechte des Menschen auf Sicherheit und Bildung werden von der Familie alles andere als selbstverständlich wahrgenommen. Zaeri-Esfahanis Roman zeigt, wie Kinder mit Fluchthintergrund mit einem ungeheuren Lernwillen und großer Anstrengungsbereitschaft in der Schule Erfolge erzielen können. Allerdings erzählt Mehrnousch auch, wie wichtig dabei die Unterstützung einzelner Schüler*innen und Lehrer*innen für sie war, um tatsächlich das, was wir gemeinhin »Integration« nennen, zu vollziehen: »In meiner neuen Schule begegneten mir viele verrückte und wundersame Dinge. Alles, was ich sah, und alles, was ich hörte, kam nur sehr verschwommen bei mir an. In dieser anstrengenden Zeit kämpfte ich und wollte überleben. Ich liebte meine neue Heimat und gab mir immer die größte Mühe. Wenn meine Klassenkameraden beispielsweise einen Aufsatz schrieben, kümmerte sich meine Klassenkameradin ganz besonders um mich« (Zaeri-Esfahani, 2016, S. 135).

Das Buch endet, indem es die eingangs formulierten Gedanken an die überlebenden Kinder in Tschernobyl wiederaufnimmt. Es setzt die Erfahrung von drastischen und zum Teil gewaltsamen Veränderungen in Relation zu alltäglichen individuellen Erfahrungen, ohne eins von beiden zu relativieren: »Heute nach dreißig Jahren, weiß ich, welch unerträgliche Schwere das Wort ›Tschernobyl‹ birgt. Nach dreißig Jahren sind die Eigenheiten der deutschen Kultur und die Lebensgewohnheiten der Menschen hier mir vertraut […]. In dreißig Jahren habe ich den Geschmack von Nusscroissants lieben gelernt. Ich habe gelernt, dass kalt nicht einfach nur kalt sein muss, sondern auch ›kühl‹, ›frisch‹, ›bitterkalt‹ oder ›saukalt‹ sein kann. Heute, diese dreißig Jahre später, frage ich mich, was aus den Kindern aus Pripjat geworden ist,

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deren Zuhause sich in eine schaurige Geisterstadt verwandelte und die mit ihren Eltern ihre Heimat verloren haben, gerade da, als ich eine neue fand. Was wohl aus jenen Kindern geworden ist, deren Geschichte mich nicht mehr loslässt« (­Zaeri-­Esfahani, 2016, S. 145).

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Schlussbemerkung

Ich würde lügen, würde ich behaupten, dass das Lesen der beschriebenen Romane reine Freude und ungetrübter Genuss gewesen sei. Ab und an musste ich ein Buch zur Seite legen, weil mir die durch Sprache hervorgerufenen Bilder zu stark und intrusiv waren. Zeitweise hatte ich das starke Bedürfnis, zur Erholung einen harmlosen Krimi zu lesen, und manchmal musste ich einfach nur heulen. Warum lohnt sich die Beschäftigung mit diesen Büchern dennoch, warum kann sie insbesondere für psychosoziale Fachkräfte, die mit Menschen mit Fluchterfahrungen arbeiten, eine Bereicherung darstellen? Die hier vorgestellten Bücher legen Zeugnis von einer von unzähligen Menschen geteilten Erfahrung ab, die darin besteht, das eigene Zuhause verloren zu haben, und die diese Erfahrung – individuell extrem unterschiedlich verarbeitet – an die nächsten Generationen weitergeben. Darüber hinaus stellen die Romane durch die literarisch-ästhetische Gestaltung menschlich bedeutsamer Grunderfahrungen ein Kulturgut dar. Sie tragen dazu bei, eine überdauernde Erinnerungskultur an Leid, begangenem Unrecht und individuellem Überleben zu schaffen. Dadurch dass diese Zeugnisse nicht für den therapeutischen oder für einen anderweitig geschützten Rahmen abgelegt wurden, sondern publiziert und somit der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wurden, leisten sie einen wichtigen gesellschaftlichen Dienst. Sie tragen wesentlich dazu bei, die Auswirkungen von Flucht und Migration sichtbar zu machen, und zwar statt in bebilderter und scheinbar objektiver Form von Elend und Hilfsbedürftigkeit, wie wir

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sie medial vermittelt bekommen, in einer aktiven, subjektiven und detaillierten Schilderung von Menschen – Autorinnen und Autoren –, die dieses selbst erlebt oder sich intensiv damit beschäftigt haben. Neben all der beschriebenen Zumutung besitzen die vorgestellten Bücher meines Erachtens eine Fülle an tragikomischen Momenten, mit denen man sich als Leser*in gut identifizieren kann, und die die sich immer wieder einschleichende Dichotomie von »uns« und »den anderen« aufs Positivste verstören. In diesen Momenten war für mich der Lesegenuss am stärksten und erfüllte meinen Anspruch, den ich an Literatur habe, wenn ich mich nicht nur unterhalten lassen will, was zweifelsohne auch mal schön ist. Ich will mich von Literatur berühren und in gedankliche sowie emotionale Sphären tragen lassen, die ich ohne sie nicht erreicht hätte. Das ist durch alle sieben Bücher geschehen. Die Beschäftigung mit ihnen, oder auch mit anderen im Kontext von Flucht und Migration verfassten Romanen, erscheint mir also insofern lohnenswert, weil sie die Vorstellungskraft erweitern und anregen – und dieses in der psychosozialen Praxis mit geflüchteten Menschen sicherlich nicht das Schlechteste ist.

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